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Tenor
1. Dem Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO untersagt, den im Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Nr. 0 vom 00.00.0000 ausgeschriebenen Dienstposten für die Anstaltsleitung der Justizvollzugsanstalt X. mit einer Mitbewerberin bzw. einem Mitbewerber zu besetzen, bis der Antragsgegner über die Bewerbung der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden hat. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin zu 1/7, der Antragsgegner zu 6/7; die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 17.766,00 Euro festgesetzt.
1Gründe
2Der Antrag der Antragstellerin,
31. dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO zu untersagen, den im Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Nr. 0 vom 00.00.0000 ausgeschriebenen Dienstposten für die Anstaltsleitung der Justizvollzugsanstalt X. mit einer Mitbewerberin bzw. einem Mitbewerber zu besetzen, bis der Antragsgegner über die Bewerbung der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden hat,
42. dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO zu untersagen, die derzeit vorgesehene Mitbewerberin als stellvertretende Leiterin der Justizvollzugsanstalt X. einzusetzen, solange nicht über die Bewerbung der Antragstellerin bestandskräftig entschieden ist,
5hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
6Eine einstweilige Anordnung des vorliegend begehrten Inhalts kann gemäß § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO ergehen, wenn die Antragstellerin glaubhaft macht, dass ihr ein Anspruch auf eine bestimmte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch), dieser Anspruch gefährdet ist und durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss (Anordnungsgrund).
7Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich des Antrags zu 1) vor.
8Die Antragstellerin hat den erforderlichen Anordnungsanspruch für den Antrag zu 1) glaubhaft gemacht.
9Nach geltendem Dienstrecht hat ein Beamter auch bei Erfüllung aller laufbahnrechtlichen Voraussetzungen grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Beförderung oder auf Übertragung eines bestimmten Dienstpostens; er kann vielmehr nur verlangen, in seinem beruflichen Fortkommen nicht aus gesetzes- oder sachwidrigen Erwägungen des Dienstherrn beeinträchtigt zu werden. Die Entscheidung über eine Stellenbesetzung oder Beförderung obliegt nach Maßgabe des Personalbedarfs und des Vorhandenseins freier besetzbarer Planstellen dem pflichtgemäßen Ermessen des für den Dienstherrn handelnden Dienstvorgesetzten. Wenn dieser sich – wie vorliegend – bei der Entscheidung über die Stellenbesetzung an dem durch Art. 33 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verbürgten und für Landesbeamte in Nordrhein-Westfalen durch §§ 19 Abs. 6 Satz 1 LBG NRW, 9 BeamtStG einfachgesetzlich konkretisierten Grundsatz der Bestenauslese (Leistungsgrundsatz) orientiert, ist er gehalten, die Stelle mit demjenigen von mehreren Bewerbern zu besetzen, der nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung für die Wahrnehmung der betreffenden Dienstaufgaben gemäß den vom Dienstherrn aufgestellten Anforderungen am besten qualifiziert erscheint. Im Übrigen ist die Auswahlentscheidung bei im Wesentlichen gleicher Qualifikation nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Dem einzelnen Bewerber steht insoweit ein Anspruch auf eine rechts- und ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung zu. Dieser sogenannte Bewerbungsverfahrensanspruch ist gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO durch eine einstweilige Anordnung in der Weise sicherungsfähig, dass dem Dienstherrn untersagt werden kann, die streitbefangene Stelle vorläufig bis zu einer erneuten Auswahlentscheidung (endgültig) zu besetzen. Ein Anordnungsanspruch für eine derartige Sicherungsanordnung ist dann gegeben, wenn die angegriffene Auswahlentscheidung nach dem im Anordnungsverfahren erkennbaren Sachverhalt wegen Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs des antragstellenden Beamten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtsfehlerhaft ist und nicht auszuschließen ist, dass eine fehlerfreie Auswahlentscheidung zu seinen Gunsten ausfallen würde.
10Diese Voraussetzungen liegen vor. Die nach dem erkennbaren Sachverhalt getroffene Auswahlentscheidung zugunsten der Beigeladenen ist rechtsfehlerhaft.
11Für den vom Leistungsgrundsatz geforderten Qualifikationsvergleich ist in erster Linie auf die Ergebnisse der jeweils letzten, hinreichend zeitnahen dienstlichen Beurteilungen abzustellen, die den aktuellen Leistungsstand der Bewerber wiedergeben. Denn dienstliche Beurteilungen dienen vornehmlich dem Zweck, einen am Leistungsgrundsatz orientierten Vergleich der Beurteilten bei Entscheidungen über ihre Verwendung und ihre Beförderung zu ermöglichen (§ 93 Abs. 1 LBG NRW). Als Vergleichsgrundlage müssen sie inhaltlich aussagekräftig sein, d.h. sie müssen die dienstliche Tätigkeit im maßgebenden Beurteilungszeitraum vollständig erfassen, auf zuverlässige Erkenntnisquellen gestützt sein, das zu erwartende Leistungsvermögen in Bezug auf das angestrebte Amt auf der Grundlage der im innegehabten Amt erbrachten Leistungen differenziert darstellen sowie auf gleichen Bewertungsmaßstäben beruhen. Bei der Auswahl unter mehreren nach Maßgabe der aktuellen dienstlichen Beurteilung im Wesentlichen gleich qualifizierten Beförderungsbewerbern ist es gemäß Art. 33 Abs. 2 GG grundsätzlich geboten, vorrangig die aktuellen Beurteilungen im Hinblick auf Qualifikationsbewertungen inhaltlich auszuschöpfen und gegebenenfalls frühere, hinreichend vergleichbare dienstliche Beurteilungen als zusätzliche Erkenntnismittel zu berücksichtigen, bevor auf Hilfskriterien zurückgegriffen wird,
12vgl. BVerwG, Urteile vom 19.12.2002 – 2 C 31.01 –, vom 27.02.2003 – 2 C 16.02 – und vom 21.08.2003 – 2 C 14.02 – juris, Beschluss vom 20.06.2013 – 2 VR 1.13 – juris.
13Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Auswahlentscheidung des Antragsgegners rechtlich fehlerhaft. Der Antragsgegner durfte auf der Grundlage der dienstlichen Anlassbeurteilungen der Antragstellerin und der Beigeladenen nicht von einem Leistungsvorsprung der Beigeladenen ausgehen.
14Es spricht zunächst Einiges dafür, dass der Antragsgegner die für die Antragstellerin unter dem 14.04.2020 erstellte dienstliche Beurteilung nicht seiner Auswahlentscheidung zugrundelegen durfte. Stellt man für die Bestimmung des Beurteilungszeitraumes auf die Angaben auf Seite 1 der Beurteilung ab („Beurteilungszeitraum: 01.03.2016 bis 14.02.2020“), fehlt es der Beurteilung an der erforderlichen tatsächlichen Beurteilungsgrundlage, weil die Beurteilerin I. die dienstlichen Leistungen der Antragstellerin in der Zeit vom 01.03.2016 bis zum 30.09.2019 nicht aus eigener Anschauung kennen kann. Ausweislich ihrer Ausführungen in der Begründung auf S. 6 der Beurteilung ist sie erst seit dem 01.10.2019 Leiterin der JVA U. und damit Vorgesetzte der Antragstellerin. Ob sich die Beurteilerin I. ohne weiteres auf die vorgehenden vom ehemaligen Leiter der JVA U. C. erstellten Beurteilungen stützen kann, erscheint fraglich, weil der ehemalige Leiter der JVA C. die mit den Vorbeurteilungen beurteilten – nicht unwesentlichen – Zeiten der Abordnung der Antragstellerin (01.03.2016 bis 30.04.2016 JVA M. , 01.05.2016 bis 18.12.2016 JVA X. , 27.11.2019 bis 30.12.2019 JVA F. ) auch nicht aus eigener Anschauung kennen konnte.
15Berücksichtigt man die Ausführungen der Beurteilerin in der Begründung der Beurteilung und geht im Wege einer Auslegung von einem Beurteilungszeitraum vom 01.10.2019 bis zum 14.02.2020 aus, spricht Alles dafür, dass dieser Beurteilungszeitraum von nur 4 ½ Monaten keine tragfähige Grundlage für eine Auswahlentscheidung bietet. Denn die Beurteilerin konnte die Leistungen der Antragstellerin während des ohnehin kurzen Beurteilungszeitraumes in der Zeit der Abordnung der Antragstellerin vom 27.11.2019 bis zum 30.12.2019 auch nicht aus eigener Anschauung beurteilen.
16Der Antragsgegner durfte die für die Antragstellerin erstellte Anlassbeurteilung aber jedenfalls nicht der Auswahlentscheidung zugrundelegen, ohne sie zuvor mit der Beurteilung der Beigeladenen vergleichbar gemacht zu haben. Die für die Antragstellerin und die Beigeladene erstellten Anlassbeurteilungen sind nicht miteinander vergleichbar, weil diese auf unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben beruhen.
17Es spricht Alles dafür, dass der Anlassbeurteilung der Antragstellerin im Vergleich zur Beurteilung für die Beigeladene ein strengerer Beurteilungsmaßstab zugrundeliegt. Die Antragstellerin wurde durch Anlassbeurteilung vom 14.04.2020 durch die Leiterin der JVA U. mit „gut“ (15 Punkte) beurteilt, die Verwendungseignung wurde mit „besonders gut geeignet, oberer Bereich“ beurteilt. Aufgrund ihrer Tätigkeit als stellvertretende Leiterin der Justizvollzugsanstalt (JVA) U. erfolgte ihre Beurteilung nach Maßgabe der Beurteilungs-AV (AV d. JM vom 1. Februar 2013 – 2000 – Z. 155) sowie der Beurteilungsgrundsätze für den Justizvollzug (Stand 15.05.2014). Die Beurteilungsgrundsätze für den Justizvollzug sehen unter Ziffer III. 2. unter anderem vor, dass die Vergabe der Spitzennote („sehr gut“) nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommt. Im Falle der Antragstellerin wurde ein Überbeurteilungsverfahren durchgeführt. Gegen die Anlassbeurteilung der Antragstellerin erhob das Ministerium der Justiz im Rahmen der Überbeurteilung keine Einwände. Die Beigeladene wurde durch Anlassbeurteilung vom 05.03.2020 mit „sehr gut“ (16 Punkte) beurteilt, die Verwendungseignung wurde mit „hervorragend geeignet, unterer Bereich“ beurteilt. Beurteilungszeitraum ist die Tätigkeit der Beigeladenen als Dozentin bei der Fachhochschule für T. O. in der Zeit vom 01.03.2019 bis zum 14.02.2020. Beurteiler ist kein Bediensteter des Justizvollzugs, sondern der Leiter der Fachhochschule für T. . Die für Beurteilungen von Dozentinnen und Dozenten an der Fachhochschule für T. geltenden Grundsätze sehen anders als die Beurteilungsgrundsätze für den Justizvollzug, die der Beurteilung der Antragstellerin zugrundeliegen, nicht vor, dass die Vergabe der Spitzennote („sehr gut“) nur in besonderen Ausnahmefällen erfolgt. Ein Überbeurteilungsverfahren, mit dem die einheitliche Beachtung der für den Justizvollzug geltenden Beurteilungsgrundsätze hätte sichergestellt werden können, wurde im Falle der Anlassbeurteilung der Beigeladenen nicht durchgeführt. Dafür, dass die Beurteilung der Beigeladenen nicht auf der Grundlage des strengen, für den Justizvollzug geltenden Maßstab erstellt wurde, spricht im Übrigen auch, dass die vom Leiter der Fachhochschule erstellte Beurteilung der Beigeladenen – entgegen Ziff. 2.1.3 der Beurteilungsgrundsätze der Fachhochschule – nicht ausdrücklich zum Ausdruck bringt, dass ihr der für den Geschäftsbereich des Justizvollzugs geltende Beurteilungsmaßstab zugrundeliegt. Mangels eines solchen Hinweises ist davon auszugehen, dass der Beurteilung der Beigeladenen der abweichende für die Fachhochschule für T. geltende Maßstab zugrundeliegt. Erweist sich die Auswahlentscheidung somit als fehlerhaft, ist nicht ausgeschlossen, dass eine erneute Auswahlentscheidung, die auf miteinander vergleichbaren Beurteilungen ergeht, zugunsten der Antragstellerin ausfallen wird.
18Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund für den Antrag zu 1) glaubhaft gemacht. Ihr droht die Vereitelung ihres geltend gemachten Bewerbungsverfahrensanspruchs. Die vom Antragsgegner beabsichtigte Beförderung der Beigeladenen könnte aus Gründen der Ämterstabilität auch bei einem Obsiegen der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren nicht mehr rückgängig gemacht werden.
19Der Antrag zu 2) bleibt ohne Erfolg. Die Antragstellerin hat insoweit einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die begehrte Freihaltung des Postens der stellvertretenden Leiterin der JVA X. ist nicht von dem für die Stelle der Leiterin der JVA X. geltend gemachten Bewerbungsverfahrensanspruch umfasst. Die Wahrnehmung des Dienstpostens der stellvertretenden Leiterin der JVA X. verschafft der Beigeladenen zu Lasten der Antragstellerin keinen beachtlichen Bewerbungsvorteil für die Besetzung des Postens des Leiters der JVA X. , weil die Antragstellerin einen mit dem Posten der stellvertretenden Leiterin der JVA X. gleichwertigen Dienstposten innehat. Sie wird ebenfalls als stellvertretende Leiterin einer JVA, nämlich der JVA U. eingesetzt.
20Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO. Die Quote trägt dem Umstand Rechnung, dass die Antragstellerin mit dem streitwertmäßig höher anzusetzenden Begehren obsiegt. Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO). Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich somit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie etwaige eigene außergerichtliche Kosten selbst trägt.
21Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und Abs. 6 S. 4, § 52 Abs. 2 und § 39 Abs. 1 GKG. Für den Antrag auf vorläufige Freihaltung der Beförderungsstelle ist ein Viertel der Jahresbezüge in Ansatz zu bringen. Der Antrag zu 2) ist mit der Hälfte des Auffangstreitwertes zu veranschlagen.
22Rechtsmittelbelehrung
23Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
24Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
25Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
26Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
27Die Beteiligten müssen sich bei der Einlegung und der Begründung der Beschwerde durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
28Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
29Die Beschwerde ist schriftlich, zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.
30Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
31Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten beider Instanzen tragen die Kläger.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils beizutreibenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks Gemarkung L. Flur 8 Flurstück 519, T. 16 in H. . Auf dem südöstlichen Teil des Grundstücks befindet sich - nach den Angaben der Beklagten - der etwa 1,50 m breite Fußweg „H1.-----straße “, der vom Grundstück der Kläger aus in Richtung Südwesten bis zur G.---straße und in Richtung Nordosten bis zur Straße T. verläuft. Die Erschließung des Grundstücks der Kläger erfolgt auf der nordwestlichen Grundstücksseite. Bei der Bebauung des Grundstücks schütteten die Kläger den südöstlich gelegenen Bereich ihres Grundstücks einschließlich der von der Beklagten benannten Wegefläche auf, befestigten die Aufschüttung mit Betonsteinen und setzen später einen Zaun auf die Aufschüttung.
3Im Wegelagerbuch der Gemeinde D. aus dem Jahr 1857 finden sich folgende Eintragungen:
4„lfd. Nr. 48
5Örtlicher Name: „Fußweg I. de Höf“
6Zweck/Gebrauch Fußweg
7Breite ca. 2 - 3 Fuß“
8„Von dem T1.-----weg Nr. 44 neben dem Garten des U. M. , den sämtlichen Gärten entlang rund um’s Dorf und neben dem Kirchhof auch durchs Kirchbruch“.
9„Das vorgedruckte Verzeichnis nach vorhergegangener ortsüblicher Publikation, vom 13. April an seit vier Wochen Jedermanns Einsicht auf dem Verwaltungs-Bureau offengelegen, und gegen den Inhalt, außer gegen No. 28 und 39, kein Einspruch erhoben ist, bescheinigt.
10D. , den 20. Mai 1857
11Der Bürgermeister“
12Mit Ordnungsverfügung vom 5. Dezember 2018 gab die Beklagte den Klägern auf, „die auf Ihrem Grundstück […] befindliche bauliche Anlage (bestehend aus einer Stützmauer mit Einfriedung und Aufschüttung) insoweit zu beseitigen, dass zwischen Ihrer baulichen Anlage und der Grenze der südöstlich gelegenen Flurstücke 47, 48, 49 und 50 ein Abstand von mindestens 1,50 m besteht“ und „den ursprünglichen Zustand des Fußwegs ‚H1.-----straße - I. de Höf' wiederherzustellen“. Zugleich drohte die Beklagte den Klägern die Durchführung der Maßnahme im Wege der Ersatzvornahme an. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Die Sperrung des Wegs stelle eine unerlaubte Benutzung der Straße gemäß § 22 StrWG NRW dar. Nach den Grundsätzen der Widmung kraft unvordenklicher Verjährung sei der Weg „I. de Höf“, auf dessen Fläche der Fußweg „H1.-----straße “ verlaufe, als öffentlicher Weg anzusehen. Das ergebe sich aus einem von ihr eingeholten und von den Klägern eingesehenen Rechtsgutachten vom 14. Mai 2018. Mit der Angabe im Wegelagerbuch von 1857 „T1.-----weg Nr. 44“ werde nicht auf ein bestimmtes Grundstück Bezug genommen, sondern auf den unter der laufenden Nr. 44 im Wegelagerbuch verzeichneten „X. Weg“, der in Richtung X1. zu einer dort liegenden Schanze führe. Dazu verweise sie - die Beklagte - auch auf die L1. Katasterkarte von 1733 und die Uraufnahme von 1836 bis 1850. Teilverlegungen des Wegs in den Jahren 1929, 1951,1953 und 1958 ließen ebenfalls auf den öffentlich-rechtlichen Charakter des Wegs „I. de Höf“ schließen.
13Am 3. Januar 2019 haben die Kläger Klage erhoben. Zur Begründung haben sie geltend gemacht: Die Eintragung des Wegs „I. de Höf“ im Wegelagerbuch sei hinsichtlich des Verlaufs unklar. Ob mit dem „T1.-----weg “ die X. Straße, die südwestlich der G.---straße nach Nordwesten von der M1. Straße abzweige, gemeint sei, sei bereits zweifelhaft. Im Übrigen komme dem Wegelagerbuch nicht die rechtliche Bedeutung zu, die ihm die Beklagte geben wolle. Der Weg sei auch in der Vergangenheit nicht durch die Beklagte unterhalten worden, weil es sich um ein Privatgrundstück handele. Sie selbst hätten eine Veräußerung des Streifens angeboten, was die Beklagte abgelehnt habe.
14Die Kläger haben beantragt,
15den Bescheid vom 5. Dezember 2018 aufzuheben.
16Die Beklagte hat beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Zur Begründung hat sie ausgeführt: Die Öffentlichkeit des Wegs ergebe sich auch aus den Unterlagen über die Einziehung von Teilstücken unter Anwendung des § 57 des preußischen Gesetzes über die Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbehörden vom 1. August 1883. Der Weg sei durchaus von ihr unterhalten worden. Zum Beleg hat sie eine Veröffentlichung vom September 1999 vorgelegt, wonach auf Antrag des Ortsverbands einer Partei alle Pfade innerhalb des Ortsteils L. durch den Bauhof überholt worden seien.
19Das Verwaltungsgericht hat die Ordnungsverfügung durch Urteil vom 7. August 2019 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen der allein möglichen Widmung kraft unvordenklicher Verjährung lägen nicht vor. Es lägen zwar Anhaltspunkte dafür vor, dass es schon vor 1882 einen Weg gegeben habe, der als „I. de Höf“ bezeichnet worden sei. Dafür spreche der Eintrag ins Wegelagerbuch von 1857. Zweifel an der Öffentlichkeit des Wegs bestünden aber, weil der Antragsteller in einem Verlegungsverfahren im Jahr 1929 („Verlegungsverfahren W. “) den Weg als „Interessentenweg“ bezeichnet habe. In einem Verlegungsverfahren im Jahr 1953 habe die Gemeinde beschlossen, eine Ortsbesichtigung mit den „Interessenten“ durchzuführen. Im Protokoll der Gemeinde vom 27. Oktober 1950 sei der Weg als „Interessentenweg“ bezeichnet worden. Auch im Protokoll vom 1. Oktober 1951 sei von „interessierten Grundstückseigentümern“ die Rede. Interessentenwege seien für den Gebrauch eines bestimmten, mehr oder weniger eng begrenzten Personenkreises bestimmte Wege. Sie seien Privatwege, die durch den größeren Umfang der Interessentenschaft, zu der bspw. auch sämtliche Bewohner größerer Gemeinden hätten gehören können, nicht zu öffentlichen Wegen geworden seien. Zudem bleibe, selbst wenn von der Existenz eines öffentlichen Wegs ausgegangen werden sollte, offen, ob das Grundstück der Kläger hierin einbezogen gewesen sei. Der genaue Verlauf des Wegs könne weder dem Wegelagerbuch noch den vorliegenden Karten entnommen werden. Zwar könne aus der topographischen Karte von 1950 und der Flurkarte von 1955 ein Wegeverlauf in dem hier fraglichen Bereich entnommen werden. Jedoch fehle eine Darstellung, aus der sich eine Einbeziehung in einen Verlauf rund um das Gemeindegebiet ergebe. Auch sei nicht erkennbar, dass bereits im Jahr 1882 gerade in dem hier streitigen Bereich ein Teil des Wegs verlaufen sei. Aus der Flurkarte von 1867 bis 1933 und der Karte von 1733 lasse sich ein konkreter Wegeverlauf im Sinne des Wegelagerbuchs nicht herleiten. Die Flurkarte von 1867 bis 1933 lasse Parzellengrenzen erkennen, die möglicherweise entlang eines Teils des streitigen Wegs führten, jedoch weder einen etwa in gestrichelter Linie gekennzeichneten Weg noch den Anschluss an die X. Straße. Die Aufnahme von 1836 bis 1850 könne allenfalls für einen weit um den Ortskern herum führenden Wegeverlauf sprechen.
20Die Beklagte führt zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung aus: Die Eintragung im Wegelagerbuch habe nicht nur Indizwirkung; sie sei vielmehr als hinreichender Nachweis für die Öffentlichkeit des Wegesystems „Fußweg hinter de Höf“ anzusehen. Dies folge zum einen daraus, dass das Wegelagerbuch als „Verzeichnis der Fahr- und Fußwege der Gemeinde D. , deren Grundfläche die Gemeinde als ihr Eigenthum oder doch als allgemeine Benutzungswege in Anspruch nimmt“ in der Überschrift bezeichnet worden sei. Im Wegelagerbuch sei vermerkt, dass es aufgestellt worden sei „aufgrund der Verfügung Königlicher Regierung vom 30ten Dezember 1856 II S. III No. 3296 FDB“. Diese Verfügung betreffe „Gemeindewege“ und enthalte u. a. folgende Anordnung: „Es sind nach anliegendem Schema Wegeverzeichnisse über sämtliche vorhandenen Gemeinde-Wege anzulegen (Wege-Lager-Buch). In solche sind sämtliche Fahr- und Fußwege aufzunehmen, die nicht zu den Staats-, Bezirks- und Aktionsstrassen gehören, und deren Gebrauch jedermann freisteht (Öffentliche Wege). Wird der öffentliche Gebrauch bestritten, so ist das zu bemerken. Die Herren Bürgermeister und Gemeindevorsteher haften auf die Vollständigkeit der Verzeichnisse. Die Aufnahme der Lagerbücher wird von den Behörden Veranlassung bieten, die alten wahren Dimensionen der Wege zu ermitteln und in tunlicher Weise herzustellen. […] Nach der Zusammenstellung des Lagerbuches wird solches auf dem Gemeindehaus offengelegt und unter Benachrichtigung des Publikums, dass Einwendungen im Privat-Interesse binnen 4 Wochen dagegen erhoben werden können.“ Damit sei die rechtliche Qualität des Wegelagerbuchs umschrieben und festgelegt, dass es sich bei sämtlichen in das Wegelagerbuch aufgenommenen Fahr- und Fußwegen um „Gemeinde-Wege“ in dem Sinne handele, dass „deren Gebrauch jedermann freisteht“. Das Wegelagerbuch von 1857 enthalte demgemäß ausdrücklich die Erklärung, dass die Gemeinde die Grundfläche der verzeichneten Fahr- und Fußwege als ihr Eigentum oder doch als „allgemeine Benutzungswege“ in Anspruch nehme. Die Eintragung eines Wegs in das Lagerbuch sei in der Rechtsprechung im Übrigen grundsätzlich als ein für dessen Öffentlichkeit sprechender urkundlicher Befund angesehen worden.
21Mit Rücksicht darauf verbiete es sich, aus vereinzelten Äußerungen einiger Personen die Beweiskraft der Eintragung im Wegelagerbuch infrage zu stellen und aus der vereinzelten Verwendung von Begriffen wie „Interessenten“ und „Interessentenweg“ auf die rechtliche Qualität des Wegs zu schließen. Insoweit sei vielmehr die Eintragung in das Wegelagerbuch entscheidend. Im Übrigen stehe nach der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 28. Januar 1926 - IV C 30/24 - (PrOVGE 80, 253) die Unterhaltung eines Wegs durch die „Interessentenschaft“ der Öffentlichkeit dieses Wegs nicht entgegen, wenn der Gebrauch des Wegs der Öffentlichkeit freigegeben gewesen sei.
22Es bestünden auch keine vernünftigen Zweifel daran, dass der von den Klägern überbaute Fußweg zum Wegesystem „I. de Höf“ gehöre, wie es in dem Wegelagerbuch beschrieben worden sei. Die Lage des Fußwegs entspreche der Beschreibung im Wegelagerbuch, wonach der Weg an „sämtlichen Gärten entlang rund um´s Dorf“ verlaufe. Die Beschreibung decke sich mit dem in einer Anlage zur Ordnungsverfügung dargestellten Verlauf des Wegesystems „I. de Höf“, wie es auch heute noch in der Örtlichkeit festgestellt werden könne.
23Die Kläger hätten im Verwaltungsverfahren eine Karte von 1810 vorgelegt, auf die dort eingetragene „Parzelle 44“ hingewiesen und den nach ihrer Auffassung wahrscheinlichen Wegeverlauf in einer gleichzeitig überreichten Anlage eingezeichnet. Dieser befinde sich in erheblichem Abstand in nördlicher Richtung vom Grundstück der Kläger entfernt und habe keinen Bezug zu einer damals aber nur vorhandenen Straßenrandbebauung.
24Die Beklagte beantragt,
25das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
26Die Kläger beantragen,
27die Berufung zurückzuweisen.
28Zur Begründung führen die Kläger aus: Eine Eintragung in das Wegelagerbuch allein genüge nicht, um die Öffentlichkeit eines Fußwegs zu beweisen. Sie verwiesen insoweit auch auf eine Entscheidung des erkennenden Gerichts in seinem Urteil vom 26. März 1953 - IV A 887/51 -. Es müssten vielmehr weitere Umstände vorliegen, die den eindeutigen Rückschluss auf die Öffentlichkeit eines Wegs zuließen. Soweit die Beklagte nunmehr auf die von ihr aufgefundene „königliche Verfügung vom 30ten Dezember 1856“ hinweise, ergebe sich nichts anderes. Denn auch die Bezeichnung des Wegelagerbuchs als Verzeichnis der Fahr- und Fußwege der Gemeinde D. stelle nichts weiter als ein Indiz dar und vermöge die Öffentlichkeit des Fußwegs „I. de Höf“ nicht zu begründen. Zutreffend habe das Verwaltungsgericht im Ergebnis auch weitere Tatsachen zur Feststellung der Öffentlichkeit des Fußwegs gewürdigt und richtigerweise die Indizwirkung des Wegelagerbuchs widerlegt. Denn es sprächen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei dem Fußweg „I. de Höf“ um einen sog. Interessentenweg gehandelt habe. Selbst wenn man von der Existenz eines öffentlichen Wegs „I. de Höf“ ausgehe, sei jedenfalls - wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt habe - nicht abschließend feststellbar, dass dieser über ihr heutiges Grundstück verlaufen sei. Denn der genaue Verlauf des Fußwegs „I. de Höf“ im Jahr 1882 sei unklar und heute auch nicht mehr aufklärbar.
29Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten einschließlich des von ihr eingeholten Rechtsgutachtens sowie die von den Beteiligten vorgelegten Pläne und Karten Bezug genommen.
30E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
31Die zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg. Die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 5. Dezember 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
32A. Rechtsgrundlage für die Ziffer 1. der Ordnungsverfügung vom 5. Dezember 2018 ist § 22 Satz 1 StrWG NRW. Nach dieser Vorschrift kann die für die Erteilung der Sondernutzungserlaubnis zuständige Behörde die erforderlichen Maßnahmen zur Beendigung der ohne die erforderliche Erlaubnis erfolgenden Benutzung der Straße anordnen.
33I. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Bei dem über den südöstlichen Teil ihres Grundstücks verlaufenden Weg „H1.-----straße “, auf dem die Kläger die mit Betonsteinen befestigte Aufschüttung errichtet haben, handelt es sich um eine öffentliche Straße, die durch die Aufschüttung und deren Befestigung mit Betonsteinen ohne die erforderliche Erlaubnis benutzt wird.
341. Der Weg „H1.-----straße “ ist eine öffentliche Straße. Öffentliche Straßen sind gemäß § 2 Abs. 1 StrWG NRW diejenigen Straßen, Wege und Plätze, die dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind. Widmung ist nach § 6 Abs. 1 Satz 1 StrWG NRW die Allgemeinverfügung, durch die Straßen, Wege und Plätze die Eigenschaft einer öffentlichen Straße erhalten. Darüber hinaus sind nach § 60 Satz 1, erster Halbsatz StrWG NRW - eine wortgleiche Bestimmung enthielt bereits § 60 Abs. 2 Satz 1, erster Halbsatz LStrG - auch diejenigen Straßen, Wege und Plätze öffentliche Straßen, welche nach bisherigem Recht die Eigenschaft einer öffentlichen Straße besitzen.
35Die Öffentlichkeit des Wegs resultiert nicht aus einer förmlichen Widmung. Eine Widmung durch Allgemeinverfügung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 StrWG NRW liegt nicht vor; das ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
36Dieser Weg ist aber eine öffentliche Straße i. S. d. § 60 Satz 1 StrWG NRW. Die Öffentlichkeit des Wegs resultiert zwar nicht aus dem vor dem Inkrafttreten des nordrhein-westfälischen Straßenwegegesetzes geltenden Recht (dazu a.); ob seine Öffentlichkeit aus einer Widmung nach der vom Preußischen Oberverwaltungsgericht entwickelten Widmungstheorie folgt, kann offenbleiben (dazu b.); sie ergibt sich aber auf jeden Fall aus einer Widmung kraft unvordenklicher Verjährung (c.).
37a. Eine Widmung des Wegs kann nicht nach dem vor Inkrafttreten des Landesstraßengesetzes geltenden Recht festgestellt werden.
38Für nicht förmlich nach nordrhein-westfälischem Straßenrecht gewidmete Straßen ist bezüglich der Frage der Öffentlichkeit einer Straße, die vor dem 1. Januar 1962 vorhanden war, auf das Wegerecht abzustellen, unter dessen Geltung die Straße entstanden ist.
39Vgl. hierzu etwa OVG NRW, Urteil vom 29. April 2009 - 11 A 3657/06 -, juris, Rn. 24 f., m. w. N., und Beschluss vom 15. September 2017 - 11 A 2702/09 -, juris, Rn. 11, m. w. N.; nachgehend: BVerwG, Beschluss vom 31. Mai 2018 - 9 B 39.17 -, juris.
40Der vor dem 1. Januar 1962 entstandene Weg liegt im Gebiet der Stadt H. . Nach dem Ende der französischen Herrschaft und der Rückkehr zu Preußen (Wiener Kongress 1815) wurde der Kreis H. im Zuge der preußischen Verwaltungsorganisation am 23. April 1816 als einer von 29 Kreisen der Provinz K. -L2. -Berg neu gebildet. Im Jahre 1822 wurden die Provinzen K. -L2. -Berg und Großherzogtum Niederrhein zur Rheinprovinz zusammengelegt. Dort galten u. a. die wegerechtlichen Vorschriften der K. -C. Polizeiordnungen vom 10. Oktober 1554 und vom 15. Mai 1558,
41abgedruckt in: Germershausen/Seydel/Marschall, Wegerecht und Wegeverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland und deren Ländern, II. Band, 5. Auflage 1961, S. 1557 ff. und S. 1561,
42die nach § 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Aufhebung veralteter Polizei- und Strafgesetze vom 23. März 1931,
43vgl. Preußische Gesetzsammlung, 1931, S. 33,
44aufrechterhalten blieben, in Ermangelung später erlassener Bestimmungen zunächst fort und wurden erst mit Wirkung zum 1. Januar 1962 durch § 69 Nr. 1 LStrG aufgehoben.
45Vgl. hierzu etwa OVG NRW, Beschluss vom 15. September 2017- 11 A 2702/09 -, juris, Rn. 13 ff., m. w. N.; nachgehend: BVerwG, Beschluss vom 31. Mai 2018 - 9 B 39.17 -, juris.
46Nach diesen Vorschriften kann der Weg aber nicht gewidmet worden sein. Denn diese Vorschriften betreffen nur bestehende Wege, enthalten aber keine Regelungen über die Voraussetzungen der Entstehung eines öffentlichen Weges.
47Vgl. hierzu etwa OVG NRW, Beschluss vom 15. September 2017 - 11 A 2702/09 -, juris, Rn. 19 f., m. w. N.; nachgehend: BVerwG, Beschluss vom 31. Mai 2018 - 9 B 39.17 -, juris.
48b. Es bedarf keiner abschließenden Klärung, ob eine Widmung des Wegs bereits nach der vom Preußischen Oberverwaltungsgericht entwickelten sogenannten Widmungstheorie vorliegt.
49Öffentliche Wege entstanden nach dieser Theorie durch Widmung seitens der drei Rechtsbeteiligten, nämlich des Wegebau- und -unterhaltungspflichtigen, der Wegepolizeibehörde und des Wegeeigentümers.
50Vgl. OVG NRW, Urteile vom 29. April 2009 - 11 A 3657/06 -, juris, Rn. 51; und vom 21. November 2002 - 11 A 5497/99 -, juris, Rn. 53; und siehe auch PrOVG, Urteil vom 2. Juli 1934 - IV C 77/33 -, PrOVGE 94, 143 (145); siehe aber OVG NRW, Urteil vom 18. Dezember 1963 - IV A 707/61 -, OVGE 19, 175 (178 f.), wonach die Widmungstheorie auf vor 1875 entstandene Straßen nicht anwendbar ist.
51Mit Blick auf die Eintragung des Wegs unter der laufenden Nr. 48 in das Wegelagerbuch der Gemeinde D. von 1857 könnte eine (konkludente) Zustimmung der drei Wegebeteiligten zur Widmung angenommen werden.
52aa. Das mit „Verzeichnis der Fahr- und Fußwege der Gemeinde D. , deren Grundfläche die Gemeinde als ihr Eigentum oder doch als der allgemeinen Benutzungswege in Anspruch nimmt“ überschriebene Wegelagerbuch, das aufgrund der „Verfügung Königlicher Regierung vom 30ten Dezember 1856 II S. III No. 3296 FDB“ (im Folgenden: Verfügung vom 30. Dezember 1856) durch die Gemeinde D. aufgestellt worden ist, lässt bereits nur den Schluss zu, dass die damalige Gemeinde bzw. deren Bürgermeister als zuständige Wegepolizeibehörde,
53vgl. hierzu Germershausen-Seydel, Wegerecht und Wegeverwaltung in Preußen, Band I, 4. Auflage 1932, S. 398,
54der Widmung zugestimmt hat.
55bb. Die Gemeinde ist mit der Eintragung des Kommunikationswegs unter der Nr. 48 („um´s Dorf und neben dem Kirchhof und durchs Kirchbruch“) für diesen wohl auch Wegeunterhaltspflichtige geworden. Dies ergibt sich jedenfalls aus den Regelungen in Anordnung Nr. 1 der Verfügung vom 30. Dezember 1856, wonach in das Wegelagerbuch „sämtliche Fahr- und Fußwege aufzunehmen“ sind, die nicht zu den Staats-, Bezirks-, und Aktionsstraßen gehören, und deren Gebrauch jedermann freisteht (öffentliche Straße) sowie in Anordnung Nr. 2 derselben Verfügung, wonach Kommunikationswege, die u. a. solche sind, „welche eine Ortschaft oder einen Teil einer Ortschaft […] nach Umständen mit den Kirchen und Schulen verbinden“ von der Gemeinde in „einen ihrem Zwecke entsprechenden [Zustand] zu setzen und darin zu erhalten sind“.
56cc. Der Umstand, dass die damaligen Eigentümer der hier streitigen Wegefläche ausweislich der im Wegelagerbuch vermerkten und vom Bürgermeister der Gemeinde D. unter dem 20. Mai 1857 unterzeichneten Eintragung während der Auslegungsfrist von vier Wochen keine Einwendungen gegen die Eintragung des Wegs in das Wegelagerbuch unternommen haben, dürfte für eine jedenfalls konkludente Zustimmung zur Widmung sprechen. Denn auch wenn sie sich nicht mit Einwendungen für die Zukunft ausgeschlossen haben mochten,
57vgl. hierzu PrOVG, Urteil vom 20. April 1895 - IV C 18/95 -, PrOVGE 28, 243 (245),
58könnten sie damit gleichwohl zum Ausdruck gebracht haben, dass sie sich der mit der Eintragung verbundenen Bestimmung der Öffentlichkeit des Wegs fügten. Unterlassene Rechtsbehelfe gegen die Inanspruchnahme eines Wegs als öffentlicher Weg konnten jedenfalls als Indiz für eine zumindest konkludente Zustimmung der Wegeigentümer zur Widmung gewertet werden.
59Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 11 A 2478/12 -, juris, Rn. 11 ff., unter Hinweis auf PrOVG, Urteil vom 31. Oktober 1894 - IV C 47/94 -, PrOVGE 27, 176 (183).
60Letztlich bedarf es aber keiner abschließenden Feststellung, ob eine stillschweigende Zustimmung zur Widmung der Wegefläche auch durch die damaligen Eigentümer vorliegt, weil diese trotz entsprechender Möglichkeit keine Einwendungen gegen die Eintragung des Wegs erhoben haben.
61c. Denn der Weg „I. de Höf“ ist jedenfalls nach dem Grundsatz der „unvordenklichen Verjährung“ als öffentlicher Weg anzusehen.
62Der Grundsatz der unvordenklichen Verjährung begründet eine widerlegliche Vermutung für die Öffentlichkeit eines Wegs, wenn dieser ein „alter Weg“ ist, dessen Entstehung und ursprüngliche rechtliche Verhältnisse im Dunkeln liegen, und er seit Menschengedenken oder doch seit langer Zeit unter stillschweigender Duldung des nicht wegebau- oder wegeunterhaltungspflichtigen Privateigentümers in der Überzeugung der Rechtmäßigkeit als öffentlicher Weg benutzt worden ist.
63Vgl. OVG NRW, Urteile vom 19. Mai 2016 ‑ 11 A 1090/14 -, NWVBl. 2017, 80 (82) = juris, Rn. 59, m. w. N., und vom 29. April 2009 - 11 A 3657/06 -, juris, Rn. 53, m. w. N., sowie Beschluss vom 6. Mai 2014 - 11 A 2478/12 -, juris, Rn. 19.
64Für die Annahme eines „alten Wegs“ müssen dabei nicht nur dessen Entstehung und ursprüngliche rechtliche Verhältnisse im Dunkeln liegen, sondern der Weg muss nachgewiesenermaßen bereits 1882 existiert haben. Diese zeitliche Grenze der Existenz des Wegs als unerlässliche Anwendungsvoraussetzung des Grundsatzes der unvordenklichen Verjährung ergibt sich daraus, dass der Weg seit Menschengedenken oder doch seit langer Zeit unter stillschweigender Duldung des nicht wegebau- oder wegeunterhaltungspflichtigen Privateigentümers als öffentlicher Weg benutzt worden sein muss. Hierbei ist als notwendige Dauer der Benutzung ein Zeitraum von 40 Jahren zugrundezulegen, für den die Benutzung nachgewiesen werden muss. Für die diesem Zeitraum vorangegangenen 40 Jahre darf keine gegenteilige Erinnerung an einen anderen Rechtszustand bestehen. Als Bezugspunkt für die rückblickende Betrachtung ist auf das Inkrafttreten des Landesstraßengesetzes am 1. Januar 1962 abzustellen. Dabei reicht die bloße Möglichkeit einer Entstehung vor dem demnach maßgeblichen Zeitpunkt 1882 indes nicht aus. Denn die (negative) Voraussetzung, dass aus den 40 Jahren seit 1882 keine gegenteilige Erinnerung bestehen darf, würde leerlaufen, wenn die Existenz des Wegs für diesen Zeitraum gar nicht feststände.
65Vgl. OVG NRW, Urteile vom 19. Mai 2016 - 11 A 1090/14 -, NWVBl. 2017, 80 (82) = juris, Rn. 61, und vom 29. April 2009 - 11 A 3657/06 -, juris, Rn. 56 ff., jeweils m. w. N.
66Zudem sind, wenn privates Grundeigentum betroffen ist, an den Nachweis der Öffentlichkeit eines Wegs über den letztlich (nur) eine widerlegliche Vermutung begründenden Grundsatz der unvordenklichen Verjährung allgemein hohe Anforderungen zu stellen, die es ausschließen, dass verbleibende Zweifel sich zulasten des Privateigentümers auswirken können.
67Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Oktober 2008 - 9 B 53.08 -, Buchholz 407.0 Allg. Straßenrecht Nr. 25, S. 1 (2) = juris, Rn. 5; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 15. April 2009 - 1 BvR 3478/08 -, juris, Rn. 38.
68Mit Rücksicht auf die erheblichen Auswirkungen auf die Rechtssphäre des Eigentümers, über dessen privaten Grund ein öffentlicher Weg verläuft, kann daher im Zweifel nicht von der Existenz eines öffentlichen Wegs ausgegangen werden.
69Vgl. OVG NRW, Urteile vom 19. Mai 2016 - 11 A 1090/14 -, NWVBl. 2017, 80 (82) = juris, Rn. 65, m. w. N., und vom 19. Juni 2000 ‑ 11 A 1045/97 - juris, Rn. 90.
70Diese Voraussetzungen des Grundsatzes der unvordenklichen Verjährung sind erfüllt.
71aa. Der Weg „I. de Höf“ ist ein „alter Weg“, der nachgewiesenermaßen bereits vor dem Jahr 1882 bestanden hat.
72Die Entstehung des Wegs steht nicht fest. Es steht aber fest, dass er bereits vor 1882 existiert hat. Denn er ist - wie oben aufgeführt - im Jahr 1857 in das Wegelagerbuch der Gemeinde D. eingetragen worden. Die L1. Katasterkarte von 1733, die Landesaufnahme von U1. /von N. von 1803 bis 1820 und die Uraufnahme von 1836 bis 1850 lassen zudem jedenfalls die Vermutung zu, dass der Weg schon deutlich vor der Eintragung in das Wegelagerbuch entstanden ist.
73bb. Der Weg stand der Öffentlichkeit auch nachgewiesenermaßen schon seit 1857 zur Verfügung.
74(1) Der Weg war aufgrund der Verfügung vom 30. Dezember 1856 ins Wegelagerbuch von 1857 als öffentlicher Weg eingetragen worden. Diese Eintragung spiegelt der insoweit maßgeblichen Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zufolge zwar zunächst lediglich die Rechtsauffassung der die Eintragung vornehmenden Behörde wider. Die Eintragung ist darüber hinaus indessen auch Beweismittel für die Öffentlichkeit des Wegs, sofern die betreffende Rechtsauffassung der Behörde nicht durch überzeugende Indizien für die Nichtöffentlichkeit widerlegt wird.
75Vgl. hierzu PrOVG, Urteil vom 20. April 1895 - IV C 18/95 -, PrOVGE 28, 243 (245 f.).
76(2) Aus den in diesem Zusammenhang von den Klägern und - ihnen folgend - vom Verwaltungsgericht angeführten Vorgängen aus den Jahren 1929 bis 1953 folgen keine entsprechenden Indizien für die Nichtöffentlichkeit des Wegs „I. de Höf“; diese Vorgänge bestätigen vielmehr im Gegenteil dessen Öffentlichkeit [dazu (a) bis (d)].
77(a) Das auf Antrag von Herrn K1. X2. . im Jahr 1929 eingeleitete Verfahren zur Verlegung eines Teilstücks des Wegs „I. de Höf“ wurde von der zuständigen Wegepolizeibehörde - dem Bürgermeister der Gemeinde D. - ausweislich der Bekanntmachung vom 14. März 1929 als Verlegungsverfahren auf der Grundlage des § 57 des Preußischen Gesetzes über die Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbehörden vom 1. August 1883 (Zuständigkeitsgesetz), Pr.GS 1883, 237, durchgeführt. Diese Bestimmung regelte das Verfahren der Einziehung und Verlegung von öffentlichen Wegen.
78Vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 11. April 2014 - 11 A 25/12 -, juris, Rn. 19 ff.; Germershausen-Seydel, Wegerecht und Wegeverwaltung in Preußen, Band I, 4. Auflage 1932, S. 515 ff.
79Interessentenwege wurden von dieser Bestimmung nicht erfasst.
80Vgl. Germershausen-Seydel, Wegerecht und Wegeverwaltung in Preußen, Band I, 4. Auflage 1932, S. 569.
81Soweit der Antragsteller X2. . in seinem Schreiben vom 25. Februar 1929 den Weg als „öffentlichen Interessentenweg“ bezeichnete (und nicht - wie das Verwaltungsgericht verkürzt formuliert - als „Interessentenweg“), ist dies rechtlich schon deshalb unerheblich, weil dem preußischen Wegerecht ein „öffentlicher Interessentenweg“ unbekannt war.
82Vgl. PrOVG, Urteil vom 1. Januar 1917 - IV C 47/16 -, PrOVGE 72, 329 (330).
83Im Übrigen erklärte der Antragsteller X2. . in dem Schreiben: „Durch die Verlegung ist die Öffentlichkeit des Weges nach wie vor gewährleistet“; damit brachte er zum Ausdruck, dass er dessen Öffentlichkeit nicht nur nicht beeinträchtigen wollte, sondern auch anerkannte.
84(b) Was das auf Antrag von Herrn Peter Schlootz vom 24. September 1951 durchgeführte Verlegungsverfahren betrifft, so erfolgte auch hier die amtliche Bekanntmachung des Verlegungsvorhabens vom 1. Oktober 1951 nach Maßgabe der nur für öffentliche Wege geltenden Bestimmung in § 57 Zuständigkeitsgesetz. Auch Herr T2. wies in seinem Antragsschreiben vom 24. September 1951 im Übrigen ausdrücklich darauf hin, durch die Verlegung bleibe „die Oeffentlichkeit des Wegs“ nach wie vor gewahrt. Die im Protokoll vom 1. Oktober 1951 über eine im Verlegungsverfahren nach § 57 Zuständigkeitsgesetz durchgeführte Ortsbesichtigung hinsichtlich einiger Erschienener verwendete Formulierung der „interessierten Grundstückseigentümer“ sagt vor diesem Hintergrund entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts nichts über die Rechtsnatur des Wegs aus, sondern allenfalls etwas über die Motivlage der betreffenden Erschienenen.
85(c) Das Verlegungsverfahren auf Antrag des Herrn U2. I1. vom 13. Januar 1953 wurde ausweislich der Bekanntmachung vom 12. Februar 1953 in gleicher Weise auf Grundlage des § 57 Zuständigkeitsgesetz durchgeführt. Hinsichtlich des in dieser Angelegenheit gefassten Beschlusses des Hauptausschusses der Gemeinde L. vom 26. Januar 1953, eine Ortsbesichtigung mit den „Interessenten“ durchzuführen, gilt das oben Ausgeführte entsprechend.
86(d) Soweit das Verwaltungsgericht darauf hinweist, im Verhandlungsprotokoll vom 27. Oktober 1950 über die Verlegung des Wegs im Bereich des Friedhofs werde der neu entstehende Weg als Interessentenweg bezeichnet, der wie alle übrigen Interessentenwege in der Gemeinde L. unterhalten werden solle, ergibt sich nichts anders.
87(aa) Denn das Protokoll war nach der ihm vorgegangenen amtlichen Bekanntmachung vom 6. Juli 1950 im Rahmen eines ebenfalls auf der Grundlage des ausschließlich für öffentliche Wege geltenden § 57 Zuständigkeitsgesetzes durchgeführten Einziehungs- und Verlegungsverfahrens des Teilstücks des Fußwegs „I. de Höf“ erstellt worden. Eine Wegeverlegung im Sinne dieser Vorschrift umfasste sowohl die Aufgabe des bisherigen Wegezugs durch Einziehung als auch die Schaffung eines Ersatzwegs. Voraussetzung für die Einziehung eines öffentlichen Wegs war dabei regelmäßig die in Aussicht genommene Herstellung eines öffentlichen Ersatzwegs. Den Voraussetzungen der Vorschrift war aber auch Genüge getan, wenn die Einziehung von der Bereitstellung eines Interessentenwegs abhängig gemacht wurde.
88Vgl. Germershausen-Seydel, Wegerecht und Wegeverwaltung in Preußen, Band I, 4. Auflage 1932, S. 518 f.
89Entsprechend diesen Vorgaben war die Gemeinde L. damals vorgegangen. Denn nach dem vom Verwaltungsgericht angeführten Protokoll vom 27. Oktober 1950 über die Einigung zwischen der Gemeinde und den „erschienenen Interessenten“ wurde „der in Frage stehende Weg“ „neben dem Friedhofe“ als „Interessentenweg erklärt“ und zwar als Ersatz für das eingezogene Teilstück des öffentlichen Wegs „I. de Höf“.
90(bb) Die Kreisverwaltung H. stellte zudem ausweislich eines im Zusammenhang mit der Zurückweisung eines Einspruchs vom 21. Juli 1950 „gegen die Einziehung des Fussweges am Friedhof entlang“ gefertigten Schreibens vom 29. September 1950 ausdrücklich fest, der Fußweg „I. der Höf“ sei nach „Bl. 8“ ein öffentlicher Weg. Blatt 8 der der Kreisverwaltung von der Gemeinde L. übersandten Akte war der Auszug aus dem Wegelagerbuch vom 20. Juli 1857 betreffend den unter der laufenden Nummer eingetragenen Weg „I. de Höf“.
91(3) Die vorstehenden Feststellungen vermögen die Kläger auch nicht in Frage zu stellen, indem sie geltend machen, aus dem Urteil des erkennenden Gerichts vom 26. März 1953 - IV A 887/51 - ergebe sich, dass eine Eintragung eines Wegs in ein Wegelagerbuch allein nicht genüge, um die Öffentlichkeit eines Fußwegs zu beweisen. Denn diese Entscheidung verhält sich zu einem Wegelagerbuch, das selbst nicht von „öffentlichen Wegen“ spricht (Seite 8 des Urteilsausdrucks). Schon deshalb können aus dieser Entscheidung keine Schlüsse für die Frage gezogen werden, welche rechtliche Bedeutung dem im Jahr 1857 aufgestellten mit „Verzeichnis der Fahr- und Fußwege der Gemeinde D. , deren Grundfläche die Gemeinde als ihr Eigentum oder doch als der allgemeinen Benutzungswege in Anspruch nimmt“ überschriebenen Wegelagerbuch der damaligen Gemeinde D. zukommt.
92(4) Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen ist auszuschließen, dass es sich bei dem Weg „I. de Höf“ (mit Ausnahme des im Jahr 1951 eingezogenen Teilstücks neben dem Friedhof) um einen Interessentenweg gehandelt haben könnte. Die von den Klägern nicht widerlegte und angesichts der vorstehenden Ausführungen auch nicht widerlegbare, aus der Eintragung ins Wegelagerbuch resultierende Vermutung der Öffentlichkeit des Wegs, der jedermann zur Benutzung freisteht, lässt eine Qualifikation als Interessentenweg nicht zu. Denn Interessenwege waren Privatwege, die nur für den Gebrauch eines bestimmten, mehr oder weniger eng begrenzten Personenkreises bestimmt waren und rechtlich nicht jedermann zur Benutzung offenstanden.
93Vgl. i. d. S. PrOVG, Urteil vom 28. Januar 1926 - IV C 30/24, PrOVGE 80, 253 (255 f.); Germershausen-Seydel, Wegerecht und Wegeverwaltung in Preußen, Band I, 4. Auflage 1932, S. 22 f.; siehe auch OVG NRW, Urteil vom 16. Juni 2014 - 11 A 2227/12 -, juris, Rn. 49 ff.
942. Der historische öffentliche Weg „I. de Höf“ ist schließlich in dem hier fraglichen Bereich mit dem heutigen Fußweg „H1.-----straße “ identisch. Sein Verlauf ergibt sich hinreichend sicher aus den Beschreibungen im Wegelagerbuch (dazu a.) und dem dem Senat vorliegenden historischen Kartenmaterial (dazu b.).
95a. Die Formulierung im Wegelagerbuch „Von dem T1.-----weg Nr. 44 neben dem Garten des U. M. , den sämtlichen Gärten entlang rund um’s Dorf und neben dem Kirchhof auch durchs Kirchbruch“ verweist zunächst auf einen Abzweig des Wegs von der X. Straße, dem vormaligen unter der laufenden Nr. 44 im Wegelagerbuch geführten X. Weg. Die Annahme der Kläger, aus der Bezeichnung „T1.-----weg Nr. 44“ müsse auf ein weiter nordwestlich von L. jenseits der unter dem Namen „X3. “ geführten Feldflur neben der Schanzbrücke gelegenes Grundstück mit der Flurstücksnummer 44 und einen dort verlaufenden Weg geschlossen werden, überzeugt nicht. Es ist schon angesichts der Belegenheit des betreffenden Grundstücks weit außerhalb des historischen Siedlungsbestands des früheren D. - das Grundstück war etwa 600 m vom damaligen Siedlungsrand entfernt - nicht erkennbar, welcher „den sämtlichen Gärten entlang rund um’s Dorf“ verlaufende Weg dort seinen Anfang genommen haben sollte. Eine entsprechende Wegeführung entbehrte jeder verkehrlichen Logik und ist anhand des dem Senat vorliegenden Kartenmaterials auch nicht nachvollziehbar. Die Kläger haben zudem nicht dargetan, wo sich in diesem Bereich der im Wegelagerbuch ausdrücklich aufgeführte „Garten des U. M. “ befunden haben sollte. Schließlich trägt dieser Einwand der Systematik des Wegelagerbuchs bei der Beschreibung der Wegeverläufe im Bereich nördlich von D. (laufende Nrn. 44 bis 48 des Wegelagerbuchs) nicht hinreichend Rechnung. Diese erfolgte in der Weise, dass als Ausgangspunkt der dort aufgeführten Wege jeweils ein Weg bzw. eine Straße benannt wurde. War der Ausgangspunkt die durch das damalige D. verlaufende überörtliche Straße - die heutige „M1. Straße“ - so erhielt diese keine nähere Kennzeichnung (vgl. etwa die Beschreibungen beim Weg Nr. 44, dem X. Weg: „Von der Chaussee westlich von D. bis an die T3. “ oder Nr. 45: „Von der Straße neben dem Haus des Heinrich Loeschelder dem X3. zu“). Dies war wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass es neben dieser überörtlichen Straße oder Chaussee keine weiteren Straßen gleicher Bedeutung in D. gab. Bei den anderen Wegen knüpfte die betreffende Beschreibung an die Wegenummern des Wegelagerbuchs an (vgl. beim Weg Nr. 46: „Vom Wege Nr. 44 durch die X3. bis an das östliche Ende des Dorfes, wo er auf die Straße aufschließt“, beim Weg Nr. 47: „Vom vorigen Wege durch die Parzellen 41 bis 37 neben der Parzelle 76 bis an die Gärten“). Die letztgenannte Beschreibung macht gleichzeitig deutlich, dass dort, wo das Wegelagerbuch zur Beschreibung des Wegeverlaufs auf bestimmte Parzellen Bezug nahm, diese auch entsprechend als „Parzellen“ bezeichnet wurden. Mit Blick darauf spricht alles dafür, dass mit dem im Wegelagerbuch als Ausgangspunkt für den Fußweg Nr. 48 „I. de Höf“ aufgeführten Ausgangspunkt „T1.-----weg Nr. 44“ nicht ein Flurstück mit der entsprechenden Nummer, sondern der im Wegelagerbuch unter der laufenden Nr. 44 geführte X. Weg gemeint war, wobei - wie die Beklagte zu Recht anmerkt - die Bezeichnung „T1.-----weg “ wohl daran anknüpft, dass der Weg zu einer in Richtung X1. gelegenen Schanze führte.
96Es spricht weiterhin einiges dafür, dass die Annahme der Beklagten, mit dem Verweis des Wegelagerbuchs auf den „Garten des U. M. “ sei das heutige Grundstück X. Straße Nr. 6 gemeint, auf dem der Schmied H2. M2. um 1860 ein Haus errichtet habe, zutreffend ist. Tatsächlich findet sich auf der Webseite des „Vereins für Computergenealogie“ - einem Verein für computergestützte Ahnen- und Familienforschung - der Hinweis auf einen am 25. März 1801 in L. geborenen Q. U. M. , dessen Ehefrau L3. F. H3. am 1. Dezember 1838 als letztes von fünf Kindern einen H2. I2. M. gebar (vgl. http://gedbas.genealogy.net/ person/show/1222869018). Geht man mit der Beklagten davon aus, dass die Namen „M. “ (= niederländisch für „Löwe“) und „M2. “ nach der Quellenlage nebeneinander gebraucht wurden, so liegt die Annahme nahe, dass es sich bei dem genannten H2. M2. um den Sohn des U. M. handelte. Das führt zu der weiteren naheliegenden Annahme, dass dieser für die Errichtung eines Hauses ein im Familienbesitz befindliches unbebautes Grundstück - eben jenen Garten des U. M. - nutzte.
97b. Unabhängig hiervon macht das dem Senat vorliegende Kartenmaterial - die L1. Katasterkarte von 1733, die Landesaufnahme von U1. /von N. von 1803 bis 1820, die - von den Klägern vorgelegte - Katasteraufnahme „N1. de D. “ von 1810, die Uraufnahme von 1836 bis 1850, die Flurkarte von 1867 sowie die Neuaufnahme von 1891 bis 1912 - deutlich, wo bei der Aufstellung des Wegelagerbuchs die Gärten des damaligen Dorfs D. lagen, an denen entlang der Weg „I. de Höf“ rund ums Dorf verlief. Insoweit ist zumindest für den nördlich der Durchgangsstraße ‑ der heutigen „M1. Straße“ - liegenden Dorfbereich, der hier allein von Interesse ist, offensichtlich, dass es sich dabei um diejenigen Gärten handelte, die sich unmittelbar an die längs der Durchgangsstraße „in erster Reihe“ errichteten Häuser anschlossen und zu diesen gehörten. Für diese Grundstücke findet sich insbesondere im Bereich der heutigen „H1.-----straße “ bereits in der Katasterkarte „N1. de D. “ von 1810 eine parzellenmäßige Erfassung, deren hintere Begrenzung sich zur Feldflur hin in der Flurkarte von 1867 wiederfindet und die ausweislich der aktuellen Flurkarte letztlich dem heutigen Verlauf der Parzellengrenzen entspricht. Indem die „H1.-----straße “ entlang dieser Parzellengrenzen verläuft, nimmt sie den Verlauf des historischen Wegs „I. de Höf“ auf, der in gleicher Weise hinter den betreffenden Grundstücken entlang führte.
98c. Es ist schließlich unerheblich, ob der Fußweg „H1.-----straße “ in seinen Abmessungen dem historischen Bestand entspricht. Die Feststellung der Beklagten betreffend die Breite des Fußwegs von 1,50 m geht jedenfalls über die sich aus dem Wegelagerbuch ergebende Breite des urprünglichen Wegs „I. de Höf“ von „ca. 2 bis 3 Fuß“ hinaus. Diese Angabe dürfte sich auf das mit § 1 der Preußischen Maß- und Gewichtsordnung vom 16. Mai 1816 eingeführte Grundmaß des Preußischen Fußes beziehen, das wiederum gemäß § 2 dieser Ordnung mit dem Rheinländischen Werkfuß identisch war und nach heutigen Maßangaben 31,387728 cm betrug. Danach dürfte der Weg ursprünglich etwa 0,65 bis 0,95 m breit gewesen sein, wobei es sich in dem Wegelagerbuch ausdrücklich um eine „ca.“ - Angabe handelt, der Weg also durchaus auch breiter gewesen sein kann. Letztlich können die genauen ursprünglichen Abmessungen dahinstehen. Möglicherweise hat sich der - seinerzeit zur freien Feldflur hin gelegene und deswegen in dieser Richtung wohl nicht exakt abgegrenzte - historische Weg nach seiner Eintragung in das Wegelagerbuch im Jahre 1857 im Laufe der folgenden Jahrzehnte in seiner Breite verändert und vergrößert. Damit dürfte gesteigertem Platzbedarf infolge geänderter Benutzungsgewohnheiten, etwa dem Befahren des Wegs mit Hand- und Schubkarren, mit (geschobenen) Fahrrädern, Kinderwagen oder Rollstühlen, Rechnung getragen worden sein. Eine entsprechende Änderung des historischen Wegebestandes ist nach dem „Grundsatz der Elastizität“ indessen unbeachtlich. Hiernach sind Änderungen, Ergänzungen und Verlegungen des betreffenden Weges, zu denen es im Verlauf der Jahrzehnte gekommen sein mag, unerheblich, solange es sich um unwesentliche Veränderungen handelte.
99Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. Februar 2018 - 11 A 129/15 -, NWVBl. 2018, 345 (347) = juris Rn. 72, 76.
100Dies ist bei einer in Frage stehenden Verbreiterung des Wegs um deutlich weniger als einen Meter der Fall.
101Vgl. im Übrigen auch § 6 Abs. 8 Satz 1 StrWG NRW betreffend die Verbreiterung einer nach § 6 Abs. 1 StrWG NRW gewidmeten Straße.
102d. Ergänzend sei darauf verwiesen, dass die von den Klägern angesprochene Frage, ob und in welchem Umfang die Beklagte ihrer Unterhaltungspflicht für den Fußweg „H1.-----straße “ nachkommt oder nachgekommen ist, keinen Einfluss auf die nach dem Grundsatz der unvordenklichen Verjährung entstandene Öffentlichkeit dieses Wegs hat und im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, der Weg sei in dem hier fraglichen Bereich zu irgendeinem Zeitpunkt förmlich eingezogen worden.
103II. Ziffer 1. der Ordnungsverfügung vom 5. Dezember 2018 ist auch hinreichend bestimmt. Dies gilt namentlich hinsichtlich der von den Klägern angegriffenen Anordnung unter Ziffer 1. b), den „ursprünglichen Zustand“ des Fußwegs „H1.-----straße “ wiederherzustellen. Denn der ursprüngliche Zustand der von den Klägern überbauten Wegefläche ergibt sich aus den in der Örtlichkeit noch vorhandenen anderen Bereichen des betreffenden Wegs, die zudem von der Beklagten - wie aus den in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Lichtbildern ersichtlich - dokumentiert sind.
104B. Rechtsgrundlage für Ziffer 3. der Ordnungsverfügung vom 5. Dezember 2018 sind die §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nrn. 1 und 2, 59, 60, 63 VwVG NRW. Die Voraussetzungen der darauf gestützten Androhung der Ersatzvornahme lagen vor.
105Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
106Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.
107Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
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Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage gegen die Auflage Nr. 1 der Verfügung des Antragsgegners vom 29.09.2020 wird wiederhergestellt.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Wert des Streitgegenstands wird auf 5.000,00 € festgesetzt
1Gründe:
2Das als Antrag nach § 123 VwGO formulierte Begehren des anwaltlich nicht vertretenen Antragstellers, dem Antragsgegner aufzugeben, die von ihm angezeigte Versammlung während der Veranstaltung des Freizeitparks auf dem Marktplatz in H. im Sichtbereich des Ponykarussels zwischen 17.00 Uhr und 19.00 Uhr täglich zuzulassen, war nach § 88 VwGO, §§ 133, 157 BGB in dem aus dem Tenor ersichtlichen Sinne auszulegen.
3Der nach § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zulässige Antrag ist begründet.
4Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Auflage unter Nr. 1 der Verfügung vom 29.09.2020 und dem Interesse des Antragstellers am einstweiligen Nichtvollzug fällt zu Gunsten des Antragstellers aus.
5Die Interessenabwägung richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verfügung kann es kein öffentliches Interesse daran geben, dass sie sofort vollzogen wird. Umgekehrt ist regelmäßig davon auszugehen, dass bei offensichtlicher Rechtmäßigkeit das Aufschubinteresse des Antragstellers zurückzustehen hat.
6Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes angesichts der Kürze der für eine gerichtliche Entscheidung zur Verfügung stehenden Zeit nur möglichen summarischen Prüfung stellt sich die angefochtene Polizeiverfügung als offensichtlich rechtswidrig dar.
7Rechtsgrundlage für die mit Verfügung vom 29.09.2020 erteilte Auflage, durch die der vom Antragsteller angemeldete Versammlungsort auf den Gehweg der G. -F. -Straße vor der Umzäunung des Parkgeländes verlegt wird, ist § 15 Abs. 1 VersammlG.
8Nach § 15 Abs. 1 VersammlG kann eine Versammlung oder ein Aufzug verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Die „öffentliche Sicherheit“ umfasst hierbei den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel – aber nicht nur – eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit anzunehmen ist, wenn durch die geplante Versammlung strafbare Verletzungen dieser Schutzgüter drohen.
9Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 – 1 BvR 233/81 und
101 BvR 341/81 –, BVerwGE 69, 315, 352.
11Geht es um die versammlungsbehördliche Verlegung der Versammlung von dem angemeldeten an einen anderen Ort, ist zu berücksichtigen, dass von dem Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters nach Art. 8 Abs. 1 GG prinzipiell auch die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst ist. Die Behörde hat im Normalfall lediglich zu prüfen, ob durch die Wahl des konkreten Versammlungsorts Rechte anderer oder sonstige verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter der Allgemeinheit beeinträchtigt werden. Ist dies der Fall, kann der Veranstalter die Bedenken durch eine Modifikation des geplanten Ablaufs ausräumen oder aber es kommen versammlungsrechtliche Auflagen in Betracht, um eine praktische Konkordanz beim Rechtsgüterschutz herzustellen. Art. 8 Abs. 1 GG und dem aus ihm abgeleiteten Grundsatz versammlungsfreundlichen Verhaltens der Versammlungsbehörde entspricht es, dass auch bei Auflagen das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters im Rahmen des Möglichen respektiert wird. Ferner ist von Bedeutung, ob durch die Auflage die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit beseitigt werden kann, ohne den durch das Zusammenspiel von Motto und geplantem Veranstaltungsort geprägten Charakter der Versammlung – ein Anliegen ggf. auch mit Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen am Wirksamsten zur Geltung zu bringen – erheblich zu verändern.
12Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.07.2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris Rn. 9, und Urteil vom 22.02.2011 – 1 BvR 699/06 –, juris Rn. 64; so auch OVG NRW, Beschluss vom 02.07.2020 – 15 A 2100/18 –, juris Rn. 74.
13Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist die Fläche, auf der die N1. veranstaltet wird, dem Anwendungsbereich des Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG nicht deshalb entzogen, weil die Veranstaltung von einem privaten Dritten durchgeführt wird, das Gelände umzäunt ist und es Zugangskontrollen gibt.
14Die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit verschafft zwar kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten und insbesondere keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird. Die Durchführung von Versammlungen etwa in Verwaltungsgebäuden oder in eingefriedeten, der Allgemeinheit nicht geöffneten Anlagen ist von Art. 8 Abs. 1 GG ebenso wenig geschützt wie etwa in einem öffentlichen Schwimmbad oder Krankenhaus. Von der Versammlungsfreiheit ausgenommen sind auch Orte, zu denen der Zugang individuell kontrolliert oder nur für einzelne, begrenzte Zwecke gestattet wird. Demgegenüber verbürgt die Versammlungsfreiheit aber – und das ist vorliegend entscheidend – die Durchführung von Versammlungen dort, wo ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist. Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder durch private Investoren geschaffene und betriebene Plätze als Orte des Verweilens, der Begegnung, des Flanierens, des Konsums und der Freizeitgestaltung ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können. Dies gilt auch für Stätten außerhalb des öffentlichen Straßenraumes, an denen in ähnlicher Weise ein öffentlicher Verkehr eröffnet ist und Orte der allgemeinen Kommunikation entstehen. Ausschlaggebend ist die tatsächliche Bereitstellung des Ortes und ob nach diesen Umständen ein allgemeines öffentliches Forum eröffnet ist. Grundrechtlich ist unerheblich, ob der in Rede stehende Kommunikationsraum mit den Mitteln des öffentlichen Straßen- und Wegerechts oder des Zivilrechts geschaffen wird.
15Vgl. OVG NRW, Urteil vom 02.07.2020 – 15 A 2100/18 –, juris Rn. 100 mw.N. zur Rechtsprechung insbesondere des BVerfG.
16Dies zugrunde gelegt steht das Kirmesgelände als vom Antragsteller vorgesehener Versammlungsort für den Publikumsverkehr in einer Art und Weise offen, dass ein „Raum des Flanierens, des Verweilens und der Begegnung, der dem Leitbild des öffentlichen Forums entspricht“,
17so BVerfG, Beschluss vom 18.07.2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris Rn. 5 a.E.,
18gegeben ist, der dem Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 8 GG unterfällt.
19Weder die privatrechtliche Organisation der Kirmes als „Freizeitpark“ noch die Tatsache, dass der Zugang zum Veranstaltungsgelände kontrolliert wird und auf maximal 1.700 – so die Begründung der Verfügung vom 29.09.2020 – oder 1.500 Personen – so die Antragserwiderung vom 30.09.2020 – begrenzt ist, steht dem entgegen. Diese Zugangsbeschränkungen haben nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand den Zweck, den Anforderungen Rechnung zu tragen, die sich aus der Corona-Pandemie ergeben. Sie erfolgen, um zu vermeiden, dass sich mehr Besucher auf dem Gelände aufhalten, als zugelassen sind, nicht aber dazu, nur bestimmten Personen Zugang zu gewähren. Soweit in der Begründung der angefochtenen Verfügung ausgeführt wird, durch die Limitierung der Besucherzahlen sei „der Zugang nur zum Zweck der Nutzung der Fahrgeschäfte und sonstiger Betriebe der Schausteller zugelassen“, ist dies zumindest in Ermangelung weiterer Ausführungen nicht nachvollziehbar. Ein Eintrittsgeld von einem Euro, zu dessen Erhebung der Veranstalter nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Antragstellers berechtigt ist, rechtfertigt diese Schlussfolgerung weder rechtlich noch tatsächlich eine solche Annahme.
20Dass dem vorgesehenen Versammlungsort auf dem Kirmesgelände rechtlich geschützte Interessen des privaten Veranstalters entgegenstehen oder auch nur von diesem geltend gemacht worden sind, ist nicht ersichtlich. Für ihn gelten die Regeln der sog. mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten,
21vgl. erneut BVerfG, Beschluss vom 18.07.2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris Rn. 6,
22mit der Folge, dass das Hausrecht, das ihm durch den aufgrund des Pachtverhältnisses vermittelten Besitz auf der Veranstaltungsfläche zusteht, durch die objektive, wertsetzende Bedeutung des Grundrechts des Art. 8 Abs. 1 GG begrenzt wird; dies wäre im Streitfall von den zuständigen Zivilgerichten zu berücksichtigen. Ein vom Veranstalter ohne konkreten Grund pauschal gegen den Antragsteller ausgesprochenes Hausverbot wäre unzulässig. Die bloße Tatsache, dass ihm das Hausrecht zusteht, ist für die Entscheidung des Antragsgegners, die Versammlung nicht auf dem Veranstaltungsgelände zuzulassen, jedenfalls nicht ausreichend tragfähig.
23Da nach den unbestrittenen Angaben des Antragstellers in der Antragsschrift während der N2. „seit Jahren“ im Sichtbereich des Ponykarussels von ihm demonstriert worden ist, ist auch nicht ersichtlich, welche Umstände gegen diesen konkreten Standort sprechen könnten. Sofern sich noch herausstellen sollte, dass gegenläufigen Interessen – anderer – Dritter oder der Allgemeinheit bei der Planung der angemeldeten Versammlung nicht hinreichend Rechnung getragen worden ist, müsste dem ggf. durch weitere versammlungsbehördliche Auflagen begegnet werden.
24Darauf, ob der Betrieb des Ponykarussels den Vorschriften des Tierschutzgesetzes in Einklang steht oder nicht, kommt es im vorliegenden Verfahren nicht an.
25Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
26Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Sie berücksichtigt, dass aufgrund des heutigen Beginns der vom Antragsteller geplanten Versammlung durch die Entscheidung im Eilverfahren die Hauptsache vorweggenommen wird.
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Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 02.01.2020 wird aufgehoben.Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1 Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und seine Überstellung nach Italien zum Zweck der Durchführung eines Asylverfahrens dort.2 Der im Jahr 2000 geborene Kläger reiste im Oktober 2019 in das Bundesgebiet ein, wo er am 22.10.2019 einen förmlichen Asylantrag stellte. Auf das auf einen EURODAC-Treffer der Kategorie 2 gestütztes Übernahmeersuchen nach der Dublin III-Verordnung vom 31.10.2019 an die Republik Italien erfolgte keine Reaktion seitens der italienischen Behörden.3 Mit hier angegriffenem Bescheid vom 02.01.2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (ab hier: Bundesamt) den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach Italien fest (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an (Ziffer 3) und ordnete für den Fall der Abschiebung ein fünfzehnmonatiges Einreise- und Aufenthaltsverbot ab dem Tag der Abschiebung an (Ziffer 4). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, dass mit Verstreichen der Antwortfrist des Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO die Republik Italien für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden sei.4 Gegen den ihm am 14.01.2020 gegen Empfangsbekenntnis zugestellten Bescheid hat der Kläger am 20.01.2020 Klage erhoben und Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt, diese Anträge aber nicht begründet.5 Der Kläger beantragt,6 den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 02.01.2020 aufzuheben.7 Die Beklagte beantragt,8 die Klage abzuweisen.9 Zur Begründung verweist sie auf die Gründe des angegriffenen Bescheids.10 Mit Beschluss vom 03.02.2020 hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage abgelehnt (A 9 K 344/20).11 Mit an den Kläger gerichteter Erklärung vom 15.04.2020, die den italienischen Behörden im Nachgang per E-Mail mitgeteilt wurde, hat das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt, da Überstellungen nach Italien im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise derzeit nicht zu vertreten seien. Die zeitweise Aussetzung des Überstellungsverfahrens impliziere nicht, dass der zuständige Dublin-Staat nicht mehr zur Überstellung bereit und verpflichtet sei. Vielmehr sei der Vollzug vorübergehend nicht möglich. Die abgegebene Erklärung gelte unter Vorbehalt des Widerrufs. Nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO könne das Bundesamt die Durchsetzung der Überstellungsentscheidung von Amts wegen aussetzen. Wenn dies – wie hier – aus sachlich vertretbaren, willkürfreien und nicht rechtsmissbräuchlichen Gründen erfolge, werde eine nach der der Dublin III-VO laufende Überstellungsfrist unterbrochen (vgl. BVerwG; Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –). Bei nach Erlass der Abschiebungsanordnung auftretenden Abschiebungshindernissen sei das Bundesamt nicht verpflichtet, die Abschiebungsanordnung aufzuheben; es könne namentlich bei vorübergehenden Abschiebungshindernissen auch deren Vollziehung vorläufig aussetzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14 –, BeckRS 2014, 56447).12 Mit richterlicher Verfügung vom 16.09.2020 wurde die Beklagte auf die in VG Karlsruhe, Beschluss vom 15.09.2020 – A 9 K 4825/19 –, juris, geäußerte Rechtsauffassung des Berichterstatters hingewiesen und unter Fristsetzung um Prüfung einer Abhilfeentscheidung gebeten. Daraufhin hat das Bundesamt vorgetragen, dass eine Überstellung des Klägers bislang nicht erfolgt sei; die Aussetzung der Vollziehung habe die Überstellungsfrist indes unterbrochen. Italien sei grundsätzlich wieder zur Übernahme bereit.13 Dem Gericht lag die Asylakte des Bundesamts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die vorgenannte Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
I.
14 Gemäß § 87a Abs. 2 und 3 VwGO entscheidet der Berichterstatter im Einverständnis der Beteiligten an Stelle der Kammer. Die Entscheidung ergeht als Urteil ohne mündliche Verhandlung, da die Beteiligten auf mündliche Verhandlung verzichtet haben und ein weiterer Aufklärungsbedarf nicht ersichtlich ist (§ 101 Abs. 2 VwGO).
II.
15 1. Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 – 1 C 32.14 –, BVerwGE 153, 162 = juris, Rn. 14 zur Dublin II-VO sowie allgemein BVerwG, Urteil vom 01.06.2017 – 1 C 9.17 –, juris, Rn. 15). Auch gegen die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien ist in dieser Konstellation vorrangig Rechtsschutz im Wege der Anfechtungsklage zu gewähren (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 21).
16 2. Ziffer 1 und 3 des angegriffenen Bescheides haben sich auch nicht in Folge eines möglichen Ablaufs der Überstellungsfrist erledigt. Denn in der Rechtsprechung ist mittlerweile geklärt, dass die Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit als unzulässig abzulehnen, in Folge des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geregelten Überstellungsfristen ihre Regelungswirkung weder verliert noch sich auf sonstige Weise erledigt (BVerwG, Urteil vom 27.04.2016 – 1 C 24.15 –, juris, Rn. 9; BayVGH, Beschluss vom 18.05.2020 – 3 ZB 20.50004, 3 ZB 20.50005 –, juris, Rn. 3; a.A. noch BayVGH, Beschluss vom 30.03.2015 – 21 ZB 15.50026 –, juris, Rn. 2 ff.). Ob die Überstellungsfrist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung verstrichen ist, ist daher im Rahmen einer Anfechtungsklage zu prüfen (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 18.08.2020 – A 9 K 4171/19 –, juris, Rn. 26).
III.
17 Die zulässige Klage ist im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung begründet, da die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz auf Beklagte übergegangen ist. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig durch Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; sogleich 1.). In Folge der Rechtswidrigkeit der auf eine Zuständigkeit der Republik Italien gestützten Unzulässigkeitsentscheidung unterliegen auch die hieran anknüpfenden Folgeentscheidungen der Ziffern 2 – 4 des angegriffenen Bescheides der Aufhebung (unten 2.).
18 1. Die mit Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides ausgesprochene Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG jedenfalls im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht mehr vorliegen.
19 a) Die ursprüngliche Zuständigkeit der Republik Italien ergibt sich aus Art. 22 Abs. 7 UAbs. 3 Dublin-III-VO, da die Republik Italien das an sie gerichtete Aufnahmegesuch nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen beantwortet hat.
20 b) Die so begründete Zuständigkeit der Republik Italien für die Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz ist vorliegend jedoch nach Maßgabe des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Auf diesen Zuständigkeitsübergang nach Maßgabe der Dublin III-VO kann sich der Kläger auch berufen (vgl. EuGH, Urteil vom 07.06.2016 – C-63/15 [Ghezelbash] –).
21 aa) Nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 lit. c) oder d) Dublin III-VO aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist begann ursprünglich mit dem Ablauf der in Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO geregelten Antwortfrist. Sie wurde jedoch mit Eingang des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vorliegenden Klage beim Verwaltungsgericht, der gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO entfaltet, unterbrochen und begann erst mit Ergehen der ablehnenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 03.02.2020 im Verfahren A 9 K 190/20 erneut zu laufen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 17).
22 bb) Die in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO geregelte Überstellungsfrist von sechs Monaten kann gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Eine Bestimmung, die in Fällen anderer allgemeiner oder einzelfallbezogener Überstellungshindernisse – wie etwa im Fall der im März 2020 vor dem Hintergrund der Ausbreitung der COVID-19-Epidemie unionsweit verhängten Reisebeschränkungen – eine Verlängerung ermöglichen würde, ist in den Bestimmungen der Dublin III-VO indes nicht vorgesehen; sie fallen daher in die Risikosphäre des ersuchenden Staates und sind nicht geeignet, einen Zuständigkeitsübergang zu verhindern oder für die Dauer des Überstellungshindernisses hinauszuzögern (vgl. Europäische Kommission, Communication from the Commission vom 16.04.2020 – C(2020) 2516 final – COVID-19: Guidance on the implementation of relevant EU provisions in the area of asylum and return procedures and on resettlement, S. 7 f.; VG Kassel, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 L 3056/18.KS.A –, juris, Rn. 20; Pettersson, ZAR 2020, 230 [232]; Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1310]). Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf Fälle der höheren Gewalt oder andere, nicht vom Kläger zu vertretende Umstände widerspräche dem der Dublin III-VO zugrundeliegenden Beschleunigungsgedanken und kommt daher nicht in Betracht (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 33 ff.; vgl. auch Neumann ZAR 2020, 314 [318 f.]). Sie kann insbesondere nicht mit dem Effektivitätsgrundsatz oder der Gefahr einer faktischen Aussetzung des Dublin-Systems durch (rechtswidrige) Aufnahmeverweigerung einzelner Mitgliedsstaaten gerechtfertigt werden (vgl. hierzu aber VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 56). Denn insoweit sieht das geltende Unionsrecht in Form des Schlichtungsmechanismus nach Art. 37 Dublin III-VO und des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 259 AEUV Bewältigungsmechanismen auf Ebene der beteiligten Mitgliedsstaaten vor, ermächtigt aber nicht zur Selbsthilfe durch die Behörden einzelner Mitgliedsstaaten.
23 cc) Die mithin geltende Sechsmonatsfrist wurde vorliegend auch nicht durch die Entscheidung, die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO vorläufig auszusetzen, unterbrochen.
24 aaa) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist allerdings anerkannt, dass die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO durch die Behörde generell geeignet ist, die in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 19 sowie BVerwG, Urteil vom 09.08.2016 – 1 C 6.16 –, BVerwGE 156, 9 = juris, Rn. 18). Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit wird nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = ZAR 2019, 198 [200] mit beachtlichen Einwänden Pfersich [202 f.]). Zwar nimmt Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO, der die Voraussetzungen eines Neubeginns der Überstellung abschließend regelt, lediglich auf die in Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO geregelten Fallgruppen Bezug. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Frage des Fristneubeginns nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO jedoch alleine entscheidend, dass ein Rechtsbehelf im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat und eine Überstellung daher nicht durchgeführt werden kann. Dementsprechend erweitert die in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO den Mitgliedstaaten eröffnete Möglichkeit, dass auch die zuständigen Behörden die Durchführung der Überstellungsentscheidung aussetzen können, lediglich die Fallgruppen, in denen einem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO zukommt, und stellt folglich kein aliud zu den in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO ausschließlich in Bezug genommenen Fällen des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO dar. Diese erweiternde Auslegung des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der – wenngleich in einer zu Art. 28 Abs. 3 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO ergangenen Entscheidung – ein entsprechendes Verständnis des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO mit dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit gerechtfertigt hat (vgl. EuGH, Urteil vom 13.09.2017 – C-60/16 [Khir Amayry] –, juris, Rn. 71).
25 bbb) Allerdings beruht die oben zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs neben dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit zentral auf der Annahme, dass sich die betroffene Person im Fall einer behördlichen Aussetzung der Vollziehung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO in einer Situation befindet, die in jeder Hinsicht mit der Situation einer Person vergleichbar ist, deren Rechtsbehelf oder von ihr beantragter Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 13.09.2017 – C-60/16 [Khir Amayry] –, juris, Rn. 68). Diese Grundannahme trifft jedoch nicht in allen Anwendungsfällen, die § 80 Abs. 4 VwGO nach nationalem Recht eröffnet, zu. Insbesondere würde dem Bundesamt so die Möglichkeit eröffnet, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Fällen selbst herbeizuführen, in denen die Dublin III-VO eine Verlängerung der Überstellungsfrist gerade nicht vorsieht. Zudem würde so die – durch Art. 27 Abs. 3 lit. a) - c) Dublin III-VO ausdrücklich eröffnete – Entscheidung des Bundesgesetzgebers unterlaufen, grundsätzlich dem Kläger die Entscheidung zu überlassen, ob er in Folge der Klageerhebung eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Kauf nehmen will (vgl. zu diesem Aspekt BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 32). Das Unionsrecht setzt der behördlichen Aussetzung der Vollziehung daher – jedenfalls, soweit hieran eine Unterbrechung der Überstellungsfrist anknüpfen soll – engere Grenzen als das nationale Verwaltungsverfahrens- und Prozessrecht. Diese Beschränkungen ergeben sich daraus, dass die behördliche Aussetzungsentscheidung den Betroffenen nicht nur begünstigt, indem aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf der Grundlage der Abschiebungsanordnung zunächst nicht mehr erfolgen können, sondern mittelbar auch belastet, weil sie die Überstellungsfrist unterbricht und so dazu führen kann, dass ein vom Antragsteller möglicherweise erstrebter Zuständigkeitsübergang nicht erfolgt. Weitere Grenzen folgen aus den Belangen des zuständigen Mitgliedstaats, die ebenfalls zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 25).
26 ccc) Nicht abschließend geklärt sind indes die Voraussetzungen, unter denen eine behördliche Vollziehungsaussetzung auf Grundlage des § 80 Abs. 4 VwGO eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeiführen kann. Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt (BVerwG, a.a.O., Rn. 27 f.):
27 Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist, dass der Antragsteller einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat (Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO). Weitere Grenzen folgen aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration) (BVerwG, Urteil vom 27. April 2016 - 1 C 24.15 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 82 Rn. 13). Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind (EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 - Rn. 43 ff.) oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird (vgl. § 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO).
28 Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen (so bereits BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 - BVerwGE 156, 9 Rn. 18); dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes (s.a. Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ) erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind. Das vorliegende Verfahren gibt dabei keinen Anlass zur abschließenden Klärung dieser Willkür- oder Missbrauchsschwelle; sie wird aber dann überschritten sein, wenn bei klarer Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte.
29 ddd) Hieraus folgt nach Auffassung des Berichterstatters zunächst, dass die bloße Anhängigkeit eines Rechtsbehelfs, dessen aufschiebende Wirkung durch behördliche Vollziehungsaussetzung herbeigeführt werden könnte, keine hinreichende Bedingung für eine Unterbrechung der Überstellungsfrist darstellt. Ebenso wenig genügt es aber, dass zum Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung ein objektiver Anlass dafür bestand, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung zu hegen [vgl. hierzu allerdings unten III. 1. b) cc) ggg)]. Zwar darf – im Sinne eines behördlichen Verfahrensermessens – in diesen Fällen eine behördliche Aussetzungsentscheidung ergehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27); eine Fristunterbrechung folgt hieraus jedoch nur dann, wenn bei willkürfreier Betrachtung objektiv bestehende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung auch tatsächlich handlungsleitend für die behördliche Aussetzungsentscheidung sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27, 34: „aus sachlich vertretbaren Erwägungen“, „zum Anlass nimmt“). Dies entspricht auch dem Verständnis der vorgenannten Maßstäbe in weiten Teilen der Rechtsprechung (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 9 ff.; ähnlich VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 21 f. m.w.N.). Denn Art. 29 Abs. 2 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und Abs. 4 Dublin III-VO sieht eine neuerliche Unterbrechung der Überstellungsfrist nur vor, um die praktische Wirksamkeit des nach Art. 27 Dublin III-VO zur Verfügung zu stellenden Rechtsmittels zu gewährleisten. Unter diesen Vorzeichen entspricht regelmäßig auch nur eine auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerichtete Aussetzungsentscheidung dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung des § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO (§ 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO). Ob anderes dann gelten muss, wenn der Betroffene sich selbst rechtsmissbräuchlich verhält (so – in einem obiter dictum – möglicherweise VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 123 f.; a.A. mit beachtlichen Argumenten VG Regensburg, Beschluss vom 06.08.2020 – RN 14 E 20.50264 –, juris, Rn. 34 f.) bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls dient Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht dem Zweck, dem ersuchenden Staat unilateral eine Möglichkeit zur Verschiebung der grundlegenden Risikoverteilung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten und dem Betroffenen zu eröffnen.
30 Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass sich eine solche finale Verknüpfung aus dem Wortlaut jedenfalls der englischen und französischen Sprachfassung nicht ergebe und auch der Wortlaut der deutschen Sprachfassung („um ... zu“) lediglich einen zeitlichen Gleichlauf zwischen Rechtsbehelf und Aussetzungsentscheidung impliziere (so aber VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 48). Denn die Notwendigkeit einer finalen Verknüpfung im o.g. Sinne ergibt sich nicht in erster Linie aus dem Wortlaut der – in der Tat nicht eindeutigen – gesetzlichen Bestimmung, sondern aus deren normativer Einbettung in den Kontext des Art. 27 Abs. 1 – 3 Dublin III-VO, der ersichtlich auf die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsmittels abzielt (vgl. Neumann ZAR 2020, 314 [319]), und dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, der eine Verlängerung der Überstellungsfrist nur in den dort abschließend benannten Fällen vorsieht. Sie ergibt sich letztlich auch schon aus der Beschränkung, dass eine Aussetzung der Vollziehung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO – anders als nach nationalem Verfahrensrecht – nur dann in Betracht kommt, wenn der Betroffene einen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eingelegt hat (der im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung noch anhängig ist). Denn auch mit dem Recht auf ein effektives Rechtsmittel (Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO i.V.m. Art. 47 GRC) wäre es nicht vereinbar, dem Mitgliedstaat eine Möglichkeit zur unilateralen Verlängerung bzw. Unterbrechung der Überstellungsfrist aus nicht rechtsschutzbezogenen und nicht in der Verantwortungssphäre des Betroffenen liegenden Gründen gerade (nur) dann einzuräumen, wenn der Betroffene Rechtsschutz gegen die Überstellungsentscheidung sucht (vgl. zu diesem Wertungswiderspruch auch Deutscher Bundestag (PE 6: Fachbereich Europa), Ausarbeitung zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin-III-Verordnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vom 02.06.2020, PE 6 – 3000 – 031/20, S. 14 f. sowie Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1311 f.]).
31 eee) Im Hinblick auf die Frage nach einer Unterbrechung der Überstellungsfrist durch die von der Beklagten getroffene Aussetzungsentscheidung ist daher zunächst zu prüfen, ob diese Aussetzungsentscheidung der Verwirklichung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf diente (so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 15, 21 f. sowie – stellvertretend für viele – VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 24; VG Würzburg, Urteil vom 11.08.2020 – W 8 K 19.50795 –, juris, Rn. 32 ff.; Neumann ZAR 2020, 314 [318 f.] m.w.N.). Eine bloße Willkürkontrolle entspräche insoweit nicht den unionsrechtlichen Vorgaben, da nach den gegenüber § 80 Abs. 4 VwGO enger gefassten Vorgaben des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO nicht jeder sachliche Aussetzungsgrund genügt, um eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen (Missbrauchskontrolle). Die vom Bundesverwaltungsgericht weiterhin geforderte Willkürkontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27) bezieht sich demgegenüber nur auf die logisch nachgelagerte Frage, ob das Bundesamt in sachlich vertretbarer Weise annehmen konnte, dass im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung bestanden, die eine Aussetzung der Vollziehung bis zu einer gerichtlichen Hauptsacheentscheidung rechtfertigen können (a.A. im Hinblick auf eine bloße Willkürkontrolle z.B. VG Cottbus, Beschluss vom 04.08.2020 – 5 L 327/20.A –, juris, Rn. 12; VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 17 ff.; VG Minden, Beschluss vom 06.07.2020 – 12 L 485/20.A –, juris, Rn. 25).
32 fff) Unter Anwendung dieser Maßstäbe war die behördliche Aussetzungsentscheidung nicht geeignet, eine erneute Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen, weil sie nicht der Ermöglichung eines wirksamen Rechtsbehelfs diente. Dies ergibt sich schon unmittelbar aus dem – insoweit mit der individuellen Aussetzungsentscheidung identischen – Schreiben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 18.03.2020, in dem die Beklagte mitgeteilt hatte, dass angesichts der Corona-Krise in Europa inzwischen die meisten Grenzen geschlossen und Reiseverbote ausgesprochen worden seien, so dass „vor diesem Hintergrund derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten“ seien. Mit der Bezugnahme auf die tatsächliche Unmöglichkeit einer Überstellung hatte die Beklagte dabei nicht auf Umstände Bezug genommen, die – wie etwa eine epidemiebedingte individuelle Gefährdung der zu Überstellenden oder eine kurzfristige Verschlechterung der Aufnahmebedingungen – die Zuständigkeit des jeweiligen Zielstaates in Frage stellen, sondern lediglich die Durchführbarkeit der Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist betreffen [vgl. hierzu auch unten III. 1. b) cc) ggg)]. Auch aus dem zweiten Absatz des Schreibens, der sich mit den vermeintlichen Rechtsfolgen einer solchen Aussetzungsentscheidung befasst, wird deutlich, dass die Aussetzungsentscheidung nicht der Ermöglichung eines wirksamen Rechtsbehelfs, sondern – im o.g. Sinne rechtsmissbräuchlich bzw. nicht dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechend – der Herbeiführung einer Unterbrechung der Überstellungsfrist diente. Soweit der Erwähnung der „Vertretbarkeit“ entsprechender Überstellungen demgegenüber eine eigenständige Bedeutung zukommen sollte, beziehen sich entsprechende Überlegungen ersichtlich nicht auf die Vereinbarkeit einer Überstellung mit den in der Rechtsprechung entwickelten – tendenziell strengen – Maßstäben (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 38 ff.), sondern auf die politische Vertretbarkeit einer Überstellung in Ansehung einer sich ausbreitenden globalen Pandemie.
33 Bekräftigt wird dieser Eindruck einer ausschließlich auf eine Unterbrechung der Überstellungsfrist abzielenden Aussetzungsentscheidung durch den Umstand, dass die Beklagte entsprechende Aussetzungsentscheidung weder spezifisch im Hinblick auf die Überstellung des Klägers noch im Hinblick auf sämtliche vor Gericht anhängigen Überstellungsentscheidung nach Italien, sondern – soweit ersichtlich – im Hinblick auf alle in Betracht kommenden Dublin-Staaten unabhängig davon getroffen hat, ob gegen die jeweiligen Überstellungsverfahren noch Rechtsbehelfe anhängig waren (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Amtsberg, Brantner, Polat, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 23.06.2020, BT-Drs. 19/20299, S. 3 f.; Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1311]).
34 Schon die Außerachtlassung der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fest etablierten Mindestvoraussetzung der Anhängigkeit eines Rechtsbehelfs, im Hinblick auf den die Aussetzung der Vollziehung angeordnet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn.26), macht dabei deutlich, dass die insoweit einheitliche Entscheidungspraxis des Bundesamts nicht auf die Ermöglichung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, sondern alleine auf eine unilaterale Verlängerung der Überstellungsfrist abzielte (so auch VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 22 f.). Die Einheitlichkeit der Aussetzungspraxis sowohl im Hinblick auf stark von der Corona-Pandemie betroffene Staaten – wie Italien und Spanien – einerseits und im maßgeblichen Zeitpunkt kaum betroffene Staaten – wie Bulgarien, Griechenland oder Ungarn – andererseits (BT-Drs. 19/20299, S. 4) legt ebenfalls den Schluss nahe, dass die Aussetzungsentscheidungen nicht auf eine Ermöglichung der Überprüfung der Aufnahmebedingungen gerichtet waren, sondern alleine eine Reaktion auf die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung darstellte. Dass das Bundesamt im Zeitpunkt der Aussetzung Zweifel an der Zumutbarkeit von Überstellungen in sämtliche Dublin-Staaten gehegt oder die Auswirkungen der Pandemie auf die jeweiligen Aufnahmebedingungen ernstlich geprüft hätte, hat das Bundesamt schließlich ebenfalls nicht behauptet. Hiergegen spricht zudem, dass entsprechende Aussetzungsentscheidungen im Hinblick auf Abschiebungsandrohungen in Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG für die entsprechenden Zielstaaten nicht bekannt geworden sind (vgl. Pettersson, ZAR 2020, 230 [232 f.]).
35 Schließlich entfaltet auch der Umstand Indizwirkung, dass das Bundesamt die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zur Rechtskraft einer etwaigen Hauptsacheentscheidung, sondern lediglich auf Widerruf erklärt hat. Zwar war das Bundesamt nicht von Rechts wegen verpflichtet, eine entsprechende Befristung ausdrücklich auszusprechen (VG Cottbus, Beschluss vom 04.08.2020 – 5 L 327/20.A –, juris, Rn. 14 m.w.N.; a.A. insoweit OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 28 f.; VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 26; Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1310]), da sich diese unmittelbar aus § 80b Abs. 1 VwGO ergibt; der ausdrückliche Hinweis auf die Möglichkeit eines jederzeitigen Widerrufs, die alleine mit dem Hinweis auf die vorübergehende Unmöglichkeit der Überstellung begründet wurde, spricht jedoch gegen die Annahme, dass die Aussetzung zum Zweck der Ermöglichung eines wirksamen Hauptsacherechtsschutzes erfolgt sein könnte (so auch VG Kassel, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 L 3056/18.KS.A –, juris, Rn. 19).
36 Abgerundet werden diese Gesamtumstände schließlich durch den Umstand, dass das Bundesamt die im Zeitraum von März bis Juni 2020 getroffenen Aussetzungsentscheidungen mittlerweile in einer Vielzahl von Verfahren widerrufen, hierbei maßgeblich auf die weitgehende Aufhebung der Reisebeschränkungen Bezug genommen und diese als Grund für die Aussetzungserklärung benannt hat. Zwar verweisen diese Erklärungen parallel auch darauf, dass die Ausbreitung des Virus habe eingedämmt werden können; Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt auch die Auswirkungen der Pandemie auf die Aufnahmebedingungen, die die Kammer bis in jüngerer Zeit zu Zweifeln an der Zulässigkeit einer Überstellung nach Italien veranlasst hatten (vgl. exemplarisch VG Karlsruhe, Beschluss vom 03.08.2020 – A 9 K 779/20 –, juris, Rn. 15 ff.), in den Blick genommen und als geklärt erachtet haben könnte, sind indes nicht ersichtlich. Insofern deutet auch die Aufhebung der Aussetzung vor Ergehen einer Hauptsacheentscheidung in diesen Verfahren darauf hin, dass die ursprüngliche Aussetzung nicht der Ermöglichung wirksamen Rechtsschutzes gedient hat. Hierauf deutete schließlich auch schon der Hinweis auf die jederzeitige Widerruflichkeit der Erklärung in der ursprünglichen Aussetzungsentscheidung hin.
37 Schließlich kann eine Unterbrechung der Überstellungsfrist vorliegend auch nicht mit dem Einwand begründet werden, dass die Aussetzung der Vollziehung der unmittelbaren Gewährung effektiven Rechtsschutzes durch die zuständige Behörde selbst gedient habe (so aber z.B. VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – A 1 K 1026/20 –, Rn. 48 ff.; VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 22). Denn unabhängig davon, dass Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO auf ein Rechtsmittel bzw. eine Überprüfung durch eine organisatorisch verselbstständigte, gerichtsähnlich organisierte und insbesondere unabhängige Einrichtung Bezug nimmt (deutsche Sprachfassung: „wirksames Rechtsmittel [...] in Form einer [...] Überprüfung durch ein Gericht“; englische Sprachfassung: „an effective remedy, in the form of an appeal or a review [...] before a court or tribunal“; französische Sprachfassung: „de recours effectif, sous la forme d’un recours contre la décision de transfert ou d’une révision [...] de cette décision devant une juridiction.“), sehen Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO jedenfalls keine Fristunterbrechung für den Fall einer rein behördeninternen Überprüfung vor (vgl. VG Osnabrück, Beschluss vom 08.07.2020 – 5 B 151/20 –, juris, Rn. 11; Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1310]). Überdies sind vorliegend jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die vorliegende Aussetzungsentscheidung einem solchen Zweck gedient haben könnte. Insbesondere lag vorliegend kein Fall vor, in dem etwaige Überstellungshindernisse etwa durch Einholung einer individuellen Zusicherung kurzfristig hätten ausgeräumt werden können (vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris, Rn. 10, 13 f.) oder die Aussetzung der Wahrung der Effektivität einer Verfassungsbeschwerde diente (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 31). Vielmehr stand die Unmöglichkeit der Überstellung für einen unübersehbaren Zeitraum im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung fest, so dass für eine weitere inhaltliche Prüfung durch das Bundesamt schon gar kein Raum verblieben wäre. Vielmehr stand auch insoweit – wie ausgeführt – die bloße Unterbrechung der Überstellungsfrist im Vordergrund. Ein Erst-Recht-Schluss, der eine fristunterbrechende Aussetzungsentscheidung auch in Fällen ermöglicht, in denen die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung feststeht (so in der Sache VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – A 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 48), wäre mit der rechtsschutzsichernden Funktion der Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO nicht vereinbar und liegt weit außerhalb der Konstellationen, in denen die obergerichtliche Rechtsprechung bislang eine Aussetzungsentscheidung mit fristunterbrechender Wirkung angenommen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01. 2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 31; Urteil vom 09.08.2016 – 1 C 6.16 –, BVerwGE 156, 9 = juris, Rn. 18).
38 ggg) Im Übrigen wäre selbst eine Aussetzung der Vollziehbarkeit mit dem Ziel, eine gerichtliche Klärung hinsichtlich der tatsächlichen Durchführbarkeit der Überstellung herbeizuführen, nicht geeignet gewesen, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen. Denn die Möglichkeit der Überstellung gehört – anders als nach der nationalen Ausgestaltung des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG – nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO nicht zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Überstellungsentscheidung (überzeugend VG Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2019 – 15 K 15396/17.A –, juris, Rn. 29). Vielmehr geht der Unionsgesetzgeber ausweislich der in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO getroffenen Regelung davon aus, dass sich eine praktische Überstellungsmöglichkeit in der Regel innerhalb einer Frist von sechs Monaten ergeben wird (vgl. Deutscher Bundestag (PE 6: Fachbereich Europa), PE 6 – 3000 – 031/20, S. 15). Dementsprechend handelt es sich auch bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, die nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG lediglich mit einer Abschiebungsandrohung verbunden wird, um eine Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO (i.V.m. Art. 27 Abs. 3 lit. a) Dublin III-VO). Die tatsächliche Möglichkeit der Überstellung gehört daher zu den Überstellungsmodalitäten, zu deren Regelung dem jeweiligen Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO eine Regelfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht (vgl. EuGH, Urteil vom 29.01.2009 – C-19/08 [Petrosian] –, juris, Rn. 40 ff.; BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 17, 26). Die behördliche Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf Zweifel an der Möglichkeit der tatsächlichen Durchführung der Überstellung ist daher aus Sicht des Unionsrechts strukturell ungeeignet, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist zu bewirken (ähnlich OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 17 f.; VG Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2019 – 15 K 15396/17.A –, juris, Rn. 40; a.A. VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 14). Von der Möglichkeit, die nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG sofort vollziehbare Abschiebungsanordnung durch eine Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG zu ersetzen, hat das Bundesamt vorliegend indes bewusst keinen Gebrauch gemacht.
39 hhh) Vor diesem Hintergrund verbietet sich auch eine Umdeutung der Abschiebungsanordnung in Verbindung mit der Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung in eine Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG. Denn eine entsprechende Umdeutung nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 VwVfG in Form eines Akts der richterlichen Rechtserkenntnis (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.01.2017 – 8 C 1.16 –, BVerwGE 157, 187 = juris, Rn. 17) widerspräche der erkennbaren Absicht des Bundesamts, das ausweislich der Begründung der Aussetzungsentscheidung bewusst davon abgesehen hat, die Abschiebungsanordnung aufzuheben und durch eine Abschiebungsandrohung zu ersetzen. Es widerspräche zudem den bei Anwendung und Auslegung der Art. 27 ff. Dublin III-VO maßgeblich zu berücksichtigenden Interessen der Republik Italien als aufnehmender Mitgliedsstaat, Rechtssicherheit hinsichtlich der zeitlichen Grenzen seiner Verpflichtung zu erhalten.
40 c) Da die gesetzliche Überstellungsfrist in Folge der Aussetzungsentscheidung mithin nicht erneut unterbrochen wurde, ist sie vorliegend im August 2020 verstrichen. Die Republik Italien ist folglich gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Klägers verpflichtet, so dass die Zuständigkeit auf die Beklagte als ersuchender Mitgliedsstaat übergegangen ist. Die Voraussetzungen einer Unzulässigkeitsentscheidung auf Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung daher nicht mehr vor, so dass die hierauf gestützte Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts aufzuheben ist.
41 2. Mit der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung unterliegt auch die mit Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides ausgesprochene Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien der Aufhebung, weil sie verfrüht ergangen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 21). Auch die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des angegriffenen Bescheids) teilt das rechtliche Schicksal der Unzulässigkeitsentscheidung, weil eine Zuständigkeit der Republik Italien nicht mehr gegeben ist. Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung entfällt zugleich die Grundlage für die Anordnung eines auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
IV.
42 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
43 Von einem Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit, der sich nur auf die Kosten des Verfahrens beziehen könnte, sieht der Berichterstatter in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens ab (§ 167 Abs. 2 VwGO).
Gründe
I.
14 Gemäß § 87a Abs. 2 und 3 VwGO entscheidet der Berichterstatter im Einverständnis der Beteiligten an Stelle der Kammer. Die Entscheidung ergeht als Urteil ohne mündliche Verhandlung, da die Beteiligten auf mündliche Verhandlung verzichtet haben und ein weiterer Aufklärungsbedarf nicht ersichtlich ist (§ 101 Abs. 2 VwGO).
II.
15 1. Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 – 1 C 32.14 –, BVerwGE 153, 162 = juris, Rn. 14 zur Dublin II-VO sowie allgemein BVerwG, Urteil vom 01.06.2017 – 1 C 9.17 –, juris, Rn. 15). Auch gegen die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien ist in dieser Konstellation vorrangig Rechtsschutz im Wege der Anfechtungsklage zu gewähren (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 21).
16 2. Ziffer 1 und 3 des angegriffenen Bescheides haben sich auch nicht in Folge eines möglichen Ablaufs der Überstellungsfrist erledigt. Denn in der Rechtsprechung ist mittlerweile geklärt, dass die Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit als unzulässig abzulehnen, in Folge des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geregelten Überstellungsfristen ihre Regelungswirkung weder verliert noch sich auf sonstige Weise erledigt (BVerwG, Urteil vom 27.04.2016 – 1 C 24.15 –, juris, Rn. 9; BayVGH, Beschluss vom 18.05.2020 – 3 ZB 20.50004, 3 ZB 20.50005 –, juris, Rn. 3; a.A. noch BayVGH, Beschluss vom 30.03.2015 – 21 ZB 15.50026 –, juris, Rn. 2 ff.). Ob die Überstellungsfrist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung verstrichen ist, ist daher im Rahmen einer Anfechtungsklage zu prüfen (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 18.08.2020 – A 9 K 4171/19 –, juris, Rn. 26).
III.
17 Die zulässige Klage ist im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung begründet, da die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz auf Beklagte übergegangen ist. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig durch Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; sogleich 1.). In Folge der Rechtswidrigkeit der auf eine Zuständigkeit der Republik Italien gestützten Unzulässigkeitsentscheidung unterliegen auch die hieran anknüpfenden Folgeentscheidungen der Ziffern 2 – 4 des angegriffenen Bescheides der Aufhebung (unten 2.).
18 1. Die mit Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides ausgesprochene Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG jedenfalls im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht mehr vorliegen.
19 a) Die ursprüngliche Zuständigkeit der Republik Italien ergibt sich aus Art. 22 Abs. 7 UAbs. 3 Dublin-III-VO, da die Republik Italien das an sie gerichtete Aufnahmegesuch nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen beantwortet hat.
20 b) Die so begründete Zuständigkeit der Republik Italien für die Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz ist vorliegend jedoch nach Maßgabe des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Auf diesen Zuständigkeitsübergang nach Maßgabe der Dublin III-VO kann sich der Kläger auch berufen (vgl. EuGH, Urteil vom 07.06.2016 – C-63/15 [Ghezelbash] –).
21 aa) Nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 lit. c) oder d) Dublin III-VO aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist begann ursprünglich mit dem Ablauf der in Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO geregelten Antwortfrist. Sie wurde jedoch mit Eingang des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vorliegenden Klage beim Verwaltungsgericht, der gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO entfaltet, unterbrochen und begann erst mit Ergehen der ablehnenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 03.02.2020 im Verfahren A 9 K 190/20 erneut zu laufen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 17).
22 bb) Die in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO geregelte Überstellungsfrist von sechs Monaten kann gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Eine Bestimmung, die in Fällen anderer allgemeiner oder einzelfallbezogener Überstellungshindernisse – wie etwa im Fall der im März 2020 vor dem Hintergrund der Ausbreitung der COVID-19-Epidemie unionsweit verhängten Reisebeschränkungen – eine Verlängerung ermöglichen würde, ist in den Bestimmungen der Dublin III-VO indes nicht vorgesehen; sie fallen daher in die Risikosphäre des ersuchenden Staates und sind nicht geeignet, einen Zuständigkeitsübergang zu verhindern oder für die Dauer des Überstellungshindernisses hinauszuzögern (vgl. Europäische Kommission, Communication from the Commission vom 16.04.2020 – C(2020) 2516 final – COVID-19: Guidance on the implementation of relevant EU provisions in the area of asylum and return procedures and on resettlement, S. 7 f.; VG Kassel, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 L 3056/18.KS.A –, juris, Rn. 20; Pettersson, ZAR 2020, 230 [232]; Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1310]). Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf Fälle der höheren Gewalt oder andere, nicht vom Kläger zu vertretende Umstände widerspräche dem der Dublin III-VO zugrundeliegenden Beschleunigungsgedanken und kommt daher nicht in Betracht (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 33 ff.; vgl. auch Neumann ZAR 2020, 314 [318 f.]). Sie kann insbesondere nicht mit dem Effektivitätsgrundsatz oder der Gefahr einer faktischen Aussetzung des Dublin-Systems durch (rechtswidrige) Aufnahmeverweigerung einzelner Mitgliedsstaaten gerechtfertigt werden (vgl. hierzu aber VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 56). Denn insoweit sieht das geltende Unionsrecht in Form des Schlichtungsmechanismus nach Art. 37 Dublin III-VO und des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 259 AEUV Bewältigungsmechanismen auf Ebene der beteiligten Mitgliedsstaaten vor, ermächtigt aber nicht zur Selbsthilfe durch die Behörden einzelner Mitgliedsstaaten.
23 cc) Die mithin geltende Sechsmonatsfrist wurde vorliegend auch nicht durch die Entscheidung, die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO vorläufig auszusetzen, unterbrochen.
24 aaa) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist allerdings anerkannt, dass die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO durch die Behörde generell geeignet ist, die in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 19 sowie BVerwG, Urteil vom 09.08.2016 – 1 C 6.16 –, BVerwGE 156, 9 = juris, Rn. 18). Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit wird nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = ZAR 2019, 198 [200] mit beachtlichen Einwänden Pfersich [202 f.]). Zwar nimmt Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO, der die Voraussetzungen eines Neubeginns der Überstellung abschließend regelt, lediglich auf die in Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO geregelten Fallgruppen Bezug. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Frage des Fristneubeginns nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO jedoch alleine entscheidend, dass ein Rechtsbehelf im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat und eine Überstellung daher nicht durchgeführt werden kann. Dementsprechend erweitert die in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO den Mitgliedstaaten eröffnete Möglichkeit, dass auch die zuständigen Behörden die Durchführung der Überstellungsentscheidung aussetzen können, lediglich die Fallgruppen, in denen einem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO zukommt, und stellt folglich kein aliud zu den in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO ausschließlich in Bezug genommenen Fällen des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO dar. Diese erweiternde Auslegung des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der – wenngleich in einer zu Art. 28 Abs. 3 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO ergangenen Entscheidung – ein entsprechendes Verständnis des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO mit dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit gerechtfertigt hat (vgl. EuGH, Urteil vom 13.09.2017 – C-60/16 [Khir Amayry] –, juris, Rn. 71).
25 bbb) Allerdings beruht die oben zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs neben dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit zentral auf der Annahme, dass sich die betroffene Person im Fall einer behördlichen Aussetzung der Vollziehung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO in einer Situation befindet, die in jeder Hinsicht mit der Situation einer Person vergleichbar ist, deren Rechtsbehelf oder von ihr beantragter Überprüfung gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 13.09.2017 – C-60/16 [Khir Amayry] –, juris, Rn. 68). Diese Grundannahme trifft jedoch nicht in allen Anwendungsfällen, die § 80 Abs. 4 VwGO nach nationalem Recht eröffnet, zu. Insbesondere würde dem Bundesamt so die Möglichkeit eröffnet, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Fällen selbst herbeizuführen, in denen die Dublin III-VO eine Verlängerung der Überstellungsfrist gerade nicht vorsieht. Zudem würde so die – durch Art. 27 Abs. 3 lit. a) - c) Dublin III-VO ausdrücklich eröffnete – Entscheidung des Bundesgesetzgebers unterlaufen, grundsätzlich dem Kläger die Entscheidung zu überlassen, ob er in Folge der Klageerhebung eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in Kauf nehmen will (vgl. zu diesem Aspekt BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 32). Das Unionsrecht setzt der behördlichen Aussetzung der Vollziehung daher – jedenfalls, soweit hieran eine Unterbrechung der Überstellungsfrist anknüpfen soll – engere Grenzen als das nationale Verwaltungsverfahrens- und Prozessrecht. Diese Beschränkungen ergeben sich daraus, dass die behördliche Aussetzungsentscheidung den Betroffenen nicht nur begünstigt, indem aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf der Grundlage der Abschiebungsanordnung zunächst nicht mehr erfolgen können, sondern mittelbar auch belastet, weil sie die Überstellungsfrist unterbricht und so dazu führen kann, dass ein vom Antragsteller möglicherweise erstrebter Zuständigkeitsübergang nicht erfolgt. Weitere Grenzen folgen aus den Belangen des zuständigen Mitgliedstaats, die ebenfalls zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 25).
26 ccc) Nicht abschließend geklärt sind indes die Voraussetzungen, unter denen eine behördliche Vollziehungsaussetzung auf Grundlage des § 80 Abs. 4 VwGO eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeiführen kann. Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt (BVerwG, a.a.O., Rn. 27 f.):
27 Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist, dass der Antragsteller einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat (Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO). Weitere Grenzen folgen aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration) (BVerwG, Urteil vom 27. April 2016 - 1 C 24.15 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 82 Rn. 13). Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind (EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 - Rn. 43 ff.) oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird (vgl. § 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO).
28 Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen (so bereits BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 - BVerwGE 156, 9 Rn. 18); dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes (s.a. Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ) erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind. Das vorliegende Verfahren gibt dabei keinen Anlass zur abschließenden Klärung dieser Willkür- oder Missbrauchsschwelle; sie wird aber dann überschritten sein, wenn bei klarer Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte.
29 ddd) Hieraus folgt nach Auffassung des Berichterstatters zunächst, dass die bloße Anhängigkeit eines Rechtsbehelfs, dessen aufschiebende Wirkung durch behördliche Vollziehungsaussetzung herbeigeführt werden könnte, keine hinreichende Bedingung für eine Unterbrechung der Überstellungsfrist darstellt. Ebenso wenig genügt es aber, dass zum Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung ein objektiver Anlass dafür bestand, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung zu hegen [vgl. hierzu allerdings unten III. 1. b) cc) ggg)]. Zwar darf – im Sinne eines behördlichen Verfahrensermessens – in diesen Fällen eine behördliche Aussetzungsentscheidung ergehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27); eine Fristunterbrechung folgt hieraus jedoch nur dann, wenn bei willkürfreier Betrachtung objektiv bestehende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung auch tatsächlich handlungsleitend für die behördliche Aussetzungsentscheidung sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27, 34: „aus sachlich vertretbaren Erwägungen“, „zum Anlass nimmt“). Dies entspricht auch dem Verständnis der vorgenannten Maßstäbe in weiten Teilen der Rechtsprechung (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 9 ff.; ähnlich VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 21 f. m.w.N.). Denn Art. 29 Abs. 2 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und Abs. 4 Dublin III-VO sieht eine neuerliche Unterbrechung der Überstellungsfrist nur vor, um die praktische Wirksamkeit des nach Art. 27 Dublin III-VO zur Verfügung zu stellenden Rechtsmittels zu gewährleisten. Unter diesen Vorzeichen entspricht regelmäßig auch nur eine auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerichtete Aussetzungsentscheidung dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung des § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO (§ 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO). Ob anderes dann gelten muss, wenn der Betroffene sich selbst rechtsmissbräuchlich verhält (so – in einem obiter dictum – möglicherweise VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 123 f.; a.A. mit beachtlichen Argumenten VG Regensburg, Beschluss vom 06.08.2020 – RN 14 E 20.50264 –, juris, Rn. 34 f.) bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls dient Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht dem Zweck, dem ersuchenden Staat unilateral eine Möglichkeit zur Verschiebung der grundlegenden Risikoverteilung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten und dem Betroffenen zu eröffnen.
30 Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass sich eine solche finale Verknüpfung aus dem Wortlaut jedenfalls der englischen und französischen Sprachfassung nicht ergebe und auch der Wortlaut der deutschen Sprachfassung („um ... zu“) lediglich einen zeitlichen Gleichlauf zwischen Rechtsbehelf und Aussetzungsentscheidung impliziere (so aber VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 48). Denn die Notwendigkeit einer finalen Verknüpfung im o.g. Sinne ergibt sich nicht in erster Linie aus dem Wortlaut der – in der Tat nicht eindeutigen – gesetzlichen Bestimmung, sondern aus deren normativer Einbettung in den Kontext des Art. 27 Abs. 1 – 3 Dublin III-VO, der ersichtlich auf die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsmittels abzielt (vgl. Neumann ZAR 2020, 314 [319]), und dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, der eine Verlängerung der Überstellungsfrist nur in den dort abschließend benannten Fällen vorsieht. Sie ergibt sich letztlich auch schon aus der Beschränkung, dass eine Aussetzung der Vollziehung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO – anders als nach nationalem Verfahrensrecht – nur dann in Betracht kommt, wenn der Betroffene einen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eingelegt hat (der im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung noch anhängig ist). Denn auch mit dem Recht auf ein effektives Rechtsmittel (Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO i.V.m. Art. 47 GRC) wäre es nicht vereinbar, dem Mitgliedstaat eine Möglichkeit zur unilateralen Verlängerung bzw. Unterbrechung der Überstellungsfrist aus nicht rechtsschutzbezogenen und nicht in der Verantwortungssphäre des Betroffenen liegenden Gründen gerade (nur) dann einzuräumen, wenn der Betroffene Rechtsschutz gegen die Überstellungsentscheidung sucht (vgl. zu diesem Wertungswiderspruch auch Deutscher Bundestag (PE 6: Fachbereich Europa), Ausarbeitung zur Aussetzung von Überstellungsfristen nach der Dublin-III-Verordnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vom 02.06.2020, PE 6 – 3000 – 031/20, S. 14 f. sowie Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1311 f.]).
31 eee) Im Hinblick auf die Frage nach einer Unterbrechung der Überstellungsfrist durch die von der Beklagten getroffene Aussetzungsentscheidung ist daher zunächst zu prüfen, ob diese Aussetzungsentscheidung der Verwirklichung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf diente (so auch OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 15, 21 f. sowie – stellvertretend für viele – VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 24; VG Würzburg, Urteil vom 11.08.2020 – W 8 K 19.50795 –, juris, Rn. 32 ff.; Neumann ZAR 2020, 314 [318 f.] m.w.N.). Eine bloße Willkürkontrolle entspräche insoweit nicht den unionsrechtlichen Vorgaben, da nach den gegenüber § 80 Abs. 4 VwGO enger gefassten Vorgaben des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO nicht jeder sachliche Aussetzungsgrund genügt, um eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen (Missbrauchskontrolle). Die vom Bundesverwaltungsgericht weiterhin geforderte Willkürkontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 27) bezieht sich demgegenüber nur auf die logisch nachgelagerte Frage, ob das Bundesamt in sachlich vertretbarer Weise annehmen konnte, dass im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung bestanden, die eine Aussetzung der Vollziehung bis zu einer gerichtlichen Hauptsacheentscheidung rechtfertigen können (a.A. im Hinblick auf eine bloße Willkürkontrolle z.B. VG Cottbus, Beschluss vom 04.08.2020 – 5 L 327/20.A –, juris, Rn. 12; VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 17 ff.; VG Minden, Beschluss vom 06.07.2020 – 12 L 485/20.A –, juris, Rn. 25).
32 fff) Unter Anwendung dieser Maßstäbe war die behördliche Aussetzungsentscheidung nicht geeignet, eine erneute Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen, weil sie nicht der Ermöglichung eines wirksamen Rechtsbehelfs diente. Dies ergibt sich schon unmittelbar aus dem – insoweit mit der individuellen Aussetzungsentscheidung identischen – Schreiben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 18.03.2020, in dem die Beklagte mitgeteilt hatte, dass angesichts der Corona-Krise in Europa inzwischen die meisten Grenzen geschlossen und Reiseverbote ausgesprochen worden seien, so dass „vor diesem Hintergrund derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten“ seien. Mit der Bezugnahme auf die tatsächliche Unmöglichkeit einer Überstellung hatte die Beklagte dabei nicht auf Umstände Bezug genommen, die – wie etwa eine epidemiebedingte individuelle Gefährdung der zu Überstellenden oder eine kurzfristige Verschlechterung der Aufnahmebedingungen – die Zuständigkeit des jeweiligen Zielstaates in Frage stellen, sondern lediglich die Durchführbarkeit der Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist betreffen [vgl. hierzu auch unten III. 1. b) cc) ggg)]. Auch aus dem zweiten Absatz des Schreibens, der sich mit den vermeintlichen Rechtsfolgen einer solchen Aussetzungsentscheidung befasst, wird deutlich, dass die Aussetzungsentscheidung nicht der Ermöglichung eines wirksamen Rechtsbehelfs, sondern – im o.g. Sinne rechtsmissbräuchlich bzw. nicht dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechend – der Herbeiführung einer Unterbrechung der Überstellungsfrist diente. Soweit der Erwähnung der „Vertretbarkeit“ entsprechender Überstellungen demgegenüber eine eigenständige Bedeutung zukommen sollte, beziehen sich entsprechende Überlegungen ersichtlich nicht auf die Vereinbarkeit einer Überstellung mit den in der Rechtsprechung entwickelten – tendenziell strengen – Maßstäben (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 –, juris, Rn. 38 ff.), sondern auf die politische Vertretbarkeit einer Überstellung in Ansehung einer sich ausbreitenden globalen Pandemie.
33 Bekräftigt wird dieser Eindruck einer ausschließlich auf eine Unterbrechung der Überstellungsfrist abzielenden Aussetzungsentscheidung durch den Umstand, dass die Beklagte entsprechende Aussetzungsentscheidung weder spezifisch im Hinblick auf die Überstellung des Klägers noch im Hinblick auf sämtliche vor Gericht anhängigen Überstellungsentscheidung nach Italien, sondern – soweit ersichtlich – im Hinblick auf alle in Betracht kommenden Dublin-Staaten unabhängig davon getroffen hat, ob gegen die jeweiligen Überstellungsverfahren noch Rechtsbehelfe anhängig waren (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Amtsberg, Brantner, Polat, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 23.06.2020, BT-Drs. 19/20299, S. 3 f.; Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1311]).
34 Schon die Außerachtlassung der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fest etablierten Mindestvoraussetzung der Anhängigkeit eines Rechtsbehelfs, im Hinblick auf den die Aussetzung der Vollziehung angeordnet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn.26), macht dabei deutlich, dass die insoweit einheitliche Entscheidungspraxis des Bundesamts nicht auf die Ermöglichung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, sondern alleine auf eine unilaterale Verlängerung der Überstellungsfrist abzielte (so auch VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 22 f.). Die Einheitlichkeit der Aussetzungspraxis sowohl im Hinblick auf stark von der Corona-Pandemie betroffene Staaten – wie Italien und Spanien – einerseits und im maßgeblichen Zeitpunkt kaum betroffene Staaten – wie Bulgarien, Griechenland oder Ungarn – andererseits (BT-Drs. 19/20299, S. 4) legt ebenfalls den Schluss nahe, dass die Aussetzungsentscheidungen nicht auf eine Ermöglichung der Überprüfung der Aufnahmebedingungen gerichtet waren, sondern alleine eine Reaktion auf die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung darstellte. Dass das Bundesamt im Zeitpunkt der Aussetzung Zweifel an der Zumutbarkeit von Überstellungen in sämtliche Dublin-Staaten gehegt oder die Auswirkungen der Pandemie auf die jeweiligen Aufnahmebedingungen ernstlich geprüft hätte, hat das Bundesamt schließlich ebenfalls nicht behauptet. Hiergegen spricht zudem, dass entsprechende Aussetzungsentscheidungen im Hinblick auf Abschiebungsandrohungen in Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG für die entsprechenden Zielstaaten nicht bekannt geworden sind (vgl. Pettersson, ZAR 2020, 230 [232 f.]).
35 Schließlich entfaltet auch der Umstand Indizwirkung, dass das Bundesamt die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zur Rechtskraft einer etwaigen Hauptsacheentscheidung, sondern lediglich auf Widerruf erklärt hat. Zwar war das Bundesamt nicht von Rechts wegen verpflichtet, eine entsprechende Befristung ausdrücklich auszusprechen (VG Cottbus, Beschluss vom 04.08.2020 – 5 L 327/20.A –, juris, Rn. 14 m.w.N.; a.A. insoweit OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 28 f.; VG Berlin, Beschluss vom 20.08.2020 – 32 L 173/20 A –, juris, Rn. 26; Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1310]), da sich diese unmittelbar aus § 80b Abs. 1 VwGO ergibt; der ausdrückliche Hinweis auf die Möglichkeit eines jederzeitigen Widerrufs, die alleine mit dem Hinweis auf die vorübergehende Unmöglichkeit der Überstellung begründet wurde, spricht jedoch gegen die Annahme, dass die Aussetzung zum Zweck der Ermöglichung eines wirksamen Hauptsacherechtsschutzes erfolgt sein könnte (so auch VG Kassel, Beschluss vom 27.07.2020 – 1 L 3056/18.KS.A –, juris, Rn. 19).
36 Abgerundet werden diese Gesamtumstände schließlich durch den Umstand, dass das Bundesamt die im Zeitraum von März bis Juni 2020 getroffenen Aussetzungsentscheidungen mittlerweile in einer Vielzahl von Verfahren widerrufen, hierbei maßgeblich auf die weitgehende Aufhebung der Reisebeschränkungen Bezug genommen und diese als Grund für die Aussetzungserklärung benannt hat. Zwar verweisen diese Erklärungen parallel auch darauf, dass die Ausbreitung des Virus habe eingedämmt werden können; Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt auch die Auswirkungen der Pandemie auf die Aufnahmebedingungen, die die Kammer bis in jüngerer Zeit zu Zweifeln an der Zulässigkeit einer Überstellung nach Italien veranlasst hatten (vgl. exemplarisch VG Karlsruhe, Beschluss vom 03.08.2020 – A 9 K 779/20 –, juris, Rn. 15 ff.), in den Blick genommen und als geklärt erachtet haben könnte, sind indes nicht ersichtlich. Insofern deutet auch die Aufhebung der Aussetzung vor Ergehen einer Hauptsacheentscheidung in diesen Verfahren darauf hin, dass die ursprüngliche Aussetzung nicht der Ermöglichung wirksamen Rechtsschutzes gedient hat. Hierauf deutete schließlich auch schon der Hinweis auf die jederzeitige Widerruflichkeit der Erklärung in der ursprünglichen Aussetzungsentscheidung hin.
37 Schließlich kann eine Unterbrechung der Überstellungsfrist vorliegend auch nicht mit dem Einwand begründet werden, dass die Aussetzung der Vollziehung der unmittelbaren Gewährung effektiven Rechtsschutzes durch die zuständige Behörde selbst gedient habe (so aber z.B. VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – A 1 K 1026/20 –, Rn. 48 ff.; VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 22). Denn unabhängig davon, dass Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO auf ein Rechtsmittel bzw. eine Überprüfung durch eine organisatorisch verselbstständigte, gerichtsähnlich organisierte und insbesondere unabhängige Einrichtung Bezug nimmt (deutsche Sprachfassung: „wirksames Rechtsmittel [...] in Form einer [...] Überprüfung durch ein Gericht“; englische Sprachfassung: „an effective remedy, in the form of an appeal or a review [...] before a court or tribunal“; französische Sprachfassung: „de recours effectif, sous la forme d’un recours contre la décision de transfert ou d’une révision [...] de cette décision devant une juridiction.“), sehen Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO jedenfalls keine Fristunterbrechung für den Fall einer rein behördeninternen Überprüfung vor (vgl. VG Osnabrück, Beschluss vom 08.07.2020 – 5 B 151/20 –, juris, Rn. 11; Lehnert/Werdermann NVwZ 2020, 1308 [1310]). Überdies sind vorliegend jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die vorliegende Aussetzungsentscheidung einem solchen Zweck gedient haben könnte. Insbesondere lag vorliegend kein Fall vor, in dem etwaige Überstellungshindernisse etwa durch Einholung einer individuellen Zusicherung kurzfristig hätten ausgeräumt werden können (vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14 –, juris, Rn. 10, 13 f.) oder die Aussetzung der Wahrung der Effektivität einer Verfassungsbeschwerde diente (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 31). Vielmehr stand die Unmöglichkeit der Überstellung für einen unübersehbaren Zeitraum im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung fest, so dass für eine weitere inhaltliche Prüfung durch das Bundesamt schon gar kein Raum verblieben wäre. Vielmehr stand auch insoweit – wie ausgeführt – die bloße Unterbrechung der Überstellungsfrist im Vordergrund. Ein Erst-Recht-Schluss, der eine fristunterbrechende Aussetzungsentscheidung auch in Fällen ermöglicht, in denen die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung feststeht (so in der Sache VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 – A 1 K 1026/20 –, juris, Rn. 48), wäre mit der rechtsschutzsichernden Funktion der Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO nicht vereinbar und liegt weit außerhalb der Konstellationen, in denen die obergerichtliche Rechtsprechung bislang eine Aussetzungsentscheidung mit fristunterbrechender Wirkung angenommen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.01. 2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 31; Urteil vom 09.08.2016 – 1 C 6.16 –, BVerwGE 156, 9 = juris, Rn. 18).
38 ggg) Im Übrigen wäre selbst eine Aussetzung der Vollziehbarkeit mit dem Ziel, eine gerichtliche Klärung hinsichtlich der tatsächlichen Durchführbarkeit der Überstellung herbeizuführen, nicht geeignet gewesen, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen. Denn die Möglichkeit der Überstellung gehört – anders als nach der nationalen Ausgestaltung des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG – nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO nicht zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Überstellungsentscheidung (überzeugend VG Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2019 – 15 K 15396/17.A –, juris, Rn. 29). Vielmehr geht der Unionsgesetzgeber ausweislich der in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO getroffenen Regelung davon aus, dass sich eine praktische Überstellungsmöglichkeit in der Regel innerhalb einer Frist von sechs Monaten ergeben wird (vgl. Deutscher Bundestag (PE 6: Fachbereich Europa), PE 6 – 3000 – 031/20, S. 15). Dementsprechend handelt es sich auch bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, die nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG lediglich mit einer Abschiebungsandrohung verbunden wird, um eine Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO (i.V.m. Art. 27 Abs. 3 lit. a) Dublin III-VO). Die tatsächliche Möglichkeit der Überstellung gehört daher zu den Überstellungsmodalitäten, zu deren Regelung dem jeweiligen Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO eine Regelfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht (vgl. EuGH, Urteil vom 29.01.2009 – C-19/08 [Petrosian] –, juris, Rn. 40 ff.; BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 17, 26). Die behördliche Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf Zweifel an der Möglichkeit der tatsächlichen Durchführung der Überstellung ist daher aus Sicht des Unionsrechts strukturell ungeeignet, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist zu bewirken (ähnlich OVG Schleswig, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris, Rn. 17 f.; VG Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2019 – 15 K 15396/17.A –, juris, Rn. 40; a.A. VG Berlin, Beschluss vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, juris, Rn. 14). Von der Möglichkeit, die nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG sofort vollziehbare Abschiebungsanordnung durch eine Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG zu ersetzen, hat das Bundesamt vorliegend indes bewusst keinen Gebrauch gemacht.
39 hhh) Vor diesem Hintergrund verbietet sich auch eine Umdeutung der Abschiebungsanordnung in Verbindung mit der Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung in eine Abschiebungsandrohung nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG. Denn eine entsprechende Umdeutung nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 VwVfG in Form eines Akts der richterlichen Rechtserkenntnis (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.01.2017 – 8 C 1.16 –, BVerwGE 157, 187 = juris, Rn. 17) widerspräche der erkennbaren Absicht des Bundesamts, das ausweislich der Begründung der Aussetzungsentscheidung bewusst davon abgesehen hat, die Abschiebungsanordnung aufzuheben und durch eine Abschiebungsandrohung zu ersetzen. Es widerspräche zudem den bei Anwendung und Auslegung der Art. 27 ff. Dublin III-VO maßgeblich zu berücksichtigenden Interessen der Republik Italien als aufnehmender Mitgliedsstaat, Rechtssicherheit hinsichtlich der zeitlichen Grenzen seiner Verpflichtung zu erhalten.
40 c) Da die gesetzliche Überstellungsfrist in Folge der Aussetzungsentscheidung mithin nicht erneut unterbrochen wurde, ist sie vorliegend im August 2020 verstrichen. Die Republik Italien ist folglich gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Klägers verpflichtet, so dass die Zuständigkeit auf die Beklagte als ersuchender Mitgliedsstaat übergegangen ist. Die Voraussetzungen einer Unzulässigkeitsentscheidung auf Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung daher nicht mehr vor, so dass die hierauf gestützte Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts aufzuheben ist.
41 2. Mit der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung unterliegt auch die mit Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides ausgesprochene Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Republik Italien der Aufhebung, weil sie verfrüht ergangen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 21). Auch die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des angegriffenen Bescheids) teilt das rechtliche Schicksal der Unzulässigkeitsentscheidung, weil eine Zuständigkeit der Republik Italien nicht mehr gegeben ist. Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung entfällt zugleich die Grundlage für die Anordnung eines auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
IV.
42 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
43 Von einem Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit, der sich nur auf die Kosten des Verfahrens beziehen könnte, sieht der Berichterstatter in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens ab (§ 167 Abs. 2 VwGO).
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Tenor
Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 19. März 2019 - A 6 K 4801/16 - zuzulassen, wird abgelehnt.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
Gründe
1 Der am 29.04.2019 gestellte Antrag des Klägers, eines 1967 geborenen serbischen Staatsangehörigen bosnischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit, auf Zulassung der Berufung gegen das am 29.03.2019 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.
2 Die mit dem Antrag vorgetragenen Gründe (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) rechtfertigen nicht die Zulassung der Berufung wegen eines Verfahrensfehlers in Form der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 AsylG).
3 1. Die Rüge, die Ablehnung der in der mündlichen Verhandlung vom Kläger (unbedingt) gestellten Beweisanträge durch das Verwaltungsgericht habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, greift nicht durch. Sie ist bereits nicht schlüssig dargelegt. Ohne Mitteilung des Inhalts des Beweisantrags in der Begründungsschrift kann nicht beurteilt werden, ob dessen Ablehnung durch das Verwaltungsgericht gegen das Recht auf Gehör verstößt; insoweit fehlt es an der ordnungsgemäßen Darlegung des behaupteten Verfahrensmangels (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24.03.2000 - 9 B 530.99 -, juris Rn. 10, 13; Hessischer VGH, Beschluss vom 10.07.2007 - 7 UZ 422/07.A -, juris Rn. 19). So liegt der Fall hier. Die Beweisanträge werden in der Antrags- bzw. Begründungsschrift nur unvollständig wiedergegeben.
4 Unabhängig davon ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Ablehnung der von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge nicht feststellbar.
5 Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisantrages verstößt dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht „keine Stütze“ mehr findet (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19.12.2016 - 2 BvR 1997/15 -, juris Rn. 15, vom 18.01.2011 - 1 BvR 2441/10 -, juris Rn. 11, vom 29.11.1983 - 1 BvR 1313/82 -, juris Rn. 8, und vom 08.11.1978 - 1 BvR 158/78 -, juris Rn. 11; BVerwG, Beschluss vom 24.03.2000 - 9 B 530.99 -, juris Rn. 13). Entgegen der Annahme des Klägers ist dies hier nicht der Fall.
6 Der Kläger hat - wie sich aus dem Sitzungsprotokoll des Verwaltungsgerichts ergibt - im Rahmen der mündlichen Verhandlung beantragt,
7 „zum Beweis der Tatsachen, dass beim Kläger die Diagnose einer PTBS und einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung mit noch bestehenden Symptomen einer PTBS und narzisstischen und histrionischen Zügen (ICD-10: F62.0 und F60.8), einer depressiven Störung, derzeit schwere Episode, bestehen und im Falle einer Rückkehr nach Serbien eine schwere Verschlechterung dieser Erkrankungen mit akuter Suizidgefahr alsbald eintreten würde und dass es sich um schwerwiegende psychische Erkrankungen handelt, Dr. B. als sachverständigen Zeugen, hilfsweise als Zeugen zu vernehmen“, sowie
8 „zur Beantwortung der Beweisfragen im Beschluss vom 05.09.2017 und zur Beantwortung der Frage, ob beim Kläger eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung mit noch bestehenden Symptomen einer PTBS und narzisstischen und histrionischen Zügen (ICD-10: F62.0 und F60.8) vorliegt und es sich hierbei um eine schwerwiegende psychische Erkrankung handelt und ob sich diese bei einer Rückkehr alsbald wesentlich verschlechtert mit akuter Suizidgefahr, ein Obergutachten einzuholen und die Ärztin für Psychiatrie und Neurologie E. P.-B. als sachverständige Zeugin, hilfsweise als Zeugin zu vernehmen“.
9 Diese Beweisanträge hat das Verwaltungsgericht ausweislich des Sitzungsprotokolls durch einen Beschluss gemäß § 86 Abs. 2 VwGO abgelehnt und dabei zur Begründung ausgeführt: „Liegt zum Gesundheitszustand bereits ein Sachverständigengutachten vor, ist die Entscheidung über eine weitere Beweiserhebung hierzu gemäß § 98 VwGO i.V.m. § 412 Abs. 1 VwGO ins tatrichterliche Ermessen gestellt. Die Einholung zusätzlicher Gutachten oder sachverständiger Stellungnahmen kann erforderlich sein, wenn (...) durch neuen entscheidungserheblichen Sachverhalt der Beteiligten oder eigene Ermittlungstätigkeit des Gerichts die Aktualität des Gutachtens zweifelhaft oder wenn sonst das bisherige Beweisergebnis ernsthaft erschüttert wird. (...) Keine dieser Voraussetzungen für eine Vernehmung des den Kläger behandelnden Facharztes für psychotherapeutische Medizin Dr. B. als sachverständigen Zeugen zu den im Beweisbeschluss vom 05.09.2017 entsprechenden Beweisfragen liegt hier vor. Das vom Gericht eingeholte psychiatrische Fachgutachten des Prof. Dr. E. (...) weist auch unter Berücksichtigung der vom Kläger dargelegten Einwände keine Mängel auf, die es zur Sachverhaltsfeststellung als ungeeignet oder als nicht ausreichend tragfähig erscheinen lassen würden. Zur Begründung wird auf die Ausführungen des Prof. Dr. E. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 22.10.2018 verwiesen. Lediglich ergänzend ist festzustellen, dass die auf Seite 3 des Schriftsatzes vom 02.02.2018 erhobenen Vorwürfe, der Gutachter habe die Angaben des Klägers in ihrer Gesamtheit nicht vollständig wiedergegeben, keine Vertrauensbasis zu dem sich völlig unverstanden fühlenden Kläger schaffen können und einen Dolmetscher aus Montenegro eingesetzt, zu dem der Kläger ebenfalls keinerlei Vertrauen gehabt habe, ebenfalls nicht geeignet sind, Mängel des Gutachtens aufzuzeigen. Kommt nach alledem eine Vernehmung als sachverständiger Zeuge zu den genannten Beweisfragen nicht in Betracht, gilt dies auch für die hilfsweise beantragte Zeugenvernehmung. Darüber hinaus sind die genannten Beweisfragen einem Zeugenbeweis nicht zugänglich.“ Hinsichtlich des zweiten Beweisantrags hat das Verwaltungsgericht „auf die in gleicher Weise zum Tragen kommenden Gründe zur Ablehnung des vorherigen Beweisantrags“ Bezug genommen.
10 a) Der Kläger bringt vor, das Verwaltungsgericht habe die Beweisanträge auf Vernehmung der Ärzte Dr. B. und Frau P.-B. als sachverständige Zeugen nicht ablehnen dürfen. Die Begründung, dass das Gutachten keine Mängel aufweise, sei insoweit nicht zulässig. Es handele sich nicht um einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, sondern um einen Antrag auf Vernehmung von sachverständigen Zeugen. Der Antrag solle zwar zum Beweis der genannten Erkrankungen und deren Verschlimmerung bei Rückkehr dienen, sei aber auf Vernehmung hinsichtlich der zur Feststellung der Symptomatik und Ursachen der Erkrankungen in der Vergangenheit geführten Gespräche gerichtet, durch die der Nachweis der Erkrankung erbracht werden solle. Die Ablehnung der Beweisanträge auf Vernehmung als sachverständige Zeugen finde daher im Gesetz keine Stütze. Mit dieser Rüge dringt der Kläger nicht durch.
11 Die Behauptung des Klägers, die Beweisanträge seien auf die Vernehmung hinsichtlich der zur Feststellung der Symptomatik und Ursachen der Erkrankungen in der Vergangenheit geführten Gespräche gerichtet, trifft nicht zu. Solches lässt sich den Beweisanträgen nicht entnehmen. Zielrichtung der Anträge war vielmehr allein die Feststellung der aufgeführten Diagnosen, die Beurteilung dahingehend, dass es sich hierbei um eine schwerwiegende psychische Erkrankung handelt, und die Feststellung, dass im Falle einer Rückkehr des Klägers nach Serbien eine schwere Verschlechterung der Erkrankungen mit akuter Suizidgefahr alsbald eintreten würde. So hat das Verwaltungsgericht dies auch zutreffend erkannt. Vor diesem Hintergrund begegnet die vom Verwaltungsgericht zur Ablehnung der Beweisanträge herangezogene Begründung keinen rechtlichen Bedenken und findet im Prozessrecht eine Stütze. Das vom Kläger angebotene Beweismittel des sachverständigen Zeugen stellt sich für die von ihm benannten Beweisthemen als schlechterdings untauglich dar. Dies ergibt sich aus der Abgrenzung zwischen dem Beweismittel eines sachverständigen Zeugen und dem eines Sachverständigen.
12 Der sachverständige Zeuge bekundet sein Wissen von bestimmten vergangenen Tatsachen oder Zuständen, zu deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich war und die er nur kraft dieser besonderen Sachkunde ohne Zusammenhang mit einem gerichtlichen Gutachtenauftrag wahrgenommen hat. Er ist insoweit nicht ersetzbar. Die beantragte Vernehmung eines sachverständigen Zeugen darf nur dann abgelehnt werden, wenn sie als Beweismittel schlechterdings untauglich ist oder wenn es auf die Beweistatsache nicht ankommt bzw. diese als wahr unterstellt wird. Demgegenüber begutachtet der Sachverständige aufgrund seiner besonderen Sachkunde auf einem Fachgebiet als Gehilfe des Gerichts einen von diesem festzustellenden Sachverhalt. Aufgabe des Sachverständigen ist es, dem Gericht besondere Erfahrungssätze oder Kenntnisse des jeweiligen Fachgebietes zu vermitteln oder aufgrund von besonderen Erfahrungssätzen oder Fachkenntnissen Schlussfolgerungen aus einem feststehenden Sachverhalt zu ziehen. Er ist in dieser Funktion grundsätzlich austauschbar. Dieser Abgrenzung entsprechend ist ein Arzt sachverständiger Zeuge, wenn er über einen bestimmten, von ihm selbst ohne einen Zusammenhang mit einem gerichtlichen Gutachtenauftrag festgestellten Krankheitszustand (Befund) eines von ihm ärztlich untersuchten Patienten aussagen soll. Der Arzt ist hingegen Sachverständiger, wenn er die Auswirkungen der Krankheit aufgrund seiner besonderen ärztlichen Sachkunde zu beurteilen hat (vgl. zu alledem BVerwG, Beschluss vom 12.10.2010 - 6 B 26.10 -, juris Rn. 5 f.).
13 Die vom Kläger aufgeworfenen Beweisthemen (Feststellung, ob die von ihm genannten Diagnosen vorliegen, ob im Falle seiner Rückkehr nach Serbien eine schwere Verschlechterung dieser Erkrankungen mit akuter Suizidgefahr alsbald eintreten würde und ob es sich hierbei um eine schwerwiegende psychische Erkrankung handelt) betreffen jedoch keine Tatsachen und keinen Zustand in der Vergangenheit und sind damit einem Zeugenbeweis nicht zugänglich. Es handelt sich vielmehr sämtlich um medizinische Bewertungen, für die es der Fachkenntnis eines entsprechend qualifizierten Sachverständigen bedarf. Gleiches gilt, soweit der Kläger die Vernehmung der E. P.-B. „zur Beantwortung der Beweisfragen im Beschluss vom 05.09.2017“ als sachverständige Zeugin beantragt hat. Denn die Beweisfragen in diesem Beschluss waren ebenfalls allein darauf gerichtet zu klären, ob der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), an rezidivierenden depressiven Störungen, an generalisierter Angststörung, an latenter Suizidalität oder an einer anderen schwerwiegenden psychischen Erkrankung leidet, ob bei ihm im Falle einer Rückkehr nach Serbien mit einer Retraumatisierung zu rechnen ist und ob bei ihm im Falle einer Rückkehr nach Serbien Suizidgefahr besteht. Auch hierbei handelt es sich mithin nicht um Tatsachen oder Zustände in der Vergangenheit, die dem Zeugenbeweis zugänglich wären.
14 Dies hat das Verwaltungsgericht erkannt und die Beweisanträge auf Vernehmung des Dr. B. und der E. P.-B. als (sachverständige) Zeugen mit der zulässigen Begründung, dass die Beweisfragen einem Zeugenbeweis nicht zugänglich sind, abgelehnt.
15 b) Hinsichtlich der Ablehnung der beantragten Einholung eines Obergutachtens trägt die vom Verwaltungsgericht herangezogene Begründung ebenfalls.
16 Zutreffend hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Entscheidung darüber, ob ein - weiteres - Gutachten eingeholt werden soll, im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 VwGO im pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts steht. Dieses Ermessen wird nur dann verfahrensfehlerhaft ausgeübt, wenn das Gericht von der Einholung eines - weiteren - Gutachtens oder eines Obergutachtens absieht, obwohl sich ihm die Notwendigkeit dieser weiteren Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn das bereits vorliegende Gutachten auch für den nicht Sachkundigen erkennbare Mängel enthält, insbesondere von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder unlösbare Widersprüche aufweist, wenn Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen besteht, wenn ein anderer Sachverständiger über bessere Forschungsmittel verfügt oder wenn es sich um besonders schwierige Fachfragen handelt, die umstritten sind oder zu denen einander widersprechende Gutachten vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.10.2010 - 6 B 26.10 -, juris Rn. 5). Zwar verweist der Kläger zu Recht darauf, dass die Einholung eines weiteren Gutachtens (Obergutachten) dann geboten ist, wenn das Gutachten Mängel aufweist, die es zur Sachverhaltsfeststellung als ungeeignet, zumindest aber als nicht ausreichend tragfähig erscheinen lässt, was insbesondere der Fall ist, wenn durch den substantiierten, schlüssigen Vortrag der Beteiligten - unter Umständen auch durch ein von einem Beteiligten vorgelegtes Gegengutachten - die Ergebnisse des Gutachtens oder die Voraussetzungen, von denen der Gutachter ausging, ernsthaft erschüttert werden (vgl. W.-R. Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 108 Rn. 10). Entgegen der Annahme des Klägers liegen diese Voraussetzungen hier aber nicht vor.
17 aa) Unter Wiederholung seiner Ausführungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren macht der Kläger geltend, das vom Verwaltungsgericht eingeholte Gutachten des Prof. Dr. E. vom 20.11.2017 - in welchem festgestellt worden ist, dass der Kläger unter einer depressiven Störung in Form einer depressiven Episode leidet, sich die Symptome einer PTBS nach ICD-10 oder DSM-IV nicht nachweisen ließen und eine Suizidalität aktuell nicht bestehe - weise schwere Mängel auf. Insoweit rügt er, Prof. Dr. E. habe in seinem Gutachten in keiner Weise eine Zuordnung der von ihm umfangreich geschilderten Erlebnisse während des Krieges in Bosnien und seinerzeit als Soldat der bosnischen Armee in Sarajevo sowie seiner gesundheitlichen Beschwerden zu den unter eine PTBS fallenden und diese bestimmenden einzelnen Störungen vorgenommen. Die Symptomatik einer PTBS sei keineswegs auf Flashbacks reduziert, sondern sei anhand der Kriterien, die unter den Begriff der komplexen Traumafolgestörung zusammengefasst seien, zu ermitteln. Der Sachverständige müsse sich an allen Kriterien orientieren und anhand der ihm bekannten Geschehnisse nach Studium der Akten, die er auszuwerten habe, entsprechende Fragen an den Untersuchenden richten, um anhand der dann gegebenen Reaktionen überhaupt eine Beurteilung des Krankheitsbildes vornehmen zu können. Diese Vorgehensweise sei dem Gutachten in keiner Weise zu entnehmen. Der Sachverständige habe vielmehr eine pauschale Zuordnung der gesundheitlichen Störungen zu den Rubriken Depression und PTBS vorgenommen. Es fehlten zum Beispiel auf Seite 10 des Gutachtens jegliche Ausführungen dazu, warum kein Vermeidungsverhalten bezüglich Auslösern habe festgestellt werden können, obwohl er, der Kläger, u.a. ausdrücklich erklärt habe, dass er jegliche Berichterstattung über oder Fotos von Kriegen vermeide, weil er dies nicht ertragen könne, sowie dazu, warum den Flashbacks bzw. Erinnerungen die funktionelle Relevanz zu verweigern sei, und sie nur unter einer depressiven Episode eingestuft werden könnten.
18 Dieses Vorbringen zeigt nicht auf, dass das Verwaltungsgericht die beantragte Einholung eines Obergutachtens fehlerhaft abgelehnt hätte. Es hat vielmehr zutreffend in seinen die Beweisanträge ablehnenden Beschlüssen und ergänzend auch in den Entscheidungsgründen des Urteils ausgeführt, dass die vom Kläger erhobenen Einwände gegen das Gutachten nicht greifen. Es hat dabei auf die ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. E. vom 22.10.2018 verwiesen und u.a. ausgeführt, dass der Gutachter, an dessen fachlicher Kompetenz keine Zweifel bestünden, die Symptome des Klägers umfassend erfasst und diese orientiert an den ICD-10-Kriterien seinen Diagnosen zugrunde gelegt habe. Insbesondere hat Prof. Dr. E. in seiner ergänzenden Stellungnahme ausführlich, schlüssig und nachvollziehbar erläutert, dass die PTBS gegen andere Traumafolgestörungen abgegrenzt und nach ICD-10 diagnostiziert werden müsse, bei dem Kläger aber nicht vorliege. Die notwendigen Symptome seien dabei Flashbacks und Wiedererlebnisse der Traumata und Vermeidungsverhalten bezüglich dieser Flashbacks, dies zusätzlich zum Nachweis eines stattgefundenen adäquaten Traumas. Er hat, wie sich auch der speziellen Anamnese im Gutachten vom 20.11.2017 entnehmen lässt, auf verschiedene Weise versucht, Flashbacks und Wiedererlebnisse von tatsächlich Erlebtem aus dem Kläger herauszubekommen. Stattdessen musste er feststellen, dass Flashbacks nicht vorliegen bzw. dass sich die Wiedererlebnisse nicht auf tatsächlich Erlebtes beziehen, sondern auf Vorkommnisse, von denen der Kläger gehört hat. Des Weiteren hat Prof. Dr. E. in der ergänzenden Stellungnahme erklärt, dass der Kläger eben keine Flashbacks, wie psychopathologisch zu fordern sei, schilderte, sondern Erinnerungen an das Ereignis. Der Kläger habe keine Szene angeben können, die er intrusiv wiedererlebe. Erinnerungen sprächen aber nicht für eine PTBS und es sei auch darauf hinzuweisen, dass sich das Vermeidungsverhalten eben nicht auf Flashbacks beziehe. Diese Art der Befunderhebung sei eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale, um zu differenzieren, ob jemand tatsächlich eine PTBS habe, bei der er Flashbacks erlebe mit Vermeidungsverhalten bezüglich der Flashbacks, oder ob jemand Erinnerungen habe, die ihn belasteten, die aber nicht gleichzusetzen seien mit einer PTBS. Die belastenden Erinnerungen würden in der diagnostizierten depressiven Episode berücksichtigt.
19 bb) Der Kläger moniert weiter, der Sachverständige sei auf seine Angaben, dass er „viele Erlebnisse“ gehabt habe, was ihm „zu schaffen mache“, dass er nicht richtig schlafen könne, vor allem nicht durchschlafen, zuerst aber auch nicht einschlafen könne, Alpträume habe, dass ihn jemand umbringen wolle, und er in diesen Alpträumen auch Szenen vom Krieg sehe, überhaupt nicht eingegangen. Der Sachverständige habe seine Angaben in ihrer Gesamtheit nicht vollständig wiedergegeben. Wenn dann im Gutachten erklärt werde, dass Suizidgedanken nicht explorierbar gewesen und die psychosozialen Stressoren in Serbien nicht ausgeprägter seien als in Deutschland, so stelle dies einen schweren Mangel der Begutachtung dar.
20 Auch hiermit vermag der Kläger nicht durchzudringen. Ein schwerer Mangel der Begutachtung kann insoweit nicht festgestellt werden. Wie oben ausgeführt, hat der Gutachter die Symptome des Klägers umfassend erfasst und diese orientiert an den ICD-10-Kriterien seinen Diagnosen zugrunde gelegt. Dies umfasst, wie sich nicht nur aus der ergänzenden Stellungnahme des Prof. Dr. E. vom 22.10.2018, sondern auch dem Gutachten selbst entnehmen lässt, auch die Ein- und Durchschlafprobleme sowie die genannten Alpträume. Dass der Gutachter die Angaben des Klägers in ihrer Gesamtheit nicht vollständig wiedergegeben hätte, ist daher nicht nachvollziehbar. Zudem hat Prof. Dr. E. schlüssig und nachvollziehbar erläutert, dass es keine Suizidgedanken sind, wenn jemand behauptet, dass es passieren könne, dass er sich umbringe. Dies sei eine Drohung, die die Zukunft betreffe, wenn etwas nicht passiere oder passiere. Suizidgedanken müssten aktuell vorhanden sein. Bei dem Kläger bestehe Suizidgefahr im Falle einer Rückkehr nach Serbien aber nur insofern, als er ankündigen könne, dass er Suizid begehen wolle und dies auch möglicherweise durchführen könnte. Es bestehe aber keine krankheitsbedingte Suizidgefahr in dem Sinn, dass sich zurzeit Hinweise darauf ergäben, dass die Steuerungsfähigkeit aufgehoben und krankheitsbedingt, das heißt ohne willentlichen Entschluss, Suizid begangen werde. Angesichts dessen, dass Prof. Dr. E., wie ausgeführt, bei dem Kläger keine PTBS, keine Flashbacks und kein entsprechendes Vermeidungsverhalten feststellen konnte, ist auch seine weitere Schlussfolgerung nachvollziehbar, wonach die von ihm bei dem Kläger diagnostizierte depressive Episode sowohl hier in Deutschland, wo sie aktuell nicht adäquat behandelt werde („keine Medikamente!“), aber genauso auch in Serbien behandelt werden könne.
21 cc) Weiterhin meint der Kläger, das Gutachten des Prof. Dr. E. sei durch das ärztliche Attest der E. P.-B. vom 15.07.2018 ernsthaft erschüttert worden. Das Attest der E. P.-B. beruhe auf drei Gesprächen des Klägers mit der Ärztin von insgesamt 180 Minuten. In dem Attest werde umfassend wiedergegeben, was er erklärt, wie er sich verhalten und wie er reagiert habe. Daraus ergebe sich ein genaues und differenziertes Bild seiner Gedanken, Gefühle und Empfindungen. Hierauf gestützt werde im Attest substantiiert und schlüssig dargelegt, dass bei ihm die Diagnose einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung mit noch bestehenden Symptomen einer PTBS und narzisstischen und histrionischen Zügen bestehe. Ebenso werde substantiiert und schlüssig erläutert, dass und warum bei erzwungener Rückkehr nach Serbien mit einer erheblichen Verschlimmerung der seelischen Erkrankung und einer ernsthaften Suizidhandlung gerechnet werden müsse. Demgegenüber enthalte das Gutachten des Prof. Dr. E. gerade kein umfassend ermitteltes Persönlichkeitsbild, was zur Bewertung des Störungsbilds der „anderweitigen Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ gemäß der Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung erforderlich gewesen wäre. Folglich liege mit dem ärztlichen Attest der E. P.-B. ein neuer Sachverhalt vor, nämlich die umfassende Darstellung seines Persönlichkeitsbilds und seiner subjektiven Vorstellungen hinsichtlich seiner Rückkehr sowie seiner gefühlsmäßigen Reaktionen im Falle einer Abschiebung nach Serbien, und zwar, weil er sich bei E. P.-B. - anders als bei dem Gutachter - habe öffnen und alles darlegen können, weil er hierzu Zeit gehabt und nicht bei dem, was er zu berichten gehabt habe, gestoppt worden sei.
22 Auch dieses Vorbringen verfängt nicht. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht dargelegt, dass sich Zweifel an dem Gutachten nicht daraus ergeben, dass der Gutachter den Kläger nur 40 Minuten gesehen haben soll, E. P.-B. ihn aber länger - nämlich insgesamt 180 Minuten - gesehen hat. Denn zu berücksichtigen ist, wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, dass das ärztliche Attest der E. P.-B. vom 15.07.2018 - nach welchem bei dem Kläger eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung mit noch bestehenden Symptomen einer PTBS und narzisstischen und histrionischen Zügen (ICD-10: F62.0 und F60.8), eine chronisch verlaufende depressive Störung (ICD-10: F32.8) sowie Alkoholmissbrauch (ICD-10: F 10.1) diagnostiziert wurde - keine zwischenzeitliche gravierende Veränderung des Gesundheitszustands des Klägers erkennen lässt. Hinsichtlich der im Attest erwähnten Flashbacks räumt E. P.-B. selbst ein, dass der Kläger - auch bei ihr - die angegebenen Flashbacks nicht näher beschreiben und hierfür auch keine auslösenden Situationen angeben konnte. Zwar führt die Ärztin weiter aus, dass der Kläger in seinem Leiden und in seiner Verzweiflung glaubwürdig gewesen sei und dass, auch wenn manche der vorgetragenen Symptome wie Flashbacks, Dissoziation und Alpträume in der Untersuchungssituation nicht sichtbar geworden seien, die affektive Komponente in erheblichem Ausmaß zu erkennen gewesen sei. Die Ausführungen der E. P.-B. lassen aber eine Abgrenzung zwischen Flashbacks und Erinnerungen vermissen. Die Vornahme einer solchen Abgrenzung wäre jedoch ebenso angezeigt gewesen wie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass der Kläger die Flashbacks nicht näher beschreiben und hierfür auch keine auslösenden Situationen angeben konnte.
23 e) Der Kläger rügt weiter, ein Gehörsverstoß ergebe sich daraus, dass sich das Gericht nicht mit dem Inhalt der Stellungnahme des Dr. B. vom 20.02.2018 und dessen erstem Attest auseinandergesetzt habe. Daher habe das Gericht die Mängel des Gutachtens von Prof. Dr. E. nicht erkannt. Dr. B. habe die Triggerwirkung der örtlichen, sprachlichen und kulturellen Verhältnisse in Serbien herausgestellt. Hierdurch sei die Behauptung des Gutachters, wonach die psychosozialen Stressoren in Deutschland und Serbien gleich seien, widerlegt.
24 Hiermit kann der Kläger nicht gehört werden. Auch wenn das Verwaltungsgericht die Stellungnahmen des Dr. B. im Urteil nicht ausdrücklich aufgeführt hat, kann hieraus nicht geschlossen werden, es hätte deshalb Mängel des Gutachtens nicht erkannt. Denn es ist zu berücksichtigen, dass dem Gutachter die Stellungnahmen des Dr. B. vom 05.03.2014, 24.10.2017 und 20.02.2018 bekannt waren, einschließlich der von Dr. B. angenommenen Diagnosen (PTBS, rezidivierende depressive Störungen, gegenwärtig mittelgradig bis schwer, generalisierte Angststörung, latente Suizidalität) sowie dessen Einschätzung, dass im Falle einer Abschiebung des Klägers in sein Heimatland eine Triggerwirkung und Retraumatisierung eintreten werde. Diesen Einschätzungen des Dr. B. vermochte sich der Gutachter indes - für den Senat nachvollziehbar und überzeugend - nicht anzuschließen, weil in den Stellungnahmen des Dr. B. die angegebenen Flashbacks (erneut) nicht geschildert werden und unklar bleibt, wie auf die Gefahr einer Retraumatisierung geschlossen wird. Zudem erfolgt in den Stellungnahmen des Dr. B. keine Differenzierung zwischen Flashbacks und Erinnerungen. Demgegenüber hat der Gutachter nachvollziehbar dargelegt, dass die psychosozialen Stressoren in Serbien nicht ausgeprägter sind als in Deutschland. Von einer Retraumatisierung ist nicht auszugehen, da keine Schlüsselreize existieren, die für die Aktivierung von Flashbacks mit Vermeidungsverhalten verantwortlich sind. Dies gilt umso mehr, als auch keine PTBS diagnostiziert werden kann. Ungünstige psychosoziale Bedingungen bestehen in Serbien und in Deutschland gleichermaßen.
25 2. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist auch nicht deshalb gegeben, weil das Gericht, wie der Kläger meint, wesentliche Teile des Sachverhalts nicht zur Kenntnis genommen und gewürdigt hätte.
26 Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht habe den Inhalt des Attestes der E. P.-B. vom 15.07.2018 nicht zur Kenntnis genommen, was sich darin äußere, dass dieses weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen dargestellt worden sei, dass vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt worden sei, dass eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung im Einzelnen dargelegt, also eine gravierend andere Darstellung des Gesundheitszustandes gegeben worden sei, und dass das Gericht das Attest dem Gutachter nicht zur Stellungnahme übersandt habe.
27 Dieser Einwand greift nicht. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfG Beschlüsse vom 10.02.2020 - 2 BvR 336/19 -, juris Rn. 9, und vom 13.02.2019 - 2 BvR 633/16 -, juris Rn. 23). Art. 103 Abs. 1 GG ist aber nur dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.02.2019 - 2 BvR 633/16 -, juris Rn. 23, sowie Urteil vom 08.07.1997 - 1 BvR 1621/94 -, juris Rn. 44). Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13.02.2019 - 2 BvR 633/16 -, juris Rn. 23, und vom 05.10.1976 - 2 BvR 558/75 -, juris Rn. 13). Deshalb müssen, wenn ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden soll, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfG, u.a. Beschlüsse vom 13.02.2019 - 2 BvR 633/16 -, juris Rn. 23, vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 -, juris Rn. 39, und vom 01.02.1978 - 1 BvR 426/77 -, juris Rn. 16; BVerwG, Beschluss vom 25.07.2013 - 5 C 26.12 -, juris Rn. 5) oder ein Prozessbeteiligter nicht hinreichend Gelegenheit erhalten hat, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die entscheidungserheblich sein können.
28 Gemessen hieran vermag der Senat dem Vorwurf des Klägers nicht zu folgen. Aus dem Urteil ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht das Attest der E. P.-B. vom 15.07.2018 zur Kenntnis genommen und gewürdigt hat. So hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass das vorgelegte Attest - ebenso wie das weitere Vorbringen des Klägers - keine zwischenzeitliche Veränderung des Gesundheitszustandes des Klägers erkennen lasse und auch sonst keinen Anlass gebe, an der Richtigkeit des eingeholten Gutachtens zu zweifeln. Zweifel ergäben sich insbesondere nicht daraus, dass der Gutachter den Kläger nach dessen Angaben 40 Minuten, die Ärztin für Psychiatrie und Neurologie vom Verein (...) ihn hingegen länger gesehen habe. Lediglich ergänzend sei anzumerken, dass bereits die vorgenommene Diagnose einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung und narzisstischen und histrionischen Zügen eine vorangegangene posttraumatische Belastungsstörung voraussetze, nicht aber diagnostisch begründe. Überdies lasse die auf dieser Diagnose beruhende Annahme, bei einer erzwungenen Rückkehr nach Serbien sei mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer erheblichen Verschlimmerung und weiteren Chronifizierung seiner seelischen Erkrankung zu rechnen, für eine Rückkehr und für den Wiederaufbau einer selbständigen Existenz stünde ihm keine psychische Energie mehr zur Verfügung und sei auch durch eine mögliche Therapie im Herkunftsland nicht zu erreichen, eine Auseinandersetzung damit vermissen, warum ausgehend von Erlebnissen des Klägers in den Jahren 1992 bis 1995 in Sarajevo im Falle einer Rückkehr nach Serbien außergewöhnlich schwere psychische Schäden zu erwarten sein sollten, die in Serbien, etwa in seinem Herkunftsgebiet, dem Sandzak, wo nach wie vor mehrheitlich bosnische Mehrheiten lebten, nicht behandelbar wären.
29 Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht das Attest der E. P.-B. zur Kenntnis genommen und gewürdigt hat. Dies gilt auch hinsichtlich der von E. P.-B. gestellten Diagnose einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung. Dass das Verwaltungsgericht hieraus nicht die vom Kläger gewünschte Schlussfolgerung gezogen hat, begründet ebenso wenig einen Gehörsverstoß wie der Umstand, dass das Gericht das ärztliche Attest der E. P.-B. dem Gutachter nicht zur ergänzenden Stellungnahme übersandt hat. Gleiches gilt, soweit der Kläger meint, dass das Verwaltungsgericht das Attest nicht gelesen habe, weil es dem Attest nicht entnommen habe, dass die Ärztin ihn 180 Minuten gesehen habe, bzw. weil es nicht zur Kenntnis genommen habe, dass sich die Ärztin mit der Frage ausdrücklich auseinandergesetzt habe, ob Flashbacks bestehen und diese traumatischen Erlebnissen zugeordnet werden könnten. Nichts anderes gilt ferner mit Blick auf die Rüge des Klägers, das Gericht habe nicht zur Kenntnis genommen, dass sich die Ärztin sehr wohl mit dem Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Bedrohungslage auseinandergesetzt und der Kläger dies mit seinem Vortrag in der mündlichen Verhandlung bestätigt habe. Wie ausgeführt, muss sich das Gericht nicht jedem Vorbringen auseinandersetzen. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt, dass die Ausführungen der E. P.-B., wonach der Kläger die schlimmste Bedrohung in seinem Herkunftsland sehe und die subjektive Wahrnehmung alle objektiven Bedingungen von Überlebenschancen überwögen, weshalb davon auszugehen sei, dass ihm für eine Rückkehr und für den Wiederaufbau einer selbständigen Existenz keine psychische Energie mehr zur Verfügung stehe, nicht erklärt, warum dies durch eine Therapie im Herkunftsland nicht mehr zu erreichen sein sollte und warum im Falle einer Rückkehr des Klägers nach Serbien außergewöhnlich schwere psychische Schäden zu erwarten sein sollten, die in Serbien nicht behandelbar wären. Dass das Verwaltungsgericht auch das weitere Vorbringen des Klägers zur Kenntnis genommen und gewürdigt hat, lässt sich dem Urteil ausdrücklich entnehmen.
30 Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
31 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
32 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
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Tenor
Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der Kosten des Widerspruchsverfahrens so-wie 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens zu erstatten. Die Beigeladene hat dem Kläger die Hälfte der Kosten des Widerspruchsverfahrens sowie 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
1Gründe:
2I. Der Kläger wandte sich im zugrundeliegenden Klageverfahren gegen die Ablehnung der Versorgung mit von ihm begehrten hochpreisigen Hörgeräten. Der Kläger war bis kurz vor Abschluss des Verfahrens als Gas- und Wasserinstallateur beschäftigt und benötigt aufgrund seiner progredienten Schallempfindungsschwerhörigkeit und hochgradigen Schwerhörigkeit vom Innenohrtyp seit Jahren eine Hörgeräteversorgung. Im Juni 2012 wurden ihm durch seinen Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Dr. S. neue Hörgeräte verordnet. Laut Attest vom 17.01.2014 brauche er die Hörgeräte ständig, d.h. im privaten Bereich, aber auch besonders im Beruf. Der erste, hier nicht streitgegenständliche Antrag ging am 19.06.2012 bei der Beigeladenen ein. Mit Schreiben vom 19.06.2012 an die Beigeladene teilte der Hörgeräteakustiker Mühleib "Das Hörgerät" (im Folgenden: M) mit, der Kläger habe von beruflichen Schwierigkeiten berichtet, sich trotz seiner bisherigen Systeme in geräuschvollen Situationen zu verständigen. Außerdem habe er Schwierigkeiten, das Pfeifen an Undichtigkeiten von Rohrleitungen zu hören, da ihm die hohen Frequenzen fehlten. Er müsse sehr viel telefonieren, bauliche Unterhaltungen führen und im Gebäudemanagement Entscheidungen treffen. Da er sich beruflich in lauten Umgebungen aufhalte, wo viele Geräusche vorhanden seien, lägen auch dort die Verständnisschwierigkeiten. So komme es beim Telefonieren oder bei Besprechungen in der Vergangenheit zu immer größeren Problemen, da er gerade in größeren Gruppen nicht verstanden habe, was die einzelnen Personen erzählt hätten. Im Test sei beiderseits eine Hörbeeinträchtigung gerade bei den hohen Frequenzen festgestellt worden. Von der akustischen Betrachtung habe man dem Kläger eine offene Versorgung empfohlen. Nach einer Woche habe er bereits festgestellt, dass es in allen Situationen, wo es vorher Schwierigkeiten gegeben habe, wesentlich besser geworden sei. Nach einer weiteren Feineinstellung habe er zur 2. Kontrolle eine weitere Verbesserung feststellen können. Um einen Vergleich zu bekommen, was denn die bisher angepassten Hörsysteme (mit Selbstbehalt, Pure 301) akustisch zu denen der Krankenkasse (ohne Selbstbehalt, Lotus P) ausmachten, seien diese getauscht und angepasst worden. Durch den Verschlusseffekt sei das subjektive Empfinden zwar, auch besser zu hören, aber nicht klar und deutlich zu verstehen. Auch eine Feineinstellung habe keinen Erfolg gebracht. Durch die einfachere Technik in den Systemen seien nach Aussage des Klägers die Nebengeräusche lauter, das Telefonieren schwieriger und gerade in den baulichen Besprechungen die Sprachverständlichkeit schlechter. Außerdem habe der Kläger durch das Tragen der erstangepassten Hörsysteme die Möglichkeit, mehrere Programme für unterschiedliche Situationen einzustellen, welche nach seinem Empfinden sehr zum Vorteil gewesen seien. Durch das Tragen dieser Systeme werde auch ein besserer Sauerstoffaustausch durch eine perforierte Olive gewährleistet. Das Ohr nässe weniger, dadurch werde weniger Ohrenschmalz produziert, wodurch auch Entzündungen in den Ohren vorgebeugt würden, da er nach eigener Aussage auf der Arbeit viel transpiriere. Den Klangkomfort, wie auch das wesentlich bessere Sprachverstehen gerade in geräuschvollen Situationen, denen er beruflich ausgesetzt sei, empfinde er mit dem angepassten Hörsystem als auffallend hilfreich und im Alltag vom Tragekomfort sehr angenehm, anders als bei den Kassengeräten ohne Zuzahlung. Vergleichsweise seien auch einmal die hochwertigsten Hörsysteme getestet worden (Pure 701), die aber keinen sonderlichen Mehrerfolg der Sprachdiskrimination zu den erst angepassten Hörsysteme (Pure 301) gehabt hätten. Am 15.08.2012 ging außerdem ein Antrag bei der Beklagte ein. Diese leitete den Antrag am 17.08.2012 an die Beigeladene weiter. Nach Einholung von Anpassberichten im September 2012 gab die Beigeladene am 08.04.2013 eine Kostenzusage nur in Höhe des Festbetrages, wogegen Widerspruch nicht eingelegt bzw. wonach keine weiteren Kosten geltend gemacht wurde. Der genehmigte Festzuschuss wurde nicht ausgekehrt, da die Versorgung im August 2013 (laut telefonischer Mitteilung des Akustikers) "abgebrochen" worden war.
3Am 03.08.2013 beantragte der Kläger unter Vorlage einer Arbeitsplatzbeschreibung formlos erneut die Versorgung mit Hörgeräten, nunmehr wieder bei der Beklagten. Im Februar 2014 wurde der (1 ½ Jahre alte) Anpassbericht vom 19.06.2012 über das Gerät Siemens Pure 301 sowie ein Kostenvoranschlag vom 06.02.2014 über ein System Siemens Pure 7Mi , für das ein Anpassbericht nicht vorlag, über einen Betrag von insgesamt 6.253 EUR vorgelegt. Nach Abzug der Zuzahlung der Beigeladenen i.H.v. 1.903 90 EUR sollte ein Betrag von 4.314 EUR verbleiben. Die nunmehr vorgenommene Weiterleitung an die Beigeladene wurde von dieser mangels Einhaltung der Frist und unter Hinweis auf die umfängliche Prüfungspflicht der Beklagten nach allen in Betracht kommenden Vorschriften zurückgewiesen. Gleichwohl lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag mit Bescheid vom 04.04.2014 allein mit der Begründung ab, er benötige die Hörhilfe nicht ausschließlich zur Ausübung seiner Tätigkeit an seinem derzeitigen Arbeitsplatz. Eine Kostenübernahme durch die Rentenversicherung sei deshalb ausgeschlossen. Man habe seinen Antrag an die zuständige Beigeladene weitergeleitet. Diese habe leider die Antragsunterlagen unzulässiger Weise wieder zurückgesandt. Dieser Bescheid behandle deshalb allein die Frage der Kostenübernahme des Gerätes durch die gesetzliche Rentenversicherung. Der Kläger legte Widerspruch unter Vorlage einer Stellungnahme des Arbeitgebers ein; dieser blieb zunächst unbearbeitet. Nach am 21.07.2014 erhobener Untätigkeitsklage wies die Beklagte den Widerspruch erst mit Widerspruchsbescheid vom 13.11.2014 ohne irgendwelche Ermittlungen zurück. Ein arbeitsplatzspezifischer Mehrbedarf liege nicht vor. Die Klage stellte der Kläger daraufhin um. Zur Begründung trug er vor, eine Mitarbeiterin des Hörgeräteakustikers habe am 09.11.2015 telefonisch versichert, dass "zuzahlungsfreie" Geräte für den Kläger getestet worden seien, aber keines dieser Geräte in der Lage sei, die Umgebungsgeräusche in einer lauten Umgebung so herauszufiltern, dass er noch in der Lage sei, z.B. Sprache wahrzunehmen. Nur durch die "aufzahlungspflichtigen" Systeme Pure 3 Mi oder Pure 7 Mi sei der Kläger in der Lage, auch in lauter Umgebung noch Sprache zu verstehen. Eine zuzahlungsfreie Abgabe dieser Geräte an die Kläger sei nicht möglich, da dadurch noch nicht einmal die Selbstkosten für die Beschaffung der Geräte gedeckt würden. Er, der Kläger, habe auch andere Hörgeräteakustiker aufgesucht. Niemand habe ihm ein zuzahlungsfreies System anbieten können, mit dem er in einer lauten Umgebung noch ebenso gut wie mit den genannten Systemen habe verstehen können. Er habe daher gegen die Beigeladene einen Anspruch auf Versorgung mit den Systemen Pure 3 Mi oder Pure 7 Mi. Da der Hörgeräteakustiker sich weigere, die Hörsysteme aufzahlungsfrei abzugeben, habe er keinen durchsetzbaren Anspruch auf Aushändigung der Geräte gegenüber den Hörgeräteakustiker. Es bleibe dabei überlassen, ob sie den Hörgeräteakustiker auf seine ihr gegenüber bestehende Verpflichtung zur Abgabe der Hörsysteme hinweise und die Abgabe durchsetze oder ob sie die vom Hörgeräteakustiker geforderte Zuzahlung leiste. Nach einer vom Gericht angeregten aktuellen Hörgeräteanpassung legte der Kläger im Januar 2015 zunächst über ein von ihm und dem Hörgeräteakustiker M nicht als ausreichend angesehenes "aufzahlungsfreies" Gerät Siemens einen Anpass- und Abschlussbericht vor, mehr als 1 Jahr später auch einen "Anpass- und Abschlussbericht" über eine Testung vom 06.01.2015 mit den Nachfolgegeräte der ursprünglich begehrten Siemens Pure 3 Mi und 7 Mi vor. Ein Kostenvoranschlag für wurde weiterhin nicht vorgelegt. Die Beklagte wandte sich lediglich gegen eine Verpflichtung ihrerseits und bleibt dabei, ein arbeitsspezifischer Mehrbetrag liege nicht vor. Zwar ergebe sich aufgrund der vorliegenden hochgradigen Verminderung die Notwendigkeit einer hochwertigen Hörgeräte-versorgung. Diese sei jedoch für alle Lebensbereiche erforderlich. Die Beigeladene vertrat zur Zuständigkeit zunächst weiterhin die Auffassung, weil der Kläger die Versorgung im August 2013 abgebrochen habe, sei das vorgesehene Versorgungsverfahren vorzeitig beendet worden, so dass der Bescheid vom 08.04.2013 seinen Regelungsgehalt verloren habe. Durch den Antrag im August 2013 bei der Beklagten sei mangels rechtzeitiger Weiterleitung diese als erstangegangener Träger für die Prüfung der Voraussetzungen zuständig. Den bisher eingereichten Unterlagen sei nicht zu entnehmen, welche "aufzahlungsfreien" Geräte mit den hier streitgegenständlichen "auf-zahlungspflichtigen" Hörgeräten vergleichend getestet worden seien, geschweige denn, zu welchem Ergebnis die vergleichenden Anpassungen geführt hätten. Nach dem geltenden Vertrag zwischen der Beigeladenen und der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker seien die Leistungserbringer gemäß § 3 VI des Vertrages verpflichtet, zumindest ein aufzahlungsfreies Gerät zu testen und dieses mit einem auf zahlungspflichtigen Hörgerät zu vergleichen. Dabei müsse mindestens ein aufzahlungsfreies System die individuelle Hörminderung des Versicherten gleichwertig wie ein System mit dem im Einzelfall besten Ergebnis ausgleichen. Werde bei der vergleichenden Anpassung mit dem aufzahlungspflichtigen Hörgerät ein besseres Sprachverstehen erzielt, so müsse ein weiteres aufzahlungsfreies Gerät zum Erreichen eines möglichst weitgehend gleichen Sprachverstehens getestet werden. Ein entsprechender Vortrag seitens des Klägers sei bisher ausgeblieben. Nach den bisherigen Informationen sei lediglich ein aufzahlungsfreies Gerät getestet und vom Leistungserbringer als nicht ausreichend eingestuft worden. Entsprechende Belege sei nicht vorgelegt worden. Die bisher eingereichten Anpassungsberichte glänzten eher durch fehlerhafte Angaben/Informationen, so dass bereits jetzt die bisherigen Ergebnisse angezweifelt werden müssten. Es sei weiterhin nicht er-sichtlich, aus welchen Gründen der Leistungserbringer nicht in der Lage gewesen sei, den Hörverlust des Klägers mit einem eigenanteilsfreien System vertragsgemäß auszugleichen. Der Hörgeräteakustiker sei vertraglich verpflichtet, eine breite Auswahl an anteilsfreien Hörgeräten zu führen und für alle Grade der Schwerhörigkeit entsprechende Geräte vorrätig zu halten. Diese eigenanteilsfreien Hörsysteme müssten nach den nun-mehr einschlägigen Versorgungsvertrag gemäß § 127 Abs. 2 SGB V vom 01.11.2013 gemäß § 3 V zur Kompensation des individuellen Verlusts bei allen Schwerhörigkeitsgraden geeignet sein und einen weitgehenden Ausgleich unter Berücksichtigung der Versorgungsziele des BSG-Urteils vom 17.12.2009 (B 3 KR 20/08) und der jeweils aktuellen Hilfsmittelrichtlinie sicherstellen. Verfüge ein Mitgliedsbetrieb über kein geeignetes weiteres Hörgerät in seinem Sortiment, müsse das vergleichend angepasste aufzahlungspflichtige Hörgerät zum Vertragspreis abgeben werden. Durch diese Regelung hätten die Vertragspartner festgelegt, dass es praktisch zu keiner aufzahlungspflichtigen Versorgung von den bei der Beigeladenen versicherten Mitgliedern kommen könne. Unterstelle man, dass die vergleichende Anpassung ordnungsgemäß erfolgt sei, hätte das streitgegenständliche Hörgerät im Rahmen einer vertragsgemäßen Kassenversorgung zur Festbetrag abgegeben werden müssen und auch diesbezüglich keine Mehrkosten dem Kläger in Rechnung gestellt werden dürfen. Der dazu angehörte Hörgeräteakustikers M teilte daraufhin mit, die seiner Auffassung nach im Falle des Klägers allein möglichen Hörgeräte mit einer offenen Versorgung seien nicht zuzahlungsfrei abzugeben, da dies wirtschaftlich nicht möglich sei. Er verwies erneut auf die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und auf die Testung im Jahre 2012 und 2014. Leider sei es wirtschaftlich nicht möglich, die Hörgeräte mit den externen Hörern, in diesem Falle (inzwischen) ein Pure 3 bx, zuzahlungsfrei an den Kläger weiterzugeben. Alle anderen Geräte seien mittlerweile nicht mehr beim Hersteller zu erhalten, da diese Techniken veraltet seien. Mit Schreiben vom 31.03.2016 teilte er auf Nachfrage mit, wie bereits in den vorhergehenden Schreiben habe der Kläger mit den Hörsystem von Siemens (Pure 3 bx) eine deutliche Verbesserung des Tragekomfort sowohl auf der Arbeit als auch im Alltag. Eine vergleichende Anpassung des neueren Hörgerätes wurde nicht vorgelegt, ebenso wenig ein Kostenvoranschlag, lediglich erneut eine Bescheinigung des Arbeitgebers über die Kommunikationsprobleme im sensiblen Bereichen von Alten- und Pflegeeinrichtungen. Die Ausstattung mit einer zeitgemäßen Hörhilfe sei unverzichtbar. Die Beigeladene erklärte sich im April 2016 zur Überprüfung ihres Bescheides bereit, sofern ärztliche Atteste vom Kläger erbracht würden, dass aus medizinischen Gründen nur eine offene Versorgung, wie vom Akustiker lediglich empfohlen, ausreichend sei, und aktuelle und vom Versicherten unterzeichnete Anpassberichte vorgelegt würden, zumal zum beantragten Gerät keine Anpassung vorliege und nach telefonischer Auskunft auch nicht vorgenommen worden sei. Zudem vermisse sie vergleichende Anpassberichte zu geschlossenen Systemen, die eine angebliche Ungeeignetheit belegen könnten. Auf Anfrage des Gerichts teilte der Zentralverband Sanitär/Heizung/Klima mit Schreiben vom 31.05.2016 mit, zweifelsohne sei im Beruf des Gas-Wasser Installateurs gute akustische Wahrnehmung notwendig. Inwieweit das Hörvermögen über die Anforderungen, die im Alltag gestellt würden (wie zu Beispiel im Straßenverkehr, beim Telefonieren, bei Gespräch mit mehreren Personen in größeren Räumen, auch bei störenden Umge-bungsgeräuschen), hinausgingen, sei nicht bekannt. Hinsichtlich der Ortung von Leckagen seien technische Hilfsmittel ein guter Ersatz, wenn nicht sogar die technisch notwendige Ausrüstung. Insofern gebe es adäquate Lösungen, dieses akustische Problem zu kompensieren. Man halte die Gewährung eines höherwertigen Hörgerätes dennoch für folgerichtig, da die persönlichen Einschätzungen des Klägers vordergründig zu berücksichtigen seien und auch arbeitsschutzrechtliche Belange oder Gefahrenabwehr ei-ne Rolle spielen könnten. Dies gelte insbesondere dann, wenn die akustische Wahrnehmung soweit beeinträchtigt sei, dass ausströmende Medien (Wasser, Gas, andere Betriebsmedien) vom Kläger nicht mehr wahrgenommen werden könnten. Seitens des Gerichts wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass ohne eine einigermaßen aktuelle Anpassung mit entsprechenden Berichten keine Verpflichtung zur Versorgung ausgesprochen werden könne. Daraufhin erklärte der Kläger, er wolle eine Anpassung mit aktuellen Hörsystemen durchführen lassen. (Schreiben vom 07.07.2016). Mit Schreiben vom 27.10.2016 teilte der Kläger sodann mit, er bekomme keine aktuellen An-passberichte, mehr als 5 % Unterschied zwischen aufzahlungsfreien und aufzahlungspflichtigen Hörgeräten ergäben und die die Unterschiede zwischen aufzahlungsfreien und aufzahlungspflichtigen Hörgeräten auch in lauter Umgebung dokumentierten. Er sei auch bei 2 weiteren Hörgeräteakustiker gewesen. Die Hörgeräteakustiker weigerten sich, unter realistischen Bedingungen in lauter Umgebung zu testen, da hierbei deutliche Unterschiede zwischen Geräten erzielt würden. Bei den Tests in ruhiger Umgebung könne er auch mit den Kassenmodellen ausreichend hören. Er benötige aber aus beruflichen Gründen Systeme, die auch in einer lauten Umgebung ausreichendes Hörvermögen vermittelten. Mündlich hätten ihm die Hörgeräteakustiker bestätigt, dass die Kassenmodelle dies nicht leisten könnten. Sie würden dies aber nicht durch entsprechende Anpassberichte dokumentieren, da sie sonst die hochwertigen Geräte zum Kassenpreis ab-geben müssten. Der Kläger legte im März 2018 nunmehr bei einem anderen Leistungserbringer Anpassberichte (mit Kostenvoranschlag) über die im 1. Quartal 2017 (also mehr als 1 Jahr zuvor) getesteten Systeme "Novasense Geneve HdO Power", als zuzahlungsfrei bezeichnet, und "Selectic Napoli Pro2 mini Ex", als zuzahlungspflichtig bezeichnet, vor. Ersteres hatte der Kläger 21 Tage getestet, das zweite 7 Kalendertage. Mit keinem der Geräte war der Kläger zufrieden. Dazu legte er eine Stellungnahme des Hörgeräteakustikers Walter (GEERS) vor. Die im Anpassbericht dokumentierten Messungen zeigten, dass sowohl in Ruhe als auch im Störschall (60dB) eine entsprechend der Hilfsmittelrichtlinie ausreichende Verbesserung erzielt worden sei, die für beide getestete Hörsysteme vergleichbar sei. Auf die audiometrischen Messergebnisse bezogen erfülle das aufzahlungsfreie System somit die nötigen Anforderungen. Die aufgelisteten Systeme gehörten mittlerweile nicht mehr zum Kernsortiment.
4Das Gericht hat daraufhin Beweis erhoben und den seinerzeitigen Direktor der HNO- Klinik der Klinikum D. gGmbH, Professor Dr. D., beauftragt, den Kläger unter Berücksichtigung eines Zusatzgutachtens des Hörgeräteakustikermeisters und öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für das Hörakustik-Handwerk B. im Hinblick auf die zuletzt getesteten Geräte zu begutachten. Der Sachverständige B. stellte in seinem Gutachten vom 11.10.2018 fest, der Kläger leide an einer knapp an Taubheit grenzenden (85-89 % Hörverlust) Schwerhörigkeit. Nur mit Hörhilfen habe der Kläger unmittelbar einen Behinderungsausgleich und erziele in der ambulanten Untersuchung ein 55-prozentiges Sprachverstehen. Auch mit Hörgeräten erreiche er keine 100-prozentiges Sprachverstehen. Für die Kläger seien mehrkanalige Hörgeräte erforderlich, und zwar seien mindestens ein 6-Kanalbaus Hörgerät auf beiden Ohren notwendig. Für den bei ihm vorliegenden eingeschränkten Dynamikbereich benötige er ein Hörgerät mit einer automatischen Volumenkompression (AGC). Die Hörgeräte sollten eine Rückkopplungsunterdrückung sowie eine Störschallunterdrückung besitzen. Der Sachverständige führte sodann eine vergleichende Anpassmessung mithilfe der für die ambulante Untersuchung bestellten Hörsysteme durch. Das "GEERS Select Napoli Pro 2 mini Ex" sei baugleich mit dem "Opticon Nera 2 Pro mini Ex". Mit diesen Hörsystemen sei ein Gewinn von 40 % an Sprachverständlichkeit im Freifeld erzielt worden. Im Störgeräusch sei das Sprachverstehen um 10 % zurückgegangen. Dieses Ergebnis sei nicht in der vergleichenden Hörgeräteanpassung bei GEERS erzielt worden. Dort habe es eine Verminderung im Sprachverstehen von 35 % gegeben. Das GEERS "Novasense Geneve HdO Power" sei baugleich mit dem Oticon GET HdO P. Mit diesem System sei ein Gewinn von 55 % an Sprachverständlichkeit im Freifeld erzielt worden. Im Störgeräusch sei das Sprachverstehen hier allerdings – wie auch bei GE-ERS, wo allerdings das Sprachverstehen gleich gewesen sei, – um 35 % zurückgegangen. Die einzelnen zusätzlichen Ausstattungsmerkmale bewirkten in der Tat eine Verbesserung des Verstehens. Im Gutachten Professor Dr. D. vom 31.10.2018 hatte der Kläger angegeben, dass die Testergebnisse, die in den Messkabinen gewonnen worden seien, den Hörgewinn außerhalb des Geschäfts im Alltag nicht widerspiegelten. Dort habe er deutliche Unter-schiede mit dem Gerät Pure 3 Mi gemerkt. Nur mit diesem habe er auch bei Nebengeräuschen gut hören können. Der Sachverständige D. stellte fest, eine offene Versorgung sei aus medizinischer Sicht nicht zwingend erforderlich und schon gar nicht zu empfehlen. Die Erklärung eines beruflich bedingten Mehrbedarfs bei der Tätigkeit als Gas/Wasserinstallateur können nicht nachvollzogen werden. Vielmehr sollten Hörgeräte im Lärmbereich (dazu gehöre dieser Beruf) grundsätzlich nicht getragen werden. Sie dürften in diesen Fällen nur als persönliche Schutzeinrichtung vom Institut für Arbeitsschutz und dem Zertifizierungslabor für Telekommunikation zugelassene Hörsystem der Firma Hörluchs eingesetzt wer-den, nach Überprüfung und Feststellung durch den gesetzlichen Unfallversicherungsträger. Der Einsatz der vom Kläger begehrten Systeme sei aus unfallversicherungsrechtlicher Sicht verboten. Der Versorgungserfolg messe sich nicht an den sprachaudiometrischen Ergebnissen, sondern am subjektiven Höreindruck des Probanden, welcher mittels informeller Befragung durch den Akustiker ermittelt wird. Der Kläger gebe angesichts des Ausmaßes seiner Schwerhörigkeit weder kosmetische Vorteile noch besondere Features für einen bequemen Weg auch Gebrauch als Begründung für den Wunsch nach Ex-Hörer-Hörgeräten an. Er schildere glaubhaft in erster Linie die Ansprüche an die Verständnisquote mit und ohne Störfall bei gleichzeitig angenehmen natürlichen Klang im Beruf und Alltag, sowie die Vermeidung von Rückkopplung, als maßgebliche Kriterien. Dieser Anspruch sei durchaus nachvollziehbar. Insofern könne auch bei gleich guten Verstehensquoten einem teureren Hörgerät mit einem natürlichen Klang und weniger Rückkoppelung auch von HNO-ärztlicher Seite der Vorzug gegeben werden. Allerdings werde bei Betrachtung der dokumentierten Verstehensquoten bei Testung der verschiedenen Hörgeräte von 2015 bis aktuell trotz im Wesentlichen ähnlicher hoher Schwelle ein immer schlechteres Sprachverstehen auch mit den zuzahlungspflichtigen Geräten erreicht. Nach den jedoch teilweise auch nicht nachvollziehbaren Anpassberichten wäre aus HNO-ärztlicher Sicht der Erwerb des Siemens pure 3 MI zu unterstützen gewesen. Ein Anpassbericht für das Nachfolgegerät Siemens Pure 3 BX liege jedoch wiederum nicht vor. Zum aktuellen Zeitpunkt vermöge weder das zuzahlungsfreie noch das zuzahlungspflichtige Hörgerät adäquat zu überzeugen. Es erschließe sich nicht, dass das "GEERS Select Napoli Pro 2 mini Ex" das Wunschgerät des Klägers sein solle, denn erst bei einem (hier nicht gemessenem) Sprachverstehen von etwa 80 % werde ein hinreichendes Verständnis normalfließender Sprache möglich. Dementsprechend sei mit den Ergebnissen der Sprachaudiometrie solches, trotz vermeintlich optimaler Hörgeräteversorgung, nicht gegeben. Um seine solche Behinderung adäquat auszugleichen sei nach dem aktuellen medizinischen Kenntnisstand und den technischen Möglichkeiten eine Versorgung mit einem Cochlea Implantat (CI) beidseits indiziert. Alternativ sei der Kläger bis dahin mit einem Power- oder High Power-HDO-Hörgerät, ggfs. einem RIC-Hörer-Hörgerät (mit im Einzelnen aufgeführter Ausstattung) zu versorgen. Eine offene Versorgung sei hier weder zwingend erforderlich und schon gar nicht zu empfehlen, und im Übrigen von den Hörgeräteakustikern auch nicht vollständig durchgeführt worden. Das im Gutachten des Herrn B. ermittelte Sprachverstehen mit den zuzahlungsfreien als auch mit den zu zahlungspflichtigen Geräten, erreiche auch ohne Störfall nicht den zu fordernden Wert von mindestens 60 %. Insofern möge aus HNO-ärztlicher Sicht keines zu überzeugen. Von einem annähernden Gleichziehen mit einem gesunden Menschen könne auch mit dem Wunschhörgerät nicht die Rede sein. Leider seien vom Gutachter B. keine anderen Geräte vorgeschlagen oder getestet worden, auch eine geschlossene Versorgung sei in der Gutachtensituation nicht ausprobiert worden. In-sofern könne bei schlechterer Kenntnis der Produktpalette als der des Akustikermeisters selbst kein Alternativgerät vorgeschlagen werden, dass vielleicht an die guten Anpassungsergebnisse 2015 angeknüpft hätte.
5Der Kläger stützte sich auf das Zusatzgutachten des Sachverständigen B. und hielt an seiner Auffassung zur offenen Versorgung fest. Zudem seien die getesteten Hörgeräte auch mit einem geschlossenen System verfügbar, so dass gegebenenfalls ein geschlossenes System verwertet werden könne. Die Beigeladene sah eine Diskrepanz zwischen den vom Kläger gewünschten Versorgungsformen und medizinisch erforderlichen. Der Kläger möge mitteilen, welche Leistungen er unter Berücksichtigung der Feststellungen der Gutachter nun definitiv begehre. Er habe den Streitgegenstand durch Benennung eines konkreten Gerätes zu definieren. Nach Kündigung des Arbeitsplatzes und schließlich doch noch durchgeführter Anpassung mit neuen, aktuell verfügbaren Geräten wurde der Kläger durch den Akustiker GE-ERS mit den Anforderungen des Gutachtens entsprechenden, hochpreisigen Hörgeräten zum Festpreis versorgt. Daraufhin hat er den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Er meint, die Beklagte müsse die Kosten tragen, denn sie habe mehrfach anerkannt, dass er Anspruch auf eine hochwertige Hörgeräteversorgung habe. An dieses Anerkenntnis sei auch die Beigeladene gebunden. Seither habe der Rechtsstreit nur noch der Klärung der Frage gedient, ob die Beklagte oder die Beigeladene für die notwendige Versorgung des Klägers zuständig gewesen sei. Es werde auch auf den gesamten dies-seitigen Schriftverkehr während des unangemessen langen Verfahrens verwiesen.
6Er beantragt,
7der Beklagten bzw. der Beigeladenen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
8Die Beklagte hat keinen Antrag im Kostenverfahren gestellt. Sinngemäß hat sie aber bereits im Klageverfahren zum Ausdruck gebracht, dass sie sich nicht zur Kostentragung verpflichtet sieht.
9Die Beigeladene beantragt,
10festzustellen, dass sie dem Kläger keine Kosten zu erstatten hat.
11Sie meint, bis zum jetzigen Zeitpunkt habe nicht festgestellt werden können, dass der Kläger einen Anspruch auf Versorgung mit einem Hörgerät über den Festbetrag hinaus hat. Mit Klagerücknahme habe er auf eine Weiterverfolgung seines Begehrens verzichtet. Ob und inwieweit Hörgeräteakustiker ein Teil des Kaufpreises verzichtet haben solle, könne letztendlich dahingestellt bleiben. Denn dies beweise nicht, dass der Kläger einen Anspruch gegen die Beigeladene auf ein zuzahlungspflichtiges Hörgerät gehabt hätte.
12Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen, die bei der Entscheidung vorgelegen hat.
13II. Kosten waren anteilsmäßig zu erstatten.
14Gemäß § 193 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird, auf Antrag durch Beschluss, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Bei Erledigung des Rechtsstreits z.B. durch Klagerücknahme entscheidet das Gericht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes, insbesondere der Erfolgsaussichten der Klage, nach billigem Ermessen (Bundessozialgericht (BSG), Beschlüsse vom 01.04.2010 – B 13 R 233/09 B, Juris Rn. 8f und 04.07.1990 - 1 RA 15/89, Juris Rn. 25; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Rn. 13 zu § 193). Dabei ist es – nach dem Rechtsgedanken des § 91 a ZPO - in der Regel billig, dass der die Kosten trägt, der unterliegt. Bei teilweisem Erfolg ist eine Quotelung angemessen (vergleiche auch die Regelung in § 63 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - SGB X), dies muss aber nicht so sein. Allerdings muss das Gericht alle Umstände des Einzelfalles berücksichtigen und darf nicht nur auf das Ergebnis des Rechtsstreits abstellen. So kann nach dem Veranlassungsprinzip derjenige zur Kostentragung verpflichtet werden, der Anlass für eine unzulässige oder unbegründete oder eine von vornherein durch Mitwirkungshandlungen vermeidbare Klage gegeben hat (Leitherer, aaO. Rn. 12a, 12b mwN.).
151. Zunächst einmal ist festzustellen, dass die alten, bisher getragenen Geräte weder für den Beruf noch für den Alltag ausreichend waren und der Kläger, was allerdings auch von keinem Beteiligten angezweifelt wurde, dringend eine neue Hörgeräteversorgung benötigte. Dass dies auch zu Beeinträchtigungen im Beruf führt, versteht sich von selbst. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht auch fest, dass der Kläger ein hochwertiges Hörgerät mit besonderer Ausstattung benötigt, das in der Anschaffung über dem Festpreis liegen dürfte. Auch ist richtig und beklagenswert, dass es ein Hin und her der beteiligten Träger gegeben hat. Der Zweck der Regelung des § 14 SGB IX, einem Hilfesuchenden schnell und unbürokratisch einen zuständigen Entscheidungsträger für alle Rechtsgrundlagen zur Verfügung zu stellen, wird in der Praxis häufig in sein Gegenteil verkehrt, weil die Beteiligten häufig teils aus Unkenntnis der Regelung, teils aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zur Auslegung und Anwendbarkeit und aufgrund nur verspäteter oder gar nicht erfolgter Umsetzung der Rechtsprechung nunmehr in 1. Linie über die Frage streiten, wer erstangegangener Träger ist, obwohl die materiell-rechtliche Zuständigkeit häufig einfacher festzustellen wäre (vgl. bereits Urteil der Kammer vom 13. April 2016 – S 21 R 411/11 –, Rn. 33, Juris). So auch hier. Entgegen der Auffassung des Klägers hatte die Beklagte allerdings keineswegs ein Anerkenntnis abgegeben, nur weil sie die Notwendigkeit einer neuen und u.U. auch einer höherwertigen Versorgung generell bejaht hat. Ein prozessuales Anerkenntnis dergestalt, dass der Anspruch des Klägers ihr gegenüber berechtigt gewesen sei, lag zu keinem Zeitpunkt vor. Die Beklagte hätte ein solches Anerkenntnis auch keineswegs bindend für die Beigeladene abgeben können. Auch trifft es keineswegs zu, dass nur noch über die Zuständigkeit gestritten worden wäre. Bereits seit April 2016 hat die Beigeladene nach Hinweisen des Gerichts und kurz darauf auch bestätigt durch die eingeholte Auskunft des Berufsverbandes zur Überprüfung ihrer Entscheidung bereit erklärt. Seither wurde über zwischen der Beklagten und der Beigeladenen und seitens des Gerichtes diese Frage nicht mehr diskutiert. Schließlich ist festzustellen, dass der Kläger in keinem Stadium des Verfahrens die erforderlichen Unterlagen (zeitnah vorgelegte, umfassende vergleichende Anpassung nach den Kriterien des Vertrages zwischen der Beigeladenen bzw. den Krankenkassen und der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker mit gleichzeitigem Kostenvoranschlag) für ein einigermaßen aktuelles und von ihm selbst und einem Hörgeräteakustiker als gut empfundenen Hörgerätes vorgelegt hat. Auch bei der Begutachtung waren die angegebenen Geräte bereits wieder veraltet und zudem solche, mit denen der Kläger gar nicht zufrieden war und laut Sachverständigem auch nicht zufrieden sein konnte.
162. Materiell zuständig für die Entscheidung und letztendlicher Kostenträger war die Beigeladene, weil die Versorgung tatsächlich nach den Vorschriften des SGB V zu erfolgen hatte. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme benötigte der Kläger zwar ein hochpreisiges Hörgerät, jedoch unabhängig von seiner beruflichen Tätigkeit. Ausschließlich berufliche und arbeitsplatzspezifisch erforderliche Gebrauchsvorteile benötigte der Kläger unter Berücksichtigung der Schreiben des Arbeitgebers und der Auskunft des Zentralverbandes Sanitär/Heizung/Klima mit Schreiben vom 31.05.2016 und der Einschätzung des Sachverständigen nicht. Das deutlich erschwerte Kommunizieren allgemein und das Telefonieren in lauter Umgebung gehört zu den Anforderungen des Alltags, die sowohl in einer Vielzahl beruflicher Felder als auch im privaten Bereich vorkommt und zu ermöglichen ist. Für das akustische Auffinden von Leckagen ist, sofern dies ein mehr als alltägliches Hörvermögen voraussetzt – weil auch im privaten Bereich zur Gefahrenabwehr erforderlich -, nach Auskunft des Berufsverbandes der Einsatz spezieller Messgeräte möglich und auch erforderlich. Ein spezifischer berufsbedingter Mehrbedarf war deshalb nicht erkennbar. Denn keineswegs reicht es im Alltag aus, wenn ein gutes Sprachverstehen in ruhiger Umgebung gewährleistet ist. Selbst Telefonieren in lauter Umgebung ist keine berufsspezifische Angelegenheit (vgl. dazu i.E. BSG, Urteil vom 24. Januar 2013 - B 3 KR 5/12 R -, BSGE 113, 40-60, SozR 4-3250 § 14 Nr 19, SozR 4-2500 § 33 Nr 41, SozR 4-3250 § 31 Nr 8, Rn. 30ff). Nur ausschließlich berufliche und arbeitsplatzspezifische Gebrauchsvorteile sind demgemäß für die Hilfsmittelversorgung nach dem SGB V grundsätzlich unbeachtlich (BSG, Urteil vom 24. Januar 2013 - B 3 KR 5/12 R -, BSGE 113, 40-60, SozR 4-3250 § 14 Nr 19, SozR 4-2500 § 33 Nr 41, SozR 4-3250 § 31 Nr 8, Rn. 33). Hieraus folgt im Übrigen, dass es fest definierte "zuzahlungsfreie" und "zuzahlungspflichtige" Geräte angesichts der Anforderungen des BSG und der vertraglichen Regelung zwischen den Krankenkassen und der Hörgeräteakustiker Innung grundsätzlich nicht gibt, sondern lediglich zum Festpreis abgegebene oder nur mit Zuzahlung abgegebene Geräte, wobei letztere ausschließlich beruflich bzw. arbeitsplatzspezifische Gebrauchsvorteile, reine Komfortvorteile oder nur unwesentliche Verbesserungen gegenüber den getesteten, zum Festpreis abzugebenden Geräten aufweisen dürfen. Von den Hörgeräteakustikern und den Beteiligten wird der Begriff "zuzahlungspflichtig" aber regelmäßig irreführend für nicht zum Festpreis vom Hörgeräteakustiker wirtschaftlich sinnvoll abgebbare Geräte genutzt. Demnach bestand materiell tatsächlich ein Anspruch auf Leistungen nur nach dem SGB V, also den Rechtsvorschriften der Beigeladenen. Das war seit April 2016 auch nicht mehr streitig.
173. Gleichwohl sind der Beklagten unter Zugrundelegung der oben genannten Grundsätze aus Veranlassungsgründen die Kosten des Widerspruchsverfahrens zur Hälfte, hinsichtlich der Klage zu 1/3 aufzuerlegen.
18Die Beklagte war allerdings bereits mangels Abschlusses des ersten, durch den Antrag vom 19.06.2012 begonnenen Rehabilitationsverfahrens ohnehin nicht mehr erstangegangener Träger, was sie allerdings übersehen hat. Unter Zugrundelegung ihrer Annahme hinsichtlich ihrer fehlenden Zuständigkeit hätte sie aber in jedem Fall den Antrag vom 03.08.2013 - ebenso wie beim am 15.08.2012 eingegangenen Antrag während des noch laufenden ersten Antragverfahrens bei der Beigeladenen (und eigentlich gerade wegen des noch zeitnahen, offensichtlich nicht zum Abschluss gebrachten ersten Ver-fahrens) - sicherheitshalber gemäß § 14 SGB Abs. 1 Satz 1 und 2 IX a.F. ohne weitere Ermittlungen innerhalb der 2-Wochenfrist nach Eingang des Antrages (und nicht erst nach Einholung von Unterlagen und angenommener Entscheidungsreife) an die Beigeladene weiterleiten müssen. Nach –hinsichtlich der abgelaufenen Weiterleitungsfrist zwar korrekter, aber im Ergebnis gleichwohl rechtswidriger - Zurückweisung durch die Beigeladene hätte sie nunmehr gemäß § 14 SGB Abs. 2 IX a.F. über den Anspruch des Klägers inhaltlich auch nach dem SGB V entscheiden müssen, worauf die Beigeladene auch ausdrücklich hingewiesen hatte. Die Kosten hätte sie gemäß § 103ff SGB X (§ 16 SGB IX war noch nicht in Kraft) ggfs. bei der Beigeladenen geltend machen müssen. Einen Streit über die Zuständigkeit will § 14 SGB X gerade vermeiden und legt dem nach § 14 SGB X zuständig gewordenen Träger die Entscheidung über die Rehabilitation des Antragsstellenden nach allen in Betracht kommenden Vorschriften auch anderer Träger auf. Da die Beklagte aber unter Außerachtlassung dieser Vorschrift ohne weitere Prüfung anderer Rechtsgrundlagen entschieden hat, hat sie zunächst Anlass für das Widerspruchsverfahren gegeben.
19Sodann hat sie, indem sie weit nach Verstreichen der Frist nach § 88 SGG und Monate nach Erhebung der zulässigen und begründeten Untätigkeitsklage ohne irgendwelche Ermittlungen in der Zwischenzeit den Widerspruch mit derselben Begründung zurückgewiesen hat, außerdem auch Anlass für die Untätigkeitsklage, und sodann für die Um-stellung dieser zur Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegeben.
204. Der Beigeladenen waren ebenfalls aus Veranlassungsgründen Kosten des Wider-spruchs- zur Hälfte und des Klageverfahrens zu 1/3 aufzuerlegen.
21Der erste Antrag des Klägers vom 19.06.2012 wäre in der Sache aussichtsreich gewesen. Dieses Gerät war laut SV, soweit das rückblickend beurteilbar ist, wahrscheinlich tatsächlich als einziges der seither getesteten (soweit Berichte vorgelegt wurden) geeignet und hätte seinerzeit vom Hörgeräteakustiker zum Festpreis erbracht werden müssen - so wie auch jetzt ein den Festpreis in der Anschaffung weit übersteigendes Gerät vom letzten, offensichtlich korrekt arbeitenden Leistungserbringer zur Verfügung gestellt wurde (und dies keinesfalls als Gnadenakt, wie der Kläger zu glauben scheint). Die Beigeladene hätte, wenn der Kläger sich an sie mit seinem Problem gewandt hätte, seinerzeit im Rahmen ihres Leistungserbringungsvertrages auf den Hörgeräteakustiker einwirken, mit ihm eine Regelung treffen oder aber die Mehrkosten ebenfalls übernehmen müssen. Der Kläger hat dies allerdings nicht getan und das ursprüngliche, zeitnahe und formal folgerichtige Verfahren (Widerspruch gegen die reine Festpreisgewährung oder Bestehen auf einer Entscheidung über die Mehrkosten im Hinblick auf die Weigerung des Hörgeräteakustikers) nicht geführt. In solchen Bescheiden wird allerdings auch nicht auf diese Möglichkeit hingewiesen. Auch eine Rechtsmittelbelehrung wird dem Antragssteller nicht erteilt, so dass entweder der Bescheid über die Festpreisgewährung nicht bestandkräftig geworden sein und mit dem erneuten Antrag bei der Beklagten angefochten worden sein dürfte, oder aber über den ersten Antrag des Klägers noch nicht abschließend entschieden war. Im zweiten Antragsverfahren hat die Beigeladene deshalb zu Unrecht die Übernahme des Verfahrens verweigert. Wie bereits ausgeführt war unabhängig von der dargestellten Problematik fehlender Bestandskraft oder mangelnder Vollständigkeit der ersten Entscheidung über den bei der Beigeladenen gestelltem Antrag vom 19.06.2012 mangels einer abgeschlossenen Versorgung schlicht die Rehabilitation nicht abgeschlossen. Ein endgültiger "Abbruch" der Rehabilitation bei weiter bestehendem Rehabilitationsbedarf, ohne dass dieser eine auf andere Weise befriedigt oder sich anderweitig erledigt hat, ist nach den Vorschriften über die Rehabilitation nicht möglich. Es handelte sich also tatsächlich nicht um eine Frage der Weiterleitungsfrist nach § 14 SGB IX. Durch ihr Verhalten hat die Beigeladene damit das Widerspruchsverfahren mitverursacht.
22Für das Klageverfahren gilt folgendes: Letztendlich ist durch die Begutachtung und die zuletzt erfolgte Versorgung erwiesen, dass der Kläger zu Lasten der Beigeladenen mit einem hochpreisigen Hörgerät, allerdings nicht mit einem offenen System, zu versorgen war. Die Beigeladene hat ausführlich und korrekt dargelegt, wie eine solche vertragsgerechte Anpassung durch den Leistungserbringer auszusehen hat und dass dies hier offensichtlich nicht der Fall war. Allerdings war mit dieser Darlegung dem Kläger nicht geholfen, denn dieser hatte nicht die Rechtsmacht, den Vertragspartner der Beigeladenen zur Einhaltung seiner vertraglichen Pflichten zu zwingen. In diesem Fall wäre es Aufgabe der Beigeladenen, den Leistungserbringer dazu anzuhalten, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen (vgl. auch BSG, Urteil vom 24. Januar 2013 – B 3 KR 5/12 R –, BSGE 113, 40-60, SozR 4-3250 § 14 Nr 19, SozR 4-2500 § 33 Nr 41, SozR 4-3250 § 31 Nr 8, Rn. 20Ff, 23). Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das fehlerhafte Handeln des Leistungserbringers nicht dem Kläger zuzurechnen. Denn wie der Name schon ausdrückt erbringt er eine Leistung, die Aufgabe der Beigeladenen ist, er stellt sich als verlängerter Arm der Beigeladenen dar. Die originäre Sachleistungserbringungspflicht liegt bei der Krankenkasse und wurde den Hörgeräteakustikern lediglich im Rahmen des § 127 SGB 5 übertragen, und zwar durch eine vertraglichen Regelung, die folgerichtig zwischen der Beigeladenen und dem Leistungserbringer besteht, nicht aber zwischen dem Kläger und dem Leistungserbringer. Dies gilt umso mehr, als der Hilfesuchende kein Angebot einer begleitenden Beratung durch die eigentlich für die Leistung zuständige Krankenkasse erhält. Im Klageverfahren ist der Beigeladenen die problematische Situation des Klägers und die offensichtlich fehlerhafte Vertragsauslegung des Hörgeräteakustikers M bekannt geworden, ohne dass sie in irgendeiner Weise für den Kläger unterstützend eingeschritten wäre. Die Frage, wem die Folgen der fehlerhaften (oder nach Auffassung des Hörgeräteakustikers aus wirtschaftlichen Gründen unmöglichen) Vertragserfüllung durch den Leistungserbringer aufzuerlegen sind, ist daher nach Auffassung des Gerichtes zulasten der Beigeladenen zu beantworten. Wenn sich der Vertragspartner der Beigeladenen (wie nach Erfahrung der Kammer häufig) nicht wie vom BSG gefordert um eine Versorgung zum Festpreis bemüht, um das im Vertrag zwischen Krankenkassen und Hörgeräteakustikern implementierte Kostenrisiko (Notwendigkeit der Versorgung zum Festpreis unabhängig vom tatsächliche Preis im Rahmen einer Durchschnittkalkulation), zu vermeiden oder durch Verweis auf die eventuelle Zuständigkeit der Beklagten auf die Beklagte abwälzen zu können, gehört dies in die Sphäre der Beigeladenen. Die Beigeladene hat die Beratung in solchen Fällen völlig auf diejenigen ausgelagert, die nicht neutral beraten können, ohne wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Denn dass der Hörgeräteakustiker lediglich bei im Wesentlichen aus rein Komfortgründen gewählten oder nur unwesentlich das Hörvermögen steigernden, Geräten einen den Festpreis übersteigenden Eigenanteil in Rechnung stellen darf, ist nicht nur diesem Kläger, sondern nach Erfahrung des Gerichts allgemein, im Wesentlichen unbekannt. Alternativ kann die Beigeladene durch ihren Verband die Verträge der Realität anpassen, anstatt durch immer größere Einräumung von Freiheiten für den Leistungserbringer (so ist zB. inzwischen nur noch 1 zuzahlungsfreies Gerät vergleichend zu testen, eine Testung wie vom BSG vorgesehen auch unter störenden Umgebungsgeräuschen ist ohnehin nicht vorgesehen) den Hilfesuchenden zum Spielball des Konfliktes zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Leistungserbringer zu machen, die sich offensichtlich wirtschaftlich nicht in der Lage sehen, den Vertrag so zu erfüllen, wie die Beigeladene (und das Gericht) ihn verstehen, (so offenkundig der Vortrag des Hörgeräteakustikers M, nach Darstellung des Klägers aber auch anderer Akustiker). Die einzige Einflussmöglichkeit, die der Hilfesuchende hat, ist, den Leistungserbringer zu wechseln und ein völlig neues Anpassverfahren durchzuführen, und zu hoffen, dass dieser sich an die vertraglichen Regelungen hält. Nach Erfahrung des Gerichtes ist die Problematik aber nicht bekannt, sodass dieser Weg nicht als Ausweg erkennbar ist. Letzteres gilt allerdings im Falle des Klägers nicht mehr für die Zeit des Klageverfahrens.
235. Dem Kläger waren die Kosten des Klageverfahrens allerdings nicht insgesamt zu erstatten. Hinsichtlich des Widerspruchsverfahrens ist dem Kläger angesichts der Komplexität der Zuständigkeitsregelungen und der Problematik fehlender Hinweise der Beigeladenen kein eigenes fehlerhaftes Handeln, das zu einer Kürzung der Kostenerstattung führen könnte, vorzuwerfen; die Einlegung des Widerspruchs war angesichts der ungelösten Problematik für ihn zwangsläufig; dass er sich dabei an den falschen Träger gewandt hat mag an fehlerhafter Beratung durch den Hörgeräteakustiker gelegen haben (wie zu dieser Zeit nach Erfahrung der Kammer durchaus üblich).
24Auch die Klageerhebung selbst war angesichts der offensichtlich rechtswidrigen Entscheidung der Beklagten folgerichtig und dem Kläger trotz des nunmehrigen Ausganges des Verfahrens nicht anzulasten. Denn die Beklagte hatte ihn während der unangemessen langen Dauer des Widerspruchsverfahrens nicht auf die fehlenden Unterlagen und die fehlende Aktualität verwiesen, sondern allein mangels Zuständigkeit abgelehnt, ohne Gelegenheit zur Nachbesserung einzuräumen.
25Allerdings ist die Dauer und der Umfang des Klageverfahrens nicht mehr von der Beklagten und der Beigeladenen veranlasst worden. Zu Gunsten der Beigeladenen ist nämlich zu berücksichtigen, dass sie sich im Laufe des Verfahrens bereits im April 2016 bereit er-klärt hat, die Entscheidung nach Vorlage aktueller Anpassberichte zu überprüfen. Ab diesem Zeitraum hat die Beklagte auch keinen entscheidenden Einfluss mehr auf das Verfahren genommen. Die Beigeladene hat in diesem Zusammenhang im Einzelnen darauf hingewiesen, welche Unterlagen weiter erforderlich sind, nämlich eine vergleichende Messung mit geschlossenen Systemen und eine medizinisch begründete Aussage des behandelnden HNO-Facharztes zur Frage der offenen Versorgung (der in der Tat zunächst keine auf medizinischen Fakten und Befunden beruhende Aussage abgegeben hatte, sondern lediglich seine – bruchstückhafte - Rechtsauffassung zur Kostentragungspflicht allgemein geäußert hatte und die Notwendigkeit offener Versorgung dann auf Nachfrage auch gerade nicht bestätigt hat). Die auch nach Auffassung des Gerichtes unangemessene Dauer und der Umfang des Klageverfahrens sind vielmehr wesentlich dadurch veranlasst, dass der Kläger zum einen die erforderlichen Unterlagen für das ursprünglich von ihm als geeignet getestete Gerät, (das bereits bei Klageerhebung angesichts des Zuwartens des Klägers, des technischen Fortschritts und der möglichen gesundheitlichen Verschlechterung veraltet war) und der Nachfolgegeräte trotz gerichtlicher Aufforderung nie zeitlich nah und vollständig (mit nachvollziehbaren vergleichenden Anpassberichten und Kostenvoranschlag) vorgelegt hat. Zum anderen - und vor allem aus diesem Grund – weil er die vielfältigen Versuche des Gerichts, ihn aufgrund des Zeitablaufs zu einer unabhängigen neuen Testung zu veranlassen, irrigerweise für Schikane hielt und zunächst zu lange in falscher Solidarität zum Hörgeräteakustiker M an diesem festhielt. Mehrfach aber hat auch das Gericht darauf hingewiesen, dass weder die Beklagte noch die Beigeladene zur Finanzierung technisch veralteter Geräte verpflichtet werden kann und dass der Kläger daher eine aktuelle Versorgung unter Berücksichtigung der von der Beigeladenen aufgeworfenen Fragen, gegebenenfalls auch bei einem alternativen Hörgeräteakustiker, vornehmen lassen sollte. Der Kläger hat trotz anwaltlicher Beratung in nicht nachvollziehbarer Weise sich einer solchen monatelang verweigert und dann – so scheint es - die Hörgeräteakustiker offensichtlich gezielt um seine Auffassung unterstützende Ergebnisse angefragt, anstatt wie vom Gericht und der Beigeladenen erbeten, unvoreingenommen neue und damit in der Regel technisch verbesserte Hörgeräte (wie vertraglich vorgesehen) wie üblich im Alltag und im Beruf ausführlich zu testen und die dort vorgenommenen Messungen auch der "Festpreisgeräte" als Vergleichsgrundlage vorzulegen. Er hat es nicht, wie geboten, dem Gericht überlassen, aus diesen Messungen die erforderlichen Schlüsse zu ziehen, sondern solche gar nicht erst vorgelegt, weil sie dem von ihm gewünschten Ergebnis nicht entsprachen. Schließlich hat er zwar eine Testung bei einem neuen Hörgeräteakustiker durchgeführt und Unterlagen überreicht, jedoch waren auch diese qualitativ fraglich und bereits deshalb nicht verwertbar, weil er selbst sich mit diesen Geräten nicht ausreichend versorgt gesehen hat. Damit lagen dem Gericht bis zuletzt keine ausreichenden Daten für eine Beurteilung vor. Erst nach einer von Anfang an mangels ausreichender Grundlage nur in Teilen weiter-führenden Begutachtung und schließlich bedauerlichem, aber nachvollziehbarem Verlust des Arbeitsplatzes hat er sich zu einer neuen, unabhängigen Testung durchringen können. Auf die diversen, immer wiederkehrenden Hinweise des Gerichts während des Klageverfahrens wird verwiesen: Das nunmehr erzielte Ergebnis hätte der Kläger, hätte er denn die Hinweise des Gerichtes und später der Beigeladenen befolgt, viel früher auch vor der Begutachtung erzielen und damit den Arbeitsplatzverlust vermeiden können.
266. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Widerspruchsverfahren waren nach alledem im Rahmen des gerichtlichen Ermessens der Beklagten und der Beigeladenen je zur Hälfte aufzuerlegen. Für das Klageverfahren hält das Gericht eine gleichmäßige Quotelung je zu 1/3 für an-gemessen, so dass der Beklagten und der Beigeladenen je 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Klägers hierfür aufzuerlegen waren.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1Tatbestand:
2Die Klägerin ist Eigentümerin der Grundstücke Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstücke 51, 83 und 95 sowie Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstück 92. Historisch gehörten die Grundstücke zu dem Gelände der N. -X. AG.
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4Quelle: TIM-online
5Auf dem Grundstück Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstück 92 steht ein Lebensmittel-Discountmarkt auf und auf dem Grundstück Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstück 51 finden sich die Parkplätze des Lebensmittel-Discountmarkts. Zudem steht auf dem Grundstück in der Mitte des Parkplatzes der am 4. September 2002 als Baudenkmal in die Denkmalliste der Beklagten eingetragene „N1. -Turm". Auf dem Grundstück Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstück 83 steht ein in der Vergangenheit als Lebensmittel-Discountmarkt genutztes Hallengebäude auf. Nach der Aufgabe der Nutzung steht das Hallengebäude leer.
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7Quelle: TIM-online
8Der „N1. -Turm“ wurde zu Beginn der 1950er Jahre als einer der ersten Messetürme aus N1. -Rohr für die I. -Messe hergestellt. Um das Jahr 1957 wurde der Turm in I. abgebaut und Anfang der 1960er Jahre auf dem Gelände der N. -X. AG in S. wieder aufgerichtet. Der Turm hat eine Höhe von 59 Meter. Die Konstruktion aus drei zur Spitze des Turms hin zulaufende Stahlrohrprofile trägt als Mastkopf in zwei Ringen das Zeichen „NX“ als Logo der N1. -X. . Auf Grund seiner Farbe und Beleuchtung durch Neonröhren wurde und wird der Turm im Volksmund als „C. N2. “ bezeichnet.
9Nach Erwerb der Grundstücke durch die Klägerin im Jahr 2003 sind ohne Genehmigung an dem Turm verschiedene Mobilfunkantennen angebracht worden. Die Anbringung der Mobilfunkantennen der in die W. GmbH aufgegangenen N1. Mobilfunk GmbH wurde nachgehend durch Bescheid der Beklagten vom 27. November 2014 nach Maßgabe des DSchG NRW – befristet bis zum 26. November 2039 – erlaubt.
10Im Zuge eines Sturms im Frühjahr des Jahres 2015 zeigte sich, dass die Standsicherheit des Turms nicht mehr gewährleistet war. Nach Begutachtung durch einen Statiker wurden die Turmspitze und der Mastkopf am 2. April 2015 von dem Turm abgenommen.
11Die Klägerin erklärte zunächst ihre Bereitschaft zum Wiederaufsetzen der Turmspitze und des Mastkopfes sowie zu der dazu erforderlichen Ertüchtigung der Stahlkonstruktion des Turms. Hierzu wurde von der Beklagten durch Bescheid vom 21. Dezember 2015 eine Erlaubnis nach dem DSchG NRW erteilt. Diese umfasst zur Reduzierung der Windlast nach Maßgabe eines von der Klägerin vorgelegten Gutachtens des Ingenieurbüros F. den Rückbau von Blechkästen als Beleuchtungseinfassungen und die Ersetzung der Beleuchtung durch LED sowie das Wiederaufsetzen des Mastkopfes nach Ertüchtigung der Stahlkonstruktion des Turms. Ein Wiederaufsetzen der Turmspitze und des Mastkopfes ohne eine weitergehende Ertüchtigung des Turmes war nach Einschätzung des Gutachters nicht möglich, da der Mast in vielen Bereichen Tragfähigkeitsdefizite zeigte. Zugleich kam das Gutachten zu dem Ergebnis, dass eine Verstärkung des Mastes nicht realisierbar und eine Wiedererrichtung nur im Wege einer Reduzierung der Windlast möglich sei. Im März 2016 legte die Klägerin eine Konstruktionszeichnung des Sachverständigen Dr. I1. des Ingenieurbüros F. vom 24. März 2016 vor, nach welcher die Turmspitze und der Mastkopf an den Turm angeschlossen werden sollten. Die Beklagte stimmte dieser Konstruktion zu.
12Nachgehend rückte die Klägerin jedoch von ihrer Zusage ab und verzichtete auf jegliche Maßnahmen zur Ertüchtigung und zum Wiederaufbau des Turms. Vielmehr zog sie die Denkmaleigenschaft des „N1. -Turms“ in Zweifel.
13Daraufhin gab die Beklagte der Klägerin nach vorausgegangener Anhörung durch Ordnungsverfügung vom 7. Mai 2018 auf, unverzüglich, spätestens bis sechs Monate nach Bestandskraft der Ordnungsverfügung den abgesetzten und gelagerten Mastkopf mit dem Signet „NX" des „N1. -Turms" auf den vorhandenen Stahlgittermast aufzusetzen. Der Anschluss des demontierten Mastkopfes am Mast sei hierbei mit spezifischen Stahlprofilen nach der – der Ordnungsverfügung beigefügten und zum Bestandteil dieser gemachten – Konstruktionszeichnung des Sachverständigen Dr. I1. vom 24. März 2016 auszuführen. Vor dem Aufsetzen des Mastkopfes seien die Blechkästen der Beleuchtung sowie die Beleuchtungsanlage am Signet „NX" zu entfernen und schadhafte Knotenverbindungen am bestehenden Stahlgittermast mit dem Ziel der Herstellung der Standsicherheit instand zu setzen. Zugleich drohte die Beklagte der Klägerin ein Zwangsgeld in Höhe von 10.000 Euro an, wenn sie den Verpflichtungen nicht fristgerecht oder nicht vollständig nachkomme. Auf die Gründe dieses Bescheides wird verwiesen.
14Die Klägerin hat am 28. Mai 2018 Klage erhoben.
15Zur Begründung der Klage führt sie im Wesentlichen aus, die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 7. Mai 2018 erweise sich als rechtswidrig, da die Denkmaleigenschaft des „N1. -Turms“ entfallen und ihr die Wiedererrichtung nicht zumutbar sei. Zudem sei sie an der Wiedererrichtung des Turms durch das Bauordnungsrecht gehindert. Die Denkmaleigenschaft sei durch die Anbringung der Mobilfunkantennen und jedenfalls durch die Demontage des Mastkopfes entfallen. Ein Objekt könne nicht mehr Zeugnis für historische Umstände ablegen, die nach dem Eintragungsbescheid sein Denkmalwert ausmachten, wenn es mangels der erforderlichen Standsicherheit tatsächlich keinen Bestand mehr habe. Zudem könne der Turm – wie sich aus der Erlaubnis vom 21. Dezember 2015 ergebe – nur mit erheblichen Modifikationen wiedererrichtet werden. Die Ordnungsverfügung gebe ihr im Besonderen auf, vor dem Aufsetzen des Mastkopfes die Blechkästen der Beleuchtung sowie die Beleuchtungsanlage am Signet „NX" zu entfernen. Durch den Wegfall der Beleuchtung würde in die typischen Merkmale und Eigenschaften des Turms eingegriffen. Aufgrund der an die statischen Erfordernisse sowie die aktuellen technischen Entwicklung angepassten Maßnahmen würde sich die Wiedererrichtung des „N1. -Turms“ nur als Herstellung einer Kopie des ursprünglichen Denkmals und nicht als Sanierungsmaßnahme darstellen. Unabhängig davon sei die Wiedererrichtung des Turms wirtschaftlich unzumutbar. Das Denkmal sei auf Dauer nicht aus seinen Erträgen finanzierbar. Die W. GmbH zahle eine Jahresmiete i. H. v. 0000,00 Euro. Die Nutzungsmöglichkeiten des Denkmals seien sehr eingeschränkt. Die Kosten der Wiedererrichtung machten hingegen ein Betrag in Höhe von mindestens 226.521,02 Euro aus. Dieser setze sich aus den Kosten für die Ertüchtigung des Turmes, die Installation einer Blitzschutzanlage sowie die Anbringung einer LED-Beleuchtung zusammen. Zudem habe sie für die Begutachtung durch das Ingenieurbüro F. Kosten in Höhe von 19.250 Euro sowie für die Sicherung und Demontage der Turmspitze und des Mastkopfes Kosten in Höhe von 39.739,98 Euro aufgewandt. Die Finanzierungskosten (ohne Tilgung) für den Wiederaufbau würden bei einer 15-jährigen Tilgung unter Zugrundelegung von Wiederaufbaukosten in Höhe von 226.521,02 Euro jährlich 2.944,77 Euro betragen. Durch „Wartungsarbeiten“ oder Unterhaltungsmaßnahmen hätte sie den jetzt erforderlichen Aufwand nicht vermeiden können, weil die Stahlkonstruktion die aktuellen Windlasten nicht mehr aufnehmen könne. Im Rahmen der Zumutbarkeit sei auch nicht zu ihren Lasten zu berücksichtigen, dass sie das Grundstück in Kenntnis der Denkmaleigenschaft des „N1. -Turms“ erworben habe. Zum einen sei die Unterschutzstellung im Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses am 27. Mai 2003 noch nicht bestandskräftig gewesen und zum anderen stünden hier Kosten aufgrund eines mehr als zehn Jahre nach dem Eigentumserwerb eingetretenen Schadensereignisses in Rede. Aufgrund dessen, dass der Eigentümer eines Denkmals nicht verpflichtet sei, Verluste aus dem Denkmal dauerhaft aus sonstigem Vermögen auszugleichen, sei auch keine einheitliche Wirtschaftlichkeitsberechnung mit dem auf dem Grundstück Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstück 92 aufstehenden Lebensmittel-Discountmarkt anzustellen, welcher an die B. GmbH & Co. KG vermietet sei und aus welchem Mieteinahmen in Höhe von 000.000,00 Euro / Jahr erlöst würden. Die B1. -Filiale und der „N1. -Turm“ gehörten nicht nur bei denkmalrechtlicher, sondern auch bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise nicht zusammen. Weder würden sie zusammen genutzt noch ziehe die B1. -Filiale wirtschaftliche Vorteile aus dem (ehemaligen) Denkmal. Schließlich sei sie an der Wiedererrichtung des „N1. -Turms“ durch das Bauordnungsrecht gehindert. Die Erlaubnis vom 21. Dezember 2015 zur Wiedererrichtung des „N1. -Turms“ umfasse nach § 9 Abs. 2 DSchG NRW keine Baugenehmigung. Einer solchen bedürfe es jedoch aufgrund der veränderten Statik des Turms. Der Turm halte die nach § 6 BauO NRW erforderlichen Abstandsflächen nicht ein und es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen für die Zulassung einer Abweichung vorlägen. Zugleich sei in den Verwaltungsvorgängen nicht dokumentiert, dass die Bauaufsichtsbehörde der Ordnungsverfügung zugestimmt habe.
16Die Klägerin beantragt,
17die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 7. Mai 2018 aufzuheben.
18Die Beklagte beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Sie führt im Wesentlichen aus, die Ordnungsverfügung erweise sich auf Grundlage des § 7 Abs. 2 DSchG NRW als rechtmäßig. Der „N1. -Turm“ sei ein Denkmal im Sinne des § 2 Abs. 2 DSchG NRW. Die Denkmaleigenschaft des „N1. -Turmes“ sei weder durch die Anbringung der Mobilfunkantennen noch durch die Demontage des Mastkopfes aufgehoben worden. Die historische Substanz des Turmes werde durch die Mobilfunkantennen nicht berührt. Im Vordergrund der Unterschutzstellung stünden technikgeschichtliche und wissenschaftliche Gründe. Auf diese hätten die Mobilfunkantennen keinen Einfluss. Abweichend von der Annahme der Klägerin führe die mangelnde Standsicherheit eines Objektes noch nicht zum Verlust der Denkmaleigenschaft. Maßgeblich sei vielmehr, welche Maßnahmen zur Wiederherstellung der Standsicherheit ergriffen werden müssten und in welchem Umfang diese zum Verlust der Originalsubstanz führten. In Bezug auf den „N1. -Turm“ sei die Wiederherstellung der Standsicherheit durch die Anbringung von Stahlprofilen ohne relevanten Substanzverlust möglich. Nach der Wiedererrichtung handele es sich in keiner Weise nur noch um die Kopie des Denkmals. Im Besonderen bleibe das Charakteristikum des Doppelringes des Mastkopfes erhalten. Zugleich seien die der Klägerin aufgegebenen Maßnahmen nicht unzumutbar. Die Klägerin habe eine wirtschaftliche Unzumutbarkeit nicht in ausreichendem Maße dargelegt. Die von der Klägerin aufgezeigte Summe der Kosten umfasse Positionen – wie die Kosten für das Sandstrahlen des Turmes und die Installation einer Blitzschutzanlage – welche nicht in Ansatz gebracht werden könnten. Abzuziehen seien bei der Ermittlung der Investitionskosten auch diejenigen Kosten, die durch die pflichtwidrig unterlassene Unterhaltung entstanden seien. Zudem sei im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit nicht auf die Investitionskosten, sondern auf die Finanzierungslast abzustellen. Unabhängig davon seien auch diejenigen Einnahmen zu berücksichtigen, die auf den angrenzenden Grundstücken durch den Betrieb der Einzelhandelsmärkte erwirtschaftet würden. Die Grundstücke seien in der Vergangenheit und auch noch heute einander funktionell und baulich zugeordnet. Insoweit sei im Besonderen zu berücksichtigen, dass sich die notwendigen Stellplätze der B1. -Filiale auf dem Grundstück befinden, auf dem der „N1. -Turm“ stehe. Ohne die Parkplätze könne der Lebensmittel-Discountmarkt nicht betrieben werden. Zu berücksichtigen sei im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit auch, dass die Klägerin das Grundstück in Kenntnis einer möglichen Denkmaleigenschaft erworben habe. Schließlich könne die Klägerin sich nicht darauf berufen, die Wiedererrichtung des Turmes verstoße gegen die Vorschriften des Baurechts. Die Ordnungsverfügung sei mit Zustimmung der Bauaufsichtsbehörde ergangen. Die Vorschriften des § 6 BauO NRW seien nicht anwendbar. Von dem Turm ginge aufgrund seiner Stahlgitterkonstruktion keine Wirkung wie von einem Gebäude aus. Unabhängig davon könne eine Abweichung erteilt werden.
21Der Beigeladene stellt keinen Antrag und schließt sich den Ausführungen der Beklagten an.
22Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
23Entscheidungsgründe:
24Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
25Die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 7. Mai 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
26I. Rechtsgrundlage für die der Klägerin aufgegebenen Maßnahmen ist § 7 Abs. 2 DSchG NRW. Danach kann die untere Denkmalbehörde die notwendigen Anordnungen treffen, soweit der Eigentümer seinen Erhaltungsverpflichtungen nach § 7 Abs. 1 DSchG NRW nicht nachkommt. Nach § 7 Abs. 1 DSchG NRW hat der Eigentümer eines Denkmals das geschützte Objekt im Rahmen des Zumutbaren instand zu halten, instand zu setzen, sachgemäß zu behandeln und vor Gefährdung zu schützen. Der Eigentümer ist nicht nur verpflichtet, das Denkmal durch sachgemäße Behandlung vor zukünftigen Schäden zu schützen und einen erreichten denkmalgerechten Erhaltungszustand durch Instandhaltungsmaßnahmen zu bewahren, sondern muss auch – unabhängig vom Zeitpunkt eines Schadenseintritts – vorhandene Schäden beseitigen. Dies schließt grundsätzlich sowohl die Pflicht zu einer fachgerechten Sanierung des Denkmals als auch die Verpflichtung ein, auf die Entstehung von Schäden unverzüglich zu reagieren und den Zustand des Denkmals unter Kontrolle zu halten, um auch verdeckte Mängel rechtzeitig aufzuspüren und zu beheben.
27Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. August 2007 - 10 A 3453/06 -, juris, Rn. 4 m. w. N.
28Begrenzt werden diese – im öffentlichen Interesse an der Bewahrung geschützter Kulturgüter sehr weit gehenden – Pflichten durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dem Eigentümer obliegen keine Instandsetzungs- oder Instandhaltungspflichten, die ihm nicht zumutbar sind. Dabei ist der Begriff der Zumutbarkeit vorwiegend – wenn auch nicht notwendig – nur in wirtschaftlicher Hinsicht zu verstehen und unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang der gerichtlichen Überprüfung. Zu berücksichtigen sind neben der sich aus der Unterschutzstellung ergebenden Bedeutung des Denkmals alle konkreten Umstände des Einzelfalls. Dazu zählen sämtliche für den Eigentümer erreichbaren Möglichkeiten, die wirtschaftliche Belastung durch die Instandsetzungs- und Instandhaltungspflichten zu reduzieren, etwa durch Inanspruchnahme von Steuererleichterungen oder öffentliche Mittel, aber auch in umfassender Weise die sich für den Eigentümer im Zusammenhang mit dem Denkmal ergebende langfristig zu betrachtende Einkommens- und Vermögenssituation. Er kann wegen der ihm im öffentlichen Interesse auferlegten Verantwortung für das Denkmal einerseits nicht verlangen, ein in die Denkmalliste eingetragenes Baudenkmal mit denselben Renditeerwartungen wirtschaftlich zu verwerten wie eine beliebige andere Immobilie. Andererseits kann ihm nicht zugemutet werden, den Erhalt des Denkmals dauerhaft aus seinem übrigen – nicht mit dem Denkmal in Zusammenhang stehenden – Vermögen zu finanzieren oder sonst dauerhaft defizitär zu arbeiten. Im Übrigen ist im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit einer Anordnung nach § 7 Abs. 2 DSchG NRW nach § 7 Abs. 1 DSchG NRW auch der bisherige Umgang des Denkmaleigentümers mit seinem Denkmal zu berücksichtigen. Aus der den Eigentümer treffenden wirtschaftlichen Belastung gewissermaßen herauszurechnen sind nämlich alle Aufwendungen, die durch eine pflichtwidrige Vernachlässigung des Denkmals jedenfalls durch den Adressaten der Erhaltungsanordnung verursacht worden sind (§ 7 Abs. 1 Satz 3 DSchG NRW). Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Erhaltungspflichten oder die Frage der Zumutbarkeit auf diejenigen Maßnahmen beschränkt wären, die auf Grund des Verhaltens des Adressaten der Erhaltungsanordnung erforderlich sind. Vielmehr muss der Eigentümer grundsätzlich auch solche Schäden beseitigen, für deren Entstehung er nicht verantwortlich ist. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann eine Erhaltungsanordnung deshalb inhaltlich auf Maßnahmen zu beschränken sein, die einen Erhalt des Denkmals noch sichern, ohne den – im Einzelfall zu bestimmenden – denkmalfachlichen Idealzustand zu erreichen. Denkbar ist auch, dass eine Anordnung nach § 7 Abs. 2 DSchG NRW aus Gründen der Zumutbarkeit zeitlich zu staffeln ist, so dass die Instandsetzungsarbeiten nach dem Grad der Dringlichkeit erst nach und nach aufgegeben werden dürfen. Erst dann, wenn für die Denkmalbehörde erkennbar ist, dass der Instandsetzungs- oder Instandhaltungsaufwand so hoch ist, dass er auch unter Ausschöpfung aller im Interesse des Eigentümers verfügbaren Erleichterungen noch ein Maß erreicht, das eine vertretbare Eigentumsnutzung unmöglich erscheinen lässt, hat die Behörde von Anordnungen nach § 7 Abs. 2 DSchG NRW abzusehen.
29Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. August 2007 - 10 A 3453/06 -, juris, Rn. 6 und 7.
30Nach diesen Maßstäben ist die Anordnung, den abgesetzten und gelagerten Mastkopf mit dem Signet „NX" des „N1. -Turms" auf den vorhandenen Stahlgittermast nach Maßgabe der Konstruktionszeichnung des Sachverständigen Dr. I1. des Ingenieurbüros F. vom 24. März 2016 aufzusetzen, vor dem Aufsetzen des Mastkopfes die Blechkästen der Beleuchtung sowie die Beleuchtungsanlage am Signet „NX" zu entfernen und schadhafte Knotenverbindungen am bestehenden Stahlgittermast mit dem Ziel der Herstellung der Standsicherheit instand zu setzen, nicht zu beanstanden.
31Der „N1. -Turm“ hat seine Denkmaleigenschaft nicht verloren und wird seine Denkmaleigenschaft durch die der Klägerin aufgegebene Maßnahmen nicht verlieren (1), die der Klägerin auferlegten Maßnahmen sind ihr zumutbar (2) und zugleich steht das Bau(ordnungs)recht diesen nicht entgegen (3).
321. Der „N1. -Turm“ hat seine Denkmaleigenschaft nicht verloren und wird seine Denkmaleigenschaft durch die der Klägerin aufgegebenen Maßnahmen nicht verlieren.
33Das öffentliche Interesse an der Erhaltung einer denkmalwürdigen Sache entfällt, wenn ihre historische Substanz so weit verloren geht, dass sie ihre Funktion, Aussagen über geschichtliche Umstände oder Vorgänge zu dokumentieren, nicht mehr erfüllen kann. Hiervon zu trennen ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen durch die Rekonstruktion weggefallener historischer Substanz die Denkmaleigenschaft eines Objekts bewahrt werden kann.
34Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. August 2008 - 10 A 3250/07 -, juris Rn. 47.
35Für die Frage, wann die historische Identität eines Baudenkmals entfällt, kommt es nicht auf eine schematische, an Zahlenwerten orientierte Betrachtungsweise an. Es lässt sich keine feste Regel darüber aufstellen, welcher relative Anteil an historischer Substanz eines Gebäudes wegfallen kann, ohne dass es zu einer Gefährdung oder zum Wegfall seiner Identität kommt. Erforderlich ist vielmehr eine qualitative Betrachtung, die die Gründe der Unterschutzstellung und alle Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigt. Maßgeblich ist die Frage, ob ein Objekt trotz eingetretener Verluste an historischer Substanz noch die Erkennbarkeit der Aussage bewahrt hat, die zu seiner Eintragung in die Denkmalliste geführt hat. Die Beantwortung der Frage, ob die Denkmaleigenschaft eines in die Denkmalliste eingetragenen Baudenkmals entfallen ist, muss daher von den Gründen für die Unterschutzstellung ausgehen. Es ist zu prüfen, ob die hierfür maßgeblichen Teile des Gebäudes in einem solchen Umfang zerstört worden oder sonst weggefallen sind, dass die verbliebene historische Substanz keinen Zeugniswert mehr besitzt.
36Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. August 2008 - 10 A 3250/07 -, juris Rn. 48-49, m. w. N.
37Nach diesen Maßstäben hat der „N1. -Turm“ seine Denkmaleigenschaft durch die Anbringung der Mobilfunkantennen nicht verloren.
38Maßgeblich für die Eintragung des „N1. -Turms“ in die Denkmalliste im Jahr 2002 war seine Bedeutung für die Geschichte der Stadt S. sowie für die Entwicklung der Arbeits- und Produktionsverhältnisse. Für seine Erhaltung lagen künstlerische, städtebauliche, technikgeschichtliche und wissenschaftliche Gründe vor. Im Einzelnen wird in der Begründung der Eintragung ausgeführt: „Nach dem Verlust des an signifikantem Ort aufgestellten E. Turms Mitte der 1980er Jahre und dem Verschwinden von weiteren Bauten dieser Art ist der S1. Turm nach gegenwärtigem Kenntnisstand das letzte nordrhein-westfälische Beispiel seines Typs. Er fungierte als markantes Zeichen einer nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auflebenden deutschen Schwerindustrie, die ihre sich wieder entwickelnde Weltgeltung mit signifikanten Merkzeichen ins Bewusstsein brachte. Besondere Signifikanz entwickelte der S1. Turm aufgrund der Tatsache, dass er im unmittelbarem Weichbild der „Wiege“ des N1. -Konzerns positioniert wurde, wo er neben der stadtteilprägenden Funktion („C. N2. “) auch die der Erinnerung an den örtlichen Ausgangspunkt einer auf einer bahnbrechenden Erfindung beruhenden industriellen Entwicklung besitzt. Als technisches Bauwerk inkorporiert er auch gleichzeitig das Leitprodukt der N1. -Röhrenwerke, das nahtlose Stahlrohr. Seine Umrissgestalt bezieht er aus den spezifischen Eigenschaften der Röhrenkonstruktion, die ein sehr leicht wirkendes Erscheinungsbild mit der notwendigen Statik verbindet. Somit fließen in diesem Ingenieurbau, ähnlich dem „Bayer-Kreuz“ in Leverkusen, zahlreiche Geschichtsstränge deutscher Technik- und Wirtschaftsgeschichte in der Phase des Wiedererstarkens nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Die typische Ästhetik des Turms ist auf den ersten Blick ablesbar. Die Gesamtform suggeriert das Leitbild des stählernen, technisch zweckfreien Turms des Industriezeitalters, den Eiffelturm.“
39Tragender Grund für die mit der Unterschutzstellung verbundenen weit reichenden Einschränkungen der Eigentümerbefugnisse ist es, dass Denkmäler für geschichtliche Um-stände und Entwicklungen Zeugnis ablegen. Sie halten das Wissen um die historische Dimension des Menschen und der Gesellschaft lebendig und bilden einen unersetzlichen Bestandteil der städtischen und ländlichen Umwelt des Menschen. Der Denkmalschutz als öffentliche Aufgabe ist nicht auf das Ziel beschränkt, über die Vergangenheit lediglich zu informieren, sondern will darüber hinaus körperliche Zeugnisse aus vergangener Zeit als "sichtbare Identitätszeichen" für historische Umstände bewahren und die Zerstörung historischer Substanz verhindern.
40Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. August 2008 - 10 A 3250/07 -, juris Rn. 45, m. w. N; VG Düsseldorf, Beschluss vom 26. Februar 2020 - 28 L 3297/19 -, juris Rn. 13.
41Dies setzt voraus, dass das Objekt seine Funktion, Aussagen über geschichtliche Um-stände oder Vorgänge zu dokumentieren, noch erfüllen kann.
42Das kann der „N1. -Turm“ trotz der Anbringung der Mobilfunkantennen nach Maßgabe der Gründe der Unterschutzstellung ohne Zweifel. Zwar mag das Erscheinungsbild des Turms durch die Mobilfunkantennen verändert sein. Ausweislich der Lichtbilder in den Verwaltungsvorgängen ist die in der Denkmalliste beschriebene Architektur des Turms jedoch noch klar erkennbar. Zudem sind damit nur die künstlerischen Gründe der Unterschutzstellung betroffen. Die Eintragung stützt sich jedoch zugleich auf städtebauliche, technikgeschichtliche und wissenschaftliche Gründe. Auf diese haben die Mobilfunkantennen keinen Einfluss.
43Der „N1. -Turm“ wird seine Denkmaleigenschaft auch nicht durch die der Klägerin aufgegebenen Maßnahmen verlieren.
44Fällt ein Denkmal endgültig weg oder führen notwendige Erhaltungsarbeiten zwangsläufig dazu, dass die historische Substanz und damit die Identität des Denkmals beseitigt werden, entfällt auch die Grundlage der Unterschutzstellung. Denn die über eine – auch umfassende – Restaurierung eines Denkmals hinausgehende Umwandlung eines nicht mehr erhaltungsfähigen Originals in eine Kopie des Originals ist von den Zielen des nordrhein-westfälischen Denkmalrechts nicht erfasst und vermag deshalb die mit der Fortdauer der Unterschutzstellung verbundenen Eigentumseinschränkungen nicht zu rechtfertigen.
45Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2009 - 10 A 699/07 , juris Rn. 31.
46Es muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sorgfältig geprüft werden, ob die erforderlichen Erhaltungsarbeiten die Denkmalaussage eines Objekts bewahren oder ob die Eingriffe in das Denkmal so weit gehen, dass die Denkmalaussage verloren geht. Auszugehen ist hierbei wiederum von den Gründen für die Unterschutzstellung des Denkmals. Von Bedeutung sind aber auch technische Besonderheiten des jeweils betroffenen Denkmaltyps ebenso wie des konkreten Objekts.
47Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2009 - 10 A 699/07 , juris Rn. 33.
48Nach diesen Maßgaben wird der „N1. -Turm“ durch das Wiederaufsetzen der Turmspitze und des Mastkopfes sowie der Ertüchtigung der Konstruktion nach Maßgabe der Ordnungsverfügung seine Denkmalaussage bewahren. Einen größeren Substanzverlust erleidet der „N1. -Turm“ ausschließlich durch die Entfernung der Blechkästen der Beleuchtung und der Beleuchtungsanlage am Signet „NX“. Diese Elemente finden in der Begründung der Eintragung in die Denkmalliste und in der Beschreibung allerdings keine weitere Erwähnung, so dass diesem Substanzverlust kein erhöhtes Gewicht beizumessen ist. Zwar mag es sein, worauf die Klägerin verweist, dass der „N1. -Turm“ seine Bedeutung in der Bevölkerung S2. gerade auf Grund der Beleuchtung des Signets erlangt hat. Ein (gewichtiger) Grund der Unterschutzstellung war sie jedoch ausweislich der Begründung der Eintragung in die Denkmalliste nicht. Im Übrigen werden die Substanz und das Erscheinungsbild durch die der Klägerin von der Beklagten auferlegten Maßnahmen nur marginal berührt. Soweit die Klägerin im Klagebegründungsschriftsatz vom 4. September 2018 darauf verweist, dass „eine Hälfte der doppelten Werbeebene am Mastkopf aus statischen Gründen zurückgebaut werden müss[e]“, ist dies schlichtweg falsch. Dies fordert weder die Ordnungsverfügung noch wurde dies in dem von der Klägerin in Auftrag gegeben Gutachten des Ingenieurbüros F. vom 6. Oktober 2015 empfohlen. In diesem heißt es vielmehr, dass dies als eine von mehreren Methoden zur Windlastreduktion diskutiert worden sei. Als wirksamste und hinsichtlich des Erscheinungsbildes des denkmalgeschützten Mastes unauffälligste Variante sei jedoch der Rückbau der Blechkästen der Beleuchtungseinfassung ermittelt worden. Durch die Beibehaltung der zweiteiligen Werbetafel sei das Erscheinungsbild des Mastes nur geringfügig beeinflusst. Der Wegfall der Blechkästen der Beleuchtungseinfassung verändert das Erscheinungsbild des „N1. -Turms“ nur marginal, was die dem Gutachten angefügten grafischen Darstellungen des Mastkopfes vor und nach dem Umbau zeigen. Gleiches gilt für die zum Anschluss des demontierten Mastkopfes an den Mast zu verwendenden Stahlprofile. Die Konstruktionszeichnung des Sachverständigen Dr. I1. des Ingenieurbüros F. B. V. zeigt, dass diese in Bezug auf die Gesamterscheinung des „N1. -Turmes“ kaum ins Auge fallen. Im Übrigen muss weder die Substanz des Turms in einem relevanten Umfang ausgetauscht werden noch verändert sich sein Erscheinungsbild. Der Umstand, dass die Standsicherheit des Turms nicht mehr gewährleistet war, führt für sich allein nicht zum Wegfall der Denkmaleigenschaft. Maßgeblich ist nach den vorstehenden Maßstäben allein, welche Veränderungen vorgenommen werden müssen, um die Standsicherheit wiederherzustellen. Diese sind ausgehend von den Gründen für die Unterschutzstellung des „N1. -Turms“ – wie ausgeführt – gering.
492. Zugleich sind der Klägerin die ihr von der Beklagten aufgegebenen Maßnahmen zumutbar.
50Für die Beurteilung der Zumutbarkeit ist eine objektiv-objektbezogene Beurteilung vorzunehmen.
51Vgl. Davydov in: Davydov, DSchG NRW, 6. Auflage 2018, § 7 Rn. 18; VG Düsseldorf, Beschluss vom 29. März 2004 - 9 L 359/04 -.
52Hierbei wird auf das konkrete Denkmal und dessen Nutzungs- und Verwertungsmöglichkeiten abgestellt, während die übrigen Vermögensverhältnisse des Eigentümers außer Betracht bleiben.
53Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. Januar 1999 - 10 B 2574/98 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 14. November 2013 - 9 K 1024/13 -, juris, Rn. 30.
54Die Erhaltung oder Nutzung eines Denkmals ist für den Eigentümer im Allgemeinen wirtschaftlich unzumutbar, wenn er das Denkmal auf Dauer nicht aus den Erträgen des Objekts finanzieren kann, wenn sich das Denkmal also auf Dauer nicht "selbst trägt". Denn der Eigentümer darf zwar im öffentlichen Interesse an der Erhaltung des kulturellen Erbes in seiner Eigentumsnutzung – erheblich – eingeschränkt, nicht aber gezwungen werden, dauerhaft defizitär zu wirtschaften bzw. aus seinem sonstigen Vermögen "zuzuschießen". Wann dies der Fall ist, kann nur für jeden Einzelfall und unter Berücksichtigung aller den Fall prägenden Umstände entschieden werden.
55Vgl. OVG NRW, Urteile vom 20. März 2009 - 10 A 1406/08 -, juris, Rn. 63, und vom 4. Mai 2009 - 10 A 699/07 -, juris Rn. 41, m. w. N.
56Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art. 14 Abs. 1 GG nicht fordert, dass die Erträge aus dem Denkmal dessen Kosten jederzeit – d.h. in jedem beliebigen Zeitraum – ausgleichen können. Erforderlich ist eine Betrachtung, die bei privaten wie gewerblichen Nutzungen einen für derartige Investitionen üblichen und dem jeweils betroffenen Objekt angemessenen Zeithorizont von regelmäßig 10-15 Jahren erfasst und die Prognose rechtfertigt, dass die zu erzielenden Erträge dauerhaft über den Kosten des Objekts liegen werden.
57Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2009 - 10 A 699/07 -, juris Rn. 43 - 44.
58In die Bewertung einzustellen ist das Ertragspotential des gesamten mit dem Denkmal bebauten Grundstücks, da die Erträge aus diesem Grundstück dem wirtschaftlichen Nutzen des Denkmals zuzurechnen und nicht als „sonstiges Vermögen“ des Denkmaleigentümers zu qualifizieren sind.
59Vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 14. September 2010 - 2 ZB 08.1815 -, juris Rn. 8, VG Düsseldorf, Urteil vom 28. März 2019 - 10318/17 -; Davydov, in: Davydov, DSchG NRW, 6. Auflage 2018, § 7 Rn. 19.
60Stellte man insoliert auf das Ertragspotential des Denkmals ab und ließe das Ertragspotential des Grundstücks außer Betracht, wäre der Erhalt von Denkmälern, wie dem „N1. -Turm“, die aus sich heraus keine oder allenfalls sehr geringe Nutzungsmöglichkeiten eröffnen, kaum möglich.
61Dabei ist – dem Sinn und Zweck dieses Ansatzes genügend – nicht der grundbuchrechtliche, sondern der wirtschaftliche Grundstücksbegriff zu Grunde zu legen, also – unabhängig von der Eintragung im Liegenschaftskataster und Grundbuch – jeder zusammenhängende Grundbesitz, der eine selbständige, wirtschaftliche Einheit bildet. Würde man auf den grundbuchrechtlichen Grundstückbegriff abstellen, hätte es der Eigentümer eines Denkmals selbst in der Hand, „unlukrative“ – mit einem Denkmal bebaute – Teile eines Grundstücks von „lukrativen“ Teilen durch die Teilung des Grundstücks zu trennen, um so eine Berücksichtigung des Ertragspotential des „lukrativen“ Grundstückteils zu umgehen.
62Ausgehend davon sind hier in die Wirtschaftlichkeitsberechnung nicht nur die von der Klägerin aus der Nutzungsüberlassung des „N1. -Turms“ an die W. GmbH und der Vermietung des Grundstücks Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstücke 51 und 83 erzielten Einnahmen einzustellen, sondern auch jene aus der Vermietung des auf dem Grundstück Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstück 92 aufstehenden Lebensmittel-Discountmarkt. Zwar sind dies zwei verschiedene Grundstücke im Sinne des Grundbuchrechts. Sie bilden jedoch eine wirtschaftliche Einheit im Sinne des wirtschaftlichen Grundstückbegriffs, denn auf dem Grundstück Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstück 51 finden sich die notwendigen Stellplätze des auf dem Grundstück Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstück 92 aufstehenden Lebensmittel-Discountmarkts. Ein Betrieb des Lebensmittel-Discountmarkt ohne die Parkplätze auf dem Grundstück Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstücke 51 wäre nicht möglich.
63Sonach stehen – ausgehend von den Angaben der Klägerin – den Kosten des Wiederaufbaus in Höhe von 226.521,02 Euro Einnahmen aus der Vermietung des Lebensmittel-Discountmarkts an die B1. GmbH & Co. KG in Höhe von 000.000,00 Euro / Jahr, der Vermietung des Hallengebäudes auf dem Grundstück Gemarkung S. Flur 222 Flurstück 83 in Höhe von ~ 00.000 Euro / Jahr und der Nutzungsüberlassung des „N1. -Turms“ an die W. GmbH i. H. v. 0000,00 Euro / Jahr gegenüber. Obdem erweist sich der Wiederaufbau des „N1. -Turms“ ohne weiteres als der Klägerin zumutbar. Dies gilt unzweifelhaft selbst dann, wenn man alle im Zusammenhang mit der Demontage und der Wiedererrichtung angefallenen und anfallenden Kosten – ausgehend von den Angaben der Klägerin – in Höhe von 293.116 Euro zuzüglich Finanzierungskosten und den Aufwand zur Erhaltung des Grundstücks berücksichtigt, so dass es keiner Entscheidung bedarf, welche Kosten durch die der Klägerin von der Beklagten auferlegten Maßnahmen notwendig verursacht werden. Insoweit sei nur angemerkt, dass die Kosten für die Anbringung einer LED-Beleuchtung (in Höhe von 70.368 Euro) nicht anzusetzen sein dürften, da die Anbringung einer Beleuchtung der Klägerin nicht auferlegt wurde. Sonach würden zugleich auch die Kosten der Blitzschutzanlage (in Höhe von 17.099,02 Euro) wegfallen, da die Blitzschutzanlage nur durch die Anbringung der Beleuchtung bedingt wird.
64Selbst wenn man nur auf das Grundstück im grundbuchrechtlichen Sinne (Gemarkung S. · Flur 222 · Flurstücke 51, 83 und 95) abstellen würden, dürfte sich – vorbehaltliche einer alle Einkünfte und Belastungen berücksichtigenden Wirtschaftlichkeitsberechnung – bei einer zehn- bis fünfzehnjährigen Betrachtung kein Defizit ergeben, stünden den Aufwendungen für das Denkmal doch Einnahmen aus der Vermietung des Hallengebäudes auf dem Flurstück 83 und der Nutzungsüberlassung des „N1. -Turms“ an die W. GmbH i. H. v. ~ 000.000 Euro / 10 Jahre bzw. ~ 0000.00 Euro / 15 Jahre gegenüber.
653. Das Bau(ordnungs)recht steht den der Klägerin auferlegten Maßnahmen nicht entgegen.
66Offen gelassen werden kann, ob die Abstandsflächenregelungen nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauO NRW auf den „N1. -Turm“ Anwendung finden, wofür ausgehend von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen Einiges spricht, da die von dem „N1. -Turm“ ausgehenden Beeinträchtigungen auf Grund der Höhe des Turms jedenfalls hinsichtlich ihrer optischen Auswirkungen den einem Gebäude typischerweise zuzuordnenden Folgewirkungen vergleichbar sein dürften.
67Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. Februar 1999 - 7 B 974/98 -, juris Rn. 6
68Es kann jedoch – wie die Beklagte in der Ordnungsverfügung aufzeigt – nach § 69 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW eine Abweichung zugelassen werden. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen der BauO NRW zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des § 3 Abs. 1 und 3 BauO NRW vereinbar ist. Die Beklagte hat in den Gründen der Ordnungsverfügung zutreffend darauf hingewiesen, dass es Sinn und Zweck der bauordnungsrechtlich einzuhaltenden Abstandsflächen ist, durch Mindestabstände die Gefahr der Brandübertragung, der Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung, der unangemessenen optischen Beengung oder der Störung des Wohnfriedens vorzubeugen. Dieser Zweck wird durch die Zulassung einer Abweichung nicht wesentlich gestört. Eine Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung durch den Turm ist aufgrund seiner äußeren Gestaltung als Stahlgittermast auszuschließen. Insoweit ist der „N1. -Turm“ – worauf die Beklagte zu Recht verweist –mit einem Hochspannungsmast vergleichbar, in Bezug auf welchen das Bundesverwaltungsgericht,
69Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2016 - 4 A 4/15 -, juris Rn 20.,
70solche Beeinträchtigungen verneint hat. Die Abweichung ist auch unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Interessen vereinbar. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem „N1. -Turm" um eine denkmalgeschützte Anlage handelt. Den Belangen des Denkmalschutzes und der Erhaltung von Kulturgut ist hier der Vorrang zu geben. Die Belange der Nachbarn, welche nach den vorstehenden Ausführungen ausschließlich im Bereich der optischen Auswirkungen verortet sein können, sind zu relativieren, da sich der „N1. -Turm“ in seinen Wirkungen auf die Umgebung in keiner Weise – im Vergleich zu den vergangenen mehr als 50 Jahren – verändert und diese Wirkungen immerzu hingenommen wurden.
71Schließlich ist, was erforderlich ist, wenn – wie hier – die dem Denkmaleigentümer nach § 7 Abs. 2 DSchG NRW auferlegten Maßnahmen baugenehmigungspflichtig sind,
72vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. März 1986 - 7 B 150/86 -; Davydov, in: Davydov, DSchG NRW, 6. Auflage 2018, § 7 Rn. 52,
73die Ordnungsverfügung mit Zustimmung der Bauaufsichtsbehörde der Beklagten erlassen worden. Dies ergibt sich sowohl aus den Gründen der Ordnungsverfügung als auch aus dem Vermerk „Mit der Bauaufsicht abgestimmt!“ vom 3. Mai 2018 auf dem Entwurf der Ordnungsverfügung in den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgängen.
744. Die der Klägerin aufgegebenen Maßnahmen erweisen sich als ermessensfehlerfrei. Die Beklagte hat weder die Grenzen des ihr nach § 7 Abs. 2 DSchG NRW zustehenden Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 114 Satz 1 VwGO). Im Besonderen sind die Anordnungen verhältnismäßig. Sie beschränken sich auf das zur Erhaltung des „N1. -Turms“ erforderliche Maß und sind angemessen.
75II. Die auf §§ 55 Abs. 1, 27 Abs. 1 Nr. 2, 60 und 63 VwVG NRW beruhende Zwangsgeldandrohung in Ziffer 2 der Ordnungsverfügung erweist sich in gleicher Weise als rechtmäßig. Ein Zwangsgeld ist in dem gesetzlich vorgegebenen Rahmen von zehn bis hunderttausend Euro unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Interesses des Betroffenen an der Nichtbefolgung des Verwaltungsaktes zu bemessen. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben bestehen im Hinblick auf den angestrebten Erfolg keine rechtlichen Bedenken gegen die Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 10.000 Euro. Umfasst die Zwangsgeldandrohung – wie hier – mehrere Regelungen, so kann eine einheitliche Zwangsgeldandrohung allerdings zu unbestimmt und damit rechtswidrig sein, wenn der Pflichtige nicht erkennen kann, welcher Verstoß die Vollstreckung auslöst, insbesondere ob das Zwangsmittel erst dann eingreift, wenn er gegen sämtliche einheitlich erlassenen selbständigen Regelungen verstößt. Mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar ist es hingegen, wenn die Androhung klar erkennen lässt, ob das einheitliche Zwangsgeld erst dann verhängt wird, wenn keine der Verpflichtungen erfüllt wird oder schon, wenn der Betroffene gegen eine einzelne Verpflichtung verstößt. Letzteres ist hier der Fall. Der Zwangsgeldandrohung ist klar zu entnehmen, dass seine Höhe bis zur Erfüllung aller Anordnungen gilt. Es ist angedroht für den Fall, dass der Kläger den Aufforderungen „nicht, nicht vollständig oder nicht fristgerecht“ nachkommt.
76Die Kostentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht aus Billigkeit der Klägerin aufzuerlegen, weil der Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich sonach keinem Kostenrisiko (§ 154 Abs. 3 VwGO) ausgesetzt hat.
77Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.
78Rechtsmittelbelehrung:
79Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
80Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
81Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.
82Die Berufung ist nur zuzulassen,
831. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
842. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
853. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
864. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
875. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
88Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen.
89Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.
90Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
91Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
92Beschluss:
93Der Streitwert wird auf 226.521,02 Euro festgesetzt.
94Gründe:
95Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Abs. 2 GKG erfolgt. Sie ist Ziffer 12.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NVwZ Beilage 2013, 58) und den Angabe der Klägerin zu den Kosten der durch die Ordnungsverfügung der Beklagten angeordneten Wiedererrichtung des „N1. -Turms“ orientiert.
96Rechtsmittelbelehrung:
97Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
98Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
99Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
100Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
101Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
102War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei;
außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1Gründe
2Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
3Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die vorliegende Anfechtungsklage, mit der der Kläger die Aufhebung des Neuberechnungs- und Rückforderungsbescheides der Beklagten vom 27. Februar 2019 begehrt, jedenfalls nicht die von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorausgesetzte hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
4Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance indes nur eine entfernte ist.
5Ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa: Beschlüsse vom 31. Januar 2019 - 12 E 1025/17 -, juris Rn. 4, vom 26. Januar 2012 - 12 E 21/12 -, vom 28. September 2010 - 12 E 546/10 - und vom 10. August 2009 - 12 E 858/09 -.
6Letzteres ist hier der Fall. Das Verwaltungsgericht hat mit zutreffenden Gründen, auf die der Senat Bezug nimmt, ausgeführt, dass die Ausbildungsvergütung, die dem Kläger ab 1. Januar 2019 für die zum 28. August 2018 begonnene Ausbildung zum Technischen Assistenten am Universitätsklinikum L. gezahlt worden ist, auf den gesamten Bewilligungszeitraum 8/2018 bis 7/2019 - mit der Folge einer nachträglichen Kürzung der Ausbildungsförderung und einer daraus resultierenden Rückforderung - anzurechnen ist. Diese Änderung - Bezug einer Ausbildungsvergütung aufgrund der Änderung der Tarifverträge für Auszubildende im öffentlichen Dienst des Landes - ist nämlich im Bewilligungszeitraum eingetreten und dementsprechend vom Beginn des Bewilligungszeitraums an nach §§ 20 Abs. 1 Nr. 3, 22 Abs. 2 bzw. § 53 Satz 4 BAföG in die Berechnung der Leistungen einzustellen.
7Vgl. zum Verhältnis (Spezialität) des § 20 Abs. 1 Nr. 3 zu § 53 BAföG: Rauschenberg, in: Rothe/Blanke/Rauschenberg, BAföG, Stand: Juli 2019, Anm. 20.2 zu § 53.
8Das - wiederholende - Beschwerdevorbringen, zum 1. Januar 2019 sei ein neuer Ausbildungsvertrag geschlossen worden, der zu einer Änderung des Charakters der Ausbildung geführt habe, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Kläger stützt seine Auffassung darauf, dass sein ursprünglicher Vertrag mit dem Universitätsklinikum L. - wie die Überschrift ausweise - eine schulische Ausbildung zum Technischen Assistenten in der Medizin beinhalte, während der am 3. Januar 2019 mit demselben Ausbildungsträger geschlossene Vertrag ausdrücklich als Berufsausbildungsvertrag bezeichnet werde. Das greift so zu kurz. Auf die Bezeichnung der Verträge kommt es insoweit nicht an. Maßgebend ist vielmehr, dass beiden Verträgen die Bestimmungen des Gesetzes über technische Assistenten in der Medizin - MTAG - zugrunde liegen, die für den Beruf eines Technischen Assistenten in der Medizin zwingend eine dreijährige Ausbildung mit theoretischem und praktischem Unterricht sowie einer praktischen Ausbildung vorsehen (§ 4 MTAG). Es handelt sich also bei der am 29. August 2018 begonnenen Ausbildung nicht um eine rein "schulische", wie der Kläger meint, sondern um eine Berufsausbildung (s. § 1 Abs. 1 MTAG). Diese hat der Kläger ununterbrochen am 1. Januar 2019 fortgesetzt. Das ergibt sich ohne weiteres aus der Dauer der Ausbildung bis zum 28. August 2021, die im ersten wie im zweiten Vertrag so bestimmt ist. Die Änderung der Tarifverträge der Länder für Auszubildende, die u. a. mit der Einführung von Ausbildungsentgelten in Gesundheitsberufen ab dem 1. Januar 2019 einhergegangen ist, hat nämlich nicht zur Begründung eines neuen Ausbildungsverhältnisses, das bei dem angestrebten Abschluss drei volle Jahre hätte betragen müssen, sondern lediglich zu einer die neuen tariflichen Bestimmungen übernehmenden Neuausfertigung des Ausbildungsvertrages unter Fortsetzung derselben Ausbildung geführt.
9Die Kostenentscheidung beruht auf § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO sowie auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
10Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 05.01.2018, Az. 4 O 131/17, abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, welche diesem aus dem Unfallereignis vom … gegen … in … Höhe ..., entstanden sind und möglicherweise noch entstehen werden, soweit dahingehende Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden; dies unter Berücksichtigung einer Mitverantwortungsquote des Klägers in Höhe von 1/3.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 1/3, die Beklagte 2/3 zu tragen.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
5. Der Gegenstandswert für das Berufungsverfahren wird auf 100.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche Schäden zu ersetzen, die durch das streitgegenständliche Unfallereignis entstanden sind.
2
Der Kläger befuhr am … gegen …. mit seinem Motorrad (Marke: Harley-Davidson) die Hauptstraße …; die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt 30 km/h. Ungefähr auf der Höhe des Anwesens Nr. … bremste er, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Die Beklagte ist Halterin einer Katze der Rasse Main-Coon. Die überdurchschnittlich große Katze hat ein längeres schwarzes Fell, weiße Pfoten und weißes Fell am Bauch. Ob der Sturz durch die Katze verursacht worden ist, ist zwischen den Parteien umstritten.
3
Der Unfall ist polizeilich aufgenommen worden. Hierbei wurde eine Bremsspur des Motorrades von 4,69 m und eine durch das umgefallene Krad verursachte Rutschspur von 8,67 m ermittelt und festgehalten (Bl. 293 d.A.). Ein gegen den Kläger geführtes Ordnungswidrigkeitenverfahren wurde im … eingestellt. Die Tierhaftpflichtversicherung der Beklagten zahlte nach Aufforderung des Prozessbevollmächtigten des Klägers an diesen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht in drei Teilbeträgen insgesamt 8.000 €. Die Anerkennung einer Haftung dem Grunde nach hat sie abgelehnt.
4
Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen,
5
mit einer Geschwindigkeit von unter 30 km/h gefahren zu sein. In Höhe des Anwesens Nr. … habe die Katze der Beklagten die Fahrbahn plötzlich von rechts nach links passiert. Er habe sofort ein Bremsmanöver eingeleitet, um eine Kollision mit dem Tier zu verhindern, das direkt vor sein Motorrad gelaufen sei. Aufgrund der geringen Geschwindigkeit und des Bremsmanövers habe er das Gleichgewicht verloren und sei mit dem Motorrad auf die Fahrbahn gestürzt. Das Motorrad sei auf sein rechtes Bein gefallen, was zu erheblichen Verletzungen geführt habe. Durch den Unfall habe er eine Tibiakopffraktur 41 C3 rechts mit posttraumatischem Kompartmentsyndrom am Unterschenkel rechts und postoperativer Nachblutung erlitten. Auf den vorläufigen Entlassbericht der … (Anlage 4, Bl. 13 d.A.) wird Bezug genommen. Die Behandlung sei auch nach insgesamt 8 Operationen „bis dato“ nicht abgeschlossen, wenngleich nach zwischenzeitlicher Implementierung einer Knieprothese eine positive Entwicklung eingeleitet worden sei.
6
Der Sachschaden am Motorrad belaufe sich auf 5.264,75 €; Gutachterkosten seien ihm in Höhe von 659,91 € entstanden. Die durch den Unfall beschädigte Lederhose habe 390,14 € gekostet. Der Verdienstausfallschaden betrage für 42 Monate 4.200 €. Außerdem stehe ihm ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 € zu. Es sei ein erheblicher Dauerschaden eingetreten, der sich aktuell noch nicht abschließend beziffern lasse.
7
Der Kläger hat erstinstanzlich sinngemäß beantragt,
8
1. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, welche ihm im Hinblick auf das Unfallereignis vom … in … entstanden sind und noch entstehen werden, soweit dahingehende Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden;
9
2. die Beklagte zu verpflichteten, ihn von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.706,94 €, welche dieser an Rechtsanwalt …, zu zahlen hat, freizustellen.
10
Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,
11
die Klage abzuweisen.
12
Sie hat mit Nichtwissen bestritten, das zum Unfallzeitpunkt eine Katze über die Straße gelaufen ist; sollte eine Katze am Unfallort die Hauptstraße überquert haben, sei dies nicht ihre Katze gewesen. Das Sturzereignis beruhe darauf, dass der Kläger nicht mit der erforderlichen Aufmerksamkeit und mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren sei. Ganz generell sei es nicht geboten gewesen, wegen eines Kleintiers abrupt abzubremsen.
13
Das Landgericht hat die Parteien informatorisch angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen …, …, … und …. Es hat die Klage abgewiesen. Nach Parteianhörung und Zeugenvernehmung sei nicht erwiesen, dass es die Katze der Beklagte gewesen sei, die auf die Straße gelaufen sei. Ein dahingehender „Verdacht“ genüge nicht für die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Gerichts.
14
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seinen erstinstanzlichen Klageantrag zu .1 weiterverfolgt. Er rügt die Beweiswürdigung des Landgerichts. Namentlich sei die Aussage der Zeugin … unzutreffend erfasst und bei der Entscheidungsfindung zugrunde gelegt worden. Die Zeugin habe ausdrücklich bekundet, dass sie die Katze eindeutig als Katze der Beklagten identifiziert habe.
15
Der Kläger beantragt sinngemäß,
16
das angefochtene Urteil abzuändern und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, welche ihm im Hinblick auf das Unfallereignis vom … entstanden sind und noch entstehen werden, soweit dahingehende Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
17
Die Beklagte beantragt,
18
die Berufung zurückzuweisen.
19
Sie verteidigt die landgerichtliche Entscheidung nach Maßgabe der Berufungserwiderung vom 08.05.2018 (Bl. 209 bis 216 d.A.).
20
Hinsichtlich des weiteren Sachvortrags nimmt der Senat Bezug auf die zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen.
21
Der Senat hat den Kläger informatorisch angehört, die Zeugen …, … und … vernommen sowie schriftliche Aussagen der Zeugen … und … eingeholt und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 03.07.2019 (Bl. 282 d.A.) sowie die zur Akte gereichten Zeugenaussagen (Bl. 237, 252, 267 d.A.). Der Senat hat zudem ein Unfallrekonstruktionsgutachten eingeholt; auf das schriftliche Gutachten vom 01.07.2020 (Bl. 401 d.A.) sowie die ergänzende Anhörung des Sachverständigen … im Termin der mündlichen Verhandlung vom 30.09.2020 (Bl. 461 d.A.) wird ebenfalls Bezug genommen. Letztlich hat der Senat einen Auszug aus der Ermittlungsakte des Polizeipräsidiums Rheinpfalz im gegen den Kläger geführten Ordnungswidrigkeitenverfahrens (Az. …) zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, den der Kläger zur Akte gereicht hat (Bl. 386 d.A.).
II.
22
Die Berufung ist zulässig und im ausgeurteilten Umfang begründet. Die Beklagte haftet dem Kläger aus § 833 Satz 1 BGB auf Ersatz der ihm durch den streitgegenständlichen Unfall verursachten Schäden, dies indes unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr des Motorrades. Der Feststellungsantrag des Klägers war dahingehend auszulegen, dass die Beklagte ihm nicht „Ansprüche zu ersetzen“ hat, sondern Schäden. Der Antrag bezieht sich indes sowohl auf bereits erlittene wie auch auf künftige Schäden. Dies ergibt sich mit hinreichender Sicherheit bereits aus dem Wortlaut des Antrages. „Erlitten hat“ der Kläger den Unfall; die dahingehende Einschränkung bezieht sich nicht auf die Folgen aus dem Schadensereignis. Dementsprechend ist der Feststellungsantrag mit der doppelten Einschränkung formuliert worden, dass nicht nur solche Schäden ausgeklammert bleiben, soweit diesbezügliche Ansprüche nicht bereits auf Dritte übergangen sind, sondern auch solche Schäden, soweit diesbezügliche Ansprüche erst künftig auf sonstige Dritte übergehen werden.
23
1. Der auf den Ersatz bereits entstandener und künftig entstehender Schäden gerichtete Feststellungsantrag ist zulässig.
24
Der Kläger geht vom einem zwischen den Parteien durch den Unfall begründeten (deliktischen) Rechtsverhältnis i.S.v. § 256 ZPO aus. Das Feststellungsinteresse des Klägers ergibt sich bereits aus dessen Bedürfnis nach Klärung der zwischen den Parteien streitigen Sach- und Rechtslage im Hinblick auf das Unfallereignis und die hieraus resultierenden Schäden. Zwar gilt auch grundsätzlich der Vorrang der Leistungsklage vor der Feststellungsklage. Es ist allerdings allgemein anerkannt, dass ein Kläger grundsätzlich nicht gehalten ist, seine Klage in eine Leistungs- und in eine Feststellungsklage aufzuspalten, wenn bei Klageerhebung ein Teil des Schadens schon entstanden, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten ist (BGH, Urteil vom 19.04.2016, Az. VI ZR 504/14, Juris). Hiervon ist zugunsten des Klägers jedenfalls im Hinblick auf weitere immaterielle Schäden auszugehen, die aus der erheblichen Verletzung des Knies mit Einsatz eines künstlichen Gelenks entstehen können. Im Übrigen ist auch davon auszugehen, dass die Durchführung des Feststellungsverfahrens unter dem Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte führt. Denn die Haftung der Beklagten wird wirtschaftlich von der hinter dieser stehenden Tierhalter-Haftpflichtversicherung getragen.
25
2. Die Feststellungsklage ist begründet. Für den Senat steht fest, dass der streitgegenständliche Unfall durch die Katze der Beklagten verursacht worden ist. Dem Kläger sind bereits in erheblichem Umfang Sachschäden und immaterielle Schäden entstanden, deren Entwicklung für die Zukunft (noch) nicht abgeschlossen ist.
26
a) Wird durch ein Tier die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist gemäß § 833 Satz 1 BGB derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Insoweit ist zwischen den Parteien unstreitig, dass der Kläger durch den streitgegenständlichen Unfall erheblich verletzt und sein Motorrad beschädigt wurde.
27
Nach Parteianhörung und Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Unfall durch das Verhalten der von der Beklagten gehaltenen Katze verursacht worden ist. Der Kläger hat angegeben, dass eine sehr große schwarz/weiße Katze mit längerem Fell von rechts nach links über die Straße gelaufen sei. Die Beklagte hat angegeben, dass alle am Unfallort Anwesenden davon gesprochen hätten, dass ihre Katze den Unfall verursacht habe, als sie hinzugekommen sei. Diese Katze ist auch von der … am Unfallort gesehen worden; nach ihren Bekundungen hält sich das Tier dort nahezu täglich auf. Sie sah das bereits gestürzte Motorrad rutschen; die Katze lief in diesem Moment an der Straße entlang zum Anwesen der Beklagten. Dass diese Katze der Beklagten gehört, hat die Zeugin sicher bekundet. Sie erinnerte sich an die besonderen Merkmale des Tiers - sehr großes Tier, erhebliches Fellvolumen, schwarzes Fell mit weißen Flecken -, vor allem aber hat sie mitgeteilt, dass im Bereich der Hauptstraße Nr. 16 zum Zeitpunkt des Unfalls keine anderen Katzen bekannt waren, die in gleicher Weise wie das Tier der Beklagten Freilauf hatten. Das alles hat wiederum die Beklagte vom Hörsagen der Zeugin noch am Unfallort bestätigt. Auch die Zeugen .. haben bekundet, eine große schwarze Katze mit bemerkenswert vielem Fell am Unfallort gesehen zu haben, der Zeuge … hat zudem angegeben, nur dieses Tier schon öfter in der Unfallgegend gesehen zu haben. Die Zeugen standen in keinerlei Nähebeziehung zum Kläger; auch im Übrigen ist nicht ersichtlich, warum ihr Aussageverhalten manipuliert gewesen sein sollte.
28
Gerade wegen der - unstreitigen - Besonderheiten des Tiers und des - ebenfalls unstreitigen - Umstandes, dass seinerzeit keine weiteren Katzen in der Gegend bekannt waren und beobachtet worden sind, besteht für den Senat kein Zweifel, dass es das Tier der Beklagten war, dass vor dem Motorrad des Klägers über die Straße gelaufen ist. Da es insoweit nicht auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen ankam, vermochte der Senat - in anderer Besetzung als im Termin der Beweisaufnahme - deren Aussagen jedenfalls bereits urkundlich zu verwerten, ohne die Beweisaufnahme wiederholen zu müssen (BGH, Urteil vom 18.10.2016, Az. XI ZR 145/14, Juris).
29
Der Kläger ist deshalb gestürzt, weil die Katze der Beklagten unvorhersehbar die Straße unmittelbar vor dem Motorrad des Klägers überquert hat. Für die Unfallursächlichkeit kann dahinstehen, dass es offensichtlich nicht zu einem Zusammenstoß zwischen Tier und Motorrad gekommen ist. Denn nach allgemeinen Regeln genügt es, dass das Verhalten des Tieres den Unfall mittelbar mitverursacht hat (OLG Saarbrücken, Urteil vom 17.01.2006, Az. 4 U 615/04, Juris). Einen solchen Zusammenhang hat der Kläger darlegt; denn er will gerade in Ansehung des Tiers gebremst und versucht haben, durch eine Lenkbewegung einen Zusammenstoß mit dem Tier zu vermeiden. Soweit die Beklagte Unaufmerkamkeit bzw. einen Fahrfehler des Klägers behauptet hat, führt dies im Rahmen der Kausalität zu keiner abweichenden Beurteilung. Denn wenn es in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang bei der Begegnung mit einem Tier zu einem Unfall eines Verkehrsteilnehmers kommt, spricht bereits der erste Anschein dafür, dass dieser durch das Bewegungsverhalten und damit die von ihm ausgehende Tiergefahr verursacht worden ist (OLG Hamm, Urteil vom 21.07.2008, Az. 6 U 6/08, Juris). Jedenfalls diesen Anschein hat die Beklagte nicht erschüttert, geschweige denn widerlegt.
30
Bei der Verursachung des Unfalls hat sich gerade die der Katze typischerweise anhaftende Gefahr verwirklicht. Die spezifische Tiergefahr realisiert sich dann i.S.v. § 833 Satz 1 BGB, wenn der Schaden auf der Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens und der dadurch hervorgerufenen Gefährdung beruht. Das ist nicht nur der Fall, wenn das Tier ausschlägt, beißt oder eine Person anspringt, sondern bereits dann, wenn ein Tier - wie im Streitfall - ausbricht, sich unkontrolliert fortbewegt und ein Verkehrshindernis bildet (OLG Hamburg, Urteil vom 08.11.2019, Az. 1 U 155/18, Juris).
31
b) Dem Kläger sind durch den Unfall erhebliche Sachschäden am Motorrad entstanden, zudem hat er sich durch den Unfall erheblich verletzt. Das umstürzende Motorrad hat auf der rechten Seite unstreitig zu einem Schienbeinkopfbruch geführt, zudem musste dem Kläger nach nunmehr 8 Operationen eine Knieprothese eingesetzt werden. Bereits der haftungsrechtlich relevante Eingriff in das Eigentum und die körperliche Unversehrtheit des Klägers, wobei jedenfalls letzteres zu möglichen künftigen Schäden führen kann, führen zur Begründetheit des Feststellungsantrags. Namentlich ist es insoweit nicht erforderlich, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit für künftige Schadenseintritte festgestellt werden muss. Zumindest in Fällen wie dem streitgegenständlichen, in denen bereits die Verletzung eines durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsguts und darüber hinaus ein daraus resultierender Vermögensschaden eingetreten sind, gibt es keinen Grund, die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere, künftige Schäden von der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts abhängig zu machen. Materiellrechtlich wird es den Anspruch auf Ersatz dieser Schäden ohnehin nicht geben, solange diese nicht eingetreten sind; von der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts hängt die Entstehung des Anspruchs nicht ab (BGH, Urteil vom 17.10.2017, Az. VI ZR 423/16, Juris).
32
3. Ansprüche des Klägers bestehen allerdings nur unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote von 1/3.
33
Ganz generell ist anerkannt, dass bei einem Unfall zwischen Tieren und Kraftfahrzeugen deren Betriebsgefahr dergestalt zu berücksichtigen ist, dass sich die Haftung des Tierhalters nicht unerheblich reduziert (OLG Celle, Urteil vom 10.04.2018, Az. 14 U 147/17 [50%]; OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.02.1994, Az. 22 U 170/93 [1/3]; OLG Karlsruhe, Urteil vom 19.03.2009, Az. 4 U 166/07 [25%]). Eine solche Berücksichtigung ist nicht nur dann geboten, wenn es - wie in den vorgenannten Fällen - im gleichgerichteten Verkehr zu einem Unfall mit einem Tier kommt, sondern auch dann, wenn ein Tier plötzlich vor einem Fahrzeug die Fahrbahn kreuzt und es deshalb - mit oder ohne Ausweich- bzw. Bremsmanöver des Fahrzeugführers - zu einem Unfall kommt (OLG Hamm, Urteil vom 25.04.2006, Az. 9 U 7/05 [1/3]; OLG Hamm, Urteil vom 27.09.2005, Az. 9 W 45/05 [50%]; OLG Köln, Urteil vom 16.11.2000, Az. 7 U 64/00 [20%]). Das gilt in besonderer Weise auch für den Streitfall, denn der Kläger fuhr nicht nur innerorts auf einer Straße, auf der die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h herabgesetzt war; vor allem befanden sich an der Straße seitlich Hauseingänge und vor allem eine Bäckerei (s. die Bilder des Sachverständigen ab Seite 7 des Gutachtens, Bl. 407 d.A.), so dass schon deshalb mit Personenverkehr zu rechnen war. Der Senat beziffert die dem Kläger zuzurechnende Betriebsgefahr daher mit einer Quote von 1/3.
34
Darüber hinaus ist nicht erwiesen, dass sich der Kläger schuldhaft verkehrsordnungswidrig verhalten hat. Zum einen ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger die Auspuffanlage seines Motorrades dergestalt verändert hatte, dass hierdurch vom Motor eine außergewöhnliche Geräuschkulisse ausging, die Tiere in besonderem Maße erschreckt haben könnte. Zum anderen hat der Sachverständige zwar festgestellt, dass der Kläger mit einer Geschwindigkeit von mindestens 34 km/h gefahren ist, also rund 10% zu schnell war. Indes ist nicht erwiesen, dass sich diese Geschwindigkeitsüberschreitung auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat; namentlich, dass der Unfall durch Einhaltung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit vermieden worden wäre oder die Unfallfolgen nach Art und Umfang geringer ausgefallen wären. Im Gegenteil hat der Sachverständige festgestellt, dass der Kläger ab dem Moment des erstmaligen Erblickens der Katze bis zu seinem Sturz aufgrund der zu unterstellenden Weg-Zeit-Verhältnisse die Geschwindigkeit nur unwesentlich zu verringern und auch nicht signifikant auszuweichen vermochte (Seite 22 des Gutachtens, 2. Absatz). Im Termin der mündlichen Verhandlung vom 30.09.2020 hat er bekräftigt, dass der Unfall vom Kläger auch bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 30 km/h nicht hätte vermieden werden können.
35
Letztlich steht nach den Feststellungen des Sachverständigen auch nicht fest, dass der Kläger in Ansehung des plötzlich vor das Motorrad laufenden Tiers falsch reagiert hätte. Ganz generell ist schon aufgrund der Größe der Katze - die Beklagte selbst hat eingeräumt, dass das Tier etwa doppelt so groß wie eine „normale“ Katze ist - nicht davon auszugehen, dass der Kläger - entsprechend den Regelungen und Grundsätzen, wie sie im Kaskorecht gelten - „verpflichtet“ gewesen wäre, das plötzlich vor ihm auftauchende Tier zu überfahren (s. zum Verschulden etwa BGH, Urteil vom 11.07.2007, Az. XII ZR 197/05, Juris). Im Übrigen steht fest, dass der Kläger offensichtlich intensiv reagiert und stark abgebremst hat. Durch das hierdurch ausgelöste Blockieren des Hinterrades und durch das linksseitige Ausweichen wurde das Motorrad instabil und ist umgestürzt. Indes steht bereits nicht fest, aus welcher Entfernung der Kläger das Tier zum ersten Mal gesehen hat bzw. hätte sehen (und damit reagieren) müssen. Der Kläger hat angegeben, dass das Tier „unmittelbar vor sein Vorderrad, 1m bis 2m entfernt“ gelaufen sei. Indes hat sich das Unfallgeschehen in kürzester Zeit abgespielt, so dass für eine verlässliche Schätzung von Entfernungen ebenso wenig Zeit blieb wie für eine wohlüberlegte Reaktion auf das Hindernis. Dementsprechend hat der Kläger bekundet, dass die Entfernung zur Katze bei ihrem erstmaligen Erkennen durchaus auch größer gewesen sein könnte.
36
Der Sachverständige vermochte anhand der polizeilich festgestellten Brems- und Rutschspuren auf der Straße lediglich zu ermitteln, dass der Kläger den Bremsvorgang mindestens 13,4m vor dem Ende der Spuren (ca. 4,7m Bremsweg und ca. 8,7m Rutschweg) eingeleitet haben muss. Allerdings ist das Motorrad bereits nach einem Bremsweg von rund 4,7m umgefallen. Bei der üblicherweise zu unterstellenden Reaktionszeit hat der Kläger - unter Annahme der von ihm mindestens gefahrenen Geschwindigkeit von 34 km/h - während der Reaktionsdauer eine Strecke von zumindest 7,6m zurückgelegt. Demnach muss er das Tier aus einer Entfernung von mindestens 12,3m wahrgenommen haben (Reaktionsweg 7,6m zzgl. Bremsweg 4,7m); für die Annahme, dass der Kläger über den theoretischen Kollisionspunkt mit dem Tier hinaus gebremst hat (die Katze also sich in seine Fahrtrichtung gesehen noch vor dem Umkipppunkt befand), gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Diese Wegstrecke hat der Kläger (bei Annahme einer Geschwindigkeit von 34 km/h) in ca. 1,3sek durchfahren. Dass ihm in dieser Zeit eine andere als die tatsächlich vorgenommene Reaktion - starkes Abbremsen und Einleitung eines Ausweichmanövers nach links - möglich war, geschweige denn von ihm hätte verlangt werden müssen, kann ersichtlich nicht angenommen werden (eingehend dazu bereits BGH, Urteil vom 02.11.1965, Az. VI ZR 134/64, Juris).
37
Anhand der Feststellungen des Sachverständigen lässt sich mithin weder ein Reaktionsverzug des Klägers noch ein Fehlreagieren auf das plötzliche Hindernis - dies unter besonderer Berücksichtigung, dass das Motorrad nicht über ein ABS-System verfügte - mit einer nach § 286 ZPO erforderlichen Sicherheit feststellen. Auch dies hat der Sachverständige im Rahmen seiner ergänzenden Anhörung nochmals ausdrücklich bestätigt.
38
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
39
Die Zulassung der Revision ist nicht veranlasst, weil die Voraussetzungen hierfür (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen. Es liegt eine Einzelfallentscheidung vor. Der Senat weicht auch nicht von obergerichtlicher oder höchstrichterlicher Rechtsprechung ab.
40
Den Gegenstandswert hat der Senat - insoweit übereinstimmend mit der ersten Instanz - mit Verfügung vom 09.04.2018 vorläufig auf 42.000 € festgesetzt. Im Termin der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 30.09.2020 ist eine vergleichsweise Beendigung des Rechtsstreits mit den Parteien besprochen und intensiv diskutiert worden. Der Kläger hat dabei Schmerzensgeld und Sachschäden „im sechsstelligen Bereich“ (namentlich im Hinblick auf Verdienstausfälle) thematisiert; hieran orientiert sich die endgültige Festsetzung des Gegenstandswertes.
41
Dass der Kläger den in 1. Instanz noch eingeklagten Freistellungsanspruch hinsichtlich seiner Belastung mit vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltsgebühren in der Berufung nicht weiterverfolgt hat, wirkt sich kostenrechtlich nicht aus. Insoweit war die erstinstanzliche Entscheidung aber aufrechtzuerhalten.
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 12. April 2019 - 4 K 5729/17 - geändert und die Klage abgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger wendet sich gegen seine Heranziehung zu einem Abwasserbeitrag.2 Er ist seit dem Jahr 2003 Eigentümer des im Außenbereich gelegenen Grundstücks „...“, Flst.-Nr. 64 in ... im Gebiet der Beklagten (im Folgenden: Veranlagungsgrundstück). Das Veranlagungsgrundstück ist mit einem Gebäude, das eine Wohnung enthält, sowie mit einer Kleinkläranlage und weiteren Gebäuden und baulichen Anlagen bebaut.3 Bereits mit Bescheid vom 17.02.1971 hatte das Landratsamt Ravensburg der früheren Eigentümerin des Veranlagungsgrundstücks, der ... AG, die dort eine Pumpstation betrieb, die bis 31.12.2000 befristete wasserrechtliche Erlaubnis erteilt, anfallendes häusliches Abwasser in eine Hauskläranlage einzuleiten.4 Unter dem 18.05.2009 wurde dem Kläger auf der Grundlage des § 35 Abs. 4 Nr. 6 BauGB eine Baugenehmigung zur Umnutzung, zum Umbau und zur baulichen Erweiterung der ehemaligen Pumpstation zu einem Gewerbebetrieb zur Lagerung, Reparatur und zum Vertrieb von Geräten sowie zum Neubau eines Gebäudes mit Büro und Betriebsleiterwohnung erteilt. Mit Bescheid ebenfalls vom 18.05.2009 erhielt der Kläger die bis zum 30.10.2019 befristete wasserrechtliche Erlaubnis, das in einer Kleinkläranlage gereinigte häusliche Abwasser aus den auf dem Veranlagungsgrundstück befindlichen Gebäuden über eine Rohrleitung in den Vorfluter einzuleiten. In den Nebenbestimmungen wurde verfügt, dass die Anlage nur im Rahmen ihrer Ausbaugröße (6 Personen) genutzt werden dürfe (Ziff. 2.1.2) Für einen ordnungsgemäßen Betrieb der Anlage sei eine bedarfsgerechte Schlammentsorgung geboten (Ziff. 2.1.4 Satz 1). Der anfallende Schlamm sei der Beklagten im Rahmen ihrer Entsorgungssatzung zur Entnahme zu überlassen (Ziff. 2.1.4 Satz 2).5 Am 19.08.2013 nahm der Kläger eine vollbiologische Kleinkläranlage der Firma ... Abwassertechnik e.K. in Betrieb und ließ die bisher betriebene 3-Kammer-Grube stilllegen und verfüllen. Laut Rechnung der Firma ... Abwassertechnik e.K. handelt es sich bei der neuen Anlage um eine „Einbehälteranlage aus Kunststoff mit technischer Ausrüstung als vollbiologische Kleinkläranlage für sechs Einwohnerwerte“.6 Aus dieser Kleinkläranlage entnahm die Beklagte nach Beauftragung durch den Kläger am 23.12.2016 einen Kubikmeter Schlamm, woraufhin sie gegenüber dem Kläger mit Bescheid vom 25.01.2017 einen Abwasserteilbeitrag für das Klärwerk in Höhe von 9.441,10 EUR festsetzte. Diesem Bescheid lag die Annahme zugrunde, das Veranlagungsgrundstück habe eine beitragspflichtige Fläche von 3.975 m² und sei mit zwei Vollgeschossen bebaut. Nach Hinweis des Klägers, es sei nur von einer eingeschossigen Bebauung auszugehen, legte die Beklagte der Veranlagung mit Bescheid vom 31.01.2017 eine Bebauung mit nur einem Vollgeschoss zugrunde und reduzierte den festgesetzten Abwasserteilbeitrag entsprechend auf 7.552,50 EUR.7 Gegen die Abwasserteilbeitragsbescheide vom 25.01.2017 und vom 31.01.2017 erhob der Kläger rechtzeitig Widerspruch. Zur Begründung trug er zusammengefasst vor, für das Veranlagungsgrundstück sei bereits mit Bescheid vom 17.02.1971 ein Abwasserbeitrag geltend gemacht worden, was einer erneuten Festsetzung entgegenstehe. Ungeachtet dessen sei das Veranlagungsgrundstück nicht an die öffentliche Abwasseranlage angeschlossen und dieser Anschluss werde auch in Zukunft nicht erfolgen. Denn das Schmutzwasser werde über eine Kleinkläranlage entsorgt. Das Niederschlagswasser werde in einen Löschteich geleitet. Endprodukt der Kleinkläranlage sei lediglich Wasser, das im Boden versickere. Die Entsorgung des Schlamms im Dezember 2016 habe nur deshalb erfolgen müssen, weil es in der Anlage zu einem technischen Defekt gekommen sei. Weder sei zuvor eine Schlammentsorgung notwendig gewesen noch werde dies in Zukunft der Fall sein. Eine Einleitung des Abwassers in den Vorfluter durch eine öffentliche Rohrleitung, von der die Erlaubnis vom 18.05.2009 ausgehe, erfolge nicht, da es aufgrund der Reinigungsleistung der Anlage keiner solchen Zuleitung bedürfe. Eine einmalige Entsorgung von einem Kubikmeter Schlamm erfülle nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 der Satzung der Beklagten über die öffentliche Abwasserbeseitigung (Abwassersatzung - AbwS). Diese seien nur bei regelmäßiger Entsorgung gegeben. Im vorliegenden Fall sei nur eine Gebührenfestsetzung für die Schlammentsorgung zulässig, die hier mit Abgabenbescheid vom 06.03.2017 erfolgt sei.8 Mit Widerspruchsbescheid vom 22.06.2017, zugestellt am 26.06.2017, wies das Landratsamt Ravensburg den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte das Landratsamt im Wesentlichen aus, für Grundstücke, die im Außenbereich belegen seien, entstehe eine Beitragspflicht mit dem tatsächlichen Anschluss an die dezentrale Abwasserbeseitigung. Von einem solchen Anschluss sei dann auszugehen, wenn tatsächlich eine Anlieferung von Abwasser (Schlamm, Fäkalwasser) an die Kläranlage erfolge. Im Fall des Klägers sei die Beitragspflicht deshalb am 23.12.2016 entstanden. Die Beklagte differenziere in ihrer Abwassersatzung nach Teilbeträgen für den Kanalbereich und den Klärbereich und habe vorliegend den maßgeblichen Klärbeitrag festgesetzt. Auch das einmalige Abholen von Schlamm führe zur Entstehung der Beitragspflicht. Mit dem wasserrechtlichen Bescheid des Landratsamtes Ravensburg vom 17.02.1971 seien Verwaltungsgebühren und kein Anschlussbeitrag erhoben worden, zumal das Landratsamt keine eigene beitragsfähige öffentliche Einrichtung zur Abwasserbeseitigung betreibe.9 Der Kläger hat am 14.07.2017 Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren wiederholt und ergänzend vorgetragen, Voraussetzung für das Entstehen der Beitragsschuld sei es nicht nur, dass eine nutzbare öffentliche Einrichtung und eine rechtswirksame Beitragssatzung gegeben seien; vielmehr sei auch erforderlich, dass das betreffende Grundstück in relevanter Weise nutzbar sei und an die Einrichtung angeschlossen werden könne, so dass durch den Anschluss an die öffentliche Einrichtung ein dauerhafter Vorteil gegeben sei. Dies sei bereits im Jahr 1971, spätestens aber mit Erteilung der Baugenehmigung im Jahr 2009 der Fall gewesen. Die Beitragsschuld sei deshalb verjährt. Der Schlamm der Rechtsvorgängerin sei bereits vor der Havarie der Anlage im Dezember 2016 von der Beklagten entsorgt worden. Das Landratsamt Ravensburg habe seit 1971 die Anlage kontrolliert; seither sei - auch nach Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters der Rechtsvorgängerin - fortlaufend Klärschlamm abgefahren worden. Jedenfalls sei von einer Verwirkung des Beitragsanspruchs auszugehen. Der von der Beklagten erhobene Beitrag stehe im Übrigen in einem Missverhältnis zur gewährten Leistung.10 Die Beklagte ist diesen Ausführungen entgegengetreten. Sie hat zusammengefasst vorgetragen, die Beitragspflicht sei durch die erstmalige Abholung des Schlamms am 23.12.2016 entstanden. Der Vortrag des Klägers, es habe bereits vor dem 23.12.2016 eine Schlammentsorgung stattgefunden, werde bestritten. Die Beseitigung des Schlamms aus Kleinkläranlagen sei erst seit dem 01.10.1996 Teil der öffentlichen Abwasserbeseitigung. Seit diesem Zeitpunkt gelte eine Anzeigepflicht für bestehende Kleinkläranlagen. Die frühere 3-Kammer-Grube sei bei ihr - der Beklagten - jedoch nicht angezeigt worden. Sollte der Schlamm aus dieser Anlage entsorgt worden sein, so sei davon auszugehen, dass dies privat organisiert erfolgt sei. Damit sei auch eine frühere Entstehung des Abwasserbeitrags ausgeschlossen.11 Auf den Umstand, dass eine Entsorgung hier nur einmalig (am 23.12.2016) erfolgt sei, komme es ebenso wenig an wie auf die Menge des entsorgten Klärschlamms. Maßgeblich sei nur, dass der auf dem Veranlagungsgrundstück angefallene Klärschlamm dezentral entsorgt worden sei und auch in Zukunft entsorgt werde, sofern ein Bedürfnis hierfür entstehe. Der Beitragsanspruch sei nicht verjährt.12 Mit dem angegriffenen Urteil vom 12.04.2019 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid der Beklagten vom 25.01.2017 in der Fassung ihres Bescheides vom 31.01.2017 und den Widerspruchsbescheid des Landratsamtes Ravensburg vom 22.06.2017 aufgehoben. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Beitragspflicht sei mangels eines tatsächlichen Anschlusses an die öffentliche Abwasserbeseitigung nicht entstanden. Selbst wenn ein tatsächlicher Anschluss unterstellt würde, wäre die Entstehung der Beitragspflicht im vorliegenden Fall jedenfalls unverhältnismäßig.13 Bei der dezentralen Abwasserbeseitigung, die nach § 2 Abs. 3 AbwS auch die Abfuhr und die Beseitigung des Schlamms aus Kleinkläranlagen umfasse, entstehe die Beitragsschuld in den Fällen des § 23 Abs. 2 AbwS nach § 34 Abs. 2 AbwS i.V.m. § 32 Abs. 1 Satz 2 KAG erst mit dem tatsächlichen Anschluss an die dezentrale Abwasserbeseitigung.14 Im vorliegenden Fall sei ein tatsächlicher Anschluss der Kleinkläranlage an die öffentliche Abwasseranlage der Beklagten nicht erfolgt. Aufgrund der nur einmaligen Inanspruchnahme der dezentralen Abwasserbeseitigung - bedingt durch eine Havarie der Kleinkläranlage - fehle es an der für einen tatsächlichen Anschluss erforderlichen Dauerhaftigkeit der Verbindung mit der öffentlichen Einrichtung. Der tatsächliche Anschluss setze nämlich eine reale, technische, über- oder unterirdische sowie auf Dauer angelegte Verbindung des Grundstücks mit der öffentlichen Einrichtung voraus. Ein solcher Anschluss erfolge regelmäßig in Form einer Leitung. Beitragsrechtlich könne es sich aber auch um einen Anschluss im übertragenen Sinn handeln, z.B. wenn ein Grundstück regelmäßig entsorgt werde.15 Gemessen an diesen Grundsätzen fehle es vorliegend an einer solchen auf Dauer angelegten Verbindung, da bei dem Veranlagungsgrundstück in absehbarer Zeit nicht mit einer erneuten Inanspruchnahme der öffentlichen Abwasseranlage zu rechnen sei. Die bislang einmalige Inanspruchnahme sei lediglich aufgrund eines Notfalls erfolgt. Ein solcher Notfall sei aufgrund der bisherigen, seit 2009 andauernden und mithin etwa zehnjährigen Nutzung der vollbiologischen Kleinkläranlage - bei der im Regelbetrieb keine Entsorgung von Schlamm vorzunehmen sei - nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft zu erwarten, zumal das Veranlagungsgrundstück nach den Angaben des Klägers lediglich zu Freizeitzwecken genutzt werde und die dem Ausfall der Kleinkläranlage zugrundeliegende Ursache, die nicht ordnungsgemäße Wartung der Anlage, durch Beauftragung eines neuen Unternehmens beseitigt worden sei. Bei der am 23.12.2016 erfolgten Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung habe es sich mithin lediglich um einen vorübergehenden, also gerade nicht „besonderen“ Vorteil gehandelt, der eine Beitragspflicht nicht entstehen lasse.16 Die angegriffenen Bescheide wären auch dann rechtswidrig, wenn unterstellt würde, dass im vorliegenden Fall ein tatsächlicher Anschluss im Sinne der Abwassersatzung erfolgt wäre. Denn die Beitragserhebung wäre jedenfalls unverhältnismäßig. Für die Entnahme von circa einem Kubikmeter Klärschlamm sei ein Beitrag in Höhe von 7.552,50 EUR erhoben worden. Der zu entrichtende Betrag stehe, da keine weitere Inanspruchnahme zu erwarten sei, in krassem Missverhältnis zu dem Vorteil, der dem Kläger durch die einmalige Entnahme infolge einer nicht zu erwartenden Havarie zugekommen sei. Solche Fälle der einmaligen Inanspruchnahme seien allein über die Erhebung einer Gebühr abzubilden. Verdeutlicht werde das Missverhältnis zwischen Leistung und Vorteil durch einen Vergleich mit der für die gleiche Menge zu entrichtenden Gebühr. Je nach Grubenart, aus der der Schlamm entsorgt werde, betrage die Gebühr, die der Kläger hier auch entrichtet habe, für die Entsorgung eines Kubikmeters Klärschlamm maximal 37,80 EUR (zuzüglich der Kosten der Abfuhr). Der vorliegend mit der Beitragserhebung abgegoltene Vorteil betrage damit nahezu das 200-fache der üblicherweise für einen Kubikmeter Klärschlamm zu entrichtenden Gebühr.17 Am 27.05.2019 hat die Beklagte die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung gegen das ihr am 30.04.2019 zugestellte Urteil eingelegt. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, die Aussage, bei dem Veranlagungsgrundstück handele es sich um ein zur Freizeitgestaltung benutztes Grundstück, sei unzutreffend. Denn dieses sei bis Mitte des Jahres 2018 - also auch im Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Bescheide und des Widerspruchsbescheides - von der vierköpfigen Familie eines Sohnes des Klägers bewohnt worden, die dort gemeldet gewesen sei. Aktuell sei das Veranlagungsgrundstück unbewohnt, werde aber immer noch teilweise gewerblich genutzt.18 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei das Veranlagungsgrundstück an die öffentliche Abwasserbeseitigung angeschlossen. Diese umfasse sowohl die zentrale als auch die dezentrale Abwasserbeseitigung, letztere in Form der Entsorgung von Kleinkläranlagen und geschlossenen Gruben. In dem Moment, in dem der Inhalt einer geschlossenen Grube bzw. einer Kleinkläranlage von ihr - der Beklagten - abgeholt und in der öffentlichen Kläranlage entsorgt werde, sei ein tatsächlicher Anschluss an die öffentliche Einrichtung gegeben und die sachliche Beitragspflicht entstanden.19 Die Tatsache, dass im vorliegenden Fall die Abholung des Schlamms aufgrund einer Havarie der Kleinkläranlage des Klägers erfolgt sei, ändere an dem Anschluss des Veranlagungsgrundstücks an die öffentliche - dezentrale - Abwasserbeseitigung nichts. Das Verwaltungsgericht sei im Anschluss an den Vortrag des Klägers zu Unrecht davon ausgegangen, dass es sich bei der Schlammentsorgung am 23.12.2016 um ein einmaliges Ereignis gehandelt habe und eine Schlammentsorgung in Zukunft nicht mehr notwendig sein werde. Denn es könne zum einen nicht ausgeschlossen werden, dass ein erneuter Defekt der Kleinkläranlage eine Abfuhr von Klärschlamm erforderlich mache, zum anderen gehe die wasserrechtliche Erlaubnis vom 18.05.2009 in Ziffer 2.1.4 der Nebenbestimmungen ausdrücklich davon aus, dass für einen ordnungsgemäßen Betrieb dieser Anlage eine regelmäßige, bedarfsgerechte Schlammentsorgung geboten sei. Im Übrigen gebe es keine Kleinkläranlage - gleich welcher Größenordnung -, bei der kein Schlamm anfalle. Sowohl die rechtlichen Vorgaben aus der wasserrechtlichen Erlaubnis als auch die Technik der Kleinkläranlage verlangten eine regelmäßige Schlammentsorgung, sei es nun jährlich, zweijährlich oder zehnjährlich.20 Die Beklagte beantragt,21 das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 12.04.2019 - 4 K 5729/17 - zu ändern und die Klage abzuweisen.22 Der Kläger beantragt,23 die Berufung zurückzuweisen.24 Er verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts und verweist auf sein bisheriges Vorbringen. Darüber hinaus trägt er vor: Zutreffend sei zwar die Behauptung der Beklagten, das Veranlagungsgrundstück sei von der Familie seines Sohnes bewohnt worden. Hierauf komme es jedoch nicht entscheidungserheblich an. Unter dem 03.06.2019 sei ihm vom Landratsamt Ravensburg erneut eine wasserrechtliche Erlaubnis erteilt worden, die berücksichtige, dass zu keinem Zeitpunkt Abwasser aus der Kleinkläranlage über eine Rohrleitung in den Vorfluter eingeleitet worden sei. Das Landratsamt habe deshalb das, was seit Anbeginn der Anlage die Regel gewesen sei, bestätigt, indem die Erlaubnis erteilt worden sei, das gereinigte Abwasser über eine Mulde versickern zu lassen. Die Kleinkläranlage sei zweimal im Jahr von einer Wartungsfirma und einmal jährlich vom Landratsamt Ravensburg überprüft worden, wobei es keine Beanstandungen gegeben habe. Eine Schlammentsorgung sei seit dem einmaligen Ereignis am 23.12.2016 nicht mehr erforderlich gewesen. Die Behauptung der Beklagten, die Technik der Kleinkläranlage verlange eine regelmäßige Schlammentsorgung, sei deshalb unzutreffend. Im Übrigen regele die wasserrechtliche Erlaubnis nicht, wie der Schlamm zu entsorgen sei. Werde er, wie in seinem Fall, durch Mikroben vernichtet, dann sei dies auch eine zulässige Art der Schlammentsorgung. Ungeachtet dessen könne von einer regelmäßigen Schlammentsorgung nicht gesprochen werden, wenn tatsächlich nur alle zehn Jahre einmal ein Kubikmeter Schlamm entsorgt werden müsse. Auch die Argumentation der Beklagten, die dezentrale Abwasserbeseitigung werde „anrücken“, wenn sie angefordert werde, weshalb ihm ein nicht nur vorübergehender Vorteil geboten werde, sei vor diesem Hintergrund nicht überzeugend.25 Die Beklagte hat hierauf erwidert, auch aus der nunmehr vom Kläger vorgelegten wasserrechtlichen Erlaubnis vom 03.06.2019 (Ziffer 2.1.3 der Nebenbestimmungen) ergebe sich, dass für einen ordnungsgemäßen Betrieb der Anlage eine bedarfsgerechte Schlammentsorgung geboten sei und der in der Belebungsanlage anfallende Schlamm bei Bedarf durch sie - die Beklagte - im Rahmen ihrer Entsorgungssatzung entnehmen zu lassen sei.26 Auf Anforderung des Senats hat das Landratsamt Ravensburg, Sachgebiet Abwasser, mit Schreiben vom 14.04.2020 eine fachliche Stellungnahme abgegeben.27 Dem Senat liegen die Akten der Beklagten und des Landratsamtes Ravensburg sowie die Gerichtsakte des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird hierauf sowie auf die gewechselten Schriftsätze und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 30.09.2020 verwiesen.
Entscheidungsgründe
28 Die nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist begründet.29 Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Denn der Abwasserteilbeitragsbescheid der Beklagten vom 25.01.2017 in der Fassung ihres Bescheides vom 31.01.2017 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamtes Ravensburg vom 22.06.2017 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).30 Rechtsgrundlage für die Festsetzung des Abwasserteilbeitrags gegenüber dem Kläger ist die Satzung der Beklagten über die öffentliche Abwasserbeseitigung (Abwassersatzung - AbwS) vom 24.10.2005 in der Fassung vom 21.12.2015. Ermächtigungsgrundlage hierfür sind die § 2 Abs. 1, § 20 Abs. 1 und §§ 29 ff. KAG.31 1. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Beitragsschuld des Klägers auf der Grundlage der Abwassersatzung entstanden. Bedenken gegen die Wirksamkeit dieser Satzung bestehen nicht.32 a) Die Beklagte betreibt nach § 1 Abs. 1 AbwS die Beseitigung des in ihrem Gebiet angefallenen Abwassers als eine öffentliche Einrichtung (öffentliche Abwasserbeseitigung). Als angefallen gilt nach § 1 Abs. 2 AbwS das Abwasser, das über eine Grundstücksentwässerungsanlage in die öffentliche Abwasseranlage eingeleitet wird (zentrale Abwasserbeseitigung), in Kleinkläranlagen und geschlossenen Gruben gesammelt wird (dezentrale Abwasserbeseitigung) oder zu einer öffentlichen Abwasserbehandlungsanlage gebracht (angeliefert) wird.33 Die dezentrale Abwasserbeseitigung umfasst nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AbwS die - hier am 23.12.2016 erfolgte - Abfuhr und Beseitigung des Schlamms aus Kleinkläranlagen. § 3 Abs. 1 Satz 1 AbwS regelt die Berechtigung und Verpflichtung der Eigentümer von Grundstücken, auf denen Abwasser anfällt, ihre Grundstücke an die öffentlichen Abwasseranlagen anzuschließen, diese zu benutzen und das gesamte auf den Grundstücken anfallende Abwasser der Beklagten zu überlassen.34 Nach § 22 Satz 1 AbwS erhebt die Beklagte zur teilweisen Deckung ihres Aufwands für die Anschaffung, Herstellung und den Ausbau der öffentlichen Abwasseranlagen einen Abwasserbeitrag. Dieser wird in Teilbeiträgen für den öffentlichen Abwasserkanal und für den mechanischen und biologischen Teil des Klärwerks erhoben (§ 22 Satz 2 i.V.m. § 33 AbwS; § 29 Abs. 1 KAG). Der Beitragssatz beläuft sich nach § 33 AbwS für den öffentlichen Abwasserkanal auf 3,43 EUR je m² Nutzungsfläche und für den mechanischen und biologischen Teil des Klärwerks auf 1,90 EUR je m² Nutzungsfläche. Die Nutzungsfläche ergibt sich nach § 25 AbwS durch eine Multiplikation der Grundstücksfläche (§ 26 AbwS) mit einem Nutzungsfaktor, der sich gemäß § 27 AbwS nach der Geschosszahl bestimmt.35 Der Beitragspflicht unterliegen nach § 23 Abs. 1 AbwS Grundstücke, für die eine bauliche oder gewerbliche Nutzung festgesetzt ist, wenn sie bebaut oder gewerblich genutzt werden können (Satz 1). Erschlossene Grundstücke, für die eine bauliche oder gewerbliche Nutzung nicht festgesetzt ist, unterliegen der Beitragspflicht, wenn sie nach der Verkehrsauffassung Bauland sind und nach der geordneten baulichen Entwicklung der Stadt zur Bebauung anstehen (Satz 2). Wird ein Grundstück an die öffentlichen Abwasseranlagen tatsächlich angeschlossen, so unterliegt es nach § 23 Abs. 2 AbwS der Beitragspflicht auch dann, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllt sind. Bei der dezentralen Abwasserbeseitigung entsteht die Beitragsschuld nach § 34 Abs. 2 AbwS in den Fällen des § 23 Abs. 2 AbwS mit dem Anschluss an die dezentrale Abwasserbeseitigung.36 b) Nach diesen Maßgaben ist das Veranlagungsgrundstück beitragspflichtig und die Beitragsschuld ist mit der erstmaligen Schlammabfuhr und -beseitigung am 23.12.2016 entstanden. Entgegen der Auffassung des Klägers ist mit den angegriffenen Bescheiden keine Nachveranlagung, sondern eine erstmalige Beitragserhebung erfolgt.37 Zwar sind die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 AbwS hier - unstreitig - nicht gegeben, da das Veranlagungsgrundstück baurechtlich im Außenbereich (§ 35 BauGB) liegt. Für das Veranlagungsgrundstück ist damit keine bauliche oder gewerbliche Nutzung im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 AbwS festgesetzt. Außenbereichsgrundstücke fallen auch nicht unter § 23 Abs. 1 Satz 2 AbwS, da sie gemäß § 35 BauGB nur ausnahmsweise bebaut werden dürfen und sie damit weder „nach der Verkehrsauffassung Bauland“ sind noch in Bezug auf diese Grundstücke davon die Rede sein kann, dass sie „nach der geordneten baulichen Entwicklung (...) zur Bebauung anstehen“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.02.1986 - 8 C 115.84 - juris Rn. 15). Eine Ausnahme hiervon gilt auch nicht für diejenigen Grundstücke im Außenbereich, die bebaut sind oder gewerblich genutzt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.02.1986, aaO juris Rn. 16). Denn § 23 Abs. 1 AbwS stellt nicht auf das Vorhandensein einer Bebauung, sondern auf die Baulandeigenschaft bzw. die geordnete bauliche Entwicklung ab. An dieser fehlt es einem im Außenbereich gelegenen Grundstück auch dann, wenn sich auf diesem eine nach Maßgabe des § 35 BauGB ausnahmsweise zulässige Bebauung befindet (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.08.2009 - 2 S 2337/08 - juris Rn. 5).38 Die Beitragsplicht des Veranlagungsgrundstücks ergibt sich allerdings aus § 23 Abs. 2 AbwS, da das Grundstück mit der erstmaligen Schlammabfuhr und -beseitigung am 23.12.2016 im Sinne dieser Vorschrift an die öffentlichen Abwasseranlagen tatsächlich angeschlossen worden ist. Mit diesem Anschluss an die dezentrale Abwasserbeseitigung ist die Beitragsschuld nach § 34 Abs. 2 AbwS entstanden.39 § 23 Abs. 2 AbwS trägt der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg Rechnung, wonach bei Grundstücken, die - wie das Veranlagungsgrundstück - im Außenbereich liegen, selbst wenn sie bebaut sind, die bloße Möglichkeit des Anschlusses an die öffentliche Einrichtung keinen die Erhebung eines Anschlussbeitrags nach § 20 Abs. 1 Satz 1 KAG rechtfertigenden Vorteil bietet, weshalb diese Grundstücke der Beitragspflicht nur dann unterliegen können, wenn sie tatsächlich an die öffentliche Einrichtung angeschlossen sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012 - 2 S 2231/11 - juris Rn. 38, Beschluss vom 04.11.2009 - 2 S 1396/09 - juris Rn. 7 ff.; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.04.2005 - 15 A 2667/02 - juris Rn. 28; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.02.2005 - 8 A 11150/04 - juris Rn. 22; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 23.07.2003 - 1 M 87/03 - juris Rn. 21; zum niedersächsischen Landesrecht Blomenkamp in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 1032).40 Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 KAG können die Gemeinden zur teilweisen Deckung der Kosten für die Anschaffung, die Herstellung und den Ausbau öffentlicher Einrichtungen Anschlussbeiträge von den Grundstückseigentümern erheben, denen durch die Möglichkeit des Anschlusses ihres Grundstücks an die Einrichtung „nicht nur vorübergehende Vorteile“ geboten werden. Das Kommunalabgabengesetz definiert den Begriff des Vorteils nicht, sondern setzt ihn voraus. Der beitragsrechtliche Vorteil muss ein wirtschaftlicher, nicht nur ideeller Vorteil sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.10.1978 - 2 BvR 154/74 - BVerfGE 49, 343, juris Rn. 41; Beschluss vom 04.02.1958 - 2 BvL 31/56, 2 BvL 33/56 - BVerfGE 7, 244, juris Rn. 26; Driehaus, ZMR 1996, 462 <464>; Driehaus in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 533). Da die Beitragserhebung grundstücksbezogen erfolgt, ist der Vorteil grundstücksbezogen im Sinne eines Gebrauchsvorteils zu verstehen, mit dem in der Regel eine Erhöhung des Gebrauchs- und Nutzungswertes eines Grundstücks und regelmäßig, aber nicht zwingend, eine Erhöhung des Verkehrswertes des Grundstücks einhergeht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006 - 2 S 705/04 - juris Rn. 27; Gössl, Abwasserbeitrag und Wasserversorgungsbeitrag nach dem KAG Baden-Württemberg, Abschnitt II.2.1; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 31 Ziff. 1.3.2; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 20 Rn. 8; Driehaus in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 533 f.).41 Die Schaffung von Abwasserbeseitigungsanlagen durch die Gemeinden ist mit Gebrauchsvorteilen verbunden, die darin bestehen, dass das auf den Grundstücken anfallende Abwasser beseitigt wird. Diese Gebrauchsvorteile bewirken eine Verbesserung der Erschließungssituation und steigern durch eine bessere Nutzbarkeit den Gebrauchswert solcher Grundstücke, die auf eine Abwasserbeseitigung angewiesen sind. Der Anschlussvorteil ist also primär im Hinblick auf eine Verbesserung der Erschließungssituation zu beurteilen (vgl. zum Ganzen Dietzel in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 534) und hängt wesentlich von seiner baulichen Nutzbarkeit, insbesondere von der Grundstücksgröße und dem Maß der zulässigen baulichen Nutzung ab (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.08.1982 - 8 C 182.81 - juris Rn. 20; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 32; Beschluss vom 18.08.2009, aaO juris Rn. 13; Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 27; Gössl, Abwasserbeitrag und Wasserversorgungsbeitrag nach dem KAG Baden-Württemberg, Abschnitt II.2.1; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 31 Ziff. 1.3.2). Baulich nutzbar ist ein Grundstück nach den §§ 30 ff. BauGB, wenn seine Erschließung gesichert ist, wozu auch die Abwasserbeseitigung gehört.42 Da Grundstücke im Außenbereich grundsätzlich nicht bebaut werden dürfen, bedeutet bei diesen die bloße Möglichkeit des Anschlusses keinen die Erhebung eines Anschlussbeitrags rechtfertigenden (Gebrauchs-)Vorteil. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 38, Beschluss vom 04.11.2009 - 2 S 1396/09 - juris Rn. 7 ff.) unterliegen diese Grundstücke der Beitragspflicht deshalb nur, wenn sie tatsächlich an die öffentliche Einrichtung angeschlossen sind. Dies gilt auch für bebaute Außenbereichsgrundstücke; denn auch diese sind kein Bauland (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.02.1986, aaO juris Rn. 15 f.), weshalb die Anschlussmöglichkeit bei ihnen mit dem Risiko behaftet ist, dass die vorhandene Baulichkeit vor der Anschlussnahme zerstört und das Grundstück dann nicht - auch nicht im Rahmen der erleichterten Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 BauGB - erneut bebaut werden darf (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 38, Beschluss vom 04.11.2009, aaO juris Rn. 7 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 23.07.2003, aaO juris Rn. 21).43 Soweit der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Beschluss vom 04.11.2009 (aaO juris Rn. 7 ff.) entschieden hat, der die Beitragserhebung rechtfertigende Vorteil bestehe bei Grundstücken im Außenbereich - selbst wenn sie bebaut sind, anders als bei Innenbereichsgrundstücken - nicht in einer Erhöhung des Gebrauchs- und Nutzungswertes des Grundstücks, sondern in der Inanspruchnahme der Einrichtung selbst, hält der Senat an dieser Auffassung nicht mehr fest. Denn ein Abstellen auf die Inanspruchnahme der Einrichtung verliert die erforderliche Grundstücksbezogenheit des Vorteils aus dem Blick. Ein grundstücksbezogener wirtschaftlicher Vorteil im Sinne eines dem Grundstück unter Erschließungsgesichtspunkten zukommenden Gebrauchsvorteils und eines daraus folgenden Gebrauchs- und Nutzungswertes kommt insbesondere auch Außenbereichsgrundstücken zu, die bebaut sind oder für die zumindest eine Baugenehmigung erteilt ist. Denn in diesen Fällen sichert der Anschluss die auch nach § 35 BauGB erforderliche Erschließung. Auch unbebauten Außenbereichsgrundstücken kann ein Gebrauchs- und Nutzungsvorteil zukommen, wenn der Anschluss für diese Grundstücke nützlich ist (etwa im Fall des Anschlusses landwirtschaftlicher Grundstücke an die Wasserversorgung). Dies ist im Fall eines tatsächlichen Anschlusses an die öffentliche Einrichtung zu vermuten (vgl. Dietzel in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 552; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 32 Ziff. 1.5).44 Der tatsächliche Anschluss an die öffentliche Abwasserbeseitigungseinrichtung setzt das Vorhandensein einer betriebsfertigen, auf Dauer angelegten Verbindung des Grundstücks mit der öffentlichen Einrichtung voraus (vgl. Dietzel in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 535; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 32 Ziff. 1.2.1, Ziff. 1.5). Das Erfordernis der Dauerhaftigkeit der Verbindung ergibt sich aus § 20 Abs. 1 Satz 1 KAG, der zu einer Beitragserhebung nur ermächtigt, wenn „nicht nur vorübergehende“ Vorteile geboten werden.45 Bei Außenbereichsgrundstücken, die an die zentrale Abwasserbeseitigung angeschlossen sind, ist die für einen tatsächlichen Anschluss erforderliche dauerhafte Verbindung mit der öffentlichen Einrichtung gegeben, wenn das Grundstück durch Leitungen mit dieser verbunden ist. Bei der dezentralen, d.h. nicht leitungsgebundenen Abwasserbeseitigung ist von einem die sachliche Beitragspflicht begründenden tatsächlichen Anschluss auszugehen, wenn tatsächlich eine Abwasser-/Schlammabfuhr durch Spezialfahrzeuge (sog. rollender Kanal) stattfindet, das Abwasser bzw. der Schlamm in die öffentliche Kläranlage eingebracht wird und dies auch in Zukunft regelmäßig zu erwarten ist (vgl. Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 2 Rn. 8; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 32 Ziff. 1.2.1; Gössl, Abwasserbeitrag und Wasserversorgungsbeitrag nach dem KAG Baden-Württemberg, Abschnitt II.5.2.1.2).46 Diese Erwartung ist bei einer notwendigen regelmäßigen Abwasser-/Schlammentsorgung selbst dann begründet, wenn sie nicht dem Willen des Grundstückseigentümers entspricht, jedoch - wie hier in § 3 Abs. 1 AbwS (vgl. auch Ziff. 2.1.4 Satz 2 der Nebenbestimmungen zur wasserrechtlichen Erlaubnis vom 18.05.2009) - satzungsrechtlich ein Anschluss- und Benutzungszwang geregelt ist (vgl. Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 32 Rn. 1.5). Der beitragsrechtliche Vorteil besteht in diesem Fall in dem Gebrauchsvorteil, der sich aus der tatsächlichen und in Zukunft möglichen Inanspruchnahme der öffentlichen Abwasserbeseitigung ergibt.47 Von der zu erwartenden regelmäßigen Entsorgung des auf dem Grundstück anfallenden Abwassers ist nach dem Sinn und Zweck der Beitragserhebung - dem Ausgleich von nicht nur vorübergehenden Gebrauchs- und Nutzungsvorteilen - nicht nur dann auszugehen, wenn eine Entsorgung in gleichmäßigen zeitlichen Abständen oder sogar zu bestimmten Terminen erfolgt. Vielmehr ist grundsätzlich auch der Fall der bedarfsgerechten Schlammentsorgung erfasst, bei dem die Abfuhr flexibel nach Bedarf in kleineren oder größeren Zeitabständen erfolgt. Dabei bedarf es hier keiner Entscheidung der Frage, wann Zeitabstände einer erforderlichen Entsorgung so lang sind, dass von einer regelmäßigen Abwasser-/Schlammabfuhr nicht mehr ausgegangen werden kann. Denn ein solcher Fall ist hier jedenfalls nicht gegeben.48 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist nicht davon auszugehen, dass es sich bei der Schlammentsorgung am 23.12.2016 um ein einmaliges Ereignis handelte. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht dieser Annahme zugrunde gelegt, dass die streitgegenständliche Kleinkläranlage bereits seit 2009 in Betrieb sei. Tatsächlich erfolgte die Inbetriebnahme ausweislich des in den beigezogenen Akten befindlichen Montage- und Inbetriebnahmeprotokolls erst am 19.08.2013.49 Auch vor dem Hintergrund, dass seit diesem Zeitpunkt bis zur Schlammabfuhr am 23.12.2016 und seit diesem Datum bis heute keine weitere Schlammabfuhr stattgefunden hat, vermag sich der Senat nicht der Würdigung des Verwaltungsgerichts und dem Vortrag des Klägers anzuschließen, wonach es sich bei der Schlammentsorgung am 23.12.2016 um ein einmaliges Ereignis aufgrund einer Havarie gehandelt habe und im Regelbetrieb der Kleinkläranlage keine Entsorgung von Schlamm vorzunehmen sei. Vielmehr ergibt sich aus den Unterlagen, die der Senat bei der Firma ... Abwassertechnik e.K. angefordert hat, die die streitgegenständliche Anlage geliefert hat, dass auch der ordnungsgemäße Betrieb dieser Anlage eine Schlammentsorgung in mehr oder weniger langen Zeitabständen erfordert. So heißt es in der bauaufsichtlichen Zulassung dieser Kleinkläranlage (S. 7), bei der mindestens zweimal jährlich von einem Fachbetrieb durchzuführenden Wartung sei die Schlammhöhe in der Vorklärung bzw. im Schlammspeicher zu prüfen. Gegebenenfalls sei eine Schlammabfuhr durch den Betreiber zu veranlassen. Für einen ordnungsgemäßen Betrieb der Kleinkläranlage sei eine bedarfsgerechte Schlammentsorgung geboten. Diese sei spätestens bei 70 % Füllung des Schlammspeichers mit Schlamm zu veranlassen.50 In dem Betriebsbuch für die betreffende Kleinkläranlage heißt es zur Schlammentleerung auf Seite 28, in einer Kleinkläranlage gebe es verschiedene Arten von Schlamm. Abgefahren werde nur der Fäkalschlamm, der sich in der ersten Kammer sammele. Er bestehe aus sedimentierten Rückständen der Abwasserreinigung. Bei Kleinkläranlagen setze sich der Fäkalschlamm bzw. Klärschlamm aus abgestorbenen Mikroorganismen der biologischen Reinigungsstufe und den abgesetzten Feststoffen aus der Vorreinigung zusammen. Die Höhe des angesammelten Schlamms im Schlammspeicher werde vom Wartungsfachmann im Rahmen der Wartung mithilfe eines Schlammpegelmessgerätes bestimmt. Die Anlage sei so konzipiert, dass der Schlammspeicherraum bei permanentem Volllastbetrieb und Einhaltung der Betreiber- und Wartungspflichten für mindestens zwölf Monate ausreiche. Bei geringerer Belastung verlängere sich dieser Zeitraum entsprechend. Eine rechtzeitige Schlammentsorgung sei notwendig, um bei zunehmendem Schlammanfall das Überlaufen der Feststoffe in die biologische Stufe zu verhindern. Schlammregulierung und -entsorgung seien wichtige Voraussetzungen für eine gute Reinigungsleistung und eine lange Lebensdauer der Kleinkläranlage. Spätestens bei 70 % Füllung des Schlammspeichers sei eine Schlammentsorgung durchzuführen. Im Regelfall müsse nur die Vorklärkammer der Kleinkläranlage entleert werden. Bei fehlerhafter Schlammregulierung der Anlage könne auch das Absaugen des unteren Teilbereichs der SBR-Kammer oder das oberflächliche Abpumpen von Schwimmschlamm notwendig sein.51 Das Erfordernis einer nutzungsabhängigen Schlammentsorgung ergibt sich auch aus der vom Senat eingeholten fachlichen Stellungnahme des Landratsamtes Ravensburg, Sachgebiet Abwasser, vom 14.04.2020. Danach müsse bei Anlagen mit mechanischer Vorbehandlung zur Sicherstellung der Reinigungsleistung in der biologischen Reinigungsstufe eine ausreichende Feststoffrückhaltung in der Vorbehandlung erfolgen. Sie werde durch einen ordnungsgemäßen Betrieb und eine bedarfsgerechte Schlammentsorgung sichergestellt. Diese erfolge auf der Grundlage der im Rahmen der Wartung festgestellten Schlammspiegelmessung. Eine Schlammentnahme müsse nach Feststellung von 50 % Füllung des Gesamtnutzvolumens mit Schlamm (Boden- und Schwimmschlamm) erfolgen (DWA Regelwerk Arbeitsblatt DWA-A 221 vom Dezember 2019). In der wasserrechtlichen Erlaubnis werde eine bedarfsgerechte Entsorgung des Schlamms angeordnet, da das häusliche Abwasser in seiner biologischen Zusammensetzung sehr stark variieren könne und auch die Anzahl der angeschlossenen Einwohner als wesentlicher Faktor zum Schlammaufkommen bei der Abwasserreinigung beitrage. Da der Standort hier relativ gering genutzt werde, sei es plausibel, dass bei der streitgegenständlichen Anlage ein sehr niedriger Schlammanfall vorliege. Aus diesem Grund sei in der wasserrechtlichen Erlaubnis die Schlammentsorgung nach Bedarf gefordert worden. Eine verbindliche Aussage darüber, in welchen Abständen der in der streitgegenständlichen Anlage entstehende Schlamm entsorgt werden müsse, könne nicht abgegeben werden, da die hierfür relevanten, oben genannten Faktoren zu stark variieren könnten. Auch eine pauschale Einschätzung, ob nach einem Defekt an der Kleinkläranlage eine Schlammentsorgung nötig wäre, könne nicht abgegeben werden, da dies von der Art des Defektes abhängig sei.52 Soweit der Kläger sich auf den nur geringen Abwasser- bzw. Schlammanfall auf dem Veranlagungsgrundstück beruft und insoweit einwendet, das Grundstück werde nur unregelmäßig zu Freizeitzwecken genutzt, vermag er die Erforderlichkeit einer regelmäßigen Schlammentsorgung nicht in Frage zu stellen. Die Beklagte hat diesen Einwand widerlegt, indem sie vorgetragen hat, das Veranlagungsgrundstück sei bis Mitte des Jahres 2018 - also auch im Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Bescheide und des Widerspruchsbescheides - von der Familie eines Sohnes des Klägers bewohnt gewesen, die dort auch gemeldet gewesen sei. Dies hat der Kläger im Berufungsverfahren auch eingeräumt.53 Ungeachtet dessen hat der Kläger mit seinem Einwand, das Veranlagungsgrundstück werde nur unregelmäßig genutzt, weshalb nur eine geringe Menge Schlamm anfalle, nicht die generelle, den vorliegenden Unterlagen und der Stellungnahme des Landratsamtes zu entnehmende Aussage in Frage gestellt, dass eine Schlammentsorgung beim Betrieb der Kleinkläranlage grundsätzlich erforderlich ist. Auch ist der Einwand deshalb unbeachtlich, weil es für die Erhebung von Anschlussbeiträgen - anders als für Benutzungsgebühren - nicht auf den Umfang der tatsächlichen Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung im konkreten Fall, sondern nur auf die objektiv mögliche Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung ankommt (vgl. § 20 Abs. 1 KAG; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 32 ff.; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 30 Ziff. 2.5.2; Grünewald in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 541; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 31 Rn. 1). Hintergrund ist, dass sich die Intensität der tatsächlichen Nutzung des Grundstücks und der dadurch bedingte Abwasseranfall im Lauf der Zeit ändern können, ohne dass - wegen des Grundsatzes der Einmaligkeit der Beitragserhebung - entsprechende Beiträge nachveranlagt werden können. Eine Ermittlung und ständige Überwachung der konkreten Nutzung aller beitragspflichtigen Grundstücke wäre im Übrigen auch nicht mit vertretbarem Verwaltungsaufwand durchführbar (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 34; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 2 Rn. 1).54 Im Fall des Klägers kommt es deshalb nicht auf die (derzeitige) tatsächliche Nutzung des Veranlagungsgrundstückes an, sondern allein darauf, wie dieses in zulässiger Weise genutzt werden könnte (vgl. Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 20 Rn. 1; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 31 Ziff. 1.3.1). Genehmigt ist hier eine gewerbliche Nutzung mit Büro und Betriebsleiterwohnung; nach der erteilten wasserrechtlichen Genehmigung darf die Kleinkläranlage im Rahmen ihrer Ausbaugröße (6 EW) durch maximal sechs Personen genutzt werden. Für diese maximale Auslastung durch sechs Personen ergibt sich aus dem Betriebsbuch der Anlage, dass der Schlammspeicherraum bei permanentem Volllastbetrieb und Einhaltung der Betreiber- und Wartungspflichten für „mindestens 12 Monate“ ausreicht. Eine maximale Zeitdauer bis zur notwendigen Schlammentsorgung lässt sich den Unterlagen nicht entnehmen. Nach Auffassung des Senats ergeben sich aber aus der angegebenen Mindestdauer hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass eine Entsorgung bei Vollauslastung der Anlage im Regelfall nach Ablauf von zwölf Monaten erforderlich wird. Dies ist für die Annahme einer regelmäßigen Schlammentsorgung ausreichend.55 Die Abwassersatzung regelt hier in zulässiger Weise auf der Rechtsgrundlage des § 29 Abs. 1 KAG, dass der Abwasserbeitrag in Teilbeiträgen für den öffentlichen Abwasserkanal und für den mechanischen und biologischen Teil des Klärwerks erhoben wird, wobei für jeden dieser Einrichtungsteile ein gesonderter Teilbeitragssatz festgesetzt wird (§ 22 Satz 2 i.V.m. § 33 AbwS). Grundstücke, bei denen das Abwasser, wie im vorliegenden Fall, dezentral beseitigt wird, sind zwar nicht an den Abwasserkanal, jedoch an das Klärwerk „angeschlossen“, so dass für sie nur der Teilbeitrag für das Klärwerk erhoben werden kann. Dies hat die Beklagte im angegriffenen Bescheid auch beachtet und insoweit dem in § 31 Abs. 1 Satz 1 KAG normierten Grundsatz der Bemessung des Beitrags nach den Vorteilen Rechnung getragen.56 Nach dem Grundsatz der vorteilsgerechten Bemessung von Beiträgen müssen die Beitragspflichtigen im Verhältnis der ihnen durch die öffentliche Einrichtung zugewachsenen Vorteile belastet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Vorteile, die den beitragspflichtigen Grundstücken durch die beitragspflichtige Maßnahme zukommen, bei der Beitragsbemessung stets nur grob und unscharf abgebildet werden können (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 32). Ein Wirklichkeitsmaßstab scheidet regelmäßig aus, weil die erforderlichen technischen und wirtschaftlichen Berechnungsfaktoren für eine genaue Ermittlung des Vorteils des Anschlussnehmers fehlen bzw. nur mit einem unverhältnismäßig hohen Kosten- und Verwaltungsaufwand bestimmt werden können (vgl. Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 31 Rn. 1; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 31 Ziff. 2.1). Es ist daher - insbesondere bei den Beiträgen für Einrichtungen der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung - zulässig, anstelle des Wirklichkeitsmaßstabes einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu wählen, bei dem der Umfang des Vorteils vereinfachend nach der Wahrscheinlichkeit unabhängig vom Einzelfall ermittelt wird. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss aber einen ungefähren Anhalt für den Vorteil bieten. Verlangt wird nicht eine Gerechtigkeit im Einzelfall, sondern nur eine Typengerechtigkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.08.2011 - 9 BN 2.11 - juris Rn. 4, Beschluss vom 30.04.2009 - 9 B 60.08 - juris Rn. 4; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 31 Rn. 1).57 Der für die Beitragserhebung maßgebliche Vorteil orientiert sich, wie bereits dargelegt wurde, daran, welcher Gebrauchsvorteil dem Grundstück durch die Möglichkeit, die öffentliche Einrichtung in Anspruch zu nehmen, gewährt wird bzw. wie stark der Gebrauchs- und Nutzungswert des Grundstücks durch die Möglichkeit, die öffentliche Einrichtung in Anspruch zu nehmen, erhöht wird. Grundsätzlich nicht entscheidend ist deshalb der Umfang des Abwasseranfalls oder die Art und Weise der technischen Durchführung der Entsorgung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 28; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 30 Rn. 2.5.2). Unterschiedliche Entsorgungssituationen, insbesondere in Bezug auf die in die öffentliche Einrichtung eingebrachte Abwassermenge, die technische Durchführung der Entsorgung oder Leistungsunterschiede in Bezug auf die Abwasserableitung und -reinigung, führen nur dann zu einem beitragsrechtlich relevanten Mindervorteil, wenn davon auch die Erschließungssituation des Grundstücks und damit dessen Bebaubarkeit oder Benutzbarkeit negativ tangiert wird, wenn diese Unterschiede sich also nachteilig auf den dem Grundstück zukommenden Gebrauchsvorteil auswirken (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 27 f.; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 30 Rn. 2.5.2; Birk in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 668 ff.). Kann nicht die gesamte anfallende Abwassermenge öffentlich entsorgt werden, stellt dies somit dann keinen relevanten Mindervorteil dar, wenn gleichwohl eine ausreichende bauliche Erschließung gegeben ist bzw. wenn dies keine Auswirkungen auf die Nutzbarkeit des Grundstücks hat.58 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg führt deshalb der Umstand, dass nur das Schmutzwasser, nicht aber auch das Niederschlagswasser durch eine öffentliche Einrichtung entsorgt wird, nur dann zu einem Mindervorteil, dem durch eine Beschränkung des einheitlichen Beitragssatzes Rechnung zu tragen ist, wenn sich dadurch Auswirkungen auf die Erschließung des Grundstücks und damit auf dessen Bebaubarkeit oder Nutzbarkeit ergeben (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 27). Bei einem - wie im vorliegenden Fall - im Außenbereich gelegenen Grundstück ist dies nicht der Fall (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 41; Beschluss vom 18.08.2009, aaO juris Rn. 14; Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 28). Denn bei Außenbereichsgrundstücken kann das anfallende Niederschlagswasser in der Regel ohne größere Aufwendungen durch Versickern oder Einleiten in einen Vorfluter in wasserwirtschaftlich einwandfreier Weise beseitigt werden (Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 30 Ziff. 2.5.2).59 Der Grundsatz der vorteilsgerechten Bemessung von Beiträgen erfordert somit für das Veranlagungsgrundstück auch nicht deshalb eine Reduzierung des für den mechanischen und biologischen Teil des Klärwerks festgesetzten Beitragssatzes, weil zwischen der dezentralen Entsorgung von Schlamm aus Kleinkläranlagen einerseits und der dezentralen Entsorgung von Abwasser aus geschlossenen Gruben oder der zentralen leitungsgebundenen Entsorgung andererseits Unterschiede bestehen (etwa in Bezug auf die Abwassermenge, die technische Durchführung der Entsorgung, die zu erbringende Reinigungsleistung oder die Entsorgung von Niederschlagswasser). Denn diese Unterschiede haben für das streitgegenständliche bebaute Außenbereichsgrundstück keine Auswirkungen auf die Erschließungssituation bzw. den dem Grundstück zukommenden Gebrauchsvorteil, weil jede dieser Entsorgungsarten eine ordnungsgemäße Abwasserbeseitigung gewährleistet. Entscheidend ist, dass in allen Fällen für die Zukunft die dauerhafte Möglichkeit der Inanspruchnahme der Einrichtung besteht und diese die Nutzbarkeit des Grundstücks gewährleistet.60 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts verletzt die Beitragserhebung im Fall des Klägers auch nicht das abgabenrechtliche Äquivalenzprinzip als Ausprägung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dieses Prinzip setzt dem Gesetzgeber nur sehr weite Grenzen. Es verlangt, dass die Höhe des Beitrags nicht außer Verhältnis zu dem Vorteil steht, den er abgelten soll, und dass einzelne Beitragspflichtige im Verhältnis zu anderen nicht übermäßig belastet werden (BVerwG, Urteil vom 29.05.2019 - 10 C 1.18 - juris Rn. 26 mwN; vgl. auch BVerwG, Urteile vom 25.08.1982 - 8 C 182.81 - juris Rn. 26, und vom 14.04.1967 - IV C 179.65 - BVerwGE 26, 305, juris Rn. 20 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24.07.2003 - 2 S 2700/01 - juris Rn. 48). Beides ist hier nicht der Fall.61 Eine Verletzung des Äquivalenzprinzips ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht deshalb gegeben, weil die Höhe des Beitrags die Kosten für die Abfuhr und Entsorgung des Schlamms und die hierfür festgesetzte Benutzungsgebühr um ein Vielfaches übersteigt. Denn die Benutzungsgebühr wird nicht wie der Beitrag als Gegenleistung für den durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme der öffentlichen Abwasserbeseitigungseinrichtung gebotenen Vorteil erhoben, sondern als Gegenleistung für die tatsächliche Inanspruchnahme der Anlage und damit für den tatsächlich gewährten Vorteil. Die Gebühr dient vor allem der Deckung der laufenden Kosten der Abwasserbeseitigungseinrichtung. Beiträge werden dagegen nicht zur Finanzierung der laufenden Kosten, sondern zur teilweisen Deckung des Aufwands für Anschaffung, Herstellung oder Ausbau der öffentlichen Einrichtung erhoben.62 2. Die Heranziehung des Klägers zum Abwasserteilbeitrag verletzt auch nicht den Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung. Dieser besagt zum einen, dass die sachliche Beitragspflicht für dieselbe öffentliche Einrichtung bzw. Teileinrichtung zu Lasten eines Grundstücks nur einmal entsteht. Ist sie entstanden, kann sie nach diesem Grundsatz nicht nachträglich zu einem anderen Zeitpunkt und in anderer Höhe noch einmal entstehen. Ferner schließt der Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung das Verbot der Doppelbelastung in dem Sinne ein, dass ein Grundstück für dieselbe öffentliche Einrichtung bzw. Teileinrichtung grundsätzlich nur einmal zu einem Beitrag herangezogen werden darf (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.01.1990 - 2 S 2767/89 - juris Rn. 3 f.; Urteil vom 29.3.1989 - 2 S 43/87 - VBlBW 1989, 345). Der Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung ist somit verletzt, wenn auf denselben Vorteil bezogen bereits zuvor ein endgültiger Beitragsbescheid erlassen wurde (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.08.2015 - 2 S 2301/14 - juris Rn. 36; Urteil vom 12.11.2009 - 2 S 434/07 - juris Rn. 56; Beschluss vom 18.08.2009, aaO juris Rn. 10; Gössl, Abwasserbeitrag und Wasserversorgungsbeitrag nach dem KAG Baden-Württemberg, Abschnitt II.2.5; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 2 Rn. 18).63 Ausgehend hiervon verstößt die Heranziehung des Klägers nicht gegen den Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung. Die sachliche Beitragspflicht ist hier erst mit der Schlammabfuhr am 23.12.2016 entstanden. Soweit der Kläger schriftsätzlich vorgetragen hat, der Schlamm sei nach Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters der vormaligen Eigentümerin des Veranlagungsgrundstücks schon vorher beim Betrieb der alten 3-Kammer-Grube regelmäßig abgefahren worden und die Beitragspflicht deshalb schon früher entstanden, ist dem nicht zu folgen. Der Kläger selbst hat hieran in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht mehr festgehalten. Zwar spricht viel dafür, dass eine Entsorgung des in der abflusslosen Grube seit Beginn ihrer Nutzung angefallenen Abwassers tatsächlich erfolgt ist, da die Grube sonst übergelaufen wäre. Der Senat hält jedoch den Vortrag der Beklagten für überzeugend, dass diese Entsorgung privat organisiert war und eine Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung somit nicht stattgefunden hat. Auch der Senat hält es für ausgeschlossen, dass das Landratsamt Ravensburg die Anlage nach Ablauf der Geltungsdauer der der Rechtsvorgängerin des Klägers erteilten wasserrechtlichen Erlaubnis zum 31.12.2000 bis zur Neuerteilung der wasserrechtlichen Erlaubnis im Jahr 2009 kontrolliert und eine Entsorgung von Klärschlamms durch die Beklagte veranlasst hat. Nach dem Vortrag der Beklagten ist die Beseitigung des Schlamms aus Kleinkläranlagen erst seit dem 01.10.1996 Teil der öffentlichen Abwasserbeseitigung. Seit diesem Zeitpunkt gilt eine Anzeigepflicht für bestehende Kleinkläranlagen gegenüber der Beklagten. Eine Anzeige des Betriebs der vormaligen 3-Kammer-Grube ist bei der Beklagten jedoch nach ihrer Aussage und auch nach Aktenlage nicht erfolgt, weshalb nichts dafür spricht, dass eine öffentliche Entsorgung des Abwassers bzw. Schlamms aus dieser Anlage erfolgt sein könnte.64 Für das Veranlagungsgrundstück wurde mit den angegriffenen Bescheiden erstmals ein Abwasserteilbeitrag festgesetzt. Mit dem Bescheid des Landratsamtes Ravensburg vom 17.02.1971, auf den sich der Kläger beruft, wurde kein Abwasserbeitrag erhoben, sondern es wurden für die Erteilung einer wasserrechtlichen Erlaubnis und bau- und wasserrechtlichen Genehmigung Verwaltungsgebühren festgesetzt.65 3. Der Heranziehung des Klägers stehen auch weder der Eintritt der Festsetzungsverjährung noch die Verwirkung des Beitragsanspruchs entgegen; die Beitragserhebung verstößt auch nicht gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.66 Nach § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG i.V.m. § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO beträgt die Festsetzungsfrist vier Jahre. Sie beginnt gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG i.V.m. § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Abgabe entstanden ist, und endet im Fall der Ungültigkeit einer Satzung nicht vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntmachung einer neuen Satzung.67 Im Fall des Klägers ist die Beitragsschuld, wie oben dargelegt wurde, mit der erstmaligen Abfuhr und Beseitigung des Schlamms am 23.12.2016 entstanden (vgl. § 34 Abs. 2, § 23 Abs. 2 AbwS, § 32 Abs. 1 Satz 2 KAG). Die vierjährige Festsetzungsfrist war damit zum Zeitpunkt des circa einen Monat später erfolgten Erlasses des streitgegenständlichen Abwasserteilbeitragsbescheides vom 25.01.2017 noch nicht abgelaufen.68 Da die Vorteilslage und die Beitragsschuld erst mit der Schlammabfuhr am 23.12.2016 entstanden waren und der Kläger bereits mit Beitragsbescheid vom 25.01.2017 in Anspruch genommen wurde, kommt auch eine Verwirkung des Beitragsanspruchs ebenso wenig in Betracht wie der vom Kläger gerügte Verstoß gegen den Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (vgl. dazu grundlegend BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143; BVerwG, Beschluss vom 06.09.2018 - 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58; Beschluss vom 10.09.2019 - 9 B 40.18 - juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2018 - 2 S 1116/18 - juris; Urteil vom 12.07.2018 - 2 S 143/18 - juris Rn. 34 ff.)69 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.70 Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.71 Beschluss vom 30.09.202072 Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 7.552,50 EUR festgesetzt (§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG).73 Der Beschluss ist unanfechtbar.
Gründe
28 Die nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist begründet.29 Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Denn der Abwasserteilbeitragsbescheid der Beklagten vom 25.01.2017 in der Fassung ihres Bescheides vom 31.01.2017 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamtes Ravensburg vom 22.06.2017 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).30 Rechtsgrundlage für die Festsetzung des Abwasserteilbeitrags gegenüber dem Kläger ist die Satzung der Beklagten über die öffentliche Abwasserbeseitigung (Abwassersatzung - AbwS) vom 24.10.2005 in der Fassung vom 21.12.2015. Ermächtigungsgrundlage hierfür sind die § 2 Abs. 1, § 20 Abs. 1 und §§ 29 ff. KAG.31 1. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Beitragsschuld des Klägers auf der Grundlage der Abwassersatzung entstanden. Bedenken gegen die Wirksamkeit dieser Satzung bestehen nicht.32 a) Die Beklagte betreibt nach § 1 Abs. 1 AbwS die Beseitigung des in ihrem Gebiet angefallenen Abwassers als eine öffentliche Einrichtung (öffentliche Abwasserbeseitigung). Als angefallen gilt nach § 1 Abs. 2 AbwS das Abwasser, das über eine Grundstücksentwässerungsanlage in die öffentliche Abwasseranlage eingeleitet wird (zentrale Abwasserbeseitigung), in Kleinkläranlagen und geschlossenen Gruben gesammelt wird (dezentrale Abwasserbeseitigung) oder zu einer öffentlichen Abwasserbehandlungsanlage gebracht (angeliefert) wird.33 Die dezentrale Abwasserbeseitigung umfasst nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AbwS die - hier am 23.12.2016 erfolgte - Abfuhr und Beseitigung des Schlamms aus Kleinkläranlagen. § 3 Abs. 1 Satz 1 AbwS regelt die Berechtigung und Verpflichtung der Eigentümer von Grundstücken, auf denen Abwasser anfällt, ihre Grundstücke an die öffentlichen Abwasseranlagen anzuschließen, diese zu benutzen und das gesamte auf den Grundstücken anfallende Abwasser der Beklagten zu überlassen.34 Nach § 22 Satz 1 AbwS erhebt die Beklagte zur teilweisen Deckung ihres Aufwands für die Anschaffung, Herstellung und den Ausbau der öffentlichen Abwasseranlagen einen Abwasserbeitrag. Dieser wird in Teilbeiträgen für den öffentlichen Abwasserkanal und für den mechanischen und biologischen Teil des Klärwerks erhoben (§ 22 Satz 2 i.V.m. § 33 AbwS; § 29 Abs. 1 KAG). Der Beitragssatz beläuft sich nach § 33 AbwS für den öffentlichen Abwasserkanal auf 3,43 EUR je m² Nutzungsfläche und für den mechanischen und biologischen Teil des Klärwerks auf 1,90 EUR je m² Nutzungsfläche. Die Nutzungsfläche ergibt sich nach § 25 AbwS durch eine Multiplikation der Grundstücksfläche (§ 26 AbwS) mit einem Nutzungsfaktor, der sich gemäß § 27 AbwS nach der Geschosszahl bestimmt.35 Der Beitragspflicht unterliegen nach § 23 Abs. 1 AbwS Grundstücke, für die eine bauliche oder gewerbliche Nutzung festgesetzt ist, wenn sie bebaut oder gewerblich genutzt werden können (Satz 1). Erschlossene Grundstücke, für die eine bauliche oder gewerbliche Nutzung nicht festgesetzt ist, unterliegen der Beitragspflicht, wenn sie nach der Verkehrsauffassung Bauland sind und nach der geordneten baulichen Entwicklung der Stadt zur Bebauung anstehen (Satz 2). Wird ein Grundstück an die öffentlichen Abwasseranlagen tatsächlich angeschlossen, so unterliegt es nach § 23 Abs. 2 AbwS der Beitragspflicht auch dann, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllt sind. Bei der dezentralen Abwasserbeseitigung entsteht die Beitragsschuld nach § 34 Abs. 2 AbwS in den Fällen des § 23 Abs. 2 AbwS mit dem Anschluss an die dezentrale Abwasserbeseitigung.36 b) Nach diesen Maßgaben ist das Veranlagungsgrundstück beitragspflichtig und die Beitragsschuld ist mit der erstmaligen Schlammabfuhr und -beseitigung am 23.12.2016 entstanden. Entgegen der Auffassung des Klägers ist mit den angegriffenen Bescheiden keine Nachveranlagung, sondern eine erstmalige Beitragserhebung erfolgt.37 Zwar sind die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 AbwS hier - unstreitig - nicht gegeben, da das Veranlagungsgrundstück baurechtlich im Außenbereich (§ 35 BauGB) liegt. Für das Veranlagungsgrundstück ist damit keine bauliche oder gewerbliche Nutzung im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 AbwS festgesetzt. Außenbereichsgrundstücke fallen auch nicht unter § 23 Abs. 1 Satz 2 AbwS, da sie gemäß § 35 BauGB nur ausnahmsweise bebaut werden dürfen und sie damit weder „nach der Verkehrsauffassung Bauland“ sind noch in Bezug auf diese Grundstücke davon die Rede sein kann, dass sie „nach der geordneten baulichen Entwicklung (...) zur Bebauung anstehen“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.02.1986 - 8 C 115.84 - juris Rn. 15). Eine Ausnahme hiervon gilt auch nicht für diejenigen Grundstücke im Außenbereich, die bebaut sind oder gewerblich genutzt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.02.1986, aaO juris Rn. 16). Denn § 23 Abs. 1 AbwS stellt nicht auf das Vorhandensein einer Bebauung, sondern auf die Baulandeigenschaft bzw. die geordnete bauliche Entwicklung ab. An dieser fehlt es einem im Außenbereich gelegenen Grundstück auch dann, wenn sich auf diesem eine nach Maßgabe des § 35 BauGB ausnahmsweise zulässige Bebauung befindet (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.08.2009 - 2 S 2337/08 - juris Rn. 5).38 Die Beitragsplicht des Veranlagungsgrundstücks ergibt sich allerdings aus § 23 Abs. 2 AbwS, da das Grundstück mit der erstmaligen Schlammabfuhr und -beseitigung am 23.12.2016 im Sinne dieser Vorschrift an die öffentlichen Abwasseranlagen tatsächlich angeschlossen worden ist. Mit diesem Anschluss an die dezentrale Abwasserbeseitigung ist die Beitragsschuld nach § 34 Abs. 2 AbwS entstanden.39 § 23 Abs. 2 AbwS trägt der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg Rechnung, wonach bei Grundstücken, die - wie das Veranlagungsgrundstück - im Außenbereich liegen, selbst wenn sie bebaut sind, die bloße Möglichkeit des Anschlusses an die öffentliche Einrichtung keinen die Erhebung eines Anschlussbeitrags nach § 20 Abs. 1 Satz 1 KAG rechtfertigenden Vorteil bietet, weshalb diese Grundstücke der Beitragspflicht nur dann unterliegen können, wenn sie tatsächlich an die öffentliche Einrichtung angeschlossen sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012 - 2 S 2231/11 - juris Rn. 38, Beschluss vom 04.11.2009 - 2 S 1396/09 - juris Rn. 7 ff.; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.04.2005 - 15 A 2667/02 - juris Rn. 28; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02.02.2005 - 8 A 11150/04 - juris Rn. 22; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 23.07.2003 - 1 M 87/03 - juris Rn. 21; zum niedersächsischen Landesrecht Blomenkamp in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 1032).40 Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 KAG können die Gemeinden zur teilweisen Deckung der Kosten für die Anschaffung, die Herstellung und den Ausbau öffentlicher Einrichtungen Anschlussbeiträge von den Grundstückseigentümern erheben, denen durch die Möglichkeit des Anschlusses ihres Grundstücks an die Einrichtung „nicht nur vorübergehende Vorteile“ geboten werden. Das Kommunalabgabengesetz definiert den Begriff des Vorteils nicht, sondern setzt ihn voraus. Der beitragsrechtliche Vorteil muss ein wirtschaftlicher, nicht nur ideeller Vorteil sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.10.1978 - 2 BvR 154/74 - BVerfGE 49, 343, juris Rn. 41; Beschluss vom 04.02.1958 - 2 BvL 31/56, 2 BvL 33/56 - BVerfGE 7, 244, juris Rn. 26; Driehaus, ZMR 1996, 462 <464>; Driehaus in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 533). Da die Beitragserhebung grundstücksbezogen erfolgt, ist der Vorteil grundstücksbezogen im Sinne eines Gebrauchsvorteils zu verstehen, mit dem in der Regel eine Erhöhung des Gebrauchs- und Nutzungswertes eines Grundstücks und regelmäßig, aber nicht zwingend, eine Erhöhung des Verkehrswertes des Grundstücks einhergeht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006 - 2 S 705/04 - juris Rn. 27; Gössl, Abwasserbeitrag und Wasserversorgungsbeitrag nach dem KAG Baden-Württemberg, Abschnitt II.2.1; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 31 Ziff. 1.3.2; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 20 Rn. 8; Driehaus in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 533 f.).41 Die Schaffung von Abwasserbeseitigungsanlagen durch die Gemeinden ist mit Gebrauchsvorteilen verbunden, die darin bestehen, dass das auf den Grundstücken anfallende Abwasser beseitigt wird. Diese Gebrauchsvorteile bewirken eine Verbesserung der Erschließungssituation und steigern durch eine bessere Nutzbarkeit den Gebrauchswert solcher Grundstücke, die auf eine Abwasserbeseitigung angewiesen sind. Der Anschlussvorteil ist also primär im Hinblick auf eine Verbesserung der Erschließungssituation zu beurteilen (vgl. zum Ganzen Dietzel in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 534) und hängt wesentlich von seiner baulichen Nutzbarkeit, insbesondere von der Grundstücksgröße und dem Maß der zulässigen baulichen Nutzung ab (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.08.1982 - 8 C 182.81 - juris Rn. 20; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 32; Beschluss vom 18.08.2009, aaO juris Rn. 13; Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 27; Gössl, Abwasserbeitrag und Wasserversorgungsbeitrag nach dem KAG Baden-Württemberg, Abschnitt II.2.1; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 31 Ziff. 1.3.2). Baulich nutzbar ist ein Grundstück nach den §§ 30 ff. BauGB, wenn seine Erschließung gesichert ist, wozu auch die Abwasserbeseitigung gehört.42 Da Grundstücke im Außenbereich grundsätzlich nicht bebaut werden dürfen, bedeutet bei diesen die bloße Möglichkeit des Anschlusses keinen die Erhebung eines Anschlussbeitrags rechtfertigenden (Gebrauchs-)Vorteil. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 38, Beschluss vom 04.11.2009 - 2 S 1396/09 - juris Rn. 7 ff.) unterliegen diese Grundstücke der Beitragspflicht deshalb nur, wenn sie tatsächlich an die öffentliche Einrichtung angeschlossen sind. Dies gilt auch für bebaute Außenbereichsgrundstücke; denn auch diese sind kein Bauland (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.02.1986, aaO juris Rn. 15 f.), weshalb die Anschlussmöglichkeit bei ihnen mit dem Risiko behaftet ist, dass die vorhandene Baulichkeit vor der Anschlussnahme zerstört und das Grundstück dann nicht - auch nicht im Rahmen der erleichterten Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 BauGB - erneut bebaut werden darf (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 38, Beschluss vom 04.11.2009, aaO juris Rn. 7 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 23.07.2003, aaO juris Rn. 21).43 Soweit der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Beschluss vom 04.11.2009 (aaO juris Rn. 7 ff.) entschieden hat, der die Beitragserhebung rechtfertigende Vorteil bestehe bei Grundstücken im Außenbereich - selbst wenn sie bebaut sind, anders als bei Innenbereichsgrundstücken - nicht in einer Erhöhung des Gebrauchs- und Nutzungswertes des Grundstücks, sondern in der Inanspruchnahme der Einrichtung selbst, hält der Senat an dieser Auffassung nicht mehr fest. Denn ein Abstellen auf die Inanspruchnahme der Einrichtung verliert die erforderliche Grundstücksbezogenheit des Vorteils aus dem Blick. Ein grundstücksbezogener wirtschaftlicher Vorteil im Sinne eines dem Grundstück unter Erschließungsgesichtspunkten zukommenden Gebrauchsvorteils und eines daraus folgenden Gebrauchs- und Nutzungswertes kommt insbesondere auch Außenbereichsgrundstücken zu, die bebaut sind oder für die zumindest eine Baugenehmigung erteilt ist. Denn in diesen Fällen sichert der Anschluss die auch nach § 35 BauGB erforderliche Erschließung. Auch unbebauten Außenbereichsgrundstücken kann ein Gebrauchs- und Nutzungsvorteil zukommen, wenn der Anschluss für diese Grundstücke nützlich ist (etwa im Fall des Anschlusses landwirtschaftlicher Grundstücke an die Wasserversorgung). Dies ist im Fall eines tatsächlichen Anschlusses an die öffentliche Einrichtung zu vermuten (vgl. Dietzel in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 552; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 32 Ziff. 1.5).44 Der tatsächliche Anschluss an die öffentliche Abwasserbeseitigungseinrichtung setzt das Vorhandensein einer betriebsfertigen, auf Dauer angelegten Verbindung des Grundstücks mit der öffentlichen Einrichtung voraus (vgl. Dietzel in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 535; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 32 Ziff. 1.2.1, Ziff. 1.5). Das Erfordernis der Dauerhaftigkeit der Verbindung ergibt sich aus § 20 Abs. 1 Satz 1 KAG, der zu einer Beitragserhebung nur ermächtigt, wenn „nicht nur vorübergehende“ Vorteile geboten werden.45 Bei Außenbereichsgrundstücken, die an die zentrale Abwasserbeseitigung angeschlossen sind, ist die für einen tatsächlichen Anschluss erforderliche dauerhafte Verbindung mit der öffentlichen Einrichtung gegeben, wenn das Grundstück durch Leitungen mit dieser verbunden ist. Bei der dezentralen, d.h. nicht leitungsgebundenen Abwasserbeseitigung ist von einem die sachliche Beitragspflicht begründenden tatsächlichen Anschluss auszugehen, wenn tatsächlich eine Abwasser-/Schlammabfuhr durch Spezialfahrzeuge (sog. rollender Kanal) stattfindet, das Abwasser bzw. der Schlamm in die öffentliche Kläranlage eingebracht wird und dies auch in Zukunft regelmäßig zu erwarten ist (vgl. Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 2 Rn. 8; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 32 Ziff. 1.2.1; Gössl, Abwasserbeitrag und Wasserversorgungsbeitrag nach dem KAG Baden-Württemberg, Abschnitt II.5.2.1.2).46 Diese Erwartung ist bei einer notwendigen regelmäßigen Abwasser-/Schlammentsorgung selbst dann begründet, wenn sie nicht dem Willen des Grundstückseigentümers entspricht, jedoch - wie hier in § 3 Abs. 1 AbwS (vgl. auch Ziff. 2.1.4 Satz 2 der Nebenbestimmungen zur wasserrechtlichen Erlaubnis vom 18.05.2009) - satzungsrechtlich ein Anschluss- und Benutzungszwang geregelt ist (vgl. Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 32 Rn. 1.5). Der beitragsrechtliche Vorteil besteht in diesem Fall in dem Gebrauchsvorteil, der sich aus der tatsächlichen und in Zukunft möglichen Inanspruchnahme der öffentlichen Abwasserbeseitigung ergibt.47 Von der zu erwartenden regelmäßigen Entsorgung des auf dem Grundstück anfallenden Abwassers ist nach dem Sinn und Zweck der Beitragserhebung - dem Ausgleich von nicht nur vorübergehenden Gebrauchs- und Nutzungsvorteilen - nicht nur dann auszugehen, wenn eine Entsorgung in gleichmäßigen zeitlichen Abständen oder sogar zu bestimmten Terminen erfolgt. Vielmehr ist grundsätzlich auch der Fall der bedarfsgerechten Schlammentsorgung erfasst, bei dem die Abfuhr flexibel nach Bedarf in kleineren oder größeren Zeitabständen erfolgt. Dabei bedarf es hier keiner Entscheidung der Frage, wann Zeitabstände einer erforderlichen Entsorgung so lang sind, dass von einer regelmäßigen Abwasser-/Schlammabfuhr nicht mehr ausgegangen werden kann. Denn ein solcher Fall ist hier jedenfalls nicht gegeben.48 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist nicht davon auszugehen, dass es sich bei der Schlammentsorgung am 23.12.2016 um ein einmaliges Ereignis handelte. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht dieser Annahme zugrunde gelegt, dass die streitgegenständliche Kleinkläranlage bereits seit 2009 in Betrieb sei. Tatsächlich erfolgte die Inbetriebnahme ausweislich des in den beigezogenen Akten befindlichen Montage- und Inbetriebnahmeprotokolls erst am 19.08.2013.49 Auch vor dem Hintergrund, dass seit diesem Zeitpunkt bis zur Schlammabfuhr am 23.12.2016 und seit diesem Datum bis heute keine weitere Schlammabfuhr stattgefunden hat, vermag sich der Senat nicht der Würdigung des Verwaltungsgerichts und dem Vortrag des Klägers anzuschließen, wonach es sich bei der Schlammentsorgung am 23.12.2016 um ein einmaliges Ereignis aufgrund einer Havarie gehandelt habe und im Regelbetrieb der Kleinkläranlage keine Entsorgung von Schlamm vorzunehmen sei. Vielmehr ergibt sich aus den Unterlagen, die der Senat bei der Firma ... Abwassertechnik e.K. angefordert hat, die die streitgegenständliche Anlage geliefert hat, dass auch der ordnungsgemäße Betrieb dieser Anlage eine Schlammentsorgung in mehr oder weniger langen Zeitabständen erfordert. So heißt es in der bauaufsichtlichen Zulassung dieser Kleinkläranlage (S. 7), bei der mindestens zweimal jährlich von einem Fachbetrieb durchzuführenden Wartung sei die Schlammhöhe in der Vorklärung bzw. im Schlammspeicher zu prüfen. Gegebenenfalls sei eine Schlammabfuhr durch den Betreiber zu veranlassen. Für einen ordnungsgemäßen Betrieb der Kleinkläranlage sei eine bedarfsgerechte Schlammentsorgung geboten. Diese sei spätestens bei 70 % Füllung des Schlammspeichers mit Schlamm zu veranlassen.50 In dem Betriebsbuch für die betreffende Kleinkläranlage heißt es zur Schlammentleerung auf Seite 28, in einer Kleinkläranlage gebe es verschiedene Arten von Schlamm. Abgefahren werde nur der Fäkalschlamm, der sich in der ersten Kammer sammele. Er bestehe aus sedimentierten Rückständen der Abwasserreinigung. Bei Kleinkläranlagen setze sich der Fäkalschlamm bzw. Klärschlamm aus abgestorbenen Mikroorganismen der biologischen Reinigungsstufe und den abgesetzten Feststoffen aus der Vorreinigung zusammen. Die Höhe des angesammelten Schlamms im Schlammspeicher werde vom Wartungsfachmann im Rahmen der Wartung mithilfe eines Schlammpegelmessgerätes bestimmt. Die Anlage sei so konzipiert, dass der Schlammspeicherraum bei permanentem Volllastbetrieb und Einhaltung der Betreiber- und Wartungspflichten für mindestens zwölf Monate ausreiche. Bei geringerer Belastung verlängere sich dieser Zeitraum entsprechend. Eine rechtzeitige Schlammentsorgung sei notwendig, um bei zunehmendem Schlammanfall das Überlaufen der Feststoffe in die biologische Stufe zu verhindern. Schlammregulierung und -entsorgung seien wichtige Voraussetzungen für eine gute Reinigungsleistung und eine lange Lebensdauer der Kleinkläranlage. Spätestens bei 70 % Füllung des Schlammspeichers sei eine Schlammentsorgung durchzuführen. Im Regelfall müsse nur die Vorklärkammer der Kleinkläranlage entleert werden. Bei fehlerhafter Schlammregulierung der Anlage könne auch das Absaugen des unteren Teilbereichs der SBR-Kammer oder das oberflächliche Abpumpen von Schwimmschlamm notwendig sein.51 Das Erfordernis einer nutzungsabhängigen Schlammentsorgung ergibt sich auch aus der vom Senat eingeholten fachlichen Stellungnahme des Landratsamtes Ravensburg, Sachgebiet Abwasser, vom 14.04.2020. Danach müsse bei Anlagen mit mechanischer Vorbehandlung zur Sicherstellung der Reinigungsleistung in der biologischen Reinigungsstufe eine ausreichende Feststoffrückhaltung in der Vorbehandlung erfolgen. Sie werde durch einen ordnungsgemäßen Betrieb und eine bedarfsgerechte Schlammentsorgung sichergestellt. Diese erfolge auf der Grundlage der im Rahmen der Wartung festgestellten Schlammspiegelmessung. Eine Schlammentnahme müsse nach Feststellung von 50 % Füllung des Gesamtnutzvolumens mit Schlamm (Boden- und Schwimmschlamm) erfolgen (DWA Regelwerk Arbeitsblatt DWA-A 221 vom Dezember 2019). In der wasserrechtlichen Erlaubnis werde eine bedarfsgerechte Entsorgung des Schlamms angeordnet, da das häusliche Abwasser in seiner biologischen Zusammensetzung sehr stark variieren könne und auch die Anzahl der angeschlossenen Einwohner als wesentlicher Faktor zum Schlammaufkommen bei der Abwasserreinigung beitrage. Da der Standort hier relativ gering genutzt werde, sei es plausibel, dass bei der streitgegenständlichen Anlage ein sehr niedriger Schlammanfall vorliege. Aus diesem Grund sei in der wasserrechtlichen Erlaubnis die Schlammentsorgung nach Bedarf gefordert worden. Eine verbindliche Aussage darüber, in welchen Abständen der in der streitgegenständlichen Anlage entstehende Schlamm entsorgt werden müsse, könne nicht abgegeben werden, da die hierfür relevanten, oben genannten Faktoren zu stark variieren könnten. Auch eine pauschale Einschätzung, ob nach einem Defekt an der Kleinkläranlage eine Schlammentsorgung nötig wäre, könne nicht abgegeben werden, da dies von der Art des Defektes abhängig sei.52 Soweit der Kläger sich auf den nur geringen Abwasser- bzw. Schlammanfall auf dem Veranlagungsgrundstück beruft und insoweit einwendet, das Grundstück werde nur unregelmäßig zu Freizeitzwecken genutzt, vermag er die Erforderlichkeit einer regelmäßigen Schlammentsorgung nicht in Frage zu stellen. Die Beklagte hat diesen Einwand widerlegt, indem sie vorgetragen hat, das Veranlagungsgrundstück sei bis Mitte des Jahres 2018 - also auch im Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Bescheide und des Widerspruchsbescheides - von der Familie eines Sohnes des Klägers bewohnt gewesen, die dort auch gemeldet gewesen sei. Dies hat der Kläger im Berufungsverfahren auch eingeräumt.53 Ungeachtet dessen hat der Kläger mit seinem Einwand, das Veranlagungsgrundstück werde nur unregelmäßig genutzt, weshalb nur eine geringe Menge Schlamm anfalle, nicht die generelle, den vorliegenden Unterlagen und der Stellungnahme des Landratsamtes zu entnehmende Aussage in Frage gestellt, dass eine Schlammentsorgung beim Betrieb der Kleinkläranlage grundsätzlich erforderlich ist. Auch ist der Einwand deshalb unbeachtlich, weil es für die Erhebung von Anschlussbeiträgen - anders als für Benutzungsgebühren - nicht auf den Umfang der tatsächlichen Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung im konkreten Fall, sondern nur auf die objektiv mögliche Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung ankommt (vgl. § 20 Abs. 1 KAG; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 32 ff.; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 30 Ziff. 2.5.2; Grünewald in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 541; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 31 Rn. 1). Hintergrund ist, dass sich die Intensität der tatsächlichen Nutzung des Grundstücks und der dadurch bedingte Abwasseranfall im Lauf der Zeit ändern können, ohne dass - wegen des Grundsatzes der Einmaligkeit der Beitragserhebung - entsprechende Beiträge nachveranlagt werden können. Eine Ermittlung und ständige Überwachung der konkreten Nutzung aller beitragspflichtigen Grundstücke wäre im Übrigen auch nicht mit vertretbarem Verwaltungsaufwand durchführbar (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 34; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 2 Rn. 1).54 Im Fall des Klägers kommt es deshalb nicht auf die (derzeitige) tatsächliche Nutzung des Veranlagungsgrundstückes an, sondern allein darauf, wie dieses in zulässiger Weise genutzt werden könnte (vgl. Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 20 Rn. 1; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 31 Ziff. 1.3.1). Genehmigt ist hier eine gewerbliche Nutzung mit Büro und Betriebsleiterwohnung; nach der erteilten wasserrechtlichen Genehmigung darf die Kleinkläranlage im Rahmen ihrer Ausbaugröße (6 EW) durch maximal sechs Personen genutzt werden. Für diese maximale Auslastung durch sechs Personen ergibt sich aus dem Betriebsbuch der Anlage, dass der Schlammspeicherraum bei permanentem Volllastbetrieb und Einhaltung der Betreiber- und Wartungspflichten für „mindestens 12 Monate“ ausreicht. Eine maximale Zeitdauer bis zur notwendigen Schlammentsorgung lässt sich den Unterlagen nicht entnehmen. Nach Auffassung des Senats ergeben sich aber aus der angegebenen Mindestdauer hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass eine Entsorgung bei Vollauslastung der Anlage im Regelfall nach Ablauf von zwölf Monaten erforderlich wird. Dies ist für die Annahme einer regelmäßigen Schlammentsorgung ausreichend.55 Die Abwassersatzung regelt hier in zulässiger Weise auf der Rechtsgrundlage des § 29 Abs. 1 KAG, dass der Abwasserbeitrag in Teilbeiträgen für den öffentlichen Abwasserkanal und für den mechanischen und biologischen Teil des Klärwerks erhoben wird, wobei für jeden dieser Einrichtungsteile ein gesonderter Teilbeitragssatz festgesetzt wird (§ 22 Satz 2 i.V.m. § 33 AbwS). Grundstücke, bei denen das Abwasser, wie im vorliegenden Fall, dezentral beseitigt wird, sind zwar nicht an den Abwasserkanal, jedoch an das Klärwerk „angeschlossen“, so dass für sie nur der Teilbeitrag für das Klärwerk erhoben werden kann. Dies hat die Beklagte im angegriffenen Bescheid auch beachtet und insoweit dem in § 31 Abs. 1 Satz 1 KAG normierten Grundsatz der Bemessung des Beitrags nach den Vorteilen Rechnung getragen.56 Nach dem Grundsatz der vorteilsgerechten Bemessung von Beiträgen müssen die Beitragspflichtigen im Verhältnis der ihnen durch die öffentliche Einrichtung zugewachsenen Vorteile belastet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Vorteile, die den beitragspflichtigen Grundstücken durch die beitragspflichtige Maßnahme zukommen, bei der Beitragsbemessung stets nur grob und unscharf abgebildet werden können (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 32). Ein Wirklichkeitsmaßstab scheidet regelmäßig aus, weil die erforderlichen technischen und wirtschaftlichen Berechnungsfaktoren für eine genaue Ermittlung des Vorteils des Anschlussnehmers fehlen bzw. nur mit einem unverhältnismäßig hohen Kosten- und Verwaltungsaufwand bestimmt werden können (vgl. Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 31 Rn. 1; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 31 Ziff. 2.1). Es ist daher - insbesondere bei den Beiträgen für Einrichtungen der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung - zulässig, anstelle des Wirklichkeitsmaßstabes einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu wählen, bei dem der Umfang des Vorteils vereinfachend nach der Wahrscheinlichkeit unabhängig vom Einzelfall ermittelt wird. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss aber einen ungefähren Anhalt für den Vorteil bieten. Verlangt wird nicht eine Gerechtigkeit im Einzelfall, sondern nur eine Typengerechtigkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.08.2011 - 9 BN 2.11 - juris Rn. 4, Beschluss vom 30.04.2009 - 9 B 60.08 - juris Rn. 4; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 31 Rn. 1).57 Der für die Beitragserhebung maßgebliche Vorteil orientiert sich, wie bereits dargelegt wurde, daran, welcher Gebrauchsvorteil dem Grundstück durch die Möglichkeit, die öffentliche Einrichtung in Anspruch zu nehmen, gewährt wird bzw. wie stark der Gebrauchs- und Nutzungswert des Grundstücks durch die Möglichkeit, die öffentliche Einrichtung in Anspruch zu nehmen, erhöht wird. Grundsätzlich nicht entscheidend ist deshalb der Umfang des Abwasseranfalls oder die Art und Weise der technischen Durchführung der Entsorgung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 28; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 30 Rn. 2.5.2). Unterschiedliche Entsorgungssituationen, insbesondere in Bezug auf die in die öffentliche Einrichtung eingebrachte Abwassermenge, die technische Durchführung der Entsorgung oder Leistungsunterschiede in Bezug auf die Abwasserableitung und -reinigung, führen nur dann zu einem beitragsrechtlich relevanten Mindervorteil, wenn davon auch die Erschließungssituation des Grundstücks und damit dessen Bebaubarkeit oder Benutzbarkeit negativ tangiert wird, wenn diese Unterschiede sich also nachteilig auf den dem Grundstück zukommenden Gebrauchsvorteil auswirken (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 27 f.; Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 30 Rn. 2.5.2; Birk in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 668 ff.). Kann nicht die gesamte anfallende Abwassermenge öffentlich entsorgt werden, stellt dies somit dann keinen relevanten Mindervorteil dar, wenn gleichwohl eine ausreichende bauliche Erschließung gegeben ist bzw. wenn dies keine Auswirkungen auf die Nutzbarkeit des Grundstücks hat.58 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg führt deshalb der Umstand, dass nur das Schmutzwasser, nicht aber auch das Niederschlagswasser durch eine öffentliche Einrichtung entsorgt wird, nur dann zu einem Mindervorteil, dem durch eine Beschränkung des einheitlichen Beitragssatzes Rechnung zu tragen ist, wenn sich dadurch Auswirkungen auf die Erschließung des Grundstücks und damit auf dessen Bebaubarkeit oder Nutzbarkeit ergeben (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 27). Bei einem - wie im vorliegenden Fall - im Außenbereich gelegenen Grundstück ist dies nicht der Fall (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2012, aaO juris Rn. 41; Beschluss vom 18.08.2009, aaO juris Rn. 14; Urteil vom 19.10.2006, aaO juris Rn. 28). Denn bei Außenbereichsgrundstücken kann das anfallende Niederschlagswasser in der Regel ohne größere Aufwendungen durch Versickern oder Einleiten in einen Vorfluter in wasserwirtschaftlich einwandfreier Weise beseitigt werden (Gössl in Gössl/Reif, KAG, § 30 Ziff. 2.5.2).59 Der Grundsatz der vorteilsgerechten Bemessung von Beiträgen erfordert somit für das Veranlagungsgrundstück auch nicht deshalb eine Reduzierung des für den mechanischen und biologischen Teil des Klärwerks festgesetzten Beitragssatzes, weil zwischen der dezentralen Entsorgung von Schlamm aus Kleinkläranlagen einerseits und der dezentralen Entsorgung von Abwasser aus geschlossenen Gruben oder der zentralen leitungsgebundenen Entsorgung andererseits Unterschiede bestehen (etwa in Bezug auf die Abwassermenge, die technische Durchführung der Entsorgung, die zu erbringende Reinigungsleistung oder die Entsorgung von Niederschlagswasser). Denn diese Unterschiede haben für das streitgegenständliche bebaute Außenbereichsgrundstück keine Auswirkungen auf die Erschließungssituation bzw. den dem Grundstück zukommenden Gebrauchsvorteil, weil jede dieser Entsorgungsarten eine ordnungsgemäße Abwasserbeseitigung gewährleistet. Entscheidend ist, dass in allen Fällen für die Zukunft die dauerhafte Möglichkeit der Inanspruchnahme der Einrichtung besteht und diese die Nutzbarkeit des Grundstücks gewährleistet.60 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts verletzt die Beitragserhebung im Fall des Klägers auch nicht das abgabenrechtliche Äquivalenzprinzip als Ausprägung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dieses Prinzip setzt dem Gesetzgeber nur sehr weite Grenzen. Es verlangt, dass die Höhe des Beitrags nicht außer Verhältnis zu dem Vorteil steht, den er abgelten soll, und dass einzelne Beitragspflichtige im Verhältnis zu anderen nicht übermäßig belastet werden (BVerwG, Urteil vom 29.05.2019 - 10 C 1.18 - juris Rn. 26 mwN; vgl. auch BVerwG, Urteile vom 25.08.1982 - 8 C 182.81 - juris Rn. 26, und vom 14.04.1967 - IV C 179.65 - BVerwGE 26, 305, juris Rn. 20 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24.07.2003 - 2 S 2700/01 - juris Rn. 48). Beides ist hier nicht der Fall.61 Eine Verletzung des Äquivalenzprinzips ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht deshalb gegeben, weil die Höhe des Beitrags die Kosten für die Abfuhr und Entsorgung des Schlamms und die hierfür festgesetzte Benutzungsgebühr um ein Vielfaches übersteigt. Denn die Benutzungsgebühr wird nicht wie der Beitrag als Gegenleistung für den durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme der öffentlichen Abwasserbeseitigungseinrichtung gebotenen Vorteil erhoben, sondern als Gegenleistung für die tatsächliche Inanspruchnahme der Anlage und damit für den tatsächlich gewährten Vorteil. Die Gebühr dient vor allem der Deckung der laufenden Kosten der Abwasserbeseitigungseinrichtung. Beiträge werden dagegen nicht zur Finanzierung der laufenden Kosten, sondern zur teilweisen Deckung des Aufwands für Anschaffung, Herstellung oder Ausbau der öffentlichen Einrichtung erhoben.62 2. Die Heranziehung des Klägers zum Abwasserteilbeitrag verletzt auch nicht den Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung. Dieser besagt zum einen, dass die sachliche Beitragspflicht für dieselbe öffentliche Einrichtung bzw. Teileinrichtung zu Lasten eines Grundstücks nur einmal entsteht. Ist sie entstanden, kann sie nach diesem Grundsatz nicht nachträglich zu einem anderen Zeitpunkt und in anderer Höhe noch einmal entstehen. Ferner schließt der Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung das Verbot der Doppelbelastung in dem Sinne ein, dass ein Grundstück für dieselbe öffentliche Einrichtung bzw. Teileinrichtung grundsätzlich nur einmal zu einem Beitrag herangezogen werden darf (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.01.1990 - 2 S 2767/89 - juris Rn. 3 f.; Urteil vom 29.3.1989 - 2 S 43/87 - VBlBW 1989, 345). Der Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung ist somit verletzt, wenn auf denselben Vorteil bezogen bereits zuvor ein endgültiger Beitragsbescheid erlassen wurde (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.08.2015 - 2 S 2301/14 - juris Rn. 36; Urteil vom 12.11.2009 - 2 S 434/07 - juris Rn. 56; Beschluss vom 18.08.2009, aaO juris Rn. 10; Gössl, Abwasserbeitrag und Wasserversorgungsbeitrag nach dem KAG Baden-Württemberg, Abschnitt II.2.5; Faiß, Das Kommunalabgabenrecht in Baden-Württemberg, § 2 Rn. 18).63 Ausgehend hiervon verstößt die Heranziehung des Klägers nicht gegen den Grundsatz der Einmaligkeit der Beitragserhebung. Die sachliche Beitragspflicht ist hier erst mit der Schlammabfuhr am 23.12.2016 entstanden. Soweit der Kläger schriftsätzlich vorgetragen hat, der Schlamm sei nach Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters der vormaligen Eigentümerin des Veranlagungsgrundstücks schon vorher beim Betrieb der alten 3-Kammer-Grube regelmäßig abgefahren worden und die Beitragspflicht deshalb schon früher entstanden, ist dem nicht zu folgen. Der Kläger selbst hat hieran in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht mehr festgehalten. Zwar spricht viel dafür, dass eine Entsorgung des in der abflusslosen Grube seit Beginn ihrer Nutzung angefallenen Abwassers tatsächlich erfolgt ist, da die Grube sonst übergelaufen wäre. Der Senat hält jedoch den Vortrag der Beklagten für überzeugend, dass diese Entsorgung privat organisiert war und eine Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung somit nicht stattgefunden hat. Auch der Senat hält es für ausgeschlossen, dass das Landratsamt Ravensburg die Anlage nach Ablauf der Geltungsdauer der der Rechtsvorgängerin des Klägers erteilten wasserrechtlichen Erlaubnis zum 31.12.2000 bis zur Neuerteilung der wasserrechtlichen Erlaubnis im Jahr 2009 kontrolliert und eine Entsorgung von Klärschlamms durch die Beklagte veranlasst hat. Nach dem Vortrag der Beklagten ist die Beseitigung des Schlamms aus Kleinkläranlagen erst seit dem 01.10.1996 Teil der öffentlichen Abwasserbeseitigung. Seit diesem Zeitpunkt gilt eine Anzeigepflicht für bestehende Kleinkläranlagen gegenüber der Beklagten. Eine Anzeige des Betriebs der vormaligen 3-Kammer-Grube ist bei der Beklagten jedoch nach ihrer Aussage und auch nach Aktenlage nicht erfolgt, weshalb nichts dafür spricht, dass eine öffentliche Entsorgung des Abwassers bzw. Schlamms aus dieser Anlage erfolgt sein könnte.64 Für das Veranlagungsgrundstück wurde mit den angegriffenen Bescheiden erstmals ein Abwasserteilbeitrag festgesetzt. Mit dem Bescheid des Landratsamtes Ravensburg vom 17.02.1971, auf den sich der Kläger beruft, wurde kein Abwasserbeitrag erhoben, sondern es wurden für die Erteilung einer wasserrechtlichen Erlaubnis und bau- und wasserrechtlichen Genehmigung Verwaltungsgebühren festgesetzt.65 3. Der Heranziehung des Klägers stehen auch weder der Eintritt der Festsetzungsverjährung noch die Verwirkung des Beitragsanspruchs entgegen; die Beitragserhebung verstößt auch nicht gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.66 Nach § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG i.V.m. § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO beträgt die Festsetzungsfrist vier Jahre. Sie beginnt gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG i.V.m. § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Abgabe entstanden ist, und endet im Fall der Ungültigkeit einer Satzung nicht vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntmachung einer neuen Satzung.67 Im Fall des Klägers ist die Beitragsschuld, wie oben dargelegt wurde, mit der erstmaligen Abfuhr und Beseitigung des Schlamms am 23.12.2016 entstanden (vgl. § 34 Abs. 2, § 23 Abs. 2 AbwS, § 32 Abs. 1 Satz 2 KAG). Die vierjährige Festsetzungsfrist war damit zum Zeitpunkt des circa einen Monat später erfolgten Erlasses des streitgegenständlichen Abwasserteilbeitragsbescheides vom 25.01.2017 noch nicht abgelaufen.68 Da die Vorteilslage und die Beitragsschuld erst mit der Schlammabfuhr am 23.12.2016 entstanden waren und der Kläger bereits mit Beitragsbescheid vom 25.01.2017 in Anspruch genommen wurde, kommt auch eine Verwirkung des Beitragsanspruchs ebenso wenig in Betracht wie der vom Kläger gerügte Verstoß gegen den Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (vgl. dazu grundlegend BVerfG, Beschluss vom 05.03.2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143; BVerwG, Beschluss vom 06.09.2018 - 9 C 5.17 - BVerwGE 163, 58; Beschluss vom 10.09.2019 - 9 B 40.18 - juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2018 - 2 S 1116/18 - juris; Urteil vom 12.07.2018 - 2 S 143/18 - juris Rn. 34 ff.)69 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.70 Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.71 Beschluss vom 30.09.202072 Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 7.552,50 EUR festgesetzt (§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG).73 Der Beschluss ist unanfechtbar. | {
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Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.02.2018 abgeändert.Auf die Berufung und die Klage werden die Bescheide der Beklagten vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 sowie die Bescheide vom 05.12.2016, 16.01.2017, 07.02.2017, 30.03.2017, 26.09.2017, 15.01.2018, 13.02.2018, 24.07.2018, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020 insoweit aufgehoben, als Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung aus den um den „Kostenbeitrag Beihilfe“ in Höhe von 22,00 EUR erhöhten Einkünften der Klägerin erhoben werden.Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen und die Klage abgewiesen.Die Beklagte erstattet der Klägerin 1/10 ihrer außergerichtlichen Kosten beider Instanzen. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der von der Klägerin an die Beklagten zu entrichtenden Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung streitig.2 Die im Jahr 1956 geborene Klägerin ist Beamtin und seit Juli 2000 bei der Beklagten zu 1) freiwillig krankenversichert und bei der Beklagten zu 2) pflegeversichert. Seit dem 01.09.2020 ist die Klägerin im Ruhestand.3 Bereits im Jahr 2010 erhob die Klägerin wegen der Höhe der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) gegen die Beklagte zu 1). Sie wandte sich gegen die Verbeitragung von Kapitaleinkünften. Das Verfahren endete mit einem Vergleich dahingehend, dass die Beklagte verpflichtet wurde, die rückwirkende Erhöhung der Beiträge für die Zeit vom 01.12.2004 bis 30.11.2009 rückabzuwickeln (S 12 KR 4351/10).4 Am 03.09.2015 erhob die Klägerin Klage beim SG gegen die Beitragsbescheide der Beklagten vom 21.11.2014, 21.01.2015 und 10.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.07.2015 (S 11 KR 3006/15). Sie wandte sich gegen die Verbeitragung ihrer Kapitaleinkünfte und die (rückwirkende) Erhöhung der von ihr zu zahlenden Beiträge. In der öffentlichen Sitzung vom 19.04.2016 nahm die Klägerin nach einem richterlichen Hinweis ihre Klage zurück.5 Mit Bescheid vom 16.12.2015 berechnete die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Höhe der ab dem 01.11.2015 von der Klägerin zu zahlenden Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung neu, nachdem die Klägerin aktuelle Unterlagen zu ihren Einkommensverhältnissen vorlegt hatte, aus denen sich eine Erhöhung ihrer steuerpflichtigen Bezüge ergab. Als Gehalt der Klägerin legte die Beklagte zu 1) bei der Berechnung der Beiträge einen Betrag in Höhe von 2.255,49 EUR zugrunde. Den von der Zahlstelle von diesem Betrag einbehaltenen Beihilfebeitrag in Höhe von 22,00 EUR brachte sie dabei erstmals nicht zum Abzug. In den bisherigen Beitragsbescheiden hatte sie das in der Entgeltabrechnung ausgewiesene „Gesamtbrutto“ (Grundbezug zzgl. Strukturzulage abzgl. Kostenbeitrag Beihilfe) zugrunde gelegt. Außerdem setzte die Beklagte zu 1) bei der Berechnung der Beiträge Kapitalerträge der Klägerin in Höhe von monatlich 272,92 EUR an (insgesamt 2.528,41 EUR). Insgesamt errechnete sie einen Beitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 353,98 EUR (bei einem Beitragssatz ohne Anspruch auf Krankengeld in Höhe von 14 %), einen Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 22,76 EUR und einen Beitrag zur Pflegeversicherung in Höhe von 29,71 EUR.6 Hiergegen legte die Klägerin am 18.01.2016 Widerspruch ein und trug zur Begründung vor, die Hinzurechnung des Beihilfebeitrags und der Einkünfte aus Kapitalvermögen sei nicht rechtmäßig. Mit dem Kostenbeitrag werde lediglich der schon vor der Einführung im Jahr 2004 bestandene beamtenrechtliche Beihilfeanspruch auf Erstattung von Krankenhauswahlleistungen aufrechterhalten. Es handele sich somit um eine faktische Kürzung ihrer Bruttobezüge zur Erhaltung der bisherigen Beihilfeansprüche und keinen geldwerten Vorteil, weshalb der Betrag auch vor der Ermittlung der Steuer von den Beamtenbezügen abgezogen werde.7 Mit Bescheid vom 18.01.2016 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beiträge aufgrund einer Erhöhung des Zusatzbeitrags auf 1,1 % (27,81 EUR) ab dem 01.01.2016 neu fest. Die Berechnungsgrundlagen blieben unverändert.8 Mit Bescheid vom 17.02.2016 berechnete die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beiträge ab dem 01.03.2016 neu, nachdem die Klägerin am 08.02.2016 den aktuellen Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2014 vom 14.01.2016 vorgelegt hatte, aus dem sich Kapitalerträge in Höhe von 2.812,00 EUR ergaben. Insgesamt errechnete sie einen Beitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 347,98 EUR, einen Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 27,34 EUR und einen Beitrag zur Pflegeversicherung in Höhe von 29,21 EUR.9 Auch hiergegen legte die Klägerin am 08.03.2016 Widerspruch ein.10 Mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2016 wies die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Widersprüche gegen die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Beitragshöhe sei zutreffend berechnet. Auch Einkünfte aus Kapitalvermögen zählten zu den beitragspflichtigen Einnahmen. Der Beihilfebeitrag gehöre ebenfalls zu den Einnahmen zum Lebensunterhalt. Er entstehe nicht anlässlich einer konkreten Krankheit, sondern sei den Vorbeugekosten vergleichbar, da hiermit die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Wahlleistungen im Krankheitsfall für die Zukunft gesichert werden solle. Der Sache nach handele es sich um eine freiwillige Leistung, ähnlich wie Beiträge des gesetzlich Versicherten zu einer privaten Zusatzversicherung.11 Am 01.06.2016 hat die Klägerin beim SG Klage erhoben und zur Begründung ihre Argumentation wiederholt. Ergänzend hat sie vorgetragen, bei dem Beihilfebeitrag handele es sich um eine beamtenrechtliche Kürzung der Bezüge aus dem Dienstverhältnis, weshalb das „Gesamtbrutto“ ihrer Bezüge in der Entgeltabrechnung erst nach Abzug dieses Betrages ausgewiesen werde. Bis Ende Oktober 2015 sei dieses „Gesamtbrutto“ auch für die Beitragsberechnung von der Beklagten zu 1) zugrunde gelegt worden. Dem von der Beklagten zu 1) angeführten Bruttoprinzip werde durch Ansatz des „Gesamtbruttos“ Rechnung getragen. Nach dem Rundschreiben des Finanzministeriums Baden-Württemberg vom 25.02.2004 sei der „Kostenbeitrag Beihilfe“ als Umwandlung von Barlohn zugunsten einer Zusage des Arbeitgebers auf Versorgungsleistungen im Krankheitsfall anzusehen. Ein geldwerter Vorteil entstehe dadurch nicht und damit auch keine Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Es handele sich um einen Betrag, der eine besondere, eigenständige Zweckbestimmung außerhalb des allgemeinen Lebensunterhalts aufweise. Er könne deshalb nicht den Einnahmen des Versicherten zum Lebensunterhalt zugeordnet werden. Auch die Meldung der für die Altersvorsorgezulage maßgeblichen Bruttobezüge an die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen erfolge ohne Einbeziehung des Kostenbeitrags, weil Fürsorgeleistungen nicht zur Besoldung gehörten. Ihre Rechtsauffassung werde dadurch bestätigt, dass der Beihilfebeitrag nicht im „Katalog von Einnahmen und deren beitragsrechtliche Bewertung nach § 240 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V)“ enthalten sei. Auch der Ansatz ihrer Einkünfte aus Kapitalvermögen sei nicht rechtmäßig. Die Beamten seien die einzige Versichertengruppe bei den freiwillig Versicherten, die hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Einnahmen vergleichbar seien mit den pflichtversicherten Angestellten im Öffentlichen Dienst. Diese müssten aber ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht verbeitragen. In der Rechtsprechung sei bislang nicht geklärt, ob diese Ungleichbehandlung rechtens sei.12 Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.13 Mit Bescheid vom 05.12.2016 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beitragshöhe ab dem 01.11.2016 neu fest (Krankenversicherung 354,61 EUR, Zusatzbeitrag 27,86 EUR, Pflegeversicherung 29,76 EUR), nachdem die Klägerin am 02.12.2016 neue Einkommensnachweise vorgelegt hatte. Der Berechnung wurden wiederum die Einkünfte der Klägerin aus Kapitalvermögen sowie ihre Bruttobezüge in voller Höhe (d.h. ohne Abzug des Beihilfebeitrags) zugrundgelegt (insgesamt Einnahmen in Höhe von 2.532,94 EUR).14 Mit Bescheid vom 16.01.2017 passte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beiträge an den zum 01.01.2017 auf 2,55 % erhöhten Beitragssatz in der Pflegeversicherung an.15 Mit Bescheid vom 07.02.2017 entschied die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – auf Grundlage der von der Klägerin vorgelegten Einkommensnachweise, dass die Beitragshöhe unverändert blieb.16 Mit Bescheid vom 30.03.2017 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beitragshöhe ab dem 01.03.2017 auf Grundlage der am 13.02.2017 von der Klägerin vorgelegten Einkommensnachweise neu fest (344,56 EUR Krankenversicherung, 27,07 EUR Zusatzbeitrag, 31,38 EUR Pflegeversicherung). Sie berücksichtigte Bezüge in Höhe von 2.302,86 EUR und Kapitalerträge in Höhe von 158,00 EUR.17 Mit Bescheid vom 26.09.2017 passte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beitragshöhe an die am 12.09.2017 von der Klägerin zugesandten Einkommensnachweise an. Ab dem 01.08.2017 setzte sie Einnahmen in Höhe von insgesamt 2.563,53 EUR an und errechnete Beiträge zur Krankenversicherung in Höhe von 358,89 EUR zzgl. Zusatzbeitrag in Höhe von 28,20 EUR und zur Pflegeversicherung in Höhe von 32,69 EUR. Ab dem 01.09.2017 setzte sie Einnahmen in Höhe von insgesamt 2.480,63 EUR (davon 2.322,38 EUR Dienstbezüge) an und errechnete Beiträge in Höhe von 347,29 EUR für die Krankenversicherung, 27,29 EUR als Zusatzbeitrag und 31,63 EUR für die Pflegeversicherung.18 Mit Bescheid vom 15.01.2018 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – für die Zeit ab dem 01.01.2018 die Beiträge fest. Die Höhe der Beiträge blieb unverändert.19 Mit Bescheid vom 13.02.2018 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beiträge für die Zeit ab dem 01.10.2017 auf Grundlage der von der Klägerin übersandten Einkommensnachweise neu fest. Sie setzte Einnahmen in Höhe von insgesamt 2.480,56 EUR (davon 2.322,31 EUR Dienstbezüge) an und errechnete Beiträge in Höhe von 347,28 EUR zzgl. Zusatzbeitrag in Höhe von 27,29 EUR und zur Pflegeversicherung in Höhe von 31,63 EUR.20 Mit Urteil vom 27.02.2018 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Bescheide der Beklagten zu 1) vom 16.12.2015, vom 18.01.2016 und vom 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 seien rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte zu 1) habe zutreffend den monatlichen Kostenbeitrag Beihilfe und die Einkünfte der Klägerin aus Kapitalvermögen berücksichtigt. Der im Jahr 2004 eingeführte Beihilfebeitrag sei als Einnahme der Klägerin zum Lebensunterhalt zu berücksichtigen. Dabei handele es sich um eine Zahlung der Klägerin an ihren Arbeitgeber zur Inanspruchnahme von sog. Wahlleistungen im Krankenhaus im Rahmen der Beihilfegewährung. Lediglich die Beihilfeberechtigten, die diesen monatlichen Beitrag leisteten, erhielten gemäß der Beihilfeverordnung Baden-Württemberg bei der Inanspruchnahme von Wahlleistungen (wie z.B. Zweibettzimmer, Chefarztbehandlung) hierzu Beihilfeleistungen. Jedem Beihilfeberechtigten werde ein Wahlrecht eingeräumt, ob er die Beihilfe für Wahlleistungen in Anspruch nehme oder nicht. Für die Ausübung des Wahlrechts gelte eine Ausschlussfrist von fünf Monaten. Der Kostenbeitrag stünde somit nicht mit einer konkreten Erkrankung des Beihilfeberechtigten in Zusammenhang. Es handele sich vielmehr um eine vorbeugende Maßnahme für den Fall der Erforderlichkeit einer stationären Behandlung mit Inanspruchnahme von Wahlleistungen. Die Situation der Beihilfeberechtigten, die sich für die Inanspruchnahme von Wahlleistung entschieden hätten, sei damit vergleichbar mit der Situation von gesetzlich krankenversicherten Personen, die in eine entsprechende private Zusatzversicherung einzahlten. Aus dem Umstand, dass die Beklagte zu 1) irrtümlich bis November 2015 den Beihilfebeitrag nicht berücksichtigt habe, könne die Klägerin nichts für sich herleiten. Eine rückwirkende Änderung sei nur unter den Voraussetzungen des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) möglich. Einen Rechtsanspruch auf Beibehaltung der fehlerhaften Berechnung für die Zukunft stünde der Klägerin nicht zu. Auch die Verbeitragung der Einkünfte der Klägerin aus Kapitalvermögen sei rechtmäßig. Auch dabei handele es sich um Einnahmen, die für den Lebensunterhalt verbraucht würden oder verbraucht werden könnten. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) liege nicht vor. Insoweit werde auf die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung verwiesen, in der die unterschiedliche Behandlung von pflicht- und freiwillig Versicherten im Hinblick auf die Beitragserhebung auf Kapitaleinkünfte nicht in Frage gestellt werde.21 Gegen das ihr am 20.03.2018 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18.04.2018 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung ihre bisherige Argumentation wiederholt.22 Die Klägerin beantragt,23 das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.02.2018 aufzuheben und die Bescheide der Beklagten vom 16.12.2015, vom 18.01.2016 und vom 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 sowie die Bescheide vom 05.12.2016, 16.01.2017, 07.02.2017, 30.03.2017, 26.09.2017, 15.01.2018, 13.02.2018, 24.07.2018, 16.01.2019, 19.03.2019, 25.03.2019, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020 insoweit abzuändern, als darin Einkünfte aus Kapitalvermögen verbeitragt sowie der „Kostenbeitrag Beihilfe“ in Höhe von 22,00 EUR nicht von den zu verbeitragenden Bruttobezügen abgezogen werden.24 Die Beklagten beantragen,25 die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen die Bescheide vom 24.07.2018, 16.01.2019, 19.03.2019, 25.03.2019, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020 abzuweisen.26 Sie halten das angefochtene Urteil und ihre Bescheide für zutreffend. Ergänzend haben sie ausgeführt, der Beihilfebeitrag sei zwar steuerfrei und demnach kein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt im Sinne der Sozialversicherung. Es handele sich aber um eine sonstige Einnahme im Rahmen der gesamten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gemäß § 240 Abs. 1 Satz 2 SGB V, da der Beihilfebeitrag für den Lebensunterhalt verbraucht werden könne. Entscheidende Bedeutung erlange der Umstand, dass nicht der Dienstherr, sondern die Klägerin selbst Beitragszahlerin sei. Denn der Sache nach handele es sich um eine freiwillige Leistung, ähnlich wie Beiträge des gesetzlich Versicherten zu einer privaten Zusatzversicherung. Die Klägerin könne deshalb frei wählen, ob sie den Beihilfebeitrag leiste oder den Betrag ganz oder teilweise in eine private Krankenversicherung investiere oder ihn für andere Zwecke des Lebensunterhalts verbrauche. Es handele sich um eine freiwillige Verwendung des Betrages, um höherwertigere Beihilfeansprüche zu erlangen. Dieser Betrag könne ebenso gut in eine private Krankenzusatzversicherung investiert werden oder für die sonstigen Lebenshaltungskosten verbraucht werden. Es handele sich nicht um eine zweckbestimmte Einnahme und auch nicht um einen Beitragszuschuss, den der Arbeitgeber für eine freiwillige Krankenversicherung zu zahlen verpflichtet wäre.27 Mit Bescheid vom 24.07.2018 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beiträge ab dem 01.07.2018 neu fest, nachdem die Klägerin neue Einkommensnachweise übersandt hatte. Der Berechnung legte sie Bezüge in Höhe von 2.385,02 EUR sowie Kapitaleinkünfte in Höhe von 135,75 EUR (laut Steuerbescheid für 2016) zugrunde und errechnete einen Beitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 352,91 EUR zzgl. Zusatzbeitrag in Höhe von 27,73 EUR und zur Pflegeversicherung in Höhe von 32,14 EUR.28 Mit Bescheid vom 16.01.2019 passte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beiträge an die zum 01.01.2019 geänderten Beitragssätze an (Krankenversicherung 352,91 EUR, Zusatzbeitrag 24,70 EUR, Pflegeversicherung 38,44 EUR).29 Mit Bescheid vom 19.03.2019 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beiträge ab dem 01.02.2019 neu fest, nachdem die Klägerin am 12.03.2019 den Einkommenssteuerbescheid für 2017 vom 10.01.2019 übersandt hatte. Der Berechnung legte sie Bezüge in Höhe von 2.385,02 EUR sowie Kapitaleinkünfte in Höhe von 148,08 EUR zugrunde und errechnete einen Beitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 354,63 EUR zzgl. Zusatzbeitrag in Höhe von 24,82 EUR und zur Pflegeversicherung in Höhe von 38,63 EUR.30 Mit Bescheid vom 25.03.2019 erließ die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – eine inhaltlich den Festsetzungen im Bescheid vom 19.03.2019 entsprechende Verfügung und reduzierte den im Bescheid vom 19.03.2019 ausgewiesenen Beitragsrückstand wegen eines Rechenfehlers.31 Mit Bescheid vom 10.09.2019 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – auf Grundlage der von der Klägerin vorgelegten Verdienstabrechnung für August 2019, wonach sie Bezüge in Höhe von 2.462,05 EUR und eine Nachzahlung in Höhe von 539,21 EUR erhält, die Beiträge ab dem 01.01.2019 neu fest. Der Berechnung legte sie Bezüge in Höhe von 2.462,05 EUR sowie Kapitaleinkünfte in Höhe von 135,75 EUR (ab 01.02.2019 in Höhe von 148,08 EUR) zugrunde und errechnete einen Beitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 363,69 EUR (ab 01.02.2019 in Höhe von 365,42 EUR) zzgl. Zusatzbeitrag in Höhe von 25,46 EUR (ab 01.02.2019 in Höhe von 25,58 EUR) und zur Pflegeversicherung in Höhe von 39,62 EUR (ab 01.02.2019 in Höhe von 39,80 EUR).32 Mit Bescheid vom 06.02.2020 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beitragshöhe ab dem 01.01.2020 auf Grundlage der von der Klägerin vorgelegten Verdienstabrechnung für Januar 2020 fest. Der Berechnung legte sie Bezüge in Höhe von 2.541,53 EUR sowie Kapitaleinkünfte in Höhe von 148,08 EUR zugrunde und errechnete einen Beitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 376,55 EUR zzgl. Zusatzbeitrag in Höhe von 26,36 EUR und zur Pflegeversicherung in Höhe von 41,02 EUR.33 Mit Bescheid vom 28.02.2020 setzte die Beklagte zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beitragshöhe ab dem 01.02.2020 auf Grundlage des von der Klägerin vorgelegten Einkommenssteuerbescheids für 2018 vom 31.01.2020 fest. Der Berechnung legte sie Bezüge in Höhe von 2.541,53 EUR sowie Kapitaleinkünfte in Höhe von 113,50 EUR zugrunde und errechnete einen Beitrag zur Krankenversicherung in Höhe von 371,70 EUR zzgl. Zusatzbeitrag in Höhe von 26,02 EUR und zur Pflegeversicherung in Höhe von 40,49 EUR.34 Mit Bescheid vom 15.09.2020 hat die Beklagten zu 1) – zugleich im Namen der Beklagten zu 2) – die Beitragshöhe ab dem 01.09.2020 neu festgesetzt. Die Berechnungsweise blieb hinsichtlich des Beihilfebeitrags und der Kapitaleinkünfte unverändert.35 Die Berichterstatterin hat die Rechts- und Sachlage mit den Beteiligten am 28.01.2020 erörtert.36 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die bei der Beklagten geführte Leistungsakte, die Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe
37 1. Die form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.38 2. Streitgegenständlich sind (noch) die Bescheide der Beklagten vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 sowie die Bescheide vom 05.12.2016, 16.01.2017, 07.02.2017, 30.03.2017, 26.09.2017, 15.01.2018, 13.02.2018, 24.07.2018, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020, soweit die Beklagten darin ab dem 01.11.2015 Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung aus dem Beihilfebeitrag in Höhe von 22,00 EUR und den Kapitalerträgen der Klägerin fordern. Nur über diese abtrennbaren, tatsächlich und rechtlich selbstständigen Teile der Beitragsforderung streiten die Beteiligten. Die während des Verfahrens beim SG ergangenen Bescheide vom 05.12.2016, 16.01.2017, 07.02.2017, 30.03.2017, 26.09.2017, 15.01.2018 und 13.02.2018 sind gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden, weil sie für den jeweiligen neuen Zeitraum die vorherigen Beitragsfestsetzungen ersetzen. Da das SG über diese Bescheide versehentlich nicht entschieden hat, hat das Berufungsgericht die Entscheidung über diese Bescheide nachzuholen (BSG, Urteil vom 20.12.2012 - B 10 EG 19/11 R -, in juris, Rn. 17; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 96 Rn. 12a). Die während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide vom 24.07.2018, 16.01.2019, 19.03.2019, 25.03.2019, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020 sind gemäß §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Die Bescheide vom 16.01.2019, 19.03.2019 und 25.03.2019 haben sich allerdings während des Verfahrens erledigt, weil sie durch den Zweitbescheid vom 10.09.2019 vollumfänglich ersetzt worden sind. Hinsichtlich der übrigen Bescheide hat der Senat nicht auf Berufung, sondern auf Klage zu entscheiden (Bundessozialgericht , Urteil vom 26.05.2011 - B 10 EG 12/10 R -, in juris, Rn. 17; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 96 Rn. 7 m.w.N.).39 Der Einbeziehung der Bescheide steht nicht entgegen, dass die ursprüngliche Klage gegen die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 unzulässig ist, soweit sich die Klägerin gegen die Verbeitragung ihrer Kapitalerträge wendet (siehe unten). Denn auch eine unzulässige Klage begründet die für die Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG erforderliche Rechtshängigkeit (BSG, Urteil vom 25.04.2018 - B 8 SO 23/16 R -, in juris, Rn. 21; BSG, Urteil vom 24.09.1992 - 9a RV 39/91 -, in juris, Rn. 14; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 96 Rn. 2; Becker in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl. 2014, § 96 Rn. 10).40 3. Die Berufung der Klägerin hat teilweise Erfolg. Die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 sowie die Bescheide vom 05.12.2016, 16.01.2017, 07.02.2017, 30.03.2017, 26.09.2017, 15.01.2018, 13.02.2018, 24.07.2018, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020 sind rechtswidrig, soweit sie den Beihilfebeitrag in Höhe von 22,00 EUR der Verbeitragung unterwerfen. Im Übrigen hat die Klage jedoch keinen Erfolg. Soweit die streitgegenständlichen Bescheide insoweit einer Sachentscheidung zugänglich waren (s. dazu sogleich), sind sie rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.41 4. Die Klage gegen die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 ist allerdings unzulässig, soweit sich die Klägerin gegen die Verbeitragung ihrer Kapitalerträge wendet. Denn die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 waren insoweit nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens beim SG mit Aktenzeichen S 11 KR 3006/15. Sie konnten deshalb zulässigerweise nicht zum Gegenstand eines erneuten Widerspruchsverfahrens gemacht werden. Der Widerspruch war von vornherein unstatthaft mit der Folge, dass die Klage insoweit unzulässig ist (vgl. BSG, Urteil vom 25.04.2018 - B 8 SO 23/16 R -, in juris, Rn. 22). Dem steht nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides die erste Klage beendet war. Denn die mit der Rücknahme der Klage eingetretene Bestandskraft der Bescheide konnte mit Erlass des Widerspruchsbescheids nicht durchbrochen werden.42 5. Im Übrigen ist die Klage gegen die angefochtenen Bescheide (soweit sich diese nicht wie oben dargestellt erledigt haben) zulässig, jedoch nur in dem oben genannten Umfang begründet. Die Verbeitragung des Beihilfebeitrags in Höhe von 22,00 EUR ist nicht rechtmäßig. Soweit die Beklagten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung aus den Einkünften der Klägerin aus Kapitalvermögen fordern, sind die Bescheide aber nicht zu bestanden.43 a) Nach § 220 Abs. 1 Satz 1 SGB V werden die Mittel der Krankenversicherung unter anderem durch Beiträge aufgebracht. Nach § 223 Abs. 2 SGB V werden die Beiträge nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder bemessen (Satz 1). Für die Berechnung ist die Woche zu sieben, der Monat zu dreißig und das Jahr zu dreihundertsechzig Tagen anzusetzen (Satz 2). Beitragspflichtige Einnahmen sind nach § 223 Abs. 3 SGB V bis zu einem Betrag von einem Dreihundertsechzigstel der Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 7 SGB V für den Kalendertag zu berücksichtigen (Beitragsbemessungsgrenze; Satz 1). Einnahmen, die diesen Betrag übersteigen, bleiben außer Ansatz, soweit das SGB V nichts Abweichendes bestimmt (Satz 2). Die beitragspflichtigen Einnahmen freiwilliger Mitglieder werden in § 240 SGB V bestimmt. Nach Abs. 1 Satz 1 (in der seit 01.01.2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung [GKV-WSG] vom 26.03.2007 [BGBl. I S. 378]) wird diese Beitragsbemessung - im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben in den weiteren Bestimmungen des § 240 SGB V - einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt, der hierzu die „Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler“ (BeitrVerfGrds SelbstZ) erlassen hat (zu deren Wirksamkeit: BSG, Urteil vom 19.12.2012 - B 12 KR 20/11 R -, in juris, Rn. 13 ff.). Bei der Beitragsbemessung ist sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt. Bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind mindestens die Einnahmen des freiwilligen Mitglieds zu berücksichtigen, die bei einem vergleichbaren versicherungspflichtig Beschäftigten der Beitragsbemessung zugrunde zu legen sind (§ 240 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz in der seit 01.01.1989 geltenden Fassung des Gesundheits-Reformgesetzes [GRG] vom 20.12.1988 [BGBl. I, S. 2477], Abs. 2 Satz 1 SGB V in der seit 01.01.2009 geltenden Fassung des GKV-WSG). Allerdings gibt das Gesetz in § 240 Abs. 4 Satz 1 SGB V (in der seit 01.01.1989 geltenden Fassung des GRG vom 20.12.1988, a.a.O.) eine verbindliche Bestimmung über die beitragspflichtigen Einnahmen für freiwillige Mitglieder vor, wonach als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag mindestens der neunzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße gilt. Als beitragspflichtige Einnahmen sind das Arbeitsentgelt, das Arbeitseinkommen, der Zahlbetrag der Rente der gesetzlichen Rentenversicherung, der Zahlbetrag der Versorgungsbezüge sowie alle Einnahmen und Geldmittel, die für den Lebensunterhalt verbraucht werden oder verbraucht werden können, ohne Rücksicht auf ihre steuerliche Behandlung zugrunde zu legen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 BeitrVerfGrds SelbstZ). Einnahmen, die nicht in Geld bestehen, sind entsprechend den für die Sachbezüge geltenden Regelungen der Sozialversicherungsentgeltordnung zu bewerten (§ 3 Abs. 1 Satz 2 BeitrVerfGrds SelbstZ). Einnahmen aus Vermietung, Verpachtung und Einnahmen aus Kapitalvermögen sind den beitragspflichtigen Einnahmen nach Abzug von Werbungskosten zuzurechnen (§ 3 Abs. 1b BeitrVerfGrds SelbstZ). Für Beamte, Richter, Soldaten und sonstige versicherungsfreie Beschäftigte im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 SGB V gelten als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag 1/360 der auf der Grundlage der gegenwärtigen Verhältnisse zu erwartenden Bezüge eines Jahres aus dem Dienstverhältnis sowie die sonstigen Einnahmen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 BeitrVerfGrds SelbstZ). Nach § 243 Sätze 1, 3 SGB V gilt für Mitglieder, die keinen Anspruch auf Krankengeld haben, ein ermäßigter Beitragssatz, seit 01.01.2015 14,0 % (§ 243 Satz 3 SGB V in der Fassung des GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetzes vom 21. 07.2014, BGBl. I S. 1133). Zusätzlich können die Krankenkassen nach § 242 einen Zusatzbeitrag verlangen.44 Die Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung werden nach § 57 Abs. 4 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) iVm § 240 SGB V bemessen. Der Beitragssatz für die Pflegeversicherung wird nach § 55 Abs. 1 SGB XI bundeseinheitlich durch Gesetz festgesetzt. Für Personen, bei denen § 28 Abs. 2 SGB XI Anwendung findet, beträgt nach § 55 Abs. 1 S. 2 SGB XI der Beitragssatz die Hälfte des Beitragssatzes nach Satz 1. Personen, die nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit und Pflege Anspruch auf Beihilfe oder Heilfürsorge haben, erhalten nach § 28 Abs. 2 SGB XI die jeweils zustehenden Leistungen zur Hälfte; dies gilt auch für den Wert von Sachleistungen.45 b) Unter Anwendung dieser Regelungen ist der Beihilfebeitrag in Höhe von 22,00 EUR von den beitragspflichtigen Einnahmen der Klägerin abzuziehen.46 Der Begriff des Arbeitsentgelts bestimmt sich nach § 14 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Danach sind Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Hierzu gehört auch die Besoldung der Beamten, weil in § 14 SGB IV nicht danach differenziert wird, ob eine versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Beschäftigung ausgeübt wird.47 Ausnahmen von § 14 SGB IV können gemäß der Verordnungsermächtigung in § 17 SGB IV durch die Arbeitsentgeltverordnung geregelt werden. Von dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung Gebrauch gemacht. Nach § 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialversicherungsentgeltverordnung (; früher § 1 ArEV ) sind einmalige Einnahmen, laufende Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse sowie ähnliche Einnahmen, die „zusätzlich“ zu Löhnen oder Gehältern gewährt werden, nicht dem Arbeitsentgelt zuzurechnen, soweit sie lohnsteuerfrei sind. Für Sachbezüge, die nicht von § 2 SvEV (Verpflegung, Unterkunft, Wohnung) erfasst werden, gilt § 8 Abs. 2 Satz 1 Einkommenssteuergesetz (EStG) entsprechend (§ 3 Abs. 1 Satz 4 SvEV), wonach Sachbezüge bis zu einer Freigrenze von 44,00 EUR außer Ansatz bleiben.48 Die Grundbezüge der Klägerin sind zunächst Arbeitsentgelt im Sinne von § 14 SGB IV. Allerdings werden diese Grundbezüge in Höhe eines „Kostenbeitrags Beihilfe“ von 22,00 EUR nicht ausbezahlt. Denn der Barlohn wurde in dieser Höhe zu Gunsten einer Zusage des Dienstherrn auf Versorgungsleistungen im Krankheitsfall umgewandelt (vgl. Finanzministerium Baden-Württemberg, Mitteilung zur steuerlichen Behandlung des Kostenbeitrags für einen Beihilfeanspruch im Fall von Wahlleistungen bei stationärer Behandlung vom 25.02.2004, 3-S 235.0/21, in juris). Dieser Entgeltumwandung liegt eine entsprechende Erklärung der Klägerin auf Grundlage des § 6a Abs. 2 Satz 1 der Beihilfeverordnung (BVO) Baden-Württemberg (vom 28.07.1995, GBl. S. 561, hier in der Fassung der Änderungsverordnung vom 20.12.2013, GBl. S. 53) zugrunde, wonach Beihilfeberechtigte Anspruch haben auf Beihilfen für die Aufwendungen für Wahlleistungen nach § 6a Abs. 1 Nr. 3 BVO (wählärztliche Leistungen) gegen Zahlung eines Betrages von 22,00 EUR monatlich, wenn innerhalb einer Ausschlussfrist von fünf Monaten erklärt wird, dass sie Beihilfen zu Aufwendungen für Wahlleistungen ab Beginn der Frist in Anspruch nehmen wollen. Der Einbehalt der 22,00 EUR liegt demnach nicht lediglich eine Verwendungsabrede zugrunde, sondern eine rechtlich wirksame Entgeltumwandlung. Damit ist für die Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge als Entgelt nur noch der verbliebene reduzierte Barlohn (hier Grundbezüge abzgl. 22,00 EUR) und der Wert des Sachbezuges zugrunde zu legen (vgl. BSG, Urteil vom 02.03.2010 - B 12 R 5/09 R -, in juris, Rn. 17).49 Die Versorgungszusage des Dienstherrn der Klägerin, Kosten für Wahlleistungen zu übernehmen, ist steuer- und beitragsfrei. Sie stellt eine zusätzliche laufende Einnahme im Sinne des § 1 SvEV dar und wird lohnsteuerfrei gewährt (vgl. zu Letzterem Finanzministerium Baden-Württemberg, Mitteilung zur steuerlichen Behandlung des Kostenbeitrags für einen Beihilfeanspruch im Fall von Wahlleistungen bei stationärer Behandlung vom 25.02.2004, 3-S 235.0/21, in juris). Ob dies steuerrechtlich zutreffend ist, kann dahingestellt bleiben. Die steuerrechtliche Behandlung der Finanzbehörden entfaltet Tatbestandswirkung. Das Kriterium der Zusätzlichkeit steht einer Anwendung des § 1 Satz 1 Nr. 1 SvEV nicht entgegen, wenn wie hier das Steuerrecht kein Zusätzlichkeitserfordernis verlangt (vgl. auch das Ergebnis der Besprechung des GKV-Spitzenverbandes, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 20./21.11.2013, zur beitragsrechtlichen Behandlung zusätzlich zum Arbeitsentgelt gewährter steuerfreier oder pauschalbesteuerter Entgeltbestandteile). Andernfalls fielen sämtliche Entgeltumwandlungen aus dem Anwendungsbereich der Regelung heraus. Ein Sachverhalt, der die Steuerfreiheit davon abhängig macht, dass Einnahmen „zusätzlich“ zum Lohn erzielt werden (vgl. z.B. § 3 Nr. 33 bis 34a EStG), liegt nicht vor. Aufgrund ihrer Lohnsteuerfreiheit ist die Versorgungszusage somit nicht dem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsentgelt im Sinne von § 14 SGB IV zuzurechnen.50 Dies ergibt sich darüber hinaus aus § 3 Abs. 1 Satz 4 SvEV i.V.m. § 8 Abs. 2 Satz 11 EStG. Die Einnahme „Versorgungszusage“ wird nicht in Geld, sondern als Sachbezug erzielt. Die Versorgungszusage unterliegt dabei genauso wie die Verschaffung von Krankenversicherungsschutz (dazu Bundesfinanzhof , Urteil vom 07.06.2018 - VI R 13/16 R -, in juris) als Sachbezug der Freigrenze des § 3 Abs. 1 Satz 4 SvEV i.V.m. § 8 Abs. 2 Satz 11 EStG. Mit einem Wert des Sachbezugs in Höhe von 22,00 EUR wird die Freigrenze von 44,00 EUR nicht überschritten, so dass es sich auch deshalb nicht um sozialversicherungspflichtiges Arbeitsentgelt handelt.51 Der Beihilfebeitrag ist auch keine sonstige Einnahme zum Lebensunterhalt. Nach der Umwandlung des Barlohns zu Gunsten einer Zusage des Dienstherrn auf Versorgungsleistungen steht der Betrag von 22,00 EUR gerade nicht (mehr) dem Lebensunterhalt der Klägerin zur Verfügung.52 Für das von der Klägerin seit dem 01.09.2020 bezogene Ruhegehalt gilt Entsprechendes. Es ist zwar kein Arbeitsentgelt im Sinne von § 14 Abs. 1 SGB IV (BSG, Urteil vom 29.08.1984 - 11 RK 5/83 -, in juris). Die für die Bezüge geltenden Bestimmungen sind aber gemäß § 7 Abs. 2 Satz 3 BeitrVerfGrds SelbstZ für das Ruhegehalt entsprechend anwendbar.53 c) Demgegenüber sind die Einkünfte der Klägerin aus Kapitalvermögen beitragspflichtig in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Dies ergibt sich aus § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.V.m. § 7 Abs. 2 Satz 1, § 3 Abs. 1b BeitrVerfGrds SelbstZ, wonach zu den beitragspflichtigen Einnahmen der Beamten auch Einnahmen aus Kapitalvermögen gehören.54 Diese Regelung ist verfassungsgemäß. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Die unterschiedliche Behandlung von pflichtversicherten Angestellten im Öffentlichen Dienst und freiwilligen Versicherten Beamten ist gerechtfertigt.55 Eine ungleiche Behandlung von Normadressaten ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar, wenn zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl. etwa Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Urteil vom 23.01.1990 - 1 BvL 44/86 -, in juris, Rn. 167; BVerfG, Beschluss vom 30.05.1990 - 1 BvL 2/83 -, in juris, Rn. 73). Dabei sind sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers hinzunehmen, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlerhaft noch mit der Werteordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind (BVerfG, Beschluss vom 08.02.1994 - 1 BvR 1237/85 -, in juris, Rn. 39). Der allgemeine Gleichheitssatz fordert vom Gesetzgeber nicht, dass er sämtliche Fallkonstellationen einer Regelung entsprechend ihrer jeweiligen Besonderheiten unterzieht. Er darf vielmehr - gerade im Bereich der Sozialversicherung - bei der Ordnung von Massenerscheinungen typisierende Regelungen schaffen mit der Folge, dass im Einzelfall auftretende unvermeidliche Härten hinzunehmen sind (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 08.02.1983 - 1 BvL 28/79 -, in juris, Rn. 38). Es ist nicht Sache der Rechtsprechung zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste oder zweckmäßigste Lösung getroffen hat. Auch die Systemwidrigkeit einer bestimmten Regelung führt für sich allein noch nicht zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Nach welchem System der Gesetzgeber eine Materie ordnen will, obliegt, ebenso wie die Zweckmäßigkeit einer Regelung, seiner Entscheidung; auch solche Entscheidungen sind nur nach den Maßstäben der Verfassung, nicht aber unter dem Gesichtspunkt der Systemwidrigkeit zu überprüfen (BVerfG, Beschluss vom 10.11.1981 - 1 BvL 18/77 -, in juris, Rn. 34). Nur die Einhaltung der Grenzen gesetzgeberischer Entscheidungsspielräume ist von der Rechtsprechung zu überprüfen; die Unsachlichkeit der Regelung muss evident sein, wenn der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein soll (BVerfG, Beschluss vom 01.07.1964 - 1 BvR 375/62 -, in juris, Rn. 12).56 Aus den genannten Gründen ergibt sich, dass die beitragsrechtliche Ungleichbehandlung von Pflichtversicherten und freiwillig Versicherten eine sachliche Rechtfertigung aufweist (vgl. insoweit bereits BVerfG, Beschluss vom 15.03.2000 - 1 BvL 16/96 -, in juris; Kammerbeschluss vom 03.02.1993 - 1 BvR 1920/92 -, in juris, unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 06.12.1988 - 2 BvL 18/84 -, in juris; BSG, Urt. v. 10.10.2017 - B 12 KR 16/16 R -, in juris; BSG, Urt. v. 30.11.2016 - B 12 KR 6/15 R -, in juris; BSG, Urteil vom 17.03.2010 - B 12 KR 4/09 R -, in juris; m.w.N.). Dies gilt auch soweit freiwillig versicherte Beamte im Vergleich zu pflichtversicherten Angestellten im Öffentlichen Dienst beitragsrechtlich ungleich behandelt werden. Sie können wie andere von der Versicherungspflicht nicht erfasste Personen kraft eigener Willensentschließung freiwilliges Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung werden oder sich privat gegen das Risiko der Krankheit versichern. Entscheiden sie sich für Ersteres unterliegen sie denselben Regeln wie die übrigen freiwillig Versicherten.57 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Kostenquote berücksichtigt das anteilige Unterliegen und Obsiegen der Beteiligten.58 7. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, dass eine nennenswerte Anzahl vergleichbarer Fälle existiert, die eine grundsätzliche Bedeutung begründen könnten.
Gründe
37 1. Die form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.38 2. Streitgegenständlich sind (noch) die Bescheide der Beklagten vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 sowie die Bescheide vom 05.12.2016, 16.01.2017, 07.02.2017, 30.03.2017, 26.09.2017, 15.01.2018, 13.02.2018, 24.07.2018, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020, soweit die Beklagten darin ab dem 01.11.2015 Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung aus dem Beihilfebeitrag in Höhe von 22,00 EUR und den Kapitalerträgen der Klägerin fordern. Nur über diese abtrennbaren, tatsächlich und rechtlich selbstständigen Teile der Beitragsforderung streiten die Beteiligten. Die während des Verfahrens beim SG ergangenen Bescheide vom 05.12.2016, 16.01.2017, 07.02.2017, 30.03.2017, 26.09.2017, 15.01.2018 und 13.02.2018 sind gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden, weil sie für den jeweiligen neuen Zeitraum die vorherigen Beitragsfestsetzungen ersetzen. Da das SG über diese Bescheide versehentlich nicht entschieden hat, hat das Berufungsgericht die Entscheidung über diese Bescheide nachzuholen (BSG, Urteil vom 20.12.2012 - B 10 EG 19/11 R -, in juris, Rn. 17; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 96 Rn. 12a). Die während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide vom 24.07.2018, 16.01.2019, 19.03.2019, 25.03.2019, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020 sind gemäß §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Die Bescheide vom 16.01.2019, 19.03.2019 und 25.03.2019 haben sich allerdings während des Verfahrens erledigt, weil sie durch den Zweitbescheid vom 10.09.2019 vollumfänglich ersetzt worden sind. Hinsichtlich der übrigen Bescheide hat der Senat nicht auf Berufung, sondern auf Klage zu entscheiden (Bundessozialgericht , Urteil vom 26.05.2011 - B 10 EG 12/10 R -, in juris, Rn. 17; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 96 Rn. 7 m.w.N.).39 Der Einbeziehung der Bescheide steht nicht entgegen, dass die ursprüngliche Klage gegen die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 unzulässig ist, soweit sich die Klägerin gegen die Verbeitragung ihrer Kapitalerträge wendet (siehe unten). Denn auch eine unzulässige Klage begründet die für die Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG erforderliche Rechtshängigkeit (BSG, Urteil vom 25.04.2018 - B 8 SO 23/16 R -, in juris, Rn. 21; BSG, Urteil vom 24.09.1992 - 9a RV 39/91 -, in juris, Rn. 14; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 96 Rn. 2; Becker in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl. 2014, § 96 Rn. 10).40 3. Die Berufung der Klägerin hat teilweise Erfolg. Die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 sowie die Bescheide vom 05.12.2016, 16.01.2017, 07.02.2017, 30.03.2017, 26.09.2017, 15.01.2018, 13.02.2018, 24.07.2018, 10.09.2019, 06.02.2020, 28.02.2020 und 15.09.2020 sind rechtswidrig, soweit sie den Beihilfebeitrag in Höhe von 22,00 EUR der Verbeitragung unterwerfen. Im Übrigen hat die Klage jedoch keinen Erfolg. Soweit die streitgegenständlichen Bescheide insoweit einer Sachentscheidung zugänglich waren (s. dazu sogleich), sind sie rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.41 4. Die Klage gegen die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 ist allerdings unzulässig, soweit sich die Klägerin gegen die Verbeitragung ihrer Kapitalerträge wendet. Denn die Bescheide vom 16.12.2015, 18.01.2016 und 17.02.2016 waren insoweit nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens beim SG mit Aktenzeichen S 11 KR 3006/15. Sie konnten deshalb zulässigerweise nicht zum Gegenstand eines erneuten Widerspruchsverfahrens gemacht werden. Der Widerspruch war von vornherein unstatthaft mit der Folge, dass die Klage insoweit unzulässig ist (vgl. BSG, Urteil vom 25.04.2018 - B 8 SO 23/16 R -, in juris, Rn. 22). Dem steht nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides die erste Klage beendet war. Denn die mit der Rücknahme der Klage eingetretene Bestandskraft der Bescheide konnte mit Erlass des Widerspruchsbescheids nicht durchbrochen werden.42 5. Im Übrigen ist die Klage gegen die angefochtenen Bescheide (soweit sich diese nicht wie oben dargestellt erledigt haben) zulässig, jedoch nur in dem oben genannten Umfang begründet. Die Verbeitragung des Beihilfebeitrags in Höhe von 22,00 EUR ist nicht rechtmäßig. Soweit die Beklagten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung aus den Einkünften der Klägerin aus Kapitalvermögen fordern, sind die Bescheide aber nicht zu bestanden.43 a) Nach § 220 Abs. 1 Satz 1 SGB V werden die Mittel der Krankenversicherung unter anderem durch Beiträge aufgebracht. Nach § 223 Abs. 2 SGB V werden die Beiträge nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder bemessen (Satz 1). Für die Berechnung ist die Woche zu sieben, der Monat zu dreißig und das Jahr zu dreihundertsechzig Tagen anzusetzen (Satz 2). Beitragspflichtige Einnahmen sind nach § 223 Abs. 3 SGB V bis zu einem Betrag von einem Dreihundertsechzigstel der Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 7 SGB V für den Kalendertag zu berücksichtigen (Beitragsbemessungsgrenze; Satz 1). Einnahmen, die diesen Betrag übersteigen, bleiben außer Ansatz, soweit das SGB V nichts Abweichendes bestimmt (Satz 2). Die beitragspflichtigen Einnahmen freiwilliger Mitglieder werden in § 240 SGB V bestimmt. Nach Abs. 1 Satz 1 (in der seit 01.01.2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung [GKV-WSG] vom 26.03.2007 [BGBl. I S. 378]) wird diese Beitragsbemessung - im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben in den weiteren Bestimmungen des § 240 SGB V - einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt, der hierzu die „Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler“ (BeitrVerfGrds SelbstZ) erlassen hat (zu deren Wirksamkeit: BSG, Urteil vom 19.12.2012 - B 12 KR 20/11 R -, in juris, Rn. 13 ff.). Bei der Beitragsbemessung ist sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt. Bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind mindestens die Einnahmen des freiwilligen Mitglieds zu berücksichtigen, die bei einem vergleichbaren versicherungspflichtig Beschäftigten der Beitragsbemessung zugrunde zu legen sind (§ 240 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz in der seit 01.01.1989 geltenden Fassung des Gesundheits-Reformgesetzes [GRG] vom 20.12.1988 [BGBl. I, S. 2477], Abs. 2 Satz 1 SGB V in der seit 01.01.2009 geltenden Fassung des GKV-WSG). Allerdings gibt das Gesetz in § 240 Abs. 4 Satz 1 SGB V (in der seit 01.01.1989 geltenden Fassung des GRG vom 20.12.1988, a.a.O.) eine verbindliche Bestimmung über die beitragspflichtigen Einnahmen für freiwillige Mitglieder vor, wonach als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag mindestens der neunzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße gilt. Als beitragspflichtige Einnahmen sind das Arbeitsentgelt, das Arbeitseinkommen, der Zahlbetrag der Rente der gesetzlichen Rentenversicherung, der Zahlbetrag der Versorgungsbezüge sowie alle Einnahmen und Geldmittel, die für den Lebensunterhalt verbraucht werden oder verbraucht werden können, ohne Rücksicht auf ihre steuerliche Behandlung zugrunde zu legen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 BeitrVerfGrds SelbstZ). Einnahmen, die nicht in Geld bestehen, sind entsprechend den für die Sachbezüge geltenden Regelungen der Sozialversicherungsentgeltordnung zu bewerten (§ 3 Abs. 1 Satz 2 BeitrVerfGrds SelbstZ). Einnahmen aus Vermietung, Verpachtung und Einnahmen aus Kapitalvermögen sind den beitragspflichtigen Einnahmen nach Abzug von Werbungskosten zuzurechnen (§ 3 Abs. 1b BeitrVerfGrds SelbstZ). Für Beamte, Richter, Soldaten und sonstige versicherungsfreie Beschäftigte im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 SGB V gelten als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag 1/360 der auf der Grundlage der gegenwärtigen Verhältnisse zu erwartenden Bezüge eines Jahres aus dem Dienstverhältnis sowie die sonstigen Einnahmen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 BeitrVerfGrds SelbstZ). Nach § 243 Sätze 1, 3 SGB V gilt für Mitglieder, die keinen Anspruch auf Krankengeld haben, ein ermäßigter Beitragssatz, seit 01.01.2015 14,0 % (§ 243 Satz 3 SGB V in der Fassung des GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetzes vom 21. 07.2014, BGBl. I S. 1133). Zusätzlich können die Krankenkassen nach § 242 einen Zusatzbeitrag verlangen.44 Die Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung werden nach § 57 Abs. 4 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) iVm § 240 SGB V bemessen. Der Beitragssatz für die Pflegeversicherung wird nach § 55 Abs. 1 SGB XI bundeseinheitlich durch Gesetz festgesetzt. Für Personen, bei denen § 28 Abs. 2 SGB XI Anwendung findet, beträgt nach § 55 Abs. 1 S. 2 SGB XI der Beitragssatz die Hälfte des Beitragssatzes nach Satz 1. Personen, die nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit und Pflege Anspruch auf Beihilfe oder Heilfürsorge haben, erhalten nach § 28 Abs. 2 SGB XI die jeweils zustehenden Leistungen zur Hälfte; dies gilt auch für den Wert von Sachleistungen.45 b) Unter Anwendung dieser Regelungen ist der Beihilfebeitrag in Höhe von 22,00 EUR von den beitragspflichtigen Einnahmen der Klägerin abzuziehen.46 Der Begriff des Arbeitsentgelts bestimmt sich nach § 14 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Danach sind Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Hierzu gehört auch die Besoldung der Beamten, weil in § 14 SGB IV nicht danach differenziert wird, ob eine versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Beschäftigung ausgeübt wird.47 Ausnahmen von § 14 SGB IV können gemäß der Verordnungsermächtigung in § 17 SGB IV durch die Arbeitsentgeltverordnung geregelt werden. Von dieser Ermächtigung hat die Bundesregierung Gebrauch gemacht. Nach § 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialversicherungsentgeltverordnung (; früher § 1 ArEV ) sind einmalige Einnahmen, laufende Zulagen, Zuschläge, Zuschüsse sowie ähnliche Einnahmen, die „zusätzlich“ zu Löhnen oder Gehältern gewährt werden, nicht dem Arbeitsentgelt zuzurechnen, soweit sie lohnsteuerfrei sind. Für Sachbezüge, die nicht von § 2 SvEV (Verpflegung, Unterkunft, Wohnung) erfasst werden, gilt § 8 Abs. 2 Satz 1 Einkommenssteuergesetz (EStG) entsprechend (§ 3 Abs. 1 Satz 4 SvEV), wonach Sachbezüge bis zu einer Freigrenze von 44,00 EUR außer Ansatz bleiben.48 Die Grundbezüge der Klägerin sind zunächst Arbeitsentgelt im Sinne von § 14 SGB IV. Allerdings werden diese Grundbezüge in Höhe eines „Kostenbeitrags Beihilfe“ von 22,00 EUR nicht ausbezahlt. Denn der Barlohn wurde in dieser Höhe zu Gunsten einer Zusage des Dienstherrn auf Versorgungsleistungen im Krankheitsfall umgewandelt (vgl. Finanzministerium Baden-Württemberg, Mitteilung zur steuerlichen Behandlung des Kostenbeitrags für einen Beihilfeanspruch im Fall von Wahlleistungen bei stationärer Behandlung vom 25.02.2004, 3-S 235.0/21, in juris). Dieser Entgeltumwandung liegt eine entsprechende Erklärung der Klägerin auf Grundlage des § 6a Abs. 2 Satz 1 der Beihilfeverordnung (BVO) Baden-Württemberg (vom 28.07.1995, GBl. S. 561, hier in der Fassung der Änderungsverordnung vom 20.12.2013, GBl. S. 53) zugrunde, wonach Beihilfeberechtigte Anspruch haben auf Beihilfen für die Aufwendungen für Wahlleistungen nach § 6a Abs. 1 Nr. 3 BVO (wählärztliche Leistungen) gegen Zahlung eines Betrages von 22,00 EUR monatlich, wenn innerhalb einer Ausschlussfrist von fünf Monaten erklärt wird, dass sie Beihilfen zu Aufwendungen für Wahlleistungen ab Beginn der Frist in Anspruch nehmen wollen. Der Einbehalt der 22,00 EUR liegt demnach nicht lediglich eine Verwendungsabrede zugrunde, sondern eine rechtlich wirksame Entgeltumwandlung. Damit ist für die Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge als Entgelt nur noch der verbliebene reduzierte Barlohn (hier Grundbezüge abzgl. 22,00 EUR) und der Wert des Sachbezuges zugrunde zu legen (vgl. BSG, Urteil vom 02.03.2010 - B 12 R 5/09 R -, in juris, Rn. 17).49 Die Versorgungszusage des Dienstherrn der Klägerin, Kosten für Wahlleistungen zu übernehmen, ist steuer- und beitragsfrei. Sie stellt eine zusätzliche laufende Einnahme im Sinne des § 1 SvEV dar und wird lohnsteuerfrei gewährt (vgl. zu Letzterem Finanzministerium Baden-Württemberg, Mitteilung zur steuerlichen Behandlung des Kostenbeitrags für einen Beihilfeanspruch im Fall von Wahlleistungen bei stationärer Behandlung vom 25.02.2004, 3-S 235.0/21, in juris). Ob dies steuerrechtlich zutreffend ist, kann dahingestellt bleiben. Die steuerrechtliche Behandlung der Finanzbehörden entfaltet Tatbestandswirkung. Das Kriterium der Zusätzlichkeit steht einer Anwendung des § 1 Satz 1 Nr. 1 SvEV nicht entgegen, wenn wie hier das Steuerrecht kein Zusätzlichkeitserfordernis verlangt (vgl. auch das Ergebnis der Besprechung des GKV-Spitzenverbandes, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 20./21.11.2013, zur beitragsrechtlichen Behandlung zusätzlich zum Arbeitsentgelt gewährter steuerfreier oder pauschalbesteuerter Entgeltbestandteile). Andernfalls fielen sämtliche Entgeltumwandlungen aus dem Anwendungsbereich der Regelung heraus. Ein Sachverhalt, der die Steuerfreiheit davon abhängig macht, dass Einnahmen „zusätzlich“ zum Lohn erzielt werden (vgl. z.B. § 3 Nr. 33 bis 34a EStG), liegt nicht vor. Aufgrund ihrer Lohnsteuerfreiheit ist die Versorgungszusage somit nicht dem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsentgelt im Sinne von § 14 SGB IV zuzurechnen.50 Dies ergibt sich darüber hinaus aus § 3 Abs. 1 Satz 4 SvEV i.V.m. § 8 Abs. 2 Satz 11 EStG. Die Einnahme „Versorgungszusage“ wird nicht in Geld, sondern als Sachbezug erzielt. Die Versorgungszusage unterliegt dabei genauso wie die Verschaffung von Krankenversicherungsschutz (dazu Bundesfinanzhof , Urteil vom 07.06.2018 - VI R 13/16 R -, in juris) als Sachbezug der Freigrenze des § 3 Abs. 1 Satz 4 SvEV i.V.m. § 8 Abs. 2 Satz 11 EStG. Mit einem Wert des Sachbezugs in Höhe von 22,00 EUR wird die Freigrenze von 44,00 EUR nicht überschritten, so dass es sich auch deshalb nicht um sozialversicherungspflichtiges Arbeitsentgelt handelt.51 Der Beihilfebeitrag ist auch keine sonstige Einnahme zum Lebensunterhalt. Nach der Umwandlung des Barlohns zu Gunsten einer Zusage des Dienstherrn auf Versorgungsleistungen steht der Betrag von 22,00 EUR gerade nicht (mehr) dem Lebensunterhalt der Klägerin zur Verfügung.52 Für das von der Klägerin seit dem 01.09.2020 bezogene Ruhegehalt gilt Entsprechendes. Es ist zwar kein Arbeitsentgelt im Sinne von § 14 Abs. 1 SGB IV (BSG, Urteil vom 29.08.1984 - 11 RK 5/83 -, in juris). Die für die Bezüge geltenden Bestimmungen sind aber gemäß § 7 Abs. 2 Satz 3 BeitrVerfGrds SelbstZ für das Ruhegehalt entsprechend anwendbar.53 c) Demgegenüber sind die Einkünfte der Klägerin aus Kapitalvermögen beitragspflichtig in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Dies ergibt sich aus § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.V.m. § 7 Abs. 2 Satz 1, § 3 Abs. 1b BeitrVerfGrds SelbstZ, wonach zu den beitragspflichtigen Einnahmen der Beamten auch Einnahmen aus Kapitalvermögen gehören.54 Diese Regelung ist verfassungsgemäß. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Die unterschiedliche Behandlung von pflichtversicherten Angestellten im Öffentlichen Dienst und freiwilligen Versicherten Beamten ist gerechtfertigt.55 Eine ungleiche Behandlung von Normadressaten ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar, wenn zwischen ihnen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl. etwa Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Urteil vom 23.01.1990 - 1 BvL 44/86 -, in juris, Rn. 167; BVerfG, Beschluss vom 30.05.1990 - 1 BvL 2/83 -, in juris, Rn. 73). Dabei sind sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers hinzunehmen, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlerhaft noch mit der Werteordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind (BVerfG, Beschluss vom 08.02.1994 - 1 BvR 1237/85 -, in juris, Rn. 39). Der allgemeine Gleichheitssatz fordert vom Gesetzgeber nicht, dass er sämtliche Fallkonstellationen einer Regelung entsprechend ihrer jeweiligen Besonderheiten unterzieht. Er darf vielmehr - gerade im Bereich der Sozialversicherung - bei der Ordnung von Massenerscheinungen typisierende Regelungen schaffen mit der Folge, dass im Einzelfall auftretende unvermeidliche Härten hinzunehmen sind (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 08.02.1983 - 1 BvL 28/79 -, in juris, Rn. 38). Es ist nicht Sache der Rechtsprechung zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste oder zweckmäßigste Lösung getroffen hat. Auch die Systemwidrigkeit einer bestimmten Regelung führt für sich allein noch nicht zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Nach welchem System der Gesetzgeber eine Materie ordnen will, obliegt, ebenso wie die Zweckmäßigkeit einer Regelung, seiner Entscheidung; auch solche Entscheidungen sind nur nach den Maßstäben der Verfassung, nicht aber unter dem Gesichtspunkt der Systemwidrigkeit zu überprüfen (BVerfG, Beschluss vom 10.11.1981 - 1 BvL 18/77 -, in juris, Rn. 34). Nur die Einhaltung der Grenzen gesetzgeberischer Entscheidungsspielräume ist von der Rechtsprechung zu überprüfen; die Unsachlichkeit der Regelung muss evident sein, wenn der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein soll (BVerfG, Beschluss vom 01.07.1964 - 1 BvR 375/62 -, in juris, Rn. 12).56 Aus den genannten Gründen ergibt sich, dass die beitragsrechtliche Ungleichbehandlung von Pflichtversicherten und freiwillig Versicherten eine sachliche Rechtfertigung aufweist (vgl. insoweit bereits BVerfG, Beschluss vom 15.03.2000 - 1 BvL 16/96 -, in juris; Kammerbeschluss vom 03.02.1993 - 1 BvR 1920/92 -, in juris, unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 06.12.1988 - 2 BvL 18/84 -, in juris; BSG, Urt. v. 10.10.2017 - B 12 KR 16/16 R -, in juris; BSG, Urt. v. 30.11.2016 - B 12 KR 6/15 R -, in juris; BSG, Urteil vom 17.03.2010 - B 12 KR 4/09 R -, in juris; m.w.N.). Dies gilt auch soweit freiwillig versicherte Beamte im Vergleich zu pflichtversicherten Angestellten im Öffentlichen Dienst beitragsrechtlich ungleich behandelt werden. Sie können wie andere von der Versicherungspflicht nicht erfasste Personen kraft eigener Willensentschließung freiwilliges Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung werden oder sich privat gegen das Risiko der Krankheit versichern. Entscheiden sie sich für Ersteres unterliegen sie denselben Regeln wie die übrigen freiwillig Versicherten.57 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Kostenquote berücksichtigt das anteilige Unterliegen und Obsiegen der Beteiligten.58 7. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, dass eine nennenswerte Anzahl vergleichbarer Fälle existiert, die eine grundsätzliche Bedeutung begründen könnten. | {
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Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Verfahrenskosten zweiter und dritter Instanz.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1Tatbestand:
2Der Kläger steht als Finanzbeamter in Diensten des Beklagten. Im Streitjahr 2010 wurde er nach der Besoldungsgruppe A 13 gD besoldet. Er ist Vater dreier Kinder, geboren am x1. Juli 1995, am x2. März 1998 und am x3. Januar 2000, für die er im Jahre 2010 kindergeldberechtigt war.
3Mit Schreiben vom 30. November 2010 stellte der Kläger beim Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV) den Antrag, ihm für die Jahre ab 2010 einen höheren kinderbezogenen Anteil im Familienzuschlag zu zahlen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe entschieden, dass Beamten mit drei oder mehr Kindern pro Kind monatlich (mindestens) ein Betrag i. H. v. 115 % des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs zur Verfügung stehen müsse. Durch den ihm im Jahre 2010 gewährten Familienzuschlag werde dies nicht erreicht. Ursachen dafür seien die steuerliche Belastung und die existenziell notwendige Basiskranken- und -pflegeversicherung. In seine Berechnungen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs stellte der Kläger auch einen Zuschuss von 100,00 € jährlich für Schulbedarf ein. Er ermittelte einen nachzuzahlenden Nettobetrag für das Jahr 2010 i. H. v. 279,92 €.
4Mit Bescheid vom 4. März 2013 lehnte das LBV den Antrag ab. Die Familienzuschläge für dritte und weitere Kinder seien unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG ab dem 1. Januar 2007 pauschal um 50,00 € pro Monat angehoben und fortlaufend angepasst worden. Die Pauschalierung sei zulässig. Auch im Vergleich zu einer „Spitzabrechnung“ werde die amtsangemessene Alimentation von Beamten mit mehr als zwei Kindern in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle sichergestellt. Lediglich in den obersten Besoldungsgruppen könne sich dem Sinn und Zweck einer Pauschalierung entsprechend betragsmäßig eine geringfügige Abweichung ergeben. Eine weitergehende Anpassung würde dazu führen, dass der höchstrichterlich festgelegte Richtwert der Alimentation für dritte und weitere Kinder insbesondere in den unteren Besoldungsgruppen in einer nicht mehr vertretbaren Höhe überschritten würde. Der Familienzuschlag sei kindbezogen und werde für Kinder von Bezügeempfängern unterschiedlicher Besoldungsgruppen in gleicher Höhe gezahlt.
5Hiergegen erhob der Kläger unter dem 7. März 2013 Widerspruch. Dem angefochtenen Bescheid lasse sich kein rechnerisches Nachvollziehen der Rechtsprechung des BVerfG entnehmen. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 2013 wies das LBV den Widerspruch zurück.
6Der Kläger hat am 23. April 2013 Klage mit der Begründung erhoben, die Größe seines Personalkörpers entbinde den Beklagten nicht von einer individuellen Prüfung der Besoldung des Klägers nach den Vorgaben des BVerfG. Der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf sei nach der im Jahr 2010 geltenden Rechtslage zu ermitteln und umfasse insbesondere Leistungen zur Bildung und Teilhabe sowie Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge.
7Der Kläger hatte ursprünglich schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
8den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 4. März 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2013 zu verurteilen, ihm für das Jahr 2010 einen Betrag i. H. v. netto 279,93 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. April 2013 zu zahlen.
9Aufgrund mehrerer Neuberechnungen und nachdem der Beklagte die Differenz im Nettoeinkommen des Klägers durch das dritte Kind im Jahr 2010 mit 415,90 € monatlich ermittelt hatte, hat der Kläger davon ausgehend seine Unteralimentation für das Jahr 2010 mit netto 329,64 € angegeben.
10Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Selbst wenn bei der Ermittlung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs sonstige Positionen einbezogen würden, ergebe sich keine Unteralimentation. Kosten der Unterkunft und Heizung seien nicht in den sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf einzustellen. Dies ergebe sich aus § 27a Abs. 4 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).
13Mit der vom Senat durch Beschluss vom 10. August 2016 zugelassenen Berufung hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das Verwaltungsgericht habe erstinstanzlich fehlerhaft den Klageantrag auf den Betrag von 306,29 € beziffert. Zur Auslegung des Klagebegehrens hätte es vielmehr die für das Kalenderjahr 2010 bezifferte Unteralimentation in Höhe von insgesamt netto 329,64 € zugrunde legen müssen. Der von ihm ausgerechnete sozialhilferechtliche monatliche Gesamtbedarf i. H. v. 439,24 € (Januar bis Juni) bzw. 447,50 € (Juli bis Dezember) ergebe sich wie folgt: Durchschnittlicher Regelsatz 269,00 €, Wohnung (11 m² zu 6,46 €) 71,06 €, Zuschlag für Heizung (20 % der Kaltmiete) 14,21 €, Basiskranken- und ‑pflegeversicherung 27,68 (Januar bis Juni) bzw. 34,86 € (Juli bis Dezember). Maßgeblich seien laut BVerfG hiervon 115 %. Die Kosten der Unterkunft und Heizung könnten für jedes Jahr nur aufgrund derjenigen Berechnungsgrundlagen ermittelt werden, die im Streitjahr aktuell vorlägen. Maßgebend sei immer die im Streitjahr aktuell vorliegende letzte Wohngeldstatistik bzw. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS).). Zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf zähle auch das Schulbedarfspaket gemäß § 28a SGB XII in Höhe von 100 € jährlich, mithin 8,33 € im Monat.
14Nachdem der Kläger im Berufungsverfahren zunächst weiter von einer Unteralimentation i. H. v. 329,64 € ausgegangen war, hat er zuletzt beantragt,
15das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 4. März 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2013 zu verurteilen, ihm für das Jahr 2010 einen Nettobetrag in Höhe von 358,20 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23. April 2013 zu zahlen.
16Der Beklagte hat beantragt,
17die Berufung zurückzuweisen.
18Die vom BVerfG entwickelten Maßstäbe zur Alimentation kinderreicher Beamter seien zwar grundsätzlich nach wie vor heranzuziehen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand seien jedoch immer mehr Parameter aus dieser Berechnungsmethode aufgrund von Änderungen besoldungsrelevanter Gesetze und veränderter Tatsachengrundlage nicht mehr unmittelbar anwendbar, sondern müssten fortentwickelt werden. Eine solche Fortentwicklung sei im Hinblick auf die erfolgten Neuregelungen des Sozialhilferechts im SGB XII vorzunehmen. Beträge zur Kranken- oder Pflegeversicherung seien hingegen nicht in Ansatz zu bringen. Der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf des dritten Kindes betrage 330,00 € monatlich: 247,00 € durchschnittlicher gewichteter Regelbedarf, 70,00 € Unterkunftskosten sowie 13,00 € durchschnittliche Heizkosten. Der vom BVerfG vorgenommene pauschalierte Zuschlag von 20 % des Regelsatzes für einmalige Leistungen gelte für das Jahr 2010 nicht mehr. Die einmaligen Leistungen zum Lebensunterhalt seien nach den 2005 neugefassten sozialhilferechtlichen Regelungen fast vollständig in die deutlich angehobenen Regelsätze eingearbeitet worden. Bei den monatlichen Unterkunftskosten sei für ein Kind ein Wohnflächenanteil von 12 m² zu je 5,78 € im Monat als angemessen anzusehen. Für die Heizkosten seien 19 % hiervon anzusetzen. Die Mindestalimentation betrage danach 379,50 € (330,00 € × 115 %). Der ermittelte Differenzbetrag zwischen der Alimentation eines Beamten mit zwei Kindern und eines Beamten mit drei Kindern überschreite die Mindestalimentation. Eine Auszehrung der familienneutralen Gehaltsbestandteile des Klägers wegen des Unterhalts für sein drittes Kind finde damit nicht statt.
19Mit Urteil vom 7. Juni 2017 hat der Senat den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 4. März 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2013 verurteilt, dem Kläger für das Jahr 2010 einen Nettobetrag in Höhe von 358,20 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23. April 2013 zu zahlen. Zur Begründung hat er ausgeführt:
20Es liege keine unzulässige Klageerweiterung oder teilweise Klagerücknahme vor. Der Kläger sei nicht gehalten gewesen, seinen Klageantrag betragsmäßig zu konkretisieren. Kläger dürften es bei unbezifferten Klageanträgen belassen, wenn sie Ansprüche auf höhere Familienzuschläge für dritte und weitere Kinder nach Maßgabe des Beschlusses des BVerfG vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris, geltend machten. Der Kläger habe ungeachtet eigener Angaben von Beträgen stets verdeutlicht, die konkrete Berechnung sei Sache des Beklagten.
21Die Klage sei begründet. Dem Kläger stehe hinsichtlich des Jahres 2010 ein Anspruch auf Zahlung weiterer Familienzuschläge in der ausgeurteilten Höhe zu. Dieser Anspruch ergebe sich unmittelbar aus der Vollstreckungsanordnung des BVerfG nach § 35 BVerfGG im Beschluss vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –.
22Hiernach hätten Besoldungsempfänger für das dritte und jedes weitere unterhaltsberechtigte Kind Anspruch auf familienbezogene Gehaltsbestandteile in Höhe von 115 % des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes. Die Rechtsfolge sei in den Gründen so präzisiert, dass der konkrete Nachzahlungsbetrag abhängig von den tatbestandsrelevanten Verhältnissen des Einzelfalls berechnet werden könne. Der Beklagte sei verpflichtet gewesen, diese Beträge von sich aus zu gewähren. Auf der Vollstreckungsanordnung beruhe auch die weitere Befugnis der Verwaltungsgerichte, auf der Grundlage dieser Vorgaben zusätzliche Besoldungsanteile über das einfache Gesetz hinaus zu berechnen und in einem Leistungsurteil unmittelbar zuzusprechen.
23I. Die Vollstreckungsanordnung sei weiterhin anwendbar und nicht erledigt.
241. Der Gesetzgeber habe nicht abweichende Maßstäbe gebildet und Parameter festgelegt, nach denen die Besoldung der kinderreichen Beamten bemessen und der Bedarf eines dritten und jedes weiteren Kindes ermittelt wird. Vielmehr ergebe sich aus den Ausführungen des LBV im angefochtenen Bescheid, dass die amtsangemessene Alimentation von Beamten mit mehr als zwei Kindern gerade unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG erfolgen solle. Dies habe auch der pauschalen Erhöhung des Familienzuschlags in Nordrhein-Westfalen um monatlich 50,00 € für dritte und weitere Kinder zum 1. Januar 2007 zugrunde gelegen,
25vgl. LT-Drs. 14/5198, S. 32,
26der anschließend nur noch entsprechend der allgemeinen Besoldungsanpassungen fortgeschrieben worden sei. Der Beschluss des BVerfG vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris, biete keinen Anhaltspunkt für die Annahme, der berechnete Betrag könne für bestimmte Besoldungsgruppen unterschritten werden. Die dem jeweiligen Amt angemessene Mindestalimentation stehe auch Beamten in höheren Besoldungsgruppen ungeschmälert zu.
272. Die für die Berechnungsmethode des Bundesverfassungsgerichts maßgeblichen Berechnungsgrundlagen hätten sich ferner nicht derart geändert, dass sie nicht mehr oder nicht mehr sinnvoll angewendet werden könne. Die Vollstreckungsanordnung sei ab 2005 nicht infolge von Änderungen der maßgeblichen Berechnungsgrundlagen im Zuge der Neuregelung des Sozialhilferechts im SGB XII, das an die Stelle des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) getreten sei, gegenstandslos geworden. Auch für die Jahre ab 2009 sei sie trotz Änderungen im Sozialhilferecht hinsichtlich Leistungen für Bildung und Teilhabe sowie der Übernahme von privaten Kranken- und Pflegeversicherungskosten weiterhin sinn-voll anwendbar.
28II. Bei strikter Anwendung der in ihr in Bezug genommenen Berechnungsmethode, zu deren Modifikation nur der Gesetzgeber oder das BVerfG selbst befugt wären, ergebe sich der ausgeurteilte Nachzahlungsbetrag.
291. Die Differenz zwischen dem Nettoeinkommen, das ein Beamter derselben Besoldungsgruppe wie der Kläger mit zwei Kindern erziele und demjenigen, das er mit drei Kindern habe, belaufe sich nach den vom BVerfG im Beschluss vom 24. November.1998 vorgegebenen Maßstäben für das Jahr 2010 unstrittig auf 415,90 € monatlich. Auch der Senat halte die dazu im erstinstanzlichen Verfahren übersandte Berechnung des LBV für zutreffend.
302. Dieser Betrag liege um monatlich 29,85 € (für das Jahr 2010 insgesamt um 358,20 €) unterhalb des um 15 % erhöhten sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs („15 v. H.-Betrag“), den ein Beamter für sein drittes Kind von seinem Dienstherrn mindestens habe beanspruchen können. Dieser Betrag habe sich auf 115 % von 387,61 €, also 445,75 € belaufen.
313. Der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf für dritte (und weitere) Kinder habe für das Jahr 2010 monatlich 387,61 € betragen.
32Grundlage der Berechnung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs sei nach den Vorgaben des BVerfG der Durchschnittsregelsatz nach § 22 des damaligen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) für das bisherige (alte) Bundesgebiet. Hinzuzurechnen sei ein durchschnittlicher Zuschlag von 20 % zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt, ferner die Kosten der Unterkunft ausgehend von einem Wohnbedarf von 11 qm pro Kind. Zugrunde zu legen sei insoweit die vom Statistischen Bundesamt in der so genannten 1 %-Gebäude- und Wohnungsstichprobe 1993 ermittelte Durchschnittsmiete in den alten Bundesländern von 9,53 DM je qm, die anhand des Mietenindexes des Statistischen Bundesamtes zurückgerechnet und fortgeschrieben worden sei. Schließlich seien die Energiekosten für ein Kind mit 20 % der Kaltmiete zu berücksichtigen.
33Die Parameter dieser 1998 entwickelten Berechnungsmethode seien zum Teil aufgrund von Änderungen besoldungserheblicher Gesetze und veränderter Tatsachengrundlagen im Lichte der Entscheidung fortzuentwickeln. Dies zugrunde gelegt beliefen sich die einzelnen Summanden des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs für das dritte Kind im Jahr 2010 auf 247,00 € (Durchschnittsregelsatz), 49,40 € (20 %-Zuschlag zum Regelsatz), 76,01 € (Kosten der Unterkunft) und 15,20 € (Heizkostenzuschlag), deren Summe betrage 387,61 €.
34a) Einer Fortentwicklung bedürfe es insbesondere im Hinblick auf die zum 1. Januar 2005 erfolgte Neuregelung des Sozialhilferechts (früher BSHG) im SGB XII. Der Regelsatz sei nunmehr den dortigen Regelungen zu entnehmen. Bei Bildung eines gewichteten Durchschnittswertes über die in der Regelsatzverordnung vorgesehenen Altersgruppen ergebe sich ein Monatsbetrag von 247,00 €.
35b) Ausgehend von diesem durchschnittlichen Regelsatz belaufe sich der vorzunehmende Zuschlag in Höhe von 20 % auf monatlich 49,40 €. Hinsichtlich dieses Berechnungsparameters zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt sei für das Jahr 2010 keine Fortentwicklung erforderlich.
36Der Zuschlag sei für das streitgegenständliche Jahr nicht aufgrund Konsumtion durch den Regelsatz entfallen. Auch wenn nach den 2005 neu gefassten sozialhilferechtlichen Regelungen für volljährige Hilfebedürftige die früheren „einmaligen Leistungen“ zunächst nahezu vollständig in die deutlich angehobenen Regelsätze eingearbeitet worden sein sollten, treffe dies für Kinder und Jugendliche im Jahr 2010 nicht (mehr) zu. Für diese seien über den Wechsel vom BSHG zum SGB XII hinaus einmalige Leistungen vorgesehen für „Erstausstattung bei Geburt“, „Erstausstattungen für die Wohnung“ und „mehrtägige Klassenfahrten“. Mit Wirkung zum 1. Januar 2009 sei zudem für jedes Schuljahr eine zusätzliche Leistung in Höhe von 100,00 € vorgesehen.
37Der Zuschlag in der vom BVerfG vorgesehenen Höhe führe nicht zu einer wegen Verstoßes gegen den Alimentationsgrundsatz verfassungswidrigen Leistung. Der sich für den Zuschlag ergebende monatliche Betrag in Höhe von 49,40 € sei weder deutlich überhöht noch eklatant unzureichend, um in Zusammenschau mit den übrigen Berechnungsparametern den für das BVerfG maßstabsbildenden sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf ordnungsgemäß abzubilden.
38Zusätzlich zum Betrag in Höhe von 100,00 € für jedes Schuljahr seien auch die übrigen genannten Bedarfe nach ihrer Häufigkeit gewichtet pauschaliert abzudecken. Die Größenordnung des 20 %-igen Zuschlages erscheine auch noch vor dem Hintergrund vertretbar, dass anders als 1998 private Kranken- und Pflegeversicherungskosten seit 1. Januar 2009 zwingend in angemessenem Umfang zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf zählten, § 32 Abs. 5 Sätze 1 und 4 SGB XII. Verbesserungen im Beihilfebereich für die ganze Familie, die etwaige Mehrkosten für die private Kranken- und Pflegeversicherung durch das dritte Kind ausgleichen könnten, gebe es in Nordrhein-Westfalen seit 1993 nicht mehr. Die Begründung eines eigenständigen Berechnungsparameters der Bedarfsberechnung für private Kranken- und Pflegeversicherungskosten oder die diesbezügliche Modifizierung der Nettoeinkommensberechnung sei dem Senat, der lediglich die Vollstreckungsanordnung anwende, verwehrt.
39c) Hinzuzurechnen sei des Weiteren ein Zuschlag für die Kosten der Unterkunft ausgehend von einem Wohnbedarf von 11 qm für das Kind. In Bezug auf die Bruttokaltmiete pro qm sei eine Fortschreibung der Parameter der Vollstreckungsanordnung erforderlich. Die durchschnittliche Bruttokaltmiete pro Monat in den alten Ländern im Jahr 2009 habe sich auf 6,83 € je qm belaufen. Im Jahr 2010 seien die Nettokaltmieten um 1,2 % gestiegen. Diese Werte könnten auch für die Bruttokaltmiete angesetzt werden. Das Elffache der hieraus für 2010 resultierenden monatlichen Bruttokaltmiete je qm von 6,91 € betrage 76,01 € pro Monat.
40d) Der Zuschlag von 20 % der anteiligen Durchschnittsmiete (durchschnittlichen Bruttokaltmiete) zur Abgeltung der auf das Kind entfallenden Heizkosten belaufe sich demzufolge auf 15,20 € pro Monat. Auch hinsichtlich dieses Prozentsatzes sei die Berechnungsvorgabe des BVerfG bindend.
41Auf die vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Revision des Beklagten hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 C 28.17 –, juris, das Urteil des Senats vom 7. Juni 2017 aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
42Die Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 24. November 1998 sei auch für das Jahr 2009 maßgeblich. Auch in Anbetracht der zum 1. Januar 2005 eingetretenen Änderungen im Recht der sozialen Grundsicherung und der nachfolgenden weiteren gesetzlichen Änderungen seien keine substantiell so wesentlichen Änderungen der maßgeblichen Berechnungsgrundlagen für die Vollstreckungsanordnung eingetreten, dass diese bezogen auf das Jahr 2010 nicht mehr angewandt werden könnte. Auf Grundlage dieser Vollstreckungsanordnung seien die Gerichte befugt, den Dienstherrn zur Gewährung zusätzlicher Besoldungsbestandteile für Beamte mit mehr als zwei Kindern zu verurteilen.
43Der errechnete durchschnittliche Regelsatz sei allerdings nicht – mehr – um einen durchschnittlichen Zuschlag von 20 v.H. zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt zu ergänzen. Die bis zum 31. Dezember 2004 in § 21 Abs. 1a BSHG normierten einmaligen Leistungen zum Lebensunterhalt seien in die ab dem Jahr 2005 geltenden, deutlich angehobenen und nunmehr bundeseinheitlichen Regelbedarfssätze im Sozialgesetzbuch Zweites Buch und Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch eingearbeitet worden. Diese neuen Regelsätze konsumierten den bisherigen Zuschlag von 20 v.H., der ausschließlich der Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem früheren Bundessozialhilfegesetz gedient habe. Die Beibehaltung des Zuschlags könne auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass seit dem 1. Januar 2009 die privaten Kranken- und Pflegeversicherungskosten zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf zählten.
44Im Übrigen bestünden gegen die vom Senat bei seiner Berechnung für das Jahr 2010 angesetzten Beträge keine Bedenken.
45Bei der Ermittlung, ob die einem Beamten für sein drittes Kind gewährten Zuschläge den Abstand von 15 v.H. zum sozialrechtlichen Grundsicherungsniveau einhielten, seien von den Nettobezügen die Kosten einer dem Beihilfesatz angepassten Krankheitskostenversicherung für das dritte Kind abzuziehen. Diese zählten zu den Unterhaltspflichten des Beamten, die der Gesetzgeber bei der Leistung amtsangemessenen Unterhalts gemäß Art. 33 Abs. 5 GG realitätsgerecht zu berücksichtigen habe. Diese Kosten habe der Beamte im Gegensatz zu Empfängern von Leistungen der Grundsicherung selbst zu tragen. Dieser Abzug von den Nettobezügen sei mit der Vollstreckungsanordnung des BVerfG vom 24. November 1998 vereinbar.
46Ob sich das der Klage stattgebende Urteil des Senats aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweise, könne das Bundesverwaltungsgericht nicht entscheiden. Die Sache sei zurückzuverweisen, damit der Senat die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu den durchschnittlichen Kosten einer dem Beihilfesatz angepassten Krankenkostenversicherung für ein drittes Kind eines beihilfeberechtigten Beamten treffen könne.
47Im fortgeführten Berufungsverfahren hat der Kläger geltend gemacht: Der Senat habe seiner Entscheidung im ersten Berufungsverfahren eine unter den Beteiligten unstrittige Netto-Einkommensdifferenz von 415,90 € zugrunde gelegt. Mittlerweile habe das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 4. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 u.a. – Grundsätze für die Ermittlung der Netto-Einkommensdifferenz aufgestellt, die von denen in der Vollstreckungsanordnung abwichen. Hiernach seien die Kirchensteuer nicht mehr zu berücksichtigen und die Netto-Einkommensdifferenz um die Kosten der Krankenversicherung des dritten Kindes zu mindern. Für letztere habe der Verband der privaten Krankenversicherungen e.V. in Köln – PKV – für 2010 dem Senat im Streitfall einen Monatsbetrag von 32,54 € genannt. Unter Berücksichtigung dessen errechne sich eine Netto-Einkommensdifferenz von 377,60 €.
48Das Bundesverfassungsgericht habe in dem Beschluss ferner neue Grundsätze für die Ermittlung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs entwickelt. Wegen der Einzelheiten wird insofern auf den Schriftsatz vom 18. September 2020 – S. 4 f. – verwiesen. Diese Ansätze führten zu einem sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf in Höhe von 407,35 €, 115 v.H. hiervon beliefen sich auf 468,45 €.Unter Berücksichtigung dieser Änderungen in den Berechnungsansätzen errechne sich eine monatliche Unteralimentation in Höhe von 90,85 €, die sich zu einem Jahresbetrag von 1.090,20 € aufsummiere.
49Sofern im Streitfall der Entscheidung die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zugrunde zu legen sein sollte, errechne sich unter Zugrundelegung der vom Bundesverwaltungsgericht im zurückweisenden Urteil aufgestellten Maßgaben eine Unteralimentation in Höhe von monatlich 11,96 € und damit 143,52 € im Jahr.
50Der Abzug der Kostendämpfungspauschale von den Nettobezügen sei durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 u.a. – nicht gedeckt. Hiernach seien nur die Kosten der Krankenversicherung in Abzug zu bringen. Beihilfeleistungen habe das Bundesverfassungsgericht nicht unter den Begriff Kosten der Krankenversicherung subsumiert und nicht bei der Ermittlung der Höhe der Unteralimentation eingerechnet. Dem schließe er sich an. Die Kostendämpfungspauschale werde auch nur einbehalten, wenn Beihilfeleistungen erbracht würden. Die vom Beklagten vorgelegten Berechnungen der Jahresnettoalimentation für Beamte seiner Gehaltsgruppe im Jahr 2010 würden mit Ausnahme der Höhe der für Kinder zu berücksichtigenden Krankenversicherungskosten und der Berücksichtigung der Kostendämpfungspauschale unstreitig gestellt.
51Der Kläger beantragt,
52das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 4. März 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2013 zu verurteilen, dem Kläger für das Jahr 2010 einen Nettobetrag i.H.v. 143,52 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23. April 2013 zu zahlen.
53Der Beklagte beantragt,
54die Berufung zurückzuweisen.
55Er macht geltend: Das Bundesverwaltungsgericht habe im zurückverweisenden Urteil ausgesprochen, dass der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf im Jahr 2010 nach den im Urteil aufgestellten Maßgaben auf der Grundlage der Vollstreckungsanordnung zu ermitteln sei. Die vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 4. Mai 2020 zur Alimentation kinderreicher Familien in NRW entwickelten Anpassungen und Modifikationen der Berechnung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs seien danach im Streitfall nicht zu berücksichtigen. Hieraus ergebe sich ein monatlicher sozialhilferechtlicher Gesamtbedarf von 343,76 €, das 1,15-fache hiervon betrage 395,32 €.
56Weiter habe das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen, dass von dem der Mindestalimentation gegenüber zu stellenden Nettodifferenzbetrag die Krankenversicherungskosten für das dritte Kind abzuziehen seien. Dem stehe die Vollstreckungsanordnung nicht entgegen, weil deren Vorgaben sich lediglich auf die Bestimmung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs bezögen. Die Krankenversicherungskosten beträfen demgegenüber das verfügbare Nettoeinkommen. Da die Weitergeltung der Vollstreckungsanordnung sich demzufolge lediglich auf die Ermittlung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs, nicht hingegen auf die Ermittlung des verfügbaren Nettoeinkommens beziehe, seien mit Bezug auf letzteres die Konkretisierungen und Modifizierungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinen Beschlüssen vom 4. Mai 2020 zur Amtsangemessenheit der Besoldung kinderreicher Richter in NRW in den Jahren 2013 bis 2015 einerseits (– 2 BvL 6/17 u.a. –) und zur (Richter-)Alimentation von 2-Kind-Familien in Berlin in den Jahren 2009 bis 2015 (– 2 BvL 4/18 –) andererseits aufgestellt habe, auch im Streitfall zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung der vom BVerfG vorgenommenen Modifikationen bei der Berechnung der Einkommensdifferenz errechne sich diese auf monatlich 395,74 €. Wegen der Einzelheiten der Berechnung wird auf den Schriftsatz des Beklagten vom 24. September 2020, S. 3 f. nebst Anlage verwiesen. Insbesondere sind hierin berücksichtigt ein Wegfall des Abzugs von Kirchensteuer, ein Abzug von Krankenversicherungskosten sowie ein Abzug der Kostendämpfungspauschale. Dieser Betrag liege um 0,42 € über 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs.
57Sofern man die Krankenversicherungskosten für Kinder in die Berechnung einstelle, die sich aus den vom Senat im Streitfall eingeholten Auskünften ergebe, bleibe die Nettoeinkommensdifferenz um 3,73 € hinter dem 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs zurück. Er halte jedoch an seiner ursprünglichen Berechnung fest.
58Der Senat hat beim PKV Auskünfte eingeholt über die Höhe der durchschnittlichen Kosten einer dem Beihilfesatz angepassten Krankenkostenversicherung für ein drittes Kind eines beihilfeberechtigten Beamten sowie die Kosten einer derartigen Versicherung im beihilfeadäquaten Basistarif im Jahr 2010. Wegen der Einzelheiten wird auf die Verfügung des Senats vom 8. Mai 2019 sowie die Schreiben des Verbandes der privaten Krankenversicherungen vom 21. Januar 2020 sowie vom 10. September 2020 verwiesen.
59Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
60Entscheidungsgründe:
61Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.
62A. Aus den im Urteil des Senats vom 7. Juni 2017 genannten Gründen, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 C 28.17 – unbeanstandet gelassen hat, an denen der Senat festhält und auf die er verweist, liegt ungeachtet der unterschiedlichen Bezifferungen der für richtig gehaltenen zusätzlichen Alimentation durch den Kläger im Laufe des Verfahrens keine unzulässige Klageerweiterung oder teilweise Klagerücknahme vor.
63B. Dem Kläger steht hinsichtlich des Jahres 2010 kein Anspruch auf Zahlung weiterer Familienzuschläge zu.
64I. Als Rechtsgrundlage für die Gewährung über die gesetzlich geregelten Ansprüche hinausgehender (vgl. § 2 Abs. 1 BBesG) Besoldungsleistungen kommt allein die Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts nach § 35 BVerfGG im Beschluss vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, Entscheidungsformel zu 2., zweiter Teil, juris, (im Folgenden: Vollstreckungsanordnung) in Betracht.
65Danach haben Besoldungsempfänger für das dritte und jedes weitere unterhaltsberechtigte Kind Anspruch auf familienbezogene Gehaltsbestandteile in Höhe von 115 % des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes, der sich nach Maßgabe der Gründe zu C. III. 3. errechnet. Die Rechtsfolge ist in den Gründen zu C. III. 3. (a. a. O., juris, Rn. 57 ff.) in Form von Berechnungsvorgaben so präzisiert, dass der konkrete Nachzahlungsbetrag abhängig von den tatbestandsrelevanten Verhältnissen des Einzelfalls (im Wesentlichen der Besoldungsgruppe und der Zahl der Kinder) grundsätzlich ohne weiteres – mit Ausnahme gewisser Unschärfen bei den sonstigen Eingangsdaten – berechnet werden kann. Auf der Vollstreckungsanordnung beruht auch die weitere Befugnis der Verwaltungsgerichte, auf der Grundlage dieser Vorgaben zusätzliche Besoldungsanteile über das einfache Gesetz hinaus zu berechnen und in einem Leistungsurteil unmittelbar zuzusprechen.
66Die Vollstreckungsanordnung ist weiterhin anwendbar und nicht erledigt. Das ergibt sich für das vorliegende Verfahren bereits aus der Bindungswirkung, die dem zurückverweisenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2019 – 2 C 28.17 – gemäß § 144 Abs. 6 VwGO zukommt. Hiernach hat der Senat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen. Diese Bindungswirkung umfasst die für die aufhebende Entscheidung kausal ausschlaggebenden Gründe. Dies schließt die den unmittelbaren Zurückverweisungsgründen vorausgehenden Erwägungen jedenfalls insoweit ein, als diese die notwendige (logische) Voraussetzung für die unmittelbaren Aufhebungsgründe waren.
67BVerwG, Beschlüsse vom 14.07.2020 – 2 B 23.20 –, juris Rn. 8, und vom 29.04.2019 – 2 B 25.18 –, juris Rn. 9, 13 = Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 83, m. w. N.
68Die zurückverweisende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beruht unter anderem darauf, dass die Klage nicht von vornherein abzuweisen ist, ohne dass es weiterer tatsächlicher Feststellungen des Senats bedürfte. Dies wäre indes der Fall gewesen, wenn die Vollstreckungsanordnung für das Streitjahr 2010 nicht mehr anwendbar, sondern erledigt wäre. Demzufolge steht für den Streitfall mit Bindungswirkung für den Senat fest, dass dies nicht der Fall ist. Daher kann dahinstehen, ob sich möglicherweise aus der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Besoldung von kinderreichen Richtern und Staatsanwälten in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2013 bis 2015 im Beschluss vom 4. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris, Anhaltspunkte für eine abweichende Beurteilung ergeben. Derartiges käme aus Sicht des Senats etwa in Betracht hinsichtlich der Notwendigkeit, bei der Bemessung der amtsangemessenen Alimentation von Beamten mit drei (und mehr) Kindern in Anlehnung an den sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf möglicherweise auch einmalige Beihilfen, die Grundsicherungsempfängern zusätzlich zu den Regelsätzen gewährt werden, zu berücksichtigen.
69Vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. -, juris Rn. 55 ff., 78 f.
70II. Bei strikter Anwendung der in der Vollstreckungsanordnung festgelegten Berechnungsmethode ergibt sich, dass dem Kläger wegen seines Rechts auf verfassungsgemäße Alimentation im Hinblick auf den Bedarf seines dritten Kindes im Jahr 2010 kein Anspruch auf über die bereits ausgezahlte Besoldung hinausgehende Zahlungen zusteht.
711. Für die Ermittlung, ob die Besoldung eines Beamten mit mehr als zwei Kindern den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt, den zusätzlichen Bedarf, der ihm für sein drittes und weitere Kinder entsteht, zu decken, ohne ihm zuzumuten, für deren Unterhalt auf die familienneutrale Bestandteile seines Gehalts zurückzugreifen –
72vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 39, 55 –,
73ist nach den Berechnungsvorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 24. November 1998 (unter C. III. 3, juris, Rn. 57 f.) vom sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf für ein Kind auszugehen. Dieser ist um einen Betrag von 15 v.H. zu erhöhen, um den verfassungsgebotenen Unterschied zwischen der der Sozialhilfe obliegenden Befriedigung eines äußersten Mindestbedarfs und dem dem Beamten (und seiner Familie) geschuldeten Unterhalt hinreichend deutlich werden zu lassen.
74Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 57.
75Dieser durch die zusätzliche Alimentation für einen Beamten mit mehr als zwei Kindern zu deckende Betrag in Höhe des 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs für ein (drittes) Kind – vom Bundesverfassungsgericht als "15 v.H.-Betrag" bezeichnet –
76vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 59 –
77belief sich im Jahre 2010 auf (338,21 € x 1,15 =) 388,94 €.
782. Der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf für dritte und weitere Kinder betrug für das Jahr 2010 monatlich 338,21 €.
79Für seine Berechnung hat das Bundesverfassungsgericht im Einzelnen vorgegeben, dass sich dieser zunächst durch Bildung eines Durchschnittsregelsatzes nach § 22 des damaligen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) für das bisherige (alte) Bundesgebiet ergebe. Hinzuzurechnen sei ein durchschnittlicher Zuschlag von 20 % zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt, ferner die Kosten der Unterkunft ausgehend von einem Wohnbedarf von 11 qm pro Kind. Zugrunde zu legen sei insoweit die vom Statistischen Bundesamt in der so genannten 1 %-Gebäude- und Wohnungsstichprobe 1993 ermittelte Durchschnittsmiete in den alten Bundesländern von 9,53 DM je qm, die anhand des Mietenindexes des Statistischen Bundesamtes zurückgerechnet und fortgeschrieben worden sei. Schließlich seien die Energiekosten für ein Kind mit 20 % der Kaltmiete zu berücksichtigen.
80Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 58.
81Mit zunehmendem zeitlichen Abstand können immer mehr Parameter dieser 1998 entwickelten Berechnungsmethode aufgrund von Änderungen besoldungserheblicher Gesetze und veränderter Tatsachengrundlagen nicht mehr unmittelbar angewandt werden, sondern müssen im Lichte der Entscheidung fortentwickelt werden.
82Vgl. BVerwG, Urteil vom 27.05.2010 – 2 C 10.10 –, juris Rn. 17 m. w. N.
83Die einzelnen Summanden des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs (338,21 €) für das dritte und weitere Kinder im Jahr 2010 belaufen sich auf 247,00 € (Durchschnittsregelsatz, s. u. a]), 76,01 € (Kosten der Unterkunft, s. u. b]) und 15,20 € (Heizkostenzuschlag, s. u. c]); der in der Vollstreckungsanordnung noch vorgesehene 20-%-Zuschlag zum Regelsatz ist nicht in die Berechnung einzustellen, s. u. d). Auch die Kosten für die Deckung weiterer Bedarfe, insbesondere eines zusätzlichen Bedarfs für schulbezogene Aufwendungen, können in die Berechnung nicht eingestellt werden, s.u. e).
84a) Einer Fortentwicklung bedarf es insbesondere im Hinblick auf die zum 1. Januar 2005 erfolgte Neuregelung des Sozialhilferechts (früher BSHG) im SGB XII. Der Regelsatz ist nunmehr den dortigen Regelungen zu entnehmen.
85Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27.02.2008 – 1 A 30/07 –, juris Rn. 61 ff.
86Stattdessen auf das Erwerbsfähige betreffende – mithin grundsätzlich ebenfalls erwerbsfähigen Besoldungsempfängern eventuell näherstehende – gänzlich neugeschaffene Referenzsystem des SGB II abzustellen, überschritte den Rahmen einer bloßen Fortschreibung der Vollstreckungsanordnung und bliebe dem Bundesverfassungsgerichts vorbehalten. Dessen Befassung ist aber wegen des praktischen Gleichlaufs der Leistungshöhen in SGB II und XII nicht geboten. Im Streitfall verbietet sie sich zudem wegen der Bindungswirkung des zurückverweisenden Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2019 – 2 C 28.17 –.
87In Nordrhein-Westfalen war der Regelsatz für die Zeit ab dem 1. Juli 2009, mithin auch für das Jahr 2010, in verschiedenen Bedarfsstufen in der Verordnung über die Regelsätze der Sozialhilfe vom 9. Juni 2009 (GV. NRW. 2009, S. 335) geregelt: 215,00 € monatlich bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres, 251,00 € monatlich vom Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres und 287,00 € monatlich vom Beginn des 15. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Dies entspricht der damaligen Regelsatzhöhe in den übrigen westlichen Bundesländern.
88Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.06.2016 – 4 S 1094/15 –, juris Rn. 105 f.
89Es ist ein Durchschnittswert über alle (zwei bzw. drei) Altersgruppen zu bilden, wobei eine Gewichtung nach der Zahl der von der jeweiligen Altersgruppe umfassten Lebensjahre zu erfolgen hat.
90Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.06.2016 – 4 S 1094/15 –, juris Rn. 103.
91Dies ergibt monatlich gerundet 247,00 € ([6 x 215 + 8 x 251 + 4 x 287] / 18).
92b) Hinzuzurechnen ist ein Zuschlag für die Kosten der Unterkunft ausgehend von einem Wohnbedarf von 11 qm für das Kind. Anders als die Beteiligten meinen, sind insofern nicht 12 qm anzusetzen. Der Wert von 11 qm pro Kind ist in der Vollstreckungsanordnung bindend vorgegeben.
93Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 58; BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 19, 20.
94Eine Fortschreibung der Parameter der Vollstreckungsanordnung ist mithin lediglich in Bezug auf die Bruttokaltmiete pro qm erforderlich. Im Jahr 2009 betrug die durchschnittliche monatliche Bruttokaltmiete pro Quadratmeter in den alten Ländern 6,83 €.
95Vgl. Wohngeld- und Mietenbericht 2010, BT-Drs. 17/6280, S. 16; BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 19.
96Im Jahr 2010 stiegen die Nettokaltmieten um 1,2 %.
97Vgl. Wohngeld- und Mietenbericht 2014, BT-Drs. 18/6540, S. 31.
98Diese Werte können auch für die Bruttokaltmieten angesetzt werden, da die kalten Betriebskosten in diesen Jahren in ähnlicher Größenordnung stiegen.
99Vgl. Wohngeld- und Mietenbericht 2014, BT-Drs. 18/6540, S. 39.
100Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Bruttokaltmiete pro Monat in den alten Ländern je qm für das Jahr 2010 in Höhe von 6,91 €.
101Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 19.
102Das Elffache dieses Werts beläuft sich auf 76,01 € pro Monat. Der Senat sieht – anders als der Kläger – keinen Anlass, spätere Erkenntnisse über die tatsächliche Bruttokaltmiete im streitgegenständlichen Jahr auszublenden, nur weil sie erst nach Ablauf dieses Jahres veröffentlicht wurden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat bei Ausspruch der Vollstreckungsanordnung auf nachträgliche Erkenntnisse aus den Jahren 1993 und 1997 abgestellt, obwohl es über die Besoldung für die Jahre ab 1988 zu entscheiden hatte.
103Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 1 und 58.
104c) Der Zuschlag von 20 % der anteiligen Durchschnittsmiete (durchschnittlichen Bruttokaltmiete) zur Abgeltung der auf das Kind entfallenden Heizkosten entspricht mithin 15,20 € pro Monat. Hinsichtlich des Prozentsatzes ist die Berechnungsvorgabe des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls bindend.
105Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 19, 20.
106d) Der nach der Vollstreckungsanordnung noch hinzuzurechnende Zuschlag in Höhe von 20 % des Regelsatzes ist im Streitjahr 2010 nicht mehr zu berücksichtigen. Das ergibt sich für den Streitfall mit bindender Wirkung aus dem zurückverweisenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2019 – 2 C 28.17 –. Der Frage, ob die Vollstreckungsanordnung nach Wegfall dieses Zuschlages ungeachtet der gesetzlich vorgesehenen einmaligen Leistungen, die Grundsicherungsempfängern zusätzlich zu den Regelsätzen gewährt werden, noch geeignet ist, die Leistung einer amtsangemessenen Alimentation zu gewährleisten, hat der Senat, wie ausgeführt, wegen der Bindungswirkung dieses Urteils nicht nachzugehen.
107e) Dem Senat ist es auch verwehrt, im Hinblick auf die Grundsicherungsleistungsempfängern seit dem Jahr 2009 zusätzlich gewährten Leistungen in Höhe von 100 € pro Schuljahr für Schulbedarf einen eigenständigen Berechnungsparameter in die Bedarfsberechnung einzubeziehen, wie dies die Verfahrensbeteiligten hinsichtlich eines Betrags von 5,55 € – übereinstimmend – für richtig halten. Den Verwaltungsgerichten ist es wegen der Gesetzesbindung der Besoldung (§ 2 Abs. 1 BBesG) grundsätzlich verwehrt, Beamten gesetzlich nicht vorgesehene Besoldungsleistungen zuzusprechen. Eine Ausnahme hiervon bilden, wie ausgeführt, Besoldungsleistungen auf Grundlage der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts. Diese Befugnis bindet das Bundesverfassungsgericht jedoch ausdrücklich an seine – oben dargestellte und zugrunde gelegte – Berechnungsmethode gemäß C. III. 3. der Gründe des Beschlusses vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –.
108Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, Nr. 2 des Entscheidungsausspruchs, juris.
109Zu einer Modifikation dieser Berechnungsmethode wären nur der Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht selbst befugt.
110Vgl. BVerwG, Urteil vom 17.06.2004 – 2 C 34.02 –, juris Rn. 30 = BVerwGE 121, 91.
111Eine solche ist, wie ausgeführt, nicht erfolgt. Insbesondere betreffen die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2020 entweder nicht das beklagte Land – 2 BvL 4/18 –, oder aber nicht das Streitjahr – 2 BvL 6/17 u.a. –. Auch den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im zurückverweisenden Urteil zu der im Hinblick auf die gebotene Durchschnittsbetrachtung zutreffenden Berechnung des monatlichen Durchschnittswerts der Grundsicherungsempfängern für ihre Schulkinder für jedes Schuljahr gewährten Leistung für die Schule i.H.v. 100 €, die "zu beachten" seien –,
112vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 16 –,
113vermag der Senat keine Rechtsgrundlage für die Gewährung von über die gesetzlichen Regelungen und die in der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts hinausgehenden Besoldungsleistungen zu entnehmen.
1143. Diesem 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs entsprechend den Berechnungsvorgaben in der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts ist gegenüberzustellen der "durchschnittliche Nettomehrbetrag …, den der Beamte für sein drittes und jedes weitere Kind erhält".
115vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 59.
116a) Auch für die Berechnung dieses "Nettomehrbetrages" sind in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1998 – 2 BvL 16/91 u.a. – unter C. III. 2. der Gründe Hinweise enthalten. Auf diese erstreckt sich die Bindung der Verwaltungsgerichte an die Vorgaben der Vollstreckungsanordnung unter Nr. 2 des Entscheidungstenors indes nicht.
117Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 29.
118Demzufolge ist Raum dafür, die diesbezüglichen Modifikationen zu berücksichtigen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung, insbesondere den Beschlüssen vom 4. Mai 2020 zur (Staatsanwalts- und Richter-) Besoldung in Berlin in den Jahren 2009 bis 2015 –
119BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 4/18 –, juris –
120und zur Besoldung kinderreicher Staatsanwälte und Richter in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2013 bis 2015 –
121BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris –
122entwickelt hat.
123b) Unter Berücksichtigung dieser Modifikationen errechnet sich der "Nettomehrbetrag", der einem Beamten in der (damaligen) Besoldungsgruppe des Klägers mit drei Kindern im Vergleich zu einem ebensolchen mit zwei Kindern für den Unterhalt seines dritten Kindes zur Verfügung stand, bei der insoweit gebotenen pauschalisierenden und typisierenden Berechnung im Jahre 2010 auf einen Betrag von 391,59 €.
124Dieser Betrag ergibt sich aus der vom Beklagten auf Bitte des Senats mit Schriftsatz vom 29. September 2020 vorgelegten Alternativberechnung.
125aa) In dieser Berechnung hat der Beklagte abweichend von den Berechnungshinweisen des Bundesverfassungsgerichts unter C. III. 2. der Gründe des Beschlusses vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/21 –, juris Rn. 56, keinen Abzug von Kirchensteuer vorgenommen. Dies trägt der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung, das zugrunde legt, der Gesetzgeber gehe seit dem Jahr 2005 nicht mehr davon aus, dass eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern einer Kirchensteuer erhebenden Kirche angehöre.
126Vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris Rn 70.
127bb) In der Berechnung hat der Beklagte die Nettoeinkünfte der verglichenen Beamten jeweils um die (Mindest-)Kosten einer beihilfekonformen privaten Kranken- (und Pflege-)versicherung für diese und ihre Familie reduziert. Auch dieses Vorgehen entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
128Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 28 m. w. N.
129Soweit es um das Erfordernis eines Abzugs der Krankenversicherungskosten für ein drittes Kind eines Beamten bei der Ermittlung des ihm verbleibenden "Nettomehrbetrages" geht, steht dieses im Streitfall zudem aufgrund der Bindungswirkung des zurückverweisenden Urteils des Bundesverwaltungsgerichts fest. Die Zurückverweisung erfolgte, weil der Senat Feststellungen über diese Kosten bislang nicht getroffen hatte, und zu dem Zweck, diese Kosten nunmehr konkret zu ermitteln.
130cc) Die vom Beklagten vorgelegte Alternativberechnung hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der vorgenannten Maßgaben unstreitig gestellt. Auch der Senat hat keinen Anlass, hieran insoweit zu zweifeln. Zwischen den Beteiligten umstritten sind lediglich die Fragen, mit welchem Betrag die für die zwei bzw. drei Kinder des Beamten zu berücksichtigenden Krankenversicherungskosten einzustellen sind und ob in die Berechnung des "Nettomehrbetrags" auch die in unterschiedlicher Höhe von Beihilfeleistungen des Dienstherrn an Beamte der (ehemaligen) Besoldungsgruppe des Klägers mit zwei (180 €) und drei Kindern (120 €) jährlich in Abzug gebrachte Kostendämpfungspauschale einzustellen ist.
131dd) Bei die Berechnung für das Jahr 2010 zu berücksichtigen sind – wie in der vom Beklagten vorgelegten Alternativberechnung geschehen – durchschnittliche Kosten für eine mit den Beihilferegelungen in Nordrhein-Westfalen konforme Krankenversicherung eines Kindes und Minderjährigen in Höhe von monatlich 32,54 €. Das ergibt sich aus den vom Senat eingeholten Auskünften des PKV vom 21. Januar 2020 und 10. September 2020. Hierbei handelt es sich nach dessen Angaben um einen aus den dort vorliegenden Angaben extrapolierten Durchschnittswert der in der "Versicherungswirklichkeit" wirklich versicherten Kinder. Dieser sei für die Kinder (geschlechtsübergreifend) von der Geburt bis zum 25 Lebensjahr gleich.
132Die Kosten einer Versicherung nach dem beihilfekonformen Basistarif, den private Krankenversicherungen seit dem 1. Januar 2009 anzubieten verpflichtet sind, beliefen sich unter Zugrundelegung der Angaben des PKV, nach denen die einzelnen Versicherungsunternehmen auf Grundlage einer branchenweiten Kalkulation, die schon im Jahr 2009 zu einem Betrag von monatlich 56,48 € geführt habe, und unter Berücksichtigung ihrer unternehmensindividuellen Kostensätze Beiträge mit einer Streuung von bis zu 3 € erhoben hätten, – u.a. – im dem Streitjahr vorangegangenen Jahr 2009 auf monatlich zwischen 53,48 € und 59,48 €. Der Senat hat keinen Anhalt für die Annahme, die Beträge hätten sich im Folgejahr vermindert. Im Gegenteil geht er aufgrund eigener Erfahrung mit Beiträgen für private Krankenversicherungen davon aus, dass diese Beiträge im Streitjahr gleich geblieben sind oder sich geringfügig erhöht haben. Demgemäß können sie im vorliegenden Zusammenhang außer Acht bleiben.
133Der Senat sieht sich durch die konkreten Maßgaben, die das Bundesverwaltungsgericht in dem zurückverweisenden Urteil hinsichtlich der Ermittlungsweise der von den Nettobezügen abzuziehenden Krankenversicherungskosten gemacht hat, nicht gehindert, die vom PKV genannten durchschnittlichen Krankenversicherungskosten zugrunde zu legen, ohne etwa weitere Ermittlungen nach den "günstigsten am Markt erreichbaren Möglichkeiten zur privaten Krankenversicherung eines Kindes" anzustellen. Das Bundesverwaltungsgericht selbst weist darauf hin, dass nach der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts "bei der Berechnung der Durchschnitt maßgeblich ist",–
134vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 30, mit Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. – BVerfGE 99, 300, 323; vgl. jetzt auch BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris Rn. 66.
135Diesem Ansatz und der Verpflichtung, bei der Bemessung der Alimentation die dem Beamten entstehenden Unterhaltspflichten realitätsgerecht zu berücksichtigen –
136vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 26, mit Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, BVerfGE 99, 300, 314 f., sowie Urteil vom 06.03.2007 – 2 BvR 556/04 –, BVerfGE 117, 330, 351 –
137widerspräche es, einer Berechnung der Mindestalimentation (zwingend) die Annahme zugrunde zu legen, ein Beamter werde für die Krankenversicherung seines neugeborenen Kindes Ausschau nach der günstigsten am Markt befindlichen Versicherungsmöglichkeit halten – anstatt das Kind dort gegen Krankheit zu versichern, wo er selbst und ggf. seine Ehefrau und die beiden älteren Kinder krankenversichert sind. Dem trägt die Berücksichtigung des vom PKV genannten Durchschnittswertes der Kosten der in der "Versicherungswirklichkeit" wirklich versicherten Kinder Rechnung. Eine Bindung des Senats gemäß § 144 Abs. 6 VwGO an die hinsichtlich der weiteren Sachaufklärung vom Bundesverwaltungsgericht erteilten, die Entscheidung nicht tragenden Empfehlungen und Hinweise für die weitere Behandlung der Rechtssache nach Zurückverweisung (sog. "Segelhinweise") besteht nicht.
138Vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2016 – 6 C 5.15 –, juris Rn. 16 = BVerwGE 155, 58, und vom 25.05.1984 – 8 C 108.82 –, juris Rn. 27 = NJW 1985, 393 m. w. Hinw.; Beschluss vom 29.04.2019 – 2 B 25.18 –, juris Rn. 12 = Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 83; OVG NRW, Beschluss vom 15.05.2000 – 21 A 3523/99.A –, juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.09.1997 – A 16 S 2354/97 –, juris Rn. 5.
139Da die Versicherungskosten nach den Angaben des PKV in den Altersstufen bis 25 Jahren gleich sind, kann auf sich beruhen, ob in eine ansonsten gebotene Durchschnittsbildung die Jahrgänge bis zum 25. Lebensjahr einzustellen sind –
140so BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 28.17 –, juris Rn. 30 –
141oder lediglich bis zum 18. Lebensjahr –
142vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris Rn. 44.
143Der Senat sieht keine Veranlassung, statt der ihm auf seine Auskunft hin vom PKV genannten durchschnittlichen Kosten einer beihilfekonformen Krankenversicherung des Kindes eines nordrhein-westfälischen Beamten in Höhe von 32,54 € den Wert von 27 € zugrunde zu legen, der sich aus einer Tabelle über "Kosten für private Krankenversicherung ohne Wahlleistungen (also BEG-berücksichtigungsfähiger Anteil)" mit dem Stand 12.12.2018 ergibt, die der PKV mit Schreiben vom 18. Januar 2019 dem Bundesverfassungsgericht zum Verfahren 2 BvL 4/18 übersandt hat, wie dies der Beklagte für "sachgerecht" hält. Diese Zahlenangaben stammen von derselben Auskunftsquelle wie die im Streitfall eingeholten. Sie betreffen ein anderes Bundesland (Berlin). Im Übrigen sind sie einer Auskunft entnommen, die älter ist als die dem Senat vorliegende. Schließlich beruhen sie nach dem Anschreiben des PKV vom 18. Januar 2019 an das Bundesverfassungsgericht auf einem von diesem übersandten Schreiben und telefonischen Besprechungen, über die nichts bekannt ist. Der Senat vermag keine überzeugenden Gründe zu erkennen, warum diese Angaben den Vorrang gegenüber den Zahlen verdienten, die er selbst eingeholt hat. Hieran ändert es nichts, dass das Bundesverfassungsgericht selbst in einem zwar das Land Nordrhein-Westfalen, jedoch abweichende Jahre, betreffenden Verfahren auf die ihm für das Land Berlin vorliegenden Zahlenwerte zurückgegriffen hat.
144Abgesehen hiervon wäre der Berufung auch bei Zugrundelegung der dem Bundesverfassungsgericht in dem das Land Berlin betreffenden Verfahren genannten Krankenversicherungskosten eines Kindes bzw. Minderjährigen im Jahr 2010 kein Erfolg beschieden. In diesem Fall erhöhte sich der "Nettomehrbetrag" nach den vom Beklagten vorgelegten Berechnungen (Fassungen vom 23. und 28. September 2020) noch von 391,59 € auf 395,74 €.
145ee) Zutreffend hat der Beklagte in seine Berechnungen des "Nettomehrbetrages" auch die Kostendämpfungspauschale gemäß § 12a Beihilfeverordnung NRW (BVO NRW) eingestellt. Die hiergegen gerichtete Kritik des Klägers greift nicht durch. Wie bereits ausgeführt, hat der Beklagte dem Kläger eine Alimentation zu gewähren, die es ihm ermöglicht, den anzuerkennenden Unterhalt für sein drittes Kind – in Höhe das 1,15-fachen des hierfür gesetzlich vorgesehenen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs – ohne Zugriff auf nicht familienbezogene Bezügebestandteile zu decken. Für die Alimentation ist anerkannt, dass Einschnitte im Bereich der Beihilfe für Beamte im Krankheitsfall in Form des Abzugs eines jährlichen Selbstbehalts wie der nordrhein-westfälischen Kostendämpfungspauschale als Minderung einer anderweitigen Alimentationsleistung in die Beurteilung der Amtsangemessenheit einzubeziehen sind.
146Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.11.2015 – 2 BvL 19/09 u.a. –, juris Rn. 133, 153; BVerwG, Beschluss vom 22.09.2017 – 2 C 56.16 u.a. –, juris Rn. 102, 105
147Hiervon ausgehend ist es zwingend, die Auswirkung der in § 12a Abs. 1 und Abs. 5 BVO NRW getroffenen Regelung, dass grundsätzlich eine Kostendämpfungspauschale in Höhe von 300 € in Ansatz zu bringen ist, diese sich jedoch um 60 € für jedes zu berücksichtigende Kind vermindert, so dass ein Beamter mit drei Kindern im Vergleich mit einem Beamten mit zwei Kindern den letztgenannten Betrag mehr zur Verfügung hat, in die Berechnung des "Nettomehrbetrages", der gerade dieser Vergleich zugrunde liegt, einzubeziehen.
148Vgl. BVerwG, Urteil vom 28.04.2011 – 2 C 51.08 –, juris Rn. 12, das ausdrücklich darauf hinweist, die Verringerung der Kostendämpfungspauschale je Kind stelle für Beamte eine Entlastung dar.
149Insofern ist es nicht von ausschlaggebender Bedeutung, dass eine Kostendämpfungspauschale nur anfällt, wenn der Beamte Beihilfeleistungen tatsächlich in Anspruch nimmt. Bei der im vorliegenden Zusammenhang gebotenen realitätsgerechten Betrachtung ist davon auszugehen, dass ein Vier-Personen-Haushalt mit zwei ebenso wie ein Fünf-Personen-Haushalt mit drei Kindern typischerweise in jedem Kalenderjahr ärztliche Behandlungen in einem solchen Umfang in Anspruch nehmen, dass die zu gewährende Beihilfe 180 € bzw. 120 € (§ 12a Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 BVO NRW) übersteigt. Der Einbeziehung der Kostendämpfungspauschale steht ferner nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht diese in dem Beschluss vom 4. Mai 2020 unterlassen hat. Es ist einer Berücksichtigung nicht entgegengetreten, sondern konnte die Frage offen lassen, weil es für die Entscheidung hierauf nicht ankam.
150Vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris Rn. 84; ebenso im Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 4/18 –, juris Rn. 148.
1514. Der demzufolge einem Beamten der (damaligen) Besoldungsgruppe des Klägers bei pauschalisierender und typisierender Betrachtung für den Unterhalt seines dritten Kindes im Jahr 2010 zur Verfügung stehende "Nettomehrbetrag" in Höhe von 391,59 € reichte aus, um den Bedarf für sein drittes Kind in Höhe des 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs, der sich nach obenstehenden Ausführungen auf 388,94 € belief, zu decken.
152C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 ZPO.
153Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
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Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Mainz vom 22.10.2019, Az. 5 O 341/18, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts und dieses Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf ... festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Kläger nimmt die Beklagte zu 1) als Händlerin und die Beklagte zu 2) als Herstellerin wegen des Kaufs eines Dieselfahrzeugs des Typs Porsche Macan S auf Schadensersatz sowie auf Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten zu 2) in Anspruch.
2
Durch Bestellung vom Juni 2015 kaufte der Kläger von der Beklagten zu 1) einen Porsche Macan S Diesel zu einem Kaufpreis von ... EUR, welcher am 19.10.2015 geliefert und in Rechnung gestellt wurde. Dieses Fahrzeug verfügt über einen Sechszylinderdieselmotor mit 3 Litern Hubraum, für den eine Typengenehmigung der Schadstoffklasse EU 6 erteilt ist. Dieser Motor einschließlich der Motorsteuerungssoftware wurde nicht von der Beklagten zu 2), sondern von der ... AG hergestellt, bei der die Beklagte zu 2) den Motor erworben hat. Im Herbst 2016 führte die Beklagte zu 2) zunächst auf freiwilliger Basis ein Softwareupdate an den Fahrzeugen der Typenreihe Porsche Macan 3,0 Liter-V6-Diesel durch. Auch beim Fahrzeug des Klägers wurde am 2.11.2016 durch die Beklagte zu 1) diese Servicemaßnahme durchgeführt. Durch Schreiben vom 22.12.2017 erklärte der Kläger ohne vorherige Fristsetzung zur Nacherfüllung den Rücktritt vom Kaufvertrag (Anlage K 31, Anlagenband). Am 10.07.2018 erließ das Kraftfahrtbundesamt (KBA) eine nachträgliche Nebenbestimmung zur EG-Typengenehmigung für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp. Das daraufhin von der Beklagten zu 2) im August dem KBA vorgestellte Softwareupdate wurde dem Kläger Ende des Jahres 2018 angeboten, der dies aber noch nicht hat vornehmen lassen.
3
Der Kläger hat erstinstanzlich zur Begründung seines auf Rückabwicklung des Kaufvertrages gegen die Beklagte zu 1) und Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten zu 2) gerichteten Begehrens vorgetragen, das streitgegenständliche Fahrzeug sei ebenfalls vom sogenannten Abgasskandal des ...-Konzerns, dem auch die Beklagte zu 2) angehöre, betroffen. ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... . Über diese Manipulationen, welche zu einem Mangel des Fahrzeugs führten, hätten die Beklagten in betrügerischer und sittenwidriger Weise zur Erlangung eines Vermögensvorteils getäuscht. Durch Inverkehrbringen eines solchen Fahrzeugs habe die Beklagte zu 2) ihn sittenwidrig geschädigt. Sein Schaden liege im Abschluss des Kaufvertrages über das Fahrzeug. Hätte er gewusst, dass bei dem gekauften Fahrzeug im Realbetrieb die für die Abgasnorm erforderlichen Verbrauchswerte deutlich überschritten werden, hätte er diesen PKW nicht gekauft. Der Kläger habe im Verkaufsgespräch großen Wert darauf gelegt, ein wertstabiles, umweltfreundliches und mit geringen Kraftstoffverbrauch versehenes Fahrzeug zu erwerben. Der Schaden entfalle auch nicht durch Aufspielen des Softwareupdates. ... ... Außerdem liege eine deutliche Wertminderung vor. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, aufgrund der besonderen Verflechtung zwischen Hersteller und Händler im Automobilhandel sei es gerechtfertigt, der Beklagten zu 1) die Täuschung durch die Beklagte zu 2) zuzurechnen. Der Kaufvertrag sei deshalb wegen arglistiger Täuschung und darüber hinaus auch wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtig, weshalb ein bereicherungsrechtlicher Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages bestehe. Ferner bestehe auch ein kaufvertraglicher Rückabwicklungsanspruch wegen Mangelhaftigkeit des Fahrzeugs. Eine Nachbesserung sei sowohl unmöglich als auch unzumutbar. Wegen der Arglist der Beklagten zu 1) sei der Anspruch auch nicht verjährt.
4
Demgegenüber hat die Beklagte zu 1) die Verjährungseinrede erhoben. Kaufrechtliche Gewährleistungsansprüche seien verjährt. Im Übrigen sei das Fahrzeug auch mangelfrei. Es sei zum vertraglich vereinbarten Zweck uneingeschränkt brauchbar. Dass es dem Kläger beim Kauf auf die Umweltverträglichkeit besonders angekommen sei, habe dieser im Verkaufsgespräch nicht zum Ausdruck gebracht und sei bei dem Fahrzeugtyp, für den er sich entschieden habe - ein 2 Tonnen schweres SUV mit 190 kW (258 PS) - auch unplausibel. Eine unzulässige Abschalteinrichtung liege nicht vor. Selbst wenn man dies unterstellen sollte, hätte die Beklagte zu 1) hiervon aber auch keine Kenntnis gehabt. Eine etwaige Kenntnis der Beklagten zu 2) müsse sich die Beklagte zu 1) nicht zurechnen lassen, da die Herstellerin des Fahrzeugs nicht Erfüllungsgehilfin des Händlers sei. Aus diesem Grund bestünde auch kein bereicherungsrechtlicher Rückabwicklungsanspruch aus §§ 812, 123 BGB wegen Nichtigkeit des Kaufvertrages aufgrund arglistiger Täuschung. Der Kaufvertrag sei auch nicht wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz gem § 134 BGB nichtig. Es liege bereits kein Verstoß gegen § 27 Abs. 1 AG-FGV vor. Ein solcher Verstoß würde bei dem nur einseitig geltenden Verbotsgesetz auch nicht zur Nichtigkeit des Vertrages führen.
5
Die Beklagte zu 2) hat erstinstanzlich vorgetragen, die gegen sie erhobene Feststellungsklage sei mangels Vorliegens eines feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses und wegen des Vorrangs der Leistungsklage bereits unzulässig. Sie sei aber auch unbegründet. Deliktische Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zu 2) bestünden mangels Täuschung nicht. Das streitgegenständliche Fahrzeug habe ... aufgewiesen. Entsprechendes werde von der Klägerseite auch nicht substantiiert vorgetragen. Die Funktion des sogenannten Thermofensters hänge nicht von dem Betrieb auf dem Prüfstand ab, sondern sei außentemperaturabhängig und zudem zum Motorschutz notwendig. ... ... Ihr könne eine - unterstellte - Täuschung auch nicht zugerechnet werden. Unstreitig sei der Motor nebst der Motorsteuerungssoftware nicht von ihr hergestellt worden. Es sei auch nicht zutreffend, dass ein verfassungsmäßig berufener Vertreter der Beklagten zu 2) Kenntnis über die genaue Funktionsweise dieser Software gehabt habe und den Motor gleichwohl habe einbauen lassen. Der Vortrag des Klägers hierzu sei unsubstantiiert. Nachdem der Abgasskandal bei ... bekannt geworden sei, habe die Beklagte zu 2) bei der ... AG wiederholt nachgefragt, ob auch der streitgegenständliche Motor betroffen sei, was von dieser stets verneint worden sei. Wegen des weiteren Vortrags zur fehlenden Kenntnis wird auf die von der Beklagten zu 2) vorgelegte Sachverhaltsdarstellung (Annex 1, Bl. 720 ff. GA) ... Bezug genommen.
6
Wegen der von den Parteien erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des Urteils des Landgerichts vom 22.10.2019 Bezug genommen.
7
Das Landgericht hat die Klage vollumfänglich abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Klage gegen die Beklagte zu 1) sei unbegründet, die Klage gegen die Beklagte zu 2) sei unzulässig und unbegründet. Die Unzulässigkeit des Feststellungsantrages gegen die Beklagte zu 2) ergebe sich aus dem Vorrang der Leistungsklage. Der Kläger habe seinen Schadensersatzanspruch beziffern können. Die Klage gegen die Beklagte zu 2) sei aber auch unbegründet. Ein deliktischer Anspruch gegen diese bestehe nicht. Der Kläger habe zu einer der Beklagten zu 2) zurechenbaren Schädigungshandlung nicht substantiiert vorgetragen. Vielmehr habe er „ins Blaue vorgetragen“, die Beklagte zu 2) habe ein Fahrzeug in den Verkehr gebracht, welches über eine unerlaubte Abschalteinrichtung verfüge und sich hierbei auf Ausführungen bezogen, die für den Motortyp EA 189 gültig seien, der hier unstreitig nicht verbaut sei. Ob das eingebaute Thermofenster eine unerlaubte Abschalteinrichtung darstelle, könne offenbleiben. Insoweit handle es sich um eine allgemein anerkannte und von sämtlichen Herstellern eingesetzte sowie bei einer Prüfung des Fahrzeugs offen erkennbare technische Einrichtung. Sofern diese gleichwohl aufgrund ihrer technischen Gestaltung als unzulässig anzusehen wäre, führe dies nicht dazu, dass ein Sittenverstoß bejaht werden könne. Mangels Täuschungshandlung durch die Beklagte zu 2), welche der Beklagten zu 1) zugerechnet werden könne, bestehe auch kein bereicherungsrechtlicher Anspruch gegen die Beklagte zu 1) auf Rückabwicklung wegen Nichtigkeit des Vertrages. Kaufrechtliche Gewährleistungsansprüche seien bei Klageerhebung verjährt gewesen.
8
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, der seine erstinstanzlich gestellten Anträge weiterverfolgt. ... ... .
............
9
Die Beklagten verteidigen das erstinstanzliche Urteil.
10
Die Beklagte zu 1) beruft sich erneut darauf, dass der Rücktritt vom Kaufvertrag nicht innerhalb der Gewährleistungsfrist erklärt worden und deshalb gem. § 218 BGB unwirksam sei. Eine etwaige Täuschung durch die Beklagte zu 2) - welche nicht substantiiert vorgetragen sei - müsse sich die Beklagte zu 1) nicht zurechnen lassen. Eine wirtschaftliche Verflechtung der Beklagten, welche eine solche Zurechnung rechtfertigen würde, bestünde nicht. Die Beklagte zu 1) sei vielmehr von der Beklagten zu 2) unabhängig und verfolge auch unterschiedliche wirtschaftliche Interessen. Aus diesem Grund scheide auch eine Rückabwicklung des Vertrages wegen arglistiger Täuschung aus. Hilfsweise beruft sich die Beklagte zu 1) darauf, dass weder ein Mangel am Fahrzeug vorliege noch die Rücktrittsvoraussetzungen gegeben gewesen seien. Weder sei eine Nacherfüllung unmöglich, noch unzumutbar. Wegen der weiteren Begründung wird auf die Berufungserwiderungsschrift der Beklagten zu 1) vom 4.03.2020 (Bl. 24 ff. eGA) Bezug genommen.
11
Die Beklagte zu 2) trägt vor, das Landgericht sei zu Recht von einem unsubstantiierten Vortrag „ins Blaue“ zu der behaupteten sittenwidrigen Schädigung durch die Beklagte zu 2) ausgegangen. Die Klage und die Berufungsbegründung entbehrten insbesondere im Hinblick darauf, dass die Beklagte zu 2) den Motor unstreitig nicht hergestellt habe, an hinreichenden Anhaltspunkten für eine Täuschung durch die Beklagte zu 2). Die den Motor herstellende AG ... habe der Beklagten zu 2) auf Nachfrage wiederholt versichert, dass der streitgegenständliche Motor von dem Abgasskandal nicht betroffen sei und keine unzulässige Abschalteinrichtung aufweise. Zudem habe die umfangreiche Sachverhaltserfassung der Beklagten zu 2) auch keinerlei Hinweise ergeben, dass Vorstandsmitglieder der Beklagten zu 2) zum Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses am 22. Juni 2015 Kenntnis von der konkreten, vom KBA letztlich als unzulässig festgestellten Bedatung der Motorsteuerungssoftware hatten, wobei es sich um eine negative Tatsache handle. Eine entsprechende Kenntnis bleibe daher zu bestreiten. Aus der umfangreichen Sachverhaltserfassung der Beklagten zu 2) hätten sich darüber hinaus auch keinerlei Hinweise ergeben, dass sonstige, bei der Beklagten zu 2) für das vorliegende Verfahren relevante Personen bis in den Juni 2017 Kenntnis von der konkreten, vom KBA als unzulässig festgestellten Bedatung der Motorsteuerungssoftware hatten. Eine entsprechende Kenntnis werde daher ebenfalls bestritten. Wegen der Berufungserwiderung der Beklagten zu 2) im Einzelnen wird auf die Berufungserwiderungsschrift der Beklagten zu 2) vom 6.03.2020 (Bl. 36 ff. eGA) Bezug genommen.
II.
12
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
1.
13
Dies gilt zunächst, soweit sich die Berufung gegen die Abweisung der Klage gegen die Beklagte zu 1) richtet. Die Klage gegen die Beklagte zu 1) hat das Landgericht zu Recht für zulässig, aber unbegründet gehalten.
14
a) Es besteht gegen die Beklagte zu 1) kein Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages aus §§ 437, 440, 323, 346 BGB wegen eines Mangels des gekauften Porsche Macan.
.........
15
Ob die verschiedenen, von der Klägerin behaupteten Strategien zur Abgasreduzierung auf dem Prüfstand im streitgegenständlichen Motor des Fahrzeugs verbaut sind, ... kann aber letztlich offenbleiben. Denn der Rücktritt des Klägers gegenüber der Beklagten zu 1) vom 22.12.2017 war gem. § 218 BGB unwirksam. Hiernach ist ein Rücktritt wegen nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung unwirksam, wenn der Nacherfüllungsanspruch verjährt ist und der Schuldner sich darauf beruft. Der Nacherfüllungsanspruch des Klägers verjährte hier gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB in zwei Jahren, wobei die Verjährungsfrist mit der Ablieferung des Fahrzeugs am 19.10.2015 zu laufen begann (§ 438 Abs.2 BGB) und demnach am 19.10.2017 endete. Der erst am 22.12.2017 erklärte Rücktritt erfolgte nach dieser Frist. Die Beklagte zu 1) hat in der Klageerwiderung bereits die Einrede der Verjährung bezüglich etwaiger Gewährleistungsansprüche erhoben.
16
Die Verjährungsfrist war hier auch nicht deshalb gem. § 438 Abs. 3 BGB auf die regelmäßige Verjährungsfrist gem. § 199 ff. BGB ausgedehnt, weil die Beklagte zu 1) den Mangel arglistig verschwiegen hätte. Dass die Beklagte bzw. einer ihrer Mitarbeiter als Erfüllungsgehilfen gem. § 278 BGB den in einer etwaigen verbotenen Abschalteinrichtung des Motors liegenden Mangel des Fahrzeugs gekannt hätte, trägt die Klägerin nicht vor und ist auch sonst nicht ersichtlich.
17
Die Beklagte zu 1) muss sich eine etwaige Arglist der Beklagten zu 2) auch nicht zurechnen lassen. Denn die Beklagte zu 2) ist weder Erfüllungsgehilfin der Beklagten zu 1) noch deren Vertreterin, so dass weder eine Zurechnung über § 278 BGB noch über § 166 BGB in Betracht kommt.
18
Erfüllungsgehilfe gem. § 278 BGB sind Dritte, die in die Erfüllung einer Schuldnerverbindlichkeit. eingeschaltet sind (MüKoBGB/Grundmann, 8. Aufl. 2019, BGB § 278 Rn. 20). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Vorlieferant des Verkäufers nicht dessen Gehilfe bei der Erfüllung der Verkäuferpflichten gegenüber dem Käufer; ebenso ist auch der Hersteller der Kaufsache nicht Erfüllungsgehilfe des Händlers, der die Sache an seine Kunden verkauft (BGH, Urteil vom 02. April 2014 - VIII ZR 46/13 -, BGHZ 200, 337-350, Rn. 31 m.w.N). Dass sich in der Automobilbranche wegen der Verflechtung von Händler und Hersteller etwas anderes ergeben sollte, überzeugt den Senat nicht. Diese Verbindung zwischen Hersteller und Händler führt nicht dazu, dass die Beklagte zu 2) in die Verpflichtung der Beklagten zu 1) eingeschaltet wäre, dem Kläger die - mangelfreie - Kaufsache zu liefern (so auch OLG Koblenz, Urteil vom 06. Juni 2019 - 1 U 1552/18 -, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 01. August 2018 - 12 U 179/17 -, juris; OLG Karlsruhe, Urteil vom 18. Juli 2019 - 17 U 160/18 -, juris).
19
b) Ein Rückgewähranspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 812 Abs. 1 S. 2 BGB i.V.m. § 123 BGB. Auch diesem Anspruch steht entgegen, dass die Beklagte zu 1) bzw. einer ihrer Mitarbeiter den Kläger unstreitig nicht getäuscht hat und von einer etwaigen Abschalteinrichtung keine Kenntnis hatte. Die Beklagte zu 2) ist als Dritte i.S.d. § 123 Abs. 2 BGB anzusehen, so dass deren etwaige Kenntnis von der Abschalteinrichtung der Beklagten zu 2) nur bei eigener Kenntnis zugerechnet werden könnte (OLG Karlsruhe a.a.O).
20
c) Schließlich ergibt sich ein Rückgewähranspruch auch nicht aus § 812 Abs.1 BGB i.V.m. § 134 BGB in Verbindung mit § 27 EG-FGV. Ein etwaiger Verstoß gegen § 27 EG-FGV führt nicht zur Nichtigkeit des zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1) geschlossenen Vertrages. Die Nichtigkeitsfolge bei dem Verstoß eines Rechtsgeschäfts gegen ein gesetzliches Verbot tritt nämlich nur dann ein, wenn sich nicht aus dem Gesetz etwas anderes ergibt. In ständiger Rechtsprechung führt dies dazu, dass in den Fällen, in denen das betreffende Verbot allein den einen Teil des Vertrages trifft, die in § 134 BGB vorgesehene Rechtsfolge nur in Betracht kommt, wenn dem Verbot ein Zweck zugrunde liegt, der gleichwohl die Nichtigkeit des ganzen Rechtsgeschäfts erfordert (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1999 - X ZR 34/98 -, BGHZ 143, 283-290, Rn. 18 m.w.N.). Nach der Vorschrift des § 27 Abs. 1 EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung (EG-FGV) dürfen Neufahrzeuge im Inland nur feilgeboten, veräußert oder in Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sind. Dieses Gebot richtet sich vorliegend nur an die Verkäufer, nicht aber an die Käuferseite. Auch erfordert der Schutzzweck dieses Gesetzes nicht die Nichtigkeit des Vertrages (so auch mit überzeugender Begründung OLG Karlsruhe a.a.O., Rdn. 39, 40; Oberlandesgericht Hamburg, Urteil vom 21. Dezember 2018 - 11 U 55/18 -, juris Rn. 66 ff.; OLG Köln, Beschluss vom 16. Juli 2018 - 5 U 82/17 -, juris Rn. 8 ff).
2.
21
Auch bezüglich des klageabweisenden Urteils gegen die Beklagte zu 2) hat die Berufung keinen Erfolg. Das Landgericht hat die Klage - jedenfalls im Ergebnis - zu Recht abgewiesen.
22
a) Der mit dem Klageantrag zu 2) gegen die Beklagte zu 2) gestellte Feststellungsantrag ist gem. § 256 ZPO mangels Feststellungsinteresses wegen des Vorrangs er Leistungsklage unzulässig.
23
Dass der Kläger Teile seines Schadensersatzanspruchs - insbesondere den gezahlten Kaufpreis abzüglich einer Nutzungsentschädigung - bereits beziffern kann, steht der Zulässigkeit der Feststellungsklage zwar nicht entgegen, wenn sich der anspruchsbegründende Sachverhalt (z.B. der Schaden) zur Zeit der Klageerhebung noch in der Fortentwicklung befindet, auch wenn der Anspruch bereits teilweise beziffert werden könnte (Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 256 ZPO, Rn. 7a m.w.N). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es hierfür ausreichend, dass nach der Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein erst künftig aus dem Rechtsverhältnis erwachsender Schaden angenommen werden kann (BGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - IX ZR 197/12 -, juris Rn. 11). Eine solche hinreichende Wahrscheinlichkeit ist hier vom Kläger allerdings nicht hinreichend vorgetragen. Welche Schäden außer dem bereits abgeschlossenen Erwerb des Fahrzeugs noch drohen, ist nicht ersichtlich. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die vom KBA geforderte Softwarenachrüstung beim klägerischen PKW noch nicht erfolgt ist. Der Kläger macht gegen die Beklagte zu 2) einen deliktischen Anspruch auf Rückabwicklung des Fahrzeugkaufs geltend, den er in Kenntnis der behaupteten Abschalteinrichtung nicht gekauft hätte. Dies ist das zwischen den Parteien streitige Rechtsverhältnis. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit dem Kläger neben diesem Anspruch noch Schäden wegen einer drohenden Stilllegung des Fahrzeugs zustehen können, welche voraussetzen, dass der Kläger das Fahrzeug weiter nutzt (vgl. hierzu auch OLG München, Urteil vom 10. August 2020 - 21 U 2719/19 -, juris). Dass Steuernachforderungen - fünf Jahre nach dem Bekanntwerden der Missstände - drohen, ist nicht plausibel dargelegt.
24
b) Dass das Landgericht die Klage gegen die Beklagte zu 2) darüber hinaus auch für unbegründet gehalten hat, ist - jedenfalls im Ergebnis - nicht zu beanstanden.
25
aa) Dem Kläger steht gegen die Beklagte dem Grunde nach kein Schadensersatzanspruch gemäß § 826 Abs. 2 i.V.m. § 31 BGB analog wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zu.
26
Zwar stellt das Inverkehrbringen eines Fahrzeugs mit einer unerlaubten Abschalteinrichtung unter bewusstem Verschweigen der (gesetzwidrigen) Softwareprogrammierung eine konkludente Täuschung dar, da der Hersteller mit dem Inverkehrbringen konkludent die Erklärung abgibt, der Einsatz des Fahrzeugs sei im Straßenverkehr uneingeschränkt zulässig (BGH Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19; Urteile des erkennenden Senats vom 12.06.2019 - 5 U 1318/18 - und vom 28.08.2019 - 5 U 1218/18; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 05. März 2019 - 13 U 142/18 -, Rn. 8, juris). Der Senat ist indessen nach dem Vortrag der Parteien nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugt, dass Organen der Beklagte zu 2) im hier maßgeblichen Zeitpunkt des Kaufvertragsschlusses die gesetzeswidrige Softwareprogrammierung bekannt war und sie deshalb den Kläger vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat.
27
(1) Der Kläger hat zunächst - anders als vom Landgericht angenommen - angesichts seiner Erkenntnismöglichkeiten ausreichend substantiiert dazu vorgetragen, dass in dem streitgegenständlichen Fahrzeug ein Motor mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung verbaut ist. Die Anforderungen an die Darlegungslast des Klägers dürfen insoweit nicht überspannt werden.
28
Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 17. Dezember 2014 - VIII ZR 88/13, NJW 2015, 934 Rn. 43; Beschlüsse vom 28. Februar 2012 - VIII ZR 124/11, WuM 2012, 311 Rn. 6 mwN; vom 26. März 2019 - VI ZR 163/17, VersR 2019, 835 Rn. 11 mwN). Das gilt insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den Vorgängen hat (BGH, Beschluss vom 12. September 2012 - IV ZR 52/14, NJW-RR 2017, 22 Rn. 27). Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 28. Februar 2012 - VIII ZR 124/11, aaO mwN; vom 26. März 2019 - VI ZR 163/17, aaO). Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 - VIII ZR 57/19 -, Rn. 7, juris). Weiter ist es einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 27. Mai 2003 - IX ZR 283/99, NJW-RR 2004, 337 unter II 1 mwN; Beschluss vom 9. November 2010 - VIII ZR 209/08, juris Rn. 15). Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich - wie hier der Kläger - nur auf vermutete Tatsachen stützen kann, weil sie mangels Sachkunde und Einblick in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten und verwendeten Fahrzeugmotors einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann (vgl. BGH, Beschluss vom 26. März 2019 - VI ZR 163/17, aaO Rn. 13). Eine Behauptung ist erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich "aufs Geratewohl"oder "ins Blaue hinein" aufgestellt worden ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 27. Mai 2003 - IX ZR 283/99, aaO; vom 26. Januar 2016 - II ZR 394/13, WM 2016, 974 Rn. 20; Beschlüsse vom 9. November 2010 - VIII ZR 209/08, aaO; vom 26. März 2019 - VI ZR 163/17, aaO Rn. 13; jeweils mwN). Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur beim Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte gerechtfertigt werden können (BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 - VIII ZR 57/19 -, Rn. 8, juris).
29
Es ist demnach ausreichend, wenn der Kläger greifbare Umstände anführt, auf die er den Verdacht gründet, sein Fahrzeug weise eine oder mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen auf und die von ihm befürchteten Auswirkungen einer solchen Abschalteinrichtung auf den Stickoxidausstoß im realen Fahrbetrieb und auf dem Prüfstand beschreibt (vgl. BGH, Beschluss vom 28.Januar 2020 - VIII ZR 57/19 -, Rn. 10, juris).
30
Gemessen an diesen Anforderungen muss der Klägervortrag bereits als ausreichend substantiiert angesehen werden. Hierbei kann dahinstehen, ob es sich bei dem sogenannten „Thermofenster“ um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, da der Kläger zwei weitere Mechanismen vorträgt, welche nach seinem Vortrag nicht an die Außentemperatur, sondern an die Erkennung des Prüfstandes anknüpfen. ... ... Dass es sich hierbei nicht um einen Vortrag „ins Blaue“ handelt, sondern für diese Behauptung auch greifbare Anhaltspunkte bestehen, ergibt sich aus dem - von der Beklagten zu 2) vorgelegten Bescheid des KBA vom 10.07.2018 (Bl. 785 GA) - welcher die im Bescheid als ... genannten Programmierungen als unzulässige Abschalteinrichtungen einstuft und eine Rückrufaktion mit Softwareupdate anordnet. Die Berufung rügt zu Recht, dass das Landgericht auf diesen Bescheid, welcher sich auf den streitgegenständlichen Motor bezieht, nicht berücksichtigt hat.
31
(2) Allein, dass nach klägerischem Vortrag eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist, rechtfertigt indessen nicht bereits den Vorwurf einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung durch die Beklagte zu 2). Der gemäß § 826 BGB erforderliche Vorsatz enthält ein Wissens- und ein Wollenselement. Der Handelnde muss die Schädigung des Anspruchstellers gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen, jedenfalls aber für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben. Es genügt nicht, wenn die relevanten Tatumstände lediglich objektiv erkennbar waren und der Handelnde sie hätte kennen können oder kennen müssen oder sie sich ihm sogar hätten aufdrängen müssen (BGH, Urteil vom 28. Juni 2016, VI ZR 536/15, Rn. 25, juris). Hierbei muss sich die Beklagte das Handeln ihrer Mitarbeiter nach Maßgabe des § 31 BGB analog zurechnen lassen. Die Repräsentantenhaftung erstreckt sich für die juristischen Personen über den Vorstand, die Vorstandsmitglieder und die verfassungsmäßig berufenen besonderen Vertreter hinaus auf alle sonstigen Personen, denen durch die allgemeine Betriebsregelung und Handhabung bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, so dass sie die juristische Person im Rechtsverkehr repräsentieren (Arnold in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 31 Rn. 14, BGH NJW 1968, 391, 392). Da es der juristischen Person nicht freisteht, selbst darüber zu entscheiden, für wen sie ohne Entlastungsmöglichkeit haften will, kommt es nicht entscheidend auf die Frage an, ob die Stellung des „Vertreters” in der Satzung der Körperschaft vorgesehen ist oder ob er über eine entsprechende rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht verfügt. Hierzu gehört auch der Personenkreis der leitenden Angestellten (BGH NJW 1998, 1854, 1856). Die Darlegungs- und Beweislast für den Vorsatz der Beklagten zu 2) liegt hierbei grundsätzlich beim Kläger als Anspruchssteller.
32
Angesichts des Umstandes, dass die Beklagte zu 2) den streitgegenständlichen Motor unstreitig nicht hergestellt, sondern einschließlich der Motorsteuerungssoftware von der ... AG bezogen hat, reicht der Vortrag des Klägers dazu, dass die Organe oder Repräsentanten der Beklagten zu 2) positive Kenntnis von der Steuerungssoftware hatten, vorliegend nicht aus. Hierbei ist insbesondere der Vortrag, sämtliche Vorstände der zum ...-Konzern gehörenden Gesellschaften und damit auch der zum hier relevanten Zeitpunkt der Beklagten zu 2) vorstehende Vorstandsvorsitzende, hätten von der manipulierten Software gewusst, ohne ausreichende Substanz. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des detaillierten Vortrags der Beklagten zu 2) in ihrer als Annex 1 zum Schriftsatz vom 14.06.2019 vorgelegten Sachverhaltsdarstellung (Bl. 720 ff. GA) unter Ziff. 1.1, wonach konzernintern durch Vereinbarung vom 18.12.2008 mit der ... AG zum Zwecke der Geringhaltung der Entwicklungs- und Herstellungskosten Übereinkunft dahingehend erzielt wurde, dass die für die SUV der Beklagten benötigten Dieselmotoren einschließlich der Motorsteuerungssoftware von der ... AG hergestellt werden. In der Folge seien sowohl die Programmierung als auch die Anpassung und Vernetzung der Antriebseinheit, wozu auch die Bedatung und Abstimmung der Software gehöre, durch die ... AG erfolgt. Die Beklagte zu 2) habe lediglich Fahrtests durchgeführt, und gewünschte Änderungen an die ... AG weitergeleitet. Eine spezifische und gesamthafte Softwareanalyse sei von der Beklagten zu 2) nicht durchgeführt worden (Bl. 722 GA). Angesichts dieser vorgetragenen Arbeitsteilung zum Zweck einer Geringhaltung der Entwicklungs- und Produktionskosten - welche von der Klägerseite nicht substantiiert bestritten wurde - ist es nicht unplausibel, dass es bezüglich der Programmierung der Motorsteuerungssoftware im Einzelnen nicht zu konzernübergreifenden Absprachen kam.
33
Es ist auch weder vorgetragen noch ersichtlich, dass und auf welche Weise der Beklagten zu 2) Informationen der ...AG oder sonst konzernzugehöriger Unternehmen über die Funktionsweise der Motorsteuerungssoftware vermittelt worden sind. ... ... ...
34
Der Kläger hat seinen Vortrag auch trotz eines Hinweises in der Terminsverfügung vom 17.05.2020, dass der Senat die Behauptungen des Klägers zur Verantwortlichkeit der Beklagten nach § 31 BGB angesichts des Vortrages der Beklagten im konkreten Einzelfall für nicht ausreichend erachtet, nicht ergänzt.
35
Die Beklagte zu 2) muss sich auch nicht das Wissen der ... AG entsprechend § 166 Abs. 2 BGB deshalb zurechnen lassen, weil dieses Unternehmen dem gleichen Konzern angehört (BGH Urteil vom 13. Dezember 1989, IVa ZR 177/88 Rn. 14, juris; Staudinger/Schilken (2019) BGB § 166, Rn. 32a; OLG Frankfurt, Urteil v. 4. September 2019, 13 U 136/18; OLG Stuttgart, Urteil v. 25. April 2017, 6 U 146/16, Rn. 43, juris). Es kommt vielmehr darauf an, ob und inwieweit das Unternehmen Zugriff auf die Information hat und eine Verantwortung für sein fehlendes Wissen trifft. Das kann sich aus den Pflichten der Konzernobergesellschaft in Bezug auf den Konzern ergeben, mit der Folge, dass ihr das Wissen der Tochtergesellschaften zuzurechnen ist, soweit sie es nach diesen Pflichten organisieren muss (MüKoBGB/Schubert, 8. Aufl. 2018, BGB § 166 Rn. 64). Es käme hier also allenfalls in Betracht, dass sich die Konzernobergesellschaft das Wissen der ... AG zurechnen lassen muss. Eine Zurechnung bei Schwestergesellschaften innerhalb des Konzerns - wie vorliegend - erfolgt indessen nicht. Allein der Umstand, dass profilierte Manager zwischen Konzerngesellschaften in Leitungs- oder Planungsabteilungen an verantwortlicher Stelle beschäftigt waren, ergibt keinen Hinweis für eine Wissenszurechnung dieser Personen an die Beklagte zu 2).
36
Es ist mangels hinreichend überzeugungskräftiger Indizien für eine positive Kenntnis des Vorstandes oder anderer Repräsentanten der Beklagten zu 2) auch nicht von einer sekundären Darlegungslast der Beklagen zu 2) auszugehen, die über die von ihr bereits erfolgte Sachverhaltsdarstellung (Bl. 720 ff.) hinausgeht (so auch OLG Frankfurt, Urteil vom 5.12.2019, 16 U 61/18, von der Beklagten zu 2) vorgelegt als Anlage B22 zu Bl. 67 eGA; OLG München, 14 U 2813/19, von der Beklagten zu 2) vorgelegt als Anlage B23 zu Bl. 67 eGA). Der vorliegende Fall unterscheidet sich insoweit grundlegend von der Fallkonstellation der EA 189-Motoren, welche von der ...-AG selbst entwickelt, hergestellt und programmiert worden sind. Wie auch der Senat wiederholt entschieden hat, ist in diesen Fällen, bei dem es außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegt, dass zumindest der Vorstand der Entwicklungsabteilung keine Kenntnis von der Funktionsweise der Motorsteuerungssoftware hatte, von einer sekundären Darlegungslast ...-AG auszugehen (Urteile des erkennenden Senats vom 12.06.2019 - 5 U 1318/18 - und vom 28.08.2019 - 5 U 1218/18). Entsprechendes gilt aber dann nicht, wenn - wie vorliegend - die Herstellerin des Fahrzeugs die Entwicklung, Herstellung und Programmierung des Fahrzeugmotors vollständig ausgelagert und auf eine Konzernschwester übertragen hat. Die Beklagte zu 2) ist Käuferin, nicht Herstellerin des Motors.
37
Es begründet auch nicht den Vorwurf eines bedingt vorsätzlichen Verhaltens der Beklagten zu 2), dass sie sich auf die von ihr vorgelegte Erklärung der ... AG vom 24. November 2015 (Bl. 727 d.A.), wonach der von der Beklagten zu 2) verbaute Motor alle gültigen EU-Gesetze erfülle, bei Übernahme der von der Konzernschwester ... AG gefertigten Motoren in ihre Fahrzeuge im Jahr 2015 verlassen hat. Der Umstand, dass die Beklagte zu 2) dieser abgegebenen Versicherung vorbehaltlos Glauben schenkte und die Programmierung nach eigenem Bekunden vor Inverkehrbringen des Fahrzeugs nicht selbst überprüfte, begründet allenfalls einen Fahrlässigkeitsvorwurf, welcher für den Tatbestand des § 826 BGB nicht ausreicht.
38
Für ein allenfalls fahrlässiges Verhalten spricht auch der vom Kläger vorgetragene Bußgeldbescheid vom 7. Mai 2019 der Staatsanwaltschaft Stuttgart über EUR 531 Millionen EURO (Pressemitteilung Anlage B 19, BI. 742 GA). Danach wird zwar der Beklagten zu 2) eine Mitverantwortung für den Einbau der mangelhaften, von der ... AG entwickelten und hergestellten Motoren zugewiesen, es wird dabei aber lediglich die fahrlässige Verletzung von Aufsichtspflichten in einer Abteilung des Entwicklungsbereichs der Beklagten zu 2) festgestellt.
39
bb) Mangels hinreichend substantiiert vorgetragener eigener Kenntnis der Beklagten zu 2) von der Funktionsweise der Motorsteuerungssoftware und der fehlenden Möglichkeit, ihr die Kenntnis der ... AG zuzurechnen, kommt auch ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB nicht in Betracht.
3.
40
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 97 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr.10, 711 ZPO. Der Streitwert war in Höhe der verfolgten Ansprüche festzusetzen, wobei das Interesse des gegen die Beklagte zu 2) geltend gemachten Feststellungsantrages nicht über das des Klageantrags zu 1) hinausging.
4.
41
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO). Es handelt sich um die Entscheidung eines Einzelfalls auf der Basis gesicherter höchstrichterlicher Rechtsprechung.
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Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Verfahrenskosten zweiter und dritter Instanz.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1Tatbestand:
2Der Kläger steht als Finanzbeamter in Diensten des Beklagten. Im Streitjahr 2009 wurde er nach der Besoldungsgruppe A 13 gD besoldet. Er ist Vater dreier Kinder, geboren am x. Juli 1995, am x. März 1998 und am x. Januar 2000, für die er im Jahre 2009 kindergeldberechtigt war.
3Mit Schreiben vom 10. November 2009, ergänzt mit Schreiben vom 3. Dezember 2010, stellte der Kläger beim Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV) den Antrag, ihm für die Jahre ab 2009 einen höheren kinderbezogenen Anteil im Familienzuschlag zu zahlen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe entschieden, dass Beamten mit drei oder mehr Kindern pro Kind monatlich (mindestens) ein Betrag i. H. v. 115 % des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs zur Verfügung stehen müsse. Durch den ihm im Jahre 2009 gewährten Familienzuschlag werde dies nicht erreicht. Ursachen dafür seien die steuerliche Belastung und die existenziell notwendige Basiskranken- und -pflegeversicherung. In seine Berechnungen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs stellte der Kläger auch einen Zuschuss von 100,00 € jährlich für Schulbedarf ein. Er ermittelte einen nachzuzahlenden Nettobetrag für das Jahr 2009 i. H. v. 365,18 €.
4Mit Bescheid vom 19. Februar 2013 lehnte das LBV den Antrag ab. Die Familienzuschläge für dritte und weitere Kinder seien unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG ab dem 1. Januar 2007 pauschal um 50,00 € pro Monat angehoben und fortlaufend angepasst worden. Die Pauschalierung sei zulässig. Auch im Vergleich zu einer „Spitzabrechnung“ werde die amtsangemessene Alimentation von Beamten mit mehr als zwei Kindern in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle sichergestellt. Lediglich in den obersten Besoldungsgruppen könne sich dem Sinn und Zweck einer Pauschalierung entsprechend betragsmäßig eine geringfügige Abweichung ergeben. Eine weitergehende Anpassung würde dazu führen, dass der höchstrichterlich festgelegte Richtwert der Alimentation für dritte und weitere Kinder insbesondere in den unteren Besoldungsgruppen in einer nicht mehr vertretbaren Höhe überschritten würde. Der Familienzuschlag sei kindbezogen und werde für Kinder von Bezügeempfängern unterschiedlicher Besoldungsgruppen in gleicher Höhe gezahlt.
5Hiergegen erhob der Kläger unter dem 25. Februar 2013 Widerspruch. Dem angefochtenen Bescheid lasse sich kein rechnerisches Nachvollziehen der Rechtsprechung des BVerfG entnehmen. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 2013 wies das LBV den Widerspruch zurück.
6Der Kläger hat am 23. April 2013 Klage mit der Begründung erhoben, die Größe seines Personalkörpers entbinde den Beklagten nicht von einer individuellen Prüfung der Besoldung des Klägers nach den Vorgaben des BVerfG. Der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf sei nach der im Jahr 2009 geltenden Rechtslage zu ermitteln und umfasse insbesondere Leistungen zur Bildung und Teilhabe sowie Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge.
7Der Kläger hatte ursprünglich schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
8den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Februar 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2013 zu verurteilen, ihm für das Jahr 2009 einen Betrag i. H. v. netto 365,18 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. April 2013 zu zahlen.
9Aufgrund mehrerer Neuberechnungen und nachdem der Beklagte die Differenz im Nettoeinkommen des Klägers durch das dritte Kind im Jahr 2009 mit 390,28 € monatlich ermittelt hatte, hat der Kläger davon ausgehend seine Unteralimentation für das Jahr 2009 mit netto 587,52 € angegeben.
10Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Selbst wenn bei der Ermittlung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs sonstige Positionen einbezogen würden, ergebe sich keine Unteralimentation. Kosten der Unterkunft und Heizung seien nicht in den sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf einzustellen. Dies ergebe sich aus § 27a Abs. 4 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).
13Mit der vom Senat durch Beschluss vom 9. August 2016 zugelassenen Berufung hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das Verwaltungsgericht habe erstinstanzlich fehlerhaft den Klageantrag auf den Betrag von 113,82 € beziffert. Zur Auslegung des Klagebegehrens hätte es vielmehr die für das Kalenderjahr 2009 bezifferte Unteralimentation in Höhe von insgesamt netto 293,76 € (jeweils 48,96 € für die Monate Juli bis Dezember) zugrunde legen müssen. Der von ihm ausgerechnete sozialhilferechtliche monatliche Gesamtbedarf von Juli bis Dezember 2009 i. H. v. 439,24 € ergebe sich wie folgt: Durchschnittlicher Regelsatz 269,00 €, Wohnung (11 m² zu 6,46 €) 71,06 €, Zuschlag für Heizung (20 % der Kaltmiete) 14,21 €, Basiskranken- und –pflegeversicherung 27,68 €. Maßgeblich seien laut BVerfG hiervon 115 %. Die Kosten der Unterkunft und Heizung könnten für jedes Jahr nur aufgrund derjenigen Berechnungsgrundlagen ermittelt werden, die im Streitjahr aktuell vorlägen. Maßgebend sei immer die im Streitjahr aktuell vorliegende letzte Wohngeldstatistik bzw. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf zähle auch das Schulbedarfspaket gemäß § 28a SGB XII in Höhe von 100 € jährlich, mithin 8,33 € im Monat.
14Nachdem der Kläger im Berufungsverfahren zunächst weiter von einer Unteralimentation i. H. v. 293,76 € ausgegangen war, hat er zuletzt beantragt,
15das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Feb-ruar 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2013 zu verurteilen, ihm für das Jahr 2009 einen Nettobetrag in Höhe von 482,04 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23. April 2013 zu zahlen.
16Der Beklagte hat beantragt,
17die Berufung zurückzuweisen.
18Die vom BVerfG entwickelten Maßstäbe zur Alimentation kinderreicher Beamter seien zwar grundsätzlich nach wie vor heranzuziehen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand seien jedoch immer mehr Parameter aus dieser Berechnungsmethode aufgrund von Änderungen besoldungsrelevanter Gesetze und veränderter Tatsachengrundlage nicht mehr unmittelbar anwendbar, sondern müssten fortentwickelt werden. Eine solche Fortentwicklung sei im Hinblick auf die erfolgten Neuregelungen des Sozialhilferechts im SGB XII vorzunehmen. Beträge zur Kranken- oder Pflegeversicherung seien hingegen nicht in Ansatz zu bringen. Der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf des dritten Kindes betrage 319,00 € monatlich: 237,00 € durchschnittlicher gewichteter Regelbedarf, 70,00 € Unterkunftskosten sowie 12,00 € durchschnittliche Heizkosten. Für die Berechnung sei jeweils der Jahresbetrag zugrunde zu legen und hieraus der durchschnittliche Monatsbetrag zu errechnen. Der vom BVerfG vorgenommene pauschalierte Zuschlag von 20 % des Regelsatzes für einmalige Leistungen gelte für das Jahr 2009 nicht mehr. Die einmaligen Leistungen zum Lebensunterhalt seien nach den 2005 neugefassten sozialhilferechtlichen Regelungen fast vollständig in die deutlich angehobenen Regelsätze eingearbeitet worden. Bei den monatlichen Unterkunftskosten sei für ein Kind ein Wohnflächenanteil von 12 m² zu je 5,76 € im Monat als angemessen anzusehen. Für die Heizkosten seien 18 % hiervon anzusetzen. Die Mindestalimentation betrage danach 366,85 € (319,00 € × 115 %). Der ermittelte Differenzbetrag zwischen der Alimentation eines Beamten mit zwei Kindern und eines Beamten mit drei Kindern überschreite die Mindestalimentation. Eine Auszehrung der familienneutralen Gehaltsbestandteile des Klägers wegen des Unterhalts für sein drittes Kind finde damit nicht statt.
19Mit Urteil vom 7. Juni 2017 hat der Senat den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Februar 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2013 verurteilt, dem Kläger für das Jahr 2009 einen Nettobetrag in Höhe von 482,04 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23. April 2013 zu zahlen. Zur Begründung hat er ausgeführt:
20Es liege keine unzulässige Klageerweiterung oder teilweise Klagerücknahme vor. Der Kläger sei nicht gehalten gewesen, seinen Klageantrag betragsmäßig zu konkretisieren. Kläger dürften es bei unbezifferten Klageanträgen belassen, wenn sie Ansprüche auf höhere Familienzuschläge für dritte und weitere Kinder nach Maßgabe des Beschlusses des BVerfG vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris, geltend machten. Der Kläger habe ungeachtet eigener Angaben von Beträgen stets verdeutlicht, die konkrete Berechnung sei Sache des Beklagten. Er habe ersichtlich den ihm nach der Rechtsprechung des BVerfG zustehenden Familienzuschlag für das ganze Jahr 2009 begehrt (§ 88 VwGO).
21Die Klage sei begründet. Dem Kläger stehe hinsichtlich des Jahres 2009 ein Anspruch auf Zahlung weiterer Familienzuschläge in der ausgeurteilten Höhe zu. Dieser Anspruch ergebe sich unmittelbar aus der Vollstreckungsanordnung des BVerfG nach § 35 BVerfGG im Beschluss vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –.
22Hiernach hätten Besoldungsempfänger für das dritte und jedes weitere unterhaltsberechtigte Kind Anspruch auf familienbezogene Gehaltsbestandteile in Höhe von 115 % des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes. Die Rechtsfolge sei in den Gründen so präzisiert, dass der konkrete Nachzahlungsbetrag abhängig von den tatbestandsrelevanten Verhältnissen des Einzelfalls berechnet werden könne. Der Beklagte sei verpflichtet gewesen, diese Beträge von sich aus zu gewähren. Auf der Vollstreckungsanordnung beruhe auch die weitere Befugnis der Verwaltungsgerichte, auf der Grundlage dieser Vorgaben zusätzliche Besoldungsanteile über das einfache Gesetz hinaus zu berechnen und in einem Leistungsurteil unmittelbar zuzusprechen.
23I. Die Vollstreckungsanordnung sei weiterhin anwendbar und nicht erledigt.
241. Der Gesetzgeber habe nicht abweichende Maßstäbe gebildet und Parameter festgelegt, nach denen die Besoldung der kinderreichen Beamten bemessen und der Bedarf eines dritten und jedes weiteren Kindes ermittelt wird. Vielmehr ergebe sich aus den Ausführungen des LBV im angefochtenen Bescheid, dass die amtsangemessene Alimentation von Beamten mit mehr als zwei Kindern gerade unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG erfolgen solle. Dies habe auch der pauschalen Erhöhung des Familienzuschlags in Nordrhein-Westfalen um monatlich 50,00 € für dritte und weitere Kinder zum 1. Januar 2007 zugrunde gelegen,
25vgl. LT-Drs. 14/5198, S. 32,
26der anschließend nur noch entsprechend der allgemeinen Besoldungsanpassungen fortgeschrieben worden sei. Der Beschluss des BVerfG vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris, biete keinen Anhaltspunkt für die Annahme, der berechnete Betrag könne für bestimmte Besoldungsgruppen unterschritten werden. Die dem jeweiligen Amt angemessene Mindestalimentation stehe auch Beamten in höheren Besoldungsgruppen ungeschmälert zu.
272. Die für die Berechnungsmethode des Bundesverfassungsgerichts maßgeblichen Berechnungsgrundlagen hätten sich ferner nicht derart geändert, dass sie nicht mehr oder nicht mehr sinnvoll angewendet werden könne. Die Vollstreckungsanordnung sei ab 2005 nicht infolge von Änderungen der maßgeblichen Berechnungsgrundlagen im Zuge der Neuregelung des Sozialhilferechts im SGB XII, das an die Stelle des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) getreten sei, gegenstandslos geworden. Auch für die Jahre ab 2009 sei sie trotz Änderungen im Sozialhilferecht hinsichtlich Leistungen für Bildung und Teilhabe sowie der Übernahme von privaten Kranken- und Pflegeversicherungskosten weiterhin sinnvoll anwendbar.
28II. Bei strikter Anwendung der in ihr in Bezug genommenen Berechnungsmethode, zu deren Modifikation nur der Gesetzgeber oder das BVerfG selbst befugt wären, ergebe sich der ausgeurteilte Nachzahlungsbetrag.
291. Die Differenz zwischen dem Nettoeinkommen, das ein Beamter derselben Besoldungsgruppe wie der Kläger mit zwei Kindern erziele und demjenigen, das er mit drei Kindern habe, belaufe sich nach den vom BVerfG im Beschluss vom 24. November.1998 vorgegebenen Maßstäben für das Jahr 2009 unstrittig auf 390,28 € monatlich. Auch der Senat halte die dazu im erstinstanzlichen Verfahren übersandte Berechnung des LBV für zutreffend.
302. Dieser Betrag liege um monatlich 40,17 € (für das Jahr 2009 insgesamt um 482,04 €) unterhalb des um 15 % erhöhten sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs („15 v. H.-Betrag“), den ein Beamter für sein drittes Kind von seinem Dienstherrn mindestens habe beanspruchen können. Dieser Betrag habe sich auf 115 % von 374,30 €, also 430,45 € belaufen.
313. Der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf für dritte (und weitere) Kinder habe für das Jahr 2009 monatlich 374,30 € betragen.
32Grundlage der Berechnung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs sei nach den Vorgaben des BVerfG der Durchschnittsregelsatz nach § 22 des damaligen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) für das bisherige (alte) Bundesgebiet. Hinzuzurechnen sei ein durchschnittlicher Zuschlag von 20 % zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt, ferner die Kosten der Unterkunft ausgehend von einem Wohnbedarf von 11 qm pro Kind. Zugrunde zu legen sei insoweit die vom Statistischen Bundesamt in der so genannten 1 %-Gebäude- und Wohnungsstichprobe 1993 ermittelte Durchschnittsmiete in den alten Bundesländern von 9,53 DM je qm, die anhand des Mietenindexes des Statistischen Bundesamtes zurückgerechnet und fortgeschrieben worden sei. Schließlich seien die Energiekosten für ein Kind mit 20 % der Kaltmiete zu berücksichtigen.
33Die Parameter dieser 1998 entwickelten Berechnungsmethode seien zum Teil aufgrund von Änderungen besoldungserheblicher Gesetze und veränderter Tatsachengrundlagen im Lichte der Entscheidung fortzuentwickeln. Dies zugrunde gelegt beliefen sich die einzelnen Summanden des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs für das dritte Kind im Jahr 2009 auf 236,78 € (Durchschnittsregelsatz), 47,36 € (20 %-Zuschlag zum Regelsatz), 75,13 € (Kosten der Unterkunft) und 15,03 € (Heizkostenzuschlag), deren Summe betrage 374,30 €.
34a) Einer Fortentwicklung bedürfe es insbesondere im Hinblick auf die zum 1. Januar 2005 erfolgte Neuregelung des Sozialhilferechts (früher BSHG) im SGB XII. Der Regelsatz sei nunmehr den dortigen Regelungen zu entnehmen. Bei Bildung eines gewichteten Durchschnittswertes über die in den Regelsatzverordnungen vorgesehenen Altersgruppen ergebe sich ein Monatsbetrag von 236,78 €.
35b) Ausgehend von diesem durchschnittlichen Regelsatz belaufe sich der vorzunehmende Zuschlag in Höhe von 20 % auf monatlich 47,36 €. Hinsichtlich dieses Berechnungsparameters zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt sei für das Jahr 2009 keine Fortentwicklung erforderlich.
36Der Zuschlag sei für das streitgegenständliche Jahr nicht aufgrund Konsumtion durch den Regelsatz entfallen. Auch wenn nach den 2005 neu gefassten sozialhilferechtlichen Regelungen für volljährige Hilfebedürftige die früheren „einmaligen Leistungen“ zunächst nahezu vollständig in die deutlich angehobenen Regelsätze eingearbeitet worden sein sollten, treffe dies für Kinder und Jugendliche im Jahr 2009 nicht (mehr) zu. Für diese seien über den Wechsel vom BSHG zum SGB XII hinaus einmalige Leistungen vorgesehen für „Erstausstattung bei Geburt“, „Erstausstattungen für die Wohnung“ und „mehrtägige Klassenfahrten“. Mit Wirkung zum 1. Januar 2009 sei zudem für jedes Schuljahr eine zusätzliche Leistung in Höhe von 100,00 € vorgesehen.
37Der Zuschlag in der vom BVerfG vorgesehenen Höhe führe nicht zu einer wegen Verstoßes gegen den Alimentationsgrundsatz verfassungswidrigen Leistung. Der sich für den Zuschlag ergebende monatliche Betrag in Höhe von 47,36 € sei weder deutlich überhöht noch eklatant unzureichend, um in Zusammenschau mit den übrigen Berechnungsparametern den für das BVerfG maßstabsbildenden sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf ordnungsgemäß abzubilden.
38Zusätzlich zum Betrag in Höhe von 100,00 € für jedes Schuljahr seien auch die übrigen genannten Bedarfe nach ihrer Häufigkeit gewichtet pauschaliert abzudecken. Die Größenordnung des 20 %-igen Zuschlages erscheine auch noch vor dem Hintergrund vertretbar, dass anders als 1998 private Kranken- und Pflegeversicherungskosten seit 1. Januar 2009 in angemessenem Umfang zwingend zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf zählten, § 32 Abs. 5 Sätze 1 und 4 SGB XII. Verbesserungen im Beihilfebereich für die ganze Familie, die etwaige Mehrkosten für die private Kranken- und Pflegeversicherung durch das dritte Kind ausgleichen könnten, gebe es in Nordrhein-Westfalen seit 1993 nicht mehr. Die Begründung eines eigenständigen Berechnungsparameters der Bedarfsberechnung für private Kranken- und Pflegeversicherungskosten oder die diesbezügliche Modifizierung der Nettoeinkommensberechnung sei dem Senat, der lediglich die Vollstreckungsanordnung anwende, verwehrt.
39c) Hinzuzurechnen sei des Weiteren ein Zuschlag für die Kosten der Unterkunft ausgehend von einem Wohnbedarf von 11 qm für das Kind. In Bezug auf die Bruttokaltmiete pro qm sei eine Fortschreibung der Parameter der Vollstreckungsanordnung erforderlich. Die durchschnittliche Bruttokaltmiete pro Monat in den alten Ländern im Jahr 2009 habe sich auf 6,83 € je qm belaufen, das Elffache dieses Wertes betrage 75,13 € pro Monat.
40d) Der Zuschlag von 20 % der anteiligen Durchschnittsmiete (durchschnittlichen Bruttokaltmiete) zur Abgeltung der auf das Kind entfallenden Heizkosten belaufe sich demzufolge auf 15,03 € pro Monat. Auch hinsichtlich dieses Prozentsatzes sei die Berechnungsvorgabe des BVerfG bindend.
41Auf die vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Revision des Beklagten hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 C 35.17 –, juris, das Urteil des Senats vom 7. Juni 2017 aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
42Die Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 24. November 1998 sei auch für das Jahr 2009 maßgeblich. Auch in Anbetracht der zum 1. Januar 2005 eingetretenen Änderungen im Recht der sozialen Grundsicherung und der nachfolgenden weiteren gesetzlichen Änderungen seien keine substantiell so wesentlichen Änderungen der maßgeblichen Berechnungsgrundlagen für die Vollstreckungsanordnung eingetreten, dass diese bezogen auf das Jahr 2009 nicht mehr angewandt werden könnte. Auf Grundlage dieser Vollstreckungsanordnung seien die Gerichte befugt, den Dienstherrn zur Gewährung zusätzlicher Besoldungsbestandteile für Beamte mit mehr als zwei Kindern zu verurteilen.
43Der errechnete durchschnittliche Regelsatz sei allerdings nicht – mehr – um einen durchschnittlichen Zuschlag von 20 v.H. zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt zu ergänzen. Die bis zum 31. Dezember 2004 in § 21 Abs. 1a BSHG normierten einmaligen Leistungen zum Lebensunterhalt seien in die ab dem Jahr 2005 geltenden, deutlich angehobenen und nunmehr bundeseinheitlichen Regelbedarfssätze im Sozialgesetzbuch Zweites Buch und Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch eingearbeitet worden. Diese neuen Regelsätze konsumierten den bisherigen Zuschlag von 20 v.H., der ausschließlich der Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem früheren Bundessozialhilfegesetz gedient habe. Die Beibehaltung des Zuschlags könne auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass seit dem 1. Januar 2009 die privaten Kranken- und Pflegeversicherungskosten zum sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf zählten.
44Im Übrigen bestünden gegen die vom Senat bei seiner Berechnung für das Jahr 2009 angesetzten Beträge keine Bedenken.
45Bei der Ermittlung, ob die einem Beamten für sein drittes Kind gewährten Zuschläge den Abstand von 15 v.H. zum sozialrechtlichen Grundsicherungsniveau einhielten, seien von den Nettobezügen die Kosten einer dem Beihilfesatz angepassten Krankheitskostenversicherung für das dritte Kind abzuziehen. Diese zählten zu den Unterhaltspflichten des Beamten, die der Gesetzgeber bei der Leistung amtsangemessenen Unterhalts gemäß Art. 33 Abs. 5 GG realitätsgerecht zu berücksichtigen habe. Diese Kosten habe der Beamte im Gegensatz zu Empfängern von Leistungen der Grundsicherung selbst zu tragen. Dieser Abzug von den Nettobezügen sei mit der Vollstreckungsanordnung des BVerfG vom 24. November 1998 vereinbar.
46Ob sich das der Klage stattgebende Urteil des Senats aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweise, könne das Bundesverwaltungsgericht nicht entscheiden. Die Sache sei zurückzuverweisen, damit der Senat die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu den durchschnittlichen Kosten einer dem Beihilfesatz angepassten Krankenkostenversicherung für ein drittes Kind eines beihilfeberechtigten Beamten treffen könne.
47Im fortgeführten Berufungsverfahren hat der Kläger geltend gemacht: Der Senat habe seiner Entscheidung im ersten Berufungsverfahren eine unter den Beteiligten unstrittige Netto-Einkommensdifferenz von 390,28 € zugrunde gelegt. Mittlerweile habe das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 4. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 u.a. – Grundsätze für die Ermittlung der Netto-Einkommensdifferenz aufgestellt, die von denen in der Vollstreckungsanordnung abwichen. Hiernach seien die Kirchensteuer nicht mehr zu berücksichtigen und die Netto-Einkommensdifferenz um die Kosten der Krankenversicherung des dritten Kindes zu mindern. Für letztere habe der Verband der privaten Krankenversicherungen e.V. in Köln – PKV – für 2009 dem Senat im Streitfall einen Monatsbetrag von 30,79 € genannt. Unter Berücksichtigung dessen errechne sich eine Netto-Einkommensdifferenz von 355,28 €.
48Das Bundesverfassungsgericht habe in dem Beschluss ferner neue Grundsätze für die Ermittlung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs entwickelt. Diese Ansätze führten zu einem sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf in Höhe von 395,11 €, 115 v.H. hiervon beliefen sich auf 454,38 €. Wegen der Einzelheiten wird insofern auf den Schriftsatz vom 18. September 2020 – S. 4 f. – verwiesen. Unter Berücksichtigung dieser Änderungen in den Berechnungsansätzen errechne sich eine monatliche Unteralimentation in Höhe von 99,10 €, die sich zu einem Jahresbetrag von 1.189,20 € aufsummiere.
49Sofern im Streitfall der Entscheidung die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zugrunde zu legen sein sollte, errechne sich unter Zugrundelegung der vom Bundesverwaltungsgericht im zurückweisenden Urteil aufgestellten Maßgaben eine Unteralimentation in Höhe von monatlich 21,93 € und damit 263,16 € im Jahr.
50Der Abzug der Kostendämpfungspauschale von den Nettobezügen sei durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 u.a. – nicht gedeckt. Hiernach seien nur die Kosten der Krankenversicherung in Abzug zu bringen. Beihilfeleistungen habe das Bundesverfassungsgericht nicht unter den Begriff Kosten der Krankenversicherung subsumiert und nicht bei der Ermittlung der Höhe der Unteralimentation eingerechnet. Dem schließe er sich an. Die Kostendämpfungspauschale werde auch nur einbehalten, wenn Beihilfeleistungen erbracht würden. Die vom Beklagten vorgelegten Berechnungen der Jahresnettoalimentation für Beamte seiner Gehaltsgruppe im Jahr 2009 würden mit Ausnahme der Höhe der für Kinder zu berücksichtigenden Krankenversicherungskosten und der Berücksichtigung der Kostendämpfungspauschale unstreitig gestellt.
51Der Kläger beantragt,
52das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Februar 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2013 zu verurteilen, ihm für das Jahr 2009 einen Nettobetrag in Höhe von 263,16 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23. April 2013 zu zahlen.
53Der Beklagte beantragt,
54die Berufung zurückzuweisen.
55Er macht geltend: Das Bundesverwaltungsgericht habe im zurückverweisenden Urteil ausgesprochen, dass der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf im Jahr 2009 nach den im Urteil aufgestellten Maßgaben auf der Grundlage der Vollstreckungsanordnung zu ermitteln sei. Die vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 4. Mai 2020 zur Alimentation kinderreicher Familien in NRW entwickelten Anpassungen und Modifikationen der Berechnung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs seien danach im Streitfall nicht zu berücksichtigen. Hieraus ergebe sich ein monatlicher sozialhilferechtlicher Gesamtbedarf von 332,49 €, das 1,15-fache hiervon betrage 382,36 €.
56Weiter habe das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen, dass von dem der Mindestalimentation gegenüber zu stellenden Nettodifferenzbetrag die Krankenversicherungskosten für das dritte Kind abzuziehen seien. Dem stehe die Vollstreckungsanordnung nicht entgegen, weil deren Vorgaben sich lediglich auf die Bestimmung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs bezögen. Die Krankenversicherungskosten beträfen demgegenüber das verfügbare Nettoeinkommen. Da die Weitergeltung der Vollstreckungsanordnung sich demzufolge lediglich auf die Ermittlung des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs, nicht hingegen auf die Ermittlung des verfügbaren Nettoeinkommens beziehe, seien mit Bezug auf letzteres die Konkretisierungen und Modifizierungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinen Beschlüssen vom 4. Mai 2020 zur Amtsangemessenheit der Besoldung kinderreicher Richter in NRW in den Jahren 2013 bis 2015 einerseits (– 2 BvL 6/17 u.a. –) und zur (Richter-)Alimentation von 2-Kind-Familien in Berlin in den Jahren 2009 bis 2015 (– 2 BvL 4/18 –) andererseits aufgestellt habe, auch im Streitfall zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Modifikationen bei der Berechnung der Einkommensdifferenz errechne sich diese auf monatlich 382,89 € monatlich. Wegen der Einzelheiten der Berechnung wird auf den Schriftsatz des Beklagten vom 24. September 2020, S. 3 f. nebst Anlage verwiesen. Insbesondere sind hierin berücksichtigt ein Wegfall des Abzugs von Kirchensteuer, ein Abzug von Krankenversicherungskosten sowie ein Abzug der Kostendämpfungspauschale. Dieser Betrag liege um 0,53 € über dem 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs.
57Sofern man die Krankenversicherungskosten für Kinder in die Berechnung einstelle, die sich aus den vom Senat im Streitfall eingeholten Auskünften ergebe, bleibe die Nettoeinkommensdifferenz um 2,20 € hinter dem 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs zurück. Er halte jedoch an seiner ursprünglichen Berechnung fest.
58Der Senat hat beim PKV Auskünfte eingeholt über die Höhe der durchschnittlichen Kosten einer dem Beihilfesatz angepassten Krankenkostenversicherung für ein drittes Kind eines beihilfeberechtigten Beamten sowie die Kosten einer derartigen Versicherung im beihilfeadäquaten Basistarif im Jahr 2009. Wegen der Einzelheiten wird auf die Verfügung des Senats vom 8. Mai 2019 sowie die Schreiben des PKV vom 21. Januar 2020 sowie vom 10. September 2020 verwiesen.
59Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
60Entscheidungsgründe:
61Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.
62A. Aus den im Urteil des Senats vom 7. Juni 2017 genannten Gründen, die das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 C 35.17 – unbeanstandet gelassen hat, an denen der Senat festhält und auf die er verweist, liegt ungeachtet der unterschiedlichen Bezifferungen der für richtig gehaltenen zusätzlichen Alimentation durch den Kläger im Laufe des Verfahrens keine unzulässige Klageerweiterung oder teilweise Klagerücknahme vor.
63B. Dem Kläger steht hinsichtlich des Jahres 2009 kein Anspruch auf Zahlung weiterer Familienzuschläge zu.
64I. Als Rechtsgrundlage für die Gewährung über die gesetzlich geregelten Ansprüche hinausgehender (vgl. § 2 Abs. 1 BBesG) Besoldungsleistungen kommt allein die Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts nach § 35 BVerfGG im Beschluss vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, Entscheidungsformel zu 2., zweiter Teil, juris, (im Folgenden: Vollstreckungsanordnung) in Betracht.
65Danach haben Besoldungsempfänger für das dritte und jedes weitere unterhaltsberechtigte Kind Anspruch auf familienbezogene Gehaltsbestandteile in Höhe von 115 % des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes, der sich nach Maßgabe der Gründe zu C. III. 3. errechnet. Die Rechtsfolge ist in den Gründen zu C. III. 3. (a. a. O., juris, Rn. 57 ff.) in Form von Berechnungsvorgaben so präzisiert, dass der konkrete Nachzahlungsbetrag abhängig von den tatbestandsrelevanten Verhältnissen des Einzelfalls (im Wesentlichen der Besoldungsgruppe und der Zahl der Kinder) grundsätzlich ohne weiteres – mit Ausnahme gewisser Unschärfen bei den sonstigen Eingangsdaten – berechnet werden kann. Auf der Vollstreckungsanordnung beruht auch die weitere Befugnis der Verwaltungsge-richte, auf der Grundlage dieser Vorgaben zusätzliche Besoldungsanteile über das einfache Gesetz hinaus zu berechnen und in einem Leistungsurteil unmittelbar zuzusprechen.
66Die Vollstreckungsanordnung ist weiterhin anwendbar und nicht erledigt. Das ergibt sich für das vorliegende Verfahren bereits aus der Bindungswirkung, die dem zurückverweisenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2019 – 2 C 35.17 – gemäß § 144 Abs. 6 VwGO zukommt. Hiernach hat der Senat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen. Diese Bindungswirkung umfasst die für die aufhebende Entscheidung kausal ausschlaggebenden Gründe. Dies schließt die den unmittelbaren Zurückverweisungsgründen vorausgehenden Erwägungen jedenfalls insoweit ein, als diese die notwendige (logische) Voraussetzung für die unmittelbaren Aufhebungsgründe waren.
67BVerwG, Beschlüsse vom 14.07.2020 – 2 B 23.20 –, juris Rn. 8, und vom 29.04.2019 – 2 B 25.18 –, juris Rn. 9, 13 = Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 83, m. w. N.
68Die zurückverweisende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beruht unter anderem darauf, dass die Klage nicht von vornherein abzuweisen ist, ohne dass es weiterer tatsächlicher Feststellungen des Senats bedürfte. Dies wäre indes der Fall gewesen, wenn die Vollstreckungsanordnung für das Streitjahr 2009 nicht mehr anwendbar, sondern erledigt wäre. Demzufolge steht für den Streitfall mit Bindungswirkung für den Senat fest, dass dies nicht der Fall ist. Daher kann dahinstehen, ob sich möglicherweise aus der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Besoldung von kinderreichen Richtern und Staatsanwälten in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2013 bis 2015 im Beschluss vom 4. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris, Anhaltspunkte für eine abweichende Beurteilung ergeben. Derartiges käme aus Sicht des Senats etwa in Betracht hinsichtlich der Notwendigkeit, bei der Bemessung der amtsangemessenen Alimentation von Beamten mit drei (und mehr) Kindern in Anlehnung an den sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf möglicherweise auch einmalige Beihilfen, die Grundsicherungsempfängern zusätzlich zu den Regelsätzen gewährt werden, zu berücksichtigen.
69Vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. -, juris Rn. 55 ff., 78 f.
70II. Bei strikter Anwendung der in der Vollstreckungsanordnung festgelegten Berechnungsmethode ergibt sich, dass dem Kläger wegen seines Rechts auf verfassungsgemäße Alimentation im Hinblick auf den Bedarf seines dritten Kindes im Jahr 2009 kein Anspruch auf über die bereits ausgezahlte Besoldung hinausgehende Zahlungen zusteht.
711. Für die Ermittlung, ob die Besoldung eines Beamten mit mehr als zwei Kindern den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt, den zusätzlichen Bedarf, der ihm für sein drittes und weitere Kinder entsteht, zu decken, ohne ihm zuzumuten, für deren Unterhalt auf die familienneutrale Bestandteile seines Gehalts zurückzugreifen –
72vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 39, 55 –,
73ist nach den Berechnungsvorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 24. November 1998 (unter C. III. 3, juris, Rn. 57 f.) vom sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf für ein Kind auszugehen. Dieser ist um einen Betrag von 15 v.H. zu erhöhen, um den verfassungsgebotenen Unterschied zwischen der der Sozialhilfe obliegenden Befriedigung eines äußersten Mindestbedarfs und dem dem Beamten (und seiner Familie) geschuldeten Unterhalt hinreichend deutlich werden zu lassen.
74Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 57.
75Dieser durch die zusätzliche Alimentation für einen Beamten mit mehr als zwei Kindern zu deckende Betrag in Höhe des 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs für ein (drittes) Kind – vom Bundesverfassungsgericht als "15 v.H.-Betrag" bezeichnet –
76vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 59 –
77belief sich im Jahre 2009 auf (326,94 € x 1,15 =) 375,98 €.
782. Der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf für dritte und weitere Kinder betrug für das Jahr 2009 monatlich 326,94 €.
79Für seine Berechnung hat das Bundesverfassungsgericht im Einzelnen vorgegeben, dass sich dieser zunächst durch Bildung eines Durchschnittsregelsatzes nach § 22 des damaligen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) für das bisherige (alte) Bundesgebiet ergebe. Hinzuzurechnen sei ein durchschnittlicher Zuschlag von 20 % zur Abgeltung einmaliger Leistungen zum Lebensunterhalt, ferner die Kosten der Unterkunft ausgehend von einem Wohnbedarf von 11 qm pro Kind. Zugrunde zu legen sei insoweit die vom Statistischen Bundesamt in der so genannten 1 %-Gebäude- und Wohnungsstichprobe 1993 ermittelte Durchschnittsmiete in den alten Bundesländern von 9,53 DM je qm, die anhand des Mietenindexes des Statistischen Bundesamtes zurückgerechnet und fortgeschrieben worden sei. Schließlich seien die Energiekosten für ein Kind mit 20 % der Kaltmiete zu berücksichtigen.
80Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 58.
81Mit zunehmendem zeitlichen Abstand können immer mehr Parameter dieser 1998 entwickelten Berechnungsmethode aufgrund von Änderungen besoldungserheblicher Gesetze und veränderter Tatsachengrundlagen nicht mehr unmittelbar angewandt werden, sondern müssen im Lichte der Entscheidung fortentwickelt werden.
82Vgl. BVerwG, Urteil vom 27.05.2010 – 2 C 10.10 –, juris Rn. 17 m. w. N.
83Die einzelnen Summanden des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs (326,94 €) für das dritte und weitere Kinder im Jahr 2009 belaufen sich auf 236,78 € (Durchschnittsregelsatz, s. u. a]), 75,13 € (Kosten der Unterkunft, s. u. b]) und 15,03 € (Heizkostenzuschlag, s. u. c]); der in der Vollstreckungsanordnung noch vorgesehene 20-%-Zuschlag zum Regelsatz ist nicht in die Berechnung einzustellen, s. u. d). Auch die Kosten für die Deckung weiterer Bedarfe, insbesondere eines zusätzlichen Bedarfs für schulbezogene Aufwendungen, können in die Berechnung nicht eingestellt werden, s.u. e).
84a) Einer Fortentwicklung bedarf es insbesondere im Hinblick auf die zum 1. Januar 2005 erfolgte Neuregelung des Sozialhilferechts (früher BSHG) im SGB XII. Der Regelsatz ist nunmehr den dortigen Regelungen zu entnehmen.
85Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27.02.2008 – 1 A 30/07 –, juris Rn. 61 ff.
86Stattdessen auf das Erwerbsfähige betreffende – mithin grundsätzlich ebenfalls erwerbsfähigen Besoldungsempfängern eventuell näherstehende – gänzlich neugeschaffene Referenzsystem des SGB II abzustellen, überschritte den Rahmen einer bloßen Fortschreibung der Vollstreckungsanordnung und bliebe dem Bundesverfassungsgerichts vorbehalten. Dessen Befassung ist aber wegen des praktischen Gleichlaufs der Leistungshöhen in SGB II und XII nicht geboten. Im Streitfall verbietet sie sich zudem wegen der Bindungswirkung des zurückverweisenden Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2019 – 2 C 35.17 –.
87In Nordrhein-Westfalen war der Regelsatz für die Zeit ab dem 1. Juli 2008 bzw. 1. Juli 2009 in verschiedenen Bedarfsstufen in der Verordnung über die Regelsätze der Sozialhilfe vom 10. Juni 2008 (GV. NRW. 2008, S. 473) bzw. 9. Juni 2009 (GV. NRW. 2009, S. 335) geregelt: 211,00 € monatlich bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres bzw. 215,00 € monatlich bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres und 251,00 € monatlich vom Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres; 281,00 € bzw. 287,00 € monatlich vom Beginn des 15. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Dies entspricht der damaligen Regelsatzhöhe in den übrigen westlichen Bundesländern.
88Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.06.2016 – 4 S 1094/15 –, juris Rn. 105 f.
89Es ist ein Durchschnittswert über alle (zwei bzw. drei) Altersgruppen zu bilden, wobei eine Gewichtung nach der Zahl der von der jeweiligen Altersgruppe umfassten Lebensjahre zu erfolgen hat.
90Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.06.2016 – 4 S 1094/15 –, juris Rn. 103.
91Dies ergibt monatlich gerundet 226,56 € ([14 x 211 + 4 x 281] / 18) für die Monate Januar bis Juni 2009 und monatlich 247,00 € ([6 x 215 + 8 x 251 + 4 x 287] / 18) für die Monate Juli bis Dezember 2009, gemittelt mithin 236,78 €.
92b) Hinzuzurechnen ist ein Zuschlag für die Kosten der Unterkunft ausgehend von einem Wohnbedarf von 11 qm für das Kind. Anders als die Beteiligten meinen, sind insofern nicht 12 qm anzusetzen. Der Wert von 11 qm pro Kind ist in der Vollstreckungsanordnung bindend vorgegeben.
93Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 58; BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 19, 20.
94Eine Fortschreibung der Parameter der Vollstreckungsanordnung ist mithin lediglich in Bezug auf die Bruttokaltmiete pro qm erforderlich. Im Jahr 2009 betrug die durchschnittliche monatliche Bruttokaltmiete pro Quadratmeter in den alten Ländern 6,83 €.
95Vgl. Wohngeld- und Mietenbericht 2010, BT-Drs. 17/6280, S. 16; BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 19.
96Das Elffache dieses Werts beläuft sich auf 75,13 € pro Monat. Der Senat sieht – anders als der Kläger – keinen Anlass, spätere Erkenntnisse über die tatsächliche Bruttokaltmiete im streitgegenständlichen Jahr auszublenden, nur weil sie erst nach Ablauf dieses Jahres veröffentlicht wurden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat bei Ausspruch der Vollstreckungsanordnung auf nachträgliche Erkenntnisse aus den Jahren 1993 und 1997 abgestellt, obwohl es über die Besoldung für die Jahre ab 1988 zu entscheiden hatte.
97Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 1 und 58.
98c) Der Zuschlag von 20 % der anteiligen Durchschnittsmiete (durchschnittlichen Bruttokaltmiete) zur Abgeltung der auf das Kind entfallenden Heizkosten entspricht mithin 15,03 € pro Monat. Hinsichtlich des Prozentsatzes ist die Berechnungsvorgabe des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls bindend.
99Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 19, 20.
100d) Der nach der Vollstreckungsanordnung noch hinzuzurechnende Zuschlag in Höhe von 20 % des Regelsatzes ist im Streitjahr 2009 nicht mehr zu berücksichtigen. Das ergibt sich für den Streitfall mit bindender Wirkung aus dem zurückverweisenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2019 – 2 C 35.17 –. Der Frage, ob die Vollstreckungsanordnung nach Wegfall dieses Zuschlages ungeachtet der gesetzlich vorgesehenen einmaligen Leistungen, die Grundsicherungsempfängern zusätzlich zu den Regelsätzen gewährt werden, noch geeignet ist, die Leistung einer amtsangemessenen Alimentation zu gewährleisten, hat der Senat, wie ausgeführt, wegen der Bindungswirkung dieses Urteils nicht nachzugehen.
101e) Dem Senat ist es auch verwehrt, im Hinblick auf die Grundsicherungsleistungsempfängern seit dem Jahr 2009 zusätzlich gewährten Leistungen in Höhe von 100 € pro Schuljahr für Schulbedarf einen eigenständigen Berechnungsparameter in die Bedarfsberechnung einzubeziehen, wie dies die Verfahrensbeteiligten hinsichtlich eines Betrags von 5,55 € – übereinstimmend – für richtig halten. Den Verwaltungsgerichten ist es wegen der Gesetzesbindung der Besoldung (§ 2 Abs. 1 BBesG) grundsätzlich verwehrt, Beamten gesetzlich nicht vorgesehene Besoldungsleistungen zuzusprechen. Eine Ausnahme hiervon bilden, wie ausgeführt, Besoldungsleistungen auf Grundlage der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts. Diese Befugnis bindet das Bundesverfassungsgericht jedoch ausdrücklich an seine – oben dargestellte und zugrunde gelegte – Berechnungsmethode gemäß C. III. 3. der Gründe des Beschlusses vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –.
102Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, Nr. 2 des Entscheidungsausspruchs, juris.
103Zu einer Modifikation dieser Berechnungsmethode wären nur der Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht selbst befugt.
104Vgl. BVerwG, Urteil vom 17.06.2004 – 2 C 34.02 –, juris Rn. 30 = BVerwGE 121, 91.
105Eine solche ist, wie ausgeführt, nicht erfolgt. Insbesondere betreffen die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2020 entweder nicht das beklagte Land – 2 BvL 4/18 –, oder aber nicht das Streitjahr – 2 BvL 6/17 u.a. –. Auch den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im zurückverweisenden Urteil zu der im Hinblick auf die gebotene Durchschnittsbetrachtung zutreffenden Berechnung des monatlichen Durchschnittswerts der Grundsicherungsempfängern für ihre Schulkinder für jedes Schuljahr gewährten Leistung für die Schule i.H.v. 100 €, die "zu beachten" seien –,
106vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 16 –,
107vermag der Senat keine Rechtsgrundlage für die Gewährung von über die gesetzlichen Regelungen und die in der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts hinausgehenden Besoldungsleistungen zu entnehmen.
1083. Diesem 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs entsprechend den Berechnungsvorgaben in der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts ist gegenüberzustellen der "durchschnittliche Nettomehrbetrag …, den der Beamte für sein drittes und jedes weitere Kind erhält".
109vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, juris Rn. 59.
110a) Auch für die Berechnung dieses "Nettomehrbetrages" sind in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1998 – 2 BvL 16/91 u.a. – unter C. III. 2. der Gründe Hinweise enthalten. Auf diese erstreckt sich die Bindung der Verwaltungsgerichte an die Vorgaben der Vollstreckungsanordnung unter Nr. 2 des Entscheidungstenors indes nicht.
111Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 29.
112Demzufolge ist Raum dafür, die diesbezüglichen Modifikationen zu berücksichtigen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung, insbesondere den Beschlüssen vom 4. Mai 2020 zur (Staatsanwalts- und Richter-)Besoldung in Berlin in den Jahren 2009 bis 2015 –
113BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 4/18 –, juris –
114und zur Besoldung kinderreicher Staatsanwälte und Richter in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2013 bis 2015 –
115BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris –
116entwickelt hat.
117b) Unter Berücksichtigung dieser Modifikationen errechnet sich der "Nettomehrbetrag", der einem Beamten in der (damaligen) Besoldungsgruppe des Klägers mit drei Kindern im Vergleich zu einem ebensolchen mit zwei Kindern für den Unterhalt seines dritten Kindes zur Verfügung stand, bei der insoweit gebotenen pauschalisierenden und typisierenden Berechnung im Jahre 2009 auf einen Betrag von 379,66 €.
118Dieser Betrag ergibt sich aus der vom Beklagten auf Bitte des Senats mit Schriftsatz vom 29. September 2020 vorgelegten Alternativberechnung.
119aa) In dieser Berechnung hat der Beklagte abweichend von den Berechnungshinweisen des Bundesverfassungsgerichts unter C. III. 2. der Gründe des Beschlusses vom 24. November 1998 – 2 BvL 26/21 –, juris Rn. 56, keinen Abzug von Kirchensteuer vorgenommen. Dies trägt der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung, das zugrunde legt, der Gesetzgeber gehe seit dem Jahr 2005 nicht mehr davon aus, dass eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern einer Kirchensteuer erhebenden Kirche angehöre.
120Vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris Rn 70.
121bb) In der Berechnung hat der Beklagte die Nettoeinkünfte der verglichenen Beamten jeweils um die (Mindest-)Kosten einer beihilfekonformen privaten Kranken- (und Pflege-)versicherung für diese und ihre Familie (die er im Jahre 2009 auch steuerlich berücksichtigt hatte), reduziert. Auch dieses Vorgehen entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
122Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 28 m. w. N.
123Soweit es um das Erfordernis eines Abzugs der Krankenversicherungskosten für ein drittes Kind eines Beamten bei der Ermittlung des ihm verbleibenden "Nettomehrbetrages" geht, steht dieses im Streitfall zudem aufgrund der Bindungswirkung des zurückverweisenden Urteils des Bundesverwaltungsgerichts fest. Die Zurückverweisung erfolgte, weil der Senat Feststellungen über diese Kosten bislang nicht getroffen hatte, und zu dem Zweck, diese Kosten nunmehr konkret zu ermitteln.
124cc) Die vom Beklagten vorgelegte Alternativberechnung hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der vorgenannten Maßgaben unstreitig gestellt. Auch der Senat hat keinen Anlass, hieran insoweit zu zweifeln. Zwischen den Beteiligten umstritten sind lediglich die Fragen, mit welchem Betrag die für die zwei bzw. drei Kinder des Beamten zu berücksichtigenden Krankenversicherungskosten einzustellen sind und ob in die Berechnung des "Nettomehrbetrags" auch die in unterschiedlicher Höhe von Beihilfeleistungen des Dienstherrn an Beamte der (ehemaligen) Besoldungsgruppe des Klägers mit zwei (180 €) und drei Kindern (120 €) jährlich in Abzug gebrachte Kostendämpfungspauschale einzustellen ist.
125dd) Bei die Berechnung für das Jahr 2009 zu berücksichtigen sind – wie in der vom Beklagten vorgelegten Alternativberechnung geschehen – durchschnittliche Kosten für eine mit den Beihilferegelungen in Nordrhein-Westfalen konforme Krankenversicherung eines Kindes und Minderjährigen in Höhe von monatlich 30,79 €. Das ergibt sich aus den vom Senat eingeholten Auskünften des PKV vom 21. Januar 2020 und 10. September 2020. Hierbei handelt es sich nach dessen Angaben um einen aus den dort vorliegenden Angaben extrapolierten Durchschnittswert der in der "Versicherungswirklichkeit" wirklich versicherten Kinder. Dieser sei für die Kinder (geschlechtsübergreifend) von der Geburt bis zum 25 Lebensjahr gleich.
126Die Kosten einer Versicherung nach dem beihilfekonformen Basistarif, den private Krankenversicherungen seit dem 1. Januar 2009 anzubieten verpflichtet sind, beliefen sich unter Zugrundelegung der Angaben des PKV, nach denen die einzelnen Versicherungsunternehmen auf Grundlage einer branchenweiten Kalkulation, die zu einem Betrag von monatlich 56,48 € geführt habe, und unter Berücksichtigung ihrer unternehmensindividuellen Kostensätze Beiträge mit einer Streuung von bis zu 3 € erhoben hätten, – u.a. – im Streitjahr auf monatlich zwischen 53,48 € und 59,48 €. Da sie deutlich über den Kosten einer privaten Versicherung liegen, können sie im vorliegenden Zusammenhang außer Acht bleiben.
127Der Senat sieht sich durch die konkreten Maßgaben, die das Bundesverwaltungsgericht in dem zurückverweisenden Urteil hinsichtlich der Ermittlungsweise der von den Nettobezügen abzuziehenden Krankenversicherungskosten gemacht hat, nicht gehindert, die vom PKV genannten durchschnittlichen Krankenversicherungskosten zugrunde zu legen, ohne etwa weitere Ermittlungen nach den "günstigsten am Markt erreichbaren Möglichkeiten zur privaten Krankenversicherung eines Kindes" anzustellen. Das Bundesverwaltungsgericht selbst weist darauf hin, dass nach der Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts "bei der Berechnung der Durchschnitt maßgeblich ist",–
128vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 30, mit Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. – BVerfGE 99, 300, 323; vgl. jetzt auch BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris Rn. 66.
129Diesem Ansatz und der Verpflichtung, bei der Bemessung der Alimentation die dem Beamten entstehenden Unterhaltspflichten realitätsgerecht zu berücksichtigen –
130vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 26, mit Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 24.11.1998 – 2 BvL 26/91 u.a. –, BVerfGE 99, 300, 314 f., sowie Urteil vom 06.03.2007 – 2 BvR 556/04 –, BVerfGE 117, 330, 351 –
131widerspräche es, einer Berechnung der Mindestalimentation (zwingend) die Annahme zugrunde zu legen, ein Beamter werde für die Krankenversicherung seines neugeborenen Kindes Ausschau nach der günstigsten am Markt befindlichen Versicherungsmöglichkeit halten – anstatt das Kind dort gegen Krankheit zu versichern, wo er selbst und ggf. seine Ehefrau und die beiden älteren Kinder krankenversichert sind. Dem trägt die Berücksichtigung des vom PKV genannten Durchschnittswertes der Kosten der in der "Versicherungswirklichkeit" wirklich versicherten Kinder Rechnung. Eine Bindung des Senats gemäß § 144 Abs. 6 VwGO an die hinsichtlich der weiteren Sachaufklärung vom Bundesverwaltungsgericht erteilten, die Entscheidung nicht tragenden Empfehlungen und Hinweise für die weitere Behandlung der Rechtssache nach Zurückverweisung (sog. "Segelhinweise") besteht nicht.
132Vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2016 – 6 C 5.15 –, juris Rn. 16 = BVerwGE 155, 58, und vom 25.05.1984 – 8 C 108.82 –, juris Rn. 27 = NJW 1985, 393 m. w. Hinw.; Beschluss vom 29.04.2019 – 2 B 25.18 –, juris Rn. 12 = Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 83; OVG NRW, Beschluss vom 15.05.2000 – 21 A 3523/99.A –, juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.09.1997 – A 16 S 2354/97 –, juris Rn. 5.
133Da die Versicherungskosten nach den Angaben des PKV in den Altersstufen bis 25 Jahren gleich sind, kann auf sich beruhen, ob in eine ansonsten gebotene Durchschnittsbildung die Jahrgänge bis zum 25. Lebensjahr einzustellen sind –
134so BVerwG, Urteil vom 31.01.2019 – 2 C 35.17 –, juris Rn. 30 –
135oder lediglich bis zum 18. Lebensjahr –
136vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris Rn. 44.
137Der Senat sieht keine Veranlassung, statt der ihm auf seine Auskunft hin vom PKV – wiederholt – genannten durchschnittlichen Kosten einer beihilfekonformen Krankenversicherung des Kindes eines nordrhein-westfälischen Beamten in Höhe von 30,79 € den Wert von 26 € zugrunde zu legen, der sich aus einer Tabelle über "Kosten für private Krankenversicherung ohne Wahlleistungen (also BEG-berücksichtigungsfähiger Anteil)" mit dem Stand 12.12.2018 ergibt, die der PKV mit Schreiben vom 18. Januar 2019 dem Bundesverfassungsgericht zum Verfahren 2 BvL 4/18 übersandt hat, wie dies der Beklagte für "sachgerecht" hält. Diese Zahlenangaben stammen von derselben Auskunftsquelle wie die im Streitfall eingeholten. Sie betreffen ein anderes Bundesland (Berlin). Im Übrigen sind sie einer Auskunft entnommen, die älter ist als die dem Senat vorliegende. Schließlich beruhen sie nach dem Anschreiben des PKV vom 18. Januar 2019 an das Bundesverfassungsgericht auf einem von diesem übersandten Schreiben und telefonischen Besprechungen, über die nichts bekannt ist. Der Senat vermag keine überzeugenden Gründe zu erkennen, warum diese Angaben den Vorrang gegenüber den Zahlen verdienten, die er selbst eingeholt hat. Hieran ändert es nichts, dass das Bundesverfassungsgericht selbst in einem zwar das Land Nordrhein-Westfalen, jedoch abweichende Jahre, betreffenden Verfahren auf die ihm für das Land Berlin vorliegenden Zahlenwerte zurückgegriffen hat.
138Abgesehen hiervon wäre der Berufung auch bei Zugrundelegung der dem Bundesverfassungsgericht in dem das Land Berlin betreffenden Verfahren genannten Krankenversicherungskosten eines Kindes bzw. Minderjährigen im Jahr 2009 kein Erfolg beschieden. In diesem Fall erhöhte sich der "Nettomehrbetrag" nach den vom Beklagten vorgelegten Berechnungen (Fassungen vom 23. und 28. September 2020) noch von 379,66 € auf 382,89 €.
139ee) Zutreffend hat der Beklagte in seine Berechnungen des "Nettomehrbetrages" auch die Kostendämpfungspauschale gemäß § 12a Beihilfeverordnung NRW (BVO NRW) eingestellt. Die hiergegen gerichtete Kritik des Klägers greift nicht durch. Wie bereits ausgeführt, hat der Beklagte dem Kläger eine Alimentation zu gewähren, die es ihm ermöglicht, den anzuerkennenden Unterhalt für sein drittes Kind – in Höhe das 1,15-fachen des hierfür gesetzlich vorgesehenen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs – ohne Zugriff auf nicht familienbezogene Bezügebestandteile zu decken. Für die Alimentation ist anerkannt, dass Einschnitte im Bereich der Beihilfe für Beamte im Krankheitsfall in Form des Abzugs eines jährlichen Selbstbehalts wie der nordrhein-westfälischen Kostendämpfungspauschale als Minderung einer anderweitigen Alimentationsleistung in die Beurteilung der Amtsangemessenheit einzubeziehen sind.
140Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.11.2015 – 2 BvL 19/09 u.a. –, juris Rn. 133, 153; BVerwG, Beschluss vom 22.09.2017 – 2 C 56.16 u.a. –, juris Rn. 102, 105
141Hiervon ausgehend ist es zwingend, die Auswirkung der in § 12a Abs. 1 und Abs. 5 BVO NRW getroffenen Regelung, dass grundsätzlich eine Kostendämpfungspauschale in Höhe von 300 € in Ansatz zu bringen ist, diese sich jedoch um 60 € für jedes zu berücksichtigende Kind vermindert, so dass ein Beamter mit drei Kindern im Vergleich mit einem Beamten mit zwei Kindern den letztgenannten Betrag mehr zur Verfügung hat, in die Berechnung des "Nettomehrbetrages", der gerade dieser Vergleich zugrunde liegt, einzubeziehen.
142Vgl. BVerwG, Urteil vom 28.04.2011 – 2 C 51.08 –, juris Rn. 12, das ausdrücklich darauf hinweist, die Verringerung der Kostendämpfungspauschale je Kind stelle für Beamte eine Entlastung dar.
143Insofern ist es nicht von ausschlaggebender Bedeutung, dass eine Kostendämpfungspauschale nur anfällt, wenn der Beamte Beihilfeleistungen tatsächlich in Anspruch nimmt. Bei der im vorliegenden Zusammenhang gebotenen realitätsgerechten Betrachtung ist davon auszugehen, dass ein Vier-Personen-Haushalt mit zwei ebenso wie ein Fünf-Personen-Haushalt mit drei Kindern typischerweise in jedem Kalenderjahr ärztliche Behandlungen in einem solchen Umfang in Anspruch nehmen, dass die zu gewährende Beihilfe 180 € bzw. 120 € (§ 12a Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 BVO NRW) übersteigt. Der Einbeziehung der Kostendämpfungspauschale steht ferner nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht diese in dem Beschluss vom 4. Mai 2020 unterlassen hat. Es ist einer Berücksichtigung nicht entgegengetreten, sondern konnte die Frage offen lassen, weil es für die Entscheidung hierauf nicht ankam.
144Vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 6/17 u.a. –, juris Rn. 84; ebenso im Beschluss vom 04.05.2020 – 2 BvL 4/18 –, juris Rn. 148.
1454. Der demzufolge einem Beamten der (damaligen) Besoldungsgruppe des Klägers bei pauschalisierender und typisierender Betrachtung für den Unterhalt seines dritten Kindes im Jahr 2009 zur Verfügung stehende "Nettomehrbetrag" in Höhe von 379,66 € reichte aus, um den Bedarf für sein drittes Kind in Höhe des 1,15-fachen des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs, der sich nach obenstehenden Ausführungen auf 375,98 € belief, zu decken.
146C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 ZPO.
147Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 8. Kammer - vom 21. Juni 2018 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Kläger wenden sich gegen die Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag für die Herstellung der Straße „Am Helleberg“ in Höhe von 2.949,48 €.
2
Die Kläger sind als Erbengemeinschaft Eigentümer des mit einer Feldscheune bebauten Grundstücks Gemarkung Goslar, Flur J., Flurstücke K. und L. (postalische Anschrift: M., N., A-Stadt), das im Westen an die streitgegenständliche Straße grenzt. Der Erblasser und ursprüngliche Kläger – der Ehemann und Vater der jetzt den Rechtsstreit fortführenden Erben – hatte das Grundstück von der Beklagten zunächst gepachtet, im Jahr 1997 erworben.
3
Die Straße „Am Helleberg“ entspricht ihrer Lage nach historisch im Wesentlichen dem südlichen Abschnitt eines jahrhundertealten Weges, der außerhalb des bebauten Bereiches durch die Goslarer Feldmark zwischen Goslar und dem Dorf Dörten verlief. Der südlich der Bornhardtstraße gelegene Teil der Straße ist mit Beschluss des Rates der Beklagten vom 15. Juni 1993 von „Dörntener Straße“ in „Am Helleberg“ umbenannt worden. Im Süden zweigt die Straße „Am Helleberg“ von der Hildesheimer Straße ab, verläuft dann nach Osten und verschwenkt am südlichen Ende des klägerischen Grundstücks nach Norden, um dort in die Bornhardtstraße einzumünden.
4
Mit dem am 27. Oktober 1969 in Kraft getretenen Bebauungsplan „Bassgeige“ setzte die Beklagte auf einer Teillänge von ca. 90 Metern für den südlich der Bornhardstraße verlaufenden Teil der Dörntener Straße (heute: nördlicher Teil der Straße „Am Helleberg“) eine Straßenverkehrsfläche fest sowie für die anliegenden Grundstücke Gewerbegebiete. Der am 16. Januar 1976 bekannt gemachte Bebauungsplan „Spitzer Kamp“ änderte die Festsetzungen im Bebauungsplan „Bassgeige“ für die nordöstlich zwischen der Straße „Am Helleberg“ und Hildesheimer Straße gelegenen Grundstücke. Die Verkehrsfläche wurde nicht überplant.
5
Die Beklagte ließ in den Jahren 1979 und 1980 die Fahrbahn im nördlichen Teil der heutigen Straße „Am Helleberg“ auf einer Strecke von 160 Metern im Wege eines „Erstausbaus“ herstellen, so dass diese ca. 70 Meter über die Grenze des Bebauungsplans „Bassgeige“ hinaus ausgebaut wurde.
6
Den Protokollen der Planungsbesprechungen vom 12. Mai 1989 und vom 6. Oktober 1989 sowie der Beschlussvorlage Nr. 321/19 vom 23. November 1989 zur (ersten) Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 98 („Baßgeige Süd“) lässt sich entnehmen, dass die Beklagte den „Endausbau“ des nördlichen Teils der Straße u. a. durch die Anlegung eines Gehweges auf der östlichen Straßenseite beabsichtigte sowie einen Weiterbau des südlichen Teils der Straße.
7
Am 19. Dezember 1989 beschloss der Rat der Beklagten die Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 98 („Baßgeige Süd“), wobei das Plangebiet zunächst die Verlängerung der Dörntener Straße südlich der Bornhardtstraße (heute: „Am Helleberg“) um weitere ca. 80 Meter vorsah, d. h. ca. 10 Meter über den in den Jahren 1979 und 1980 erfolgten „Erstausbau“ der Straße.
8
Laut eines behördeninternen Vermerks vom 15. Februar 1990 beabsichtigte die Beklagte zunächst, den Bebauungsplan Anfang 1991 in Kraft zu setzen. Aus zwei weiteren Vermerken aus April bzw. Mai 1990 geht hervor, dass die Erweiterung von Gewerbegebietsflächen „nicht mehr verfolgt werde“ bzw. die Planung aufgrund vordringlicher Projekte zurückgestellt worden sei.
9
Mit Zuwendungsbescheid der Bezirksregierung Braunschweig vom 4. April 1990 erhielt die Beklagte Fördermittel in Höhe von 62.000 DM aus dem Programm „Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur““. Diese standen u. a. unter der auflösenden Bedingung, dass die Investitionskosten in Höhe des Zuschusses nicht auf die begünstigten Anlieger umgelegt werden durften.
10
Im Jahr 1991 erfolgte der „Endausbau“ des 160 Meter langen nördlichen Teils der heutigen Straße „Am Helleberg“. Dieser umfasste die Erd- und Straßenbauarbeiten, die Herstellung der Straßenentwässerung und der Straßenbeleuchtung sowie Pflanzarbeiten.
11
Am 23. September 1992 vermerkte die Beklagte, dass in Bezug auf eine Abrechnung der Erschließungsanlage zwei Möglichkeiten beständen: Entweder könnten – nach Widmung – für das hergestellte Teilstück südlich der Bornhardtstraße (heute: nördlicher Teil der Straße „Am Helleberg“) Erschließungsbeiträge erhoben werden oder die Widmung und Erhebung von Erschließungsbeiträgen geschehe erst nach „Erweiterung/Änderung des derzeit gültigen Bebauungsplanes“.
12
Am 24. November 1992 fasste der Rat erneut einen Aufstellungsbeschluss für die Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 98 („Baßgeige Süd“). Das Plangebiet umfasste dabei die gesamte heutige Straße „Am Helleberg“ und bezog im Norden die zwischen der Straße „Am Helleberg“ und der Straße Wachtelpforte sowie im Süden die östlich und westlich der Straße „Am Helleberg“ gelegenen Grundstückflächen ein. Im August 1993 führte die Beklagte eine frühzeitige Bürgerbeteiligung durch.
13
In dem Zeitraum vom 6. Mai 1996 bis zum 2. August 1996 ließ die Beklagte den südlichen Teil der Straße „Am Helleberg“ ausbauen. Am 3. September 1996 nahm die Beklagte die Baumaßnahmen an der Straße ab. Die letzte in den übersandten Verwaltungsvorgängen enthaltene Unternehmerrechnung der Firma O. datiert nach dem Eingangsstempel vom 10. März 1997. Der Erwerb der letzten Straßenverkehrsfläche für die Straße vollzog sich am 6. Januar 1998.
14
Am 17. April 1997 teilte die Beklagte dem Rechtsvorgänger der Kläger mit, dass die Straße „Am Helleberg“ mittlerweile „endausgebaut“ sei, sie aus diesem Grunde bereit sei, ihm das im heutigen Eigentum der Kläger stehende Grundstück für 33.920 DM zu veräußern. Am 11. Juni 1997 schlossen die Beklagte und der Rechtsvorgänger der Kläger den Kaufvertrag über den Erwerb des Grundstücks. Dieser enthält keine Regelung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen oder deren Ablösung.
15
Am 3. September 2013 beschloss die Beklagte erneut die Aufstellung des Bebauungsplanes Nr. 98 „Bassgeige Süd“. Ausweislich der Beschlussvorlage 2013/258 vom 14. August 2013 war u. a. Ziel der Planung, den südlichen Außenbereichs- und landwirtschaftlich genutzten Flächen eine langfristige Nutzungsperspektive zu geben.
16
Am 6. Dezember 2013 erließ die Beklagte gegenüber dem Rechtsvorgänger der Kläger einen Bescheid über Vorausleistungen in Höhe von 3.604 €. Auf die von diesem am 27. Dezember 2013 hiergegen erhobene Klage vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig (– 8 A 705/13 –) erwiderte die Beklagte zunächst mit Schriftsatz vom 18. März 2014, die Straße „Am Helleberg“ sei weder gewidmet worden noch existiere ein Bebauungsplan bzw. eine Abwägungsentscheidung für die Straße insgesamt. Mit Schriftsatz vom 11. November 2015 erklärte sie, sie werde ihren Bescheid in Kürze aufheben. Zur Begründung führte sie an, dass der Zweck der Vorausleistung, die Vorfinanzierung des Ausbaus, nicht habe erreicht werden können, da sich die Straße bereits in Benutzung befunden habe. Nachdem ein rechtsverbindlicher Bebauungsplan zwischenzeitlich in Kraft getreten sei, solle die Straße zudem in Kürze gewidmet werden. Daraufhin erklärten die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt.
17
Eine bereits am 4. September 2014 erhobene Klage (– 8 A 258/14 –) des Rechtsvorgängers der Kläger gegen den Aufhebungsbescheid der Beklagten für erhobene Straßenreinigungsgebühren für die Jahre 2003 bis 2014 vom 7. August 2014 nahm dieser zurück, nachdem die Beklagte erklärt hatte, dass auf einen Hinweis der Anwohner der Straße „Am Helleberg“ eine Überprüfung stattgefunden habe, die ergeben habe, dass die Reinigungsgebühren in der Vergangenheit wegen der fehlenden Widmung der Straße „Am Helleberg“ zu Unrecht erhoben worden seien.
18
Am 25. November 2014 beschloss der Rat der Beklagten die Widmung der Straße „Am Helleberg“. Am 11. November 2015 machte die Beklagte die Widmung auf ihrer Internetseite bekannt und wies auf die Bekanntmachung am 14. November 2015 in der Goslarschen Zeitung hin. Zuvor hatte der Rat am 5. August 2015 den Bebauungsplan Nr. 98 „Bassgeige Süd“ beschlossen, der am 6. August 2015 in Kraft trat.
19
Mit Bescheid vom 29. Januar 2016 setzte die Beklagte gegenüber dem Rechtsvorgänger der Kläger für dessen 848 m² großes Grundstück (Flurstücke K. und L.) einen Erschließungsbeitrag in Höhe von 2.949,48 € fest. Dabei ging sie von einem beitragsfähigen Erschließungsaufwand in Höhe von 570.257,37 DM (291.567,96 €) aus. Ausweislich der Aufstellung der Beklagten „Berechnung des umlagefähigen Herstellungsaufwandes Straße „Am Helleberg““ beliefen sich die Kosten für den Erstausbau des nördlichen Teils der Straße auf 36.206,04 DM, die Kosten für den Endausbau des nördlichen Teils auf 156.392,41 DM (116.778,45 DM Straßenendausbau, 6.772,38 DM Straßenbeleuchtung, 5.553,10 DM Begrünung, 4.903,48 DM Straßenentwässerung, 22.385 DM Grunderwerbskosten), insgesamt also auf 192.598,45 DM (entspricht: 98.474,02 €). Für den Ausbau des südlichen Teils der Straße „Am Helleberg“ ermittelte die Beklagte Kosten in Höhe von 377.449,45 DM (192.986,84 €), wobei sie als Kosten für den Straßenausbau im „zweiten Teilabschnitt“ 306.698,70 DM, für die Straßenbeleuchtung 21.151,43 DM, für die Straßenentwässerung 48.008,62 DM und Grunderwerbskosten in Höhe von 1.590,70 DM berücksichtigte. Schließlich stellte sie in den beitragsfähigen Aufwand Kosten für die Bekanntmachung der Widmung der Straße in der Goslarschen Zeitung in Höhe von 107,10 € ein. Als umlagefähigen Erschließungsaufwand legte die Beklagte nach Abzug des Gemeindeanteils in Höhe von 10 Prozent einen Betrag in Höhe von 262.411,16 € zugrunde, den sie zugunsten der Grundstückseigentümer um den für den ersten Bauabschnitt gewährten Zuschuss aus dem Programm „Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur““ in Höhe von 62.000 DM (entspricht 31.700,10 €) verringerte, was einen umlagefähigen Aufwand von 230.711,06 € ergab. Unter Zugrundelegung einer Verteilungsfläche von 149.245,50 m2 ermittelte sie einen Beitragssatz in Höhe von 1,54585 €/m2. Für das klägerische Grundstück legte die Beklagte eine Beitragsfläche von 1.908 m2 zugrunde, wobei sie die Grundstücksfläche von 848 m2 wegen der zulässigen Bebaubarkeit mit zwei Vollgeschossen um 50 % erhöhte und die sich daraus ergebende Fläche von 1.272 m² wegen einer zulässigen gewerblichen Nutzung mit einem Faktor von 1,5 multiplizierte.
20
Der Rechtsvorgänger der Kläger hat am 25. Februar 2016 Anfechtungsklage erhoben. Nachdem er am 24. Mai 2016 verstorben ist, haben die Kläger am 24. April 2017 den Rechtsstreit aufgenommen.
21
Zur Begründung ihrer Klage haben sie ausgeführt: Der Festsetzung des Erschließungsbeitrages stehe die Einrede der Verjährung entgegen. Die Straße sei bereits im Jahre 1996 endgültig hergestellt worden. Die Ansicht der Beklagten, der Anspruch sei noch nicht verjährt, lasse sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts nicht vereinbaren. Im Hinblick auf diese Rechtsprechung sei eine Verjährung im vorliegenden Fall nicht nur grundsätzlich möglich, sondern auch konkret eingetreten. Beide Gerichte würden davon ausgehen, dass eine Erhebung nach derart langen Zeitläufen wie im hiesigen Fall nicht mehr möglich sei. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei gemäß dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2014 (– 4 C 11.13 –) auf den hiesigen Sachverhalt anzuwenden. Danach gelte das rechtsstaatliche Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit für alle Fallkonstellationen, in denen eine abzugeltende Vorteilslage eintrete, die daran anknüpfenden Abgaben aber wegen des Fehlens sonstiger Voraussetzungen nicht entständen und deshalb auch nicht verjähren könnten. Außerdem sei die Erhebung von Erschließungsbeiträgen verwirkt.
22
Die Kläger haben beantragt,
23
den Bescheid vom 29. Januar 2016 aufzuheben.
24
Die Beklagte hat beantragt,
25
die Klage abzuweisen.
26
Sie hat vorgetragen, die Straße „Am Helleberg“ sei im Zeitraum 1979 bis 1996 in Etappen gebaut worden: Der nördliche „Abschnitt“ in zwei Etappen während zehn Jahren, der südliche „Abschnitt“ fünf Jahre später. Vor dem Ausbau habe es sich bei der heutigen Straße „Am Helleberg“ um eine Außenbereichsstraße gehandelt und um keine vorhandene Erschließungsanlage i. S. d. § 242 Abs. 1 BauGB. Vom nördlichen Teil hätten nur ca. 100 von 160 Meter im Bebauungsplangebiet Nr. 55.2 („Bassgeige“) gelegen, der übrige Teil sei zwar 1996 technisch hergestellt worden, der Bebauungsplan Nr. 98 („Bassgeige Süd“) sei aber erst im Jahr 2015 in Kraft getreten. Die abschließende Widmung sei erst im letzten Quartal des Jahres 2015 erfolgt, sodass der erhobene Erschließungsbeitrag nicht verjährt sei. Bei den von den Klägern angeführten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts handele es sich nur um allgemeine grundsätzliche Erwägungen zu der Frage der Verjährung öffentlicher Forderungen. Es komme jedoch immer auf die Besonderheiten des zu beurteilenden Einzelfalles an. Hier würden gegenüber dem vom Bundesverfassungsgericht zu beurteilenden Fall erhebliche Unterschiede vorliegen. Insbesondere liege kein verjährungsrechtliches Problem vor, da es ohne Widmung noch keine eine Verjährung auslösende Handlung gegeben habe. In einem vergleichbaren Fall habe das Verwaltungsgericht Düsseldorf entschieden, dass sogar nach 70 Jahren andauernder Erschließung noch ein Erschließungsbeitrag zu zahlen sei.
27
Mit Urteil vom 21. Juni 2018 hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben und den Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2016 aufgehoben, ohne auf den zum 1. April 2017 in Kraft getretenen § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG einzugehen.
28
Zur Begründung hat es ausgeführt: Zwar sei im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheid-erlasses noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten. Die sachliche Beitragspflicht sei erst mit der Widmung der Einrichtung am 11. November 2015 entstanden, da erst damit die Anforderungen aus § 125 Abs. 3 Nr. 2 BauGB erfüllt gewesen seien. Die vierjährige Festsetzungsfrist sei daher zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 29. Januar 2016 noch nicht abgelaufen gewesen. Die Erhebung von Erschließungsbeiträgen sei auch nicht verwirkt gewesen. Allerdings verstoße die Erhebung von Erschließungsbeiträgen gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Die Erhebung stelle sich als unzulässige Rechtsausübung dar. Der Erschließungsbeitrag sei aufgrund des dem Grundstückseigentümer durch die Erschließung vermittelten Sondervorteils gerechtfertigt. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz in ihrer Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit schützten den Eigentümer jedoch davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden könnten. Einzelne dürften gegenüber dem Staat die Erwartung hegen, sich nicht mehr einer Geldforderung ausgesetzt zu sehen, wenn der berechtigte Hoheitsträger über einen längeren Zeitraum seine Befugnis nicht wahrgenommen habe. Dies gelte auch dann, wenn abzugeltende Vorteilslagen allein wegen des Fehlens anderweitiger Voraussetzungen nicht entstehen und daher in der Folge aufgrund der anzuwendenden Verjährungsvorschriften auch nicht verjähren könnten. Vorliegend sei die Vorteilslage bereits mit der Verkehrsfreigabe am 7. September 1996 entstanden.
29
Das Verwaltungsgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen.
30
Die Beklagte hat am 17. Juli 2018 Berufung eingelegt und diese – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 28. September 2018 – am 27. September 2018 begründet.
31
Sie trägt vor: Das Verwaltungsgericht habe zwar zutreffend angenommen, dass keine Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Dabei habe es sich aber nicht mit dem 2017 in Kraft getretenen § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG auseinandergesetzt. Außer in den Fällen des § 169 Abs. 1 Satz 1 AO sei danach eine Beitragsfestsetzung auch dann nicht mehr zulässig, wenn das Entstehen der Vorteilslage mindestens 20 Jahre zurückliege. Damit habe der Landesgesetzgeber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur zeitlich begrenzten Heranziehung zu Beiträgen Rechnung getragen. § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG sei vorliegend anwendbar. Zwar sei in Anfechtungsprozessen hinsichtlich des materiellen Rechts auf die Sach- und Rechtslage der letzten Behördenentscheidung abzustellen. Bei § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG handele es sich aber um eine Vorschrift des Verfahrensrechts, die – auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Anwendung finde. Danach sei eine Festsetzungsverjährung auch dann nicht eingetreten, wenn man mit dem Verwaltungsgericht die Verkehrsübergabe im September 1996 als maßgeblichen Zeitpunkt des Entstehens der Vorteilslage ansehe. Es sei aber auch zweifelhaft, ob auf den Zeitpunkt der Verkehrsübergabe abzustellen sei. Es komme nicht nur auf die tatsächliche Inanspruchnahmemöglichkeit, sondern auch darauf an, dass diese Inanspruchnahmemöglichkeit rechtlich gesichert sei. Für den Grundsatz von Treu und Glauben sei aufgrund des in Kraft getretenen § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG kein Raum. Die Widmung der Straße im November 2015 stelle sich auch nicht als treuwidrig dar. Ein Anspruch auf Widmung existiere nicht. Die Erhebung von Straßenreinigungsgebühren führe nicht zur Treuwidrigkeit der Widmung, so dass auch keine kausale Pflichtverletzung zwischen der Widmung und der Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen bestehe. Zudem könne sich die unterbliebene Widmung auch deshalb nicht als treuwidrig darstellen, weil den Gemeinden ein großer Handlungsspielraum zukomme. So stehe es ihnen etwa frei, die Widmung zurückzustellen, um gegebenenfalls ihr Ausbauprogramm noch einmal zu überdenken. Schließlich fehle es für die Annahme einer Treuwidrigkeit an dem erforderlichen Vertrauenstatbestand. Dieser sei auch nicht durch die Heranziehung zu Straßenreinigungsgebühren begründet worden. Diese begründe nicht ein geschütztes Vertrauen darauf, dass die Straße gewidmet worden sei.
32
Die Beklagte beantragt,
33
das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 21. Juni 2018 abzuändern und die Klage abzuweisen.
34
Die Kläger beantragen,
35
die Berufung zurückzuweisen.
36
Sie machen geltend, § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG sei erst nach Erlass des angegriffenen Bescheides in Kraft getreten und könne deswegen vorliegend keine Anwendung finden. Bei Anfechtungsklagen komme es allein auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des angegriffenen Bescheides an. Zu diesem Zeitpunkt habe eine Höchstgrenze zur Heranziehung von Erschließungsbeiträgen gefehlt, so dass § 11 Abs. 3 NKAG verfassungswidrig gewesen sei. Bei § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG handele es sich um eine Vorschrift des materiellen Rechts, so dass sie im Falle der hier gegebenen Anfechtungsklage nicht zu berücksichtigen sei. Die Voraussetzungen der Verwirkung des Beitragsanspruchs lägen vor. Das Zeitmoment sei aufgrund des Zeitablaufs von 20 Jahren gegeben. Für das Zeitmoment sei nicht auf die im öffentlichen Recht geltende 30-jährige Verjährungshöchstfrist abzustellen. Vielmehr sei zu beachten, dass sich letztere an der früher geltenden zivilrechtlichen Verjährungshöchstfrist orientiere, der Bundesgesetzgeber aber die zivilrechtliche Verjährungshöchstfrist auf drei Jahre verkürzt habe. Insoweit sei ein Gleichlauf der zivil- und öffentlich-rechtlichen Verjährungshöchstfristen zu fordern. Als Umstandsmoment sei zu berücksichtigen, dass bereits vor dem Erwerb des Grundstücks von der Beklagten der Bebauungsplan aufgestellt worden sei, die Beklagte es dem Rechtsvorgänger der Kläger aber verschwiegen habe, dass sie beabsichtige, Erschließungsbeiträge zu erheben. In der Folgezeit habe sie keine Vorausleistungen verlangt, sondern dies erstmals im Jahr 2013 getan. Schließlich sei der Umstand zu berücksichtigen, dass die Beklagte den früheren Kläger im Jahr 2008 für die Straße zu Straßenreinigungsgebühren herangezogen habe.
37
Für den Fall, dass der angegriffene Beitragsbescheid rechtmäßig sei, haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Aufrechnung mit einer angeblichen Schadensersatzforderung in Höhe des Beitrages erklärt. Diese resultiere daraus, dass die Beklagte den Rechtsvorgänger der Kläger vor Abschluss des Kaufvertrages über das beitragspflichtige Grundstück nicht darauf hingewiesen habe, dass für die Herstellung der Straße Erschließungsbeiträge erhoben würden.
38
Die Beklagte bestreitet den behaupteten Schadensersatzanspruch sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
I.
40
Das erstinstanzliche Aktivrubrum ist von Amts wegen zu berichtigen. Nicht die Erbengemeinschaft hat – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 239 Abs. 1 ZPO den Prozess des am 24. Mai 2016 verstorbenen früheren Klägers aufgenommen, sondern jeweils die Mitglieder der Erbengemeinschaft.
41
Die Erbengemeinschaft (§§ 2032 ff. BGB) ist nicht an Stelle ihrer Mitglieder gemäß § 61 Nr. 2 VwGO beteiligungsfähig, da nicht der Erbengemeinschaft, sondern den Erben gemeinschaftlich die Verwaltung des Nachlasses (§ 2038 I BGB) und die Verfügungsbefugnis über die Nachlassgegenstände (§ 2040 I BGB) zusteht. Nur diese sind daher beteiligungsfähig, nicht aber die Gemeinschaft als solche (vgl. SächsOVG, Beschluss vom 11.3.2013 – 5 A 751/10 – NJW-RR 2013, 1162 m. w. N.; BayVGH, Urteil vom 31.3.1978 – 40 II 75 – NJW 1984, 626; für das Zivilprozessrecht vgl. BGH, Beschluss vom 17.10.2006 – VIII ZB 94/05 – NJW 2006, 3715 = juris Rn. 7). Bei einer Erbengemeinschaft kann daher nur der einzelne Miterbe den Prozess gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 239 Abs. 1 ZPO allein aufnehmen, wenn er – wie vorliegend – im Aktivprozess für die Beitragsschuld als Gesamtschuldner haftet (vgl. § 2032 Abs. 1, § 2058 BGB, § 134 Abs. 1 Satz 3 BauGB; BVerwG, Urteile vom 10.9.2015 – 4 C 3.14 – juris Rn. 12; vom 11.8.1993 – 8 C 13.93 – juris Rn. 24; Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 239 ZPO, Rn. 9).
42
Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat mit Schriftsatz vom 18. April 2016 nicht – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – ausgeführt, dass die Kläger den unterbrochenen Rechtsstreit als Erbengemeinschaft aufnehmen, sondern dass sie als Erben den Rechtsstreit fortführen wollen. Dies lässt – auch im Hinblick auf die eingereichten drei gesonderten Vollmachten – hinreichend den Willen erkennen, dass die Kläger als einzelne Miterben den Rechtsstreit fortgeführt haben.
II.
43
Die zulässige Berufung ist begründet.
44
Der Erschließungsbeitragsbescheid der Beklagten vom 29. Januar 2016 ist entgegen dem Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 21. Juni 2018 rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
45
Rechtsgrundlage des angegriffenen Erschließungsbeitragsbescheides sind die §§ 127 ff. BauGB i. V. m. der Satzung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen in der Stadt Goslar vom 7. Juni 1988 - EBS -.
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Die Voraussetzungen für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für die erstmalige Herstellung der Straße „Am Helleberg“ in Goslar sind gegeben.
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1. Die abgerechnete Straßenbaumaßnahme fällt in den Anwendungsbereich des Erschließungsbeitragsrechts. Es handelt sich bei der abgerechneten Anlage nicht um eine bereits vor dem Ausbau vorhandene Erschließungsanlage, für die ein Erschließungsbeitrag nicht mehr erhoben werden kann. Die abgerechnete Anlage „Am Helleberg“ stellt insbesondere nicht eine am 29. Juni 1961 bereits im Sinne von § 242 Abs. 1 BauGB vorhandene Straße dar. Von einer vorhandenen Straße kann nur ausgegangen werden, wenn sie zu irgendeinem Zeitpunkt vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes Erschließungsfunktion besessen hat, sie also zum Anbau bestimmt gewesen ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 21.5.2012 – 9 LB 100/10 –, vom 2.8.2006 – 9 ME 127/04 – und vom 5.9.2006 – 9 ME 137/06 –; Driehaus/Raden, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 10. Auflage, § 2 Rn. 33). Eine erstmalig hergestellte Erschließungsanlage konnte nur eine solche sein, die “zur Bebauung bestimmt ist“ (vgl. § 15 PrFluchtlG; Senatsbeschluss vom 2.8.2006, a. a. O.). Bei der heutigen Straße „Am Helleberg“ handelte es sich am 29. Juni 1961 um einen außerhalb des bebauten Bereichs der Stadt Goslar verlaufenden Weg bzw. um eine Landstraße. Sie war seinerzeit nicht zum Anbau bestimmt. Dies belegt auch die von der Klägerseite in dem beigezogenen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht mit dem Aktenzeichen 8 A 705/13 eingereichte Lichtbildaufnahme ihrer Feldscheune.
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2. Bei der in den Jahren 1979/1980 und 1991 (nördlicher Teil) und 1996 (südlicher Teil) hergestellten heutigen Straße „Am Helleberg“ handelt es sich um eine einheitliche Erschließungsanlage i. S. v. § 127 Abs. 1 Nr. 1 BauGB.
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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, unter welchen Voraussetzungen es sich bei einer erstmals hergestellten Anbaustraße um eine eigenständige Erschließungsanlage handelt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.12.2019 – 9 B 53.18 – juris Rn. 4). Die Ausdehnung einer beitragsfähigen Erschließungsanlage ist nicht nach Maßgabe des Erschließungs- oder des Planungsrechts, sondern unter Anwendung des Erschließungsbeitragsrechts zu bestimmen (BVerwG, Urteil vom 7.3.2017 – 9 C 20.15 – BVerwGE 158, 163 = juris Rn. 11). Für die Beurteilung der Frage, wo eine selbstständige Erschließungsanlage beginnt und endet, ist das durch die tatsächlichen Gegebenheiten geprägte Erscheinungsbild maßgebend. Abzustellen ist auf die tatsächlich sichtbaren Verhältnisse, wie sie zum Beispiel durch Straßenführung, Straßenbreite, Straßenlänge und Straßenausstattung geprägt werden und wie sie sich im Zeitpunkt des Entstehens sachlicher Beitragspflichten einem unbefangenen Beobachter bei natürlicher Betrachtungsweise darstellen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 7.3.2017, a. a. O., juris Rn. 12; vom 10.6.2009 – 9 C 2.08 – BVerwGE 134, 139 = juris Rn. 16). Erforderlich ist eine Würdigung aller dafür relevanten Umstände. Die natürliche Betrachtungsweise ist nicht aus einer Vogelperspektive anzustellen; vielmehr ist grundsätzlich der Blickwinkel eines Betrachters am Boden einzunehmen. Wegen der damit unter Umständen verbundenen Einengung des Horizonts kann gegebenenfalls ergänzend auch der sich aus Plänen oder Luftbildaufnahmen ergebende Straßenverlauf mit in die Betrachtung einzubeziehen sein (BVerwG, Urteile vom 7.3.2017, a. a. O., juris Rn. 12; vom 10.6.2009, a. a. O., juris Rn. 18).
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Darüber hinaus hat die Frage nach dem durch die tatsächlichen Gegebenheiten geprägten Erscheinungsbild auch eine zeitliche Dimension (BVerwG, Urteile vom 7.3.2017, a. a. O., juris Rn. 14; vom 22.11.2016 – 9 C 25.15 – juris Rn. 26). Bereits mit Urteil vom 25. Februar 1994 (– 8 C 14.92 – BVerwGE 95, 176 = juris) hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass der Umstand, dass eine Anlage lange Zeit – im konkreten Fall über 15 Jahre – nicht weitergebaut wird, zu dem Schluss zwinge, dass die Ausbauarbeiten endgültig beendet worden seien mit der Folge, dass eine etwaige spätere Verlängerung nur als eine neue, selbständige Erschließungsanlage in Betracht komme (BVerwG, Urteil vom 25.2.1994, a. a. O., juris Rn. 28). Diese Rechtsprechung hat es mit Urteilen vom 12. Mai 2016 (– 9 C 11.15 – BVerwGE 155, 171 = juris), vom 22. November 2016 (– 9 C 25.15 – a. a. O.) und vom 7. März 2017 (– 9 C 20.15 – a. a. O.) fortgeführt. Danach rechtfertigt der Umstand, dass eine Anlage über viele Jahre nicht weitergebaut wurde, den Schluss, dass die seinerzeitigen Ausbauarbeiten an einer Erschließungsanlage endgültig beendet worden sind und sich eine etwaige spätere Verlängerung auf eine neue, selbständige Erschließungsanlage bezieht (BVerwG, Urteile vom 22.11.2016, a. a. O., juris Rn. 26; vom 12.5.2016, a. a. O., juris Rn. 28).
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Zweifel daran, dass es sich bei der Straße „Am Helleberg“ bei natürlicher Betrachtungsweise um eine einheitliche Erschließungsanlage handelt, bestehen nicht. Dem Umstand, dass der im nördlichen Bereich östlich verlaufende einseitige Gehweg nach ca. 170 m auf der westlichen Seite seine Fortsetzung findet, kommt für den Eindruck der Einheitlichkeit der Erschließungsanlage kein erhebliches Gewicht zu.
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Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass sich der Ausbau der Straße „Am Helleberg“ über einen Zeitraum von 1979 bis 1996 erstreckte. Der Bau einer Teilstrecke kann infolge Zeitablaufs zur erschließungsbeitragsrechtlichen Selbständigkeit führen, wenn die Teilstrecke im Rechtssinne erstmals endgültig als Erschließungsanlage hergestellt war, weil sie den Herstellungsmerkmalen der Erschließungsbeitragssatzung entsprach sowie ergänzend vollständig dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm (vgl. allgemein zur erstmaligen endgültigen Herstellung im Rechtssinne: BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – BVerwGE 163, 58 = juris Rn. 55 m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 10.10.1995 – 8 C 13.94 – BVerwGE 99, 308 = juris Rn. 19; Senatsurteile vom 19.2.2020 – 9 LB 132/17 – juris Rn. 120; vom 29.5.2019 – 9 LC 110/17 – juris Rn. 62 sowie Senatsbeschlüsse vom 21.5.2012 – 9 LB 100/10 – und vom 9.9.2009 – 9 ME 8/09 – juris Rn. 8).
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Danach ist die 160 Meter lange nördliche Teilstrecke bzw. deren ca. 90 Meter langes, im Geltungsbereich des Bebauungsplans „Bassgeige“ gelegene Teilstück der Straße „Am Helleberg“ nicht infolge Zeitablaufs in erschließungsbeitragsrechtliche Selbständigkeit erwachsen.
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Nach Abschluss der Arbeiten in den Jahren 1979/1980, in denen die Beklagte die Fahrbahn im nördlichen Teil der Straße ausbaute, erfüllten diese weder die Herstellungsmerkmale des § 9 der Satzung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen (Erschließungsbeitragssatzung – EBS) vom 29. Juni 1974 in der Fassung der „Satzung zur Änderung der Satzung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen in der Stadt Goslar vom 27. Juni 1974 in der Fassung der 1. Erschließungsbeitragsänderungssatzung vom 28. November 1978“ vom 23. Oktober 1979 noch die Herstellungsmerkmale des § 9 der EBS vom 7. Juni 1988, da es u. a. an der Herstellung der Straßenbeleuchtung und an einem Gehweg fehlte, den auch das damalige Ausbauprogramm westlich der Fahrbahn vorsah. Erst nach dem „Endausbau“ im Jahr 1991 entsprach der nördliche Teil der Straße „Am Helleberg“ vollständig dem gemeindlichen Bauprogramm sowie dem technischen Ausbauprogramm.
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Zu diesem Zeitpunkt fehlte es aber an der Widmung der Straße, und es lagen lediglich ca. 90 Meter der ausgebauten Teilstrecke im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, so dass auch zu diesem Zeitpunkt die nördliche Teilstrecke nicht endgültig hergestellt war. Dem Vermerk der Beklagten vom 23. September 1992 und dem späteren Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplans Nr. 98 („Baßgeige Süd“) vom 24. November 1992, der erstmals die gesamte heutige Straße „Am Helleberg“ beplante, lässt sich entnehmen, dass die Beklagte sich gegen die Abrechnung des nördlichen ca. 90 Meter langen Teilstücks und für einen Ausbau der gesamten Straße „Am Helleberg“, d. h. für die weitergehende Herstellung der bereits auf 160 Meter ausgebauten Straße entschied. Den programmgemäßen Ausbau der südlichen Teilstrecke führte die Beklagte im Jahr 1996 durch, so dass aufgrund des lediglich kurzen Zeitraums von fünf Jahren zwischen Beendigung der Ausbauarbeiten im nördlichen Teil im Jahr 1991 und im südlichen Teil im Jahr 1996 der nördliche Teil der Straße „Am Helleberg“ nicht infolge Zeitablaufs in eine erschließungsbeitragsrechtliche Selbständigkeit erwuchs.
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3. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass im maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs des Beitragsbescheides der Beklagten vom 29. Januar 2016 keine Festsetzungsverjährung eingetreten war.
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Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4b) des Niedersächsischen Kommunalabgabengesetzes (NKAG) in der damals maßgeblichen Fassung vom 18. Juli 2012 i. V. m. § 169 Abs. 2 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) in der Fassung vom 22. Dezember 2014 beträgt die Frist für die Festsetzung des hier streitgegenständlichen Erschließungsbeitrages vier Jahre.
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Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4b) NKAG i. V. m. § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beitragspflicht entstanden ist. Gemäß § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB entsteht die Beitragspflicht mit der endgültigen Herstellung der Erschließungsanlage.
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Die endgültige Herstellung im Rechtssinne setzt sowohl die erschließungsrechtliche als auch die planungsrechtliche rechtmäßige Herstellung der beitragsfähigen Erschließungsanlage voraus (BVerwG, Urteil vom 25.2.1994 – 8 C 14.92 – juris Rn. 29). Danach ist eine beitragsfähige Erschließungsanlage erstmalig hergestellt, wenn sie auf voller Länge nach Maßgabe der Merkmale der endgültigen Herstellung der Erschließungsbeitragssatzung (§ 132 Nr. 4 BauGB) i. V. m. dem Bauprogramm für die flächenmäßigen Teileinrichtungen und dem technischen Ausbauprogramm hergestellt ist, eine gültige Erschließungsbeitragssatzung mit namentlich einer den Anforderungen des § 131 Abs. 2 und 3 BauGB genügenden Verteilungsregelung vorhanden (vgl. BVerwG, Urteil vom 1.10.1986 – 8 C 68.85 – juris Rn. 9; Senatsurteil vom 21.5.2019 – 9 LC 110/17 – juris Rn. 59) und die Anlage dem öffentlichen Verkehr gewidmet ist (vgl. Senatsurteil vom 9.8.2016 – 9 LC 29/15 – juris Rn. 34 m. w. N.), ohne dass dabei die Dauer des Zeitraums zwischen der endgültigen Herstellung der Straße und der (nachträglichen) Widmung von Bedeutung ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.10.1997 – 8 B 194.97 – NVwZ-RR 1998, 513 = juris Rn. 4; Driehaus/Raden, a. a. O., § 19 Rn. 38), sowie sie nach Maßgabe des § 125 BauGB rechtmäßig hergestellt worden ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 26.11.2003 – 9 C 2.03 – juris Rn. 20; vom 30.5.1997 – 8 C 6.95 – juris Rn. 12). Dabei ist unbeachtlich, in welcher Reihenfolge die Voraussetzungen für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht erfüllt werden (BVerwG, Beschluss vom 30.1.2018 – 9 B 10.17 – juris Rn. 5).
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Entgegen der Auffassung der Kläger berührt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum im Abgabenrecht geltenden Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (vgl. u. a. BVerfG, Beschluss vom 5.3.2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 = juris) nicht die Anforderungen an den Entstehungszeitpunkt der sachlichen Beitragspflicht. Das Bundesverfassungsgericht fordert zwar die gesetzliche Festsetzung einer zeitlichen Höchstgrenze für die Inanspruchnahme eines Abgabenpflichtigen zum Vorteilsausgleich. § 11 Abs. 1 Nr. 4b) NKAG i. V. m. §§ 169 Abs. 2 Nr. 2, 170 Abs. 1 AO trifft aber keine solche an den Eintritt der Vorteilslage anknüpfende Höchstfrist, sondern bestimmt – unabhängig hiervon – den an das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht anknüpfenden Beginn der Festsetzungsverjährung (vgl. zur rheinland-pfälzischen Rechtslage BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – BVerwGE 163 58 = juris Rn. 26 ff.). Eine an das Entstehen der Vorteilslage anknüpfende Höchstfrist, die keine Verjährungsfrist ist, hat der Niedersächsische Gesetzgeber vielmehr erst durch die zum 1. April 2017 in Kraft getretene Bestimmung in § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG geschaffen, wonach die Festsetzung eines Beitrages außer in den Fällen des § 169 Abs. 1 Satz 1 AO auch dann nicht mehr zulässig ist, wenn das Entstehen der Vorteilslage mindestens 20 Jahre zurückliegt (siehe hierzu im Einzelnen unter 4.).
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Ausgehend hiervon begann die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Jahres 2015 zu laufen, da der Bebauungsplan Nr. 98 „Bassgeige Süd“ erst am 6. August 2015 in Kraft getreten ist und die Beklagte die Straße „Am Helleberg“ erst am 11. November 2015 gewidmet hat, so dass zum Zeitpunkt der Heranziehung des Rechtsvorgängers der Kläger zu dem angegriffenen Erschließungsbeitrag mit Bescheid vom 29. Januar 2016 die vierjährige Festsetzungsfrist nicht abgelaufen war.
62
Es bestehen auch keine Zweifel an der Wirksamkeit der Widmung. Gemäß § 6 Abs. 3 NStrG ist die Widmung öffentlich bekannt zu machen. § 9 Abs. 1 Satz 1 der Hauptsatzung der Beklagten vom 1. April 2014 bestimmt, dass öffentliche Bekanntmachungen der Stadt Goslar im Internet unter der Adresse www.goslar.de verkündet bzw. bekannt gemacht werden. Nach Satz 2 ist auf die Bereitstellung im Internet und auf die Internetadresse in der Goslarschen Zeitung nachrichtlich hinzuweisen. Ausweislich des Internetauftritts der Beklagten wurde die Widmung am 11. November 2015 auf www.goslar.de bekannt gemacht. Die Beklagte hat zudem in der Goslarschen Zeitung nachrichtlich auf die Bekanntmachung hingewiesen.
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4. Die Beitragserhebung verstößt vorliegend auch nicht gegen das rechtsstaatliche Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, wonach es einer gesetzlich bestimmten zeitlichen Höchstgrenze für die Beitragserhebung nach Entstehung der Vorteilslage bedarf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5.3.2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 = juris).
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Zwar existierte zum Zeitpunkt der Festsetzung des Erschließungsbeitrages mit Bescheid vom 29. Januar 2016 die Bestimmung in § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG noch nicht, wonach die Festsetzung eines Beitrages 20 Jahre nach Entstehen der Vorteilslage nicht mehr zulässig ist. Zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 21. Juni 2018 beanspruchte diese Bestimmung aber bereits Geltung.
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Bei dieser Vorschrift handelt es sich um eine verfassungsgemäße gesetzliche Höchstgrenze für die Festsetzung von (Erschließungs-)Beiträgen in Niedersachsen (hierzu unter a)), die auch auf noch nicht bestandskräftige Beitragsbescheide Anwendung findet, die vor dem 1. April 2017 erlassen wurden (hierzu unter b)). Zum Zeitpunkt des Entstehens der Vorteilslage war die 20-jährige Höchstfrist vorliegend aber noch nicht verstrichen (hierzu unter c)).
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a) Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG. Dieser bestimmt, dass die Festsetzung eines Beitrages außer in den Fällen des § 169 Abs. 1 Satz 1 AO auch dann nicht mehr zulässig ist, wenn das Entstehen der Vorteilslage mindestens 20 Jahre zurückliegt. Mit dieser Vorschrift, die durch das Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Kommunalabgabengesetzes und anderer Gesetze vom 2. März 2017 (NdsGVBl 4/2017, S. 48 ff.) in das Kommunalabgabengesetz mit Geltung zum 1. April 2017 eingefügt wurde, hat der Niedersächsische Gesetzgeber den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur zeitlichen Begrenzung der Erhebung von Beiträgen in seinem Beschluss vom 5. März 2013 (– 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 ff. = juris) Rechnung tragen wollen.
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Insoweit heißt es in der Gesetzesbegründung (LT Drs. 17/5422, S. 25):
68
„Aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur zeitlichen Begrenzung der Erhebung von Beiträgen vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - (NVwZ 2013, 1004) schlägt die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände vor, eine Anpassung der Festsetzungsvorschriften an die Rechtsprechung vorzunehmen.
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Für die Beiträge nach dem Niedersächsischen Kommunalabgabengesetz hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Relevanz. Allerdings gelten die Regelungen dieses Gesetzes (§ 1 Abs. 2) auch für Beiträge, die von den Kommunen aufgrund anderer Gesetze erhoben werden, soweit diese keine Bestimmungen treffen. Insoweit können Fälle auftreten, in denen für die Beitragserhebung der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Geltung erlangt. Daher soll dem Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft entsprochen werden und die bayerische Regelung des Artikels 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb des dortigen Kommunalabgabengesetzes übernommen werden.“
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Auch wenn die Ausgangsthese, das aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit abgeleitete Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit habe für die Beiträge nach dem Niedersächsischen Kommunalabgabengesetz keine Relevanz, nicht haltbar ist, da es für alle Fallkonstellationen gilt, in denen eine abzugeltende Vorteilslage eintritt, insbesondere für das gesamte Beitragsrecht (vgl. auch BVerwG, Urteile vom 15.4.2015 – 9 C 19.14 – Buchholz 11 Art 20 GG Nr. 218 juris Rn. 9 und vom 20.3.2014 – 4 C 11.13 – BVerwGE 149, 211 = juris Rn. 16 f.; Beschlüsse vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – BVerwGE 163, 58 = juris Rn. 14 und vom 8.3.2017 – 9 B 19.16 – juris Rn. 7; VGH BW, Urteil vom 12.7.2018 – 2 S 143/18 – juris Rn. 53; OVG NRW, Urteil vom 30.4.2013 – 14 A 213/11 – juris Rn. 36; BayVGH, Urteil vom 14.11.2013 – 6 B 12.704 – BayVBl. 2014, 241 = juris Rn. 21; Driehaus/Raden, a. a. O., § 19 Rn. 41; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 21.7.2016 – 1 BvR 3092/15 – NVwZ-RR 2016, 889 = juris Rn. 6 ff.), hat der Niedersächsische Landesgesetzgeber damit eine allgemeine zeitliche Obergrenze für die Festsetzung von Beiträgen eingeführt.
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Den vorzitierten Ausführungen des Niedersächsischen Gesetzgebers lässt sich entnehmen, dass mit der Einführung von § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 5. März 2013 für das Beitragsrecht vollumfänglich Rechnung getragen werden sollte.
72
§ 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG wird insoweit nach Überzeugung des Senats den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit gerecht.
73
Entgegen der Auffassung der Kläger folgt aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 (a. a. O.) keineswegs, dass bereits nach Ablauf von 12 Jahren eine Beitragserhebung stets verfassungswidrig ist (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 8.3.2017 – 9 B 19.16 – juris Rn. 43). Das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verpflichtet vielmehr den Gesetzgeber dazu, sicherzustellen, dass Beiträge, die einen einmaligen Ausgleich für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung schaffen sollen, unabhängig von einem Vertrauen des Vorteilsempfängers und ungeachtet der Fortwirkung des Vorteils zeitlich nicht unbegrenzt festgesetzt werden können. Im Rahmen des danach zu schaffenden Ausgleichs zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an der Erhebung von Beiträgen für solche Vorteile einerseits und dem Interesse des Beitragsschuldners andererseits, irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herangezogen werden kann, besteht ein weiter Gestaltungsspielraum. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet aber, die Interessen des Bürgers völlig unberücksichtigt zu lassen und ganz von einer Regelung abzusehen, die der Erhebung einer Abgabe eine bestimmte zeitliche Grenze setzt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29.6.2020 – 1 BvR 1866/15 u. a. – juris Rn. 5; vom 21.7.2016 – 1 BvR 3092/15 – NVwZ-RR 2016, 889 = juris Rn. 6 ff. und vom 5.3.2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 juris Rn. 42 ff.; BVerwG, Urteil vom 15.4.2015 – 9 C 19.14 – Buchholz 11 Art 20 GG Nr. 218 = juris Rn. 8 f. und Beschlüsse vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – BVerwGE 163, 58 = juris Rn. 13 und vom 8.3.2017 – 9 B 19.16 – juris Rn. 7).
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In seiner zu der bayerischen Regelung in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4b) cc) Spiegelstrich 2 BayKAG ergangenen Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht die Bestimmung nicht für nichtig erklärt, sondern lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz, da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stünden, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Es bleibe ihm überlassen, wie er eine bestimmbare zeitliche Obergrenze für die Inanspruchnahme der Beitragsschuldner gewährleiste, die der Rechtssicherheit genüge. So könne er etwa eine Verjährungshöchstfrist vorsehen, wonach der Beitragsanspruch nach Ablauf einer auf den Eintritt der Vorteilslage bezogenen, für den Beitragsschuldner konkret bestimmbaren Frist verjähre (BVerfG, Beschluss vom 5.3.2013, a. a. O., juris Rn. 49 f.). Es ist Aufgabe des Gesetzgebers – und nicht der Gerichte –, in Wahrnehmung seines weiten Gestaltungsspielraums einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden berechtigten Interessen einerseits der Allgemeinheit an der Beitragserhebung und andererseits der Beitragspflichtigen an einer zeitlich nicht unbegrenzten Inanspruchnahme zu schaffen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018, a. a. O., juris Rn. 20 m. w. N.).
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§ 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG gewährleistet für Niedersachsen eine solche konkret bestimmbare zeitliche Obergrenze in Gestalt einer Ausschlussfrist, die durch den Eintritt der Vorteilslage ausgelöst wird und nach deren Ablauf eine Beitragsfestsetzung zwingend und ausnahmslos ausscheidet, auch dann, wenn die Beitragsschuld noch nicht entstanden ist und deshalb ein Beitrag auch noch nicht hätte festgesetzt werden dürfen und verjähren können.
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Der Niedersächsische Gesetzgeber hat bei der Bemessung der Ausschlussfrist mit 20 Jahren seinen weiten Gestaltungsspielraum für den Ausgleich der widerstreitenden Interessen nicht überschritten.
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Die Legitimation von Erschließungsbeiträgen liegt − unabhängig von der gesetzlichen Ausgestaltung ihres Wirksamwerdens − in der Abgeltung eines Vorteils, der den Betreffenden zu einem bestimmten Zeitpunkt zugekommen ist. Je weiter dieser Zeitpunkt bei der Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die Legitimation zur Erhebung solcher Beiträge. Zwar können dabei die Vorteile auch in der Zukunft weiter fortwirken und tragen nicht zuletzt deshalb eine Beitragserhebung auch noch relativ lange Zeit nach Anschluss an die entsprechende Einrichtung bzw. deren Inanspruchnahmemöglichkeit. Jedoch verliert der Zeitpunkt des Anschlusses bzw. der Inanspruchnahmemöglichkeit, zu dem der Vorteil, um dessen einmalige Abgeltung es geht, dem Beitragspflichtigen zugewendet wurde, deshalb nicht völlig an Bedeutung. Der Bürger würde sonst hinsichtlich eines immer weiter in die Vergangenheit rückenden Vorgangs dauerhaft im Unklaren gelassen, ob er noch mit Belastungen rechnen muss. Dies ist ihm im Lauf der Zeit immer weniger zumutbar. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet vielmehr, dass ein Vorteilsempfänger in zumutbarer Zeit Klarheit darüber gewinnen kann, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss (BVerfG, Beschlüsse vom 1.7.2020 – 1 BvR 2838/19 – juris Rn. 25; vom 5.3.2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 = juris Rn. 45).
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Nach Überzeugung des Senats stellt die Ausschlussfrist mit 20 Jahren einen ausreichenden Ausgleich dar zwischen dem Interesse der Gemeinde an Abgeltung des von ihr durch die Herstellung der Erschließungsanlage dem Grundstückseigentümer verschafften Vorteils und dem Interesse der Beitragspflichtigen an Rechtssicherheit, nach Ablauf eines längeren Zeitraums nicht mehr in Anspruch genommen zu werden.
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Durch die Bestimmung wurde in Niedersachsen erstmals eine zeitliche Höchstgrenze für die Festsetzung eines Beitrages eingeführt, so dass der Beitragspflichtige nunmehr eine klare Höchstfrist vor Augen hat und nicht mehr im Unklaren ist. Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hat der Landesgesetzgeber dabei einen Ausgleich zwischen dem Interesse der bevorteilten Beitragspflichtigen an baldiger Rechtssicherheit und dem öffentlichen Interesse an einer Gegenleistung für gewährte Vorteile angestrebt. Zwar ergeben sich detaillierte Abwägungsüberlegungen – anders als in Bayern – beim Niedersächsischen Landesgesetzgeber aus der Gesetzesbegründung nicht. Inzident hat sich dieser aber dem Bayerischen Landesgesetzgeber angeschlossen und sich damit dessen Erwägungen zu eigen gemacht, da in dem Gesetzentwurf der Niedersächsischen Landesregierung entsprechend dem Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände die bayerische Regelung in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) bb) BayKAG ausdrücklich übernommen wurde (LT Drs. 17/5422, S. 25).
80
Der Bayerische Landesgesetzgeber hat ausführliche Erwägungen zu einer Beschränkung der gesetzlichen Regelung auf das Beitragsrecht, zum Verständnis der Regelung als feste Höchstfrist und zur Länge der Frist von 20 Jahren als Ergebnis eines Interessenausgleichs angestellt (vgl. Bayerischer Landtag, Drs. 17/370, S. 7, 12, 15 f.). Er hat dabei in seine Überlegungen einbezogen, dass, auch wenn mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz die regelmäßige Verjährungsfrist von früher 30 Jahren auf nunmehr drei Jahre verkürzt wurde, darin keine generelle Entscheidung des (Bundes-)Gesetzgebers gegen eine 30-jährige Verjährungsfrist gesehen werden kann (vgl. Bayerischer Landtag, Drs. 17/370, S. 15). Es ist auch nicht geboten – wie von den Klägern geltend gemacht – grundsätzlich einen Gleichlauf der zivilrechtlichen Verjährungs- und der öffentlich-rechtlichen Verjährungs- und – wie vorliegend – Ausschlussfristen zu fordern (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.12.2008 – 3 C 37.07 – juris Rn. 11 ff. zur nicht analog anzuwendenden Neuregelung des Verjährungsrechts durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz auf öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche). Vielmehr bestehen gegen die 30-jährige Verjährungsfrist im öffentlichen Recht (vgl. etwa § 53 Abs. 2 VwVfG) auch aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens keine Bedenken (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.12.2008, a. a. O., juris Rn. 10; OVG LSA, Beschluss vom 17.2.2016 – 4 L 119/15 – juris Rn. 47). Insoweit wird es auch für möglich erachtet, zur Ausfüllung des Treuwidrigkeitstatbestandes auf diese zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.3.2014, a. a. O., juris Rn. 33; VGH BW, Beschluss vom 27.1.2015 – 2 S 1840/14 – juris Rn. 50). Allerdings gibt es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz einer 30-jährigen Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche. Vielmehr ist nach dem Gesamtzusammenhang der für den jeweiligen Anspruch geltenden Rechtsvorschriften und der Interessenlage zu beurteilen, welche Verjährungsregelungen als die „sachnächsten“ entsprechend heranzuziehen sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018, a. a. O., juris Rn. 35). In diesem Sinne hat der Bayerische Landesgesetzgeber ausdrücklich zugunsten der Beitragsschuldner von einer allgemeinen Geltung einer 30-jährigen Höchstfrist abgesehen und eine kürzere Frist von 20 Jahren als durch die Lebensdauer (leitungsgebundener) Anlagen gerechtfertigt angesehen (Bayerischer Landtag, Drs. 17/370, S. 16). Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Möglichkeit einer Beitragserhebung über insgesamt 25 Jahre angesichts eines in die Zukunft fortwirkenden Vorteils eines Anschlusses an Trinkwasserversorgungs- und Abwasserbeseitigungsanlagen noch als von dem gesetzgeberischen Ermessen umfasst angesehen (BVerfG, Beschluss vom 1.7.2020, a. a. O., juris Rn. 34; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 29.6.2020 – 1 BvR 1866/15 u. a. – juris Rn. 8 für eine 18-jährige Zeitspanne zwischen Beginn des Eintritts der Vorteilslage).
81
Der Niedersächsische Landesgesetzgeber ist mit der 20-jährigen Höchstfrist deutlich unter der im öffentlichen Recht für bestimmte Rechtsbereiche anerkannten Höchstfrist von 30 Jahren geblieben. Er hat damit betreffend das Erschließungs- und Ausbaubeitragsrecht der Vorteilswirkung einer Straße einerseits und dem Interesse der Beitragspflichtigen an einer Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit andererseits hinreichend Rechnung getragen.
82
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats beträgt die übliche Nutzungsdauer für eine Straße eine längere Zeitspanne als die in § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG gesetzte Höchstfrist von 20 Jahren. Der Senat geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass die übliche Nutzungsdauer der Straßenbeleuchtung bei ca. 30 Jahren liegt (vgl. Senatsurteil vom 19.2.2020 – 9 LB 132/17 – juris Rn. 150, 158, 211) und von Fahrbahnen einschließlich der Teileinrichtung Gehweg zwischen 20 und 25 Jahre beträgt (Senatsbeschluss vom 28.8.2015 – 9 LA 76/14 – n. v.; im Einzelnen auch Urteil vom 28.11.2001 – 9 L 3193/00 – juris Rn. 7), wobei bei Straßen, die in jüngerer Zeit nach dem damaligen Stand der Technik hergestellt wurden, von einer üblichen Nutzungsdauer von (mindestens) 25 Jahren auszugehen ist. Die übliche Nutzungszeit von Straßenentwässerungseinrichtungen ist sogar deutlich länger (vgl. hierzu Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand: 9/2020, § 8 Rn. 294; v. Waldthausen in: Rosenzweig/Freese/v. Waldthausen, Niedersächsisches Kommunalabgabengesetz, Stand: 2/2016, § 6 Rn. 70).
83
Vor diesem Hintergrund ist die Höchstfrist in § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG von dem gesetzgeberischen weiten Gestaltungsspielraum abgedeckt, da auch 20 Jahre nach Entstehen der Vorteilslage eine substantielle Vorteilslage verbleibt (ebenso BayVGH, Urteil vom 12.3.2015 – 20 B 14.1441 – juris Rn. 25 zur bayerischen Ausschlussfrist von 20 Jahren nach Vorteilslage; siehe auch Bayerischer Landtag, Drs. 17/370, S. 12 ff.).
84
Schließlich ist bei der Gewichtung der Interessen zu beachten, dass der Vorteil, der durch die Inanspruchnahmemöglichkeit einer Einrichtung vermittelt wird, lange in die Zukunft fortwirkt, während ein besonderes wirtschaftliches Interesse der Abgabepflichtigen an einer möglichst zeitnahen Festsetzung des Beitragsanspruchs nicht besteht, sondern deren Interesse maßgeblich darin begründet liegt, erkennen zu können, wann mit einer Inanspruchnahme nicht mehr zu rechnen ist (vgl. OVG LSA, Beschluss vom 17.2.2016, a. a. O., juris Rn. 47).
85
b) § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG findet auch auf nicht bestandskräftige Beitragsbescheide Anwendung, die – wie vorliegend – vor Inkrafttreten der Bestimmung zum 1. April 2017 erlassen wurden, so dass dadurch das ursprüngliche Versäumnis des Landesgesetzgebers, zeitnah auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Mai 2013 (a. a. O.) eine verfassungsgemäße, dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit genügende Regelung zu schaffen, behoben wurde.
86
Zwar hat der Niedersächsische Gesetzgeber, anders als der von ihm in der Gesetzesbegründung in Bezug genommene Bayerische Gesetzgeber, keine Übergangsbestimmung für bereits erfolgte Beitragsfestsetzungen getroffen. Letzterer hat nicht nur in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4b) bb) Spiegelstrich 1 BayKAG eine dem § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG entsprechende Bestimmung erlassen, sondern zugleich in Art. 19 Abs. 2 BayKAG bestimmt, dass für Beiträge, die vor dem 1. April 2014 durch nicht bestandskräftigen Bescheid festgesetzt worden sind, Art. 13 Abs. 1 Nr. 4b) bb) Spiegelstrich 1 BayKAG mit der Maßgabe gilt, dass die Frist einheitlich 30 Jahre beträgt.
87
Den Gesetzesmaterialien lässt sich aber entnehmen, dass der Niedersächsische Gesetzgeber dem Regelungsauftrag in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Mai 2013 (a. a. O.) vollumfänglich nachkommen und nicht lediglich eine unvollständige Regelung treffen wollte. Es finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass es auch nach Inkrafttreten des § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG weiterhin an einer verfassungsmäßigen Bestimmung einer Höchstfrist für vor dem 1. April 2017 bereits erlassene Bescheide fehlen sollte. Insoweit lässt sich § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG bei gebotener verfassungskonformer Auslegung (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 5.3.2013 – 1 BvR 2457/08 – juris Rn. 52 und vom 21.7.2016 – 1 BvR 3092/15 – juris Rn. 9; BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – juris Rn. 22 und vom 20.3.2014 – 4 C 11.13 – BVerwGE 149, 211 = juris Rn. 21) nur dahingehend verstehen, dass die 20-jährige Höchstfrist – anders als nach der bayerischen Gesetzeslage – unterschiedslos auch in denjenigen Fällen gilt, in denen – wie vorliegend – eine Festsetzung von Beiträgen vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung erfolgt ist und der angegriffene Beitragsbescheid noch nicht bestandskräftig ist.
88
Dieses Auslegungsergebnis verstößt auch nicht gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot für belastende Gesetze (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 10.10.2012 – 1 BvL 6/07 – BVerfGE 132, 302 = juris Rn. 41 ff.). Vielmehr handelt es sich bei § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG um eine allein begünstigende Regelung, weil damit erstmals eine zeitliche Obergrenze geschaffen wurde, die zugunsten der Beitragspflichtigen ungeachtet des Zeitpunkts der Beitragsfestsetzung auch bei vor dem 1. April 2017 bereits begründeten Vorteilslagen gilt, folglich eine Beitragserhebung auch in solchen Fällen nicht mehr zeitlich unbegrenzt ab Entstehen der Vorteilslage ermöglicht.
89
Soweit die Kläger vertreten, bei der Anfechtungsklage sei die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich, ist im Beitragsrecht als maßgeblicher Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage grundsätzlich auf das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht abzustellen (BVerwG, Beschluss vom 13.3.1995 – 8 B 5.95 – juris Rn. 2; Driehaus/Raden, a. a. O., § 19 Rn. 23). Einen prozessrechtlichen Grundsatz, wonach im Rahmen einer Anfechtungsklage die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts stets nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu beurteilen sei, gibt es nicht. Auf welche Sach- und Rechtslage bei der Anfechtungsklage abzustellen ist, bestimmt sich in erster Linie nach materiellem Recht, für Erschließungsbescheide also nach dem – vorstehend dargestellten – Erschließungsbeitragsrecht (BVerwG, Urteil vom 25.11.1981 – 8 C 14.81 – BVerwGE 64, 218 = juris Rn. 17). Hierauf kommt es aber vorliegend ebenso wenig an, wie auf die zwischen den Beteiligten in Streit stehende Frage, ob es sich bei § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG um eine Norm des „formellen“ oder des „materiellen“ Rechts handelt, da – wie dargelegt – die Höchstgrenze für die Festsetzung von Beiträgen in § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG bei verfassungskonformer Auslegung auf vor dem 1. April 2017 erlassene, nicht bestandskräftige Bescheide zugunsten der Beitragspflichtigen Anwendung findet. Zudem ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass im Erschließungsbeitragsrecht ein Beitragsbescheid nicht der gerichtlichen Aufhebung unterliegt, wenn er im Zeitpunkt der abschließenden mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz rechtmäßig ist, etwa, weil er durch eine erst nachträglich in Kraft getretene wirksame Satzungsgrundlage geheilt wird (BVerwG, Urteil vom 25.11.1981, a. a. O., juris Rn. 20). Dies zugrunde gelegt bemisst sich die Rechtmäßigkeit des hier angegriffenen Beitragsbescheides auch an § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG.
90
c) Die Festsetzung des Erschließungsbeitrages mit Bescheid vom 29. Januar 2016 war nicht nach § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG ausgeschlossen, da das Entstehen der Vorteilslage nicht mindestens 20 Jahre zurücklag.
91
aa) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass es für die Entstehung der Vorteilslage im Erschließungsbeitragsrecht auf die tatsächliche – bautechnische – Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme, nicht jedoch darauf ankommt, ob darüber hinaus auch die weiteren, für den Betroffenen nicht erkennbaren rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorliegen (BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – BVerwGE 163, 58 = juris Rn. 55).
92
Erforderlich ist das Erschlossensein des Grundstücks durch eine insgesamt betriebsfertige Einrichtung (BVerfG, Beschluss vom 5.3.2013 – 1 BvR 2457/08 – BVerfGE 133, 143 = juris Rn. 2). Ausreichend für den Eintritt der Vorteilslage ist danach nicht, ob die Straße schon „gebrauchsfertig“ und „benutzbar“ ist (vgl. BayVGH, Beschluss vom 30.3.2016, a. a. O., juris Rn. 9). Vielmehr muss es sich um eine beitragsrelevante Vorteilslage handeln (BVerwG, Urteil vom 22.11.2016 – 9 C 25.15 – BVerwGE 156, 326 = juris Rn. 23).
93
Beurteilungsmaßstab für die betriebsfertige Herstellung ist die konkrete Planung der Gemeinde für die jeweilige Anlage. Entscheidend ist, ob diese sowohl im räumlichen Umfang als auch in der bautechnischen Ausführung nur provisorisch her- oder schon endgültig technisch fertiggestellt ist, d. h. dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht (BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018, a. a. O., juris Rn. 55; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 24.2.2017 – 6 BV 15.1000 – BayVBl. 2017, 522 = juris Rn. 30 f. und Beschluss vom 30.3.2016 – 6 ZB 15.2426 – BayVBl. 2016, 558 = juris Rn. 9; Driehaus/Raden, a. a. O., § 11 Rn. 42, 55).
94
bb) Für die Entstehung der Vorteilslage kommt es – anders als für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht gemäß § 133 Abs. 2 BauGB – weder auf die Widmung der Straße noch auf die Wirksamkeit der Beitragssatzung an (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – BVerwGE 163, 58 = juris Rn. 55). Ungeachtet der fehlenden Erkennbarkeit jedenfalls der Wirksamkeit der Satzung könnten andernfalls die Erlangung des Vorteils und die Entstehung der Beitragspflicht zeitlich unbegrenzt zusammenfallen. Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit liefe dann leer (BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018, a. a. O., juris Rn. 55; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 24.2.2017, a. a. O., juris Rn. 30 f.; OVG NRW, Beschluss vom 24.10.2019 – 15 B 1090/19 – juris Rn. 27).
95
cc) Ebenso wenig kann danach ein Bebauungsplan Voraussetzung für die Entstehung der Vorteilslage i. S. d. § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG sein, auch wenn die Herstellung einer Erschließungsanlage grundsätzlich nach § 125 Abs. 1 BauGB einen Bebauungsplan voraussetzt, d. h. die Anlage regelmäßig erst durch diesen zur Anbaustraße wird. Der Bebauungsplan ist zwar, soweit kein Ausnahmefall nach § 125 Abs. 2 BauGB (a. F.) gegeben ist, für die rechtmäßige Herstellung der Anlage und somit für das Entstehen der sachlichen Erschließungsbeitragspflicht erforderlich. Zudem ergibt sich aus ihm, welche Grundstücke nach §§ 131 Abs. 1, 133 Abs. 1 BauGB erschlossen und bei der Verteilung in welchem Umfang zu berücksichtigen sind. Allerdings ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass die Ausdehnung einer beitragsfähigen Erschließungsanlage nicht nach Maßgabe des Erschließungs- oder des Planungsrechts, sondern unter Anwendung des Erschließungsbeitragsrechts zu bestimmen ist (BVerwG, Urteil vom 7.3.2017 – 9 C 20.15 – BVerwGE 158, 163 = juris Rn. 11). Entscheidend ist danach unabhängig vom Inhalt des Bebauungsplans die Anlage in ihrem tatsächlich hergestellten Umfang. Im Übrigen ist – wie auch bei der Beitragssatzung – die Wirksamkeit eines Bebauungsplans nicht ohne weiteres erkennbar, und auch die Erlangung des Vorteils und die Entstehung der Beitragspflicht könnten zeitlich unbegrenzt zusammenfallen, forderte man einen (wirksamen) Bebauungsplan als Voraussetzung für die Entstehung der Vorteilslage. Die Gemeinde hätte es insoweit in der Hand, trotz betriebsfertiger Herstellung der Anlage das Entstehen der Vorteilslage wegen eines rechtlichen Kriteriums unbegrenzt auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Dies ließe sich aber mit der die 20-jährige Höchstfrist rechtfertigenden üblichen Nutzungsdauer einer Erschließungsanlage nicht in Einklang bringen. Hinzu kommt, dass in Fällen, in denen die Gemeinde statt eines Bebauungsplans eine Abwägungsentscheidung nach § 125 Abs. 2 BauGB getroffen hat oder aufgrund der bis zum 31. Dezember 1997 gültigen Fassung von § 125 Abs. 2 BauGB die Anlage innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile lag und für sie die Aufstellung eines Bebauungsplans nicht erforderlich war bzw. die Erschließungsanlage mit Zustimmung der höheren Verwaltungsbehörde hergestellt wurde, für den Anlieger der Zeitpunkt der Entstehung der Vorteilslage ebenfalls nicht erkennbar wäre.
96
Insoweit ist für das Entstehen der tatsächlichen Vorteilslage nicht auf die planungsrechtliche Rechtmäßigkeit der Anlage abzustellen (vgl. auch BayVGH, Urteil vom 24.2.2017, a. a. O., juris Rn. 30 f.; a. A. wohl VGH BW, Urteil vom 19.9.2018 – 2 S 1116/18 – juris Rn. 49).
97
dd) Unter Zugrundelegung der vorgenannten Maßstäbe entsteht die Vorteilslage i. S. d. § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG auch weder im Zeitpunkt des letzten Grunderwerbs – vorliegend am 6. Januar 1998 – noch im Zeitpunkt des Eingangs der letzten Unternehmerrechnung – vorliegend am 13. März 1997 – noch im Zeitpunkt der Verkehrsfreigabe.
98
Zwar gehört der Grunderwerb hier nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 EBS 1988 zu den Merkmalen der endgültigen Herstellung. Dies ist aber auch bei der Widmung der Fall (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 EBS 1988), die – wie ausgeführt – nicht Entstehungsvoraussetzung für die Vorteilslage ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – BVerwGE 163, 58 = juris Rn. 55). Der Abschluss des Grunderwerbs gehört nicht zur tatsächlichen bautechnischen Durchführung der Erschließungsmaßnahmen und ist für den Beitragspflichtigen nicht erkennbar, so dass er nicht Voraussetzung für die Entstehung der Vorteilslage ist (vgl. auch BayVGH, Urteil vom 24.2.2017, a. a. O., juris Rn. 30; OVG NRW, Beschluss vom 24.10.2019 – 15 B 1090/19 – juris Rn. 29).
99
Nichts Anderes gilt für die letzte Unternehmerrechnung, die bei der Beklagten ausweislich der Verwaltungsvorgänge am 13. März 1997 eingegangen war, zumal diese keine Auswirkungen auf die (rechtmäßige) Herstellung der Anlage hat, sondern lediglich zur Bestimmbarkeit des beitragsfähigen Aufwandes und zur Abrechenbarkeit führt (vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 24.11.2017 – 15 A 1812/16 – juris Rn. 54).
100
Die Verkehrsfreigabe erweist sich ebenfalls nicht als tauglicher Zeitpunkt für die Entstehung der Vorteilslage. Entgegen der Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Verkehrsfreigabe sei am 7. September 1996 erfolgt, konnte der Senat vorliegend den genauen Zeitpunkt der Verkehrsfreigabe nicht ermitteln. Den Verwaltungsvorgängen der Beklagten lässt sich lediglich entnehmen, dass die Anlage von der Beklagten am 3. September 1996 abgenommen wurde. Der Tag der Verkehrsfreigabe wurde hingegen nicht dokumentiert. Dies dürfte regelmäßig der Fall sein. Hinzu kommt, dass es nicht darauf ankommt, ob die Anlage „gebrauchsfertig“ oder „benutzbar“ ist (vgl. BayVGH, Beschluss vom 30.3.2016, a. a. O., juris Rn. 9), sondern ob sie insgesamt endgültig technisch fertiggestellt ist. Die Freigabe der Anlage für den Verkehr lässt aber gerade nicht den Rückschluss auf die technisch endgültige Fertiggestellung zu.
101
ee) Demgegenüber bestätigt die Abnahme der Baumaßnahmen den mit der tatsächlichen Durchführung der Erschließungsmaßnahme beauftragten Unternehmen gegenüber, dass die erstmalige Herstellung sowohl im räumlichen Umfang als auch in der bautechnischen Ausführung dem gemeindlichen Bauprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht. Daher stellt das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen für den Zeitpunkt des Entstehens der Vorteilslage regelmäßig auf die Abnahme statt auf die letzte Unternehmerrechnung ab (vgl. OVG NRW, Urteil vom 24.11.2017 – 15 A 1812/16 – juris Rn. 54). Dem schließt sich der Senat an.
102
Soweit das Bundesverfassungsgericht für den Fall einer Außenprüfung durch die Finanzverwaltung entschieden hat, dass das Anknüpfen des Ablaufs der Steuerfestsetzungsfrist an eine im Anschluss einer Außenprüfung nachfolgende Schlussbesprechung nicht mit den Grundsätzen von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz vereinbar sei, da die Finanzverwaltung durch Hinauszögern der Schlussbesprechung den Ablauf der Festsetzungsfrist nach eigenem Gutdünken bestimmen und so letztlich beliebig verlängern könnte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.7.2016 – 1 BvR 3092/15 – juris Rn. 10), sind diese Erwägungen nicht auf die Abnahme von Baumaßnahmen übertragbar. Denn der Gemeinde steht es nicht frei, die Abnahme nach eigenem Gutdünken wesentlich hinauszuzögern. Vielmehr ist sie gemäß § 640 Abs. 1 BGB bzw. § 12 Abs. 1 VOB 2016 verpflichtet, das vertragsmäßig hergestellte Werk abzunehmen. Wird keine Abnahme verlangt, so gilt die Leistung gemäß § 12 Abs. 5 Nr. 1 VOB 2016 mit Ablauf von 12 Werktagen nach schriftlicher Mitteilung über die Fertigstellung der Leistung abgenommen. Hat der Auftraggeber darüber hinaus die Leistung oder einen Teil der Leistung in Benutzung, so gilt die Abnahme nach Ablauf von 6 Werktagen nach Beginn der Benutzung als erfolgt, wenn nichts anderes vereinbart ist (§ 12 Abs. 5 Nr. 2 Satz 1 VOB 2016). § 640 Abs. 2 BGB bestimmt, dass ein Werk als abgenommen gilt, wenn der Unternehmer dem Besteller nach Fertigstellung des Werks eine angemessene Frist zur Abnahme gesetzt hat und der Besteller die Abnahme nicht innerhalb dieser Frist unter Angabe mindestens eines Mangels verweigert hat. Die Gemeinde hat es danach nicht allein in der Hand, den Zeitpunkt des Entstehens der Vorteilslage zu bestimmen. Im Übrigen ist die Abnahme durch Begehung als tatsächlicher Vorgang grundsätzlich auch für die Anlieger erkennbar.
103
Ist danach die Gemeinde verpflichtet, eine mangelfreie bzw. eine mit lediglich unwesentlichen Mängeln behaftete Durchführung einzelner Gewerke (vgl. § 640 Abs. 1 Satz 2 BGB) abzunehmen, folgt hieraus zugleich, dass die Abnahme Indiz für die bauprogrammgemäße Beendigung der technischen Durchführung der geplanten Maßnahme ist.
104
Ausgehend von dem Zeitpunkt der Abnahme der Straße „Am Helleberg“ am 3. September 1996 war die 20-jährige Ausschlussfrist des § 11 Abs. 3 Nr. 1 NKAG bei der Festsetzung des Erschließungsbeitrages mit Bescheid vom 29. Januar 2016 noch nicht verstrichen.
105
5. Der rechtmäßigen Erhebung des Erschließungsbeitrages steht auch nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen.
106
Das Gebot, sich so zu verhalten, wie Treu und Glauben es verlangen, gehört zu den allgemeinen Grundsätzen sowohl des Verwaltungsrechts des Bundes als auch des Verwaltungsrechts der Länder. Welchem Rechtskreis dieser Grundsatz im Einzelfall zuzurechnen ist, hängt von der Qualität des Rechts ab, zu dessen Ergänzung er jeweils herangezogen wird: Bundesrecht wird durch bundesrechtliche allgemeine Grundsätze, Landesrecht wird durch landesrechtliche allgemeine Grundsätze ergänzt (BVerwG, Beschluss vom 1.2.2005 – 7 B 115/04 – juris).
107
Der Grundsatz von Treu und Glauben ist aber nicht geeignet, das Fehlen einer normativen zeitlichen Höchstgrenze für die Beitragserhebung auszugleichen (BVerwG, Beschlüsse vom 10.9.2019 – 9 B 40.18 – juris Rn. 7 und vom 8.3.2017 – 9 B 19.16 – juris Rn. 45; Urteil vom 15.4.2015 – 9 C 15.14 – juris Rn. 13). Denn der einzelfallbezogene, von unbestimmten Rechtsbegriffen und einer Abwägungsentscheidung abhängige Einwand einer treuwidrigen Rechtsausübung verschafft dem Bürger keine Klarheit über den Zeitpunkt, ab dem seine Heranziehung ausgeschlossen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10.9.2019, a. a. O., juris Rn. 7 und vom 6.9.2018 – 9 C 5.17 – juris Rn. 38; a. A. BVerwG, Urteil vom 20.3.2014 – 4 C 11.13 – BVerwGE 149, 211 = juris Rn. 28 ff.). Insoweit verbleibt für den Grundsatz von Treu und Glauben erst recht kein Raum, wenn der Gesetzgeber – wie vorliegend – eine verfassungsrechtliche Höchstgrenze für die Beitragsfestsetzung bestimmt hat.
108
6. Der Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides können die Kläger auch nicht den Einwand der Verwirkung entgegenhalten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5.3.2013, a. a. O., juris Rn. 48). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 17.8.2011 – 3 B 36.11 – BeckRS 2011, 53777 = juris Rn. 5; vom 12.1.2004 – 3 B 101.03 – NVwZ-RR 2004, S. 314 = juris Rn. 3) und des Bundesfinanzhofs (vgl. nur BFH, Beschluss vom 20.4.2006 – VII B 332/05 – juris Rn. 12 m. w. N.) erfordert Verwirkung nicht nur, dass seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts längere Zeit verstrichen ist. Es müssen vielmehr besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen. Diese Voraussetzung ist selbst in den Fällen der Beitragserhebung nach scheinbarem Ablauf der Festsetzungsfrist regelmäßig nicht erfüllt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5.3.2013, a. a. O., juris Rn. 48).
109
Soweit die Kläger sich darauf berufen, dass die Beklagte dem früheren Kläger im Vorfeld des im Jahr 1997 abgeschlossenen Kaufvertrages mitgeteilt habe, dass die Straße „Am Helleberg“ „endausgebaut“ sei, lässt sich hieraus nicht schließen, dass für diesen Ausbau künftig keine Erschließungsbeiträge erhoben würden. Vielmehr besteht für die Gemeinden im Falle von Erschließungsbeiträgen aufgrund der Vorschriften in § 127 Abs. 1 i. V. m. § 132 BauGB eine gesetzliche Beitragserhebungspflicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.1.1982 – 8 C 24.81 – juris Rn. 15 m. w. N.). Die Kläger haben auch nicht schlüssig dargetan, warum ihr Rechtsvorgänger im Hinblick auf diese gesetzliche Beitragserhebungspflicht nicht hätte erwarten müssen, dass die Beklagte die Anlieger bzw. ihn als Käufer und Grundstückseigentümer nicht für die erst ein Jahr zuvor abgeschlossene Erschließungsmaßnahme heranziehen werde. Dass es dem Kaufvertrag an einer entsprechenden Regelung über die nicht abgerechneten Erschließungsbeiträge fehlt, vermag zwar unter Umständen einen Schadensersatzanspruch gegenüber dem Notar begründen (vgl. BGH, Urteil vom 28.4.1994 – IX ZR 161/93 – juris), lässt aber ebenfalls nicht auf ein treuwidriges Verhalten der Beklagten schließen, zumal ein Verzicht auf die Erhebung von Erschließungsbeiträgen wegen des Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot die Nichtigkeit des Kaufvertrages zur Folge gehabt hätte (BVerwG, Urteil vom 27.1.1982, a. a. O., juris Rn. 15). Allein der Umstand, dass der Erschließungsbeitrag unter den engen Voraussetzungen des § 133 Abs. 3 Satz 5 BauGB – in Durchbrechung des grundsätzlichen Verbots von vertraglichen Vereinbarungen über die Erhebung von Abgaben – hätte abgelöst werden können, begründet ebenfalls nicht ein treuwidriges Verhalten der Beklagten, zumal eine Ablösung nicht Vertragsgegenstand geworden ist. Ebenso wenig führte die Heranziehung u. a. des Rechtsvorgängers der Kläger zu Straßenreinigungsgebühren für den Zeitraum 2003 bis 2014 einen die Verwirkung der Festsetzung des Erschließungsbeitrags begründenden Vertrauenstatbestand herbei. Die Beklagte nahm mit Bescheid vom 7. August 2014 sämtliche – auch bestandskräftige – Straßenreinigungsgebührenbescheide mit der Begründung zurück, eine Überprüfung hätte ergeben, dass die Erhebung aufgrund der fehlenden Widmung „Am Helleberg“ rechtswidrig gewesen sei. Die fehlerhafte Annahme seitens der Beklagten, die Voraussetzungen für den Erlass von Straßenreinigungsgebührenbescheiden seien gegeben, vermag kein Vertrauen im Hinblick auf die Festsetzung eines Erschließungsbeitrages zu begründen. Im Übrigen konnte der Rechtsvorgänger der Kläger auch nicht bis zum Erlass des Beitragsbescheides vom 29. Januar 2016 darauf vertrauen, nicht zu einem Erschließungsbeitrag herangezogen zu werden. Bereits am 6. Dezember 2013 hatte die Beklagte einen Vorausleistungsbescheid für das veranlagte Grundstück erlassen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hatte der Rechtsvorgänger der Kläger Kenntnis davon, dass die Beklagte beabsichtigte, ihn zu Erschließungsbeiträgen heranzuziehen.
110
Ungeachtet dessen konnte allein die fehlende Widmung auch deshalb keinen Vertrauenstatbestand im Hinblick auf die Erhebung von Erschließungsbeiträgen begründen, weil es auch an einem die gesamte Straße als Verkehrsfläche festsetzenden Bebauungsplan fehlte, der – soweit keine Abwägungsentscheidung nach § 125 Abs. 2 BauGB vorliegt – ebenfalls Voraussetzung für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ist. Dieser trat erst am 6. August 2015 in Kraft.
111
7. Ist danach eine Beitragserhebung weder verjährt noch aus sonstigen rechtlichen Gründen ausgeschlossen, erweist sich die Heranziehung des Rechtsvorgängers der Kläger zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 2.949,48 € für sein Buchgrundstück (Flurstücke K. und L.) auch im Übrigen als rechtmäßig. Die sachliche Beitragspflicht ist vorliegend – wie ausgeführt – mit der Widmung der Straße „Am Helleberg“ am 11. November 2015 entstanden. Der verstorbene Rechtsvorgänger der Kläger war als Eigentümer des Grundstücks im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Erschließungsbeitragsbescheides gemäß § 134 Abs. 1 Satz 1 BauGB persönlich beitragspflichtig und damit rechtmäßiger Adressat.
112
Die Kläger haben schließlich die Höhe der Beitragsfestsetzung nicht angegriffen. Dem Senat liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beitragsfestsetzung überhöht und deshalb im Ergebnis rechtswidrig ist und die Kläger daher in ihren Rechten verletzt. Es kann insbesondere offen bleiben, ob die Beklagte die Zuwendung des Landes Niedersachsen mit Bescheid vom 4. April 1990 i. H. v. 31.700,10 € für den nördlichen Teil der Erschließungsanlage zutreffend allein zugunsten der Anlieger vom umlagefähigen Erschließungsaufwand statt vom Gemeindeanteil abgezogen hat, denn dadurch wäre die Beitragsfestsetzung allenfalls zu niedrig ausgefallen.
113
8. Soweit die Kläger in der mündlichen Verhandlung die Aufrechnung mit einem angeblichen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch in Höhe der Beitragsfestsetzung erklärt haben, den sie darauf stützen, dass die Beklagte vor Abschluss des Kaufvertrages für das streitgegenständliche beitragspflichtige Grundstück nicht auf die künftige Erhebung von Erschließungsbeiträgen hingewiesen habe, lässt dies die Rechtmäßigkeit der Beitragsfestsetzung unberührt (vgl. etwa OVG SH, Urteil vom 4.9.2014 – 4 LB 3/13 – juris Rn. 46).
114
Im Übrigen haben die Kläger – unabhängig davon, ob der Zahlungsanspruch der Beklagten nicht bereits durch Erfüllung entsprechend § 47 AO erloschen ist – nicht die Möglichkeit der Aufrechnung, da die klägerseits behauptete Gegenforderung aus einem Schadensersatzanspruch weder rechtskräftig festgestellt noch unbestritten ist (§ 11 Abs. 1 Nr. 5a) NKAG i. V. m. § 226 Abs. 3 AO). Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung auf die Aufrechnungserklärung der Kläger deren Anspruch sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach bestritten.
III.
115
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO.
116
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
117
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Tenor
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Regierungspräsidiums T. vom 16.08.2018 verpflichtet, dem Kläger die – um die Angabe des Namens und der Adresse der jeweiligen beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln sowie die flurstücksgenaue Bezeichnung der jeweiligen genutzten Flächen geschwärzten – anonymisierten Aufzeichnungen nach Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 über die verwendeten Pflanzenschutzmittel im Wasserschutzgebiet D.-H. der Kalenderjahre 2017 bis 2019 durch Zusendung per Mail oder per Post zugänglich zu machen.Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt den Zugang zu Umweltinformationen über von Landwirten verwendete Pflanzenschutzmittel im Wasserschutzgebiet D.-H.
2 Der Kläger ist 1965 als selbstständiger kommunaler Zweckverband gegründet worden, und seine Mitglieder sind 106 Städte, Gemeinden und kommunale Zweckverbände. Seine Aufgabe (vgl. § 2 Abs. 1 der Verbandssatzung des Klägers) besteht in der Bereitstellung von Wasser für die öffentliche Versorgung der Verbandsmitglieder. Er beliefert jährlich rund 250 Städte und Gemeinden und etwa drei Millionen Menschen in Baden-Württemberg und Bayern mit etwa 90 Millionen m³ Trinkwasser. Zur Erfüllung seiner Versorgungsaufgabe nutzt er auf der Basis wasserrechtlicher Bewilligungen das Grundwasservorkommen im D., die B. im E. (O.), Flusswasser aus der Donau und im Rahmen eines dauerhaften Bezugsrechts Wasser vom Zweckverband B.-Wasserversorgung. Das Vorkommen D.-H. stellt dabei sein wichtigstes Standbein dar. Die Fassungen 2 bis 5 des Grundwasservorkommens im D. liegen im Landkreis A.- Kreis, die Fassungen 1 und 6 dagegen im Landkreis H.
3 Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 27.03.2018 bei den Landratsämtern A.- Kreis, H. und O.-Kreis Zugang zu den begehrten Aufzeichnungen. Das Landratsamt O.-Kreis lehnte diesen Antrag stellvertretend ab und verwies zur Begründung im Wesentlichen darauf, dass die Landratsämter in Abstimmung mit dem Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz der Ansicht seien, dass sie nicht über die gewünschten Informationen verfügten. Daraufhin wendete sich der Kläger im Hinblick auf das E. an das Regierungspräsidium S. und im Hinblick auf das Gebiet D.-H. an das Regierungspräsidium T.
4 Das Regierungspräsidium S. lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 20.08.2018 ab. Dagegen erhob der Kläger unter dem Aktenzeichen 14 K 9469/18 am 20.09.2018 Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat der Klage mit Urteil vom 10.06.2020 stattgegeben und die Berufung zugelassen. Der Beklagte hat in dem Verfahren Berufung eingelegt, über die noch nicht entschieden ist.
5 Der Kläger beantragte beim Regierungspräsidium T. mit Schreiben vom 19.07.2018 den Zugang zu Aufzeichnungen nach § 11 Abs. 1 PflSchG über die verwendeten Pflanzenschutzmittel im Wasserschutzgebiet D.-H. aus den Jahren 2015 bis 2017 durch Zusendung per Mail oder Post. Der Kläger leitete seinen diesbezüglichen Anspruch primär aus § 24 UVwG, hilfsweise aus Art. 67 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates (VO (EG) 1107/2009), weiter hilfsweise aus § 11 Abs. 3 PflSchG her. Hintergrund des Informationsbegehrens seien Positivbefunde des Spritzmittels Glyphosat sowie verschiedener Neonicotinoide in der Donau sowie in Bächen und Gräben im D. Der höchste nachgewiesene Glyphosatwert stamme aus dem Hauptgraben XI bei L. (A.- Kreis). Den zweithöchsten Wert habe man in der Nau wenige Hundert Meter von Trinkwasserbrunnen im D. festgestellt.
6 Ein Anspruch auf Zugang zu den begehrten Informationen bestehe nach § 24 UVwG. Er sei nach § 24 Abs. 1 Satz 1 UVwG anspruchsberechtigt, da er die öffentliche Wasserversorgung als weisungsfreie Pflichtaufgabe der Daseinsvorsorge wahrnehme. Die Versorgung der Öffentlichkeit mit Trinkwasser und die Sicherung der Trinkwasserqualität stellten eine Umweltaufgabe dar. Bei den begehrten Aufzeichnungen handle es sich auch um Umweltinformationen im Sinne des § 24 Abs. 1 UVwG. Dies folge aus § 23 Abs. 3 Nr. 2 UVwG bzw. Art. 2 Nr. 1b UIRL. Das Regierungspräsidium T. sei nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UVwG i. V. m. § 59 Abs. 2 Nr. 8 PflSchG i. V. m. § 9 Abs. 3 Satz 1 Landwirtschafts-Zuständigkeitsverordnung auch informationspflichtige Stelle.
7 Der Beklagte verfüge nach den Ausführungen des Landratsamts O.-Kreis zwar nicht im Sinne des § 24 Abs. 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 UVwG über die begehrten Informationen, halte diese jedoch im Sinne des § 24 Abs. 4 Satz 2 UVwG bereit. Die informationspflichtige Stelle habe gegenüber den Landwirten ausweislich des klaren Wortlauts der Vorschrift einen Übermittlungsanspruch nach Art. 67 Abs. 1 Uabs. 2 Satz 1 VO (EG) 1107/2009. Die Aufzeichnungspflicht stelle auch ein Instrument der Selbstüberwachung dar. Die Aufzeichnungspflicht solle dazu führen, dass sich die Verwender von Pflanzenschutzmitteln an die gesetzlichen Vorgaben erinnerten, und sie für ihren Umgang mit Pflanzenschutzmitteln zu sensibilisieren. Auf diese Weise könnten Verwender von Pflanzenschutzmitteln gegen zu erwartende Verstöße frühzeitig gegensteuern, und das Erfordernis behördlichen Einschreitens werde reduziert, was zur Entlastung der staatlichen Stellen beitrage. Zudem stellten die Aufzeichnungen nach Art. 67 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 die Grundlage staatlicher Überwachungsmaßnahmen dar.
8 Die begehrten Informationen müssten von den Landwirten auch nicht erst aufgrund von Aufsichtsmaßnahmen an die informationspflichtige Stelle herausgeben werden. Der Wortlaut des § 67 Abs. 1 Uabs. 2 Satz 1 VO (EG) 1107/2009 sei diesbezüglich eindeutig, da er nur eine Anfrage, nicht aber eine Aufsichtsmaßnahme erfordere. Aufsichtsmaßnahmen knüpften repressiv an eine bereits eingetretene Zuwiderhandlung an, während Überwachungsmaßnahmen präventiv/zeitlich vorgelagert seien und dazu dienten, zu prüfen, ob das Verhalten des Überprüften mit dem Sollzustand vereinbar sei. Die Aufzeichnungen nach Art. 67 VO (EG) 1107/2009 seien anlasslos zu fertigen, und einer Aufsichtsmaßnahme bedürfe es nicht.
9 Hilfsweise ergebe sich ein Anspruch auf Zugang zu den begehrten Informationen auch aus Art. 67 Abs. 1 Satz 4 VO (EG) 1107/2009 und höchst hilfsweise aus § 11 Abs. 3 PflSchG.
10 Das Regierungspräsidium T. lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 16.08.2018 – dem Kläger zugestellt am 17.08.2018 - ab.
11 Zur Begründung führte das Regierungspräsidium T. aus, dass die Voraussetzungen der drei vom Kläger angeführten Anspruchsgrundlagen nicht erfüllt seien.
12 Das Regierungspräsidium verfüge nicht im Sinne des § 23 Abs. 4 UVwG über die entsprechenden Umweltinformationen, da diese dort weder vorhanden seien noch für es bereitgehalten würden.
13 Nach der Gesetzesbegründung entspreche der Begriff des Bereithaltens in § 23 Abs. 4 UVwG dem (gleichlautenden) aus § 2 Abs. 4 UIG (LT-Drs. 15/5487, S. 83). Nach der Gesetzesbegründung zum UIG erfasse dies zwei Fälle: dass sich die informationspflichtige Stelle Dritter bediene, die selbst keine informationspflichtigen Stellen seien, sowie Fälle, in denen Unternehmen aufgrund einer speziellen Rechtsvorschrift oder eines Verwaltungsaktes Messberichte oder andere Umweltinformationen für einen bestimmten Zeitraum für die informationspflichtigen Stellen aufbewahren und auf entsprechende Anforderung herauszugeben hätten (BT-Drs. 15/3406, Seite 15). Der erste Fall liege nicht vor. Der zweite Fall erfordere nach Rechtsprechung und Literatur, dass das Unternehmen im Rahmen einer Selbstüberwachung verpflichtet sei.
14 Die Landwirte seien gerade nicht zur Selbstüberwachung verpflichtet. Eine entsprechende Pflicht müsse sich aus dem PflSchG ergeben, was jedoch nicht der Fall sei. Sinn und Zweck der Aufzeichnungspflichten von Pflanzenschutzanwendungen durch Landwirte bestehe darin, dass sachgerechte Kontrollen über die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln durchgeführt werden könnten bzw. dass im Falle von Auffälligkeiten die Nachvollziehbarkeit sichergestellt sei. Dies ergebe sich bereits aus der Überschrift des § 11 PflSchG („Aufzeichnungs- und Informationspflichten“), da eine Aufzeichnungspflicht nicht die weitergehende Pflicht der Selbstüberwachung beinhalte. Die Ausführungen des Klägers könnten eine Pflicht der Selbstüberwachung nicht überzeugend begründen. Es könne nicht generalisierend davon ausgegangen werden, dass die Aufzeichnungspflichten den Verwendern die Anwendung der Pflanzenschutzmittel vor Augen führen sollten. Selbst wenn man davon ausgehe, könne hieraus nicht auf eine Pflicht zur Selbstüberwachung gefolgert werden. Aufgrund der Aufzeichnungspflichten müssten die Verwender allein korrekte Notizen anfertigen. Sofern der Kläger darauf abstelle, dass die Aufzeichnungen als Grundlage für staatliche Überwachungsmaßnahmen dienen könnten, so verdeutliche dies gerade, dass die Überwachungsbehörde eine Prüfpflicht habe und dass eben keine Pflicht zur Selbstüberwachung bestehe. Auch aus der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/7317, S. 45) ergebe sich keine Selbstüberwachungspflicht der Landwirte. Dass der vorliegende Fall nicht unter das Bereithalten falle, ergebe sich auch aus einem Normvergleich mit § 61 Abs. 2 Satz 2 WHG. In § 61 Abs. 1 WHG habe der Gesetzgeber den Begriff der „Selbstüberwachung“ legaldefiniert und nehme in § 61 Abs. 2 Satz 2 WHG darauf Bezug. § 11 PflSchG sei hingegen mit „Aufzeichnungs- und Informationspflichten“ überschrieben.
15 Ein Bereithalten scheide laut der Gesetzesbegründung zudem aus, sofern die begehrten Umweltinformationen erst aufgrund einer Aufsichtsmaßnahme herausgegeben werden müssten (BT-Drs. 15/3406, S. 15). Vorliegend stelle bereits das Verlangen bzw. Anfragen der aufgezeichneten Daten eine Aufsichtsmaßnahme dar, da keine anlassunabhängige Informationspflicht bestehe. Die Behörde müsse vorliegend aktiv auf die Landwirte zugehen – was wohl als Verwaltungsakt zu werten wäre – und die Daten verlangen.
16 Es bestehe auch kein Anspruch des Klägers aus Art. 67 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 oder aus § 11 Abs. 3 PflSchG.
17 Gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums T. vom 16.08.2018 hat der Kläger am 17.09.2018 die vorliegende Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben.
18 Zur Begründung nimmt der Kläger Bezug auf seine Ausführungen aus seinem Antrag vom 19.07.2018 und ergänzt diese.
19 Die Klage sei zulässig, soweit durch den Hauptantrag nunmehr die Herausgabe der Aufzeichnungen der Jahre 2017 bis 2019 verlangt werde. Da dieses Anliegen über die bei Klageerhebung geltend gemachte Herausgabe der Aufzeichnungen der Jahre 2015 bis 2017 hinausgehe, liege eine Klageänderung vor, die sachgerecht und somit zulässig sei. Dies ergebe sich daraus, dass auch die im Wege des Hauptantrags verfolgte, geänderte Klage als solche zulässig sei. Hinsichtlich der Jahre 2018 und 2019 sei zwar kein Verwaltungsverfahren durchgeführt worden, der Beklagte könne ihn nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urteil vom 14.07.2010 – 11 S 2730/09 –, Rn. 22, Juris) jedoch nicht auf die erneute Durchführung eines erneuten Verwaltungsverfahrens verweisen. Ein erneutes Antragsverfahren sei nicht erforderlich, da der Beklagte sich mit dem Streitstoff bereits befasst habe und allenfalls unwesentliche Änderungen in den Streitstoff eingeführt würden. Die Durchführung eines weiteren Verwaltungsverfahrens stelle sich zudem als pure „Förmelei“ dar, da ein entsprechender Antrag vom Beklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgelehnt würde. Dies ergebe sich daraus, dass der Beklagte im gleich gelagerten und vom VG Stuttgart entschiedenen Fall – 14 K 9469/18 – die Berufung eingelegt habe und im vorliegenden Verfahren trotz der Entscheidung des VG Stuttgart an seiner Rechtsauffassung festhalte. Der Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, einen erneuten Antrag nach einer möglichen Entscheidung des VGH Baden-Württemberg im Berufungsverfahren des vom VG Stuttgart entschiedenen Falles zu bescheiden, da mit einer Entscheidung des VGH Baden-Württemberg nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen zeitlichen Grenzen (§ 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 UVwG; § 75 Satz 2 VwGO) zu rechnen sei. Auch auf der Durchführung eines weiteren Widerspruchsverfahrens durch das Regierungspräsidium T. könne der Beklagte nicht bestehen. Das Regierungspräsidium T. stehe in enger Abstimmung mit dem Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, sodass mit einer abweichenden Entscheidung nicht zu rechnen sei.
20 Auch der Hilfsantrag sei zulässig. Nach Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 führten die beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln Aufzeichnungen über „mindestens“ drei Jahre. Dies bedeute, dass die Herausgabepflicht nicht auf die letzten drei Jahre beschränkt sei, sondern auch ältere Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen seien, sofern sie bei den Verwendern vorhanden seien. Dass bei den Verwendern noch Informationen hinsichtlich der Jahre 2015 und 2016 vorlägen, sei nicht auszuschließen. Damit habe sich das Informationsbegehren auch hinsichtlich der Jahre 2015 und 2016 nicht erledigt. Jedenfalls bestehe ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse.
21 Die Klage sei auch begründet. § 1 Abs. 3 UVwG stehe seinem Anspruch aus § 24 Abs. 1 Satz 1 UVwG nicht entgegen. § 1 Abs. 3 UVwG finde auf Umweltinformationen nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck keine Anwendung. § 1 Abs. 3 UVwG regle das allgemeine Verhältnis von Bundesrecht und Landesrecht, wie es sich aus Art. 31 GG ergebe. Für den vorliegenden Anspruch gelte jedoch der speziellere § 24 Abs. 1 Satz 2 UVwG, wonach neben dem landesrechtlichen Anspruch auf Zugang zu Umweltinformationen andere Ansprüche unberührt blieben. § 24 Abs. 1 Satz 2 UVwG entspreche § 3 Abs. 1 Satz 2 UIG. Beide Vorschriften dienten der Umsetzung der UIRL und sollten somit sicherstellen, dass Umweltinformationen möglichst umfassend und systematisch verfügbar seien. Das UIG und § 24 Abs. 1 Satz 2 UVwG setzten in Bezug auf Umweltinformationen einen Mindeststandard, verdrängten weitergehende Regelungen aus Fachgesetzen aber nicht. Würde § 1 Abs. 3 UVwG jedoch dahingehend ausgelegt, dass § 11 Abs. 3 PflSchG die Anwendung der §§ 22 ff. UVwG ausschließe, bliebe der Zugang zu Umweltinformationen deutlich hinter dem Anspruch der Umweltinformationsrichtlinie und nach § 24 Abs. 1 Satz 1 UVwG zurück. § 1 Abs. 3 UVwG müsse daher unionsrechtskonform dahingehend reduziert werden, dass er im Regelungsbereich der UIRL und damit auf den Zugang zu Informationen nach Maßgabe von §§ 24 ff. UVwG nicht anwendbar sei. § 1 Abs. 3 UVwG betreffe zudem nicht das Verhältnis zu Unionsrecht und habe somit keinen Einfluss auf Art. 67 Abs. 1 VO (EG) 1107/2009, aus dem ihm ebenfalls ein Anspruch zustehe. Selbst falls § 1 Abs. 3 UVwG anwendbar wäre, griffe die Regelung nicht, da § 11 Abs. 3 PflSchG aufgrund seiner Unionsrechtswidrigkeit unanwendbar sei.
22 Der Beklagte verfüge auch über die Umweltinformationen, da die Landwirte diese für ihn bereithielten (§ 24 Abs. 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1, 2 UVwG).
23 Entgegen der Ansicht des Beklagten müssten die Verwender nicht im Rahmen der Selbstüberwachung zur Aufbewahrung der begehrten Informationen verpflichtet sein. Ein solches Tatbestandsmerkmal folge weder aus § 23 Abs. 4 UVwG noch aus § 2 Abs. 4 UIG oder aus der UIRL. Auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/7317, S. 45) sei nicht eindeutig. Die Selbstüberwachung sei demnach zwar Anlass für die Ausdehnung des Informationsanspruchs auf bereitgehaltene Informationen, der Anspruch betreffe aber nicht deshalb nur Informationen, die im Rahmen der Selbstüberwachungspflicht aufbewahrt würden. Es sei kein Grund ersichtlich, Informationen, die vorrangig der Fremdüberwachung dienten, von dem Anspruch auszunehmen. Auch aus dem vom Beklagten zitierten Beschluss des BVerwG ergebe sich ein solches Tatbestandsmerkmal nicht eindeutig.
24 Hilfsweise seien die Verwender im Rahmen der Selbstüberwachung verpflichtet, die begehrten Informationen aufzubewahren. Dies ergebe sich aus Erwägungsgrund Nr. 44 der VO (EG) 1107/2009. Durch die Aufzeichnungspflicht würden die staatlichen Behörden auch zeitlich und finanziell entlastet (vgl. Erwägungsgrund 44), was für eine Selbstüberwachungspflicht spreche. Dies ergebe auch ein Vergleich des Sinns und Zwecks der Norm in Vergleich zu § 61 Abs. 2 WHG, der eine Selbstüberwachungspflicht auch ausdrücklich vorsehe. Vom Sinn und Zweck her entsprächen sich die Pflichten des Betreibers einer Abwasseranlage (§ 61 Abs. 2 Satz 1 WHG) und des Bewirtschafters einer landwirtschaftlichen Fläche.
25 Es bestehe auch ein Anspruch aus Art. 67 Abs. 1 VO (EG) 1107/2009 sowie aus § 11 Abs. 3 PflSchG.
26 Der Kläger beantragt zuletzt,
27 den Beklagten zu verpflichten, ihm die – um die Angabe des Namens und der Adresse der jeweiligen beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln sowie die flurstücksgenaue Bezeichnung der jeweiligen genutzten Flächen geschwärzten – anonymisierten Aufzeichnungen nach Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 über die verwendeten Pflanzenschutzmittel im Wasserschutzgebiet D.-H. der Kalenderjahre 2017 bis 2019 durch Zusendung per Mail oder per Post zugänglich zu machen,
28 hilfsweise
29 den Beklagten zu verpflichten, ihm die – um die Angabe des Namens und der Adresse der jeweiligen beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln sowie die flurstücksgenaue Bezeichnung der jeweiligen genutzten Flächen geschwärzten – anonymisierten Aufzeichnungen nach Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 über die verwendeten Pflanzenschutzmittel im Wasserschutzgebiet D.-H. des Jahres 2017 durch Zusendung per Mail oder per Post zugänglich zu machen undfestzustellen, dass der Beklagte verpflichtet war, ihm die – um die Angabe des Namens und der Adresse der jeweiligen beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln sowie die flurstücksgenaue Bezeichnung der jeweiligen genutzten Flächen geschwärzten – anonymisierten Aufzeichnungen nach Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 über die verwendeten Pflanzenschutzmittel im Wasserschutzgebiet D.-H. der Jahre 2015 und 2016 durch Zusendung per Mail oder per Post zugänglich zu machen,
30 und den Bescheid des Regierungspräsidiums T. vom 16.08.2018 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
31 Der Beklagte beantragt,
32 die Klage abzuweisen.
33 Zur Begründung nimmt der Beklagte Bezug auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid des Regierungspräsidiums T. und macht ergänzende Ausführungen.
34 Die Klage sei im (geänderten) Hauptantrag bereits unzulässig. Zwar sei die Durchführung eines Vorverfahrens ursprünglich entbehrlich gewesen und man habe sich hinsichtlich der begehrten Aufzeichnungen der Jahre 2015 bis 2017 rügelos auf die Klage eingelassen. Soweit mit dem Hauptantrag inzwischen jedoch auch die Aufzeichnungen der Jahre 2018 und 2019 begehrt würden, willige er in die Klageänderung nicht ein und diese sei auch nicht sachdienlich. Dies ergebe sich daraus, dass diesbezüglich ein weiteres Antrags- und ggf. Widerspruchsverfahren durchzuführen sei. Der Ausgang dieser Verfahren sei aufgrund des hinsichtlich des Urteils des VG Stuttgart – 14 K 9469/18 – laufenden Berufungsverfahrens als offen zu betrachten.
35 Darüber hinaus sei das Begehren auch insgesamt aus sachlichen Gründen unbegründet. Einem Anspruch des Klägers aus § 24 UVwG stehe bereits § 1 Abs. 3 UVwG entgegen, da eine abweichende bundesrechtliche Regelung im Sinne dieser Vorschrift mit § 11 Abs. 3 PflSchG bestehe, der im Gegensatz zu § 24 UVwG engere Tatbestandsvoraussetzungen beinhalte (Wahrung des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses; Vorliegen eines berechtigten Interesses) und zudem ein Ermessen der Behörde eröffne. Somit komme § 24 UVwG aufgrund des § 1 Abs. 3 UVwG, aufgrund des Grundsatzes der Normenhierarchie sowie aufgrund des Prinzips „lex specialis derogat legi generali“ nicht zur Anwendung. § 11 Abs. 3 PflSchG sei auch nicht wegen Verstoßes gegen die UIRL unionsrechtswidrig. Dies ergebe sich daraus, dass die VO (EG) 1107/2009 der UIRL unter Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze vorgehe. Die VO (EG) 1107/2009 gehe der UIRL als neuerer Rechtsakt nach den Grundsätzen „lex posterior derogat legi priori“ und „lex specialis derogat legi generali“ vor. Sofern das Gericht Zweifel am Rangverhältnis dieser Normen und ihrer Auslegung habe, möge es die Fragen dem Gerichtshof der Europäischen Union im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens vorlegen.
36 Dem Gericht liegt die Akte des Regierungspräsidiums T. vor. Hierauf und auf die Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
37 Die Klage hat im Hauptantrag Erfolg; sie ist insoweit zulässig und begründet. Einer Entscheidung über den Hilfsantrag bedarf es somit nicht.I.38 Die Klage ist zulässig.39 Sie ist als Verpflichtungsklage statthaft. Die vom Kläger begehrte Übermittlung von Umweltinformationen stellt zwar einen bloßen Realakt und keinen Verwaltungsakt dar, jedoch ist der Landesgesetzgeber davon ausgegangen, dass die Entscheidung über ein Auskunftsbegehren einen Verwaltungsakt darstelle (vgl. zu § 3 Abs. 1 LUIG Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 25.11.2008 – 10 S 2702/06 –, Rn. 17, Juris). Die Klage ist auch in ihrer im Vergleich zur Klageerhebung geänderten Form zulässig. Da die Klage ursprünglich auf den Zugang zu den Aufzeichnungen der Kalenderjahre 2015 bis 2017 gerichtet war, liegt eine Klageänderung vor, die das Gericht für sachdienlich erachtet und die somit nach § 91 Abs. 1 Var. 2 VwGO auch ohne die Einwilligung des Beklagten zulässig ist. An der Sachdienlichkeit fehlt es nicht aufgrund des Fehlens eines auf Zugang zu den Aufzeichnungen der Jahre 2018 und 2019 gerichteten Antrags beim Regierungspräsidium T. (dazu 1.) sowie der fehlenden Durchführung eines Vorverfahrens (dazu 2.).40 1. Hinsichtlich des Zugangs zu den Aufzeichnungen der Jahre 2018 und 2019 bedarf es keines erneuten Antrags des Klägers beim Regierungspräsidium T.41 Zwar setzt eine Verpflichtungsklage grundsätzlich einen vor der Klageerhebung bei der Behörde gestellten Antrag voraus (siehe zur Notwendigkeit der Antragstellung als eine im Prozess nicht nachholbare Klagevoraussetzung der Verpflichtungsklage näher Kopp/Schenke, VwGO 24. Auflage 2018 Vorb. § 68 Rn. 5a und § 42 Rn. 6 m. w. N.). Die Verweisung auf die Durchführung eines - erneuten - Antragsverfahrens ist jedoch dann nicht gerechtfertigt, wenn der Zweck der vorherigen Antragstellung, nämlich der Behörde die Möglichkeit einzuräumen, eine Angelegenheit innerhalb des üblichen Verwaltungsverfahrens zu prüfen, ausnahmsweise entbehrlich ist, weil die Behörde mit dem Sachverhalt bereits befasst war und allenfalls unwesentliche Änderungen in den Streitstoff eingeführt werden (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.07.2010 – 11 S 2730/09 –, Rn. 22, Juris; Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 37 m. w. N.).42 So liegt der Fall hier. Der nunmehr verfolgte Auskunftsanspruch hinsichtlich der Jahre 2018 und 2019 ist zwar rechtlich eigenständig, jedoch inhaltlich identisch mit dem bereits im vorliegenden Verwaltungs- sowie Gerichtsverfahren verfolgten und ausführlich erörterten Anspruch hinsichtlich der Jahre 2015 bis 2017. Dass die erneute Befassung des Beklagten mit dem Auskunftsanspruch der Jahre 2018 und 2019 zu einem anderen Ergebnis führen könnte, ist vor diesem Hintergrund ausgeschlossen. Dafür spricht weiter, dass der Beklagte im vorliegenden Verfahren betont hat, an seiner Rechtsauffassung festzuhalten und eine Berufung verfolgen zu wollen. Auch in drei verwandten und bereits entschiedenen verwaltungsgerichtlichen Verfahren (VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –; VG Stuttgart, Urteil vom 10.06.2020 – 14 K 9469/18 –; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 13.07.2020 – 10 K 1230/19 –, jeweils Juris) hat der Beklagte gegen die stattgebenden Urteile Berufung eingelegt. An dieser Bewertung vermag der vom Beklagten geäußerte Einwand, dass der Ausgang eines erneuten Verwaltungsverfahrens aufgrund der in den o. g. Rechtssachen laufenden Berufungsverfahren als offen zu betrachten sei, nichts zu ändern. Abzustellen ist hinsichtlich der Vorbefassung und der weitgehenden Identität des Streitstoffs auf den gegenwärtigen Zeitpunkt. Darüber hinaus kann der Kläger nicht auf ein weiteres Antragsverfahren verwiesen werden, dass den Ausgang der o. g. Berufungsverfahren abwartet.43 2. Da demnach schon kein weiteres Antragsverfahren hinsichtlich der Jahre 2018 und 2019 durchzuführen ist, bedarf es auch nicht der Durchführung eines grundsätzlich erforderlichen (vgl. § 32 Abs. 2 i. V. m. § 23 Abs. 1 Nr. 1 UVwG) weiteren Vorverfahrens.44 Der Zweck des Vorverfahrens ist vorliegend darüber hinaus erfüllt. Erfüllt ist der Zweck eines Vorverfahrens, wenn die Widerspruchsbehörde selbst am Verfahren beteiligt ist und nach einer Sachprüfung im Wege einer vorgerichtlichen Erklärung oder einer prozessbegleitenden Einlassung zum Ausdruck bringt, sie würde einen (künftigen) Widerspruch zurückweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2018 – 7 C 21/16 –, Rn. 19 - 20, Juris m. w. N). So liegt es hier. Das Regierungspräsidium T. hat im vorliegenden Verfahren mehrfach betont, an seiner Rechtsauffassung festhalten zu wollen.II.45 Die Klage ist auch begründet. Die Ablehnung der Gewährung der begehrten Aufzeichnungen durch den Bescheid des Regierungspräsidiums T. vom 16.08.2018 ist rechtswidrig und der Kläger ist dadurch in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).46 Der Anspruch des Klägers beruht auf § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG, dessen Anwendbarkeit aufgrund der Europarechtswidrigkeit des § 11 Abs. 3 PflSchG nicht nach § 1 Abs. 3 UVwG ausgeschlossen wird (dazu 1.) und dessen Voraussetzungen erfüllt sind, da die begehrten Aufzeichnungen insbesondere nach § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG für den Beklagten bereitgehalten werden (dazu 2.). Gegenrechte können ihm nicht mit Erfolg entgegengehalten werden (dazu 3.).47 Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 UVwG hat jede Person nach Maßgabe des Umweltverwaltungsgesetzes Anspruch auf freien Zugang zu Umweltinformationen, über die eine informationspflichtige Stelle im Sinne von § 23 Absatz 1 verfügt, ohne ein rechtliches Interesse darlegen zu müssen. Nach § 23 Abs. 4 Satz 1 UVwG verfügt eine informationspflichtige Stelle über Umweltinformationen, wenn diese bei ihr vorhanden sind oder für sie bereitgehalten werden. Ein Bereithalten liegt nach § 23 Abs. 4 Satz 2 UVwG vor, wenn eine natürliche oder juristische Person, die selbst nicht informationspflichtige Stelle ist, Umweltinformationen für eine informationspflichtige Stelle im Sinne von § 23 Abs. 1 UVwG aufbewahrt, auf die diese Stelle einen Übermittlungsanspruch hat.48 Dass der Kläger als Gebietskörperschaft eine juristische Person des Öffentlichen Rechts darstellt und damit anspruchsberechtigt ist, es sich bei den streitgegenständlichen Aufzeichnungen nach Art. 67 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 1107/2009 um Umweltinformationen handelt (vgl. § 23 Abs. 3 Nr. 2 UVwG bzw. Art. 2 Nr. 1b UIRL) und dass das Regierungspräsidium T. zuständige Stelle ist (vgl. § 23 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UVwG i. V. m. § 59 Abs. 2 Nr. 8 PflSchG i. V. m. § 9 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz über Zuständigkeiten in den Bereichen Markt und Ernährung, landwirtschaftliche Beratung, Tierzucht und anderen Bereichen vom 04.02.2010, i. d. F. vom 21.03.2016 (Landwirtschafts-Zuständigkeitsverordnung), steht zwischen den Beteiligten nicht (mehr) in Streit.49 1. Die Anwendbarkeit des § 24 Abs. 1 Satz 1 UVwG ist nicht nach § 1 Abs. 3 UVwG i. V. m. § 11 Abs. 3 PflSchG ausgeschlossen, weil § 11 Abs. 3 PflSchG mit Unionsrecht offensichtlich unvereinbar ist (vgl. ebenso im Ergebnis VG Stuttgart, Urteil vom 10.06.2020 – 14 K 9469/18 – Juris).50 Die Vorschriften des UVwG finden nach dessen § 1 Abs. 3 keine Anwendung, soweit bundesrechtliche Vorschriften eine abschließende Regelung treffen. Als solche bundesrechtliche Vorschrift kommt § 11 Abs. 3 PflSchG in Betracht, wonach die zuständige Behörde auf Antrag bei Vorliegen eines berechtigten Interesses und unter Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des Aufzeichnenden im Einzelfall Auskunft über die Aufzeichnungen geben kann. Die Pflicht der beruflichen Verwender zur Führung von Aufzeichnungen folgt aus Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009. Berufliche Verwender von Pflanzenschutzmitteln führen demnach über mindestens drei Jahre Aufzeichnungen über die Pflanzenschutzmittel, die sie verwenden, in denen die Bezeichnung des Pflanzenschutzmittels, der Zeitpunkt der Verwendung, die verwendete Menge, die behandelte Fläche und die Kulturpflanze, für die das Pflanzenschutzmittel verwendet wurde, vermerkt sind.51 Die Informationsansprüche aus § 24 UVwG und § 11 Abs. 3 PflSchG stehen zueinander in Normenkonkurrenz, wobei § 11 Abs. 3 PflSchG aufgrund seiner weiteren Tatbestandsmerkmale (Vorliegen eines berechtigten Interesses, Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, Ermessen der Behörde) grundsätzlich die speziellere Norm darstellt (VG Stuttgart, Urteil vom 10.06.2020 – 14 K 9469/18 –, Rn. 25, Juris m. w. N.) Die Unionsrechtswidrigkeit des § 11 Abs. 3 PflSchG folgt nach Auffassung des Gerichts daraus, dass die allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätze des Umweltinformationsrechts (insbesondere die Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates (Umweltinformationsrichtlinie: UIRL) mangels anderweitiger belastbarer unionsrechtlicher Anhaltspunkte auch im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel anwendbar sind, weil insbesondere die VO (EG) 1107/2009 diesbezüglich kein abweichendes Regelungsregime enthält (dazu a)). Die engeren Tatbestandsmerkmale des § 11 Abs. 3 PflSchG finden in den unionsrechtlichen Regelungen (insb. UIRL und VO (EG) 1107/2009) keine rechtliche Grundlage (dazu b)).52 a) Die allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätze des Umweltinformationsrechts (insbesondere die UIRL) sind auch auf Pflanzenschutzmittel anwendbar, und die VO (EG) 1107/2009 gibt diesbezüglich kein abweichendes Regelungsregime vor.53 Das unionsrechtlich begründete Umweltinformationsrecht gewährt grundsätzlich weitgehende Auskunftsansprüche: Nach Art. 3 Abs. 1 UIRL gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass Behörden gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie verpflichtet sind, die bei ihnen vorhandenen oder für sie bereitgehaltenen Umweltinformationen allen Antragstellern auf Antrag zugänglich zu machen, ohne dass diese ein Interesse geltend zu machen brauchen (Art. 3 Abs. 1 UIRL).54 Soweit der Beklagte meint, im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel gelte ein anderes Regelungsregime, da die VO (EG) 1107/2009 im Vergleich zur UIRL die neuere (UIRL: 28.01.2003; VO (EG) 1107/2009: 21.10.2009) sowie aufgrund ihres allein auf das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln beschränkten Anwendungsbereichs auch die speziellere Norm darstelle, dringt er damit nicht durch. Denn dies setzte voraus, dass die VO (EG) 1107/2009 auch den Informationszugang im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel abschließend regelt. Dies ist indes nach Auffassung der Kammer nicht der Fall.55 Eine derartige Auslegung lässt sich zunächst nicht den Erwägungsgründen der VO (EG) 1107/2009 entnehmen, insbesondere nicht den Erwägungsgründen (41) und (44). Soweit Erwägungsgrund (44) ausführt, dass Bestimmungen zur Führung von Aufzeichnungen und zur Information über die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln festgelegt werden sollten, spricht dies gegen eine abschließende Regelung des Informationszugangs durch die Verordnung. Auch der Verordnung selbst lässt sich dies nicht entnehmen. Im einschlägigen Kapitel VI (Öffentlicher Zugang zu Informationen) sieht Art. 63 Abs. 3 VO (EG) 1107/2009 gerade vor, dass „dieser“ (!) Artikel unbeschadet der UIRL gilt. Soweit sich das Land diesbezüglich auf Art. 67 Abs. 1 Uabs. 3 VO (EG) 1107/2009 beruft, folgt das Gericht dem nicht. Nach Art. 67 Abs. 1 Uabs. 3 VO (EG) 1107/2009 macht die zuständige Behörde diese Informationen gemäß den geltenden nationalen oder gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zugänglich. Die Norm verweist somit nicht nur auf nationale, sondern eben gerade auch auf gemeinschaftsrechtliche Vorschriften wie etwa die UIRL. Dass Art. 67 Abs. 1 Uabs. 3 VO (EG) 1107/2009 eine Öffnungsklausel zur Möglichkeit der abweichenden – insbesondere gegenüber der UIRL engeren – Regelung für die Mitgliedstaaten (etwa durch § 11 Abs. 3 PflSchG) darstellen soll, sieht das Gericht nicht. Aufgrund der erheblichen Bedeutung von Pflanzenschutzmitteln innerhalb des Umweltrechts und der daraus folgenden großen Reichweite einer solchen Regelung bedürfte diese Ansicht einer Stütze in den Erwägungsgründen der VO (EG) 1107/2009 oder in der Verordnung selbst, an der es nach vorigen Ausführungen fehlt. Dass § 11 Abs. 3 PflSchG den Informationszugang – wie bereits ausgeführt mit einer weitreichenden Bedeutung – abweichend von den allgemeinen Grundsätzen des Umweltrechts regeln wollte, lässt sich auch den diesbezüglichen Materialien (BT-Drs. 17/7317, S. 45) nicht entnehmen.56 Nach alledem gilt die UIRL auch für den Informationszugang im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel.57 b) Die UIRL (dazu aa)) und die VO (EG) 1107/2009 (dazu bb) enthalten keine rechtliche Grundlage für die engeren Tatbestandsmerkmale des § 11 Abs. 3 PflSchG (Vorliegen eines berechtigten Interesses, Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse) und die Einräumung eines behördlichen Ermessens.58 aa) Hinsichtlich eines berechtigten Interesses folgt dies bereits aus dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 UIRL. Im Hinblick auf die Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sieht Art. 4 Abs. 2 d) UIRL zwar vor, dass die Mitgliedstaaten eine Regelung zur Ablehnung des Zugangs zu Umweltinformationen vorsehen können, wenn die Bekanntgabe negative Auswirkungen auf Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse hätte. Hierzu ist in Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 S. 3 UIRL jedoch eine Rückausnahme vorgesehen, nach der die Mitgliedstaaten aufgrund des Abs. 2 a), d), g) und h) nicht vorsehen dürfen, dass ein Antrag abgelehnt werden kann, wenn er sich – wie vorliegend – auf Informationen über Emissionen in die Umwelt bezieht. Auch einen Entscheidungsspielraum räumt die UIRL den Behörden nicht ein.59 bb) Eine rechtliche Grundlage folgt auch nicht aus der VO (EG) 1107/2009, insbesondere nicht aus Art. 67 Abs. 1 Uabs. 2 Satz 2 VO (EG) 1107/2009, wonach Dritte wie beispielsweise die Trinkwasserwirtschaft, Einzelhändler oder Anrainer bei der zuständigen Behörde um Zugang zu diesen Informationen ersuchen können. Aus der beispielhaften Aufzählung kann nicht ohne Weiteres darauf geschlossen werden, dass andere Dritte gerade keinen Anspruch auf Informationszugang haben sollen. Das Wort „können“ meint im vorliegenden Kontext allein die Möglichkeit der Dritten, ein Informationsersuchen an die zuständigen Behörden zu richten, räumt den zuständigen Behörden allerdings kein Ermessen ein.60 2. Der Beklagte verfügt nach § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG über die vom Kläger begehrten Aufzeichnungen. Die begehrten Aufzeichnungen sind zwar nicht im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 Var. 1 UVwG beim Beklagten vorhanden, werden von den Landwirten jedoch für den Beklagten bereitgehalten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 Var. 2, Satz 2 UVwG). Die vom Beklagten dagegen vorgebrachten Einwendungen, wonach kein Fall des Bereithaltens vorliege, da die Landwirte die begehrten Aufzeichnungen nicht im Wege der Selbstüberwachung aufbewahrten (dazu a)) bzw. da die Ermittlung der begehrten Aufzeichnungen vorliegend eine Aufsichtsmaßnahme erfordere (dazu b)), greifen nicht durch.61 a) Ein Bereithalten im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 Var. 2, Satz 2 UVwG erfordert entgegen der Auffassung des Beklagten keine Aufbewahrung der begehrten Aufzeichnungen seitens der Landwirte „im Wege der Selbstüberwachung“ (dazu aa)). Im Übrigen halten die Landwirte die begehrten Aufzeichnungen gerade im Wege der Selbstüberwachung bereit (dazu bb)).62 aa) Dass ein Bereithalten im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 Var. 2, Satz 2 UVwG eine Aufbewahrung der begehrten Aufzeichnungen seitens der Landwirte im Wege der Selbstüberwachung erfordert, ergibt sich schon nicht aus dem Wortlaut dieser Vorschrift. Es folgt aber insbesondere auch nicht aus den Materialien und der Literatur, auf die der Beklagte diesbezüglich Bezug nimmt (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum mit § 23 Abs. 4 UVwG identischen § 2 Abs. 3 UIG a. F.; Reidt/Schiller in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 92. EL § 2 UIG, Rn. 54; BVerwG, Beschluss vom 01.11.2007 – 7 B 37/07 –, Rn. 20, Juris).63 Diesen Quellen lässt sich ebenso wie dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.11.2007 (– 7 B 37/07 –, Rn. 20, Juris) zwar übereinstimmend entnehmen, dass insbesondere Fälle, in denen dritte Stellen, die im Wege der Selbstüberwachung Aufzeichnungen vorhalten, unter das Tatbestandsmerkmal des Bereithaltens fallen. Dass ein Tätigwerden im Sinne der Selbstüberwachung allerdings zwingende Voraussetzung und damit ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal sein soll, lässt sich dem hingegen nicht entnehmen.64 bb) Im Übrigen halten die Landwirte die begehrten Aufzeichnungen hier ohnehin im Wege der Selbstüberwachung bereit.65 Dies folgt zunächst aus dem Wortlaut des Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2, Uabs. 2 Satz 1 VO (EG) 1107/2009, der die „klassische“ Konstellation des „Outsourcings“ von Verwaltungskontrolltätigkeit in Gestalt der Selbstüberwachung mit Überwachungsbefugnis der Kontrollbehörde darstellt (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –, Rn. 27, Juris m. w. N.). Darüber hinaus sind auch die in der einschlägigen Kommentarliteratur (Landmann/Rohmer UmweltR/Reidt/Schiller, 90. EL Juni 2019, UIG § 2 Rn. 54) angegebenen Beispiele für einen Fall des Bereithaltens (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG i. V. m. §§ 18 ff. 13. BImSchV, §§ 14 ff. 17. BImSchV, § 31 BImSchG, §§ 62 ff. WHG; § 47 Abs. 4 KrWG) mit der vorliegenden Konstellation weitgehend vergleichbar (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –, Rn. 28, Juris m. w. N.). Etwas Anderes folgt entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht daraus, dass die zuständige Kontrollbehörde vorliegend die entsprechenden Daten selbst aktiv bei den beruflichen Verwendern von Pflanzenschutzmitteln anfragt. Dass ein Fall der Selbstüberwachung voraussetzt, dass der Betroffene proaktiv und in gewisser Regelmäßigkeit dazu verpflichtet ist, die zur Selbstüberwachung vorgehaltenen Aufzeichnungen an die zuständige Behörde zu übermitteln, folgt nicht allein daraus, dass unter den o. g. Beispielen für das Bereithalten auch solche sind, bei denen der Betroffene zu einer solchen proaktiven Übermittlung verpflichtet ist (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –, Rn. 28, Juris m. w. N.).66 Vor diesem Hintergrund verfängt auch der Verweis des Beklagten auf § 61 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 WHG nicht. Wie vorgehend ausgeführt, stellt sich die Aufbewahrung seitens der beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln vorliegend unabhängig von der Bezeichnung jedenfalls funktional als Selbstüberwachung dar.67 b) Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass nicht von einem Bereithalten im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG auszugehen sein könnte, sofern die Ermittlung der begehrten Aufzeichnungen eine Aufsichtsmaßnahme erforderte. Denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum mit § 23 Abs. 4 UVwG identischen § 2 Abs. 3 UIG a. F. (BT-Drs. 15/3406, Seite 15) besagt: „[...] Nicht erfasst werden dagegen Fälle, in denen die beantragte Umweltinformation erst aufgrund einer Aufsichtsmaßnahme für die Stelle der öffentlichen Verwaltung erstellt oder an die Stelle herausgegeben werden müsste.“68 Im vorliegenden Fall bedarf es nach Auffassung des Gerichts jedoch keiner Aufsichtsmaßnahme der Beklagten. Dass die Herausgabe der beantragten Umweltinformation vorliegend eine Aufsichtsmaßnahme der zuständigen Behörde erfordert, ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 67 Abs. 1 Uabs. 2 Satz 1 VO (EG) 1107/2009 nämlich gerade nicht. Demnach stellen sie [die beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln] die einschlägigen Informationen in diesen Aufzeichnungen auf Anfrage der zuständigen Behörde zur Verfügung. Die Formulierung „auf Anfrage“ ist dahingehend zu verstehen, dass die beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln nicht dazu verpflichtet sind, die Aufzeichnungen proaktiv zu übermitteln, sondern vielmehr nur reaktiv im Fall der Anforderung durch die zuständige Behörde (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –, Rn. 43, Juris).69 Nach alledem sind § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG vorliegend anwendbar und seine Tatbestandsvoraussetzungen sind erfüllt. Offenbleiben kann somit, ob die Anspruchsvoraussetzungen des § 11 Abs. 3 PflSchG – zwischen den Beteiligten wurde diesbezüglich insbesondere kontrovers diskutiert, ob die Versagung des Ermessens sachgerecht war – erfüllt sind, ob Art. 67 Abs. 1 Uabs. 2 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 eine unmittelbare Anspruchsgrundlage darstellt und ob deren Voraussetzungen vorliegen.70 3. Diesem Anspruch stehen auch keine Rechte Dritter entgegen, insbesondere nicht dahingehend, dass durch die Herausgabe der begehrten Aufzeichnungen an den Kläger Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse zugänglich gemacht oder in sonstiger Weise verletzt würden.71 Dies folgt bereits daraus, dass der Kläger nur den Zugang zu anonymisierten Daten begehrt. Dass derartige entgegenstehende Belange Dritter nicht dazu führen können, dass der Zugang zu Umweltinformationen vollständig verweigert wird, sondern dass in Fällen wie dem vorliegenden der Zugang dann ggf. nur auszugsweise zu gewähren ist, folgt zudem aus Art. 4 Abs. 4 der UIRL. Unabhängig davon, dass der Kläger vorliegend nur den Zugang zu anonymisierten Daten begehrt, stehen dem Anspruch auf Informationszugang auch § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 3 UVwG nicht entgegen (vgl. dazu ausführlich VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 13.07.2020 – 10 K 1230/19 –, Rn. 56 ff., Juris).72 4. Das Gericht hält auch die vom Beklagten angeregte Vorlage zum Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung nach Art. 267 Uabs. 2 AEUV nicht für sachgerecht. Die vorzulegende Rechtsfrage lautet nach Ansicht des Beklagten sinngemäß im Wesentlichen, ob die VO (EG) 1107/2009 im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel die UIRL überlagert und den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet – wie etwa in § 11 Abs. 3 PflSchG vom Bundesgesetzgeber geschehen – weitere Anforderungen an den Informationszugang zu stellen. Diese Frage hält das Gericht nach obigen Ausführungen für geklärt und damit für nicht vorlagebedürftig. Im Übrigen ist die Kammer als erstinstanzliches Gericht zu einer Vorlage nicht verpflichtet und übt ihr Ermessen mit Blick auf die bereits anhängigen Berufungsverfahren gleichen Inhalts dahingehend aus, dass von einem Vorabentscheidungsersuchen abgesehen wird.73 Der Beklagte war daher wie aus dem Tenor ersichtlich zur Zugangsgewährung zu verpflichten.III.74 Die Berufung ist gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zuzulassen.IV.75 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Gründe
37 Die Klage hat im Hauptantrag Erfolg; sie ist insoweit zulässig und begründet. Einer Entscheidung über den Hilfsantrag bedarf es somit nicht.I.38 Die Klage ist zulässig.39 Sie ist als Verpflichtungsklage statthaft. Die vom Kläger begehrte Übermittlung von Umweltinformationen stellt zwar einen bloßen Realakt und keinen Verwaltungsakt dar, jedoch ist der Landesgesetzgeber davon ausgegangen, dass die Entscheidung über ein Auskunftsbegehren einen Verwaltungsakt darstelle (vgl. zu § 3 Abs. 1 LUIG Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 25.11.2008 – 10 S 2702/06 –, Rn. 17, Juris). Die Klage ist auch in ihrer im Vergleich zur Klageerhebung geänderten Form zulässig. Da die Klage ursprünglich auf den Zugang zu den Aufzeichnungen der Kalenderjahre 2015 bis 2017 gerichtet war, liegt eine Klageänderung vor, die das Gericht für sachdienlich erachtet und die somit nach § 91 Abs. 1 Var. 2 VwGO auch ohne die Einwilligung des Beklagten zulässig ist. An der Sachdienlichkeit fehlt es nicht aufgrund des Fehlens eines auf Zugang zu den Aufzeichnungen der Jahre 2018 und 2019 gerichteten Antrags beim Regierungspräsidium T. (dazu 1.) sowie der fehlenden Durchführung eines Vorverfahrens (dazu 2.).40 1. Hinsichtlich des Zugangs zu den Aufzeichnungen der Jahre 2018 und 2019 bedarf es keines erneuten Antrags des Klägers beim Regierungspräsidium T.41 Zwar setzt eine Verpflichtungsklage grundsätzlich einen vor der Klageerhebung bei der Behörde gestellten Antrag voraus (siehe zur Notwendigkeit der Antragstellung als eine im Prozess nicht nachholbare Klagevoraussetzung der Verpflichtungsklage näher Kopp/Schenke, VwGO 24. Auflage 2018 Vorb. § 68 Rn. 5a und § 42 Rn. 6 m. w. N.). Die Verweisung auf die Durchführung eines - erneuten - Antragsverfahrens ist jedoch dann nicht gerechtfertigt, wenn der Zweck der vorherigen Antragstellung, nämlich der Behörde die Möglichkeit einzuräumen, eine Angelegenheit innerhalb des üblichen Verwaltungsverfahrens zu prüfen, ausnahmsweise entbehrlich ist, weil die Behörde mit dem Sachverhalt bereits befasst war und allenfalls unwesentliche Änderungen in den Streitstoff eingeführt werden (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.07.2010 – 11 S 2730/09 –, Rn. 22, Juris; Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 37 m. w. N.).42 So liegt der Fall hier. Der nunmehr verfolgte Auskunftsanspruch hinsichtlich der Jahre 2018 und 2019 ist zwar rechtlich eigenständig, jedoch inhaltlich identisch mit dem bereits im vorliegenden Verwaltungs- sowie Gerichtsverfahren verfolgten und ausführlich erörterten Anspruch hinsichtlich der Jahre 2015 bis 2017. Dass die erneute Befassung des Beklagten mit dem Auskunftsanspruch der Jahre 2018 und 2019 zu einem anderen Ergebnis führen könnte, ist vor diesem Hintergrund ausgeschlossen. Dafür spricht weiter, dass der Beklagte im vorliegenden Verfahren betont hat, an seiner Rechtsauffassung festzuhalten und eine Berufung verfolgen zu wollen. Auch in drei verwandten und bereits entschiedenen verwaltungsgerichtlichen Verfahren (VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –; VG Stuttgart, Urteil vom 10.06.2020 – 14 K 9469/18 –; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 13.07.2020 – 10 K 1230/19 –, jeweils Juris) hat der Beklagte gegen die stattgebenden Urteile Berufung eingelegt. An dieser Bewertung vermag der vom Beklagten geäußerte Einwand, dass der Ausgang eines erneuten Verwaltungsverfahrens aufgrund der in den o. g. Rechtssachen laufenden Berufungsverfahren als offen zu betrachten sei, nichts zu ändern. Abzustellen ist hinsichtlich der Vorbefassung und der weitgehenden Identität des Streitstoffs auf den gegenwärtigen Zeitpunkt. Darüber hinaus kann der Kläger nicht auf ein weiteres Antragsverfahren verwiesen werden, dass den Ausgang der o. g. Berufungsverfahren abwartet.43 2. Da demnach schon kein weiteres Antragsverfahren hinsichtlich der Jahre 2018 und 2019 durchzuführen ist, bedarf es auch nicht der Durchführung eines grundsätzlich erforderlichen (vgl. § 32 Abs. 2 i. V. m. § 23 Abs. 1 Nr. 1 UVwG) weiteren Vorverfahrens.44 Der Zweck des Vorverfahrens ist vorliegend darüber hinaus erfüllt. Erfüllt ist der Zweck eines Vorverfahrens, wenn die Widerspruchsbehörde selbst am Verfahren beteiligt ist und nach einer Sachprüfung im Wege einer vorgerichtlichen Erklärung oder einer prozessbegleitenden Einlassung zum Ausdruck bringt, sie würde einen (künftigen) Widerspruch zurückweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2018 – 7 C 21/16 –, Rn. 19 - 20, Juris m. w. N). So liegt es hier. Das Regierungspräsidium T. hat im vorliegenden Verfahren mehrfach betont, an seiner Rechtsauffassung festhalten zu wollen.II.45 Die Klage ist auch begründet. Die Ablehnung der Gewährung der begehrten Aufzeichnungen durch den Bescheid des Regierungspräsidiums T. vom 16.08.2018 ist rechtswidrig und der Kläger ist dadurch in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).46 Der Anspruch des Klägers beruht auf § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG, dessen Anwendbarkeit aufgrund der Europarechtswidrigkeit des § 11 Abs. 3 PflSchG nicht nach § 1 Abs. 3 UVwG ausgeschlossen wird (dazu 1.) und dessen Voraussetzungen erfüllt sind, da die begehrten Aufzeichnungen insbesondere nach § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG für den Beklagten bereitgehalten werden (dazu 2.). Gegenrechte können ihm nicht mit Erfolg entgegengehalten werden (dazu 3.).47 Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 UVwG hat jede Person nach Maßgabe des Umweltverwaltungsgesetzes Anspruch auf freien Zugang zu Umweltinformationen, über die eine informationspflichtige Stelle im Sinne von § 23 Absatz 1 verfügt, ohne ein rechtliches Interesse darlegen zu müssen. Nach § 23 Abs. 4 Satz 1 UVwG verfügt eine informationspflichtige Stelle über Umweltinformationen, wenn diese bei ihr vorhanden sind oder für sie bereitgehalten werden. Ein Bereithalten liegt nach § 23 Abs. 4 Satz 2 UVwG vor, wenn eine natürliche oder juristische Person, die selbst nicht informationspflichtige Stelle ist, Umweltinformationen für eine informationspflichtige Stelle im Sinne von § 23 Abs. 1 UVwG aufbewahrt, auf die diese Stelle einen Übermittlungsanspruch hat.48 Dass der Kläger als Gebietskörperschaft eine juristische Person des Öffentlichen Rechts darstellt und damit anspruchsberechtigt ist, es sich bei den streitgegenständlichen Aufzeichnungen nach Art. 67 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 1107/2009 um Umweltinformationen handelt (vgl. § 23 Abs. 3 Nr. 2 UVwG bzw. Art. 2 Nr. 1b UIRL) und dass das Regierungspräsidium T. zuständige Stelle ist (vgl. § 23 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UVwG i. V. m. § 59 Abs. 2 Nr. 8 PflSchG i. V. m. § 9 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz über Zuständigkeiten in den Bereichen Markt und Ernährung, landwirtschaftliche Beratung, Tierzucht und anderen Bereichen vom 04.02.2010, i. d. F. vom 21.03.2016 (Landwirtschafts-Zuständigkeitsverordnung), steht zwischen den Beteiligten nicht (mehr) in Streit.49 1. Die Anwendbarkeit des § 24 Abs. 1 Satz 1 UVwG ist nicht nach § 1 Abs. 3 UVwG i. V. m. § 11 Abs. 3 PflSchG ausgeschlossen, weil § 11 Abs. 3 PflSchG mit Unionsrecht offensichtlich unvereinbar ist (vgl. ebenso im Ergebnis VG Stuttgart, Urteil vom 10.06.2020 – 14 K 9469/18 – Juris).50 Die Vorschriften des UVwG finden nach dessen § 1 Abs. 3 keine Anwendung, soweit bundesrechtliche Vorschriften eine abschließende Regelung treffen. Als solche bundesrechtliche Vorschrift kommt § 11 Abs. 3 PflSchG in Betracht, wonach die zuständige Behörde auf Antrag bei Vorliegen eines berechtigten Interesses und unter Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des Aufzeichnenden im Einzelfall Auskunft über die Aufzeichnungen geben kann. Die Pflicht der beruflichen Verwender zur Führung von Aufzeichnungen folgt aus Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2 VO (EG) 1107/2009. Berufliche Verwender von Pflanzenschutzmitteln führen demnach über mindestens drei Jahre Aufzeichnungen über die Pflanzenschutzmittel, die sie verwenden, in denen die Bezeichnung des Pflanzenschutzmittels, der Zeitpunkt der Verwendung, die verwendete Menge, die behandelte Fläche und die Kulturpflanze, für die das Pflanzenschutzmittel verwendet wurde, vermerkt sind.51 Die Informationsansprüche aus § 24 UVwG und § 11 Abs. 3 PflSchG stehen zueinander in Normenkonkurrenz, wobei § 11 Abs. 3 PflSchG aufgrund seiner weiteren Tatbestandsmerkmale (Vorliegen eines berechtigten Interesses, Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, Ermessen der Behörde) grundsätzlich die speziellere Norm darstellt (VG Stuttgart, Urteil vom 10.06.2020 – 14 K 9469/18 –, Rn. 25, Juris m. w. N.) Die Unionsrechtswidrigkeit des § 11 Abs. 3 PflSchG folgt nach Auffassung des Gerichts daraus, dass die allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätze des Umweltinformationsrechts (insbesondere die Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates (Umweltinformationsrichtlinie: UIRL) mangels anderweitiger belastbarer unionsrechtlicher Anhaltspunkte auch im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel anwendbar sind, weil insbesondere die VO (EG) 1107/2009 diesbezüglich kein abweichendes Regelungsregime enthält (dazu a)). Die engeren Tatbestandsmerkmale des § 11 Abs. 3 PflSchG finden in den unionsrechtlichen Regelungen (insb. UIRL und VO (EG) 1107/2009) keine rechtliche Grundlage (dazu b)).52 a) Die allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätze des Umweltinformationsrechts (insbesondere die UIRL) sind auch auf Pflanzenschutzmittel anwendbar, und die VO (EG) 1107/2009 gibt diesbezüglich kein abweichendes Regelungsregime vor.53 Das unionsrechtlich begründete Umweltinformationsrecht gewährt grundsätzlich weitgehende Auskunftsansprüche: Nach Art. 3 Abs. 1 UIRL gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass Behörden gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie verpflichtet sind, die bei ihnen vorhandenen oder für sie bereitgehaltenen Umweltinformationen allen Antragstellern auf Antrag zugänglich zu machen, ohne dass diese ein Interesse geltend zu machen brauchen (Art. 3 Abs. 1 UIRL).54 Soweit der Beklagte meint, im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel gelte ein anderes Regelungsregime, da die VO (EG) 1107/2009 im Vergleich zur UIRL die neuere (UIRL: 28.01.2003; VO (EG) 1107/2009: 21.10.2009) sowie aufgrund ihres allein auf das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln beschränkten Anwendungsbereichs auch die speziellere Norm darstelle, dringt er damit nicht durch. Denn dies setzte voraus, dass die VO (EG) 1107/2009 auch den Informationszugang im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel abschließend regelt. Dies ist indes nach Auffassung der Kammer nicht der Fall.55 Eine derartige Auslegung lässt sich zunächst nicht den Erwägungsgründen der VO (EG) 1107/2009 entnehmen, insbesondere nicht den Erwägungsgründen (41) und (44). Soweit Erwägungsgrund (44) ausführt, dass Bestimmungen zur Führung von Aufzeichnungen und zur Information über die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln festgelegt werden sollten, spricht dies gegen eine abschließende Regelung des Informationszugangs durch die Verordnung. Auch der Verordnung selbst lässt sich dies nicht entnehmen. Im einschlägigen Kapitel VI (Öffentlicher Zugang zu Informationen) sieht Art. 63 Abs. 3 VO (EG) 1107/2009 gerade vor, dass „dieser“ (!) Artikel unbeschadet der UIRL gilt. Soweit sich das Land diesbezüglich auf Art. 67 Abs. 1 Uabs. 3 VO (EG) 1107/2009 beruft, folgt das Gericht dem nicht. Nach Art. 67 Abs. 1 Uabs. 3 VO (EG) 1107/2009 macht die zuständige Behörde diese Informationen gemäß den geltenden nationalen oder gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zugänglich. Die Norm verweist somit nicht nur auf nationale, sondern eben gerade auch auf gemeinschaftsrechtliche Vorschriften wie etwa die UIRL. Dass Art. 67 Abs. 1 Uabs. 3 VO (EG) 1107/2009 eine Öffnungsklausel zur Möglichkeit der abweichenden – insbesondere gegenüber der UIRL engeren – Regelung für die Mitgliedstaaten (etwa durch § 11 Abs. 3 PflSchG) darstellen soll, sieht das Gericht nicht. Aufgrund der erheblichen Bedeutung von Pflanzenschutzmitteln innerhalb des Umweltrechts und der daraus folgenden großen Reichweite einer solchen Regelung bedürfte diese Ansicht einer Stütze in den Erwägungsgründen der VO (EG) 1107/2009 oder in der Verordnung selbst, an der es nach vorigen Ausführungen fehlt. Dass § 11 Abs. 3 PflSchG den Informationszugang – wie bereits ausgeführt mit einer weitreichenden Bedeutung – abweichend von den allgemeinen Grundsätzen des Umweltrechts regeln wollte, lässt sich auch den diesbezüglichen Materialien (BT-Drs. 17/7317, S. 45) nicht entnehmen.56 Nach alledem gilt die UIRL auch für den Informationszugang im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel.57 b) Die UIRL (dazu aa)) und die VO (EG) 1107/2009 (dazu bb) enthalten keine rechtliche Grundlage für die engeren Tatbestandsmerkmale des § 11 Abs. 3 PflSchG (Vorliegen eines berechtigten Interesses, Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse) und die Einräumung eines behördlichen Ermessens.58 aa) Hinsichtlich eines berechtigten Interesses folgt dies bereits aus dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 UIRL. Im Hinblick auf die Wahrung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sieht Art. 4 Abs. 2 d) UIRL zwar vor, dass die Mitgliedstaaten eine Regelung zur Ablehnung des Zugangs zu Umweltinformationen vorsehen können, wenn die Bekanntgabe negative Auswirkungen auf Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse hätte. Hierzu ist in Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 S. 3 UIRL jedoch eine Rückausnahme vorgesehen, nach der die Mitgliedstaaten aufgrund des Abs. 2 a), d), g) und h) nicht vorsehen dürfen, dass ein Antrag abgelehnt werden kann, wenn er sich – wie vorliegend – auf Informationen über Emissionen in die Umwelt bezieht. Auch einen Entscheidungsspielraum räumt die UIRL den Behörden nicht ein.59 bb) Eine rechtliche Grundlage folgt auch nicht aus der VO (EG) 1107/2009, insbesondere nicht aus Art. 67 Abs. 1 Uabs. 2 Satz 2 VO (EG) 1107/2009, wonach Dritte wie beispielsweise die Trinkwasserwirtschaft, Einzelhändler oder Anrainer bei der zuständigen Behörde um Zugang zu diesen Informationen ersuchen können. Aus der beispielhaften Aufzählung kann nicht ohne Weiteres darauf geschlossen werden, dass andere Dritte gerade keinen Anspruch auf Informationszugang haben sollen. Das Wort „können“ meint im vorliegenden Kontext allein die Möglichkeit der Dritten, ein Informationsersuchen an die zuständigen Behörden zu richten, räumt den zuständigen Behörden allerdings kein Ermessen ein.60 2. Der Beklagte verfügt nach § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG über die vom Kläger begehrten Aufzeichnungen. Die begehrten Aufzeichnungen sind zwar nicht im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 Var. 1 UVwG beim Beklagten vorhanden, werden von den Landwirten jedoch für den Beklagten bereitgehalten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 Var. 2, Satz 2 UVwG). Die vom Beklagten dagegen vorgebrachten Einwendungen, wonach kein Fall des Bereithaltens vorliege, da die Landwirte die begehrten Aufzeichnungen nicht im Wege der Selbstüberwachung aufbewahrten (dazu a)) bzw. da die Ermittlung der begehrten Aufzeichnungen vorliegend eine Aufsichtsmaßnahme erfordere (dazu b)), greifen nicht durch.61 a) Ein Bereithalten im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 Var. 2, Satz 2 UVwG erfordert entgegen der Auffassung des Beklagten keine Aufbewahrung der begehrten Aufzeichnungen seitens der Landwirte „im Wege der Selbstüberwachung“ (dazu aa)). Im Übrigen halten die Landwirte die begehrten Aufzeichnungen gerade im Wege der Selbstüberwachung bereit (dazu bb)).62 aa) Dass ein Bereithalten im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 Satz 1 Var. 2, Satz 2 UVwG eine Aufbewahrung der begehrten Aufzeichnungen seitens der Landwirte im Wege der Selbstüberwachung erfordert, ergibt sich schon nicht aus dem Wortlaut dieser Vorschrift. Es folgt aber insbesondere auch nicht aus den Materialien und der Literatur, auf die der Beklagte diesbezüglich Bezug nimmt (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum mit § 23 Abs. 4 UVwG identischen § 2 Abs. 3 UIG a. F.; Reidt/Schiller in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 92. EL § 2 UIG, Rn. 54; BVerwG, Beschluss vom 01.11.2007 – 7 B 37/07 –, Rn. 20, Juris).63 Diesen Quellen lässt sich ebenso wie dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.11.2007 (– 7 B 37/07 –, Rn. 20, Juris) zwar übereinstimmend entnehmen, dass insbesondere Fälle, in denen dritte Stellen, die im Wege der Selbstüberwachung Aufzeichnungen vorhalten, unter das Tatbestandsmerkmal des Bereithaltens fallen. Dass ein Tätigwerden im Sinne der Selbstüberwachung allerdings zwingende Voraussetzung und damit ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal sein soll, lässt sich dem hingegen nicht entnehmen.64 bb) Im Übrigen halten die Landwirte die begehrten Aufzeichnungen hier ohnehin im Wege der Selbstüberwachung bereit.65 Dies folgt zunächst aus dem Wortlaut des Art. 67 Abs. 1 Uabs. 1 Satz 2, Uabs. 2 Satz 1 VO (EG) 1107/2009, der die „klassische“ Konstellation des „Outsourcings“ von Verwaltungskontrolltätigkeit in Gestalt der Selbstüberwachung mit Überwachungsbefugnis der Kontrollbehörde darstellt (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –, Rn. 27, Juris m. w. N.). Darüber hinaus sind auch die in der einschlägigen Kommentarliteratur (Landmann/Rohmer UmweltR/Reidt/Schiller, 90. EL Juni 2019, UIG § 2 Rn. 54) angegebenen Beispiele für einen Fall des Bereithaltens (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG i. V. m. §§ 18 ff. 13. BImSchV, §§ 14 ff. 17. BImSchV, § 31 BImSchG, §§ 62 ff. WHG; § 47 Abs. 4 KrWG) mit der vorliegenden Konstellation weitgehend vergleichbar (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –, Rn. 28, Juris m. w. N.). Etwas Anderes folgt entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht daraus, dass die zuständige Kontrollbehörde vorliegend die entsprechenden Daten selbst aktiv bei den beruflichen Verwendern von Pflanzenschutzmitteln anfragt. Dass ein Fall der Selbstüberwachung voraussetzt, dass der Betroffene proaktiv und in gewisser Regelmäßigkeit dazu verpflichtet ist, die zur Selbstüberwachung vorgehaltenen Aufzeichnungen an die zuständige Behörde zu übermitteln, folgt nicht allein daraus, dass unter den o. g. Beispielen für das Bereithalten auch solche sind, bei denen der Betroffene zu einer solchen proaktiven Übermittlung verpflichtet ist (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –, Rn. 28, Juris m. w. N.).66 Vor diesem Hintergrund verfängt auch der Verweis des Beklagten auf § 61 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 WHG nicht. Wie vorgehend ausgeführt, stellt sich die Aufbewahrung seitens der beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln vorliegend unabhängig von der Bezeichnung jedenfalls funktional als Selbstüberwachung dar.67 b) Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass nicht von einem Bereithalten im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG auszugehen sein könnte, sofern die Ermittlung der begehrten Aufzeichnungen eine Aufsichtsmaßnahme erforderte. Denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum mit § 23 Abs. 4 UVwG identischen § 2 Abs. 3 UIG a. F. (BT-Drs. 15/3406, Seite 15) besagt: „[...] Nicht erfasst werden dagegen Fälle, in denen die beantragte Umweltinformation erst aufgrund einer Aufsichtsmaßnahme für die Stelle der öffentlichen Verwaltung erstellt oder an die Stelle herausgegeben werden müsste.“68 Im vorliegenden Fall bedarf es nach Auffassung des Gerichts jedoch keiner Aufsichtsmaßnahme der Beklagten. Dass die Herausgabe der beantragten Umweltinformation vorliegend eine Aufsichtsmaßnahme der zuständigen Behörde erfordert, ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 67 Abs. 1 Uabs. 2 Satz 1 VO (EG) 1107/2009 nämlich gerade nicht. Demnach stellen sie [die beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln] die einschlägigen Informationen in diesen Aufzeichnungen auf Anfrage der zuständigen Behörde zur Verfügung. Die Formulierung „auf Anfrage“ ist dahingehend zu verstehen, dass die beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln nicht dazu verpflichtet sind, die Aufzeichnungen proaktiv zu übermitteln, sondern vielmehr nur reaktiv im Fall der Anforderung durch die zuständige Behörde (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2020 – 9 K 8441/18 –, Rn. 43, Juris).69 Nach alledem sind § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 Abs. 4 UVwG vorliegend anwendbar und seine Tatbestandsvoraussetzungen sind erfüllt. Offenbleiben kann somit, ob die Anspruchsvoraussetzungen des § 11 Abs. 3 PflSchG – zwischen den Beteiligten wurde diesbezüglich insbesondere kontrovers diskutiert, ob die Versagung des Ermessens sachgerecht war – erfüllt sind, ob Art. 67 Abs. 1 Uabs. 2 Satz 2 VO (EG) 1107/2009 eine unmittelbare Anspruchsgrundlage darstellt und ob deren Voraussetzungen vorliegen.70 3. Diesem Anspruch stehen auch keine Rechte Dritter entgegen, insbesondere nicht dahingehend, dass durch die Herausgabe der begehrten Aufzeichnungen an den Kläger Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse zugänglich gemacht oder in sonstiger Weise verletzt würden.71 Dies folgt bereits daraus, dass der Kläger nur den Zugang zu anonymisierten Daten begehrt. Dass derartige entgegenstehende Belange Dritter nicht dazu führen können, dass der Zugang zu Umweltinformationen vollständig verweigert wird, sondern dass in Fällen wie dem vorliegenden der Zugang dann ggf. nur auszugsweise zu gewähren ist, folgt zudem aus Art. 4 Abs. 4 der UIRL. Unabhängig davon, dass der Kläger vorliegend nur den Zugang zu anonymisierten Daten begehrt, stehen dem Anspruch auf Informationszugang auch § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 3 UVwG nicht entgegen (vgl. dazu ausführlich VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 13.07.2020 – 10 K 1230/19 –, Rn. 56 ff., Juris).72 4. Das Gericht hält auch die vom Beklagten angeregte Vorlage zum Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung nach Art. 267 Uabs. 2 AEUV nicht für sachgerecht. Die vorzulegende Rechtsfrage lautet nach Ansicht des Beklagten sinngemäß im Wesentlichen, ob die VO (EG) 1107/2009 im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel die UIRL überlagert und den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet – wie etwa in § 11 Abs. 3 PflSchG vom Bundesgesetzgeber geschehen – weitere Anforderungen an den Informationszugang zu stellen. Diese Frage hält das Gericht nach obigen Ausführungen für geklärt und damit für nicht vorlagebedürftig. Im Übrigen ist die Kammer als erstinstanzliches Gericht zu einer Vorlage nicht verpflichtet und übt ihr Ermessen mit Blick auf die bereits anhängigen Berufungsverfahren gleichen Inhalts dahingehend aus, dass von einem Vorabentscheidungsersuchen abgesehen wird.73 Der Beklagte war daher wie aus dem Tenor ersichtlich zur Zugangsgewährung zu verpflichten.III.74 Die Berufung ist gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zuzulassen.IV.75 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. | {
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Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, 99.099,96 EUR an die Klägerin zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird endgültig auf 99.099,96 EUR festgesetzt.
1Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über eine Erstattungsforderung der Klägerin in Höhe von 99.099,96 EUR zum Ausgleich von im Wege eines Versorgungsausgleichs begründeten Rentenanwartschaften. Die Erstattung ihrer Aufwendungen verfolgt die Deutsche Rentenversicherung Bund als Klägerin dabei im Wege des § 225 Abs. 1 Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).
3Hintergrund der Klage ist die unter Einschluss eines Versorgungsausgleichs von der Beklagten an die Versicherte Frau H. M., geb. 00.00.1931, verst. 00.00.2016,. gewähr-te Altersrente. Frau M. war nach Aktenlage vom 13.06.1953 bis zum 31.01.2000 mit dem ebenfalls verstorbenen Herrn O. M., geb. 00.00.1923, verheiratet gewesen. Herr M. war nach deren eigenen Angaben bei der beklagten diakonischen Einrichtung als Verwaltungsleiter beschäftigt. Aus dieser Tätigkeit hatte er u.a. Ansprüche auf eine dort gesondert außerhalb des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem SGB VI öffentlich-rechtlich ausgestaltete eigenständige Altersversorgung. Über das Dienstverhältnis des Herrn M. zur Beklagten existieren ebenfalls nach deren ei-genen Angaben keine Personalakten bzw. schriftlichen Unterlagen mehr.
4Durch Scheidungsurteil des Amtsgerichts- Familiengericht- Münster vom 31.10.2000 – 00 F 009/00- , waren der Klägerin Versorgungsanwartschaften in Höhe von monatlich 942,43 DM bezogen auf die Versorgung des O.M. bei der Beklagten übertragen wor-den. Die Beklagte hatte zuvor, wie die familiengerichtliche Entscheidung belegt, dort eine Ehezeitauskunft erteilt. Auf Rechtsmittel von Frau M. gegen das Scheidungsur-teil wurden ihr dann durch Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm vom 27.04.2001 - 00 UF 000/00 Anwartschaften aus den Versorgungsansprüchen des O.M. beim D. N. in deutlich höherem Umfang übertragen. Die Beklagte war im Verfah-ren über den Versorgungsausgleich durchgängig eingebunden. Auch im OLG-Beschluss vom 27.04.2001 - 00 UF 000/00 wird sie als Beteiligte zu 1 aufgeführt. Für Frau M. wurden nun durch das OLG Hamm Anrechte in Höhe von 1.129,48 DM (577,49 EUR) monatlich - bezogen auf das Ehezeitende am 31.01.2000 - im Rahmen des analogen Quasi-Splittings nach §1 Abs. 3 Versorgungsausgleichs-Härteregelungs-Gesetz (VAHRG) in der Fassung bis zum 31.08.2009 auf ihrem Versi-cherungskonto bei der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (jetzt Deutsche Rentenversicherung Bund) begründet und die Umrechnung in Entgelt-punkte angeordnet. In seiner Beschlussbegründung führte der erkennende Famili-ensenat beim OLG Hamm u.a. aus, dass es sich bei dem D. um einen öffentlich-rechtlichen Versorgungsträger handele, der die Realteilung nicht zulasse, so dass der Ausgleich entsprechend dem damaligen § 1 Abs. 3 VAHRG in Verbindung mit § 1587b Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), jeweils in der Fassung bis zum 31.08.2009, durch Begründung von Anrechten in der gesetzlichen Rentenversiche-rung zu erfolgen habe. Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird Bezug genommen auf das Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Münster und den Beschluss des OLG Hamm, der seit dem 06.06.2001 rechtskräftig ist. Zu Gunsten der Rentenberech-tigten Frau M. hat die Klägerin diese Entscheidung des OLG Hamm sodann im Neu-berechnungsbescheid zur Regelaltersrente vom 06.08.2001 umgesetzt. Der Anlage 6 (persönliche Entgeltpunkte) dieses Bescheides ist zu entnehmen, dass die Renten-leistung durch den Zuschlag aus dem durchgeführten Versorgungsausgleich im Um-fang von 23,3895 Entgeltpunkte verbessert wurde. Der monatliche Zahlbetrag der Al-tersrente an Frau M. ab 01.07.2001 betrug 1.788,314 DM.
5Nachdem die Ausgleichsberechtigte Frau M. am 00.00.2016 verstorben war, machte die Klägerin erstmals mit Schreiben vom 23.11.2017 und erneut am 13.04.2018 schriftlich gegenüber der Beklagten ihre Erstattungsforderung nach § 225 Abs. 1 SGB VI aufgrund der durch Versorgungsausgleich begründeten Rentenanwartschaft für die Zeit vom 01.07.2001 bis 31.01.2016 geltend. Die Forderung belief sich auf 116.770,79 Euro. Mit Schreiben vom 18.01.2018, 11.05.2018 und 10.12.2018 lehnte die Beklagte die Erstattung der für Zeiten bis zum 31.12.2013 angeforderten Beträge unter Berufung auf die Einrede der Verjährung ab und führte dazu u.a. aus: Sie sei eine gemeinnützige diakonische Einrichtung und finanziere sich durch Beiträge u.a. der älteren Bewohner der von ihr betriebenen Alten- und Pflegeeinrichtungen. Es käme eine hälftige Erstattung in Frage. Laut Schreiben der Beklagten vom 10.12.2018 sah sie im Übrigen die für die Zeit vom 01.01.2014 bis zum 31.01.2016 ebenfalls am 23.11.2017 geltend gemachten Erstattungs-Teilforderung in Höhe von 17.670,83 EUR nicht als verjährt an. Sie hat diese Summe unstreitig vorprozessual beglichen. Ab-schließend hielt die Beklagte sämtlichen weitergehenden Erstattungsansprüche die Einrede der Verjährung entgegen bzw. bzw. wandte gegen diese Verwirkung ein.
6Die Klägerin hat sodann am 05.04.2019 bei dem Sozialgericht (SG) Münster Zah-lungsklage auf Erstattung von 99.099,96 EUR erhoben. Sie trägt vor, sie sei als Träger der gesetzlichen Rentenversicherung an rechtskräftige familiengerichtliche Ent-scheidungen gebunden (Bundessozialgericht -BSG – Urt. v. 10.06.2013 - B 13 R 1/13 BH = FamRZ2013, 1578). Daher habe sie in der Zeit vom 01.07.2001 bis zum 31.01.2016 Leistungen aufgrund familiengerichtlicher Entscheidung des OLG Hamm vom 27.04.2001 begründete Anrechte aus dem Versorgungsausgleich an Frau H.M. erbracht. Ihre Aufwendungen aufgrund der begründeten Rentenanwartschaften für die Zeit vom 01.07.2001 bis zum 31.12.2013 seien durch die Beklagte als den zustän-digen Träger der Versorgungslast noch zu erstatten (§ 225 Abs. 1 SGB VI). Ihre Forderung in Höhe von 99.099,96 EUR bezifferte die Beklagte wie folgt Jahr 2001 3.794,87 EUR (7.422,14 DM) Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2002 7.666,71 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2003 7.781,68 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2004 7.796,35 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2005 7.788,56 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2006 7.788,56 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2007 7.808,22 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2008 7.868,56 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2009 7.999,05 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2010 8.088,85 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2011 8.126,76 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2012 8.248,90 EUR Anforderung vom 23.11.2017 • Jahr 2013 8.342,89 EUR Anforderung vom 23.11.2017
7Zur Begründung des Erstattungsbegehrens bezieht sich die Klägerin maßgeblich auf das Urteil des Landessozialgerichts – LSG - Berlin Brandenburg vom 26.02.2020 - L 16 R 670/19, juris, dass sie auch nochmals im Verhandlungstermin im Volltext überreich-te. Sie erachtet danach die Erstattungsforderung nicht als verjährt und führt im Ein-zelnen aus: "Die in der Zeit vom 01.07.2001 bis zum 31.12.2013 entstandenen Auf-wendungen aufgrund der durch die familiengerichtliche Entscheidung begründeten Rentenanwartschaften wurden seitens der Deutschen Rentenversicherung Bund erst-malig mit Schreiben vom 23.11.2017 geltend gemacht. Verjährung für die in Rede ste-henden Erstattungsforderungen war insoweit nach § 2 VAErstV noch nicht eingetreten. Gemäß § 2 Abs. 1 VAErstV soll der Träger der Rentenversicherung die zu erstattenden Aufwendungen innerhalb von vier Kalendermonaten nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind, feststellen und vom zuständigen Träger der Versor-gungslast anfordern. Fällig wird der Erstattungsanspruch sechs Monate nach Eingang der Anforderung beim zuständigen Träger der Versorgungslast (§ 2 Abs. 3 VAErstV). Nach § 2 Abs. 4 VAErstV verjährt der Erstattungsanspruch des Rentenversicherungs-trägers in vier Jahren nach dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem er fällig geworden ist. Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 VAErstV handelt es sich insoweit um eine "Soll-vorschrift", aus der sich im Hinblick auf die Verjährung eines Erstattungsanspruchs kei-ne Rechtsfolgen ableiten lassen. In § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV wird nicht an die "Mög-lichkeit" der Anforderung des Erstattungsbetrages angeknüpft, sondern an die konkrete Anforderung und den daraus resultierenden Zeitpunkt der Fälligkeit. Die Fälligkeit tritt dann sechs Monate nach Eingang der Erstattungsanforderung beim zuständigen Ver-sorgungsträger ein (§ 2 Abs. 3 VAErstV). Die Ansicht der Deutschen Rentenversiche-rung Bund wird vom LSG Berlin- Brandenburg Urt. v. 17.02.2015 - L 4 R 819/12 NZB, juris, und vom 08.12.2015 -: L 12 R 53/13 geteilt. Da die Erstattungsforderung mit Schreiben vom 23.11.2017 für die Aufwendungen vom 01.07.2001 bis zum 31.12.2013 geltend gemacht wurde, trat die Fälligkeit erst im Mai 2018 ein. Die vierjährige Verjäh-rungsfrist des § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV kann daher im Zeitpunkt der Erstattungsanfor-derung noch nicht abgelaufen gewesen sein."
8Die anderslautende Ansicht der Beklagten überzeugten die Klägerin nicht. Sie trat dem mit weiteren Schriftsatz vom 23.07.2019 wie folgt entgegen: "Soweit die Beklagte meint, die Soll-Vorschrift in § 2 Abs. 1 VAErstV wäre ohne jegliche Bedeutung und. die Klägerin würde hierdurch jenseits Verjährungsfristen Forderungen in beliebiger Höhe geltend machen, ist dies so pauschal nicht zutreffend. Denn die Klägerin ist als Organ der Exekutive an Recht und Gesetz gebunden und hält die Erstattungsanforderungsfrist des §2 Abs. 1 VAErstV regelmäßig ein. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen erfolgt die Erstattungsanforderung abweichend von § 2 Abs. 1 VAErstV. Aus Sicht der Kläge-rin hat sich der Verordnungsgeber aber bewusst dafür entschieden, den zeitlichen Rahmen in §2 Abs. 1 VAErstV als Soll-Vorschrift zu formulieren und die Fälligkeit un-eingeschränkt vom Eingang der Erstattungsforderung beim Träger der Versorgungslast abhängig zu machen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Verordnungsbe-gründung oder der einschlägigen Literatur. Es ist insofern davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber mit. der Ausgestaltung der Verjährungsvorschrift auch die Durch-setzung von Erstattungsforderungen, die beispielsweise auf einer rückwirkenden Leis-tungsfeststellung beruhen, ermöglichen wollte. Diese könnten nämlich im Zeitpunkt der Anforderung mitunter bereits verjährt sein. Ein entsprechender Wille des Verordnungs-gebers, bestimmte Erstattungsforderungen - also beispielsweise solche, die auf einer rückwirkenden Leistungsfeststellung beruhen - von der Durchsetzung auszunehmen, ist jedenfalls nicht erkennbar. Der Verordnungsgeber sah also offensichtlich keinen hin-reichenden sachlichen Grund, Erstattungsansprüche, die ausnahmsweise nicht im normierten Zeitrahmen nach § 2 Abs. 1 VAErstV angefordert würden, von der ein-deutigen Verjährungsregelung des § 2 Abs. 4 VAErstV auszunehmen. Aus diesem Grund ist eine Sanktionierung bei einer im Einzelfall verspätet geltend gemachten Er-stattungsforderung gesetzlich nicht vorgesehen. Ebenso wenig ergibt sich aus den Ge-setzesmaterialien, dass eine etwaige Sanktionierung angedacht war. Die eindeutige Verjährungsregelung in der VAErstV führt demgemäß auch bei im Einzelfall verspäte-ter Erstattungsanforderung zu keiner Sanktionierung oder Verjährung des Erstattungs-anspruchs (siehe Bachmann in Hauck-Noftz, SGB VI § 225 Rn 15). Gegen das Prinzip der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit verstößt §2 Abs. 4 S. 1 VAErstV nicht, da an die eindeutige Fälligkeitsregelung des § 2 Abs. 3 VAErstV angeknüpft wird."
9Zudem hält die Klägerin die Erstattungsforderung auch in Ansehung des hilfsweisen Vorbringens der Beklagten zur Verwirkung weiterhin für durchsetzbar:" Die Verwir-kung ist als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) aner-kannt und bedeutet als Hauptanwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Verhal-tens, dass ein Recht nicht mehr ausgeübt werden kann, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung eine längere Zeit verstrichen ist. Zusätzlich setzt die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung jedoch zwingend voraus, dass weitere be-sondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebiets das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsver-halten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen wer-de (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in sei-nen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entste-hen würde (BSG SozR 2200 § 1399 Nr. 11; BVerwGE 44, 339, 343 f m.w.N.). Der ande-re Beteiligte muss insoweit Anlass zur Annahme gehabt haben, dass der Berechtigte von seinem Recht keinen Gebrauch mehr machen werde (BSG SozR 3900 § 47 Nr. 3). Ein bloßes "Nichtstun" reicht als Verwirkungsverhalten regelmäßig nicht aus. Vielmehr muss darüber hinaus ein konkretes Verhalten des Gläubigers hinzukommen, welches beim Schuldner die berechtigte Erwartung erweckt hat, dass eine Forderung nicht be-stehe oder nicht geltend gemacht werde (BSG SozR 2200 § 1399 Nr. 11). Vorliegend hat die Klägerin hinsichtlich der in Rede stehenden Erstattungsforderungen zu keinem Zeitpunkt durch aktives Handeln den Eindruck erweckt, auf diese verzichten zu wollen. Zwar hat es die Klägerin längere Zeit unterlassen, die Erstattungsförderungen seit dem 01.07.2001 geltend zu machen. Der Zeitablauf allein stellt jedoch ein Verwirkungsver-halten noch nicht dar. Denn die Verwirkung unterscheidet sich von der Verjährung dadurch, dass der bloße Zeitablauf nicht genügt, um die Ausübung des Rechts als un-zulässig anzusehen. Nichtstun, also Unterlassen, kann ein schutzwürdiges Vertrauen ausnahmsweise allenfalls dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten darf (BSG vom 13.11.2012, AZ.: B 1 KR 24/11, BSGE 112, 141). Anzumerken ist diesbezüglich, dass die durch das BSG entwickelte Definition für die Verwirkung von Ansprüchen auf das sozialrechtstypische Verhältnis zwischen = Leistungsträger und Leistungsempfänger zugeschnitten ist und nur in Ausnahmefällen auf das Verhältnis zwischen Leistungsträ-gern untereinander passt (LSG Berlin-Brandenburg vom 26.06.2014, AZ.: L 3 U 175/12, juris, Rn 12). Die Verwirkung eines Erstattungsanspruchs kommt demnach nur bei ei-nem außergewöhnlich schwerwiegenden Fehlverhalten des Leistungsträgers, der die Erstattung verlangt, in Betracht (BSG vom 01:04.1993, AZ.: 1 RK 16/92, juris, Rn 23 ff.).Ein solcher Fall ist vorliegend durch die unterlassene zeitnahe Anforderung jedoch nicht gegeben. Selbst wenn es die Klägerin unterlassen hat, die Erstattungsforderung entsprechend dem in § 2 Abs. 1 VAErstV normierten Zeitrahmen geltend zu machen, stellt dies weder ein Verwirkungsverhalten dar, noch kann das "bloße Nichtstun" der Klägerin als bewusst und planmäßig erachtet werden (in diesem Sinne BSG vom 01.07.2010. hZ. B 13 R 67/09 R, SozR 4-2400 § 24 Nr. 5 Rn 34). Auf die zutreffenden Ausführungen des LSG Berlin-Brandenburg im Urteil vom.08.12.2015 (AZ: L 12 R 53/13) wird im Übrigen verwiesen. Der Hinweis der Beklagten, sie habe nichts von der Scheidung und dem Versorgungsausgleich! Zu Lasten der bei ihr bestehenden An-rechte des Ausgleichspflichtigen, Herrn O. M., gewusst, verfängt in diesem Zusam-menhang ebenfalls nicht. So hat die Beklagte im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahrens eine entsprechende Ehezeitauskunft erteilt, wie die Entscheidungsgründe im Urteil des Amtsgerichts Münster - Familiengericht - vom 31.10,2000 (AZ: 00 F 00 F/00) belegen. Im Übrigen ist die Beklagte in der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 27.04.2001 (AZ: 00 UF 000/00) als Beteiligte zu 1 aufgeführt. Sollte der Beklagten die Entscheidung dennoch nicht bekannt gegeben worden sein, so kann sich das hinsichtlich der Erstattungsforderung nicht zulasten der Klägerin auswirken."
10Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie einen Betrag von 99.099,96 EUR zu zahlen.
11Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
12Die Beklagte tritt der streitigen Erstattungsforderung vollumfänglich folgendermaßen entgegen: " Ob die Klägerin tatsächlich in der Zeit vom 01.07.2001 bis zum 31.01.2016 Leistungen aus dem durch die familiengerichtliche Entscheidung vom 27.04.2019 be-gründeten Anrecht an die frühere Ehefrau erbracht hat, entzieht sich der Kenntnis der Beklagten. Entsprechende Belege durch die Klägerseite sind insoweit nicht erbracht worden. Erstmals mit Schreiben vom 23.11.2017 forderte die Klägerin die Erstattung der Beträge für den oben genannten Zeitraum von der Beklagten. Die Beklagte beglich Erstattungsforderungen der Klägerin i.H.v. 17.670,83 EUR, die für den Zeitraum vom 01.01.2014 bis zum 31.01.2016 geltend gemacht wurden. Eine darüber hinausgehende Zahlung lehnte die Beklagte ab. Die Klägerin hat keinen Zahlungsanspruch gegenüber der Beklagten in Höhe von weiteren 99.099,96 EUR. Ausdrücklich machen wir im Namen der Beklagten die Einrede der Verjährung geltend. Die Klägerin ist der Auffassung, die Erstattungsforderung sei nicht verjährt. § 2 Abs. 1 VAErstV sei eine sogenannte "Soll-vorschrift", aus der sich im Hinblick auf die Verjährung eines Erstattungsanspruchs kei-ne Rechtsfolgen ableiten lassen. In § 2 Abs. 4 S. 1 VAErstV werde nicht an die Mög-lichkeit der Anforderung des Erstattungsbetrages angeknüpft, sondern an die konkrete Anforderung und den daraus resultierenden Zeitpunkt der Fälligkeit. Die Fälligkeit trete dann 6 Monate nach Eingang der Erstattungsforderung zuständigen Versorgungsträger ein. Die Klägerin meint, dass die Fälligkeit erst im Mai 2018 eingetreten sei, da die Er-stattungsforderung mit Schreiben vom 23.11.2017 für die Aufwendungen vom 01.07.2001 bis zum 31 12. 2013 geltend gemacht worden sei. Insoweit könne die 4-jährige Verjährungsfrist im Zeitpunkt der Erstattungsanforderung noch nicht abgelaufen gewesen sein. Den Ausführungen der Klägerin kann aber nicht gefolgt werden. Würde man den dortigen Ausführungen folgen, so hätte es die Klägerin als Gläubigerin in die-sen Fällen in der Hand, die Verjährung ganz nach ihrem Belieben in Gang zu setzen. Das Wort "sollen" in § 2 Abs. 1 VAErstV wäre sodann ohne jegliche Bedeutung. Das Ingangsetzen der Verjährungsfrist, ein nicht unwesentliches Merkmal der Rechtsstaat-lichkeit, läge dann allein in der Hand der Gläubigerin. Jenseits aller gesetzlichen Ver-jährungsfristen könnten Forderungen in beliebiger Höhe noch geltend gemacht wer-den, weil zuvor eine Erstattungsforderung noch nicht geltend gemacht worden ist. Wür-de man dieser Auslegung folgen, so könnte der Schuldner noch nach Jahr und Tag mit einer Forderung in beliebiger Höhe konfrontiert werden. Auch aus dem seitens der Klä-gerin zitierten Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 08.12.2015 ergibt sich, dass § 2 Abs. 1 VAErstV nicht in diesem Sinne ausgelegt werden darf. Hier heißt es, eine Soll-vorschrift räume der Behörde im Regelfall kein Ermessen ein, sondern ermögliche nur ausnahmsweise in atypischen, besonders gelagerten Fällen ein Abweichen von der Vorschrift. In diesen Fällen sei dann außerdem Ermessen auszuüben. Weshalb es sich vorliegend um einen atypischen, besonders gelagerten Fall handeln soll, erschließt sich in keiner Weise. Außerdem hat die Klägerin bisher keinerlei Ermessen ausgeübt. Im Ergebnis war die Klägerin verpflichtet, entsprechend § 2 Abs. 1 VAErstV, die zu er-stattenden Aufwendungen innerhalb von 4 Kalendermonaten nach Ablauf des Kalen-derjahres, in dem sie fällig geworden sind, festzustellen und vom zuständigen Träger der Versorgungslast anzufordern. Die erstmalige Anforderung erfolgte - unstreitig - mit Schreiben vom 23.11.2017. Unter Berücksichtigung der 4-jährigen Verjährungsfrist sind sämtliche Ansprüche auf Erstattung von Zahlungen, die bis zum 31.12.2013 er-folgt sind, verjährt." Ergänzend rügt die Beklagte mit Schriftsatz vom 10.08.2020 die Unwirksamkeit der herangezogenen Rechtsverordnung wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsgebot sowie das Demokratieprinzip:" Die Verordnung verstößt gegen den Gesetzesvorbehalt. Der Gesetzesvorbehalt ist Kennzeichen des Rechtsstaatsprinzips und besagt, dass we-sentliche Regelungen ein Tätigwerden des Gesetzgebers bedürfen. Das Demokratie-prinzip besagt, dass Gesetze hinreichend bestimmt sein müssen. Ermächtigt der Ge-setzgeber die Verwaltung zum Erlass von Rechtsverordnungen, so darf er die wesentli-chen Entscheidungen nicht an die Verwaltung delegieren. Nach Art. 80 Abs. 1 GG kön-nen die Bundesregierung, ein Bundesminister oder Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. In § 226 SGB VI wird die Bun-desregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates das Nähere über die Berechnung und die Durchführung der Erstattung von Aufwen-dungen durch den Träger der Versorgungslast zu bestimmen. Es mag sein, dass unter die Durchführung der Erstattung auch die Regelung der Fälligkeit und der Verjährung fallen. Die Ermächtigungsgrundlage ist jedoch nicht hinreichend bestimmt dahinge-hend, dass das Rechtsinstitut der Verjährung durch die Verordnung geradezu abge-schafft werden kann. Im SGB ist die Verjährung als Grundsatz in § 45 I geregelt. Dieser gilt grundsätzlich für das gesamte Sozialrecht. Weitere spezielle Verjährungsnormen sind in § 27 SGB IV, § 50 SGB X und § 113 SGB X enthalten. In all diesen Normen gilt grundsätzlich, dass Ansprüche nach vier Jahren ab Entstehung des Anspruches ver-jähren. Bei § 50 SGB X wird dabei an die Bestandskraft des Verwaltungsaktes ge-knüpft, bei § 113 SGB X an die Kenntnis der Erstattungspflicht, bei § 27 SGB IV wird an die Zahlung der Beiträge geknüpft, in § 45 wird generell an die Entstehung des Anspru-ches angeknüpft. § 2 VAErstV hingegen knüpft statt an die Entstehung des Anspruches an dessen Fälligkeit an und bestimmt zudem in Absatz 3 den Eintritt der Fälligkeit. Die Fälligkeit soll erst durch Geltendmachung des Anspruches entstehen. Damit wird eine Ausnahme vom generellen Prinzip des Verjährungsbeginns mit Entstehung des An-spruches gemacht. Eine so weitreichende Ausnahme von den Prinzipien hinsichtlich des Beginnes der Verjährung ist durch § 226 Abs. 1 SGB VI nicht gedeckt. Durch diese Regelung wird die Verjährung quasi außer Kraft gesetzt. Das Grundprinzip der Verjäh-rung dient dem Rechtsfrieden. Es kann nicht sein, dass es dem Leistungsberechtigten frei steht zu bestimmen, wann ein Erstattungsanspruch fällig wird und wann somit die Verjährungsfrist in Gang gesetzt wird. Um eine solche Regelung zu treffen, hätte es ei-ner ausdrücklicheren Ermächtigungsgrundlage bedurft. Eine solche Ausnahmerege-lung ist nicht vom Zweck der Verordnungsermächtigung erfasst. Eine Regelung, die den Beginn des Laufes der Verjährungsfrist in das Belieben des Anspruchsberechtig-ten stellt, steht dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verjährung entgegen und hätte ei-nes gesetzgeberischen Tätigwerdens bedurft. Zumindest hätte die Ermächtigungs-grundlage bestimmter und klarer sein müssen. Somit gilt nicht die Verjährungsfrist ge-mäß VAErstV, sondern die allgemeine Verjährung von 4 Jahren, deren Lauf mit Ent-stehen des Anspruches begann." Rein vorsorglich macht sie zusätzlich die Einwendung der Verwirkung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) geltend. Die Klägerin sei jedenfalls dadurch gehindert, Ansprüche bis einschließlich 31.12.2013 weiter verfolgen zu dür-fen. So habe sie, die Beklagte, erstmals mit Schreiben der Klägerin vom 23.11.2017 Kenntnis davon erhalten, dass Frau H.M. eine entsprechende Rente erhielt, dies ent-sprechend der Aufstellung der Klägerin bereits seit dem 01.07.2001. Hiervon sei die Beklagte erstmals im November 2017, also nach mehr als 16 Jahren (!), überhaupt in-formiert worden. Ihre Personalabteilung habe auch nicht gewusst, dass ihr früherer Verwaltungsleiter, Herrn O.M., durch Urteil des Familiengerichts vom 31.10.2000 ge-schieden worden war. Zum damaligen Zeitpunkt sei er längst aus dem Arbeitsverhält-nis ausgeschieden gewesen. Es gebe heute nicht einmal mehr Personalunterlagen über ihn in der Buchhaltung. Mit der Geltendmachung einer Erstattungsforderung, die ihren Ursprung im Jahr 2001 finde, habe sie daher nicht mehr rechnen müssen. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben sowie der Verkehrs-sitte wäre es der Klägerin ohne weiteres möglich gewesen, die nunmehr geltend ge-machten Erstattungsansprüche bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt von ihr zurückzufordern. Jetzt werde sie mit einer immensen Forderung überzogen, die bei korrektem Verhalten der Klägerin, also bei rechtzeitiger Geltendmachung, in monatli-chen Raten hätte beglichen werden können. Dies widerspreche erheblich den Grundsätzen von Treu und Glauben. Die Zeitabläufe unterschieden sich auch erheb-lich von denjenigen in der Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg. Die Klägerin mache hier die Erstattungsforderung immerhin über 16 Jahre später geltend. Sie, die Beklagte, habe in jedem Fall darauf vertrauen dürfen, einer solchen Erstattungsforde-rung nicht (mehr) ausgesetzt zu werden. Das Gericht hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 30.09.2002 den Beteilig-ten noch die Besprechung zum Urteil des LSG Berlin Brandenburg vom 26.02.2020 mit Anmerkung Stäbler, NZS 2020, 511, sowie das vorbereitend vom Archiv des SG Berlin beigezogene unveröffentlichte dortige Urteil vom 28.08.2019 - S 30 R 3366/18 zur Kenntnis und zum Verbleib ausgehändigt.
13Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der von der Beklagten beigezogenen, die Ver-storbene H.M. betreffenden, Versichertenakte Bezug genommen. Auch dieser ist Ge-genstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen.
14Entscheidungsgründe:
15Die Klage betreffend den rentenrechtlichen Vollzug der familiengerichtlichen Ent-scheidung über den Versorgungsausgleich ist nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als echte Leistungsklage statthaft. Denn der damit geltend gemachte Erstat-tungsanspruch stellt einen Rechtsanspruch dar, über den kein Verwaltungsakt erge-hen muss. Damit ist die Klage insgesamt zulässig und auch wie tenoriert begründet.
16Rechtsgrundlage für den hier betroffenen Erstattungszeitraum ist als gesetzliche Er-mächtigungsregelung § 225 SGB VI in Verbindung mit der nach § 226 SGB VI erlas-senen Versorgungsausgleichs-Erstattungsverordnung (VAErstV) vom Oktober 2001. Damit wird dem Rentenversicherungsträger ein Anspruch auf Erstattung seiner Auf-wendungen gewährt, die "aufgrund" der im Wege des Quasi-Splittings begründeten Rentenanwartschaften erbracht wurden. Dabei regelt die Grundnorm des § 225 Abs. 1 SGB VI zunächst lediglich die Erstattungspflicht dem Grunde nach, nicht aber Be-rechnung und Durchführung der nach Abs. 1 Satz 1 zu erstattenden Aufwendungen. Für die Ausführung im Einzelnen greift dann die Erstattungsverordnung vom 09.10.2001 ,BGBl. I 2001, S. 2628, ein.
17In zeitlicher Hinsicht folgt dies aus § 3 VAErstV. Danach umfasst der zeitliche An-wendungsbereich erstmals die Erstattung der im Jahre 2001 entstehenden Aufwen-dungen der Träger der Rentenversicherung. Das war hier angesichts des Neube-rechnungsbescheides der Klägerin vom 06.08.2001 zur Regelaltersrente für die zwi-schenzeitlich verstorbene Versicherte Frau H.M. mit Umsetzung des seit Juni 2001 rechtskräftigen Ausspruches zum Versorgungsausgleich unter Anwartschaftsüber-tragung vom Ex-Ehegatten O.M. zutreffend.
18Im Gegensatz zu Bedenken der Beklagten hat die Klägerin auch nach Ansicht der Kammer in Anwendung der VAErstV im Übrigen eine ordnungsgemäß erlassene und inhaltlich wirksame Rechtsverordnung angewandt. Der Verordnungsgeber hat mit der VAErstV vom 09.10.2001 von der nach §§ 225, 226 SGB VI bestehenden Verord-nungsermächtigung zur Überzeugung des Gerichts rechtswirksam Gebrauch ge-macht. Die Erstattungsverordnung vom 09.10.2001 ,BGBl. I 2001, S. 2628 , wie ausgeführt zeitlich hier anwendbar für Sachverhalte ab 2001, ist über die zugrundeliegende Er-mächtigung zu interpretieren und kann gegenüber der Ermächtigungsnorm keine abweichende materielle Regelung dahingehend treffen, welche Leistungen ihrer Art nach erstattungsfähig sind. Rechtsverordnungen sind abgeleitete Rechtsquellen und Ausdruck delegierter Rechtsetzung. Ihr Inhalt leitet sich vom Gesetz ab und nicht um-gekehrt (vgl. BSG SozR 3100 § 30 Nr. 52). Hiernach bleibt es dabei, dass solche Leis-tungen zu erstatten sind, die ohne die im Wege des Quasi- Splittings begründeten Rentenanwartschaften nicht hätten bewilligt werden können ( so bereits LSG NRW Urteil vom 17.05.2002 - L 14 RJ 84/01 , rechtskräftig, unveröffentlicht = SGB.NRW in-tern). Der Verordnungsgeber hat sich mit der VAErstV vom 09.10.2001 innerhalb der Ermächtigung gemäß § 226 Abs. 1 SGB VI bewegt. Danach kann die Bundesregie-rung mit Zustimmung des Bundesrates eine entsprechende Rechtsverordnung erlas-sen. Insoweit zitiert die VAErstV vom 09.10.2001 , BGBl. I 2001, 2628 im Einklang mit Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG auch § 226 SBGB VI schon in ihrer Eingangsformel als Er-mächtigungsgrundlage, ist insoweit also anders als diesbezüglich defizitäre Vorgän-ger-Verordnungen, nicht mehr von vornherein aus dem Grunde des Verstoßes gegen das Zitiergebot unwirksam ( vgl. BSG Urt. v. 09.11.1999 - B 4 RA 16/99 R, juris).
19Überdies regelt die VAErstV vom 09.10.2001 , aaO., im Einklang mit § 225 Abs. 1 SGB VI kausal den Erstattungsanspruch des Rentenversicherungsträgers gegen den Trä-ger der Versorgungslast für Aufwendungen, zu denen es ohne den Versorgungs-ausgleich in seiner Gesamtheit überhaupt nicht oder nicht im festgesetzten Umfang bei Leistungserbringung an den Ausgleichsberechtigten gekommen wäre ( vgl. eben-so BSG Urt. v. 09.11.1999- B 4 RA 16/99 R, juris). Ein Erstattungsanspruch wird dann begründet, wenn durch Entscheidung des Familiengerichts beim Ausgleichsberech-tigten Rentenanwartschaften übertragen werden, denen keine Beitragszahlungen gegenüberstanden. Dann ist es geboten und im Interesse der Gesamtheit der Versi-cherten sowie Beitragszahler der gesetzlichen Rentenversicherung erforderlich, dass der zuständige Rentenversicherungsträger den adäquaten Ausgleich dafür erhält. Die im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen Anwartschaften sind dabei auch hinreichend konkret genug bezeichnet. Sie sind durch Erstattung nach § 225 Abs. 1 SGB VI auszugleichen, soweit "aufgrund" von übertragenen Rentenanwart-schaften Aufwendungen erbracht werden. Dies war hier erkennbar der Fall. Nach Auffassung der Kammer ist schon aufgrund dieser gesetzlichen Regelungssystema-tik nach §§ 225, 226 SGB VI iVm der ausführenden, nach § 226 SGB VI erlassenen VAErstV vom 09.10.2001 , aaO., keine andere Beurteilung als die der Klägerin mög-lich. Damit hat der Gesetz- und Verordnungsgeber den Vorgaben des BSG u.a. in seiner o.g. Rechtsprechung Folge geleistet.
20Nach Ansicht der Kammer ist für Erstattungszeiträume ab dem 01.01.2001 die damals neu geschaffene Erstattungsverordnung entgegen der Beklagtenauffassung aus-drücklich anwendbar und gültig. Die Einwände der Beklagten überzeugen nicht. Denn zum einen hat der Bundesgesetzgeber in dem im Jahr 1989 parlamentarisch beschlossenen, zum 01.01.1992 in Kraft gesetzten gesetzlichen Rentenversiche-rungsrecht nach dem SGB VI die Ermächtigung zur Erstattungsregelung nach An-wartschaftsübertragungen in Fällen des Versorgungsausgleichs unter Beteiligung eines Trägers der öffentlich-rechtlichen Versorgungslast jenseits des gesetzlichen Rentensystems nach dem SGB VI gesondert und differenziert ausgestaltet. Die VO-Ermächtigung in § 226 ermöglicht eine Konkretisierung der Ausgleichs- und Erstat-tungsregelungen in § 225 Abs 1 Satz 1 SGB VI ( vgl. Kater in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 226 SGB VI, Rn. 1, Stand Juli 2020,mwN). Das ist weder dem Rechtsstaatsgebot zuwider noch entgegen dem Demokratieprinzip erfolgt. Und zum anderen ist dies dem Grundgesetz auch in Art. 80 GG immanent. Danach gilt, dass durch Rechtsverordnung, delegierend an das zuständige Bundesministerium, Ausführungsregelungen geschaffen werden, die einem gesetzgeberisch erteilten Handlungsauftrag der Verwaltung im Einzelfall die notwendige Umsetzung eröffnen. Demgemäß hat dann ja auch der Bundesrat am 27.09.2001 gem. Art. 80 Abs. 2 GG der neuen VAErstV 2001 zugestimmt, vgl. BR-Drs 646/01, BR-Plenarprot. 767, S. 461D ( Beschluss: Zustimmung).
21Ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass es Hintergrund u.a. der Schaffung der Rechtsverordnungsnorm in Art. 80 GG rechtsgeschichtlich offenkundig war, dass dies bereits von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes im Rahmen der– gerade in Abkehr zur insoweit defizitären Weimarer Reichsverfassung – erkennbar so gewollt wurde. Das wurde dann auch in der Verfassung bei Inkrafttreten am 23.05.1949 so mit geregelt. Das nur zur Klarstellung , womit jedenfalls der neuen Verordnung ab 2001 angesichts der eindeutigen Vorschrift des § 225 SGB VI auch ein wirksamer an-spruchsausfüllender Charakter zukommt.
22Die Vorschrift des § 225 SGB VI konkretisiert das Ziel der Kostenneutralität des Ver-sorgungsausgleichs und betrifft ersichtlich das Verhältnis der Versorgungs- bzw. Rentenversicherungsträgers untereinander ( ebenso Bundesverwaltungsgericht – BVerwG- Beschl. v. 26 ...06.2017 – 10 B 25.16, juris Rn. 7 ff., 11). Sie soll mit dem BSG Urt. v. 21.03.2018 - B 13 R 17/15 R juris Rn. 31, in jedem Fall gewährleisten, dass der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung immer dann und insoweit Erstattung be-gehren kann, als seine Aufwendungen gegenüber dem Ausgleichsberechtigten ge-rade auf Anwartschaften beruhen, die durch eine familiengerichtliche Entscheidung über den Versorgungsausgleich erst begründet worden sind (vgl BSG Urteil vom 23.6.1994 – 4 R 51/93, juris, Urt. v. 09.11.1999, aaO., juris Rn. 28, mwN). Denn die un-selbstständige Hilfs- und Garantiefunktion des Erstattungsverfahrens und das Prinzip der Kostenneutralität gebieten es sicherzustellen, dass die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung weder mit der Ungewissheit, ihrerseits Erstattung zu erlangen, zur Vorleistung verpflichtet werden noch abschließend mit Leistungspflichten belastet bleiben, denen entsprechende Einnahmen nicht gegenüberstehen.
23Des Weiteren erforderte die Verjährungsregelung in § 2 VAErstV entgegen der An-sicht der Beklagten angesichts anderslautender, aktueller, auch obergerichtlicher Rechtsprechung, der sich die Kammer nach eigener Überprüfung als überzeugend anschließt, kein formelles Parlamentsgesetz. Diese Verordnungsnorm - § 2 VAErstV -lehnt sich nämlich gerade an die gesetzliche Vierjahresverjährung im Sozialgesetz-buch im Übrigen – worauf die Verordnungsbegründung (vgl. bereits oben, BR-Drucks 646/01) auch zutreffend hinweist –an ( ebenso LSG Berlin-Brandenburg Urt. v.26.02.2020 - L 16 R 670/19, rechtskräftig, SG Berlin Urt.v.28.08.2019 – S 30 R 3366/18 bestätigend ). Die BR-Drcks. 646/01 vom Bl. 8, 9 ,hier aktenkundig, besagt: Insgesamt geht hier auch das Gericht mit der Klägerin von einer rechtswirksam nach §§ 225, 226 SGB VI erlassen, verfassungskonformen, im hier streitigen Erstattungs-zeitraum anwendbaren VAErstV vom 09.10.2001 aus. Danach war über die Erstattung von Aufwendungen für die auf Frau M. übertragenen Rentenanwartschaften auf-grund des Versorgungsausgleichs aus den Versorgungsansprüchen des Herrn O.M. im Einzelnen zu befinden.
24Die Rechtsgrundlage des erhobenen Anspruchs ist § 225 Abs. 1 Satz 1 SGB VI. Hier-nach werden die Aufwendungen des Trägers der Rentenversicherung aufgrund von Rentenanwartschaften, die durch Entscheidung des Familiengerichts begründet worden sind, von dem zuständigen Träger der Versorgungslast erstattet. Die Voraus-setzungen sind erfüllt. Es liegt eine rechtskräftige Begründung von Rentenanwart-schaften für den ausgleichsberechtigten Ehegatten nach § 1587b BGB alte Fassung zu Gunsten der Frau H.M. durch rechtskräftig gewordenen Beschluss des OLG Hamm vom 27.04.2001 vor. Der Klägerin sind dadurch Aufwendungen aus Leistungen der Versicherung der ausgleichsberechtigten Frau M. erwachsen (§ 1 Abs. 2 VAErstV). Die Berechnung der Aufwendungen durch die Klägerin gegenüber der Beklagten entspricht § 1 Abs. 3 VAErstV und ist deswegen nicht zu beanstanden, und zwar so-wohl in der vorprozessualen schriftlichen Erstaufforderung vom 23.11.2017 als auch in der an das erkennende Gericht adressierten Klageschrift vom 02.04.2019.
25Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 VAErstV fallen in den sachlichen Geltungsbereich ua ... die Erstattungsansprüche aus § 225 Abs. 1 Satz 1 SGB VI. Da der Anspruch der Klägerin hier erstmals mit Eingang der Erstattungsforderung bei der Beklagten von November 2017 fällig geworden ist (vgl § 2 Abs. 3 VAErstV) ist, kann somit die vierjährige Verjäh-rung auch für die hier noch streitbefangene Forderung bezogen auf den Zeitraum vom 01.07.2001 bis 31.12.2013 erst mit Ablauf des Jahres 2021 eintreten. Die Rege-lungen in § 2 VAErstV bestimmen - entgegen der Meinung der Beklagten kein eigen-ständiges, von der regelmäßigen vierjährigen Verjährung von Ansprüchen aus dem Sozialgesetzbuch abweichendes "Verjährungsregime. Sie lehnen sich an die Vierjah-resfrist , wie oben schon mit Hinweis auf den Bundesrat, aaO., dargelegt, gerade an. Mit § 113 SGB X in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung, auf den die Begrün-dung des Verordnungsgebers , s.o., nur Bezug nehmen konnte, legt die von der Be-klagten vorgenommene Auslegung indes auch wiederum nicht nahe (ebenso über-zeugend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 26.02.2020 L 16 R 670/19 juris). Denn in § 113 SGB X in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung wird im Unterschied zu der bis 31. Dezember 2000 geltenden Regelung des § 113 SGB X aF für den Beginn der Verjährungsfrist gerade nicht (mehr) an die Entstehung des Anspruchs ange-knüpft.
26Ausgehend von § 225 Abs. 1 Satz 1 SGB VI hat der insoweit ermächtigte Verord-nungsgeber für die vorliegende Fallgestaltung eine klare und nicht weiterer gerichtli-cher Auslegung bzw. Ausdeutung seitens der Beteiligten zugängliche Verjährungs-regelung getroffen. Diese erlaubt es, die Beklagte eben auch noch derzeit für die Aufwendungen der Klägerin ab der Rentenanpassung für die verstorbene Frau M. zum 01.07.2001 wie geschehen rechtswirksam auf Erstattung in Anspruch zu neh-men.
27Es schadet dabei nicht, dass die Klägerin ihren Aufwendungsersatzanspruch auch hier ebenso unstreitig wie offenkundig nicht innerhalb der Soll-Frist des § 2 Abs. 1 VAErstV angefordert hat. Die Erstattungsanforderung datiert erst vom 23.11.2017. Sanktionsregelungen bei einer derart weit fristfern ergangenen, Zeiträume ab 01.07.2001 umfassenden, Erstattungsanforderung hat der Verordnungsgeber aber gerade auch nicht geregelt. Sie waren ausweislich der aktenkundigen Begründung des Verordnungsgebers (vgl BR-Drucks 646/01 S 9) auch nur für eine verzögerte Zahlung des fälligen Erstattungsanspruches (zB im Wege von Verzugszinsen) erwo-gen worden. Augenscheinlich ist der Verordnungsgeber daher davon ausgegangen, dass die Träger der Rentenversicherung die Frist zur Anbringung der Erstattungsfor-derung im Regelfall einhalten (vgl zum Ganzen auch LSG Berlin-Brandenburg Urt. v. 26.02.2020 - L 16 R 670/19 juris Rn.19 sowie Beschluss vom 17.02.2015 – L 4 R 819/12 NZB,juris und vertiefend auch zum Ausschluss einer Analogie mangels plan-widriger Regelungslücke ebenfalls LSG Berlin-Brandenburg Urt. v.08.12.2015 – L 12 R 53/13, juris).
28Insbesondere ist die Gesamtregelung in § 2 Abs. 4 VAErstV von der Ermächtigungs-grundlage (§ 226 Abs. 1 SGB V) gedeckt. Auch Einwendungen dergestalt, die Norm ermächtige nur zur Bestimmung über "das Nähere über die Berechnung und die Durchführung der Erstattung von Aufwendungen" ermächtige und verstoße zudem gegen die aus Artikel 20 GG abzuleitenden Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, greifen zur Überzeugung des Gerichts hier nicht durch. Die Kammer schließt sich auch insoweit dem rechtskräftig gewordenen unveröffentlichten, hier aktenkundigen und den Beteiligten bereits in Volltext ausgehändigten Urteil des SG Berlin vom 28.08.2019 – S 30 R 3366/18an. Gegen die Prinzipien der Rechtssicher-heit und Rechtsklarheit verstößt auch insoweit isoliert § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV nicht. Danach verjährt der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalender-jahres, in der fällig geworden ist (§ 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV). Indem die Vorschrift auf die eindeutige Fälligkeitsregelung des § 2 Abs. 3 VAErstV aufbaut und daran an-knüpft, wann der Träger der Rentenversicherung seine Aufwendungen vom Träger der Versorgungslast anfordert, wird zu Recht und überzeugend ein eindeutiger Zeit-punkt bestimmt. § 2 Abs. 4 Satz 1 VAErstV ist angesichts des klaren Wortlauts nicht dahingehend auszulegen, dass es auf den Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs oder den Zeitpunkt der Kenntnis des Anspruchsberechtigten von der Forderung dem Grunde nach ankommt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 17.2.2015 - L 4 R 819/12 NZB, juris). Der Verjährungsbeginn hängt von der Fälligkeit der Erstattungsan-forderung ab und diese knüpft auch nach dem Verständnis der erkennenden Kam-mer wiederum nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs. 3 VAErstV an den "Ein-gang der Erstattungsanforderung" an( ebenso SG Berlin Urt. v. 28.08.2019 – S 30 R 3366/18).
29Dabei wird der Anspruch aber erst sechs Monate nach Eingang der Erstattungsforde-rung beim zuständigen Träger der Versorgungslast fällig (§ 2 Abs. 3 VAErstV). Hier-nach wurde die Erstattungsforderung - wie von der Klägerin mehrfach zutreffend schriftlich sowohl vorprozessual als auch im Klageverfahren dargelegt - erst im Janu-ar 2017 fällig und verjährt hier mit Ablauf des 31. Dezember 2021. Unschädlich ist nach alledem im Übrigen, dass die Klägerin entgegen § 2 Abs. 1 VAErstV die zu er-stattenden Aufwendungen nicht innerhalb von 4 Kalendermonaten nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Aufwendungen entstanden sind, von der Beklagten ange-fordert hat. Denn bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift ("soll") handelt es sich le-diglich um eine bloße Ordnungsvorschrift (Bachmann, in Hauck/Noftz, SGB VI, § 225 Rn. 15, Stand Februar 2018) und um keine Ausschlussfrist (Drechsler, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 225 Rn.30;LSG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 17.2.2015 - L 4 R 819/12 NZB).
30Schließlich ist die Klägerin hier zugesprochene Erstattungsforderung für die Zeit vom 01.07.2001 bis 31.12.2013 entgegen der Ansicht der Beklagten zur Überzeugung des Gerichts auch nicht verwirkt. Verwirkung setzt als Unterfall unzulässiger Rechtsaus-übung im Rahmen des Gebots von Treu und Glauben nach § 242 BGB voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums un-terlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonder-heiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspäte-te Geltendmachen des Rechts wörtlich treuwidrig, dem Verpflichteten gegenüber mit-hin als illoyal erscheinen lassen (so u.a. BSG Urt. v. 13.11.2012 - B 1 KR 24/11 R , ju-ris Rn. 37). Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Ver-wirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf ver-traut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Ver-trauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein un-zumutbarer Nachteil entstehen würde (ausdrücklich so BSG Urt. v. 13.11.2012, aaO., Urt. v.01. 07. 2010 – B 13 R 67/09 R , juris , Urt. V. 08.10.2010 – B 3 KR 7/14 R , juris). Hier ist allein ein ausschließlicher, bloßer Zeitablauf ab Umsetzung der OLG-Entscheidung zu Gunsten von Frau M. ab 01.07.2001 ohne irgendwelche anderen Erklärungen bzw. Kundgaben der Klägerin in Richtung auf die Beklagte bis zur Gel-tendmachung des Erstattungsanspruchs erstmals mit Schreiben der Klägerin vom 23.11.2017 tatsächlich objektiv festzustellen. Das wiederum begründet nach allge-meiner Ansicht in der Rechtsprechung schlicht und ergreifend mangels irgendeines fassbaren "Umstandsmoments" entgegen der isoliert anderslautenden Meinung der Beklagten eben noch kein Verwirkungsverhalten (LSG Berlin-Brandenburg 8.12.2015 - L 12 R 53/13, amtlicher Urteilsumdruck (UA) S. 13). Dies folgt schon daraus, dass der "bloße" Zeitablauf spezialgesetzlich durch die Verjährungsbestimmungen abschlie-ßend geregelt ist. Hinzutreten muss gerade das besondere Umstandsmoment, aus dem der Erstattungsverpflichtete den Rückschluss ziehen durfte, dass der Erstat-tungsberechtigte seine Forderung nicht mehr geltend machen werde (allgemeine An-sicht sowohl in Rechtsprechung als auch in der Literatur, ). Anderes kann aus-nahmsweise nur dann gelten, wenn auf Grund eines besonderen Rechtsverhältnis-ses eine Rechtspflicht zum Handeln besteht oder der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen der Verpflichtete berechtigterweise erwarten durfte, dass Schritte zur Rechtswahrung unternommen werden (Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 53 Rn. 24). Eine bloße Untätigkeit hingegen kann nur im Ein-zelfall ein schutzwürdiges Vertrauen begründen, wenn der Schuldner das Nichtstun des Gläubigers nach den Umständen als bewusst und planmäßig betrachten darf (Urt. v.01. 07. 2010 – B 13 R 67/09 R , juris , LSG Berlin – Brandenburg Urt. 27.09.2017 - L 18 AS 1941/16, juris, m.w.N.).
31Die Voraussetzungen eben dafür liegen hier aber auch nicht vor. Die Klägerin hat nach Aktenlage durch keine positive Handlung ansatzweise den Eindruck erweckt, sie würde von der Erstattungsforderung absehen. Die Klägerin hat bis 23.11.2017 ge-genüber der Beklagten bezogen auf die hier streitige Erstattungsforderung schlicht nichts unternommen. Sie war auch nicht gegenüber dem Beklagten verpflichtet, früh-zeitig verjährungshemmende Schritte zu unternehmen, wenn der Anspruchsberech-tigte (hier: die Klägerin) hinsichtlich der Verjährung anderer Auffassung ist als die Anspruchsverpflichtete (hier: die Beklagte).
32Hinzukommt, dass die Beklagte als Beteiligte in beiden Instanzen des familiengericht-lichen Verfahrens selbst bereits seit Zustellung des Scheidungsurteils des Familien-gerichts Münster im Jahr 2000 bzw. des Beschlusses des OLG Hamm vom April 2001 dem Grunde nach auch Kenntnis von der Überführung erheblicher Versorgungsan-spruchs-Anteile des Herrn O. M. an die ausgleichsberechtigte Frau H.M. hätte haben können und müssen. Die Beklagte ist dem nicht nachgegangen.
33Die Beklagte hätte als Trägerin der besonderen Versorgungslast aber – spiegelbildlich zur hier streitigen Erstattung an die Klägerin für die im Wege des Versorgungsaus-gleich an Frau M. übertragenen Anwartschaften –ihrerseits selbst gegenüber Herrn M. die entsprechende Kürzung von dessen öffentlich-rechtlicher Altersversorgung einleiten können.
34Jedoch ist hier nicht ersichtlich, welche Vorkehrungen die Beklagte als Trägerin der Versorgungslast in Bezug auf den begünstigten Versorgungsempfänger Herrn M. überhaupt getroffen hatte. Bekanntlich werden in der gesetzlichen Rentenversiche-rung nach dem SGB VI alle Rentenbezieher bereits mit dem jeweils bewilligenden Bescheid zutreffend unter Anwendung und Nennung der §§ 45, 48 SGB X verpflich-tet, sämtliche zahlungsrelevanten rechtlich-tatsächlichen Änderungen mit zuteilen, die Auswirkungen auf die Höhe der Altersversorgung haben könnten. Ob die Beklag-te ihren ehemaligen leitenden Mitarbeiter Herrn M., Jahrgang 1923, vergleichbar da-mit jemals schriftlich aufklärte und ihn aufforderte, derartig relevante Änderungen wie hier etwa einen Versorgungsausgleich infolge Ehescheidung auch noch nach Ru-hestandsbeginn mitzuteilen, konnte die Beklagte ja nicht einmal selbst aufklären. Ihr steht keine schriftliche Personalakte des O.M. zur Verfügung. Das entlastet sie jedoch nun wirklich nicht. Denn hier hätte die Beklagte Vorkehrungen bei Ihren Versor-gungsempfängern treffen müssen, um diese wie gesetzlich Rentenversicherte auch zur Mitteilung wesentlicher Änderungen anzuhalten. Das ist im Wege nachwirkender Treuepflichten u.a. dienst- bzw. arbeitsrechtlich zulässig und wie von der Beklagten auch nicht zu verneinen, sehr wohl in der Rechtsordnung für verschiedene Rechts-verhältnisse nach Beschäftigungsende – etwa neben der betrieblichen Altersversor-gung auch für sog. Deputate etc. etc. - allgemein anerkannt. So wäre auch Herr O.M. noch (wie viele ?) Jahre nach seinen Ruhestandsbeginn zu einer Mitteilung der Tat-sache der Ehescheidung im Jahr 2000 zulässig zu veranlassen gewesen. Die Beklagte hatte insoweit nach ihren eigenen schriftlichen Erklärungen bis zur Anspruchsanmeldung durch die Klägerin im November 2017 – d.h. nach Tod sowohl des Herrn O.M. als auch seiner Ex-Frau H.M. - keine Kenntnis davon, dass die Ehe überhaupt geschieden worden war.
35Dann aber war zusammengefasst auch nichts dafür ersichtlich, warum die Beklagte unbedingt darauf hätte vertrauen bzw. nicht mehr damit hätte rechnen müssen, von der Klägerin nicht doch noch mit etwaigen Erstattungsforderungen im Hinblick auf diesen versorgungsausgleichsrechtlichen Sachverhalt in Anspruch genommen zu werden.
36Die Beklagte konnte auch deshalb eben nicht mit schutzwürdigem Vertrauen davon ausgehen, dass die Klägerin ihre Erstattungsforderung nicht mehr geltend machen werde, weil wiederum die Klägerin diese nicht innerhalb der Frist des § 2 Abs. 1 VAErstV angefordert hatte. Denn dies hat als schlichte Untätigkeit innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens - wie ausgeführt - keinen positiven Erklärungswert. Im Übri-gen existiert hier außerhalb der VAErstV auch keine die Beklagte abschließend schützende Ausschlussfrist
37Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Ver-waltungsgerichtsordnung (VwGO).
38Die endgültige Festsetzung des Streitwerts erfolgt auf der Grundlage von § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 52 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG) , da um eine bezifferte Geldleistung gestritten wird.
39Zur Streitwertfestsetzung gilt die Rechtsmittelbelehrung 2, im Übrigen die Rechtsmit-telbelehrung 1.
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Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.4. Der Streitwert wird auf 97.376,92 Euro festgesetzt.
Tatbestand
1 Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einer Betriebsschließungsversicherung wegen der Schließung ihrer Gaststätte aufgrund der Maßnahmen der baden-württembergischen Landesregierung zur Verhinderung der Verbreitung des neuartigen Coronavirus geltend.2 Die Klägerin betreibt die Gaststätte (...). Sie unterhält bei der Beklagten einen Versicherungsvertrag über eine (...) Police mit der Versicherungsscheinnummer (...), die eine Betriebsschließungsversicherung umfasst (Versicherungsschein Anlagenkonvolut K 2). Der Betriebsschließungsversicherung liegen die Besonderen Vereinbarungen über die Betriebsschließungsversicherung zur (...) Police (im Folgenden: BV-BS, Anlagenkonvolut K 2) zugrunde. Darin ist u.a. Folgendes geregelt:3 „1. Sofern sich nicht aus den folgenden Bestimmungen etwas anderes ergibt, leistet der Versicherer (...) Entschädigung (...) für den Fall, dass die zuständige Behörde aufgrund von Gesetzen zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten am Menschen4 1.1 den versicherten Betrieb ganz oder teilweise zur Verhinderung und Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern bei Menschen schließt oder deshalb Tätigkeitsverbote gegen sämtliche Betriebsangehörige ausgesprochen werden;(...)5 2. Meldepflichtige Krankheiten oder meldepflichtigen Krankheitserreger im Sinne dieses Vertrages sind nur die im Folgenden aufgeführten:6 2.1 meldepflichtige Krankheiten (...)7 2.2 meldepflichtige Krankheitserreger (...)“8 Wegen der unter Ziffer 2.1 und Ziffer 2.2 aufgeführten meldepflichtigen Krankheiten und meldepflichtigen Krankheitserreger wird auf die BV-BS verwiesen. COVID-19 und SARS-CoV-2 werden in den der Betriebsschließungsversicherung zugrundeliegenden Bedingungen nicht genannt.9 Aufgrund der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 vom 17.03.2020 (im Folgenden: Corona-VO) untersagte die baden-württembergische Landesregierung auf Grund der §§ 32, 28 Abs. 1 S. 1, S. 2, 31 des Infektionsschutzgesetzes (im Folgenden: IfSG) unter anderem den Betrieb von Gaststätten und ähnlichen Einrichtungen (§ 4 Abs. 1 Nr. 10 Corona-VO).10 Infolgedessen musste die Klägerin ihre Gaststätte ab dem 18.03.2020 schließen. Am 18.05.2020 nahm die Klägerin den Betrieb ihrer Gaststätte im Außenbereich teilweise wieder auf, während der Innenbereich weiterhin geschlossen blieb.11 Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte sei zur Leistung aus der Betriebsschließungsversicherung verpflichtet. Bei dem neuartigen Coronavirus handele es sich um eine meldepflichtige Krankheit im Sinne der BV-BS. Das Coronavirus sei den in den BV-BS aufgeführten Influenzaviren zuzuordnen. Bei den unter Ziffer 2.2 BV-BS aufgeführten meldepflichtigen Krankheiten handele es sich um eine nicht abschließende Aufzählung. Zudem sei das Coronavirus eine meldepflichtige Krankheit, welche insbesondere – in Ziffer 2.1 BV-BS aufgeführte – virusbedingte hämorrhagische Fieber verursache.12 Die Klägerin beantragt,13 1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 87.376,92 Euro zzgl. 9 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen;14 2. festzustellen, dass die Beklagte aufgrund der behördlich angeordneten Betriebsschließung der Gaststätte der Klägerin gemäß der Betriebsschließungsversicherung Anlage 1 eintrittsverpflichtet ist und verpflichtet ist, sämtlichen weiteren Schaden, der der Klägerin aus der Betriebsschließung bzw. Teilbetriebsschließung bis März 2021 entsteht, zu bezahlen.15 Die Beklagte beantragt,16 die Klage abzuweisen.17 Die Beklagte ist der Auffassung, es liege kein Versicherungsfall vor. Es könne bereits bezweifelt werden, dass es sich bei den Maßnahmen der Landesregierung um eine bedingungsgemäße Betriebsschließung handele. Es fehle an dem erforderlichen Einzelfallbezug der Maßnahmen. Jedenfalls sei die Aufzählung der meldepflichtigen Krankheiten und meldepflichtigen Krankheitserreger in Ziffer 2 BV-BS abschließend. Da die Krankheit COVID-19 und der Krankheitserreger SARS-CoV-2 unstreitig in dieser Aufzählung fehlten, seien sie nicht vom Versicherungsschutz umfasst. Die von der Beklagten verwendete Klausel sei eindeutig, unmissverständlich und transparent so gestaltet, dass lediglich die in den Bedingungen enumerativ aufgezählten Krankheiten und Krankheitserreger in den Versicherungsschutz einbezogen seien.18 Das Gericht hat am 04.09.2020 mit Zustimmung der Parteien gemäß § 128 Abs. 2 ZPO beschlossen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (Bl. 52 ff. d. A.).19 Wegen des weiteren Vortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
20 Die zulässige Klage ist unbegründet.
I.
1.
21 Der von der Klägerin mit dem Klageantrag Ziffer 1 geltend gemachte Anspruch auf Leistung aus der Betriebsschließungsversicherung besteht nicht.
22 Es kann dahinstehen, ob es sich bei der aufgrund der Corona-VO angeordneten Schließung der Gaststätte der Klägerin um eine Betriebsschließung im Sinne von Ziffer 1.1 der BV-BS handelt. Denn bei der Krankheit COVID-19 und dem Krankheitserreger SARS-CoV-2, deren Verbreitung im Februar und März 2020 als Anlass für den Erlass der Corona-VO diente, handelt es sich nicht um eine meldepflichtige Krankheit oder einen meldepflichtigen Krankheitserreger im Sinne der Versicherungsbedingungen.
a)
23 Ziffer 2 der BV-BS ist aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers so zu verstehen, dass sich der Versicherungsschutz auf die dort ausdrücklich genannten meldepflichtigen Krankheiten und meldepflichtigen Krankheitserreger beschränkt. COVID-19 und SARS-CoV-2 sind dort unstreitig nicht aufgeführt.
aa)
24 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind Allgemeine Versicherungs-bedingungen so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an (BGH, Urteil vom 23.06.1993 – IV ZR 135/92, zitiert nach juris, Rn. 14 m.w.N.). Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen sind aus sich heraus zu interpretieren. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13, zitiert nach juris, Rn. 13).
bb)
25 Nach dieser Maßgabe handelt es sich bei COVID-19 und SARS-CoV-2 nicht um meldepflichtige Krankheiten bzw. meldepflichtige Krankheitserreger im Sinne von Ziffer 2 der BV-BS. Weder COVID-19 noch SARS-CoV-2 ist in der enumerativen Auflistung der meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger in Ziffer 2.1 und Ziffer 2.2 der BV-BS genannt. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird die Regelung so verstehen, dass es sich bei den dort genannten meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserregern um eine abschließende Aufzählung handelt. Dies folgt eindeutig aus dem Wortlaut von Ziffer 2 der BV-BS, wonach meldepflichtige Krankheiten bzw. meldepflichtige Krankheitserreger „im Sinne dieses Vertrags (...) nur die im Folgenden aufgeführten“ sind (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 15.07.2020 – 20 W 21/20, VersR 2020, 1103; LG Essen, Beschluss vom 16.06.2020 – 18 O 150/20, BeckRS 2020, 17736, Rn. 3; LG Bochum, Urteil vom 15.07.2020, - 4 O 215/20, VersR 2020, 1104, 1105). Dabei bringt das Wort „nur“ zweifelsfrei zum Ausdruck, dass die Begriffe der meldepflichtigen Krankheiten und meldepflichtigen Krankheitserreger im Sinne der Versicherungsbedingungen auf die dort ausdrücklich genannten beschränkt sind. Dass dies allein die unmittelbar darunter abgedruckten, in Ziffer 2.1 und Ziffer 2.2 der BV-BS genannten Krankheiten und Krankheitserreger sind, macht der Zusatz „im Folgenden“ hinreichend deutlich.
26 Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt eine Auslegung des § 2 der BV-BS dahingehend, dass auch für in den Versicherungsbedingungen nicht genannte, jedoch in den §§ 6, 7 IfSG aufgeführte meldepflichtige Krankheiten und meldepflichtige Krankheitserreger Versicherungsschutz besteht, nicht in Betracht. Zwar heißt es in Ziffer 1 der BV-BS, der Versicherer leiste eine Entschädigung für den Fall, dass die zuständige Behörde aufgrund des Infektionsschutzgesetzes den versicherten Betrieb ganz oder teilweise zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern bei Menschen schließt. Allerdings ist diese Bestimmung ebenso wenig wie die Verwendung der auch im Infektionsschutz verwendeten Begriffe „meldepflichtige Krankheiten“ und „meldepflichtige Krankheitserreger“ als Verweisung auf die §§ 6, 7 IfSG zu verstehen. Vielmehr geht aus dem unmissverständlichen Wortlaut von Ziffer 1 der BV-BS und der direkt darunter folgenden Begriffsbestimmung in Ziffer 2 der BV-BS – auch ohne, dass es insoweit eines ausdrücklichen Verweises auf Ziffer 2 bedurft hätte – bereits klar hervor, dass sich der Versicherungsschutz auf die dort genannten Krankheiten und Krankheitserreger beschränkt. Damit stellt sich hier – im Unterschied zu dem vom Landgericht Mannheim zu entscheidenden Fall (LG Mannheim, Urteil vom 29.04.2020 – 11 O 66/20, VersR 2020, 904) – auch nicht die Frage, ob eine statische oder dynamische Verweisung auf das IfSG gegeben ist (vgl. LG Bochum, Urteil vom 15.07.2020, - 4 O 215/20, VersR 2020, 1104, 1105).
27 Anders als der Kläger meint, handelt es sich bei COVID-19 und SARS-CoV-2 weder um ein in Ziffer 2.1 der BV-BS genanntes virusbedingtes hämorrhagisches Fieber noch um in Ziffer 2.2 der BV-BS genannte Influenzaviren oder damit vergleichbare Krankheiten bzw. Krankheitserreger. Aus Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers ist die Klausel so zu verstehen, dass ausschließlich die dort aufgezählten, mit medizinischen Fachbegriffen beschriebenen Krankheiten und Krankheitserreger vom Versicherungsschutz umfasst sind. Über ähnlich verlaufende, in der Symptomatik vergleichbare oder auf ähnliche Art und Weise übertragbare Krankheiten oder Krankheitserreger erstreckt sich die Klausel erkennbar nicht. Vor diesem Hintergrund war dem Beweisangebot der Klägerin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen ihres Vortrags auf Seite 7 der Klageschrift (Bl. 7 f. d. A.), wonach COVID-19 wegen vergleichbaren Verlaufs, Symptomatik und Übertragung von den ausdrücklich genannten mitversicherten Krankheitserregern umfasst sei, mangels Entscheidungserheblichkeit nicht nachzugehen.
b)
28 Gegen die Wirksamkeit der Regelung in Ziffer 2 der BV-BS bestehen keine Bedenken.
aa)
29 Es handelt sich insbesondere um keine überraschende Klausel im Sinne von § 305c Abs. 1 BGB. Nach dieser Vorschrift wird eine Bestimmung in Allgemeinen Versicherungsbedingungen, die nach den jeweiligen Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags, überraschend ist, nicht Vertragsbestandteil. Entscheidend für die Einordnung einer Klausel als überraschend ist es, ob zwischen den Erwartungen des Versicherungsnehmers und dem Klauselinhalt eine deutliche Diskrepanz besteht, mit der der Versicherungsnehmer vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 06.07.2011 – IV ZR 217/09, r + s 2012, 192, Rn. 19 m.w.N.).
30 Danach ist die Regelung in Ziffer 2 der BV-BS nicht überraschend. Ein durchschnittlicher verständiger Versicherungsnehmer kann und muss damit rechnen, dass der Versicherer den Versicherungsschutz auf im Vertrag ausdrücklich genannte Fälle beschränkt und gerade keinen Versicherungsschutz für künftig auftretende, jedoch bei Vertragsschluss unbekannte meldepflichtige Krankheiten bzw. Krankheitserreger bieten will, deren Gefahrenpotential er bei Vertragsschluss nicht kalkulieren und deshalb auch nicht bei der Bemessung von Versicherungsumfang und -prämien berücksichtigen konnte.
bb)
31 Auch ist die Bestimmung in Ziffer 2 der BV-BS nicht mehrdeutig im Sinne von § 305c Abs. 2 BGB. Die Klausel ist klar formuliert und erweckt keine Fehlvorstellung über den Umfang des Versicherungsschutzes. Bereits durch die Verwendung der Worte „im Folgenden“ wird ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer davon ausgehen könne, dass allein die danach genannten Krankheiten und Krankheitserreger vom Versicherungsschutz umfasst sein sollen (vgl. Lüttinghaus/Eggen, r+s 2020, 250, 254). Das Wort „nur“ stellt dies zusätzlich klar.
cc)
32 Schließlich bedarf es keiner Entscheidung, ob und inwieweit Ziffer 2 der SVFB-BS einer Inhaltskontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB unterfällt (vgl. zur Anwendbarkeit der §§ 307 ff. BGB in vergleichbaren Fällen: Werber, VersR 2020, 661, 665 m.w.N.). Denn die Klausel hält jedenfalls einer solchen Inhaltskontrolle stand.
(1)
33 Zunächst verstößt die Klausel nicht gegen das in § 307 Abs. 1 S. 2 BGB niedergelegte Transparenzgebot. Danach ist der Verwender Allgemeiner Versicherungsbedingungen gehalten, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Es kommt insoweit nicht nur darauf an, dass eine Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben auch, dass sie die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lässt, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann (BGH, Beschluss vom 11.02.2009 – IV ZR 28/08, zitiert nach juris, Rn. 14).
34 Ziffer 2 der BV-BS genügt diesen Anforderung. Durch den eindeutigen Wortlaut wird bei einem durchschnittlichen und verständigen Versicherungsnehmer nicht die Erwartung geweckt, dass noch andere als die in Ziffer 2.1 und Ziffer 2.2 der BV-BS genannten Krankheiten und Krankheitserreger vom Versicherungsschutz umfasst sind. Allein der Umstand, dass man die Klausel – etwa durch eine ausdrückliche Klarstellung, dass der nachfolgende Katalog abschließend ist – noch klarer hätte fassen könne, reicht für die Annahme einer Verletzung des Transparenzgebots nicht aus (vgl. Lüttinghaus/Eggen, r+s 2020, 250, 254).
(2)
35 Die Beschränkung des Versicherungsschutzes auf die in Ziffer 2 der SVFB-BS genannten Krankheiten und Krankheitserreger führt auch nicht zu einer Vertragszweckgefährdung im Sinne des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB.
36 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs begründet eine Begrenzung des Leistungsumfangs für sich genommen noch keine Vertragszweckgefährdung in diesem Sinne, sondern bleibt grundsätzlich der freien unternehmerischen Entscheidung des Versicherers überlassen, soweit er nicht mit der Beschreibung der Hauptleistung beim Versicherungsnehmer falsche Vorstellungen erweckt. Eine Gefährdung des Vertragszwecks im Sinne des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB liegt erst dann vor, wenn die Einschränkung den Vertrag seinem Gegenstand nach aushöhlt und damit in Bezug auf das zu versichernde Risiko zwecklos macht (BGH, Beschluss vom 11.02.2009 – IV ZR 28/08, zitiert nach juris, Rn. 18 u. 19; BGH, Beschluss vom 06.07.2011 – IV ZR 217/09, zitiert nach juris, Rn. 23 f.).
37 Nach dieser Maßgabe ist hier keine Vertragszweckgefährdung gegeben. Die Einschränkung des Versicherungsschutzes auf die in Ziffer 2 der SVFB-BS ausdrücklich genannten Krankheiten und Krankheitserreger begrenzt lediglich den Leistungsumfang, ohne dabei den Versicherungsschutz auszuhöhlen. Es bleibt im Hinblick auf den umfangreichen Katalog versicherter Krankheiten und Krankheitserreger vielmehr ein weiter Anwendungsbereich der Betriebsschließungsversicherung bestehen. Vom Versicherungsschutz umfasst sind danach beispielsweise auch in der Bundesrepublik Deutschland häufig auftretende Influenzaviren.
(3)
38 Im Übrigen liegt in der abschließenden Aufzählung der vom Versicherungsschutz umfassten Krankheiten und Krankheitserreger auch keine unangemessene Benachteiligung des Versicherungsnehmers. Die Versicherer sind grundsätzlich in ihrer Entscheidung frei, in welchem Umfang sie im Hinblick auf Gefahren aus dem Infektionsschutzgesetz Versicherungsschutz bieten. Insbesondere ist eine Einschränkung nach einem „Alles-oder-nichts-Prinzip“ – also entweder Versicherungsschutz für alle im Infektionsschutzgesetz genannten meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger oder überhaupt keine Deckung – rechtlich nicht erforderlich (vgl. Fortmann, VersR 2020, 1073, 1076 f.; ders., jurisPR-VersR 8/2020, Anm. 2). Die Bestimmung in Ziffer 2 der SVFB-BS erscheint vielmehr interessengerecht. Die darin enthaltene, unmissverständlich formulierte enumerative Aufzählung der vom Versicherungsschutz umfassten meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger ermöglicht es dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer gleichermaßen, den Umfang des Versicherungsschutzes nachzuvollziehen. Die Regelung trägt auch dem berechtigten Interesse des Versicherers Rechnung, das versicherte Risiko nicht zuletzt in Bezug auf die Prämienhöhe seriös einschätzen zu können. Dies dient auch dem Schutz der Versichertengemeinschaft und ist für einen durchschnittlichen verständigen Versicherungsnehmer auch erkennbar (vgl. LG Bochum, Urteil vom 15.07.2020 – 4 O 215/20, zitiert nach juris, Rn. 45).
2.
39 Auch das mit Klageantrag Ziffer 2 verfolgte Feststellungsbegehren ist jedenfalls unbegründet.
40 Die Beklagte ist aus den vorstehend dargestellten Gründen auch im Hinblick auf etwaige weitere Schäden, die der Klägerin aus der Betriebsschließung bzw. Teilbetriebsschließung bis März 2021 entstehen, nicht eintritts- oder zum Ersatz verpflichtet.
41 Auf das hier nicht unproblematisch vorliegende Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 1 ZPO war hier nicht weiter einzugehen, da die Klage insoweit unabhängig davon als unbegründet abzuweisen war (vgl. OLG Dresden, Urteil vom 23.11.2011 – 13 U 1137/11, zitiert nach juris, Rn. 17; Becker-Eberhard, Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 256 Rn. 38 m.w.N.).
II.
1.
42 Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1, S. 2 ZPO.
2.
43 Bei der Festsetzung des Streitwerts war der auf Feststellung gerichtete Klageantrag Ziffer 2 streitwerterhöhend zu berücksichtigen. Er wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt (§ 3 ZPO). Aufgrund der zweifelhaften Realisierbarkeit war ein erheblicher Abschlag vorzunehmen (vgl. Herget in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 3 Rn. 16.76 m.w.N.). Das auf die Eintrittspflicht für zukünftige Schäden gerichtete Feststellungsbegehren deckt sich nicht mit dem Leistungsantrag, sodass beide Ansprüche bei der Wertberechnung zusammenzurechnen waren (vgl. §§ 39 Abs. 1 GKG, 5 ZPO).
Gründe
20 Die zulässige Klage ist unbegründet.
I.
1.
21 Der von der Klägerin mit dem Klageantrag Ziffer 1 geltend gemachte Anspruch auf Leistung aus der Betriebsschließungsversicherung besteht nicht.
22 Es kann dahinstehen, ob es sich bei der aufgrund der Corona-VO angeordneten Schließung der Gaststätte der Klägerin um eine Betriebsschließung im Sinne von Ziffer 1.1 der BV-BS handelt. Denn bei der Krankheit COVID-19 und dem Krankheitserreger SARS-CoV-2, deren Verbreitung im Februar und März 2020 als Anlass für den Erlass der Corona-VO diente, handelt es sich nicht um eine meldepflichtige Krankheit oder einen meldepflichtigen Krankheitserreger im Sinne der Versicherungsbedingungen.
a)
23 Ziffer 2 der BV-BS ist aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers so zu verstehen, dass sich der Versicherungsschutz auf die dort ausdrücklich genannten meldepflichtigen Krankheiten und meldepflichtigen Krankheitserreger beschränkt. COVID-19 und SARS-CoV-2 sind dort unstreitig nicht aufgeführt.
aa)
24 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind Allgemeine Versicherungs-bedingungen so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an (BGH, Urteil vom 23.06.1993 – IV ZR 135/92, zitiert nach juris, Rn. 14 m.w.N.). Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen sind aus sich heraus zu interpretieren. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13, zitiert nach juris, Rn. 13).
bb)
25 Nach dieser Maßgabe handelt es sich bei COVID-19 und SARS-CoV-2 nicht um meldepflichtige Krankheiten bzw. meldepflichtige Krankheitserreger im Sinne von Ziffer 2 der BV-BS. Weder COVID-19 noch SARS-CoV-2 ist in der enumerativen Auflistung der meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger in Ziffer 2.1 und Ziffer 2.2 der BV-BS genannt. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird die Regelung so verstehen, dass es sich bei den dort genannten meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserregern um eine abschließende Aufzählung handelt. Dies folgt eindeutig aus dem Wortlaut von Ziffer 2 der BV-BS, wonach meldepflichtige Krankheiten bzw. meldepflichtige Krankheitserreger „im Sinne dieses Vertrags (...) nur die im Folgenden aufgeführten“ sind (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 15.07.2020 – 20 W 21/20, VersR 2020, 1103; LG Essen, Beschluss vom 16.06.2020 – 18 O 150/20, BeckRS 2020, 17736, Rn. 3; LG Bochum, Urteil vom 15.07.2020, - 4 O 215/20, VersR 2020, 1104, 1105). Dabei bringt das Wort „nur“ zweifelsfrei zum Ausdruck, dass die Begriffe der meldepflichtigen Krankheiten und meldepflichtigen Krankheitserreger im Sinne der Versicherungsbedingungen auf die dort ausdrücklich genannten beschränkt sind. Dass dies allein die unmittelbar darunter abgedruckten, in Ziffer 2.1 und Ziffer 2.2 der BV-BS genannten Krankheiten und Krankheitserreger sind, macht der Zusatz „im Folgenden“ hinreichend deutlich.
26 Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt eine Auslegung des § 2 der BV-BS dahingehend, dass auch für in den Versicherungsbedingungen nicht genannte, jedoch in den §§ 6, 7 IfSG aufgeführte meldepflichtige Krankheiten und meldepflichtige Krankheitserreger Versicherungsschutz besteht, nicht in Betracht. Zwar heißt es in Ziffer 1 der BV-BS, der Versicherer leiste eine Entschädigung für den Fall, dass die zuständige Behörde aufgrund des Infektionsschutzgesetzes den versicherten Betrieb ganz oder teilweise zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern bei Menschen schließt. Allerdings ist diese Bestimmung ebenso wenig wie die Verwendung der auch im Infektionsschutz verwendeten Begriffe „meldepflichtige Krankheiten“ und „meldepflichtige Krankheitserreger“ als Verweisung auf die §§ 6, 7 IfSG zu verstehen. Vielmehr geht aus dem unmissverständlichen Wortlaut von Ziffer 1 der BV-BS und der direkt darunter folgenden Begriffsbestimmung in Ziffer 2 der BV-BS – auch ohne, dass es insoweit eines ausdrücklichen Verweises auf Ziffer 2 bedurft hätte – bereits klar hervor, dass sich der Versicherungsschutz auf die dort genannten Krankheiten und Krankheitserreger beschränkt. Damit stellt sich hier – im Unterschied zu dem vom Landgericht Mannheim zu entscheidenden Fall (LG Mannheim, Urteil vom 29.04.2020 – 11 O 66/20, VersR 2020, 904) – auch nicht die Frage, ob eine statische oder dynamische Verweisung auf das IfSG gegeben ist (vgl. LG Bochum, Urteil vom 15.07.2020, - 4 O 215/20, VersR 2020, 1104, 1105).
27 Anders als der Kläger meint, handelt es sich bei COVID-19 und SARS-CoV-2 weder um ein in Ziffer 2.1 der BV-BS genanntes virusbedingtes hämorrhagisches Fieber noch um in Ziffer 2.2 der BV-BS genannte Influenzaviren oder damit vergleichbare Krankheiten bzw. Krankheitserreger. Aus Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers ist die Klausel so zu verstehen, dass ausschließlich die dort aufgezählten, mit medizinischen Fachbegriffen beschriebenen Krankheiten und Krankheitserreger vom Versicherungsschutz umfasst sind. Über ähnlich verlaufende, in der Symptomatik vergleichbare oder auf ähnliche Art und Weise übertragbare Krankheiten oder Krankheitserreger erstreckt sich die Klausel erkennbar nicht. Vor diesem Hintergrund war dem Beweisangebot der Klägerin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen ihres Vortrags auf Seite 7 der Klageschrift (Bl. 7 f. d. A.), wonach COVID-19 wegen vergleichbaren Verlaufs, Symptomatik und Übertragung von den ausdrücklich genannten mitversicherten Krankheitserregern umfasst sei, mangels Entscheidungserheblichkeit nicht nachzugehen.
b)
28 Gegen die Wirksamkeit der Regelung in Ziffer 2 der BV-BS bestehen keine Bedenken.
aa)
29 Es handelt sich insbesondere um keine überraschende Klausel im Sinne von § 305c Abs. 1 BGB. Nach dieser Vorschrift wird eine Bestimmung in Allgemeinen Versicherungsbedingungen, die nach den jeweiligen Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags, überraschend ist, nicht Vertragsbestandteil. Entscheidend für die Einordnung einer Klausel als überraschend ist es, ob zwischen den Erwartungen des Versicherungsnehmers und dem Klauselinhalt eine deutliche Diskrepanz besteht, mit der der Versicherungsnehmer vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 06.07.2011 – IV ZR 217/09, r + s 2012, 192, Rn. 19 m.w.N.).
30 Danach ist die Regelung in Ziffer 2 der BV-BS nicht überraschend. Ein durchschnittlicher verständiger Versicherungsnehmer kann und muss damit rechnen, dass der Versicherer den Versicherungsschutz auf im Vertrag ausdrücklich genannte Fälle beschränkt und gerade keinen Versicherungsschutz für künftig auftretende, jedoch bei Vertragsschluss unbekannte meldepflichtige Krankheiten bzw. Krankheitserreger bieten will, deren Gefahrenpotential er bei Vertragsschluss nicht kalkulieren und deshalb auch nicht bei der Bemessung von Versicherungsumfang und -prämien berücksichtigen konnte.
bb)
31 Auch ist die Bestimmung in Ziffer 2 der BV-BS nicht mehrdeutig im Sinne von § 305c Abs. 2 BGB. Die Klausel ist klar formuliert und erweckt keine Fehlvorstellung über den Umfang des Versicherungsschutzes. Bereits durch die Verwendung der Worte „im Folgenden“ wird ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer davon ausgehen könne, dass allein die danach genannten Krankheiten und Krankheitserreger vom Versicherungsschutz umfasst sein sollen (vgl. Lüttinghaus/Eggen, r+s 2020, 250, 254). Das Wort „nur“ stellt dies zusätzlich klar.
cc)
32 Schließlich bedarf es keiner Entscheidung, ob und inwieweit Ziffer 2 der SVFB-BS einer Inhaltskontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB unterfällt (vgl. zur Anwendbarkeit der §§ 307 ff. BGB in vergleichbaren Fällen: Werber, VersR 2020, 661, 665 m.w.N.). Denn die Klausel hält jedenfalls einer solchen Inhaltskontrolle stand.
(1)
33 Zunächst verstößt die Klausel nicht gegen das in § 307 Abs. 1 S. 2 BGB niedergelegte Transparenzgebot. Danach ist der Verwender Allgemeiner Versicherungsbedingungen gehalten, Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Es kommt insoweit nicht nur darauf an, dass eine Klausel in ihrer Formulierung für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treu und Glauben auch, dass sie die wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lässt, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann (BGH, Beschluss vom 11.02.2009 – IV ZR 28/08, zitiert nach juris, Rn. 14).
34 Ziffer 2 der BV-BS genügt diesen Anforderung. Durch den eindeutigen Wortlaut wird bei einem durchschnittlichen und verständigen Versicherungsnehmer nicht die Erwartung geweckt, dass noch andere als die in Ziffer 2.1 und Ziffer 2.2 der BV-BS genannten Krankheiten und Krankheitserreger vom Versicherungsschutz umfasst sind. Allein der Umstand, dass man die Klausel – etwa durch eine ausdrückliche Klarstellung, dass der nachfolgende Katalog abschließend ist – noch klarer hätte fassen könne, reicht für die Annahme einer Verletzung des Transparenzgebots nicht aus (vgl. Lüttinghaus/Eggen, r+s 2020, 250, 254).
(2)
35 Die Beschränkung des Versicherungsschutzes auf die in Ziffer 2 der SVFB-BS genannten Krankheiten und Krankheitserreger führt auch nicht zu einer Vertragszweckgefährdung im Sinne des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB.
36 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs begründet eine Begrenzung des Leistungsumfangs für sich genommen noch keine Vertragszweckgefährdung in diesem Sinne, sondern bleibt grundsätzlich der freien unternehmerischen Entscheidung des Versicherers überlassen, soweit er nicht mit der Beschreibung der Hauptleistung beim Versicherungsnehmer falsche Vorstellungen erweckt. Eine Gefährdung des Vertragszwecks im Sinne des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB liegt erst dann vor, wenn die Einschränkung den Vertrag seinem Gegenstand nach aushöhlt und damit in Bezug auf das zu versichernde Risiko zwecklos macht (BGH, Beschluss vom 11.02.2009 – IV ZR 28/08, zitiert nach juris, Rn. 18 u. 19; BGH, Beschluss vom 06.07.2011 – IV ZR 217/09, zitiert nach juris, Rn. 23 f.).
37 Nach dieser Maßgabe ist hier keine Vertragszweckgefährdung gegeben. Die Einschränkung des Versicherungsschutzes auf die in Ziffer 2 der SVFB-BS ausdrücklich genannten Krankheiten und Krankheitserreger begrenzt lediglich den Leistungsumfang, ohne dabei den Versicherungsschutz auszuhöhlen. Es bleibt im Hinblick auf den umfangreichen Katalog versicherter Krankheiten und Krankheitserreger vielmehr ein weiter Anwendungsbereich der Betriebsschließungsversicherung bestehen. Vom Versicherungsschutz umfasst sind danach beispielsweise auch in der Bundesrepublik Deutschland häufig auftretende Influenzaviren.
(3)
38 Im Übrigen liegt in der abschließenden Aufzählung der vom Versicherungsschutz umfassten Krankheiten und Krankheitserreger auch keine unangemessene Benachteiligung des Versicherungsnehmers. Die Versicherer sind grundsätzlich in ihrer Entscheidung frei, in welchem Umfang sie im Hinblick auf Gefahren aus dem Infektionsschutzgesetz Versicherungsschutz bieten. Insbesondere ist eine Einschränkung nach einem „Alles-oder-nichts-Prinzip“ – also entweder Versicherungsschutz für alle im Infektionsschutzgesetz genannten meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger oder überhaupt keine Deckung – rechtlich nicht erforderlich (vgl. Fortmann, VersR 2020, 1073, 1076 f.; ders., jurisPR-VersR 8/2020, Anm. 2). Die Bestimmung in Ziffer 2 der SVFB-BS erscheint vielmehr interessengerecht. Die darin enthaltene, unmissverständlich formulierte enumerative Aufzählung der vom Versicherungsschutz umfassten meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger ermöglicht es dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer gleichermaßen, den Umfang des Versicherungsschutzes nachzuvollziehen. Die Regelung trägt auch dem berechtigten Interesse des Versicherers Rechnung, das versicherte Risiko nicht zuletzt in Bezug auf die Prämienhöhe seriös einschätzen zu können. Dies dient auch dem Schutz der Versichertengemeinschaft und ist für einen durchschnittlichen verständigen Versicherungsnehmer auch erkennbar (vgl. LG Bochum, Urteil vom 15.07.2020 – 4 O 215/20, zitiert nach juris, Rn. 45).
2.
39 Auch das mit Klageantrag Ziffer 2 verfolgte Feststellungsbegehren ist jedenfalls unbegründet.
40 Die Beklagte ist aus den vorstehend dargestellten Gründen auch im Hinblick auf etwaige weitere Schäden, die der Klägerin aus der Betriebsschließung bzw. Teilbetriebsschließung bis März 2021 entstehen, nicht eintritts- oder zum Ersatz verpflichtet.
41 Auf das hier nicht unproblematisch vorliegende Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 1 ZPO war hier nicht weiter einzugehen, da die Klage insoweit unabhängig davon als unbegründet abzuweisen war (vgl. OLG Dresden, Urteil vom 23.11.2011 – 13 U 1137/11, zitiert nach juris, Rn. 17; Becker-Eberhard, Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 256 Rn. 38 m.w.N.).
II.
1.
42 Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1, S. 2 ZPO.
2.
43 Bei der Festsetzung des Streitwerts war der auf Feststellung gerichtete Klageantrag Ziffer 2 streitwerterhöhend zu berücksichtigen. Er wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt (§ 3 ZPO). Aufgrund der zweifelhaften Realisierbarkeit war ein erheblicher Abschlag vorzunehmen (vgl. Herget in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Auflage 2020, § 3 Rn. 16.76 m.w.N.). Das auf die Eintrittspflicht für zukünftige Schäden gerichtete Feststellungsbegehren deckt sich nicht mit dem Leistungsantrag, sodass beide Ansprüche bei der Wertberechnung zusammenzurechnen waren (vgl. §§ 39 Abs. 1 GKG, 5 ZPO).
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"jurisdiction": "Germany",
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"language": "de"
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.Der Antrag des Klägers, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom 19. März 2018 wiederherzustellen, wird abgelehnt.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger wendet sich gegen den Änderungsplanfeststellungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom 19. März 2018 für das Vorhaben „Großprojekt Stuttgart 21, PFA 1.1, 18. Planänderung - Änderung der Fluchtwege“ in Stuttgart. Gegenstand des Vorhabens ist im Wesentlichen die Verschiebung der Fluchttreppenhäuser in den Nord- und den Südkopf des bereits mit Beschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom 28. Januar 2005 planfestgestellten neuen Hauptbahnhofs in Stuttgart.2 Dem angefochtenen Planfeststellungsbeschluss lag folgendes Verfahren zugrunde: Am 17. Mai 2016 beantragte die Beigeladene beim Eisenbahn-Bundesamt die 18. Planänderung für die Änderung der Fluchtwege im neuen Hauptbahnhof. Mit verfahrensleitender Verfügung vom 4. Juli 2016, stellte das Eisenbahn-Bundesamt fest, dass für das gegenständliche Vorhaben keine Verpflichtung zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehe. Das Eisenbahn-Bundesamt beteiligte die in ihrem Aufgabengebiet betroffenen Träger öffentlicher Belange, die Landeshauptstadt Stuttgart als Eigentümerin eines durch die Planänderung betroffenen Grundstücks sowie 26 Behindertenverbände und hörte die Eigentümergemeinschaft des nicht öffentlich betroffenen Grundstücks an. Ferner fand eine Besprechung zum Brandschutzkonzept mit Vertretern der Landeshauptstadt Stuttgart (Branddirektion), der Beigeladenen, dem Ersteller sowie dem Prüfer des Brandschutzkonzeptes und dem Eisenbahn-Bundesamt statt. Ein Anhörungsverfahren und eine öffentliche Bekanntgabe der Entscheidung unterblieb, weil es sich nach Auffassung des Eisenbahn-Bundesamtes um eine Planänderung von unwesentlicher Bedeutung im Sinne des § 18d AEG i.V.m. § 76 Abs. 3 VwVfG handele. Zu der beantragten Planänderung nahmen die Landeshauptstadt Stuttgart, das Regierungspräsidium, die Eigentümergemeinschaft, fünf Behindertenverbände sowie zwei nicht am Verfahren beteiligte Privatpersonen - darunter der Kläger - Stellung. Im Anschluss daran überarbeitete die Beigeladene die Unterlagen; das Eisenbahn-Bundesamt beteiligte erneut die Träger öffentlicher Belange, die Landeshauptstadt Stuttgart und das Regierungspräsidium Stuttgart. Am 19. März 2018 erließ das Eisenbahn-Bundesamt den angefochtenen Planfeststellungsbeschluss und ordnete auf Antrag der Beigeladenen dessen sofortige Vollziehung an.3 Der Planfeststellungsbeschluss wurde dem Kläger am 28. März 2018 zugestellt. Am 29. April 2018 (einem Sonntag) hat der Kläger Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss erhoben, die er am 10. Juni 2018 begründet hat. Durch weitere Schriftsätze in der Folgezeit hat er die Begründung vertieft.4 Der Kläger trägt vor, die Klage sei zulässig, insbesondere sei er klagebefugt. Ausweislich seiner Bahncard sei er häufiger Bahnnutzer und benutze regelmäßig die Bahnanlage des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Er sehe sich durch die geänderte Planung in seinem Recht auf Schutz der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 GG als Bahnnutzer beeinträchtigt, weil die Planänderung nicht den notwendigen Brandschutzvorschriften entspreche und er, wie auch viele andere Bahnnutzer, im Fall eines Brandes innerhalb weniger Minuten verbrennen oder durch die Rauchentwicklung zu Tode kommen werde, bevor Hilfe herbeikommen könne. Bei dem geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof sei jederzeit mit einem Brandfall zu rechnen. Seine Betroffenheit folge ferner aus der Verletzung von Brandschutzvorschriften, die mit Blick auf die grundrechtliche Schutzpflicht als subjektive Rechte anzusehen seien. Durch den unzureichenden Brandschutz sehe er sich auch in seinem Eigentumsrecht als Inhaber der Bahncard beeinträchtigt, da zu erwarten sei, dass der geplante Stuttgarter Tiefbahnhof erhebliche Nutzungseinschränkungen erfahren werde. Eine weitere Betroffenheit bestehe schon während der Baumaßnahme, durch die erhöhte Schadstoff- und Umweltbelastung. Der Knoten sei völlig untauglich, wodurch er in seiner Bewegungsfreiheit und seinem Anspruch auf eine funktionierende Infrastruktur verletzt werde. Ferner rüge er, als Bahnnutzer nicht an dem Verfahren beteiligt worden zu sein.5 Seine Klage sei auch begründet. Es lägen zahlreiche Rechtsverstöße vor. Die Fluchttreppen am Bahnsteigende führten zu längeren Fluchtwegen. Sie entsprächen nicht den Vorschriften. Die Fluchttreppenausgänge seien nicht sicher bedienbar. Bei der Bodenklappe handele es sich um eine gefährliche Falltür. Die Fluchtwege im Tunnelvorkopf seien zu schmal; sie verstießen gegen die EBA-Tunnelrichtlinie und die DB-Richtlinie 853.1001. Die erteilte unternehmensinterne Genehmigung sei rechtswidrig. Die Rettung mobilitätseingeschränkter Personen sei nicht sichergestellt. Die Selbstrettung und Evakuierung sei nicht sicher, weil die maßgebliche zu evakuierende Personenzahl zu gering angesetzt worden sei, Flucht- und Rettungswege nicht sicher und Fluchtwege zu lang seien, die Räumzeiten fehlerhaft ermittelt und das Mitführen von Gepäck nicht berücksichtigt worden seien. Die Verrauchungsberechnung sei falsch, weil der schlimmste Fall, ein Brand zwischen Steg A und B, nicht berechnet, das falsche Brandmodell verwendet und eine falsche Brandlast angenommen worden seien. Zudem sei die Verrauchungssimulation fehlerhaft, die für erforderlich gehaltene optische Dichte von 0,13m-1 sei zu gering, gesundheitsschädigende Brandgase seien außer Betracht gelassen worden. Die Entrauchung der Tiefbahnsteighalle sei falsch berechnet worden, weil der Zuluftstrom fehlerhaft berechnet, das Einmischen von Rauch in die Aufenthalts- und Fluchtbereiche nicht berücksichtigt, der Rauchabzug über die Lichtaugen zu gering dimensioniert worden seien, die Natürlichen Rauch- und Wärmeabzugsgeräte nicht zugelassen seien, die windabhängige Klappensteuerung nicht funktionieren werde und die geometrische und aerodynamische Öffnungsfläche falsch berechnet worden sei. Die Flucht über den Straßburger Platz sei nicht sicher, weil Passanten gefährdet würden und der Nachweis der Rauchfreihaltung fehlerhaft sei.6 Der Kläger beantragt,7 den Änderungsplanfeststellungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom 19. März 2018 für das Vorhaben „Großprojekt Stuttgart 21, PFA 1.1, 18. Planänderung - Änderung der Fluchtwege“ in Stuttgart aufzuheben.8 hilfsweise beantragt er,9 die Anordnung des Sofortvollzugs aufzuheben.10 Die Beklagte beantragt,11 die Klage abzuweisen.12 Die Beigeladene beantragt,13 die Klage abzuweisen und den hilfsweise gestellten Antrag abzulehnen.14 Sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene halten die Klage für unzulässig, weil der Kläger nicht klagebefugt sei. Im Übrigen sei die Klage auch unbegründet.15 Dem Senat liegen die Verwaltungsakten der Beklagten und die Planfeststellungsunterlagen vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diese Akten und Unterlagen sowie auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
A.
16 Die Klage ist nicht zulässig. Dem Kläger fehlt die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO.
I.
17 In § 42 Abs. 2 VwGO kommt ein allgemeines Strukturprinzip des Verwaltungsrechtsschutzes zum Ausdruck, das vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG wenn auch nicht ausschließlich, so doch in erster Linie, auf den Individualrechtsschutz ausgerichtet ist. Nach dieser Vorschrift ist eine Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Erforderlich aber auch hinreichend ist, dass unter Zugrundelegung der Darlegungen des Klägers die Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts möglich erscheint (BVerwG, Urteil vom 5.4.2016 - 1 C.15 - BVerwGE 154, 328, juris Rn. 16 „Airbase Ramstein“). § 42 Abs. 2 VwGO dient daher vor allem dem Ausschluss sowohl der sogenannten Popularklage als auch der sogenannten Interessentenklage. Es soll zum einen nicht jedermann („quivis ex populo“) berechtigt sein, sich zum Sachwalter der Interessen der Allgemeinheit oder Dritter zu machen, um die Wahrung der objektiven Rechtsordnung mit verwaltungsgerichtlichen Rechtsbehelfen durchzusetzen. Zum anderen sollen auch Rechtsbehelfe solcher Personen ausgeschlossen sein, die keine eigenen Rechte geltend machen, sondern nur nachteilig betroffenen sind und lediglich z.B. ein wirtschaftliches, kulturelles oder ideelles Interesse vortragen (vgl. Wahl/Schütz in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 42 Rn. 8 und Haller, VBlBW 2017, 133, 134).
18 Durch das Erfordernis der Klagebefugnis wird dem Kläger eine subjektivrechtliche Substantiierungslast aufgebürdet. Es muss eine inhaltliche Bewertung möglich sein, ob der Kläger einen eigenen subjektivrechtlichen Bezug zum streitigen Sachverhalt herzustellen vermag. Die bloße Verbalbehauptung einer Rechtsverletzung genügt nicht (Wahl/Schütz in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 42 Rn. 9 und 65). Der Kläger muss Tatsachen vortragen, welche die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes und die dadurch bewirkte Verletzung seiner Rechte als jedenfalls denkbar erscheinen lassen. Die Klagebefugnis ist zu verneinen, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger behaupteten Rechte bestehen oder ihm zustehen können (st. Rspr. vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 16.6.2020 - 4 BN 53.19 - juris Rn. 9).
II.
19 Nach Maßgabe dieser Grundsätze fehlt dem Kläger die erforderliche Klagebefugnis.
20 Der Kläger macht geltend, er sei als häufiger Bahnnutzer und regelmäßiger Nutzer der Bahnanlage des Stuttgarter Hauptbahnhofs durch den angefochtenen Planfeststellungsbeschluss in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt, weil die geänderte Planung nicht den Brandschutzvorschriften entspreche und er im Falle eines Brandes zu Tode käme.
21 Aus diesem Vortrag folgt seine Klagebefugnis nicht. Sie ergibt sich weder aus einer möglichen Verletzung des § 4 AEG (1.) noch des § 18 AEG (2.), noch der weiteren als verletzt geltend gemachten Rechte und Belange (3.), noch aus der geltend gemachten Verletzung seines Beteiligungsrechts (4.) oder seines Schutzanspruchs aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (5.).
22 1. Auf eine Verletzung von § 4 Abs. 1 oder Abs. 3 AEG (in der zum Zeitpunkt des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses geltenden Fassung vom 18. August 2012, die identisch ist mit der aktuell geltenden Fassung vom 8. Juli 2019) kann sich der Kläger nicht berufen, denn die Vorschriften sind nicht drittschützend. Sie dienen nur dem öffentlichen Interesse an einem sicheren Bahnbetrieb und nicht zumindest auch seinem individuellen Schutz.
23 Drittschutz vermitteln nach der herrschenden Schutznormtheorie nur solche Rechtsvorschriften, die nicht ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit, sondern zumindest auch dem Schutz individueller Rechte dienen. In diesem Sinn drittschützend ist eine Norm, die das geschützte Recht sowie einen bestimmten und abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen lässt (BVerwG, Urteil vom 10.4.2008 - 7 C 39.07 - BVerwGE 131, 129, juris Rn. 19).
24 Weder § 4 Abs. 1 noch § 4 Abs. 3 AEG erfüllen diese Voraussetzungen.
25 a) Nach § 4 Abs. 1 AEG müssen die Eisenbahninfrastrukturen und Fahrzeuge den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit 1. an den Bau zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme und 2. an den Betrieb genügen. Zu den Eisenbahninfrastrukturen zählt auch der neue Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Vorschrift schützt zwar auch die Grundrechtsgüter Leben und Gesundheit (vgl. Hermes in Hermes/Sellner, AEG, 2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 4). Ein bestimmter und abgrenzbarer Kreis der hierdurch Berechtigten ist ihr aber nicht zu entnehmen.
26 aa) Der Wortlaut des § 4 Abs. 1 AEG lässt jeden Hinweis auf einen individuell geschützten Personenkreis vermissen, der sich hinreichend von der Allgemeinheit unterscheidet. Der Kreis der an der öffentlichen Sicherheit des Baus von Infrastruktureinrichtungen der Bahn Interessierten ist unübersehbar und nicht geeignet, eine hinreichende Unterscheidung von der Allgemeinheit zu ermöglichen.
27 Der Begriff der öffentlichen Sicherheit existiert zwar auch in § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG. Die Vorschrift weist jedoch einen entscheidenden Unterschied zu derjenigen des § 4 Abs. 1 AEG auf, der es ausschließt, Rückschlüsse aus dem polizeirechtlichen Begriff der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ auf die Auslegung von § 4 Abs. 1 AEG zu ziehen. Nach allgemeiner Auffassung sind zwar die Rechtsgüter des Einzelnen, insbesondere Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum, Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und dient die diesen Begriff enthaltende polizeirechtliche Generalklausel (§§ 3, 1 PolG) dem Schutz individueller Rechte (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 42 Rn. 113; Wolf/Stephan/Deger, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 7. Aufl. 2014, § 1 Rn. 17, 48). Jedoch erwähnt die Generalklausel - anders als § 4 Abs. 1 AEG - die Rechte des Einzelnen ausdrücklich (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG), nimmt so im Normtext auf zu schützende subjektive Rechte Bezug und verleiht dadurch dem Einzelnen über die objektive Pflicht zum Grundrechtsschutz hinaus ein subjektives Recht (vgl. Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 42 Rn. 115).
28 bb) Die systematische Auslegung ergibt kein anderes Ergebnis. Das Allgemeine Eisenbahngesetz verfolgt nicht das Ziel, einzelne Personen zu schützen, sondern dient dem öffentlichen Interesse an einem sicheren Bahnbetrieb.
29 Den in § 1 AEG formulierten Zielen des Gesetzes ist ein solcher Gedanke nicht zu entnehmen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AEG dient das Gesetz der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahn und eines attraktiven Verkehrsangebots sowie der Wahrung der Interessen der Verbraucher im Eisenbahnmarkt. Mit der „Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahn“ wird der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schutz von Leben, Gesundheit, Eigentum und anderen Grundrechtsgütern entsprochen, die durch die §§ 4, 4a und 4b AEG konkretisiert wird (vgl. Hermes in Hermes/Sellner, AEG, 2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 4). Dieser Schutz zielt nach dem Wortlaut des § 1 AEG auf die Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit durch den Eisenbahnbetrieb und dient nicht der Gewährleistung von Rechten Einzelner.
30 Mit den „Interessen der Verbraucher“ sind zwar möglicherweise auch Interessen Einzelner angesprochen. Zum einen spricht die Vorschrift aber nur von Interessen und nicht von Rechten. Zum anderen handelt es sich um die Interessen „im Eisenbahnmarkt“. Damit werden, wie sich aus der Begründung zum Gesetzentwurf ergibt (vgl. BT-Drs. 18/8334 S. 244), die Interessen der Verbraucher an Fahrgastinformationen umschrieben. Nach der Begründung zum Gesetzentwurf sind die bisherigen Regelungen zu Fahrgastinformationen der Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung in das Allgemeine Eisenbahngesetz aufgenommen worden, sodass das Gesetz auch Verbraucherinteressen dient. Diese sollten daher in den Zielen des Gesetzes benannt werden.
31 Die Beschreibung der Ziele in § 1 Abs. 1 Satz 1 AEG schließt es zwar nicht aus, dass einzelnen Vorschriften des Gesetzes doch drittschützende Wirkung zukommt. Soweit dies der Fall ist, wird dies im Gesetz jedoch ausdrücklich erwähnt, wie beispielsweise in der Regelung über die eisenbahnrechtliche Planfeststellung in § 18 AEG. Nach dessen Absatz 1 Satz 2 sind die von dem Vorhaben berührten privaten Belange im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Daraus folgt der Rechtsanspruch des Einzelnen auf gerechte Abwägung seiner individuellen Belange in der Planfeststellung. Diese Regelung erlaubt jedoch nicht den Rückschluss, dass auch § 4 Abs. 1 AEG drittschützend ist. Vielmehr liegt das Gegenteil nahe: Weil § 4 Abs. 1 AEG - anders als § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG - Rechte Einzelner nicht erwähnt, dient er nicht auch deren Schutz.
32 cc) Aus der Entstehungsgeschichte der Norm lassen sich ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine drittschützende Zielrichtung entnehmen. Nach der Begründung zum Gesetzentwurf enthält § 4 Abs. 1 AEG die Regelung aus § 2 Abs. 1 Satz 1 der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO). Die Vorschrift legt allgemein fest, dass Eisenbahninfrastrukturen und Fahrzeuge den an sie gestellten Anforderungen in Bezug auf den Bau zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme und den Betrieb entsprechen müssen. Diese Verpflichtung richtet sich an den für die Eisenbahninfrastruktur oder das Fahrzeug jeweils Verantwortlichen (BR-Drs. 527/11 S. 14). Schon die Herkunft der Norm aus der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung belegt, dass mit ihr keine individuellen Rechte geschützt werden sollen, sondern dass sie dem Interesse der Allgemeinheit an einer hinreichend sicheren Bahninfrastruktur dienen soll. Der in der zitierten Begründung zum Gesetzentwurf genannte Auftrag an die Verantwortlichen spricht ebenfalls eindeutig für dieses Verständnis.
33 dd) Auch Sinn und Zweck der Vorschrift lassen keine drittschützende Zielrichtung erkennen. Durch die Regelung soll sichergestellt werden, dass durch den Bau und den Betrieb von Infrastruktureinrichtungen der Eisenbahnen kein Schaden an Personen oder Sachen entsteht, ohne jedoch einzelne Personen besonders in den Blick zu nehmen. Geschützt ist somit nur das Interesse der Allgemeinheit an einer hinreichend sicheren Eisenbahninfrastruktur.
34 b) Gleiches gilt für § 4 Abs. 3 AEG. Nach dessen Satz 1 Nr. 2 sind die Eisenbahnen verpflichtet, an Maßnahmen des Brandschutzes und der Technischen Hilfeleistung mitzuwirken. Auch dieser Wortlaut gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass dadurch individuelle Rechte geschützt werden sollen. Brandschutz ist als öffentliche Aufgabe den Feuerwehren übertragen (vgl. § 2 Abs. 1 FwG BW). Das gilt auch für den Bereich der Eisenbahnen. Für eine abweichende Regelung im Allgemeinen Eisenbahngesetz fehlte dem Bund die Gesetzgebungskompetenz. Für den Brandschutz liegt diese bei den Ländern. Daher ist den Eisenbahnen in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AEG die Aufgabe des Brandschutzes nicht überantwortet, sondern sie sind nur verpflichtet, daran mitzuwirken (vgl. Hermes/Schweinsberg in Hermes/Sellner, AEG, 2. Aufl. 2014, § 4 Rn. 125 unter Verweis auf die Dokumente des Gesetzgebungsverfahrens BT-Drs. 13/4386 S. 4, 7, 8 und BR-Drs. 103/97 S. 2). Die Pflicht zur Mitwirkung beinhaltet in erster Linie eine Kooperationspflicht der Eisenbahnen mit den nach Landesrecht zuständigen Stellen. Zu diesem Zweck hat die Deutsche Bahn AG mit den Innenministern und -senatoren der Länder am 15. Oktober 1998 eine Vereinbarung geschlossen, in der geregelt ist, welche Unterstützung die Bahn bei der Bekämpfung von Bränden und der Ausbildung von Feuerwehrkräften leistet.
35 § 4 Abs. 3 Satz 2 AEG dient ebenfalls nicht dem Schutz Einzelner. Danach sind Eisenbahnen verpflichtet, die Eisenbahninfrastruktur (§ 2 Abs. 6 AEG) sicher zu bauen und in betriebssicherem Zustand zu halten. Die Vorschrift wurde § 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 (BGBl. I S. 955) nachgebildet (vgl. BR-Drs. 131/93 S. 98). § 4 BBahnG lautete: Die Anlagen und Fahrzeuge der Deutschen Bundesbahn sind dauernd in gutem Zustand zu erhalten und nach den Bedürfnissen des Verkehrs und dem jeweiligen Stand der Technik zu erneuern und weiterzuentwickeln. Angesichts des zitierten Wortlauts und der dargestellten Entstehungsgeschichte liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass § 4 Abs. 3 Satz 2 AEG neben der Gewährleistung einer sicheren und funktionierenden Eisenbahninfrastruktur für die Allgemeinheit auch dem Schutz Einzelner zu dienen bestimmt sein könnte.
36 Sinn und Zweck sowie die systematische Auslegung der Normen führen zu keinem anderen Ergebnis. Insoweit kann auf die Ausführungen unter a) verwiesen werden.
37 c) Der Verweis des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung auf die dem Brandschutz dienenden Richtlinien des Eisenbahn-Bundesamtes und interne Vorschriften der Beigeladenen zum Brandschutz führt nicht weiter. Diese Regeln konkretisieren die in § 4 Abs. 1 und 3 AEG normierten Pflichten auf untergesetzlicher Ebene. Sie enthalten jedoch - eben-so wie § 4 Abs. 1 und 3 AEG - lediglich objektive Regelungen im Interesse der Allgemeinheit und dienen nicht auch dem Schutz des Einzelnen.
38 d) Die erforderliche Klagebefugnis des Klägers bestünde selbst dann nicht, wenn § 4 Abs. 1, § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 oder § 4 Abs. 3 Satz 2 AEG entgegen der hier vertretenen Auffassung doch zumindest auch dem Schutz des Einzelnen zu dienen bestimmt wären. Denn der Kläger hat aus den nachfolgend unter 2. bis 5. ausgeführten Gründen nicht dargelegt, dass er durch den angefochtenen Planänderungsbeschluss möglicherweise in einem ihm zustehenden subjektiven Recht verletzt ist.
39 2. Die Antragsbefugnis des Klägers folgt auch nicht aus einer möglichen Verletzung von § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG. Nach dieser Vorschrift sind bei der Planfeststellung die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.
40 a) Zu den abzuwägenden Belangen zählt auch das Interesse der Menschen, die sich im Hauptbahnhof oder in seiner Nähe aufhalten, dass ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit vor den Gefahren eines Brandes geschützt werden. Durch das Gebot des § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG, den allgemeinen Belang des Brandschutzes abzuwägen, genügt der Gesetzgeber mit Blick auf die Gefahren eines Brandes seiner verfassungsrechtlichen Pflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begründet die objektive Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren, wenn die Grundrechtsträger nicht selbst für ihre Integrität Sorge tragen können (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.3.2018 - 2 BvR 1371/13 - juris Rn. 31). Durch § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG wird dem sogenannten Untermaßverbot Rechnung getragen. Das Verbot ist beachtet, wenn die Vorkehrungen des Gesetzgebers für einen - unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter - angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sind und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 29.7.2009 - 1 BvR 1606/08 - NVwZ 2009, 1494, juris Rn. 12). Diese Voraussetzungen sind - soweit es den hier interessierenden Brandschutz betrifft - erfüllt. Denn eine ordnungsgemäße Abwägung nach § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG erfordert, zunächst alle für die Abwägung erheblichen Tatsachen zu ermitteln und zu bewerten und diese dann gegenüber anderen öffentlichen und privaten Belange abzuwägen.
41 Aus der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung angesprochenen mittelbaren Grundrechtswirkung folgt nichts anderes. Denn darauf käme es erst an, wenn der Gesetzgeber seiner objektiven Schutzpflicht nicht oder nicht ausreichend nachgekommen, d.h. das Untermaßverbot verletzt wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Auch der Kläger hat hierzu nichts von Substanz vorgetragen. Die Vorschrift des § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG ist daher entgegen der Ansicht des Klägers nicht dahingehend auszulegen, dass von dem Einzelnen unabhängig von einem individuellen Belang auch allgemeine dem Gesundheits- und Lebensschutz dienende Belange geltend gemacht werden können. Aus dem vom Kläger zitierten Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 2009 (- 1BvR 1178/07 - NVwZ 2010, 114) ergibt sich nichts Gegenteiliges.
42 Der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates entspricht ein grundrechtlicher Schutzanspruch des durch die schutzgebietende Tätigkeit betroffenen Grundrechtsträgers. An die Stelle des zunächst grundrechtsunmittelbaren Anspruchs tritt der Schutzanspruch aus der konkretisierenden einfachrechtlichen Regelung. Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von einem einfachgesetzlich konkretisierten Grundrechtsschutz (BVerfG, Beschluss vom 26.1.1988 - 1 BvR 1561/82 - BVerfGE 77, 381, 405; s. auch BVerwG, Urteil vom 14.3.2013 - 7 C 34.11 - NVwZ 2013, 1407, juris Rn. 37).
43 In Ausfüllung des grundrechtlichen Schutzanspruchs gibt das Abwägungsgebot des § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG einem Drittbetroffenen somit einen Anspruch auf Berücksichtigung seiner planungsrechtlich relevanten privaten Belange, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um subjektive Rechtspositionen handelt (BVerwG, Urteil vom 27.10.1999 - 11 A 31.98 - juris Rn. 24). Es muss sich aber in jedem Fall um einen individuellen Belang des Drittbetroffenen handeln. Die Planfeststellungsbehörde muss verpflichtet sein, den Belang gerade dieses Drittbetroffenen abwägend zu berücksichtigen. Das setzt allerdings voraus, dass das Interesse im Zeitpunkt der planerischen Entscheidung hinreichend konkret und individuell zu erfassen und dass es als Einzelinteresse schutzwürdig ist (BVerwG, Urteil vom 26.7.1989 - 4 C 35.88 - BVerwGE 82, 246 - juris Rn. 21; und Urteil vom 27.9.1993 - 4 C 22.93 - NVwZ-RR 1994, 189, juris Rn. 8). Damit scheiden alle Belange aus, die ausschließlich die Allgemeinheit oder einen Teil der Allgemeinheit betreffen. Denn eine „Popularklage“ kennt die Verwaltungsgerichtsordnung nicht; gleiches gilt für das Grundgesetz (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11.1.2016 - 1 BvR 2980/14 - NVwZ 2016, 841, juris Rn. 22).
44 b) Der Kläger trägt vor, es bestehe die Gefahr, dass er bei einem Aufenthalt im planfestgestellten Hauptbahnhof durch einen Brand zu Schaden komme, weil der Planfeststellungsbeschluss keine hinreichenden Regelungen zum Brandschutz enthalte. Bei der Gefahr, im Fall eines Brandes zu Schaden zu kommen, handelt es sich um eine Gefahr, die durch ein betriebsbedingtes Schadensereignis ausgelöst wird. Solche Gefahren sind nicht beim planfestzustellenden Bau, sondern beim Betrieb des Bahnhofs abzuwehren. Die Zuständigkeit für die Abwehr dieser Gefahren im Rahmen der Aufgaben des Brandschutzes und der Rettung bleibt daher von der Planfeststellung unberührt. Sie geht nicht gemäß § 18 Satz 3, § 18c AEG i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 VwVfG auf die Planfeststellungsbehörde über, sondern verbleibt bei den nach Landesrecht zuständigen Stellen (BVerwG, Urteil vom 28.2.2019 - 3 A 4.16 - VRS 136 Nr. 29, juris Rn. 26).
45 Demzufolge handelt es sich, soweit es den Brandschutz im Rahmen der Planfeststellung betrifft, nicht um Gefahrenabwehr, sondern um Risikovorsorge. Die Planfeststellungsbehörde hat durch geeignete Regelungen zum Brandschutz sicherzustellen, dass Schäden möglichst verhindert werden, soweit die zu treffenden Maßnahmen nicht der Ausführungsplanung überlassen bleiben können (vgl. zu den Voraussetzungen, auch sicherheitsrelevante Maßnahmen in die Ausführungsplanung zu verlagern BVerwG, Urteil vom 11.7.2019 - 9 A 13.18 - juris Rn. 170 und Urteil vom 5.3.1997 - 11 A 5.96 - NVwZ-RR 1998, 92, juris Rn. 22). Diese Regelungen trifft sie im Interesse aller potentiellen zukünftigen Nutzer des Hauptbahnhofs, unabhängig davon, wann und wie oft diese den Hauptbahnhof nutzen werden. Der Kreis dieser Nutzer ist unüberschaubar, nicht bestimmbar, nicht konkretisierbar und nicht von der Allgemeinheit abzugrenzen. Teil dieses Kreises ist auch der Kläger. Er hat nicht dargelegt, räumlich und zeitlich in einem bestimmten Näheverhältnis zum Hauptbahnhof zu stehen, oder dass seine Situation im Verhältnis zur Allgemeinheit durch eine irgendwie geartete Besonderheit gekennzeichnet ist, sodass er aus dem Kreis der übrigen Nutzer hervorgehoben wäre, mit der Folge, dass seine speziellen Belange im Rahmen der Abwägung gesondert zu würdigen und zu berücksichtigen wären. Er beruft sich vielmehr auf den allgemeinen Belang des Brandschutzes; daraus folgt seine Klagebefugnis jedoch nicht.
46 Ein individualisierendes Näheverhältnis oder eine besondere Situation ist auch in den Fällen erforderlich, in denen es um die Vorsorge vor Risiken für Leib und Leben geht. Das verdeutlichen die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2013 (7 C 34.11 - NVwZ 2013, 1407, juris Rn. 39 ff.) und vom 12. April 2018 (3 A 16.15 - UPR 2018, 388, juris Rn. 21). Im Urteil vom 14. März 2013 hat das Bundesverwaltungsgericht die Klagebefugnis von Anwohnern der Castor-Transportstrecke bejaht und zur Begründung ausgeführt, die atomrechtlichen Vorschriften hätten einen grundrechtskonkretisierenden subjektivrechtlichen Gehalt, allerdings nur insoweit, als sie neben dem geschützten Recht auch einen bestimmten und abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen ließen. Die Kläger unterschieden sich von anderen Anliegern des Schienenwegs. Sie hätten ihren Lebensmittelpunkt auf in ihrem Eigentum stehenden Wohngrundstücken im näheren Umgriff der stationären Verladestelle am Bahnhof D. bzw. unmittelbar angrenzend an die von dort zum Transportbehälterlager führende Straße, über die mit Schwerlastkraftfahrzeugen der Transportvorgang zum Abschluss gebracht werde. Die zusätzlich erforderliche zeitliche Komponente sei ebenfalls gegeben, denn die Transporte müssten stets den Weg über diese Verladestelle nehmen. Zudem unterschiede sie die Verweildauer der Transporte in der Umschlaganlage von den Anliegern des Schienenweges, auf dem das Transportgut in einem mehr oder weniger flüchtigen Beförderungsvorgang vorbeigeführt werde.
47 Aus diesen Ausführungen folgt, dass die bloße Absicht, sich im Einwirkungsbereich eines Vorhabens - hier des neuen Hauptbahnhofs - aufzuhalten, für die Begründung eines subjektiven Rechts nicht genügt. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse örtliche Verfestigung, z.B. durch einen Wohn- oder Arbeitsplatz, und zudem auch in zeitlicher Hinsicht eine hinreichende Beziehung. Das Bundesverwaltungsgericht spricht in der zitierten Entscheidung von einem „bedeutsamen Standort“. Dies ist bei einem nur kurzzeitigen Aufenthalt bei der Abfahrt vom und der Ankunft am Hauptbahnhof nicht der Fall, selbst wenn er mit einer gewissen Regelmäßigkeit erfolgen sollte.
48 Im Urteil vom 12. April 2018 hat das Bundesverwaltungsgericht die Klagebefugnis einer Anwohnerin gegen den Planfeststellungsbeschluss für die Aus- und Neubaustrecke Karlsruhe - Basel mangels individualisierter Betroffenheit verneint. Die Klägerin hatte geltend gemacht, das Vorhaben habe nachteilige Auswirkungen auf die Wasserversorgung und verletze sie in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Form ihres Rechts auf Versorgung mit gesundem Trinkwasser. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch dieses Urteil seine Rechtsprechung im Beschluss vom 27. Januar 1988 (- 4 B 7.88 - NVwZ 1988, 534, juris Rn. 9) bestätigt. Das Verfahren betraf die Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss für einen U-Bahnbau. Die in der Nähe der Bahntrasse wohnenden Kläger hatten geltend gemacht, die vorgesehene Grundwasserabsenkung gefährde ihre Trinkwasserversorgung (vgl. zum anders gelagerten Fall eines privaten Trinkwasserbrunnens in der Nähe eines planfestgestellten Autobahnbaus EuGH, Urteil vom 28.5.2020 - C 535/18 - DVBl. 2020, 837, juris Rn. 123).
49 Aus dem vom Kläger zitierten Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 2009 (- 1 BvR 1178/07 - NVwZ 2010, 114) folgt nichts Gegenteiliges. Das Verfahren betraf die Verfassungsbeschwerde des Eigentümers eines in der Nähe der Schachtanlage „Konrad“ gelegenen landwirtschaftlichen Anwesens. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, das mit Urteil vom 8. März 2006 (- 7 KS 145/02 u.a. - DVBl 2006, 1044) erstinstanzlich über die Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss entschieden hatte, bejahte die Klagebefugnis des Klägers mit der Begründung, er habe Umstände angeführt, die im Hinblick auf den Normalbetrieb des Endlagers und die erforderliche Vorsorge gegen Störfälle bei Berücksichtigung der Nähe seines Lebensmittelpunkts zum Aufbewahrungsort und weiterhin angesichts möglicherweise relevanter besonderer Expositionspfade bei der Arbeit auf benachbarten landwirtschaftlichen Nutzflächen immerhin Anhaltspunkte dafür böten, dass eine Beeinträchtigung in seinen Rechten nicht von vornherein ausgeschlossen werden könne (vgl. juris Rn. 31). Ein besonderes Näheverhältnis zu dem Gegenstand des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses lag somit vor.
50 Ein Näheverhältnis oder eine besondere Situation hat der Kläger dagegen nicht dargelegt. Die Behauptung, regelmäßiger oder häufiger Bahnnutzer zu sein, hebt ihn nicht aus dem Kreis der übrigen potentiellen künftigen Nutzer des Hauptbahnhofs heraus, denn dieser Umstand trifft auf eine unüberschaubare Zahl von Menschen zu, die beispielsweise mit der Bahn vom neuen Hauptbahnhof aus zu ihrer Arbeitsstätte pendeln. Daran ändert auch nichts, dass er behauptet, Inhaber einer Bahncard zu sein und es auch zukünftig zu sein, so lange er lebe. Denn auch dieser Umstand unterscheidet ihn nicht von dem nicht bestimmbaren Kreis anderer Bahncard-Inhaber, die den Hauptbahnhof beispielsweise für Fahrten zur Arbeit nutzen, die nur gelegentlich vom neuen Hauptbahnhof zu einer Reise aufbrechen oder die sich sogar nur während des Halts ihres Zuges im Hauptbahnhof aufhalten. Die Tatsache, dass der Kläger Einwohner Stuttgarts ist, unterscheidet ihn ebenfalls nicht von der unübersehbaren Zahl anderer Einwohner Stuttgarts, die die Bahn nutzen.
51 c) Fehlt es aber an einer qualifizierten und individualisierten Betroffenheit des Klägers, macht er den allgemeinen Belang des Brandschutzes in einem öffentlichen Gebäude geltend. Eine Klagebefugnis hierfür steht ihm jedoch offensichtlich nicht zur Seite. Denn dieser ist von der Stadt Stuttgart als Trägerin der Feuerwehr gegenüber der Planfeststellungsbehörde geltend zu machen (vgl. zur Klagebefugnis eines Landkreises als Träger der Aufgaben des überörtlichen Brandschutzes gegen den Planfeststellungsbeschluss für die Eisenbahn-Neubaustrecke Ebensfeld - Erfurt: BVerwG, Urteil vom 28.2.2019 - 3 A 4.19 - VRS 136 Nr. 29, juris Rn. 19). Insoweit besteht auch eine Parallele zu dem Fall, der dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2018 (a.a.O.) zugrunde lag. Das Bundesverwaltungsgericht hat darin entschieden, es sei Aufgabe des Trägers der Wasserversorgung und nicht seiner nur mittelbar betroffenen Kunden, bei Zulassung eines Vorhabens im Wasserschutzgebiet die Belange der öffentlichen Wasserversorgung geltend zu machen.
52 Die Stadt Stuttgart war - vertreten durch ihre Branddirektion - im Planfeststellungsverfahren beteiligt. Sie hat in diesem Rahmen Stellungnahmen abgegeben, in denen sie zwar auch Bedenken gegen die vorgesehenen Maßnahmen erhoben hat. Sie hat jedoch in ihrer Stellungnahme vom 11. August 2016 mitgeteilt, dass gegen die Planung im Grundsatz keine Bedenken bestehen; Einzelheiten seien im Rahmen der Ausführungsplanung zu klären.
53 3. Auch die weiteren vom Kläger als verletzt geltend gemachten Rechte und Belange verhelfen ihm nicht zur Klagebefugnis.
54 a) Das Eigentumsrecht an seiner Bahncard bleibt von dem Planfeststellungsbeschluss unberührt. Er greift nicht in das Eigentumsrecht ein. Eine irgendwie geartete Schutzpflicht der Planfeststellungsbehörde gegenüber Inhabern einer Bahncard im Allgemeinen oder dem Kläger im Besonderen im Hinblick auf das Eigentum an der Bahncard oder auf die Nutzungsmöglichkeit dieses Eigentums besteht nicht.
55 b) Bei seinem geltend gemachten Interesse, von erhöhten Schadstoff- und Umweltbelastungen insbesondere während der Bauzeit verschont zu bleiben, handelt es sich nach den dargestellten Grundsätzen nicht um eine Individualinteresse des Klägers.
56 c) Einen „Anspruch auf eine funktionierende Infrastruktur“, wie ihn der Kläger für sich reklamiert, gibt es nicht. Allenfalls kann das Interesse der Allgemeinheit an einer funktionierenden Infrastruktur in die Abwägung eingehen, nicht jedoch als spezielles Interesse des Klägers. Seine Bewegungsfreiheit wird durch den Planfeststellungsbeschluss nicht eingeschränkt.
57 d) Der Kläger ist ferner der Auffassung, die Verkehrssicherungspflicht unterliege der Überprüfbarkeit durch die davon Betroffenen; das seien im vorliegenden Falle die zukünftigen Nutzer des Hauptbahnhofs. Das trifft nicht zu. Bei den Regelungen im Planfeststellungsbeschluss handelt es sich, soweit sie den Brandschutz betreffen, wie dargestellt, um Maßnahmen der Risikovorsorge. Ob diese Regelungen ausreichen, kann durch das Gericht nur auf die Klage eines nach den dargestellten Grundsätzen Klagebefugten überprüft werden. Zu diesen Klagebefugten zählen nicht sämtliche Personen, die den künftigen Hauptbahnhof potentiell nutzen, sondern nur solche, die in individualisierter Weise davon betroffen sind. Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht.
58 4. Der Vortrag des Klägers, er sei als Bahnnutzer zu Unrecht nicht am Verfahren beteiligt worden, verhilft ihm ebenfalls nicht zur erforderlichen Klagebefugnis. Ein Beteiligungsrecht, dessen mögliche Verletzung eine Klagebefugnis vermittelt, steht dem Kläger nicht zur Seite. Ein solches Recht folgt weder aus § 28 VwVfG noch aus § 76 Abs. 1 i.V.m. § 73 Abs. 4 VwVfG und auch nicht aus § 4 Abs. 3 UmwRG.
59 a) Die Beklagte hat die Planänderung als eine Änderung von unwesentlicher Bedeutung eingestuft und daher nach § 18 AEG i.V.m. § 76 Abs. 3 VwVfG und § 18d AEG kein Anhörungsverfahren durchgeführt. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Einstufung durch die Beklagte fehlerhaft ist. Auch im vereinfachten Verfahren nach § 76 Abs. 3 VwVfG sind jedoch die von der Änderung Betroffenen nach § 28 VwVfG zu beteiligen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1.4.2016 - 3 VR 2.15 - NVwZ 2016, 1328, juris Rn. 18; Senatsbeschluss vom 8.8.2013 - 5 S 2327/12 - juris Rn. 23; Neumann/Külpmann in Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, § 76 Rn. 28). Ein subjektives Recht auf Durchführung eines Anhörungsverfahrens, das dem Kläger die Klagebefugnis vermittelt, verleiht § 28 VwVfG jedoch nicht.
60 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 15.10.1998 - 4 B 94.98 - NVwZ 1999, 876, juris Rn. 4) kann ein am Verwaltungsverfahren zu beteiligender Dritter die Befugnis zur Anfechtung der getroffenen Verwaltungsentscheidung grundsätzlich nicht allein aus der Verletzung der ihn betreffenden Verfahrensvorschriften herleiten. Vielmehr muss sich aus seinem Vorbringen darüber hinaus auch ergeben, dass sich der gerügte Verfahrensfehler möglicherweise auf seine (Abwehr-, Schutz- oder Einwirkungs-) Rechte selbst ausgewirkt hat. Denn die Vorschriften über seine Beteiligung gewähren - entsprechend der insoweit nur dienenden Funktion des Verwaltungsverfahrens (vgl. auch § 46 VwVfG) - im allgemeinen Schutz allein im Hinblick auf die bestmögliche Verwirklichung seiner dem Beteiligungsrecht zugrundeliegenden materiell-rechtlichen Rechtsposition. Es handelt sich um ein abhängiges, ein relatives Verfahrensrecht. Dieser Grundsatz ist lediglich ausnahmsweise dann durchbrochen, wenn die Auslegung der maßgeblichen Verfahrensvorschriften ergibt, dass dem Dritten in spezifischer Weise und unabhängig vom materiellen Recht - gleichsam um seiner selbst Willen - eine eigene, selbstständig durchsetzbare verfahrensrechtliche Rechtsposition im Sinne eines absoluten Verfahrensrechts eingeräumt ist (Sennekamp in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, VwGO § 42 Rn. 174). Um ein absolutes Verfahrensrecht handelt es sich bei § 28 VwVfG indessen nicht.
61 b) Selbst wenn es sich entgegen der Einschätzung der Beklagten nicht um eine Planänderung von unwesentlicher Bedeutung handeln würde, änderte sich nichts am Ergebnis. Für eine Änderung des festgestellten Plans vor Fertigstellung des Vorhabens sieht § 76 Abs. 1 VwVfG zwar die Durchführung eines neuen Planfeststellungsverfahrens vor, in dessen Rahmen auch ein erneutes Anhörungsverfahren nach § 73 VwVfG durchzuführen wäre. In diesem Anhörungsverfahren kann nach § 73 Abs. 4 VwVfG jeder, dessen Belange durch das Vorhaben berührt werden, Einwendungen erheben. Ein subjektives Recht auf Durchführung eines Anhörungsverfahrens, das dem Kläger die Klagebefugnis vermitteln könnte, verleiht jedoch auch § 73 Abs. 4 VwVfG nicht. Insoweit kann auf die Ausführungen unter a) verwiesen werden.
62 c) Die Klagebefugnis des Klägers folgt auch nicht aus § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 UmwRG. Nach dieser Vorschrift können u. a. natürliche Personen die Aufhebung einer in § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwRG genannten Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens wegen eines dort genannten Verfahrensfehlers geltend machen. Ein solcher Verfahrensfehler liegt nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. c) UmwRG auch vor, wenn der betroffenen Öffentlichkeit die Möglichkeit der gesetzlich vorgesehenen Beteiligung am Entscheidungsprozess genommen wird. Eine Klagebefugnis des Klägers folgt daraus jedoch nicht.
63 Der Anwendungsbereich des Umweltrechtsbehelfsgesetzes ist zwar nach dessen § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) eröffnet, weil der angefochtene Planfeststellungsbeschluss eine Zulassungsentscheidung im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 1 UVPG a.F. bzw. § 2 Abs. 6 UVPG n.F. über ein Vorhaben darstellt, für das nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen kann. Die Rüge, er sei am Verfahren nicht beteiligt worden, vermittelt dem Kläger jedoch mangels erkennbarer Verletzung subjektiver Rechte nicht die erforderliche Klagebefugnis. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts begründet § 4 Abs. 3 UmwRG keine Klagebefugnis im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO, sondern lässt den individualrechtsbezogenen Ansatz des § 42 Abs. 2 VwGO unangetastet und weitet lediglich den Umfang der gerichtlichen Begründetheitsprüfung aus (BVerwG, Beschluss vom 14.11.2018 - 4 B 12.18 - BRS 86 Nr. 182, juris Rn. 4). Diese Rechtsprechung steht in Einklang mit Art. 11 Abs. 3 der UVP-Richtlinie. Denn dem nationalen Gesetzgeber steht es frei, die Rechte, deren Verletzung ein Einzelner geltend machen kann, um einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, Handlung oder Unterlassung im Sinne von Art. 11 der UVP-Richtlinie einlegen zu können, auf subjektive Rechte zu beschränken, d. h. auf individuelle Rechte, die nach dem nationalen Recht als subjektiv-öffentliche Rechte qualifiziert werden können (vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 28.5.2020 - C-535/18 - DVBl. 2020, 837, juris Rn. 55 ff.). An der Darlegung eines subjektiven Rechts, das möglicherweise verletzt ist, fehlt es aus den dargestellten Gründen.
64 5. Die Klagebefugnis ergibt sich schließlich auch nicht aus der vom Kläger geltend gemachten Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Wie oben ausgeführt, begründet die Vorschrift eine Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren, wenn die Grundrechtsträger nicht selbst für ihre Integrität Sorge tragen können (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.3.2018 - 2 BvR 1371/13 - NVwZ 2018, 1224, juris Rn. 31). Die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts ist Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen. Eine Verletzung derartiger Schutzpflichten kommt jedoch nur in Betracht, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (BVerfG, Beschluss vom 26.7.2016 - 1 BvL 8/15 - BVerfGE 142, 313, juris Rn. 70). Ein Kläger muss insoweit darlegen, dass der Staat seinen ihm gegenüber obliegenden Schutzpflichten nicht nachgekommen ist (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.3.2018 - 2 BvR 1371/13 - NVwZ 2018, 1224, juris Rn. 32).
65 Daran fehlt es. Dem Vortrag des Klägers ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht nicht nachgekommen ist. Dafür ist auch sonst nichts ersichtlich. Vielmehr hat der Gesetzgeber insbesondere durch die in § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG normierte Pflicht, die betroffenen Belange einer Abwägung zu unterziehen, einen rechtlichen Rahmen geschaffen, in dem den durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Rechten des Einzelnen hinreichend Geltung verschafft wird. Werden individuelle Belange durch einen Planfeststellungsbeschluss möglicherweise verletzt, ist der Betroffene - wie oben ausgeführt - klagebefugt. Alle anderen Belange können oder müssen gegebenenfalls sogar als Teil der Allgemeininteressen in die Abwägung eingehen, vermitteln aber keine Klagebefugnis.
B.
66 Der hilfsweise gestellte Antrag ist als kumulativer Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage für den Fall des Erfolgs der Klage auszulegen. Der so verstandene Antrag hat jedoch keinen Erfolg, weil die Klage abzuweisen ist. Selbst wenn der Antrag, wie gestellt, als Hilfsantrag zu behandeln sein sollte, bliebe er erfolglos, denn wegen der Abweisung der Klage besteht kein Anlass, deren aufschiebende Wirkung wiederherzustellen.
67 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen.
68 Beschluss vom 30. September 2020
69 Der Streitwert für das Verfahren wird auf 15.000 Euro festgesetzt (§ 63 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nr. 34.2.5 des Streitwertkatalogs 2013).
70 Der Beschluss ist unanfechtbar.
Gründe
A.
16 Die Klage ist nicht zulässig. Dem Kläger fehlt die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO.
I.
17 In § 42 Abs. 2 VwGO kommt ein allgemeines Strukturprinzip des Verwaltungsrechtsschutzes zum Ausdruck, das vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG wenn auch nicht ausschließlich, so doch in erster Linie, auf den Individualrechtsschutz ausgerichtet ist. Nach dieser Vorschrift ist eine Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Erforderlich aber auch hinreichend ist, dass unter Zugrundelegung der Darlegungen des Klägers die Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts möglich erscheint (BVerwG, Urteil vom 5.4.2016 - 1 C.15 - BVerwGE 154, 328, juris Rn. 16 „Airbase Ramstein“). § 42 Abs. 2 VwGO dient daher vor allem dem Ausschluss sowohl der sogenannten Popularklage als auch der sogenannten Interessentenklage. Es soll zum einen nicht jedermann („quivis ex populo“) berechtigt sein, sich zum Sachwalter der Interessen der Allgemeinheit oder Dritter zu machen, um die Wahrung der objektiven Rechtsordnung mit verwaltungsgerichtlichen Rechtsbehelfen durchzusetzen. Zum anderen sollen auch Rechtsbehelfe solcher Personen ausgeschlossen sein, die keine eigenen Rechte geltend machen, sondern nur nachteilig betroffenen sind und lediglich z.B. ein wirtschaftliches, kulturelles oder ideelles Interesse vortragen (vgl. Wahl/Schütz in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 42 Rn. 8 und Haller, VBlBW 2017, 133, 134).
18 Durch das Erfordernis der Klagebefugnis wird dem Kläger eine subjektivrechtliche Substantiierungslast aufgebürdet. Es muss eine inhaltliche Bewertung möglich sein, ob der Kläger einen eigenen subjektivrechtlichen Bezug zum streitigen Sachverhalt herzustellen vermag. Die bloße Verbalbehauptung einer Rechtsverletzung genügt nicht (Wahl/Schütz in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 42 Rn. 9 und 65). Der Kläger muss Tatsachen vortragen, welche die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes und die dadurch bewirkte Verletzung seiner Rechte als jedenfalls denkbar erscheinen lassen. Die Klagebefugnis ist zu verneinen, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger behaupteten Rechte bestehen oder ihm zustehen können (st. Rspr. vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 16.6.2020 - 4 BN 53.19 - juris Rn. 9).
II.
19 Nach Maßgabe dieser Grundsätze fehlt dem Kläger die erforderliche Klagebefugnis.
20 Der Kläger macht geltend, er sei als häufiger Bahnnutzer und regelmäßiger Nutzer der Bahnanlage des Stuttgarter Hauptbahnhofs durch den angefochtenen Planfeststellungsbeschluss in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt, weil die geänderte Planung nicht den Brandschutzvorschriften entspreche und er im Falle eines Brandes zu Tode käme.
21 Aus diesem Vortrag folgt seine Klagebefugnis nicht. Sie ergibt sich weder aus einer möglichen Verletzung des § 4 AEG (1.) noch des § 18 AEG (2.), noch der weiteren als verletzt geltend gemachten Rechte und Belange (3.), noch aus der geltend gemachten Verletzung seines Beteiligungsrechts (4.) oder seines Schutzanspruchs aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (5.).
22 1. Auf eine Verletzung von § 4 Abs. 1 oder Abs. 3 AEG (in der zum Zeitpunkt des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses geltenden Fassung vom 18. August 2012, die identisch ist mit der aktuell geltenden Fassung vom 8. Juli 2019) kann sich der Kläger nicht berufen, denn die Vorschriften sind nicht drittschützend. Sie dienen nur dem öffentlichen Interesse an einem sicheren Bahnbetrieb und nicht zumindest auch seinem individuellen Schutz.
23 Drittschutz vermitteln nach der herrschenden Schutznormtheorie nur solche Rechtsvorschriften, die nicht ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit, sondern zumindest auch dem Schutz individueller Rechte dienen. In diesem Sinn drittschützend ist eine Norm, die das geschützte Recht sowie einen bestimmten und abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen lässt (BVerwG, Urteil vom 10.4.2008 - 7 C 39.07 - BVerwGE 131, 129, juris Rn. 19).
24 Weder § 4 Abs. 1 noch § 4 Abs. 3 AEG erfüllen diese Voraussetzungen.
25 a) Nach § 4 Abs. 1 AEG müssen die Eisenbahninfrastrukturen und Fahrzeuge den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit 1. an den Bau zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme und 2. an den Betrieb genügen. Zu den Eisenbahninfrastrukturen zählt auch der neue Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Vorschrift schützt zwar auch die Grundrechtsgüter Leben und Gesundheit (vgl. Hermes in Hermes/Sellner, AEG, 2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 4). Ein bestimmter und abgrenzbarer Kreis der hierdurch Berechtigten ist ihr aber nicht zu entnehmen.
26 aa) Der Wortlaut des § 4 Abs. 1 AEG lässt jeden Hinweis auf einen individuell geschützten Personenkreis vermissen, der sich hinreichend von der Allgemeinheit unterscheidet. Der Kreis der an der öffentlichen Sicherheit des Baus von Infrastruktureinrichtungen der Bahn Interessierten ist unübersehbar und nicht geeignet, eine hinreichende Unterscheidung von der Allgemeinheit zu ermöglichen.
27 Der Begriff der öffentlichen Sicherheit existiert zwar auch in § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG. Die Vorschrift weist jedoch einen entscheidenden Unterschied zu derjenigen des § 4 Abs. 1 AEG auf, der es ausschließt, Rückschlüsse aus dem polizeirechtlichen Begriff der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ auf die Auslegung von § 4 Abs. 1 AEG zu ziehen. Nach allgemeiner Auffassung sind zwar die Rechtsgüter des Einzelnen, insbesondere Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum, Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und dient die diesen Begriff enthaltende polizeirechtliche Generalklausel (§§ 3, 1 PolG) dem Schutz individueller Rechte (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 42 Rn. 113; Wolf/Stephan/Deger, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 7. Aufl. 2014, § 1 Rn. 17, 48). Jedoch erwähnt die Generalklausel - anders als § 4 Abs. 1 AEG - die Rechte des Einzelnen ausdrücklich (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG), nimmt so im Normtext auf zu schützende subjektive Rechte Bezug und verleiht dadurch dem Einzelnen über die objektive Pflicht zum Grundrechtsschutz hinaus ein subjektives Recht (vgl. Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 42 Rn. 115).
28 bb) Die systematische Auslegung ergibt kein anderes Ergebnis. Das Allgemeine Eisenbahngesetz verfolgt nicht das Ziel, einzelne Personen zu schützen, sondern dient dem öffentlichen Interesse an einem sicheren Bahnbetrieb.
29 Den in § 1 AEG formulierten Zielen des Gesetzes ist ein solcher Gedanke nicht zu entnehmen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AEG dient das Gesetz der Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahn und eines attraktiven Verkehrsangebots sowie der Wahrung der Interessen der Verbraucher im Eisenbahnmarkt. Mit der „Gewährleistung eines sicheren Betriebs der Eisenbahn“ wird der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schutz von Leben, Gesundheit, Eigentum und anderen Grundrechtsgütern entsprochen, die durch die §§ 4, 4a und 4b AEG konkretisiert wird (vgl. Hermes in Hermes/Sellner, AEG, 2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 4). Dieser Schutz zielt nach dem Wortlaut des § 1 AEG auf die Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit durch den Eisenbahnbetrieb und dient nicht der Gewährleistung von Rechten Einzelner.
30 Mit den „Interessen der Verbraucher“ sind zwar möglicherweise auch Interessen Einzelner angesprochen. Zum einen spricht die Vorschrift aber nur von Interessen und nicht von Rechten. Zum anderen handelt es sich um die Interessen „im Eisenbahnmarkt“. Damit werden, wie sich aus der Begründung zum Gesetzentwurf ergibt (vgl. BT-Drs. 18/8334 S. 244), die Interessen der Verbraucher an Fahrgastinformationen umschrieben. Nach der Begründung zum Gesetzentwurf sind die bisherigen Regelungen zu Fahrgastinformationen der Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung in das Allgemeine Eisenbahngesetz aufgenommen worden, sodass das Gesetz auch Verbraucherinteressen dient. Diese sollten daher in den Zielen des Gesetzes benannt werden.
31 Die Beschreibung der Ziele in § 1 Abs. 1 Satz 1 AEG schließt es zwar nicht aus, dass einzelnen Vorschriften des Gesetzes doch drittschützende Wirkung zukommt. Soweit dies der Fall ist, wird dies im Gesetz jedoch ausdrücklich erwähnt, wie beispielsweise in der Regelung über die eisenbahnrechtliche Planfeststellung in § 18 AEG. Nach dessen Absatz 1 Satz 2 sind die von dem Vorhaben berührten privaten Belange im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Daraus folgt der Rechtsanspruch des Einzelnen auf gerechte Abwägung seiner individuellen Belange in der Planfeststellung. Diese Regelung erlaubt jedoch nicht den Rückschluss, dass auch § 4 Abs. 1 AEG drittschützend ist. Vielmehr liegt das Gegenteil nahe: Weil § 4 Abs. 1 AEG - anders als § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG - Rechte Einzelner nicht erwähnt, dient er nicht auch deren Schutz.
32 cc) Aus der Entstehungsgeschichte der Norm lassen sich ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine drittschützende Zielrichtung entnehmen. Nach der Begründung zum Gesetzentwurf enthält § 4 Abs. 1 AEG die Regelung aus § 2 Abs. 1 Satz 1 der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO). Die Vorschrift legt allgemein fest, dass Eisenbahninfrastrukturen und Fahrzeuge den an sie gestellten Anforderungen in Bezug auf den Bau zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme und den Betrieb entsprechen müssen. Diese Verpflichtung richtet sich an den für die Eisenbahninfrastruktur oder das Fahrzeug jeweils Verantwortlichen (BR-Drs. 527/11 S. 14). Schon die Herkunft der Norm aus der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung belegt, dass mit ihr keine individuellen Rechte geschützt werden sollen, sondern dass sie dem Interesse der Allgemeinheit an einer hinreichend sicheren Bahninfrastruktur dienen soll. Der in der zitierten Begründung zum Gesetzentwurf genannte Auftrag an die Verantwortlichen spricht ebenfalls eindeutig für dieses Verständnis.
33 dd) Auch Sinn und Zweck der Vorschrift lassen keine drittschützende Zielrichtung erkennen. Durch die Regelung soll sichergestellt werden, dass durch den Bau und den Betrieb von Infrastruktureinrichtungen der Eisenbahnen kein Schaden an Personen oder Sachen entsteht, ohne jedoch einzelne Personen besonders in den Blick zu nehmen. Geschützt ist somit nur das Interesse der Allgemeinheit an einer hinreichend sicheren Eisenbahninfrastruktur.
34 b) Gleiches gilt für § 4 Abs. 3 AEG. Nach dessen Satz 1 Nr. 2 sind die Eisenbahnen verpflichtet, an Maßnahmen des Brandschutzes und der Technischen Hilfeleistung mitzuwirken. Auch dieser Wortlaut gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass dadurch individuelle Rechte geschützt werden sollen. Brandschutz ist als öffentliche Aufgabe den Feuerwehren übertragen (vgl. § 2 Abs. 1 FwG BW). Das gilt auch für den Bereich der Eisenbahnen. Für eine abweichende Regelung im Allgemeinen Eisenbahngesetz fehlte dem Bund die Gesetzgebungskompetenz. Für den Brandschutz liegt diese bei den Ländern. Daher ist den Eisenbahnen in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AEG die Aufgabe des Brandschutzes nicht überantwortet, sondern sie sind nur verpflichtet, daran mitzuwirken (vgl. Hermes/Schweinsberg in Hermes/Sellner, AEG, 2. Aufl. 2014, § 4 Rn. 125 unter Verweis auf die Dokumente des Gesetzgebungsverfahrens BT-Drs. 13/4386 S. 4, 7, 8 und BR-Drs. 103/97 S. 2). Die Pflicht zur Mitwirkung beinhaltet in erster Linie eine Kooperationspflicht der Eisenbahnen mit den nach Landesrecht zuständigen Stellen. Zu diesem Zweck hat die Deutsche Bahn AG mit den Innenministern und -senatoren der Länder am 15. Oktober 1998 eine Vereinbarung geschlossen, in der geregelt ist, welche Unterstützung die Bahn bei der Bekämpfung von Bränden und der Ausbildung von Feuerwehrkräften leistet.
35 § 4 Abs. 3 Satz 2 AEG dient ebenfalls nicht dem Schutz Einzelner. Danach sind Eisenbahnen verpflichtet, die Eisenbahninfrastruktur (§ 2 Abs. 6 AEG) sicher zu bauen und in betriebssicherem Zustand zu halten. Die Vorschrift wurde § 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 (BGBl. I S. 955) nachgebildet (vgl. BR-Drs. 131/93 S. 98). § 4 BBahnG lautete: Die Anlagen und Fahrzeuge der Deutschen Bundesbahn sind dauernd in gutem Zustand zu erhalten und nach den Bedürfnissen des Verkehrs und dem jeweiligen Stand der Technik zu erneuern und weiterzuentwickeln. Angesichts des zitierten Wortlauts und der dargestellten Entstehungsgeschichte liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass § 4 Abs. 3 Satz 2 AEG neben der Gewährleistung einer sicheren und funktionierenden Eisenbahninfrastruktur für die Allgemeinheit auch dem Schutz Einzelner zu dienen bestimmt sein könnte.
36 Sinn und Zweck sowie die systematische Auslegung der Normen führen zu keinem anderen Ergebnis. Insoweit kann auf die Ausführungen unter a) verwiesen werden.
37 c) Der Verweis des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung auf die dem Brandschutz dienenden Richtlinien des Eisenbahn-Bundesamtes und interne Vorschriften der Beigeladenen zum Brandschutz führt nicht weiter. Diese Regeln konkretisieren die in § 4 Abs. 1 und 3 AEG normierten Pflichten auf untergesetzlicher Ebene. Sie enthalten jedoch - eben-so wie § 4 Abs. 1 und 3 AEG - lediglich objektive Regelungen im Interesse der Allgemeinheit und dienen nicht auch dem Schutz des Einzelnen.
38 d) Die erforderliche Klagebefugnis des Klägers bestünde selbst dann nicht, wenn § 4 Abs. 1, § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 oder § 4 Abs. 3 Satz 2 AEG entgegen der hier vertretenen Auffassung doch zumindest auch dem Schutz des Einzelnen zu dienen bestimmt wären. Denn der Kläger hat aus den nachfolgend unter 2. bis 5. ausgeführten Gründen nicht dargelegt, dass er durch den angefochtenen Planänderungsbeschluss möglicherweise in einem ihm zustehenden subjektiven Recht verletzt ist.
39 2. Die Antragsbefugnis des Klägers folgt auch nicht aus einer möglichen Verletzung von § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG. Nach dieser Vorschrift sind bei der Planfeststellung die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange einschließlich der Umweltverträglichkeit im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.
40 a) Zu den abzuwägenden Belangen zählt auch das Interesse der Menschen, die sich im Hauptbahnhof oder in seiner Nähe aufhalten, dass ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit vor den Gefahren eines Brandes geschützt werden. Durch das Gebot des § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG, den allgemeinen Belang des Brandschutzes abzuwägen, genügt der Gesetzgeber mit Blick auf die Gefahren eines Brandes seiner verfassungsrechtlichen Pflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begründet die objektive Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren, wenn die Grundrechtsträger nicht selbst für ihre Integrität Sorge tragen können (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.3.2018 - 2 BvR 1371/13 - juris Rn. 31). Durch § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG wird dem sogenannten Untermaßverbot Rechnung getragen. Das Verbot ist beachtet, wenn die Vorkehrungen des Gesetzgebers für einen - unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter - angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sind und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 29.7.2009 - 1 BvR 1606/08 - NVwZ 2009, 1494, juris Rn. 12). Diese Voraussetzungen sind - soweit es den hier interessierenden Brandschutz betrifft - erfüllt. Denn eine ordnungsgemäße Abwägung nach § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG erfordert, zunächst alle für die Abwägung erheblichen Tatsachen zu ermitteln und zu bewerten und diese dann gegenüber anderen öffentlichen und privaten Belange abzuwägen.
41 Aus der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung angesprochenen mittelbaren Grundrechtswirkung folgt nichts anderes. Denn darauf käme es erst an, wenn der Gesetzgeber seiner objektiven Schutzpflicht nicht oder nicht ausreichend nachgekommen, d.h. das Untermaßverbot verletzt wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Auch der Kläger hat hierzu nichts von Substanz vorgetragen. Die Vorschrift des § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG ist daher entgegen der Ansicht des Klägers nicht dahingehend auszulegen, dass von dem Einzelnen unabhängig von einem individuellen Belang auch allgemeine dem Gesundheits- und Lebensschutz dienende Belange geltend gemacht werden können. Aus dem vom Kläger zitierten Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 2009 (- 1BvR 1178/07 - NVwZ 2010, 114) ergibt sich nichts Gegenteiliges.
42 Der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates entspricht ein grundrechtlicher Schutzanspruch des durch die schutzgebietende Tätigkeit betroffenen Grundrechtsträgers. An die Stelle des zunächst grundrechtsunmittelbaren Anspruchs tritt der Schutzanspruch aus der konkretisierenden einfachrechtlichen Regelung. Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von einem einfachgesetzlich konkretisierten Grundrechtsschutz (BVerfG, Beschluss vom 26.1.1988 - 1 BvR 1561/82 - BVerfGE 77, 381, 405; s. auch BVerwG, Urteil vom 14.3.2013 - 7 C 34.11 - NVwZ 2013, 1407, juris Rn. 37).
43 In Ausfüllung des grundrechtlichen Schutzanspruchs gibt das Abwägungsgebot des § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG einem Drittbetroffenen somit einen Anspruch auf Berücksichtigung seiner planungsrechtlich relevanten privaten Belange, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um subjektive Rechtspositionen handelt (BVerwG, Urteil vom 27.10.1999 - 11 A 31.98 - juris Rn. 24). Es muss sich aber in jedem Fall um einen individuellen Belang des Drittbetroffenen handeln. Die Planfeststellungsbehörde muss verpflichtet sein, den Belang gerade dieses Drittbetroffenen abwägend zu berücksichtigen. Das setzt allerdings voraus, dass das Interesse im Zeitpunkt der planerischen Entscheidung hinreichend konkret und individuell zu erfassen und dass es als Einzelinteresse schutzwürdig ist (BVerwG, Urteil vom 26.7.1989 - 4 C 35.88 - BVerwGE 82, 246 - juris Rn. 21; und Urteil vom 27.9.1993 - 4 C 22.93 - NVwZ-RR 1994, 189, juris Rn. 8). Damit scheiden alle Belange aus, die ausschließlich die Allgemeinheit oder einen Teil der Allgemeinheit betreffen. Denn eine „Popularklage“ kennt die Verwaltungsgerichtsordnung nicht; gleiches gilt für das Grundgesetz (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11.1.2016 - 1 BvR 2980/14 - NVwZ 2016, 841, juris Rn. 22).
44 b) Der Kläger trägt vor, es bestehe die Gefahr, dass er bei einem Aufenthalt im planfestgestellten Hauptbahnhof durch einen Brand zu Schaden komme, weil der Planfeststellungsbeschluss keine hinreichenden Regelungen zum Brandschutz enthalte. Bei der Gefahr, im Fall eines Brandes zu Schaden zu kommen, handelt es sich um eine Gefahr, die durch ein betriebsbedingtes Schadensereignis ausgelöst wird. Solche Gefahren sind nicht beim planfestzustellenden Bau, sondern beim Betrieb des Bahnhofs abzuwehren. Die Zuständigkeit für die Abwehr dieser Gefahren im Rahmen der Aufgaben des Brandschutzes und der Rettung bleibt daher von der Planfeststellung unberührt. Sie geht nicht gemäß § 18 Satz 3, § 18c AEG i.V.m. § 75 Abs. 1 Satz 1 VwVfG auf die Planfeststellungsbehörde über, sondern verbleibt bei den nach Landesrecht zuständigen Stellen (BVerwG, Urteil vom 28.2.2019 - 3 A 4.16 - VRS 136 Nr. 29, juris Rn. 26).
45 Demzufolge handelt es sich, soweit es den Brandschutz im Rahmen der Planfeststellung betrifft, nicht um Gefahrenabwehr, sondern um Risikovorsorge. Die Planfeststellungsbehörde hat durch geeignete Regelungen zum Brandschutz sicherzustellen, dass Schäden möglichst verhindert werden, soweit die zu treffenden Maßnahmen nicht der Ausführungsplanung überlassen bleiben können (vgl. zu den Voraussetzungen, auch sicherheitsrelevante Maßnahmen in die Ausführungsplanung zu verlagern BVerwG, Urteil vom 11.7.2019 - 9 A 13.18 - juris Rn. 170 und Urteil vom 5.3.1997 - 11 A 5.96 - NVwZ-RR 1998, 92, juris Rn. 22). Diese Regelungen trifft sie im Interesse aller potentiellen zukünftigen Nutzer des Hauptbahnhofs, unabhängig davon, wann und wie oft diese den Hauptbahnhof nutzen werden. Der Kreis dieser Nutzer ist unüberschaubar, nicht bestimmbar, nicht konkretisierbar und nicht von der Allgemeinheit abzugrenzen. Teil dieses Kreises ist auch der Kläger. Er hat nicht dargelegt, räumlich und zeitlich in einem bestimmten Näheverhältnis zum Hauptbahnhof zu stehen, oder dass seine Situation im Verhältnis zur Allgemeinheit durch eine irgendwie geartete Besonderheit gekennzeichnet ist, sodass er aus dem Kreis der übrigen Nutzer hervorgehoben wäre, mit der Folge, dass seine speziellen Belange im Rahmen der Abwägung gesondert zu würdigen und zu berücksichtigen wären. Er beruft sich vielmehr auf den allgemeinen Belang des Brandschutzes; daraus folgt seine Klagebefugnis jedoch nicht.
46 Ein individualisierendes Näheverhältnis oder eine besondere Situation ist auch in den Fällen erforderlich, in denen es um die Vorsorge vor Risiken für Leib und Leben geht. Das verdeutlichen die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2013 (7 C 34.11 - NVwZ 2013, 1407, juris Rn. 39 ff.) und vom 12. April 2018 (3 A 16.15 - UPR 2018, 388, juris Rn. 21). Im Urteil vom 14. März 2013 hat das Bundesverwaltungsgericht die Klagebefugnis von Anwohnern der Castor-Transportstrecke bejaht und zur Begründung ausgeführt, die atomrechtlichen Vorschriften hätten einen grundrechtskonkretisierenden subjektivrechtlichen Gehalt, allerdings nur insoweit, als sie neben dem geschützten Recht auch einen bestimmten und abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen ließen. Die Kläger unterschieden sich von anderen Anliegern des Schienenwegs. Sie hätten ihren Lebensmittelpunkt auf in ihrem Eigentum stehenden Wohngrundstücken im näheren Umgriff der stationären Verladestelle am Bahnhof D. bzw. unmittelbar angrenzend an die von dort zum Transportbehälterlager führende Straße, über die mit Schwerlastkraftfahrzeugen der Transportvorgang zum Abschluss gebracht werde. Die zusätzlich erforderliche zeitliche Komponente sei ebenfalls gegeben, denn die Transporte müssten stets den Weg über diese Verladestelle nehmen. Zudem unterschiede sie die Verweildauer der Transporte in der Umschlaganlage von den Anliegern des Schienenweges, auf dem das Transportgut in einem mehr oder weniger flüchtigen Beförderungsvorgang vorbeigeführt werde.
47 Aus diesen Ausführungen folgt, dass die bloße Absicht, sich im Einwirkungsbereich eines Vorhabens - hier des neuen Hauptbahnhofs - aufzuhalten, für die Begründung eines subjektiven Rechts nicht genügt. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse örtliche Verfestigung, z.B. durch einen Wohn- oder Arbeitsplatz, und zudem auch in zeitlicher Hinsicht eine hinreichende Beziehung. Das Bundesverwaltungsgericht spricht in der zitierten Entscheidung von einem „bedeutsamen Standort“. Dies ist bei einem nur kurzzeitigen Aufenthalt bei der Abfahrt vom und der Ankunft am Hauptbahnhof nicht der Fall, selbst wenn er mit einer gewissen Regelmäßigkeit erfolgen sollte.
48 Im Urteil vom 12. April 2018 hat das Bundesverwaltungsgericht die Klagebefugnis einer Anwohnerin gegen den Planfeststellungsbeschluss für die Aus- und Neubaustrecke Karlsruhe - Basel mangels individualisierter Betroffenheit verneint. Die Klägerin hatte geltend gemacht, das Vorhaben habe nachteilige Auswirkungen auf die Wasserversorgung und verletze sie in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Form ihres Rechts auf Versorgung mit gesundem Trinkwasser. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch dieses Urteil seine Rechtsprechung im Beschluss vom 27. Januar 1988 (- 4 B 7.88 - NVwZ 1988, 534, juris Rn. 9) bestätigt. Das Verfahren betraf die Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss für einen U-Bahnbau. Die in der Nähe der Bahntrasse wohnenden Kläger hatten geltend gemacht, die vorgesehene Grundwasserabsenkung gefährde ihre Trinkwasserversorgung (vgl. zum anders gelagerten Fall eines privaten Trinkwasserbrunnens in der Nähe eines planfestgestellten Autobahnbaus EuGH, Urteil vom 28.5.2020 - C 535/18 - DVBl. 2020, 837, juris Rn. 123).
49 Aus dem vom Kläger zitierten Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 2009 (- 1 BvR 1178/07 - NVwZ 2010, 114) folgt nichts Gegenteiliges. Das Verfahren betraf die Verfassungsbeschwerde des Eigentümers eines in der Nähe der Schachtanlage „Konrad“ gelegenen landwirtschaftlichen Anwesens. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, das mit Urteil vom 8. März 2006 (- 7 KS 145/02 u.a. - DVBl 2006, 1044) erstinstanzlich über die Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss entschieden hatte, bejahte die Klagebefugnis des Klägers mit der Begründung, er habe Umstände angeführt, die im Hinblick auf den Normalbetrieb des Endlagers und die erforderliche Vorsorge gegen Störfälle bei Berücksichtigung der Nähe seines Lebensmittelpunkts zum Aufbewahrungsort und weiterhin angesichts möglicherweise relevanter besonderer Expositionspfade bei der Arbeit auf benachbarten landwirtschaftlichen Nutzflächen immerhin Anhaltspunkte dafür böten, dass eine Beeinträchtigung in seinen Rechten nicht von vornherein ausgeschlossen werden könne (vgl. juris Rn. 31). Ein besonderes Näheverhältnis zu dem Gegenstand des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses lag somit vor.
50 Ein Näheverhältnis oder eine besondere Situation hat der Kläger dagegen nicht dargelegt. Die Behauptung, regelmäßiger oder häufiger Bahnnutzer zu sein, hebt ihn nicht aus dem Kreis der übrigen potentiellen künftigen Nutzer des Hauptbahnhofs heraus, denn dieser Umstand trifft auf eine unüberschaubare Zahl von Menschen zu, die beispielsweise mit der Bahn vom neuen Hauptbahnhof aus zu ihrer Arbeitsstätte pendeln. Daran ändert auch nichts, dass er behauptet, Inhaber einer Bahncard zu sein und es auch zukünftig zu sein, so lange er lebe. Denn auch dieser Umstand unterscheidet ihn nicht von dem nicht bestimmbaren Kreis anderer Bahncard-Inhaber, die den Hauptbahnhof beispielsweise für Fahrten zur Arbeit nutzen, die nur gelegentlich vom neuen Hauptbahnhof zu einer Reise aufbrechen oder die sich sogar nur während des Halts ihres Zuges im Hauptbahnhof aufhalten. Die Tatsache, dass der Kläger Einwohner Stuttgarts ist, unterscheidet ihn ebenfalls nicht von der unübersehbaren Zahl anderer Einwohner Stuttgarts, die die Bahn nutzen.
51 c) Fehlt es aber an einer qualifizierten und individualisierten Betroffenheit des Klägers, macht er den allgemeinen Belang des Brandschutzes in einem öffentlichen Gebäude geltend. Eine Klagebefugnis hierfür steht ihm jedoch offensichtlich nicht zur Seite. Denn dieser ist von der Stadt Stuttgart als Trägerin der Feuerwehr gegenüber der Planfeststellungsbehörde geltend zu machen (vgl. zur Klagebefugnis eines Landkreises als Träger der Aufgaben des überörtlichen Brandschutzes gegen den Planfeststellungsbeschluss für die Eisenbahn-Neubaustrecke Ebensfeld - Erfurt: BVerwG, Urteil vom 28.2.2019 - 3 A 4.19 - VRS 136 Nr. 29, juris Rn. 19). Insoweit besteht auch eine Parallele zu dem Fall, der dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2018 (a.a.O.) zugrunde lag. Das Bundesverwaltungsgericht hat darin entschieden, es sei Aufgabe des Trägers der Wasserversorgung und nicht seiner nur mittelbar betroffenen Kunden, bei Zulassung eines Vorhabens im Wasserschutzgebiet die Belange der öffentlichen Wasserversorgung geltend zu machen.
52 Die Stadt Stuttgart war - vertreten durch ihre Branddirektion - im Planfeststellungsverfahren beteiligt. Sie hat in diesem Rahmen Stellungnahmen abgegeben, in denen sie zwar auch Bedenken gegen die vorgesehenen Maßnahmen erhoben hat. Sie hat jedoch in ihrer Stellungnahme vom 11. August 2016 mitgeteilt, dass gegen die Planung im Grundsatz keine Bedenken bestehen; Einzelheiten seien im Rahmen der Ausführungsplanung zu klären.
53 3. Auch die weiteren vom Kläger als verletzt geltend gemachten Rechte und Belange verhelfen ihm nicht zur Klagebefugnis.
54 a) Das Eigentumsrecht an seiner Bahncard bleibt von dem Planfeststellungsbeschluss unberührt. Er greift nicht in das Eigentumsrecht ein. Eine irgendwie geartete Schutzpflicht der Planfeststellungsbehörde gegenüber Inhabern einer Bahncard im Allgemeinen oder dem Kläger im Besonderen im Hinblick auf das Eigentum an der Bahncard oder auf die Nutzungsmöglichkeit dieses Eigentums besteht nicht.
55 b) Bei seinem geltend gemachten Interesse, von erhöhten Schadstoff- und Umweltbelastungen insbesondere während der Bauzeit verschont zu bleiben, handelt es sich nach den dargestellten Grundsätzen nicht um eine Individualinteresse des Klägers.
56 c) Einen „Anspruch auf eine funktionierende Infrastruktur“, wie ihn der Kläger für sich reklamiert, gibt es nicht. Allenfalls kann das Interesse der Allgemeinheit an einer funktionierenden Infrastruktur in die Abwägung eingehen, nicht jedoch als spezielles Interesse des Klägers. Seine Bewegungsfreiheit wird durch den Planfeststellungsbeschluss nicht eingeschränkt.
57 d) Der Kläger ist ferner der Auffassung, die Verkehrssicherungspflicht unterliege der Überprüfbarkeit durch die davon Betroffenen; das seien im vorliegenden Falle die zukünftigen Nutzer des Hauptbahnhofs. Das trifft nicht zu. Bei den Regelungen im Planfeststellungsbeschluss handelt es sich, soweit sie den Brandschutz betreffen, wie dargestellt, um Maßnahmen der Risikovorsorge. Ob diese Regelungen ausreichen, kann durch das Gericht nur auf die Klage eines nach den dargestellten Grundsätzen Klagebefugten überprüft werden. Zu diesen Klagebefugten zählen nicht sämtliche Personen, die den künftigen Hauptbahnhof potentiell nutzen, sondern nur solche, die in individualisierter Weise davon betroffen sind. Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht.
58 4. Der Vortrag des Klägers, er sei als Bahnnutzer zu Unrecht nicht am Verfahren beteiligt worden, verhilft ihm ebenfalls nicht zur erforderlichen Klagebefugnis. Ein Beteiligungsrecht, dessen mögliche Verletzung eine Klagebefugnis vermittelt, steht dem Kläger nicht zur Seite. Ein solches Recht folgt weder aus § 28 VwVfG noch aus § 76 Abs. 1 i.V.m. § 73 Abs. 4 VwVfG und auch nicht aus § 4 Abs. 3 UmwRG.
59 a) Die Beklagte hat die Planänderung als eine Änderung von unwesentlicher Bedeutung eingestuft und daher nach § 18 AEG i.V.m. § 76 Abs. 3 VwVfG und § 18d AEG kein Anhörungsverfahren durchgeführt. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Einstufung durch die Beklagte fehlerhaft ist. Auch im vereinfachten Verfahren nach § 76 Abs. 3 VwVfG sind jedoch die von der Änderung Betroffenen nach § 28 VwVfG zu beteiligen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1.4.2016 - 3 VR 2.15 - NVwZ 2016, 1328, juris Rn. 18; Senatsbeschluss vom 8.8.2013 - 5 S 2327/12 - juris Rn. 23; Neumann/Külpmann in Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, § 76 Rn. 28). Ein subjektives Recht auf Durchführung eines Anhörungsverfahrens, das dem Kläger die Klagebefugnis vermittelt, verleiht § 28 VwVfG jedoch nicht.
60 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 15.10.1998 - 4 B 94.98 - NVwZ 1999, 876, juris Rn. 4) kann ein am Verwaltungsverfahren zu beteiligender Dritter die Befugnis zur Anfechtung der getroffenen Verwaltungsentscheidung grundsätzlich nicht allein aus der Verletzung der ihn betreffenden Verfahrensvorschriften herleiten. Vielmehr muss sich aus seinem Vorbringen darüber hinaus auch ergeben, dass sich der gerügte Verfahrensfehler möglicherweise auf seine (Abwehr-, Schutz- oder Einwirkungs-) Rechte selbst ausgewirkt hat. Denn die Vorschriften über seine Beteiligung gewähren - entsprechend der insoweit nur dienenden Funktion des Verwaltungsverfahrens (vgl. auch § 46 VwVfG) - im allgemeinen Schutz allein im Hinblick auf die bestmögliche Verwirklichung seiner dem Beteiligungsrecht zugrundeliegenden materiell-rechtlichen Rechtsposition. Es handelt sich um ein abhängiges, ein relatives Verfahrensrecht. Dieser Grundsatz ist lediglich ausnahmsweise dann durchbrochen, wenn die Auslegung der maßgeblichen Verfahrensvorschriften ergibt, dass dem Dritten in spezifischer Weise und unabhängig vom materiellen Recht - gleichsam um seiner selbst Willen - eine eigene, selbstständig durchsetzbare verfahrensrechtliche Rechtsposition im Sinne eines absoluten Verfahrensrechts eingeräumt ist (Sennekamp in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, VwGO § 42 Rn. 174). Um ein absolutes Verfahrensrecht handelt es sich bei § 28 VwVfG indessen nicht.
61 b) Selbst wenn es sich entgegen der Einschätzung der Beklagten nicht um eine Planänderung von unwesentlicher Bedeutung handeln würde, änderte sich nichts am Ergebnis. Für eine Änderung des festgestellten Plans vor Fertigstellung des Vorhabens sieht § 76 Abs. 1 VwVfG zwar die Durchführung eines neuen Planfeststellungsverfahrens vor, in dessen Rahmen auch ein erneutes Anhörungsverfahren nach § 73 VwVfG durchzuführen wäre. In diesem Anhörungsverfahren kann nach § 73 Abs. 4 VwVfG jeder, dessen Belange durch das Vorhaben berührt werden, Einwendungen erheben. Ein subjektives Recht auf Durchführung eines Anhörungsverfahrens, das dem Kläger die Klagebefugnis vermitteln könnte, verleiht jedoch auch § 73 Abs. 4 VwVfG nicht. Insoweit kann auf die Ausführungen unter a) verwiesen werden.
62 c) Die Klagebefugnis des Klägers folgt auch nicht aus § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 UmwRG. Nach dieser Vorschrift können u. a. natürliche Personen die Aufhebung einer in § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwRG genannten Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens wegen eines dort genannten Verfahrensfehlers geltend machen. Ein solcher Verfahrensfehler liegt nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. c) UmwRG auch vor, wenn der betroffenen Öffentlichkeit die Möglichkeit der gesetzlich vorgesehenen Beteiligung am Entscheidungsprozess genommen wird. Eine Klagebefugnis des Klägers folgt daraus jedoch nicht.
63 Der Anwendungsbereich des Umweltrechtsbehelfsgesetzes ist zwar nach dessen § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) eröffnet, weil der angefochtene Planfeststellungsbeschluss eine Zulassungsentscheidung im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 1 UVPG a.F. bzw. § 2 Abs. 6 UVPG n.F. über ein Vorhaben darstellt, für das nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen kann. Die Rüge, er sei am Verfahren nicht beteiligt worden, vermittelt dem Kläger jedoch mangels erkennbarer Verletzung subjektiver Rechte nicht die erforderliche Klagebefugnis. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts begründet § 4 Abs. 3 UmwRG keine Klagebefugnis im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO, sondern lässt den individualrechtsbezogenen Ansatz des § 42 Abs. 2 VwGO unangetastet und weitet lediglich den Umfang der gerichtlichen Begründetheitsprüfung aus (BVerwG, Beschluss vom 14.11.2018 - 4 B 12.18 - BRS 86 Nr. 182, juris Rn. 4). Diese Rechtsprechung steht in Einklang mit Art. 11 Abs. 3 der UVP-Richtlinie. Denn dem nationalen Gesetzgeber steht es frei, die Rechte, deren Verletzung ein Einzelner geltend machen kann, um einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, Handlung oder Unterlassung im Sinne von Art. 11 der UVP-Richtlinie einlegen zu können, auf subjektive Rechte zu beschränken, d. h. auf individuelle Rechte, die nach dem nationalen Recht als subjektiv-öffentliche Rechte qualifiziert werden können (vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 28.5.2020 - C-535/18 - DVBl. 2020, 837, juris Rn. 55 ff.). An der Darlegung eines subjektiven Rechts, das möglicherweise verletzt ist, fehlt es aus den dargestellten Gründen.
64 5. Die Klagebefugnis ergibt sich schließlich auch nicht aus der vom Kläger geltend gemachten Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Wie oben ausgeführt, begründet die Vorschrift eine Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren, wenn die Grundrechtsträger nicht selbst für ihre Integrität Sorge tragen können (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.3.2018 - 2 BvR 1371/13 - NVwZ 2018, 1224, juris Rn. 31). Die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts ist Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen. Eine Verletzung derartiger Schutzpflichten kommt jedoch nur in Betracht, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (BVerfG, Beschluss vom 26.7.2016 - 1 BvL 8/15 - BVerfGE 142, 313, juris Rn. 70). Ein Kläger muss insoweit darlegen, dass der Staat seinen ihm gegenüber obliegenden Schutzpflichten nicht nachgekommen ist (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15.3.2018 - 2 BvR 1371/13 - NVwZ 2018, 1224, juris Rn. 32).
65 Daran fehlt es. Dem Vortrag des Klägers ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht nicht nachgekommen ist. Dafür ist auch sonst nichts ersichtlich. Vielmehr hat der Gesetzgeber insbesondere durch die in § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG normierte Pflicht, die betroffenen Belange einer Abwägung zu unterziehen, einen rechtlichen Rahmen geschaffen, in dem den durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Rechten des Einzelnen hinreichend Geltung verschafft wird. Werden individuelle Belange durch einen Planfeststellungsbeschluss möglicherweise verletzt, ist der Betroffene - wie oben ausgeführt - klagebefugt. Alle anderen Belange können oder müssen gegebenenfalls sogar als Teil der Allgemeininteressen in die Abwägung eingehen, vermitteln aber keine Klagebefugnis.
B.
66 Der hilfsweise gestellte Antrag ist als kumulativer Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage für den Fall des Erfolgs der Klage auszulegen. Der so verstandene Antrag hat jedoch keinen Erfolg, weil die Klage abzuweisen ist. Selbst wenn der Antrag, wie gestellt, als Hilfsantrag zu behandeln sein sollte, bliebe er erfolglos, denn wegen der Abweisung der Klage besteht kein Anlass, deren aufschiebende Wirkung wiederherzustellen.
67 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen.
68 Beschluss vom 30. September 2020
69 Der Streitwert für das Verfahren wird auf 15.000 Euro festgesetzt (§ 63 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nr. 34.2.5 des Streitwertkatalogs 2013).
70 Der Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.05.2020 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
1Gründe:
2I.
3Der Antragsteller begehrt Leistungen zur Sicherung seiner Unterkunft für die Dauer seiner Inhaftierung.
4Der Antragsteller bewohnte zuletzt, zumindest zeitweise - die näheren Einzelheiten sind zwischen den Beteiligten umstritten -, einen Seefrachtcontainer. Dieser steht im Eigentum des Antragstellers und ist im Garten eines Privatgrundstücks im Stadtgebiet der Antragsgegnerin abgestellt. Für den Stellplatz verlangt der Grundstückseigentümer eine Miete von monatlich 280 Euro. Der Container ist an seinem Standort nicht an die Wasser-/Abwasserversorgung angeschlossen. Auch erfolgt keine Abfallentsorgung. Nach Einschätzung der Bauaufsicht ist eine Wohnnutzung des Containers an seinem Standort nicht genehmigungsfähig.
5Der Antragsteller bezog zuletzt Arbeitslosengeld II. Zum 01.03.2020 hob das zuständige Jobcenter seine Bewilligung auf, weil die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers weggefallen sei (Bescheid vom 16.01.2020).
6Am 06.02.2020 wurde der Antragsteller in der JVA C in Untersuchungshaft genommen. Zwischenzeitlich verurteilte ihn das AG C zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten (Urteil vom 27.05.2020, 00 Ls 00 Js 00/20); die Verurteilung ist bislang nicht rechtskräftig.
7Nach seiner Inhaftierung beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin Sozialhilfe zur Übernahme der Kosten seiner Wohnung wegen seiner Inhaftierung. Neben der monatlichen Miete von 280 Euro begehrte er auch die Übernahme der Kosten für eine Verlagerung seines Containers "auf ein möglichst preiswertes Grundstück" mit einer baufälligen bzw. sanierungsbedürftigen Immobilie, wo er den Container als "Unterkunft für Bauarbeiter" genehmigungsfrei bewohnen könne. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 10.03.2020). Der geltend gemachte Anspruch setze voraus, dass der Antragsteller seinen tatsächlichen Aufenthalt im Gebiet der Antragsgegnerin begründe. Nach eigenen Angaben halte der Antragsteller sich aber jeweils an dem Ort auf, an dem er Arbeit finde. Auch sei der Antragsteller nicht im Gebiet der Antragsgegnerin gemeldet. Zudem sei der Container als Wohnmöglichkeit nicht erhaltenswert, weil er nur über eine "notdürftige" Stromversorgung und keinen Anschluss an das Wasser-/Abwassernetz verfüge, die Abfallentsorgung nicht den ortsüblichen Rahmenbedingungen entspreche und das Grundstück auch nicht zu Wohnzwecken zugelassen bzw. geeignet sei. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29.05.2020).
8Am 16.04.2020 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf beantragt. Er beabsichtige, seinen Ersatzwohnsitz bis zur Finanzierung eines passenden Ersatzgrundstücks wieder im Gebiet der Antragsgegnerin zu nehmen. Er habe lediglich für die Dauer von Arbeitseinsätzen Hotel- oder Pensionszimmer am Arbeitsort bewohnt, im Übrigen und auch während der Wochenenden und freien Tage in seinem Container gelebt. Der Verlust seines Hausrates und seiner persönlichen Gegenstände mit einem Wiederbeschaffungswert von min. 10.000 Euro sowie des "maßgeschneiderten" Containers mit einem Wiederbeschaffungswert von min. 90.000 Euro könne ihm nicht zugemutet werden.
9Er hat sinngemäß beantragt,
10die Antragsgegnerin zu verpflichten,
111. die Nutzungsentschädigung für das aktuell genutzte Grundstück von monatlich 280 Euro seit März 2020,
2. ggf. die Umzugskosten für den Transport des Containers von ca. 2000 Euro sowie
3. die Kosten für ein neues eigenes Grundstück in möglichst wirtschaftlicher Lage von maximal 10.000 Euro
12als Beihilfe, hilfsweise als Darlehen, zu übernehmen.
13Die Antragsgegnerin hat beantragt,
14den Antrag abzuweisen.
15Sie hat geltend gemacht, die im Hinblick auf die zu erwartende Situation bei Haftentlassung zwingend erforderliche Prognose könne bereits nicht angestellt werden, weil unklar sei, wie lange der Antragsteller noch in Haft verbleiben werde. Auch sei davon auszugehen, dass der Antragsteller sich nicht dauerhaft im Gebiet der Antragsgegnerin aufhalte; dazwischen nutze der Antragsteller den Container lediglich als Lager. Zudem könne eine Kostenübernahme nur erfolgen, wenn der Container tatsächlich und rechtlich als Wohnmöglichkeit dienen könne; Kosten für eine illegale Wohnung könnten nicht übernommen werden. Der Antragsteller habe nicht darstellen können, warum es ihm nach Beendigung seiner Haft nicht zuzumuten sei, sich eine Wohnung zu suchen. Sowohl der Container als auch die darin befindlichen Gegenstände stellten nach den Ausführungen des Antragstellers einen erheblichen Wert dar. Z.B. der Verkauf des Containers und die kostengünstigere Einlagerung der übrigen Gegenstände kämen vor diesem Hintergrund als Selbsthilfemöglichkeit in Betracht.
16Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt (Beschluss vom 12.05.2020). Der Antragsteller habe weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund ausreichend glaubhaft machen können. Die beanspruchten Kosten seien bereits nicht angemessen, weil unklar sei, ob der Antragsteller zeitnah aus der Haft entlassen werde. Selbst wenn dies der Fall wäre, schiede ein Anspruch aber aus, weil der Container nicht zu Wohnzwecke zugelassen und daher als Wohnmöglichkeit nicht erhaltenswert sei; ein rechtswidriger Zustand könne nicht über staatlichen Leistungsbezug finanziert werden. Zudem drohe dem Antragsteller keine Obdachlosigkeit. Er selbst sei derzeit ohne konkreten Entlassungstermin in der JVA C untergebracht. Sein Container stehe nach wie vor auf seinem bisherigen Stellplatz; eine Kündigung oder auch nur Mahnungen seitens des Vermieters seien nicht bekannt. Über die geltend gemachten Umzugskosten könne erst entschieden werde, wenn ein Umzug bevorstehe. Vorliegend habe der Antragsteller aber noch gar keine Wohnung in Aussicht, in die er umziehen könnte. Die Übernahme der Kosten für den Kauf eines Grundstücks sei ausgeschlossen; der Sozialleistungsbezug könne niemals die Anschaffung eines Grundstücks im Sinne einer Vermögensmehrung zum Inhalt haben.
17Der Antragsteller hat gegen den Beschluss des SG am 20.05.2020 Beschwerde eingelegt.
18Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren. Eine Zulassung des Containers zu Wohnzwecken dürfte "mit entsprechendem Aufwand" sowohl am aktuellen, "jedenfalls" aber am zukünftigen Standort möglich sein. Eine Reduzierung seiner Haftstrafe um bis zu 50 % sei durchaus im Bereich des Möglichen; jedenfalls aber habe er bis zur Rechtskraft des Strafurteils als unschuldig zu gelten. Zudem bestehe neben der Wohnraum- auch die Verpflichtung zur Vermögenssicherung.
19Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
20den Beschluss des SG Düsseldorf vom 12.05.2020 zu ändern und die Antragsgegnerin zu verpflichten,
211. die Nutzungsentschädigung für das aktuelle fremde Grundstück von monatlich 280 Euro seit März 2020,
2. ggf. die Umzugskosten für den Transport des Containers von ca. 2000 Euro sowie
3. die Kosten (Kaufpreis/Anzahlung für Kauf oder lebenslange Rechte) für ein neues eigenes Grundstück in möglichst wirtschaftlicher Lage (bundes-, ggf. EU-weit) von maximal 10.000 Euro
22als Beihilfe, hilfsweise als Darlehen, zu übernehmen.
23Die Antragsgegnerin beantragt,
24die Beschwerde zurückzuweisen.
25Sie verteidigt den angefochtenen Beschluss. Die Sache sei weiterhin nicht eilbedürftig. Dem Antragsteller drohe keine Obdachlosigkeit. Eine Haftentlassung sei nicht absehbar. Auch stehe der Container nach wie vor auf dem Grundstück und eine Kündigung oder auch nur Mahnung des Vermieters sei nicht nachgewiesen. Soweit der Antragsteller einen Umzug anstrebe, bestehe bereits deshalb keine Eilbedürftigkeit, weil überhaupt kein konkretes Grundstück zur Verfügung stehe. Auch sei der Container als Wohnraum nicht erhaltenswert; ein Anspruch auf Erhalt einer rechtswidrigen Wohnmöglichkeit bestehe nicht.
26II.
27Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Zu Recht hat das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
28Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer solchen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO). Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Tatsache reicht noch nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Es genügt jedoch, dass diese Möglichkeit unter mehreren relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung: BSG Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R, und Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B, jeweils juris).
29Die mit einer einstweiligen Anordnung auf die Durchführung einer Maßnahme in der Regel zugleich verbundene Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache erfordert darüber hinaus erhöhte Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes, da der einstweilige Rechtsschutz trotz des berechtigten Interesses des Rechtsuchenden an unaufschiebbaren gerichtlichen Entscheidungen nicht zu einer Vorverlagerung der Entscheidung in das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes führen soll. Erforderlich ist mithin das Vorliegen einer gegenwärtigen und dringenden Notlage, die eine sofortige Entscheidung unumgänglich macht. Eine solche besondere Eilbedürftigkeit, die den Anordnungsgrund kennzeichnet, ist nur zu bejahen, wenn dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Rechte droht, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG Beschluss vom 16.05.1995, 1 BvR 1087/91, juris Rn. 28).
30Vorliegend ist bereits ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
31Insbesondere besteht kein Anspruch auf entsprechende Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten gem. §§ 67 S. 1, 68 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII).
32Danach sind Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, Leistungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu erbringen, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind. Besondere Lebensverhältnisse bestehen nach § 1 Abs. 2 S. 1 der aufgrund § 69 SGB XII erlassenen Verordnung zur Durchführung der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten u.a. bei Entlassung aus einer geschlossenen Einrichtung oder bei vergleichbaren nachteiligen Umständen. Soziale Schwierigkeiten liegen nach § 1 Abs. 3 der Verordnung vor, wenn ein Leben in der Gemeinschaft durch ausgrenzendes Verhalten des Hilfesuchenden oder eines Dritten wesentlich eingeschränkt ist, insbesondere im Zusammenhang u.a. mit Straffälligkeit. Nach allem gehört der drohende Wohnungsverlust nach der Haftentlassung im Grundsatz zu den besonderen Lebensumständen mit sozialen Schwierigkeiten im Gesetzessinne (BSG Urteil vom 12.12.2013, B 8 SO 24/12 R, juris Rn. 17). Zwar besteht vorliegend die von § 67 SGB XII erfasste Bedarfslage - die sozialen Schwierigkeiten bei Haftentlassung - nicht schon im Zeitpunkt der beantragten Leistung, sondern erst zukünftig; vorbeugende Sozialhilfeleistungen zum Erhalt der Wohnung für die Zeit nach der Haftentlassung können aber nach § 15 SGB XII beansprucht werden (BSG a.a.O. Rn. 18). Erforderlich ist hierzu eine Prognose im Hinblick auf die bei Haftentlassung zu erwartende Situation. Dabei ist eine Abgrenzung der Fallgruppen voneinander in zeitlicher Hinsicht vorgegeben: Je näher die Haftentlassung bevorsteht, desto konkreter kann sich die Notwendigkeit von Geldleistungen anstelle sonstiger Hilfen ergeben. Umgekehrt kann eine ausreichend sichere Prognose dann nicht erstellt werden, wenn die Umstände nach Haftentlastung schon wegen der noch bevorstehenden Haftdauer noch nicht eingeschätzt werden können. (BSG a.a.O. Rn. 19; zum Ganzen auch LSG NRW Beschluss vom 14.01.2015, L 20 SO 503/14 B ER, juris Rn. 24 ff.; Wehrhahn in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, § 67 Rn. 24).
33Eine solche Prognose ist vorliegend nicht zu Gunsten des Antragstellers möglich, weil nicht absehbar ist, wann der Antragsteller voraussichtlich aus der Haft entlassen wird. Das AG C hat den Antragsteller zwischenzeitlich zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Diese Verurteilung ist zwar noch nicht rechtskräftig, ob die Strafe im Berufungsverfahren aber tatsächlich reduziert wird, ist nicht absehbar. Ebenso wenig ist absehbar, ob dem Antragsteller die von ihm als möglich behaupteten Vollzugslockerungen ggf. tatsächlich gewährt werden. Die vom Antragsteller darüber hinaus als möglich behauptete Strafaussetzung zur Bewährung erscheint jedenfalls ausgehend von der amtsgerichtlichen Verurteilung und angesichts der Regelung des § 56 Abs. 1 S. 1 Strafgesetzbuch eher fernliegend zu sein. Zusätzlich erschwert wird die notwendige Prognose durch den Umstand, dass die Nutzung des Containers zu Wohnzwecken jedenfalls an seinem derzeitigen Standort rechtswidrig ist. Dabei kann dahinstehen, inwieweit Leistungen zur Erhaltung des Containers bereits allein aus diesem Grund ausscheiden (zur ordnungswidrigen Nutzung eines Wohnmobils vgl. aber BSG Urteil vom 17.06.2010, B 14 AS 79/09 R, juris Rn. 10). Jedenfalls aber kann nicht ausgeschlossen werden, dass die zuständigen Ordnungsbehörden in der Zwischenzeit Maßnahmen zur Beseitigung des rechtswidrigen Zustands ergreifen.
34Soweit der Antragsteller über die Übernahme der monatlichen Miete von 280 Euro hinaus die Übernahme auch von Kosten für den Transport des Containers sowie den Erwerb eines anderen Grundstücks begehrt, geht es ohnehin nicht um den Erhalt der derzeitigen Unterkunft.
35Etwas anderes ergibt sich auch nicht, soweit der Antragsteller geltend macht, es bestehe eine Verpflichtung nicht nur zur Sicherung einer Unterkunft, sondern auch zur Sicherung seines Eigentums. Die Übernahme der Kosten für die Einlagerung von Hausrat während einer Inhaftierung mag zwar grundsätzlich ebenfalls als Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten in Betracht kommen (vgl. LSG NRW Urteil vom 12.05.2011, L 9 SO 105/10, juris Rn. 38; Wehrhahn a.a.O. § 68 Rn. 34; s. auch Niedersächsisches OVG Beschluss vom 04.12.2000, 4 M 3681/00, juris Rn. 11, wonach allerdings die Hilfe zum Lebensunterhalt einschlägig sei). Insoweit gelten aber dieselben Anspruchsvoraussetzungen wie für die Sicherung der Unterkunft als solcher, d.h. auch insoweit ist eine Prognose anzustellen. Diese Prognose ist aus den oben ausgeführten Gründen in Bezug auf die Einlagerung des Eigentums des Antragstellers aber auch hier nicht möglich. Denn wie der Antragsteller selbst anführt, hängt die Angemessenheit etwaiger Einlagerungskosten nicht zuletzt davon ab, inwieweit ein Verbleib des Containers samt Hausrat an seinem derzeitigen Standort möglich und ggf. kostengünstiger ist, als die Unterbringung in einem Lagerhaus. Beide Prognoseentscheidungen sind insoweit miteinander verknüpft.
36Ein Anspruch auf Übernahme von Mietschulden aus § 36 Abs. 1 SGB XII (ggf. i.V.m. § 42a Abs. 1 SGB XII) scheidet schon deshalb aus, weil es sich bei den vom Antragsteller geltend gemachten Kosten nicht um Schulden i.S.d. Vorschrift handelt.
37Dies gilt zunächst mit Blick auf die Miete von monatlich 280 Euro. Die Abgrenzung von Schulden zu laufenden Leistungen nach § 35 SGB XII ist danach vorzunehmen, ob es sich um einen tatsächlich eingetretenen, im Zeitpunkt der Kenntnis des Trägers der Sozialhilfe (vgl. § 18 Abs. 1 SGB XII) von der Notwendigkeit der weitergehenden Sicherung der Unterkunft in der Vergangenheit liegenden und bisher noch nicht vom Sozialhilfeträger gedeckten Bedarf handelt (BSG Urteil vom 12.12.2013, B 8 SO 24/12 R, juris Rn. 21; zum Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende vgl. auch BSG Urteil vom 12.12.2019, B 14 AS 26/18 R, juris Rn. 19 m.w.N.). Nach dieser Abgrenzung handelt es sich bei den vom Antragsteller geltend gemachten Kosten - wenn überhaupt - um laufende Bedarfe für Unterkunft und Heizung (dazu sogleich). Nach seinem eigenen Vorbringen ist der Antragsteller nämlich erst seit März 2020 gegenüber seinem Vermieter zahlungsfällig geblieben. Ausweislich der Verwaltungsvorgänge hat er aber - noch vor seinem ausdrücklich auf die Übernahme der Wohnungskosten wegen seiner Inhaftierung gestellten Antrag - bereits am 24.01.2010 bei der Antragsgegnerin vorgesprochen und Sozialhilfe beantragt. Die Mietzahlungen ab März 2020 sind mithin von diesem Antrag bzw. der hierdurch vermittelten Kenntnis (§ 18 Abs. 1 SGB XII) erfasst.
38Soweit die vom Antragsteller geltend gemachten Kosten den Transport des Containers zu einem möglichen neuen Stellplatz sowie den Erwerb eines solchen betreffen, bietet § 36 Abs. 1 SGB XII ebenfalls keine Rechtsgrundlage. Insoweit schuldet der Antragsteller niemandem etwas, weil er noch keinerlei entsprechende Verbindlichkeiten eingegangen ist.
39Ebenso scheidet ein Anspruch auf Übernahme der geltend gemachten Kosten nach § 35 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 5 SGB XII (ggf. i.V.m. § 42a Abs. 1 SGB XII) aus.
40Dies gilt zunächst für die monatlichen Zahlungen von 280 Euro. Die Übernahme von laufenden Bedarfen für Unterkunft und Heizung kommt nach § 35 Abs. 1 S. 1 SGB XII nur für eine Wohnung in Betracht, die den aktuell bestehenden Unterkunftsbedarf deckt (BSG Urteil vom 12.12.2013, B 8 SO 24/12 R, juris Rn. 20; dazu auch Löcken in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, § 36 Rn. 28). Vorliegend ist der Antragsteller noch auf unbestimmte Zeit inhaftiert und nutzt seinen Container daher aktuell nicht als Unterkunft. Dass die Wohnnutzung des Containers nach Einschätzung der Bauaufsicht der Antragsgegnerin obendrein illegal wäre, mag in diesem Zusammenhang letztlich dahinstehen. Soweit der Antragsteller die Übernahme von Kosten für den künftigen Erwerb eines eigenen Grundstücks beansprucht, scheitert ein Anspruch überdies daran, dass die Leistungen der Sozialhilfe jedenfalls grundsätzlich nicht der Vermögensbildung dienen (Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Auflage 2018, § 35 Rn. 47; zur Grundsicherung für Arbeitsuchende vgl. BSG Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 49/14 R, juris Rn. 19 m.w.N.). Zudem ist auch hier zu berücksichtigen, dass ein bestimmtes Grundstück noch gar nicht im Raum steht und damit auch noch gar kein entsprechender Bedarf anfällt.
41Die geltend gemachten Kosten für einen Transport des Containers können auch nicht nach § 35 Abs. 2 S. 5 Hs. 1 SGB XII als Umzugskosten übernommen werden. Denn derartige Kosten fallen derzeit tatsächlich gar nicht an, weil schon gar kein Grundstück konkret im Raum steht, zu dem der Antragsteller "umziehen" könnte. Aus demselben Grund scheidet auch ein Anspruch auf bloße Zustimmung zum Umzug aus. Ein Anspruch auf eine Zustimmung nach § 35 Abs. 2 S. 6 SGB XII besteht erst dann, wenn der Gegenstand der Zustimmung und der zugrunde liegende Sachverhalt bereits im Zeitpunkt der behördlichen Erklärung hinreichend konkretisiert sind (BSG Urteil vom 17.12.2014, B 8 SO 15/13 R, juris Rn. 10, 12); für einen Anspruch auf Übernahme der Kosten selbst kann nichts anderes gelten.
42Aus den vorstehend ausgeführten Gründen bedarf es zumindest für die Zwecke des Eilverfahrens keiner weiteren Abklärung, ob es sich bei Leistungen, wie sie vorliegend im Streit stehen, um solche i.S.d. § 98 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 SGB XII handelt (so wohl BSG Urteil vom 12.12.2013, B 8 SO 24/12 R, juris Rn. 14; a.A. etwa Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: Aug. 2019, § 98 Rn. 46) und eine örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin damit überhaupt infrage kommt. Zugleich erübrigt sich die Frage, ob der Antragsteller vor seiner Inhaftierung seinen gewöhnlichen Aufenthalt tatsächlich im Gebiet der Antragsgegnerin hatte. Ebenso können Beiladungen unterbleiben (dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 16).
43Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.
44Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 8.960,26 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Juni 2018 zu zahlen.
Die Kosten des Verfahren – einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen – tragen der Beklagte und die Beigeladene je zu 1/2.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten Schadensersatz wegen der Einleitung von Beton in die Schmutzwasserkanalisation.
2
Die Klägerin betreibt auf ihrem Gemeindegebiet u. a. die zentrale öffentliche Schmutzwasserbeseitigung. Entsprechend beschloss sie die Satzung über die Abwasserbeseitigung der Stadt N (Abwassersatzung) vom xxx, nachfolgend xxx genannt.
3
Der Beklagte ist seit Januar 2013 Eigentümer des Grundstücks xxx in A-Stadt (xxx). Der Schmutzwasserkanal und die Grundstücksanschlüsse in der Straße xxx sind im Jahr 1965 hergestellt worden. Auf dem Grundstück des Beklagten befand sich ein unbewohntes Altgebäude, welches über eine Grundstücksentwässerungsanlage über den Grundstücksanschlusskanal an den Schmutzwasserkanal angeschlossen war und Anfang September 2013 bis auf die Grundmauern niederbrannte.
4
Im Februar 2014 beantragte der Kläger die Baugenehmigung für den Neubau eines Wohnhauses mit Garage. In der Baubeschreibung zu den Angaben des Vorhabens heißt es im Hinblick auf die Entsorgung der häuslichen Abwässer: „wird an die vorh. Entsorgung angeschlossen“. Dem Bauantrag beigefügt war ein Antrag auf Anschluss an die öffentliche (Schmutz-)Kanalisation. Der eingereichte Entwässerungsplan enthält den Grünstempel geprüft, „Gültig nur für die Grundstücksentwässerung“, des Fachdienstes Gebäudewirtschaft, Tiefbau und Grünflächen vom 20. Februar 2014 (Beiakte B). Die Baugenehmigung wurde am 6. Juni 2014 erteilt.
5
Gemäß Anzeige des Baubeginns der baulichen Anlage des Beklagten vom 5. März 2015 sollte mit der Bauausführung am 9. März 2015 begonnen werden. Als Bauleiter war die Beigeladene benannt. Baubeginn der Grundstücksentwässerungsanlage war gemäß Bescheinigung vom 20. Februar 2014 September 2015.
6
Am 20. September 2015 meldeten sich die Bewohner des Grundstückes xxx bei der Klägerin und gaben an, dass ihr Abwasser nicht mehr ablaufe. Eine kurzfristig durchgeführte Spülung ergab, dass der Hauptkanal nicht frei war. Daraufhin führte die Klägerin am 21. September 2015 eine Kanaluntersuchung des Schmutzwasserhauptkanals in der Straße durch und stellte fest, dass an der Haltung xxx (Gesamtlänge 32,88 m) ab 2,3 m in Fließrichtung auf einer Länge von 5,20 m der Kanal mit ausgehärtetem Beton gefüllt und der Querschnitt um 90 % reduziert war (vgl. Haltungsbericht, Beiakte C, Bl. 6f.). Nach dem Lageplan befindet sich dieser Bereich vor dem Grundstücksanschluss des Beklagten und hinter dem (gegenüberliegenden) Grundstücksanschluss der Hausnr. x und vor dem Grundstücksanschluss der Hausnr. x.
7
Die Klägerin ließ den Betonschaden durch die Jahresvertragsfirma für Kanalunterhaltung xxx, xxx, beheben. Konkret betraf dies die Haltung in einer Länge von 5,20 m sowie den gesamten Grundstücksanschlusskanal und den Übergabeschacht, da diese zu 100 % mit Beton gefüllt waren. Lichtbilder wurden gefertigt (Beiakte C, Bl. 48 ff.). Hierfür wurde der Klägerin eine Rechnung in Höhe von 8.960,26 € gestellt.
8
Diese gab die Klägerin an den Beklagten am 26. Januar 2016 weiter (zzgl. 20,00 € Verwaltungskosten pauschal) und bat um Begleichung. Dort bezog sie sich auf Bautätigkeiten auf dem Grundstück xxx, bei denen Beton in die öffentliche Kanalisation eingeleitet worden sei. Der Beklagte zahlte nicht, so dass in der Nachfolge eine Mahnung folgte.
9
Vielmehr begründete der Beklagte schriftlich am 27. Juni 2016 einen „Widerspruch“ gegen „Ihren Bescheid sowie die Aufforderung zur Zahlung incl. Säumniszuschlägen und Mahngebühren“. Dem Bescheid über die Zahlung von 8.980,26 € sei keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt gewesen, weshalb die Widerspruchsfrist ein Jahr betrage. Es sei keine Rechtsgrundlage für seine Haftung erkennbar. Es lägen keine Beweise für sein Verschulden vor. Er habe keinen Beton eingeleitet, weshalb er nicht nachvollziehen könne, weshalb er für den Schaden aufkommen solle. Die Betonarbeiten habe die Beigeladene ausgeführt. Kontakt zu dieser sei aufgenommen worden. Ferner habe er bei Grabungsarbeiten festgestellt, dass der Beton beim Gießen des Streifenfundamentes in ein altes Abwasserrohr gelaufen sei und von dort demzufolge den Weg in die Kanalisation gefunden habe. Anstelle des Halters sei dem Verursacher des Schadens die Forderung zuzustellen.
10
Weitere Korrespondenz fand zwischen den Beteiligten statt, auch unter Einbeziehung der Haftpflichtversicherung der Beigeladenen. Letztere verweigerte die Schadensregulierung, da die Möglichkeit bestanden habe, dass durch eine unverschlossene Abwasserleitung nach dem vorherigen Gebäudeabriss durch einen anderen Unternehmer der Beton eingedrungen und damit der andere Unternehmer für den Schaden verantwortlich sei.
11
Die Klägerin hat am 1. Juni 2018 Klage erhoben.
12
Sie habe einen Schadensersatzanspruch gegenüber dem Beklagten aus einem öffentlich-rechtlichen Kanalbenutzungsverhältnis, welcher mittels Leistungsklage durchzusetzen sei. Der Anspruch folge aus § 280 Abs. 1 i. V. m. § 278 Satz 1 BGB analog. Die Abwassersatzung der Klägerin enthalte keine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches durch Verwaltungsakt.
13
Aus dem öffentlich-rechtlichen Kanalbenutzungsverhältnis, auf welches die bürgerlich-rechtlichen Haftungsnormen anwendbar seien, folge die Pflicht, Störungen der Funktionsfähigkeit des Grundstücksanschlusses und der Kanalleitung zu vermeiden. Es bestünden Bedenken, ob das ursprüngliche Benutzungsverhältnis, welches unstreitig bis zum Brand des Gebäudes Anfang September 2013 bestanden habe, beendet worden sei. Gemäß der Abwassersatzung würden Grundstücke an den Abwasserkanal angeschlossen, nicht Gebäude. Entsprechend betreffe auch das Benutzungsverhältnis die Nutzung des Abwasseranschlusses durch das Grundstück, nicht die Nutzung durch die auf dem Grundstück stehenden Gebäude. Mit der Herstellung des öffentlichen Abwasserkanals inklusive des Grundstücksanschlusskanals bestehe das Benutzungsrecht nach § 7 Abs. 2 der Abwassersatzung, was gleichzeitig das Kanalbenutzungsverhältnis begründe. Der Anschluss- und Benutzungszwang nach § 10 der Abwassersatzung sei keine Voraussetzung für das Entstehen oder Bestehen des Kanalbenutzungsverhältnisses. Dieses führe lediglich dazu, dass beim Anfall von Abwasser auf dem Grundstück die Pflicht bestehe, ein Kanalbenutzungsverhältnis zu begründen. Sofern man annehmen wolle, dass das öffentlich-rechtliche Kanalbenutzungsverhältnis durch den Brand des ehemals vorhandenen Gebäudes beendet bzw. unterbrochen worden sei, ändere dies an der Haftung des Beklagten nichts. Es fänden nämlich nicht nur die Grundsätze der positiven Forderungsverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) Anwendung, sondern auch diejenigen der culpa in contrahendo (§ 311 Abs. 2 BGB i. V. m. § 249 BGB) aus der tatsächlichen Nutzung der Entwässerungsanlage mit daraus resultierender öffentlich-rechtlicher Sonderverbindung. Auch vor dem tatsächlichen Anschluss treffe den Grundstückseigentümer die Nebenpflicht, die im gemeindlichen Eigentum stehende Entwässerungsanlagen als Teil der öffentlichen Einrichtung nicht zu beschädigen.
14
Es liege eine objektive Pflichtverletzung vor, denn ausweislich § 9 Abs. 3 a) und g) der Abwassersatzung sei die Einleitung von anfallenden Stoffen und explizit von Zement untersagt. Dadurch sei es zu einer Querschnittsreduzierung von 90 % gekommen. Unstreitig stehe fest, dass der Beton von der Anschlussleitung des Beklagten in den Schmutzwasserhauptkanal gelangt sei. Vor dem schädigenden Ereignis sei die Haltung sowie der Grundstücksanschlusskanal in einem einwandfreien Zustand gewesen. Die Baugenehmigung vom 6. Juni 2014 habe die Bedingung enthalten, vor der Aufnahme jeglicher Bauarbeiten die Entwässerungsanlagen hinsichtlich des Straßenanschlusses mit dem Fachdienst abzustimmen. Nach dem eingereichten Lageplan habe das Grundstück über einen vorhandenen (offenen) Grundstücksanschlusskanal verfügt; das Grundstück sei funktionstüchtig an die öffentlich-rechtliche Kanalisation angeschlossen gewesen, auch noch zum Zeitpunkt des Grundstückserwerbs durch den Beklagten. Im Übrigen verweise er auf § 28 der Abwassersatzung.
15
Dass der Beklagte bestreite, selbst den Beton in den Grundstücksanschluss gegossen zu haben, führe zu keiner anderen Bewertung. Er müsse sich die Pflichtverletzung seiner Erfüllungsgehilfen – entweder der Beigeladenen oder der damaligen Abbruchfirma – nach § 278 Satz 1 BGB analog zurechnen lassen. Es obliege dem jeweiligen Grundstückseigentümer sicherzustellen, dass keine Stoffe oder Materialien in die öffentliche Abwasseranlage gelangten, die zu einer Beschädigung führen könnten. Damit hätten die vom Beklagten beauftragten Baufirmen in der Erfüllung der Verpflichtung des Beklagten gehandelt, nicht die im Eigentum der Klägerin stehende Kanalisation zu beschädigen. Im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Kanalbenutzungsverhältnisses seien im Übrigen Erfüllungsgehilfen alle Personen, denen der Schuldner die tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit auf die benutzte Sache eröffne. Der Beklagte habe selbst in einem Telefongespräch am 5. Juli 2016 erklärt, dass beim Ausheben der Baugrube im Mai 2015 ein Tonrohr beschädigt worden sei, durch das der Beton in die Kanalisation habe gelangen können. Es handele sich vorliegend auch nicht um ein außergewöhnliches Schadensereignis.
16
Diese Pflichtverletzung habe der Beklagte auch i. S. v. § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB zu vertreten. Der Beklagte bzw. seine Erfüllungsgehilfen hätten jedenfalls fahrlässig gehandelt, da sie nicht sichergestellt hätten, dass kein Beton in den Grundstücksanschluss und den Schmutzwasserhauptkanal gelangen könne. Dies insbesondere nach dem vorprozessualen Vortrag, dass nicht unbemerkt geblieben sei, dass es zu einer Beschädigung eines Steinzeugrohres und einer Abwasserleitung auf dem Grundstück gekommen sei.
17
Entgegen der Behauptung der Beigeladenen würden Verkehrssicherungspflichten keinen Haftungsausschlussgrund darstellen, sondern vielmehr einen Grund für die Haftung in Unterlassungsfällen. Es handele sich um einen haftungsbegründenden Umstand im Rahmen des Deliktsrechts, auf welches sie sich gerade nicht berufe. Darüber hinaus habe sie keine Gefahrenquelle eröffnet. Die Gefahrenquelle habe sich vielmehr im Verantwortungsbereich des Beklagten befunden. Diesem sei die Verantwortung für die Grundstücksentwässerungsanlage zuzuordnen, ihre lediglich diejenige für die Grundstücksanschlusskanäle. Vorliegend sei die Gefahr jedoch von den unverschlossenen Resten der Grundstücksentwässerungsanlage des abgebrannten Gebäudes ausgegangen.
18
Der festgestellte Schaden sei kausal durch die Zuführung von Beton vom Grundstück des Beklagten verursacht worden. Hieraus sei ihr durch die durchgeführten Instandsetzungsarbeiten an der Kanalleitung ein Schaden in Höhe von 8.960,26 € entstanden.
19
Die Lebenserwartung vergleichbarer Kanäle betrage 80-100 Jahre. Ein Abzug neu für alt sei nicht vorzunehmen. Dieser wäre nur anzunehmen, wenn durch die vorgenommene Sanierungsmaßnahme die Haltung länger genutzt, als sie ohne Schädigung werden könne und damit ein Vermögensvorteil entstünde. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da lediglich ein Abschnitt von 5,20 m der insgesamt 32,88 m langen Haltung ausgetauscht worden sei, mithin nur rund 16 %. Damit ergebe sich kein Vorteil für sie, weil nach Ende der Nutzungszeit die gesamte Haltung je nach ihrem Zustand renoviert (Inliner-Verfahren) oder erneuert (Neubau) werden müsse.
20
Die Klägerin beantragt,
21
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 8.960,26 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
22
Der Beklagte beantragt,
23
die Klage abzuweisen.
24
Der Klägerin stehe kein Anspruch auf Schadensersatz zu, jedenfalls nicht gegenüber dem Beklagten. Eine verschuldensunabhängige Haftungsnorm, die allein an die Eigenschaft als Grundstückseigentümer anknüpfe, gebe es nicht. Ein öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis dürfte zwischen den Beteiligten erst entstanden sein, als der Anschluss hergestellt, d. h. sein Grundstück an die öffentliche Schmutzwasserbeseitigungsanlage angeschlossen und von diesem Grundstück Schmutzwasser zugeführt worden sei. Dies sei im September 2015 noch nicht der Fall gewesen. Zu diesem Zeitpunkt sei gerade einmal der Boden ausgehoben und ein Fundament gesetzt worden; ein Bauwerk sei auf dem Gelände noch nicht fertiggestellt gewesen. Ob das Grundstück und das darauf befindliche Gebäude in früheren Zeiten einmal an die Kanalisation angeschlossen gewesen sei, sei unerheblich. Seinem Bauantrag sei deshalb ein Antrag auf (Wieder-)Anschluss an die öffentliche Kanalisation beigefügt gewesen. Wäre schon ein Anschluss des Grundstücks an die Kanalisation vorhanden gewesen, hätte es eines solchen Antrages nicht bedurft. Der Anschluss an die Kanalisation sei erst im Februar 2016 durch die Firma B verlegt worden. Die Meinung der Klägerin, es würden Grundstücke an den Abwasserkanal angeschlossen, nicht Gebäude, sei zu kurz gedacht. Nach der Abwassersatzung (§ 10) komme es nämlich sehr wohl auf die bauliche Situation an und nicht bereits auf die Existenz eines Grundstücks. Das Verhältnis entstehe erst dann, wenn Abwasser auf dem Grundstück anfalle, das Grundstück also bebaut sei. Erst dann bestünde auch ein Anschluss- und Benutzungszwang. Insofern werde auch auf § 10 Abs. 3 der Abwassersatzung verwiesen. Der Argumentation der Klägerin zur Entstehung des Kanalbenutzungsverhältnisses könne nicht gefolgt werden, da dies zu einer uferlosen Haftung führen würde. Viele andere öffentliche Einrichtungen stünden einem Bürger allein durch ihre Existenz zur Benutzung zur Verfügung (z. B. Straße), ohne dass dadurch sofort ein öffentlich-rechtliches Sonderverhältnis begründet würde.
25
Im Übrigen lägen die Tatbestandsvoraussetzungen des §§ 280 Abs. 1, 278 BGB schon deshalb nicht vor, weil die mit den Betonarbeiten vom ihm beauftragte Beigeladene nicht in Erfüllung einer ihm gegenüber der Klägerin obliegenden Verbindlichkeit gehandelt habe. Erst nach Ausführungen der Arbeiten der Beigeladenen (Ausheben der Fundamente, Herstellen der Streifenfundamente und der Sohle), die keine Verbindlichkeit seinerseits gegenüber der Klägerin darstellten, sei der Anschluss an die Kanalisation von einem anderen Unternehmen vorgenommen worden. Es handele sich vorliegend um ein außergewöhnliches Schadensereignis, welches ihm nicht über § 278 BGB zugerechnet werden könne. Im Übrigen werde bestritten, dass der Beton den Ausgang von seinem Grundstück gefunden habe; er habe auch durch einen Gully dem Hauptkanal zugeführt worden sein können.
26
Die Klägerin verkenne den Unterschied zwischen den Haftungszurechnungsnormen § 278 BGB und § 831 BGB. Einzig käme vorliegend § 831 Abs. 1 BGB als Anspruchsgrundlage in Betracht. Allerdings könne er sich gemäß § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB entlasten. Die erfahrene Bautechnikerin xy habe ihm die Beigeladene empfohlen. Ihn treffe somit kein Auswahlverschulden. Dass Mitarbeiter der Beigeladenen bei Herstellung des Fundaments Beton in ein vermutlich von ihnen selbst beschädigtes Tonrohr einleiten würden, habe er nicht voraussehen und auch nicht verhindern können. Wenn selbst ein Fachunternehmen das offene Rohr nicht erkenne, könne dies erst recht nicht er als Laie. Andere Betonarbeiten als diejenigen der Beigeladenen hätten auf dem Grundstück nicht stattgefunden.
27
Mit Beschluss vom 21. August 2018 hat die Kammer die Firma F. gem. § 65 Abs. 1 VwGO beigeladen.
28
Die Beigeladene beantragt,
29
die Klage abzuweisen.
30
Sie macht sich zunächst die Ausführungen des Beklagten zu eigen. Es sei von Klägerseite nicht nachgewiesen worden, wie der Beton durch ihre Arbeiten in den Schacht/Kanal gelangt sein soll, da keine direkte Verbindung zwischen den von ihr durchgeführten Bauarbeiten auf der Baustelle des Beklagten und der vermeintlichen Vorfallstelle bestehe. Es werde bestritten, dass beim Gießen des Fundaments Beton durch die Grundstücksentwässerungsanlage in den Grundstücksanschluss und den öffentlichen Schmutzwasserhauptkanal in der Straße gelangt sei und das Grundstück des Beklagten Ausgangspunkt der Betonzuführung gewesen sei. Es werde auch bestritten, dass der Beigeladene beim Ausheben die Grundstücksentwässerungsanlage beschädigt und anschließend trotz der Beschädigung das Fundament gegossen haben soll. Beweisbelastet sei die Klägerin. Es bestehe auch die Möglichkeit, dass durch eine unverschlossene Abwasserleitung nach dem vorherigen Gebäudeabriss durch einen anderen Unternehmer der Beton habe eindringen können. Es habe dem Beklagten als Bauherrn nach den maßgeblichen DIN-Vorschriften oblegen, nicht mehr benutzte Entwässerungsanlagen so zu sichern, dass Gefahren oder unzumutbare Belästigungen nicht entstehen könnten. Bei Kenntnis des Bauherrn von der vermeintlichen Beschädigung durch sie, wäre der Beklagte im Rahmen seiner Verkehrssicherungspflicht angehalten gewesen, sich von der ordnungsgemäßen Reparatur der Leitung zu überzeugen.
31
Im Übrigen bestünden bei einem unverschlossenen Abwasserrohr Verkehrssicherungspflichten der Klägerin, die zu einem Haftungsausschluss des Beklagten und ihrerseits führten.
32
Bestritten werde auch, dass der Grundstücksanschlusskanal in einem einwandfreien Zustand gewesen sei, sowie, dass die Lebenserwartung gleicher Kanäle 80-100 Jahre betrage. Die Klägerin müsse sich eine Verbesserung neu für alt anrechnen lassen. Die Klägerin dürfe bei dem Ersatz des Schadens nicht besser dastehen, als sie es ohne täte. Dabei gehe sie mindestens von der Hälfte der Klagesumme aus.
33
Die Kammer hat mit Beschluss vom 16. Januar 2019 wegen Unzulässigkeit des Rechtsweges den Rechtsstreit an das Landgericht Kiel verwiesen. Auf die Beschwerde der Klägerin hob das OVG Schleswig-Holstein mit Beschluss vom 25. Februar 2019 den Beschluss der Kammer auf (2 O 1/19). Hierin wurde ausgeführt, dass zwischen der Klägerin und dem Beklagten durch die Abwassersatzung der Klägerin ein öffentlich-rechtliches Kanalbenutzungsverhältnis in Betracht komme, auf welches die bürgerlichen Vorschriften und Grund-sätze über Schadensersatzansprüche bei schuldrechtlichen Pflichtverletzungen entsprechend Anwendung fänden und Streitigkeiten hierüber öffentlich-rechtlicher Art seien. Weder das Nichtbestehen eines öffentlich-rechtlichen Verhältnisses zwischen den Beteiligten zur Zeit des schädigenden Ereignisses noch die Unmöglichkeit einer aus diesem öffentlich-rechtlichen Verhältnis resultierende Pflichtverletzung durch das Einleiten von Beton in die Kanalisation sei so offensichtlich, dass kein Bedürfnis dafür bestehe, die Klage insoweit mit Rechtskraftwirkung abzuweisen.
34
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Klägerin, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
35
I. Die Klage ist zulässig.
36
1. Der Verwaltungsrechtsweg ist gem. § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet. Das OVG Schleswig-Holstein hat mit unanfechtbarem Beschluss vom 25. Februar 2019 den Verweisungsbeschluss der Kammer an das Landgericht Kiel vom 16. Januar 2019 aufgehoben und den Verwaltungsrechtsweg für zulässig erklärt. Dieser Beschluss ist für das Gericht bindend (vgl. § 173 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 1 GVG analog).
37
2. Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin für die statthafte allgemeine Leistungsklage ist gegeben. Insbesondere fehlt der Klägerin nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil als einfacherer Weg für die Geltendmachung und Durchsetzung ihres Anspruches der Erlass eines Leistungsbescheides gegenüber dem Beklagten in Betracht gekommen wäre (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, Vorb. § 40 Rn. 48, 50, m. w. N.). Dafür wäre gemäß Art. 20 Abs. 3 GG eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung oder eine Über-/Unterordnung des Verwaltungsträgers über den Regelungsadressaten gerade auch in Bezug auf den Anspruch notwendig, der durch Verwaltungsakt geregelt werden soll (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Dezember 1989 – 10 S 2252/89 –, juris, m. w. N.). Eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruches durch Verwaltungsakt ist vorliegend allerdings nicht gegeben. Insbesondere enthält die Abwassersatzung keine entsprechende Norm. Eine solche ergibt sich nicht aus § 29 Abs. 2 AAS, wonach u. a. der Grundstückseigentümer für alle Schäden und Nachteile, die der Stadt x durch den mangelhaften Zustand der Grundstücksentwässerungsanlage, ihr vorschriftswidriges Benutzen und ihr nicht sachgemäßes Bedienen entstehen, haftet. Unabhängig von der Reichweite dieser Regelung (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, a. a. O., Rn. 11) fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass mit einer solchen Bestimmung eine Ermächtigung eingeräumt werden sollte, die Haftung mittels Verwaltungsakt durchzusetzen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. März 2014 – 13 ME 21/14 – juris, Rn. 19).
38
Die Klägerin hat darüber hinaus ihren Anspruch vor der gerichtlichen Geltendmachung gegenüber dem Beklagten erfolglos geltend gemacht.
39
Im Übrigen kann ein Schadensersatzanspruch aus einem öffentlich-rechtlichen Benutzungsverhältnis – dazu sogleich unter II. 2. – nach allgemeiner Meinung nicht mit Leistungsbescheid durchgesetzt werden, sondern nur durch eine Leistungsklage (BVerwG, Urteil vom 1. März 1995 – 8 C 36/92 –, juris; VGH Baden-Württemberg, a. a. O.; BayVGH, Urteil vom 4. August 2005 – 4 B 01.622 –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Januar 2003 – 15 A 4115/01 –, juris; VG Schleswig, Urteil vom 29. März 2012 – 4 A 1326/09 –; VG Würzburg, Urteil vom 6. Dezember 2017 – W 2 K 17.1191 –, juris).
40
II. Die Klage ist zudem begründet.
41
Die Klägerin hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung des geltend gemachten Betrages aus §§ 280 Abs. 1, 278 BGB analog auf der Grundlage des öffentlich-rechtlichen Kanalbenutzungsverhältnisses.
42
1. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei einer Verletzung von Pflichten aus dem öffentlich-rechtlichen Kanalbenutzungsverhältnis ein Schadensersatzanspruch in entsprechender Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Grundsätze über die positive Vertrags-/Forderungsverletzung aus § 280 Abs. 1 BGB in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 1995 – 8 C 36/92 –, NJW 1995, 2303; OVG NW, Urteil vom 14. Januar 2003 – 15 A 4115/01 –, DÖV 2003 914 (Leitsatz), juris; BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 – III ZR 303/05 –, NJW 2007, 1061; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10. Dezember 2008 – 2 LB 8/08 –).
43
Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu ausgeführt (Urteil vom 01. März 1995 – 8 C 36/92 –, juris, Rn. 10):
44
„Als fehlerfrei erweist sich der Ausgangspunkt des Berufungsurteils, zwischen den Beteiligten bestehe ein vertragsähnliches öffentlich- rechtliches Kanalbenutzungsverhältnis, das Grundlage eines Schadensersatzanspruchs sein kann. Denn die Voraussetzungen eines Anspruchs aus analoger Anwendung der Grundsätze der positiven Forderungsverletzung (§§ 276, 278, 280, 286 BGB) liegen insoweit vor. Zwischen den Beteiligten besteht ein Kanalbenutzungsverhältnis mit "vertragsähnlich" ausgestalteten Rechten und Pflichten. Das Verwaltungsgericht, auf dessen Ausführungen sich das Berufungsgericht insoweit bezieht, hat diese Sonderverbindung zutreffend als vertragsähnliches verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis bezeichnet, das wegen der besonders engen Beziehung zwischen den Beteiligten ein Bedürfnis nach einer dem Vertragsrecht entsprechenden Regelung der Verantwortung und Haftung hervorruft (vgl. BGH, Urteil vom 30. September 1970 – III ZR 87/69 – NJW 1970, 2208 <2209>). Nicht zu beanstanden ist die daraus gezogene Folgerung des Berufungsgerichts, für die Regelung von Leistungsstörungen komme eine analoge Heranziehung der zum Zivilrecht entwickelten Grundsätze der positiven Vertragsverletzung in Betracht. Die Voraussetzung jeder Analogie, nämlich die Existenz einer ausfüllungsfähigen und -bedürftigen Regelungslücke, hat das Verwaltungsgericht – auf das sich das Berufungsgericht insoweit ersichtlich bezieht – unter Hinweis auf irrevisibles Landesrecht bejaht (VG-Urteil S. 6); die revisionsgerichtliche Prüfung hat deshalb davon auszugehen, daß die verschuldensunabhängige Haftungsregelung des § 32 Abs. 2 der Entwässerungssatzung der Klägerin mangels gesetzlicher Ermächtigung "als eigenständige Grundlage für einen Schadensersatzanspruch" ausscheidet und deshalb der Rückgriff auf die Regeln des allgemeinen Schuldrechts zulässig und sachgerecht ist.“
45
Auch vorliegend beinhaltet die Abwassersatzung der Klägerin keine auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruhenden Haftungsregelung darüber, wer bei Eintritt einer Leistungsstörung für die dadurch ausgelösten Folgekosten einzustehen hat. § 29 AAS kann dies nicht entnommen werden.
46
2. Nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB kann ein Gläubiger Ersatz desjenigen Schadens verlangen, der auf der Verletzung einer Pflicht des Schuldners aus dem Schuldverhältnis beruht. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat (Satz 2). Gem. § 276 Abs. 1 BGB hat der Schuldner dabei in der Regel Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Grundsätzlich trägt der Gläubiger die Beweislast in Bezug auf das Vorliegen der Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch nach § 280 BGB (vgl. Grüneberg in: Palandt, BGB, 78. Aufl., § 280, Rn. 35, 38). Der Schuldner muss dartun, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat (vgl. Grüneberg in: Palandt, a. a. O., § 280, Rn. 40).
47
a) Zur Zeit des schädigenden Ereignisses um den/am 20. September 2015 als maßgeblichem Zeitpunkt bestand zwischen der Klägerin und dem Beklagten ein öffentlich-rechtliches Kanalbenutzungsverhältnis.
48
Die Ausgestaltung des Benutzungsverhältnisses an einer gemeindlichen öffentlichen Einrichtung obliegt der Gemeinde. Sie bestimmt, wer Benutzer sein darf und wie das Benutzungsverhältnis begründet wird (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 10. Dezember 2008 – 2 LB 8/08; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Januar 2003 – 15 A 4115/01 –, juris, Rn. 8). Hier richtet sich das Benutzungsverhältnis nach der im Zeitpunkt der Schadensentstehung gültigen Abwassersatzung der Klägerin (Satzung über die Abwasserbeseitigung der Stadt x vom 14. Dezember 2010 – AAS).
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Die Klägerin betreibt und unterhält als nach § 30 Abs. 1 LWG a. F. (seit dem 1. Januar 2020 § 44 Abs. 1 LWG) abwasserbeseitigungspflichtige Körperschaft in ihrem Gebiet die öffentliche Abwasserbeseitigung durch jeweils selbständige öffentliche Einrichtungen, u. a. zur zentralen Schmutzwasserbeseitigung (§ 4 Abs. 1, 2 Nr. 1 AAS). Bestandteile der zentralen Abwassereinrichtungen sind insbesondere der Schmutzwasserkanal (§ 5 Abs. 1 S. 1 AAS) und zudem der Grundstücksanschlusskanal (§ 5 Abs. 4 AAS), bei dem es sich um den Kanal handelt, der vom öffentlichen Abwasserkanal (Hauptkanal) in der Straße bis zur Grundstücksgrenze des zu entwässernden Grundstücks verläuft (§ 6 Nr. 3 AAS). Aus § 7 Abs. 1 Satz 1, 2 AAS resultiert das Anschlussrecht der Grundstückseigentümer, die berechtigt sind – vorbehaltlich der Einschränkungen in der Satzung (§ 8) –, von der Klägerin zu verlangen, dass ihre Grundstücke im Gemeindegebiet an die bestehende öffentliche Abwassereinrichtung angeschlossen werden, wenn diese im Einzugsbereich eines betriebsfertigen Schmutzwasserkanals liegen. Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 AAS hat der Grundstückseigentümer nach der betriebsfertigen Herstellung des öffentlichen Abwasserkanals (einschließlich Grundstücksanschlusskanal) für das Grundstück vorbehaltlich der Einschränkungen in dieser Satzung (§ 9) das Recht, dass auf seinem Grundstück anfallende Abwasser in die öffentliche Abwasseranlage einzuleiten bzw. dieser zuzuführen, wenn und soweit nicht andere Rechtsvorschriften die Einleitung oder Zuführung einschränken oder verbieten (Benutzungsrecht). Ist der Grundstückseigentümer nicht zum Anschluss seines Grundstücks berechtigt, kann die Stadt X durch Vereinbarung den Anschluss zulassen und ein Benutzungsverhältnis begründen (§ 7 Abs. 4 AAS). Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 AAS darf die zur zentralen oder dezentralen öffentlichen Abwasserbeseitigung bestimmte Abwasseranlage nur entsprechend ihrer Zweckbestimmung und nach den Vorschriften dieser Satzung benutzt werden. § 9 Abs. 2 AAS enthält insbesondere Vorgaben dazu, welche Abwässer eingeleitet werden dürfen, nämlich in ihrer Beschaffenheit nur solche, dass dadurch u. a. nicht die Anlage oder die angeschlossenen Grundstücke gefährdet oder beschädigt werden können (Buchst. a)). Nach Abs. 3 der Vorschrift ist ausgeschlossen insbesondere die Einleitung von Stoffen, die Leitungen verstopfen können (Buchst. a)), namentlich Zement (Buchst. g)). Der Anschluss- und Benutzungszwang ist in § 10 AAS geregelt, wonach jeder Eigentümer eines Grundstücks vorbehaltlich der Einschränkungen in dieser Satzung verpflichtet ist, sein Grundstück an die öffentliche Abwasseranlage anzuschließen, sobald Abwasser auf dem Grundstück anfällt und das Grundstück durch eine Straße erschlossen ist, in der ein betriebsfertige Abwasserkanal vorhanden ist. Der Grundstückseigentümer hat für den Anschluss einen Antrag nach § 12 zu stellen. Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1, 3, 4 AAS muss der Anschluss bei Neu- und Umbauten vor der Benutzung der baulichen Anlage hergestellt sein. Den Abbruch mit eines mit einem Anschluss versehenen Gebäudes hat der Grundstückseigentümer spätestens eine Woche vor der Außerbetriebnahme des Anschlusses der Stadt X mitzuteilen. Diese verschließt den Grundstücksanschluss auf Kosten des Grundstückseigentümers, wenn dies erforderlich ist. Nach § 28 Abs. 1 AAS hat der Grundstückseigentümer Altanlagen, die nicht Bestandteil einer angezeigten, angeschlossenen Grundstücksentwässerungsanlage sind, binnen 3 Monaten unnutzbar zu machen oder zu beseitigen.
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Aus der Gesamtschau der vorstehenden Vorschriften – mit Ausnahme der letztgenannten § 10 Abs. 3 und § 28 Abs. 1 AAS, die für die Frage des Benutzungsverhältnisses entgegen der Annahme der Beteiligten ohne Relevanz ist, da es sich insoweit um Vorschriften handelt, die ggf. ein (Mit-)Verschulden begründen können – ergibt sich nach Auffassung der Kammer, dass bereits aus dem Anschluss- und Benutzungsrecht ein Anschlussverhältnis und damit das öffentlich-rechtliche Schuldverhältnis entsteht (vgl. in vergleichbarer Satzungskonstellation: OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10. Dezember 2008 – 2 LB 8/08 –; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14. Januar 2010 – 7 A 10941/09 –, juris, Rn. 29f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Januar 2003 – 15 A 4115/01 –). Einen solchen benutzungsberechtigten Teilnehmer (= Grundstückseigentümer) treffen entsprechend die Pflichten aus § 9 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2, Abs. 3 Buchst. a) und g) AAS (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10. Dezember 2008 – 2 LB 8/08 –).
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Diese Ansicht wird insbesondere durch die Systematik der Satzung bestätigt, indem zunächst das Anschluss- und Benutzungsrecht ausgestaltet wird (§ 7 AAS), mit sich bereits daran anknüpfenden Pflichten (§ 9 AAS), und erst im Anschluss der Anschluss- und Benutzungszwang (§ 10 AAS). Letzterer korrespondiert zwar mit dem Anschluss- und Benutzungsrecht. Ein (Anschluss-/Benutzungs-)Recht entsteht aber bereits vor dem den Gemeinden aus „dringendem öffentlichen Bedürfnis“ (vgl. § 17 Abs. 2 Satz 1 GO) zustehenden Anschluss- und Benutzungszwangs im Falle des Anfalls von Abwasser auf dem Grundstück (vgl. § 10 Abs. 2 Satz 1 AAS), und zwar bereits dann, wenn ein betriebsfertiger öffentlicher Abwasserkanal einschließlich Grundstücksanschlusskanal vor dem Grundstück existiert (§ 7 Abs. 1, 2 AAS).
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Deutlich wird die Entstehung eines Benutzungsverhältnisses bereits mit dem Anschluss- und Benutzungsrecht auch aus dem Wortlaut der Satzung, namentlich durch § 7 Abs. 4 AAS. Diese Vorschrift spricht die Begründung eines vereinbarten Anschlusses als Benutzungsverhältnis als Alternative für den Fall aus, dass ein Grundstückseigentümer nicht zum Anschluss seines Grundstücks berechtigt ist. In diesem Zusammenhang wird der Begriff Benutzungsverhältnis an das Anschlussrecht geknüpft. Soweit der Beklagte meint, diese Vorschrift würde genau das Gegenteil darlegen, nämlich dass das (Anschluss-)Benutzungsrecht gerade nicht vergleichbar mit dem Benutzungsverhältnis sei, da dieses ja gerade erst vereinbart werden müsse und zur Entstehung gelange, wenn kein Anschluss-/Benutzungsrecht bestehe, folgt die Kammer dem nicht. Denn die Vorschrift stellt das vereinbarte Benutzungsverhältnis an die Stelle des Anschluss-(und Benutzungs-)rechts und stellt damit ein Surrogat und kein aliud dar.
53
Bei dem Beklagten bestand auch tatsächlich dieses Anschluss- und Benutzungsrecht. Denn sein Grundstück verfügte über einen Grundstücksanschlusskanal mit Anschluss an den Hauptkanal in der Straße x. Dies ergibt sich für die Kammer aus den von der Klägerin eingereichten Unterlagen. Hierbei handelt es sich um Lagepläne der Kanalisation (Anlagen K 2 und K 19) und der bei Schadensbehebung gefertigten Lichtbilder (Fotodokumentation, insb. Bl. 9). Der Beklagte hat dies nicht substantiiert bestritten. Er gab lediglich an, dass das Altgebäude abgebrannt sei; zu den entsprechenden Auswirkungen auf den Grundstücksanschlusskanal verhält er sich in diesem Zusammenhang nicht; er hat insbesondere nichts dazu vorgetragen, dass diese aus dem Erdreich beseitigt worden ist. Aus der vorgerichtlichen Korrespondenz („Widerspruchsschreiben“ vom 27. Juni 2016) ergibt sich vielmehr seine Angabe, bei Grabungsarbeiten festgestellt zu haben, dass Beton beim Gießen des Streifenfundaments in ein altes Abwasserrohr gelaufen sei und von dort den Weg in die Kanalisation gefunden habe. Dies ist denklogisch nur möglich, wenn nicht nur der Grundstücksanschlusskanal sondern zudem noch die alten Hausanschlussleitungen vorhanden waren. Dies deckt sich mit der Stellungnahme der Abteilung Tiefbau und Technisches Betriebszentrum vom 19. Februar 2014/5. Juni 2014 (im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens), in der als „zurzeit vorhanden“ vermerkt waren: „KS-Schmutzwasserkanal“ und „Hausanschluss“. Dies wiederum steht im Einklang mit den Angaben des Beklagten in seinem Baugenehmigungsantrag – Gegenstand der Baugenehmigung vom 6. Juni 2014 –, in dem er in der Baubeschreibung zur Erschließung des Vorhabens „Neubau eines Einfamilienhauses mit Garage“ angab „wird an die vorh. Leitung angeschlossen“. Daraus ergibt sich, dass der Grundstücksanschlusskanal zum Hauptkanal vorhanden war, an die das neue Bauvorhaben angeschlossen werden sollte. Soweit der Beklagte anführt, durch die Begrifflichkeit (Zeitform) „wird“ komme zum Ausdruck, dass ein Anschluss nicht bereits vorhanden sei, sondern noch hergestellt werden müsse, folgt die Kammer dem nicht. Zum einen nicht wegen des eindeutigen Begriffs „vorhanden“ und zum anderen, weil die Verwendung des Futurs in diesem Zusammenhang Sinn ergibt, da das konkrete Bauvorhaben (Neubau) und nicht – mehr – das Grundstück angeschlossen werden sollte, welches ja bereits angeschlossen war. Auch die Anlage A zur Baugenehmigung des Beklagten – Antrag auf Anschluss an die öffentliche Kanalisation des Beklagten vom 3. Februar 2014 – bestätigt dies. Der Genehmigungsgegenstand „Entwässerungsplan“ enthält den Grünstempel des Tiefbauamtes vom 20. Februar 2014, dass die Lage und Höhe des Grundstücksanschlusskanals vor dem Verlegen der Grundleitung zu überprüfen ist. Dies ergibt denklogisch nur Sinn, wenn ein Grundstücksanschlusskanal bereits vorhanden ist, an dem es sich (Lage und Höhe) in Bezug auf den neu zu erstellenden Hausanschluss (= Grundstücksentwässerungsanlage) zu orientieren gilt. Hier stimmen die Angaben des Fachdienstes Tiefbau jeweils überein. Eine Negativaussage dergestalt, dass keine Altanlage mehr vorhanden ist, geht damit nicht einher. Darüber hinaus bestand unstreitig ab Januar 2013 ein von den Stadtwerken Neumünster bestätigtes Anschlussverhältnis mit dem Beklagten.
54
Durch die vorgenannte Baubeschreibung der Grundstücksentwässerungsanlage zum Bauantrag ist der Beklagte zugleich seiner Antragspflicht im Rahmen des Anschluss- und Benutzungszwangs gem. § 10 Abs. 1 Satz 2 i. V. m § 12 AAS nachgekommen. Die Genehmigung ist am 6. Juni 2014 – vor dem schädigenden Ereignis im September 2015 – erteilt worden. Baubeginn der Grundstücksentwässerungsanlage war ebenfalls September 2015. In diesem Zusammenhang ist die spätere Dichtheitsprüfung der Grundstücksentwässerungsanlage am 15. Februar 2016 irrelevant, da diese nichts über einen bereits bestehenden Haus- und Grundstücksanschlusskanal aussagt.
55
Soweit der Beklagte zur Untermauerung seiner Ansicht, dass sich das Benutzungsverhältnis erst mit dem Anschluss- und Benutzungszwang, also dem tatsächlichen Anfall von Abwasser auf dem Grundstück unter Bezugnahme auf § 10 Abs. 3 AAS entstehe, kann dies weder aus rechtlichen noch aus tatsächlichen Gründen durchgreifen. Denn diese Vorschrift stellt – wie bereits angeführt – eine solche dar, die ggf. ein (Mit-)Verschulden begründen könnte und enthält keinerlei Aussagekraft über die Begründung eines Benutzungsverhältnisses. Im Gegenteil: sie beschreibt allenfalls, wann ein Benutzungsverhältnis unterbrochen/beendet sein könnte, nämlich für den Fall, dass ein Grundstücksanschlusskanal verschlossen wird. Dies ist aber vorliegend bei dem Grundstücksanschlusskanal des Beklagten gerade nicht geschehen. Weder konnte er in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichts Auskunft darüber geben, ob eine entsprechende Mitteilung gem. § 10 Abs. 3 Satz 2 AAS von ihm an die Klägerin erfolgt ist noch war der Klägerin eine solche Anzeige bekannt. Beide hatten zudem keine positive Kenntnis über einen tatsächlichen Verschluss. Dieser liegt auch nach den obigen Ausführungen fern. Im Übrigen findet ein Verschluss nur bei einer Erforderlichkeit statt.
56
Ergänzend ist anzumerken – ohne das es darauf ankommt –, dass jedenfalls in Anknüpfung an das Kanalbenutzungsverhältnis die Haftung des Beklagten sich analog nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo richten würde. Dies ist ebenfalls in der Rechtsprechung anerkannt, insbesondere, dass die Nebenpflicht, die im gemeindlichen Eigentum stehende Entwässerungsanlage als Teil der öffentlichen Einrichtung nicht zu beschädigen, bereits im Zusammenhang mit der Anbahnungsphase zum Anschluss einer Hausanlage an den Grundstücksanschluss besteht (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 4. August 2005 – 4 B 01.622 –, juris, Rn. 52; VG Würzburg, Urteil vom 19. Dezember 2000 – W 2 K 98.1026 –, juris). Denn bereits vor der Begründung des Kanalbenutzungsverhältnisses besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten, in dessen Rahmen Sorgfalts- und Aufklärungspflichten verletzt werden können (VG Würzburg, a. a. O., Rn. 57 m. w. N.). Eine Anwendung der Anspruchsgrundlage des § 280 BGB analog ergibt sich daher zumindest aus einer entsprechenden Anwendung des § 311 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB, da vorliegend durch die erteilte Entwässerungsgenehmigung als notwendige Vorbereitungshandlung für das Benutzungsverhältnis der vorquasivertragliche Bereich des Benutzungsverhältnisses berührt und dadurch die Anbahnung des vertragsähnlichen Kanalbenutzungsverhältnisses begründet wird (so auch zum Kanaltiefenschein VG Bremen, Urteil vom 23. November 2017 – 5 K 1673/16 –, juris, Rn. 26).
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b) Es liegt eine objektive Pflichtverletzung des Beklagten aus diesem Schuldverhältnis vor. Denn von seinem Grundstück gelangte nach Überzeugung des Gerichts ein schädlicher Stoff – Beton als Zementgemisch – in die öffentliche Abwasseranlage, der den Grundstücksanschlusskanal sowie den Schmutzwasserkanal im Querschnitt um 90 % verstopfte. Hierbei handelt es sich um eine nach § 9 Abs. 3 Bucht. a), g) AAS ausgeschlossene Einleitung. Dieser Geschehensablauf entspricht seinem eigenen Vortrag: in seinem Widerspruchsbeschreiben vom 27. Juni 2016 hat der Beklagte angegeben, dass er bei Grabungsarbeiten festgestellt habe, dass der Beton beim Gießen des Streifenfundaments in ein altes Abwasserrohr gelaufen sei und von dort den Weg in die Kanalisation gefunden habe. Ein ähnlicher Inhalt ergibt sich auch aus einem Telefonat mit der Klägerin am 5. Juli 2016 gemäß eines im Verwaltungsvorgang befindlichen Vermerks, bezogen auf die Beschädigung eines Tonrohres. Diese Aussage hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht substantiiert widerlegt, weshalb er daran festzuhalten ist.
58
Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1, 2 AAS haftet für Schäden, die durch die satzungswidrige Benutzung oder sonstiges satzungswidriges Handeln entstehen, der Verursacher. Dies gilt insbesondere, wenn entgegen dieser Satzung schädliches Abwasser oder sonstige Stoffe in die öffentliche Abwasseranlage eingeleitet werden. Nach § 29 Abs. 2 AAS haftet außerdem der Grundstückseigentümer für alle Schäden und Nachteile, die der Stadt x durch den mangelhaften Zustand der Grundstücksentwässerungsanlage, ihr vorschriftswidriges Benutzen und ihr nicht sachgemäßes Bedienen entstehen. Unabhängig davon, dass ggf. auch ein Verursacher nach Abs. 1 von der Klägerin hätte in Anspruch genommen werden können, ist der Beklagte vorliegend als Grundstückseigentümer gem. Abs. 2 der Vorschrift der zur Haftung Verpflichtete. Zwar ist der genaue Schadenshergang aufgrund des (allerdings unsubstantiierten) Bestreitens des Beigeladenen unklar. Fest steht für das erkennende Gericht jedoch, dass die Verstopfung der gemeindlichen Schmutzwasserkanalisation in dem Grundstück des Beklagten ihren Ausgang durch Einleiten von Beton gefunden hat. Denn nach den eingereichten Lageberichten und dem Haltungsbericht vom 21. September 2015 einschließlich Lichtbildern befand sich die Verstopfung auf 5,20 m Länge zwischen den Entfernungspunkten 2,30 m und 7,50 m, welche örtlich begrenzt unmittelbar um den Grundstücksanschluss des Beklagten in Fließrichtung liegen und sich erst südlich sowie nördlich daran die Grundstücksanschlüsse der Nachbargrundstücke Nr. x und Nr. x anschließen. In deren Bereichen konnten keine Betoneinträge festgestellt werden.
59
c) Durch diese Pflichtverletzung ist es (im Sinne einer haftungsbegründenden Kausalität) ursächlich zur Verstopfung des öffentlichen Abwasserkanals gekommen.
60
d) Die Pflichtverletzung ist auch schuldhaft erfolgt. Entsprechend den Regelungen des Schadensersatzes wegen Pflichtverletzung in einem Schuldverhältnis haftet der Beklagte als Schuldner nur für eine schuldhafte Pflichtverletzung gemäß § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. März 1995, a. a. O.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. August 2002 – 8 S 455/02 –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12. März 2009, a. a. O.; OVG Schleswig, Urteil vom 10. Dezember 2008, a. a. O.), wobei er grundsätzlich Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten hat (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB). Hier liegt zumindest ein fahrlässiges Verhalten vor, indem nicht sichergestellt worden ist, dass keine Beschädigung des Eigentums der Klägerin erfolgen konnte. Dies insbesondere vor dem Hintergrund der Angaben des Beklagten über eine Beschädigung der Abwasserleitung und eines Tonrohres auf dem Grundstück durch die Beigeladene und dem dadurch erfolgten Eintrag von Beton (vgl. Ausführungen oben). Es wäre für die Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erforderlich gewesen, sich über das Vorhandensein und die Lage vorhandener Altanlagen Kenntnis zu verschaffen und diese an auf dem Grundstück tätige Dritte weiterzuleiten.
61
Vorliegend kann jedoch dahingestellt bleiben, ob dem Beklagten ein eigenes Verschulden zur Last fällt oder vielmehr nach seinem Vortrag der mit Betonarbeiten beauftragten Beigeladenen. Wenig plausibel ist nach Ansicht der Kammer, dass weitere Firmen als Bauunternehmen, z. B. die vom Beklagten mit dem Abriss des Altgebäudes oder die mit dem Hausanschluss beauftragten Firmen ein Verschulden treffen könnte, da allgemeinkundig ist, dass weder bei der einen Arbeit (Abbruch) noch bei einem Kanalanschluss Betonarbeiten anfallen. Dies deckt sich mit den Angaben des Beklagten, dass weitere Firmen mit Betonarbeiten nicht beauftragt waren.
62
Die Beigeladene war Erfüllungsgehilfe des Beklagten hinsichtlich der aus dem Kanalbenutzungsverhältnis entspringenden Pflichten. Für deren Pflichtverletzung haftet der Beklagte entsprechend § 278 BGB; er muss sich deren Verschulden zurechnen lassen (vgl. zur Anwendbarkeit des § 278 BGB im Rahmen von Schadensersatzansprüchen wegen Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten aus einem Kanalbenutzungsverhältnis OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10. Dezember 2008 – 2 LB 8/08 –). Danach hat der Schuldner ein Verschulden eines gesetzlichen Vertreters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient, in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist vorliegend eine solche ihm gegenüber der Klägerin bestehende Verbindlichkeit durch einen vom ihm beauftragten Bauunternehmer – die Beigeladene – verletzt worden. Der Ausdruck Verbindlichkeit erfasst dabei nicht nur Haupt- und Nebenleistungspflichten, sondern die gesamte Verpflichtung des Schuldners; er bezieht sich insbesondere – auch – auf die Verletzung von Verhaltens- und Schutzpflichten (vgl. Grüneberg, in: Palandt, a. a. O., § 278, Rn. 18; § 280, Rn.28; § 242, Rn. 35). Die aus dem Kanalbenutzungsverhältnis abzuleitende Pflicht, Teile der öffentlichen Abwasseranlage als gemeindliches Eigentum (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 1 AAS) nicht zu beschädigen, oblag primär dem Beklagten als Beteiligtem dieser Sonderverbindung. Welche Personen aus dem Geschäftskreis des Schuldners als seine Erfüllungsgehilfen anzusehen sind, richtet sich nach der Art des Schuldverhältnisses. Dabei sind etwa bei einem privatrechtlichen Benutzungsverhältnis, bei dem sich die Vertragsparteien in ähnlicher Weise gegenüberstehen wie die öffentliche Hand und der Bürger bei einem Kanalbenutzungsverhältnis, Erfüllungsgehilfen für die Schutzpflichten des Schuldners sämtliche Personen, denen der Schuldner die tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit auf die benutzte Sache eröffnet (VG Würzburg, Urteil vom 19. Dezember 2000 – W 2 K 98.1026 –, juris, Rn. 73 m. w. N.). Bei den Bauarbeiten auf dem Grundstück (Ausheben der Fundamente, Herstellen der Streifenfundamente und der Sohle) war die Beigeladene unstreitig im Auftrag des Beklagten tätig. Ihr hat der Beklagte die Einwirkungsmöglichkeit auf die (noch vorhandene) Grundstücksentwässerungsanlage auf seinem Grundstück eröffnet. Diese Tätigkeiten standen in einem inneren Zusammenhang mit den genannten Schutzpflichten, insbesondere das Eigentum der Klägerin nicht zu beschädigen. Keineswegs fand diese Schädigung „nur bei Gelegenheit“ als außergewöhnliches Ereignis statt, wie in dem von ihm angeführten Beispiel des Arbeitnehmers, der Straftaten begeht. Indem bei diesen Tätigkeiten nach – den nachvollziehbaren – Angaben des Beklagten der Schaden eingetreten ist, hat die Beigeladene zumindest die erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen. Einem mit Tiefbauarbeiten befassten Bauunternehmen ist dabei insbesondere die bereits genannte im Verkehr erforderliche Sorgfalt in Bezug auf vorhandene Altanlagen zuzuschreiben.
63
Dass (mit Nichtwissen) erfolgte Bestreiten der Beigeladenen im Hinblick auf den Schadenshergang und etwaiger „Tatbeiträge“ Dritter ist insoweit nicht von Relevanz, da dies nicht zu einer Entlastung des Beklagten führen würde. Dieser muss sich das schuldhafte Verhalten Dritter über § 278 BGB zurechnen lassen. Der Entlastungsbeweis nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB muss sich auch auf das Verschulden des Erfüllungsgehilfen beziehen. Einen solchen hat der Beklagte nicht angetreten, er hat vielmehr – wie bereits ausgeführt – der Beigeladenen die schädigende Handlung ausdrücklich zugeordnet, indem durch diese beim Aushub der Baugrube Abwasserrohre beschädigt und über die defekten Stellen Beton in die Kanalisation gelangt sein soll. Da zumindest der Beklagte nach den dargestellten Umständen davon ausgehen musste, dass noch Altleitungen mit einer offenen Verbindung zum Hauptkanal vorhanden waren, hätte eine besondere Obacht bei entsprechenden Bauarbeiten auf dem Grundstück an Grund und Boden nahegelegen, über die er auch die Beigeladene als ausführendes Unternehmen hätte informieren oder dieses sich hätte Kenntnis verschaffen können und müssen. Es ist nicht sichergestellt worden, dass kein Beton über den Hausanschluss über den Grundstücksanschlusskanal in den Hauptkanal gelangen konnte. Eine Exkulpation wie bei § 831 BGB findet bei Schuldverhältnissen nicht statt (vgl. Grüneberg in: Palandt, a. a. O., § 278, Rn. 1).
64
Nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins (prima-facie-Beweis) kommt jedenfalls als Haftender der Beklagte als Grundstückseigentümer und Anschlussnehmer durch Zurechnung des Verschuldens des Erfüllungsgehilfen in Betracht. Um eine durch Anscheinsbeweis erhärtete Vermutung dieser Art annehmen zu können, müssen die genannten festgestellten Tatsachen einen Sachverhalt als typischen Geschehensablauf darstellen, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist und es rechtfertigt, die besonderen Umstände des einzelnen Falles zurücktreten zu lassen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. Juni 2005 – 15 A 4115/01 –, juris, Rn. 29 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 27.02. 2002 – 8 C 20.01 –, Buchholz 428 § 31 VermG Nr. 9, S. 15; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14. Januar 2010 – 7 A 10941/09 –, juris, Rn. 22). Hiervon ist nach den obigen Feststellungen auszugehen. Wie bereits ausgeführt und von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung noch einmal dargestellt, befanden sich Betonablagerungen bis zu 100 % in der alten Hausleitung des Grundstücks des Beklagten, weiterführend in den Hausschacht und anschließend in den Übergabeschacht, bevor die Verstopfung dann in der öffentlichen Schmutzwasserkanalisation in einem Bereich von 2,30 m bis 7,30 m zu einer Querschnittsreduzierung von 90 % führte, in die an dieser Stelle nur der – ebenfalls verstopfte – Grundstücksanschluss des Beklagten in den öffentlichen Kanal einmündet. Weitere Einleitungsstellen sind nicht vorhanden gewesen oder festgestellt worden. Dieser Vortrag wird durch die eingereichten Lichtbilder bestätigt. Die Gesamtschau dieser Fakten lässt nach allgemeiner Lebenserfahrung nur den Schluss auf eine Verursachung des Schadens durch den Beklagten als Anschlussnehmer bzw. durch die von ihm beauftrage Beigeladene zu. Für einen Eintrag durch einen Gully, wie von dem Beklagten erstmals in der mündlichen Verhandlung angeführt, gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Mit den eingereichten Unterlagen der Klägerin steht für das Gericht zudem mit der hinreichenden Überzeugungsgewissheit nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO fest, dass der Abwasserkanal vor dem Ereignis im September 2015 in einem einwandfreien Zustand gewesen ist. Dies resultiert bereits aus dem Umstand, dass es zuvor keine Probleme bei der Abwasserbeseitigung auf dem Grundstück Nr. x gegeben hat, aber auch aus früher durchgeführten Inspektionen (Haltungsgrafik vom 30. November 2011: Anlage K 7 und Anschlussleitungsbericht vom 20. Februar 2012: Anlage K 14). Auch der Vortrag der Beigeladenen ist nicht geeignet, diese nach den Regeln des Anscheinsbeweises gewonnene Vermutung zu widerlegen. Denn dies setzt voraus, dass Tatsachen vorliegen, welche die ernstliche und naheliegende Möglichkeit eines vom typischen Sachverhalt abweichenden Geschehens- oder Ursachenverlaufs begründen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. Juni 2005 – 15 A 4115/01 –, juris, Rn. 29 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 24.08 1999 – 8 C 24.98 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 305, S. 12; VG Minden, Urteil vom 05. August 2015 – 11 K 2256/14 –, juris, Rn. 27). Solche sind jedoch hier nicht vorgetragen worden. Die Beigeladene hat ebenfalls keinerlei substantiierten Vortrag dazu erbracht, dass die über den Verwaltungsvorgang nachgewiesenen Tatsachen tatsächlich nicht gegeben sind oder substantiiert dargelegt und unter Beweis gestellt, dass der streitige Schaden durch weitere Einleiter verursacht worden sein könnte.
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3) In der Rechtsfolge hat die Klägerin einen Anspruch Schadensersatz. Die Ersatzfähigkeit des Schadens folgt aus § 249 Abs. 2 S. 1 BGB analog.
66
Der Umfang der Schadensersatzpflicht erstreckt sich auf die von der Klägerin geltend gemachten Aufwendungen für die Behebung des kausalen Betonschadens an dem Grundstücksanschluss- und Hauptkanal durch die Firma Thomsen-Tiefbau. Diese entsprechen in der Höhe (8.960,26 €) der eingereichten Rechnung vom 2. Dezember 2015, gegen die – auch nach gemeinsamer Durchsicht in der mündlichen Verhandlung – nichts zu erinnern ist.
67
Entgegen der Auffassung des Beigeladenen ist kein Vorteilsausgleich (Abzug „neu für alt“) vorzunehmen. Eine Schadenersatzpflicht vermindert sich nach diesem Grundsatz dann, wenn eine gebrauchte Sache durch eine neue ersetzt wird oder durch den Einbau von Neuteilen repariert wird und dies zu einer Werterhöhung führt. Voraussetzung für den Vorteilsausgleich ist, dass eine messbare Vermögensvermehrung eingetreten ist, diese Werterhöhung sich für den Geschädigten günstig auswirkt und der Vorteilsausgleich für den Geschädigten zumutbar ist (Grüneberg in: Palandt, a. a. O., Vorb. v. § 249 Rn. 97ff.). Bei der Bemessung ist auf den Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses abzustellen (BVerwG, Urteil vom 1. März 1995 – 8 C 36/92 –, juris, Rn. 24). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zwar hat der öffentliche Abwasserkanal mit dem Grundstücksanschlusskanal und dem Schmutzwasserkanal ungeachtet der Frage der tatsächlichen Lebenserwartung bereits einen erheblichen Teil der Lebensdauer seit dem Einbau 1965 absolviert. Gleichwohl erwächst der Klägerin durch die Sanierung kein messbarer Vorteil, der auszugleichen ist. Denn die Reparatur eines Teilstückes des öffentlichen Kanals bewirkt zur Überzeugung des Gerichts keinesfalls eine längere Lebenserwartung für diesen in seiner Gesamtheit. Die Klägerin hat insoweit – auch noch einmal in der mündlichen Verhandlung – nachvollziehbar geschildert, dass im Anschluss an die Lebenserwartung die vollständige Haltung samt der instandgesetzten Teile zu erneuern ist bzw. dass ein anderes Vorgehen nicht weniger kostenintensiv sein wird. Insbesondere macht das Teilstück der Haltung mit 5,2 m Länge lediglich einen Bruchteil der Gesamtlänge von 32,88 m (ca. 16 %) aus. Im Übrigen hat die Klägerin auch plausibel dargestellt, dass es wiederum durch die Reparatur zu Schwachstellen gekommen ist, weshalb ebenfalls nicht von einer Verlängerung der Lebensdauer auszugehen ist. Sie hat darüber hinaus angegeben, dass die öffentlich zugängliche Handlungsempfehlung der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (xxx; www.xxx.de) bei einer solchen Reparatur von einer Haltbarkeit von 2 bis 15 Jahren ausgeht.
68
Letztlich hat auch keine Kürzung unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens der Klägerin nach § 254 BGB stattzufinden. Entgegen der Auffassung der Beigeladenen trifft die Klägerin insbesondere keine Verkehrssicherungspflicht. Vielmehr haben der Beklagte als Grundstückseigentümer und Inhaber der tatsächlichen Sachherrschaft und die Beigeladene als erfahrenes Bauunternehmen selbst dafür Sorge zu tragen, Beschädigungen an den Anschlüssen zu unterbinden. Dies gilt insbesondere dann, wenn entsprechende Arbeiten durchgeführt werden, denen derartige Risiken innewohnen. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin eine Gefahrenquelle eröffnet hat; eine solche lag allein auf dem Grundstück des Beklagten. Dieser trägt die Verantwortung und die Einwirkungsmöglichkeit auf die Grundstücksentwässerungsanlage (vgl. § 10 Abs. 3 Satz 2, § 16 Abs. 2 AAS), die vorliegend beschädigt oder ggf. nicht ausreichend verschlossen war. Für das Verschließen einer Altanlage war ebenfalls der Beklagte verantwortlich, vgl. § 28 Abs. 1 AAS.
69
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 709 ZPO.
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Tenor
I. Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Aachen vom 02.07.2020 – 1 Ca 4158/19 – abgeändert.
Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist zulässig.
II. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beklagte.
1G r ü n d e
2I.
3Der Kläger macht restliche Vergütungsansprüche in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns geltend.
4Die beklagte Gemeinde ist Eigentümerin einer am Eifelsteig gelegenen Wanderstation mit integrierter Tourist-Information nach dem Vorbild der Wander- und Almhütten in den Alpen.
5Der Kläger mietete die Wanderstation von der Beklagten mit Wirkung zum 01.05.2015 und gestaltete das in der Wanderstation befindliche Café unter Aufwendung eigener finanzieller Mittel zu einer „Wanderbar“ um. Der Mietzins betrug vereinbarungsgenmäß zunächst 300,00 EUR/Monat zzgl. Nebenkosten; ab dem 01.05.2016 betrug der Mietzins 400,00 EUR/Monat zzgl. Nebenkosten.
6Mit Wirkung zum 01.05.2015 schlossen die Parteien eine als „Werkvertrag“ bezeichnete Vereinbarung über den Betrieb der in der Wanderstation befindlichen Tourist-Information und des Nationalpark-Infopunktes. In diesem Vertrag verpflichtete sich der Kläger zur Einrichtung und zu dem Betrieb einer Anlauf- und Informationsstelle für Touristen, zur Verteilung von Informationsmaterialien sowie zum Angebot regionaler Produkte. Die Beklagte zahlte für den Betrieb der Tourist-Information und des Nationalpark-Infopunkts einen in monatlichen Teilbeträgen zahlbaren jährlichen Pauschalbetrag von 7.020,00 EUR zzgl. Mehrwertsteuer.
7Zudem trafen die Parteien eine ebenfalls als „Werkvertrag“ überschriebene Vereinbarung, wonach sich der Kläger zum ganzjährigen Betrieb der Wanderstation in eigener Verantwortlichkeit verpflichtete. Diese Tätigkeit umfasste ua. die Sicherstellung der vereinbarten Öffnungszeiten, die personelle Besetzung der Wanderstation sowie Reinigungstätigkeiten. Die Beklagte übernahm die anfallenden Bewirtschaftungskosten in Form einer Pauschalvergütung und brachte Einrichtungsgegenstände in die Wanderstation ein. Für die Übernahme von Leistungen, die nicht durch die Pauschalvergütung für den Betrieb der Tourist-Information und des Nationalpark-Infopunkts abgedeckt waren, erhielt der Kläger einen weiteren jährlichen Pauschalbetrag von 3.120,00 EUR zzgl. Mehrwertsteuer.
8Am 24.05.2016 vereinbarten die Parteien für den Betrieb der Wanderstation eine zusätzliche monatliche Pauschalvergütung iHv. 120,00 EUR für die über die regelmäßige Reinigung nach Bedarf hinausgehenden Grundreinigungen sowie eine zusätzliche monatliche Pauschalvergütung iHv. 25,00 EUR für die Beschaffung diverser Hygeneartikel.
9Die Beklagte kontrollierte in der Folgezeit die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen und sprach gegenüber dem Kläger mit Schreiben vom 29.03.2016, 13.04.2016, 05.05.2017, 12.06.2017, 04.08.2017, 06.10.2017, 02.11.2017 Abmahnungen wegen Verstößen gegen die vereinbarten Öffnungszeiten, die übernommenen Reinigungspflichten und gegen das Verbot der eigenmächtigen Unter- bzw. Weitervermietung aus. Ab Februar 2019 zahlte die Beklagte die vereinbarten Beträge nicht mehr bzw. nicht mehr in der vereinbarten Höhe. Mit Schreiben vom 09.05.2019, das dem Kläger am selben Tag zuging, kündigte die Beklagte sämtliche Verträge ordentlich zum 30.04.2020. Am 21.08.2019 teilte der Kläger der Beklagten mit, alle Leistungen in Bezug auf die Wanderstation und den Infopunkt einzustellen. Mit Schreiben vom 26.08.2019 kündigte die Beklagte sämtliche Verträge fristlos. Zudem forderte sie den Kläger zur Räumung auf.
10Das Landgericht Aachen verpflichtete die Beklagte mit einem am 16.04.2020 verkündeten Urteil, an den Kläger ausstehende Vergütung für den Zeitraum von April bis November 2019 und wegen der Reinigung der Toiletten für den Zeitraum von Februar bis November 2018 insgesamt einen Betrag iHv. 9.769,90 EUR zu zahlen und dem Kläger enstandene vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten iHv. 492,54 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Dabei ging das Landgericht davon aus, dass zwischen den Parteien verschiedene freie Dienstverhältnisse bestünden, die von der Beklagten durch Kündigung nicht vor dem 30.04.2020 beendet worden seien. Das Vorliegen eines Arbeitsverhältnis lehnte das Landgericht in den Entscheidungsgründen des Urteils ausdrücklich ab.
11Mit seiner am 20.12.2019 bei dem Arbeitsgericht Aachen eingereichten Klage begehrt der Kläger die Differenz zwischen der bereits gezahlten Vergütung und dem sie übersteigenden gesetzlichen Mindestlohn nebst Zinsen für das Jahr 2016 iHv. 21.539,00 EUR brutto abzgl. geleisteter 10.140,00 EUR netto, für das Jahr 2017 iHv. 22.400,56 EUR brutto abzgl. gezahlter 10.140,00 EUR netto, für das Jahr 2018 iHv. 22.400 EUR brutto abzgl. gezahlter 10.140,00 EUR netto und für den Zeitraum Januar bis März 2019 iHv. 5.789,70 EUR brutto abzgl. gezahlter 2.535,00 EUR netto. Den Klageforderungen legt der Kläger ausgehend von den vereinbarten Öffnungszeiten und einer realen Arbeitsleistung von sieben Stunden täglich den gesetzlichen Mindestlohn iHv. 8,50 EUR für das Jahr 2016, iHv. 8,84 EUR für die Jahre 2017 und 2018 sowie iHv. 9,19 EUR für das Jahr 2019 zu Grunde.
12Der Kläger ist der Ansicht, zwischen ihm und der Beklagten habe ein Arbeitsverhältnis bestanden, weil er sowohl hinsichtlich des Tätigkeitsorts an der Wanderstation als auch bezüglich der Arbeitszeit seine Tätigkeit nicht frei habe gestalten können. Zudem habe die Beklagte Einfluss auf die Beratungsleistungen gegenüber den Touristen und das bereitgestellte Informationsmaterial genommen. Das Arbeitsgericht sei für die Klage zudem bereits deswegen zuständig, weil es sich bei einem auf Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns nach §§ 1, 3 MiLoG gestützten Antrags um einen sog. Sic-non-Antrag handele.
13Die Beklagte hat die Unzulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs gerügt und die Auffassung vertreten, der Kläger habe weder schlüssig Tatsachen vorgetragen, die seine Arbeitnehmereigenschaft begründen könnten, noch handele es sich bei der Klage auf den gesetzlichen Mindestlohn um einen sog. Sic-non-Antrag. Zudem sei das Arbeitsgericht an die Entscheidung des Landgerichts, wonach zwischen den Parteien kein Arbeitsverhältnis bestanden habe, gebunden.
14Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 02.07.2020 den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen verneint und den Rechtsstreit an das Landgericht Aachen verwiesen. Seine Entscheidung hat das Arbeitsgericht damit begründet, dass der Kläger kein Arbeitnehmer gewesen sei und es sich bei einer Klage auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht um einen Sic-non-Fall handele. Denn für die Vergütungsklage komme neben dem Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn auch ein vertraglicher Vergütungsanspruch in Betracht.
15Der Beschluss ist dem Kläger am 13.07.2020 zugestellt worden. Seine dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ist am 23.07.2020 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangen.
16Der Kläger vertieft seinen erstinstanzlichen Vortrag und verweist darauf, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund sein Beschäftigungsverhältnis mit Bescheid vom 14.08.2020 als versicherungspflichtige Tätigkeit iSd. § 7 SGB IV eingeordnet habe.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses, die im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze und die eingereichten Unterlagen Bezug genommen.
18II.
19Die sofortige Beschwerde ist begründet. Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a ArbGG eröffnet. Denn der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einem Arbeitsverhältnis geltend. Dabei kann offenbleiben, ob der Kläger tatsächlich ein Arbeitnehmer iSd. § 5 Abs. 1 Satz 1 ArbGG war. Denn es handelt sich bei der allein auf die Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns gestützten Vergütungsklage des Klägers um einen sog. Sic-non-Fall, bei dem bereits die Rechtsauffassung des Klägers, er sei Arbeitnehmer, die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen begründet.
201.) Für die Zulässigkeit des Rechtswegs, über die gemäß § 17a Abs. 3 Satz 2 GVG vorab entschieden werden muss, ist der jeweilige Streitgegenstand maßgebend, der für jeden prozessualen Anspruch gesondert zu prüfen ist (BAG, Beschluss vom24. April 1996 – 5 AZB 25/95 –, Rn. 31, juris) und der gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO alleine vom Kläger bestimmt wird (BAG, Beschluss vom 22. Oktober 2014– 10 AZB 46/14 –, Rn. 24, juris).
21a) Ob eine Streitigkeit in die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen fällt oder ob der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet ist, hängt damit von der Natur des Rechtsverhältnisses ab, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird. Dabei kommt es grundsätzlich nicht auf die Bewertung durch die klagende Partei, sondern darauf an, ob sich das Klagebegehren nach den zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen bei objektiver Würdigung aus einem Sachverhalt herleitet, der nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen oder allein nach bürgerlichem Recht zu beurteilen ist (vgl. BGH, Urteil vom 28. Februar 1991 – III ZR 53/90 –, BGHZ 114, 1-9, Rn. 14).
22b) Anders ist es jedoch in den sog. Sic-non-Fällen.
23aa) Sic-non-Anträge sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nur dann begründet sein können, wenn das Rechtsverhältnis als Arbeitsverhältnis einzuordnen ist. Für diese Anträge eröffnet die bloße Rechtsansicht des Klägers, es handele sich um ein Arbeitsverhältnis, den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten (BAG, Beschluss vom26. Oktober 2012 – 10 AZB 60/12 –, Rn. 20, juris; BAG, Beschluss vom 24. April 1996 – 5 AZB 25/95 –, Rn. 42, juris). Denn die entsprechenden Tatsachenbehauptungen des Klägers sind in Sic-non-Fällen sowohl für die Rechtswegzuständigkeit als auch für die Begründetheit der Klage maßgebend und insoweit "doppelrelevant".
24bb) Würde der Rechtsstreit verwiesen, so müsste das Gericht, wenn es der Begründung folgt, die zur Verweisung geführt hat, die Klage als unbegründet abweisen (BAG, Beschluss vom 24. April 1996 – 5 AZB 25/95 –, Rn. 34, 37 juris). Die Verweisung wäre ein Umweg, um dasselbe Ergebnis, die Sachabweisung, durch ein anderes Gericht zu erreichen. Daran kann grundsätzlich niemand interessiert sein (Schwab/Weth, 5. Aufl. 2018, § 2 ArbGG, Rn. 237), auch wenn die letztlich obsiegende Partei eines arbeitsgerichtlichen Rechtsstreits im ersten Rechtszug gemäß § 12aAbs. 1 Satz 1 ArbGG keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Zuziehung eines Prozessbevollmächtigten hat, wohingegen sie die Erstattung der Rechtsanwaltskosten bei einem Rechtsstreit vor einem Amts- oder Landgericht im Wege der Kostenfestsetzung erreichen könnte. Jedoch führt der Umstand, dass die Rechtsansicht des Klägers in Sic-non-Fällen als wahr zu unterstellen ist, zu einer beschleunigten endgültigen Erledigung des Rechtsstreits und wird den Interessen der Parteien insgesamt am ehesten gerecht: Der Kläger erreicht die Prüfung der Berechtigung seiner Klage vor dem angerufenen Gericht auf seine bloße Rechtsansicht hin und riskiert damit die Abweisung seiner Klage als unbegründet. Bestreitet die Beklagte zu Recht das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses, erlangt sie ein klageabweisendes Sachurteil, das der materiellen Rechtskraft fähig ist. Stellt sie das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses zu Unrecht in Abrede, erleidet sie keinen Nachteil, wenn das Gericht zugleich die Zulässigkeit und die Begründetheit der Klage bejaht. In diesem Fall muss sie nicht einmal die Kosten des gegnerischen Bevollmächtigten tragen. In allen Fällen bleibt gewährleistet, dass die Richtigkeit der bestrittenen Tatsachen gerichtlich festgestellt wird (vgl. BGH, Beschluss vom27. Oktober 2009 - VIII ZB 42/08 -, BGHZ 183, 49-59, Rn. 14). In den Sic-non-Fällen, in denen die Klage nur dann Erfolg haben kann, wenn der Kläger Arbeitnehmer ist, reicht daher die bloße Rechtsbehauptung des Klägers, er sei Arbeitnehmer, zur Begründung der arbeitsgerichtlichen Zuständigkeit aus (BAG, Beschluss vom24. April 1996 – 5 AZB 25/95 –, Rn. 42, juris).
252.) Die Klage auf den gesetzlichen Mindestlohn gehört jedenfalls dann zu den Sic-non-Fällen, wenn die klagende Partei im Falle einer den gesetzlichen Mindestlohnanspruch unterschreitenden vertraglichen Vergütungsabrede den gesetzlichen Mindestlohn als Differenzbetrag abzüglich der bereits zuvor gezahlten vertraglichen Vergütung unter Offenlegung ihrer Berechnungsmethode einklagt. Denn zwingende Voraussetzung für diesen Mindestlohnanspruch ist das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses. Auf eine andere Anspruchsgrundlage kann dieser Anspruch nicht gestützt werden.
26a) Gemäß § 1 Abs. 1 MiLoG hat jeder Arbeitnehmer Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns durch den Arbeitgeber. Vereinbarungen, die den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten bzw. seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, sind nach § 3 Satz 1 MiLoG insoweit unwirksam. Der Mindestlohnanspruch aus § 1 Abs. 1 MiLoG ist ein gesetzlicher Anspruch, der eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch tritt. Das Mindestlohngesetz greift in die Entgeltvereinbarungen der Arbeitsvertragsparteien und anwendbarer Entgelttarifverträge nur insoweit ein, als sie den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten (BAG, Urteil vom 25. Mai 2016– 5 AZR 135/16 –, BAGE 155, 202-214, Rn. 22 - 24).
27b) Ein Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben nach dem in § 22 MiLoG geregelten persönlichen Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes nur Arbeitnehmer (BAG, Urteil vom 21. Dezember 2016 – 5 AZR 374/16 –, BAGE 157, 356-361, Rn. 16) sowie die ihnen in § 22 Abs. 1 Satz 2 MiLoG unter besonderen Voraussetzungen gleichgestellten Praktikanten. Maßgeblich für die Arbeitnehmereigenschaft ist der allgemeine Arbeitnehmerbegriff, wie er über die Definition des Arbeitsvertrags in § 611a Abs. 1 BGB normiert ist (HWK/Sittard, 9. Aufl. 2020, § 22 MILOG, Rn. 4). Andere Personen, die nicht gemäß der näheren Bestimmung zum anspruchsberechtigten Personenkreis in § 22 MiLoG als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingeordnet werden können, können sich hingegen nicht auf den gesetzlichen Anspruch aus § 1 MiLoG berufen (LArbG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Dezember 2019 – 12 Ta 2007/19 –, Rn. 15, juris; ErfK/Franzen, 19. Aufl. 2019, § 22 MiLoG, Rn. 1).
28c) Damit bildet der gesetzliche Mindestlohn eine Art Sockel, der in jedem höheren Entgeltanspruch enthalten ist (BAG, Urteil vom 30. Januar 2019 – 5 AZR 43/18 –, BAGE 165, 205-219, Rn. 18). Beantragt ein Arbeitnehmer im gerichtlichen Verfahren die Verurteilung des Arbeitgebers zur Zahlung einer bestimmten vereinbarten Vergütung für seine in einem bestimmten Zeitraum geleistete Arbeit, umfasst dieser Lebenssachverhalt neben der vertraglichen Vergütung auch den ihr innewohnenden gesetzlichen Mindestlohnsockel. Bei einer auf tatsächliche Arbeit gestützten Entgeltklage sind sowohl der Mindestlohn als auch die vertragliche Vergütung streitgegenständlich (vgl. BAG, Urteil vom 30. Januar 2019 – 5 AZR 43/18 –, BAGE 165, 205-219, Rn. 19). Bei solchen Klageanträgen, für deren Begründung entweder arbeitsrechtliche oder bürgerlich-rechtliche Anspruchsgrundlagen in Betracht kommen (sog. Aut-aut-Fälle) oder die widerspruchslos auf beide Rechtsgrundlagen gestützt werden können (sog. Et-et-Fälle), obliegt es dem Kläger, bereits für die Begründung der Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen jedenfalls diejenigen Tatsachen schlüssig vorzutragen, die seine Arbeitnehmereigenschaft begründen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 31. August 1999 – 1 BvR 1389/97 –, Rn. 14, juris; BAG, Beschluss vom 21. Januar 2019 – 9 AZB 23/18 –, BAGE 165, 61-73, Rn. 20).
29d) In den Fällen, in denen der Kläger im Falle einer den gesetzlichen Mindestlohnanspruch unterschreitenden vertraglichen Vergütungsabrede den gesetzlichen Mindestlohn als Differenzbetrag abzüglich der bereits zuvor gezahlten vertraglichen Vergütung unter Offenlegung ihrer Berechnungsmethode einklagt, stützt er seine Zahlungsansprüche aber gerade nicht auf die vertragliche Vergütungsabrede, sondern allein auf den gesetzlichen Mindestlohnanspruch aus §§ 1, 3 MiLoG, wie er nur Arbeitnehmern zustehen kann. Ein solcher (gesetzlicher) Differenzanspruch ist von der bereits geleisteten vertraglichen Vergütung entkleidet.
30aa) So verhält es sich auch im vorliegenden Fall. Der Kläger hat seinen Zahlungsanträgen eine Berechnungsmethode zu Grunde gelegt, bei der er die geleisteten Arbeitsstunden mit dem für das jeweilige Jahr aus § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG folgenden Mindeststundenlohn multipliziert hat. Von dem so errechneten Betrag hat er den aufgrund der vertraglichen Vergütungsabrede gezahlten niedrigeren Betrag abgezogen. Dabei kann dahinstehen ob der Kläger seine Klageforderung richtig errechnet hat und ob er die teilweise vom Langericht bereits ausgeurteilte zusätzliche Pauschalvergütung für die zusätzlichen Reinigungsleistungen zu Unrecht nicht in Abzug gebracht hat. Denn der Kläger macht ausdrücklich einen Differenzanspruch aus §§ 1, 3 MiLoG geltend, den er ausschließlich darauf stützt, dass die vertragliche Vergütungsabrede die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns unterschreite und daher gemäß § 3 Satz 1 MiLoG insoweit unwirksam sei. Dieser gesetzliche Differenzanspruch kann ungeachtet der möglicherweise unzutreffenden Berechnung aufgrund des vom Kläger zum Gegenstand seiner Klage gemachten Lebenssachverhalts und der von ihm geltend gemachten Anspruchshöhe nur dann bestehen, wenn er zugleich Arbeitnehmer ist. Mithin ist die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers für die geltend gemachten Zahlungsanträge doppelt relevant.
31bb) Dem kann weder entgegen gehalten werden, dass auch ein freier Dienstnehmer wegen einer sittenwidrig niedrigen und damit in der Konsequenz unbestimmten Vergütung ein Entgelt in Höhe der üblichen Vergütung iSd. § 612 Abs. 2 BGB beanspruchen kann, noch dass eine arbeitsvertragliche Vergütungsabrede, die den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn unterschreitet, durch § 612 Abs. 2 BGB ersetzt werden könnte. Denn der Kläger hat seine Klageforderung im vorliegenden Fall ausschließlich auf §§ 1, 3 MiLoG gestützt und sich damit auf einen möglichen Anspruch aus einem Arbeitsverhältnis beschränkt. Damit hat er den für die Bestimmung des Rechtswegs maßgeblichen Streitgegenstand festgelegt (BAG, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 10 AZB 46/14 –, Rn. 24, juris) und zugleich einen Rückgriff auf § 612 Abs. 2 BGB ausgeschlossen, weil § 1 Abs. 1 MiLoG die angemessene Vergütung bestimmt und es folglich an einer fehlenden Bestimmtheit der Vergütung iSd. § 612 Abs. 2 BGB fehlt (vgl. Lembke, NZA 2015, 70, 77; ErfK/Franzen, 20. Aufl. 2020, § 3 MiLoG, Rn. 1a). Darin liegt keine systemwidrige Manipulation hinsichtlich der Auswahl des zuständigen Gerichts. Diese Gefahr bestünde nur, wenn der Kläger im Wege der Zusammenhangsklage nach § 2 Abs. 3 ArbGG mit einem Sic-non-Fall weitere Streitgegenstände verbunden hätte, für die entweder arbeitsrechtliche oder bürgerlich-rechtliche Anspruchsgrundlagen in Betracht kommen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 31. August 1999 – 1 BvR 1389/97 –, Rn. 14, juris). Jedoch findet § 2 Abs. 3 ArbGG keine Anwendung, wenn die Zuständigkeit für die Zusammenhangsklage allein aus der Verbindung mit einem Sic-non-Antrag folgen kann. Denn dies wäre mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar, wonach der erkennende Richter auf Grund allgemeiner Kriterien normativ bestimmt sein muss, um der Gefahr manipulierender Einflüsse vorzubeugen. Werden zusätzlich zu einem Feststellungsantrag, der einen Sic-non-Fall darstellt, weitere Anträge gestellt, muss daher für diese die sachliche Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen nach § 2 Abs. 1 oder 2 ArbGG gesondert festgestellt werden (BAG, Beschluss vom 11. Juni 2003 – 5 AZB 43/02 –, BAGE 106, 273-278, Rn. 24, 25).
323.) Der Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen steht schließlich nicht entgegen, dass das Landgericht Aachen mit Urteil vom 16.04.2020 über – hier nicht streitgegenständliche – Vergütungsansprüche des Klägers sowie Ersatzansprüche für Reinigungskosten und Urlaubsvertretungen entschieden und ausdrücklich eine Arbeitnehmereigenschaft des Klägers verneint hat.
33a) Soweit man darin eine Bejahung der Rechtswegzuständigkeit sehen sollte (zur stillschweigenden Bejahung der Rechtswegzuständigkeit BGH, Urteil vom 19. November 1993 – V ZR 269/92 –, Rn. 9-11, juris; Zöller/Lückemann, 33. Aufl. 2020, § 17a GVG, Rn. 5; Thomas/Putzo/Hüßtege, 41. Aufl. 2020, § 17a GVG, Rn. 4), würde diese zwar gemäß § 17a Abs. 5 GVG das zuständige Rechtsmittelgericht binden; sie könnte jedoch keinerlei Bindungswirkung für den vorliegenden Rechtsstreit erzeugen.
34b) Auch materiell dürfte die Verneinung der Arbeitnehmereigenschaft nicht gemäß § 322 ZPO in Rechtskraft erwachsen. Rechtskräftig kann vielmehr nur die im Urteil ausgesprochene Rechtsfolge werden, also das Bestehen oder Nichtbestehen der vom Kläger geltend gemachten Zahlungsansprüche. Urteilselemente, tatsächliche Feststellungen und rechtliche Folgerungen, auf denen die getroffene Entscheidung aufbaut, werden hingegen von der Rechtskraft regelmäßig ebenso wenig erfasst wie der Entstehungsgrund des geltend gemachten Rechts (BGH, Urteil vom 03. Juni 1987 – VIII ZR 158/86 –, Rn. 12, juris; Weißenfels, BB 1996, 1326, 1330). Zudem besteht die in den Sic-non-Fällen begründete Rechtswegzuständigkeit gerade eben unabhängig davon, ob zwischen den Parteien tatsächlich ein Arbeitsverhältnis zu Stande gekommen ist oder nicht. Zwar verhindert die materielle Rechtskraft insoweit ein nochmaliges Verfahren um dieselbe Rechtsfolge oder um dasselbe Rechtsschutzbegehren. Ihre Wirkung besteht darin, dass jede neue Verhandlung und Entscheidung über die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge ausgeschlossen ist (BAG, Urteil vom 23. März 2017 – 8 AZR 91/15 –, BAGE 159, 1-11, Rn. 14; Weißenfels, BB 1996, 1326, 1329). Die sich im Hinblick auf den Vorprozess stellende Frage könnte hier jedoch nur sein, ob der im vorliegenden Verfahren angekündigte Antrag gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO wegen Streitgegenstandsidentität unzulässig oder wegen Präjudizialität unbegründet ist. Für beide Entscheidungen wäre aber das Arbeitsgericht Aachen zuständig.
35III.
36Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 ZPO. Wird ein Verweisungsbeschluss im Beschwerdeweg nach § 17a Abs. 4 GVG angefochten, so ist über die Kosten des Rechtsmittels nach den allgemeinen für die Beschwerde geltenden Grundsätzen zu entscheiden (Zöller/Lückemann, 33. Aufl. 2020, § 17b GVG Rn. 4).
37IV.
38Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.
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Tenor
Der Bescheid des Beklagten über die Heranziehung zum Wasseranschlussbeitrag vom 11. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 3. Mai 2018 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1T a t b e s t a n d
2Der Kläger ist seit dem Jahre 2012 Eigentümer des Grundstücks Gemarkung T1. , Flur 1, Flurstücke X, X, X, X, X und X (O.------- 00 in I. ). Er betreibt auf dem ca. 20.000 m² großen Grundstück eine Photovoltaikfreiflächenanlage.
3Das Grundstück liegt nordöstlich des O1.------- und südwestlich der C.----straße . Im östlichen Grundstücksteil befindet sich ein Teich, der in der Vergangenheit als Löschteich angelegt worden ist. Bis zum Jahre 2013 lag das Grundstück nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes. Das Grundstück war in der Vergangenheit mit der Werkshalle eines Zimmereibetriebes bebaut. Im Jahre 1970 war dafür eine Baugenehmigung erteilt worden. Der Inhaber des Betriebes hatte sein Wohnhaus auf dem südwestlich des O1.------- gelegenen Grundstück O.------- 1 in I. . Dieses Grundstück war an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen. Aus den Bauakten für das Baugenehmigungsverfahren im Jahre 1970 sowie für eine Bauvoranfrage im Jahre 1977 geht hervor, dass die Wassergewinnung auf dem Grundstück des Klägers damals durch einen eigenen Brunnen sichergestellt wurde. In weiteren Bauverfahren in den Jahren 1980, 1985 sowie 1988 wies die Gemeinde I. in ihrer Vorprüfung darauf hin, dass am Baugrundstück öffentliche Versorgungsleitungen für Wasser vorhanden sind. Unter dem 21. August 2006 stellte die damalige Eigentümerin des Grundstücks, Frau N. T2. , einen Antrag auf Erteilung einer Abbruchgenehmigung. In der Vorprüfung der Gemeinde I. ist festgehalten, dass eine öffentliche Wasserversorgung für das Grundstück nicht besteht.
4Am 16. Juli 2013 trat der vorhabenbezogene Bebauungsplan Nr. 85 der Gemeinde I. „PV-Freiflächenanlage O.------- “ in Kraft. Der Plan setzt für das Grundstück des Klägers eine Fläche für Versorgungsanlagen mit der Zweckbestimmung „Erneuerbare Energien – Freiflächenfotovoltaikanlage“ fest. Der auf dem Grundstück gelegene Teich liegt außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche. In der Begründung zum Bebauungsplan wird unter Nr. 6 zur Ver- und Entsorgung ausgeführt, die Einspeisung der im Plangebiet gewonnenen Energie in das öffentliche Stromnetz erfolge in das im O.------- vorhandene Leitungsnetz. Eine darüber hinausgehende technische Versorgung sei nicht erforderlich. Das im Plangebiet anfallende Niederschlagswasser solle nach Entsiegelung der bisher versiegelten Teilflächen direkt über die belebte Bodenzone versickern.
5Unter dem 8. August 2013 stellte der Kläger als Gesellschafter der Solarpark Napoleon GbR einen Bauantrag für den Neubau einer Photovoltaikfreiflächenanlage auf seinem Grundstück. Nach dem vom Kläger eingereichten Brandschutzkonzept wird die Löschwasserversorgung auf dem Grundstück durch Unterflurhydranten sichergestellt. Die Gemeinde I. hielt in ihrer Vorprüfung fest, dass eine Wasserversorgung für das Grundstück nicht notwendig sei. Unter dem 1. Oktober 2013 erteilte der Kreis T3. die beantragte Baugenehmigung. Bereits am 7. September 2013 wurde dem Kläger als Gesellschafter der Solarpark O.------- GbR die Genehmigung zum Abbruch der auf dem Grundstück stehenden Werkshallen erteilt. In der Folgezeit wurde die Photovoltaikfreiflächenanlage errichtet. Das Grundstück wurde nicht an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen.
6Mit Schreiben vom 25. September 2017 teilte der Beklagte dem Kläger mit, ihn für das Grundstück O.------- 00 in I. zum Wasseranschlussbeitrag heranziehen zu wollen. Nach telefonischen Einwendungen des Klägers führte der Beklagte mit Schreiben vom 21. November 2017 aus, bisher sei das Grundstück nicht an das öffentliche Wassernetz angeschlossen. Auswertungen der Planunterlagen hätten keinen Hinweis auf eine vormalige Versorgung ergeben. Telefonisch habe der Kläger mitgeteilt, bei Abbruch des Gebäudes sei ein Wasseranschluss entfernt worden. Diese Maßnahme hätte nur durch den Beklagten durchgeführt werden können. Ein entsprechender Auftrag bzw. die Durchführung solcher Arbeiten sei weder in der kaufmännischen Software noch im Hausanschlussarchiv hinterlegt. Man müsse daher davon ausgehen, dass es sich bei dem vom Kläger angesprochenen Anschluss um eine Eigenversorgungsanlage gehandelt habe. Vor Aufstellung des Bebauungsplanes sei das Grundstück dem Außenbereich zugeordnet gewesen. Eine Beitragspflicht hätte nur bei tatsächlicher Versorgung mittels eines Hausanschlusses entstehen können. Der Beklagte erkläre sich im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung bereit, die Fläche um den östlich auf dem Grundstück gelegenen Teich (1.313 m²) bei der Bemessung des Wasseranschlussbeitrages nicht zu veranlagen.
7Mit Bescheid vom 11. Dezember 2017 zog der Beklagte den Kläger zum Wasseranschlussbeitrag für das Grundstück O.------- 00 in I. in Höhe von 46.205,96 € heran. Dabei berücksichtigte der Beklagte eine Grundstücksgröße von 18.694 m². Im Begleitschreiben führte der Beklagte aus, nach den Vorschriften des KAG NRW i. V. m. der Beitrags- und Gebührensatzung sei die tatsächliche Inanspruchnahme der öffentlichen Wasserversorgung für die Heranziehung zum Wasseranschlussbeitrag unerheblich. Vielmehr komme es auf die reine Inanspruchnahmemöglichkeit an.
8Am 29. Dezember 2017 erhob der Kläger gegen den Beitragsbescheid Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 2018 zurückwies.
9Am 23. Mai 2018 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor: Der angefochtene Beitragsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Entgegen der Auffassung des Beklagten sei eine Beitragspflicht für die Zahlung eines Anschlussbeitrages für die Wasserversorgung nicht dadurch entstanden, dass das Vorhaben erst seit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des vorhabenbezogenen Bebauungsplanes Nr. 85 im Jahre 2013 baulich nutzbar sei. Vielmehr sei das intensiv bebaute Grundstück schon seit mehreren Jahrzehnten gewerblich genutzt worden und sei mit hoher Wahrscheinlichkeit an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen gewesen. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Beitrags- und Gebührensatzung sei das Grundstück bereits mit einem großflächigen Zimmereibetrieb bebaut gewesen. Das Grundstück habe mit dem Betriebsleiterwohnhaus, in dem sich die Büroräume befunden hätten, unter der postalischen Anschrift „O.-------1“ eine wirtschaftliche Einheit gebildet. Diese wirtschaftliche Einheit sei bereits bei Inkrafttreten der Beitrags- und Gebührensatzung an das öffentliche Wasserversorgungsnetz angeschlossen gewesen. Entscheidungserheblich sei auch, dass das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 5. März. 2013 (1 BvR 2457/08) entschieden habe, dass das Rechtsstaatprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und Belastungsvorhersehbarkeit Regelungen verlange, die sicherstellten, dass Abgaben zum Vorteilsausgleich nicht zeitlich unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden könnten. Darüber hinaus sei der angefochtene Heranziehungsbescheid rechtswidrig, weil die Beitragserhebung nicht durch § 8 KAG NRW gedeckt sei. Die bloße Anschlussmöglichkeit an die öffentliche Wasserversorgung biete dem Kläger ebenso wenig wie ein tatsächlicher Wasseranschluss einen wirtschaftlichen Vorteil. Der Grund hierfür liege in der Besonderheit der Art der festgesetzten baulichen Nutzung als reine Versorgungsfläche nach § 9 Abs. 4 Nr. 12 BauGB. Die Gemeinde I. habe durch die Aufstellung des vorhabenbezogenen Bebauungsplanes lediglich eine Nutzung ermöglicht, die darin bestehe, dass eine Photovoltaikfreiflächenanlage – und nur ausschließlich diese – auf dem Vorhabengrundstück zulässig sei. Die Errichtung von Gebäuden, die dem vorübergehenden oder dem dauernden Aufenthalt von Menschen oder Tieren dienten, sei nicht gegeben. Eine derartige Nutzung erfordere nicht den Einsatz von Wasser aus der öffentlichen Wasserversorgung. In der Begründung zum vorhabenbezogenen Bebauungsplan werde zur Ver- und Entsorgung des Plangebiets ausgeführt, die Einspeisung der im Plangebiet gewonnenen Energie in das öffentliche Stromnetz erfolge über das im O.------- vorhandene Leitungsnetz. Eine darüber hinausgehende technische Versorgung sei nicht erforderlich. Die Gemeinde habe als Verantwortliche für die Erschließung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie keine Wasserversorgung für „notwendig“ halte.
10Grundsätzlich sei die Schaffung von Wasserversorgungsanlagen mit Gebrauchsvorteilen verbunden, die darin bestünden, das Grundstück mit Frischwasser zu versorgen. Diese Gebrauchsvorteile bewirkten eine Verbesserung der Erschließungssituation und steigerten durch eine bessere Nutzbarkeit den Gebrauchswert des Grundstücks. In besonders gelagerten Einzelfällen könne die Beitragspflicht gleichwohl entfallen. Anhand der tatsächlichen Gegebenheiten sei einzelfallbezogen zu prüfen, ob mit der Anschlussmöglichkeit eine verbesserte Erschließungssituation verbunden sei. Die bestehende Anschlussmöglichkeit an die öffentliche Wasserversorgungsanlage der Beklagten gebe für die zulässige bauliche Nutzung des Grundstücks mit einer Photovoltaikfreiflächenanlage nichts her, so dass ein wirtschaftlicher Vorteil im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 2 KAG NRW nicht vorliege. Nach dem im Baugenehmigungsverfahren vorgelegten und mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen Brandschutzkonzept vom 20. September 2013 werde die Löschwasserversorgung öffentlich durch Unterflurhydranten sichergestellt. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. August 2019 (20 B 18.1346), wonach eine im Außenbereich errichtete Biogasanlage nach typisierender Betrachtungsweise unabhängig davon, ob zur Fermentation der eingesetzten Stoffe der Zusatz von Wasser notwendig sei oder nicht, einen Anschlussbedarf an die Wasserversorgung auslöse, sei auf die hier zutreffende Entscheidung nicht übertragbar. Sowohl der dort verwendete Begriff des „Anschlussbedarfs“ und seine Bestimmung bezüglich der Wasserversorgung „nach typisierender Betrachtungsweise“ widersprächen der nordrhein-westfälischen Rechtslage und der Rechtsprechung des OVG NRW bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Vorteilslage atypischer Einzelfälle. Die von dem Beklagten vorgelegten Unterlagen belegten nicht, dass für die Solaranlagen ein Reinigungsbedarf bestehe. Leitungswasser sei zur Reinigung der Solarpaneele ungeeignet. Soweit überhaupt jemals eine Reinigung erforderlich sei, werde von einer Spezialfirma aufbereitetes Wasser per Tankwagen zur Reinigung aufgetragen.
11Der Kläger beantragt,
12den Bescheid des Beklagten über die Heranziehung zum Wasseranschlussbeitrag vom 11. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 3. Mai 2018 aufzuheben.
13Der Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Zur Begründung trägt er vor: Es sei unzutreffend, dass das Grundstück O.------- 00 in I. bereits bei Inkrafttreten der Beitragssatzung angeschlossen gewesen sei. Nach den in den Verwaltungsvorgängen vorhandenen Karten, in denen die Hauptleitungen sowie die in den Jahren bis 1985 erfolgten Anschlüsse in der Umgebung eingezeichnet seien, habe ein Anschluss für das Grundstück des Klägers nicht bestanden. In der Hausakte befinde sich für das Grundstück O.------- 00 ein Schreiben vom 26. Juli 1996, mit dem der damalige Eigentümer aufgefordert worden sei, einen Anschluss zu beauftragen. Das sei nicht erfolgt. Es sei weder ein Auftrag für die Herstellung noch für die Abtrennung eines Anschlusses vorhanden. Der Kläger habe in der Vergangenheit mündlich geäußert, dass er vor dem Bau der Photovoltaikanlage das vorhandene Gebäude abgerissen habe und dabei ein Wasseranschluss abgetrennt worden sei. Davon sei dem Beklagten nichts bekannt. Es habe weder einen Auftrag noch eine Abrechnung gegeben, was erforderlich gewesen wäre.
16Es komme beitragsrechtlich nicht darauf an, ob der Kläger für die Nutzung seines Grundstücks zwingend auf einen Bezug von Wasser aus der öffentlichen Wasserversorgungsanlage angewiesen sei. Ein beitragsrechtlich relevanter Vorteil werde bereits durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme der öffentlichen Wasserversorgungsanlage und die Möglichkeit einer Bebauung begründet. Prinzipiell sei bei jedem bebauten Grundstück davon auszugehen, dass zumindest ein abstrakter Vorteil in der Gestalt der Nutzungsmöglichkeit für das Wasser gegeben sei. Etwas anderes könne allenfalls für Grundstücke gelten, die insgesamt nicht sinnvoll nutzbar seien oder bei denen ein Wasserversorgungsbedarf definitiv für jede Form der zulässigen Nutzung ausgeschlossen werden könne. Unabhängig davon bestehe bezogen auf das herangezogene Grundstück auch faktisch ein vorteilsbegründender Wasserversorgungsbedarf, und zwar unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Reinigung der Photovoltaikanlagen und auch im Hinblick auf die Gewährleistung des Brandschutzes. Nach dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. August 2019 sei für die Beurteilung, ob mit Blick auf die genehmigungsrechtlich eröffnete Nutzung ein Anschlussbedarf an die Wasserversorgung bestehe, eine typisierende Betrachtung vorzunehmen. Die typisierende Betrachtung habe zur Folge, dass es auf die von der Klägerseite dargestellten Einzelfallumstände für die rechtliche Beurteilung nicht ankomme. Es sei vielmehr zu fragen, ob bei Grundstücken, die auf Grund der planungsrechtlichen Festsetzungen ausschließlich zur Gewinnung von Sonnenenergie durch Photovoltaikanlagen genutzt würden, bei typisierender Betrachtung grundsätzlich ein Wasserversorgungsbedarf bestehe. Sei dies der Fall, so komme es nicht darauf an, ob der betreffende Grundstückseigentümer tatsächlich Wasser aus der öffentlichen Anlage entnehme. Vorliegend sei ein Wasserversorgungsbedarf zum einen schon auf Grund des bestehenden Reinigungsbedarfs von Photovoltaikanlagen zu bejahen. Der Reinigungsbedarf resultiere daraus, dass Photovoltaikanlagen naturgemäß und unvermeidlich einer Verschmutzung ausgesetzt seien. Der Selbstreinigungseffekt durch Regen reiche nicht aus, um eine ausreichende Reinigung zu gewährleisten. Ausweislich einer Internetrecherche gebe es zahlreiche Anbieter, die entsprechende professionelle Reinigungsleistungen anböten. Soweit unter technischen Gesichtspunkten die Notwendigkeit einer Reinigung mit enthärtetem Wasser hervorgehoben werde, werde darauf hingewiesen, dass dies der Annahme eines Wasserversorgungsbedarfs aus dem öffentlichen Wasserversorgungssystem nicht entgegenstehe, da das hieraus bezogene Wasser entsprechend aufbereitet werden könne. Unerheblich sei, ob eine Reinigung von Photovoltaikanlagen unerlässlich sei, da eine Reinigung jedenfalls sinnvoll sei und daher durch die ermöglichte Nutzung der öffentlichen Wasserversorgungsanlage eine zumindest sinnhafte Nutzungsmöglichkeit eröffnet wäre, was für die Begründung eines beitragsrechtlich relevanten Vorteils ausreiche. Davon abgesehen sei ein Wasserversorgungsbedarf für das klägerische Grundstück auch unter dem Gesichtspunkt des Brandschutzes zu bejahen. Ein ausreichender Brandschutz setzte zwingend eine hinreichende Löschwasserversorgung voraus, woraus sich ebenfalls ein entsprechender Wasserversorgungsbedarf für das Grundstück des Klägers ergebe. Dies lasse sich nicht mit dem Argument des Klägers in Frage stellen, dass eine ausreichende Löschwasserversorgung und damit ein ausreichender Brandschutz bereits über naheliegende Hydranten sichergestellt sei. Der Bayerische VGH habe in seinem Urteil vom 19. August 2019 hervorgehoben, dass auch die Beurteilung, ob auf Grund eines bestehenden Löschwasserbedarfs ein Anschlussbedarf an die Wasserversorgung bestehe, auf Grundlage einer typisierenden Betrachtungsweise vorzunehmen sei. Das Gericht habe zutreffend festgestellt, dass die Frage, ob der Löschwasserbedarf im Falle der konkreten Biogasanlage durch nicht auf dem Betriebsgrundstück liegende Hydranten oder auch einen Löschteich oder ähnliches gedeckt werde, nichts an dem Wasserbedarf ändere, den die Biogasanlage als solche auslöse. Der Umstand, dass der Kläger die Möglichkeit habe, Löschwasser über einen nicht auf seinem Grundstück gelegenen Hydranten zu beziehen, ändere nichts daran, dass bei typisierender Betrachtung unter Brandschutzgesichtspunkten ein Löschwasserbedarf für sein Grundstück bestehe, aus dem sich ein betragsrelevanter Wasserversorgungsbedarf ergebe. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass auch der Hydrant, aus dem nach den Vorstellungen des Klägers im Brandfall Löschwasser bezogen werden solle, aus der öffentlichen Wasserversorgungsanlage gespeist werde, zu deren Kosten der Kläger durch den Wasseranschlussbeitrag herangezogen werden solle, was unter Vorteilsgesichtspunkten ebenfalls zu berücksichtigen sei.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
18E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
19Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Beklagten über die Heranziehung zum Wasseranschlussbeitrag vom 11. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 3. Mai 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Bescheide sind daher aufzuheben.
20Der angefochtene Bescheid des Beklagten kann nicht auf § 8 KAG NRW i.V. der Beitrags- und Gebührensatzung zur Wasserversorgungssatzung des Zweckverbandes „Wasserversorgungsverband Tecklenburger Land“ vom 15. Dezember 1981 in der Fassung der Änderung vom 12. Dezember 2011 (BGS) gestützt werden.
21Nach § 8 Abs. 1 KAG NRW können die Gemeinden und Gemeindeverbände Beiträge erheben. Der Beklagte hat von der ihm als Gemeindeverband eingeräumten Möglichkeit zur Erhebung eines Anschlussbeitrages für die Herstellung der öffentlichen Wasserversorgungsanlage durch Erlass der BGS Gebrauch gemacht. Gemäß § 2 Abs. 1 BGS unterliegen der Beitragspflicht Grundstücke, die an die öffentliche Wasserversorgungsanlage angeschlossen werden können und für die eine bauliche oder gewerbliche Nutzung festgesetzt ist, wenn sie baulich oder gewerblich genutzt werden können, oder eine bauliche oder gewerbliche Nutzung nicht festgesetzt ist, wenn sie nach der Verkehrsauffassung Bauland sind und nach der geordneten baulichen Entwicklung, in den dem Zweckverband angehörenden Mitgliedsgemeinden, zur Bebauung anstehen. Wird ein Grundstück an die öffentliche Wasserversorgung tatsächlich angeschlossen, so unterliegt es gem. § 2 Abs. 2 BGS der Beitragspflicht auch dann, wenn die Voraussetzungen des Abs. 1 der Vorschrift nicht vorliegen.
22Der Beitragserhebung für das Grundstück O.-------00 in I. steht zwar nicht entgegen, dass die Beitragspflicht bereits vor Jahrzehnten entstanden wäre oder vor Jahrzehnten eine Vorteilslage entstanden wäre und eine Beitragserhebung deshalb nun nicht mehr zulässig wäre (dazu I.). Die Beitragserhebung ist aber rechtswidrig, weil die Möglichkeit, das Grundstück an die öffentliche Wasserversorgung anzuschließen, dem Kläger keinen wirtschaftlichen Vorteil im Sinne des § 8 Abs. 2 KAG NRW bietet (dazu II.)
23I. Die Beitragspflicht für das Grundstück ist nicht bereits vor Jahrzehnten entstanden. Die Wasserleitung am O.------- und damit an dem Grundstück des Klägers wurde 1978 gebaut. Ab diesem Zeitpunkt hätte das Grundstück an die Wasserleitung angeschlossen werden können. Dadurch ist die Beitragspflicht aber nicht nach § 2 Abs. 1 BGS entstanden, denn das Grundstück lag damals weder im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes noch war es nach Verkehrsauffassung Bauland. Vor Inkrafttreten des vorhabenbezogenen Bebauungsplanes Nr. 85 „PV-Freiflächenanlage O.------- “ im Jahre 2013 war das Grundstück eindeutig dem Außenbereich zuzuordnen.
24Eine Beitragspflicht ist auch nicht nach § 2 Abs. 2 BGS durch den tatsächlichen Anschluss an die Wasserleitung entstanden. Das Grundstück ist ausweislich der Akten des Beklagten und der beigezogenen Bauakten des Kreises T3. nicht an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen worden. In den vom Beklagten vorgelegten Karten ist ein Anschluss für das Grundstück nicht eingezeichnet. Dies wird durch den Inhalt der Bauakten bestätigt. Aus den Bauakten der 1970er Jahre geht hervor, dass die Wasserversorgung auf dem Grundstück durch einen eigenen Brunnen erfolgte. Nach den Vorprüfungen der Gemeinde I. in Bauverfahren in den 1980er Jahren war eine Wasserleitung am Grundstück vorhanden. Ein Anschluss geht daraus aber nicht hervor. Aus der Vorprüfung der Gemeinde I. zu einem Antrag auf Erteilung einer Abbruchgenehmigung für die damals bestehende Halle auf dem Grundstück im Jahr 2006 ist zu entnehmen, dass ein Anschluss an die öffentliche Wasserversorgung nicht bestand.
25Das Grundstück des Klägers war auch nicht dadurch an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen, dass es zusammen mit dem Grundstück O.-------1, auf dem das Betriebsleiterwohnhaus der damaligen Zimmerei stand und welches an die Wasserleitung angeschlossen war, eine wirtschaftliche Einheit bildete. Eine wirtschaftliche Einheit mehrerer Grundstücke setzt unter anderem voraus, dass sie unmittelbar aneinander grenzen. Diese Voraussetzung liegt nicht vor, denn die Grundstücke O.-------00 und O.-------1 sind voneinander durch die Straße O.------- getrennt.
26Die Beitragserhebung ist auch nicht unter Heranziehung der vom Kläger angeführten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,
27Beschluss vom 5. März 2013 – 1 BvR 2457/18 –, juris,
28sowie der darauf beruhenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe,
29Urteil vom 11. September 2014 – 2 K 2326/13 –, juris,
30ausgeschlossen, weil seit Entstehung der durch die Anschlussmöglichkeit gegebenen Vorteilslage mehr als 30 Jahr vergangen wären. Eine Vorteilslage im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung war nicht gegeben. Es steht fest, dass das Grundstück nicht an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen war. Der jeweilige Eigentümer des Grundstücks hätte den Anschluss an die Wasserleitung seit dem Jahre 1978 jederzeit beantragen können. Dies hat er unterlassen. Deshalb ist die Beitragspflicht für das damals im Außenbereich gelegene Grundstück nicht entstanden. Die bloße Anschlussmöglichkeit reicht für im Außenbereich gelegene Grundstücke für das Entstehen einer Vorteilslage nicht aus.
31II. Die Beitragserhebung ist aber rechtswidrig, weil die Möglichkeit, das Grundstück an die öffentliche Wasserversorgung anzuschließen, dem Kläger keinen wirtschaftlichen Vorteil im Sinne des § 8 Abs. 2 KAG NRW bietet.
32Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 KAG NRW sind Beiträge Geldleistungen, die zum Ersatz des Aufwands für die Herstellung, Anschaffung, Erweiterung, Verbesserung oder Erneuerung der öffentlichen Einrichtungen von den Grundstückseigentümern erhoben werden, denen die öffentliche Einrichtung wirtschaftliche Vorteile bietet. Grundsätzlich bietet die Anschlussmöglichkeit an die öffentliche Wasserversorgung einem Grundstückseigentümer immer einen wirtschaftlichen Vorteil.
33Die Schaffung von Wasserversorgungsanlagen durch die Gemeinde und durch Gemeindeverbände ist mit Gebrauchsvorteilen verbunden, die darin bestehen, die Grundstücke mit Frischwasser zu versorgen. Diese Gebrauchsvorteile bewirken eine Verbesserung der Erschließungssituation und steigern durch eine bessere Nutzungsmöglichkeit den Gebrauchswert der Grundstücke, die auf diese Erschließungsmaßnahmen angewiesen sind. Der Vorteil, der durch die Möglichkeit des Anschlusses an eine leistungsgebundene Anlage geboten wird, ist unter erschließungsrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Dabei gilt, dass Baugrundstücke für ihre Erschließung grundsätzlich auf einen Wasseranschluss angewiesen sind,
34vgl. OVG/NRW, Beschluss 22. Februar 2017– 15 A 1262/16 – juris, Rd.-Nr. 8; Unke, in:Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Kommentar,Stand: März 2020, § 8 Rd. 534.
35In besonders gelagerten Einzelfällen kann die Beitragspflicht entfallen. Der wirtschaftliche Vorteil durch einen Anschluss muss aktuell und nicht nur unter praktisch nicht zu verwirklichenden Bedingungen gewährt werden,
36vgl. OVG/NRW, Beschluss vom 22. Februar 2017– 15 A 1262/16 – juris, Rd.-Nr. 12.
37Ein wirtschaftlicher Vorteil kann nur bei solchen baulichen Nutzungen bestehen, die überhaupt einen Wasserversorgungsbedarf nach sich ziehen können,
38vgl. OVG/NRW, Urteil vom 17. April 2007– 15 A 3752/04 –, juris, Rd.-Nr. 38.
39Ein solcher Ausnahmefall von der grundsätzlich bestehenden Beitragspflicht liegt hier vor. Die Möglichkeit, das Grundstück an die öffentliche Wasserversorgung anzuschließen, bewirkt für den Kläger unter erschließungsrechtlichen Gesichtspunkten keinen wirtschaftlichen Vorteil (dazu 1.) Darüber hinaus besteht für den Kläger kein wirtschaftlicher Vorteil, weil die auf dem Grundstück des Klägers allein zulässige Photovoltaikfreiflächenanlage keinen Wasserversorgungsbedarf nach sich zieht (dazu 2.).
401. Ein Wasseranschluss an das Grundstück ist unter erschließungsrechtlichen Gesichtspunkten für den Kläger nicht wirtschaftlich vorteilhaft. Er bietet dem Kläger keine Gebrauchsvorteile und bewirkt somit keine Verbesserung der Erschließungssituation. Das Grundstück des Klägers ist unter erschließungsrechtlichen Gesichtspunkten auf einen Wasseranschluss gar nicht angewiesen. Der vorhabenbezogene Bebauungsplan Nr. 85 der Gemeinde I. „PV-Freiflächenanlage O.-------“ ermöglicht auf dem Grundstück ausschließlich die Errichtung einer Photovoltaikanlage. Gebäude, die dem Aufenthalt von Menschen dienen, dürfen nicht errichtet werden. Nach der Begründung zum vorhabenbezogenen Bebauungsplan ist abgesehen von der Einspeisung der im Plangebiet gewonnene Energie in das öffentliche Stromnetz über das vorhandene Leitungsnetz eine darüber hinausgehende technische Versorgung des Grundstücks nicht erforderlich. Auch in der Vorprüfung des Bauantrages für die Errichtung der Photovoltaikfreiflächenanlage hat die Gemeinde I. dargelegt, dass eine Wasserversorgung des Grundstücks nicht erforderlich ist. Ist für die Erschließung des Grundstücks ein Wasseranschluss ohne Belang, stellt die Möglichkeit des Anschlusses für den Kläger keinen wirtschaftlichen Vorteil dar.
412. Darüber hinaus liegt ein wirtschaftlicher Vorteil auch deshalb nicht vor, weil für das Grundstück des Klägers tatsächlich kein Wasserbedarf besteht. Weder unter dem Gesichtspunkt der Reinigung der Photovoltaikanlage (dazu a)) noch aus Brandschutzgründen (dazu b)) besteht ein vorteilsbegründender Wasserversorgungsbedarf.
42a) Die Möglichkeit, die Photovoltaikanlage zu reinigen, begründet keinen Wasserversorgungsbedarf und folglich keinen wirtschaftlichen Vorteil für den Kläger. Wie sich aus dem Vortrag der Beteiligten und aus den vom Beklagten eingereichten Unterlagen ergibt, kann eine Photovoltaikanlage mit Wasser gereinigt werden. Nach den vom Beklagten eingereichten Hinweisen der Verbraucherzentralen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz (Photovoltaik: Was bei der Planung einer Solaranlage wichtig ist) kann nach zehn Jahren eine professionelle Reinigung der Solarmodule sinnvoll sein. Ob eine professionelle Modulreinigung wirtschaftlich sinnvoll ist, hängt nach der Studie des Unternehmens „Milk the Sun“ zur „Reinigung von Freiflächen Photovoltaikanlagen“ davon ab, ob die erwirtschafteten Mehrerträge größer sind als die Kosten der durchgeführten Reinigung. Eine zwingende Notwendigkeit zur Reinigung ist den vorgelegten Unterlagen nicht zu entnehmen. Vielmehr liegt es im Ermessen des Anlagenbetreibers, ob und in welchen Zeitabschnitten und Zeitabständen er die Photovoltaikanlage reinigen lässt. In jedem Fall erfolgt eine Reinigung – wie aus dem Vortrag des Klägers und den vom Beklagten vorgelegten Unterlagen hervorgeht – nicht mit Leitungswasser, sondern mit demineralisiertem Wasser. Zwar kann Leitungswasser zu demineralisiertem Wasser aufbereitet werden. Dies kann grundsätzlich auch auf dem Grundstück des Klägers geschehen. Dies stellt aber nur eine rein theoretische und realitätsferne Möglichkeit dar. Angesichts der Größe der Photovoltaikanlage wird der Kläger bei realitätsnaher Betrachtung die Reinigung nicht per Hand vornehmen, sondern eine Firma beauftragen, die das aufbereitete Wasser mitbringt und mit einem Fahrzeug die Anlage abfährt, um die Reinigung vorzunehmen. Eine Entnahme von Wasser aus einem auf dem Grundstück liegenden Wasseranschluss ist dafür weder erforderlich noch sinnvoll.
43b) Auch aus Brandschutzgründen besteht für das Grundstück des Klägers kein Wasseranschlussbedarf. Nach dem im Baugenehmigungsverfahren eingereichten und mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen Brandschutzkonzept des Sachverständigenbüros A. vom 20. September 2013 ist im Brandfall eine Löschwasserversorgung erforderlich, die durch in der Umgebung liegende Unterflurhydranten sichergestellt wird. Die Löschwasserversorgung durch Hydranten zieht aber keinen Wasserbedarf nach sich, der die Anschlussmöglichkeit an die öffentliche Wasserversorgung zu einem wirtschaftlichen Vorteil macht. Zwar sind die Hydranten, auf die im Brandfall zurückgegriffen wird, von dem Beklagten aufgestellt und finanziert worden. Auch sind die Hydranten an das Wasserleitungsnetz des Beklagten angeschlossen. Die Löschwasserbereitstellung durch den Beklagten steht aber in keinem Zusammenhang mit ihrer Aufgabe, Grundstücke mit Frischwasser zu versorgen. Die Auffassung, nach typisierender Betrachtungsweise bestehe ein vorteilsbegründender Wasseranschlussbedarf auch dann, wenn der Löschwasserbedarf durch nicht auf dem Grundstück liegende Hydranten sichergestellt werde,
44vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 19. August 2019– 10 B 18.1346 – , juris Rd.-Nr. 39,
45berücksichtigt nicht, dass Löschwasser nach typisierender Betrachtung nicht einem auf dem Grundstück liegenden Anschluss entnommen wird und der Brandschutz eine öffentliche Aufgabe der Gemeinde ist. Nach § 3 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz (BHKG) stellen die Gemeinden eine den örtlichen Verhältnissen angemessene Löschwasserversorgung sicher. Wie die Gemeinde dieser Aufgabe nachkommt, obliegt ihrer Entscheidung. Sie kann sich – wie im vorliegenden Fall – der Hilfe des öffentlichen Wasserversorgungsträgers bedienen und die Löschwasserversorgung über das Leitungsnetz des Versorgers gewährleisten. Dadurch entsteht kein Rechtsverhältnis zwischen dem Versorger – hier dem Beklagten – und dem Grundstückseigentümer – hier dem Kläger -, welcher im Brandfall auf die Löschwasserversorgung angewiesen ist. Es spielt keine Rolle, ob und in welchem Umfang im Innenverhältnis zwischen der Gemeinde und dem Versorger die Kosten für die Möglichkeit der Löschwasserentnahme aus dem Leitungsnetz ausgeglichen werden. Der Beklagte, der der Gemeinde und ihrer Feuerwehr die Befugnis einräumt, im Brandfall Löschwasser aus dem Leitungsnetz zu entnehmen, kann daraus keinen wirtschaftlichen Vorteil des Klägers für die Möglichkeit, sein Grundstück an die öffentliche Wasserleitung anzuschließen, ableiten.
46Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 30.12.2016 - Az.: 6 O 140/15 - wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen den Beklagten zu 4) richtet. Im Übrigen werden das vorbezeichnete Urteil und das zu Grunde liegende Verfahren, soweit sie nicht die gegen den Beklagten zu 2) gerichtete Klage zum Gegenstand haben, unter Zurückverweisung an das Landgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung aufgehoben.
2. Die Klägerin trägt die im Berufungsrechtszug entstandenen außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 4); im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem weiteren Verfahren vor dem Landgericht vorbehalten.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Soweit die vorläufige Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils von Sicherheitsleistung abhängig war, fällt dieser Vorbehalt weg. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des für den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger insgesamt vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
1. Im Verhältnis zum Beklagten zu 2) ist die Klägerin des Rechtsmittels der Berufung verlustig.
2. Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren hinsichtlich der Gerichtsgebühren auf ... € festgesetzt.
Hinsichtlich der Rechtsanwaltsgebühren der Parteien werden folgende Einzelwerte festgesetzt:
Klägerin: ...
Beklagte zu 1): ...
Beklagter zu 3): ...
Beklagter zu 4): ...
Beklagte zu 5): ...
Gründe
I.
1
Mit ihrer am 18.06.2015 beim Landgericht Stralsund eingegangenen negativen Feststellungsklage wehrt sich die Klägerin gegen vermeintliche Schadenersatzansprüche der Beklagten im Zusammenhang mit der Kündigung eines Händlervertrags und der anschließenden Einstellung des früheren Geschäftsführers der Beklagten zu 1), des Beklagten zu 4), als Arbeitnehmer durch die Klägerin.
2
Die Beklagten zu 2) und 3) gründeten 1994 die damals unter „K.“ firmierende Beklagte zu 1). Der Beklagte zu 4) war seit 1994 Angestellter und seit 1999 Geschäftsführer und Mitgesellschafter der nunmehrigen Beklagten zu 1). Die in G. ansässige Klägerin ist Hersteller von Sportbooten, u.a. auch von Segelyachten der Marke ....
3
Am 01.04.2010 schlossen die Klägerin und die Beklagte zu 1) einen Händlervertrag („Dealer Skeleton Contract“) für das Vertriebsgebiet Frankreich (Anlage K 1 = Bd. I Bl. 11 ff. d.A.). Nach § 22 des Vertrages sollte deutsches Recht Anwendung finden und G. ausschließlicher Gerichtstand sein. Wörtlich heißt es dort:
4
„a) This Dealer Contract and all Purchase Contracts closed herunder are governed by German law. [...]b) The sole place of jurisdiction is Greifswald.“
5
In § 1 war bestimmt:
6
„This Dealer contract [...] shall apply to all legal and business relations between HanseYachts and the Dealer [...].“
7
Nach einem Zerwürfnis mit den Beklagten zu 2) und 3) wurde am 27.01.2012 der Beklagte zu 4) als Geschäftsführer der Beklagten zu 1) abberufen. Am 07.02.2012 schloss er als „Verkäufer“ mit den Beklagten zu 1), 2) und 3) einen Aufhebungs- und Übertragungsvertrag, mit dem der Beklagte zu 4) seine Geschäftsanteile an der Beklagten zu 1) auf die Beklagten zu 2) und 3) übertrug und der in Artikel 4 folgende Wettbewerbsklausel enthielt (vgl. u.a. Seiten 5 f. der Anlage K 5/2 = Bd. I Bl. 128 f. d.A.):
8
„Artikel 4 - Verpflichtungen des Verkäufers in Bezug auf Kunden und Partner der Gesellschaft
9
4.1. Der Verkäufer verpflichtet sich, bis zum 31. Dezember 2014 keine der 'Kunden' der Gesellschaft gemäß der nachfolgenden Definition abzuwerben, anzusprechen, Verhandlungen mit ihnen zu führen, einen Vertrag und/oder eine Vereinbarung über Dienstleistungen abzuschließen, direkt oder indirekt mit oder für einen der Kunden der Gesellschaft zu handeln oder zu arbeiten.
10
Für die Zwecke des vorliegenden Artikels gelten als 'Kunden' alle natürlichen oder juristischen Personen, mit denen die Gesellschaft innerhalb von vierundzwanzig Monaten vor dem Datum der vorliegenden Vereinbarung einen Vertrag geschlossen oder verlängert hat und/oder mit denen die Gesellschaft innerhalb von vierundzwanzig (24) Monaten vor dem Datum der vorliegenden Vereinbarung einen Vertrag ganz oder teilweise ausgeführt hat.
11
Ohne die Allgemeingültigkeit der vorhergehenden Aussage zu begrenzen, verpflichtet sich P. D. ausdrücklich, die in dem vorliegenden Artikel dargelegte Verpflichtung insbesondere gegenüber den Partnern ... und ... einzuhalten.
12
Unbeschadet der Verpflichtungen in den obigen Absätzen des vorliegenden Artikels kann P. D. jeder anderen Tätigkeit im Handel mit Booten frei nachgehen.
13
Die hierin niedergelegten Verpflichtungen wurden zwischen den Parteien einvernehmlich begrenzt, so dass P. D. nicht am Arbeiten gehindert wird, was P. D. ausdrücklich anerkennt. [...]“
14
Nachdem der Beklagte zu 4) seine Gesellschaftsanteile an der Beklagten zu 1) vereinbarungsgemäß auf die Beklagten zu 2) und 3) übertragen hatte, erwarb nachfolgend am 21.03.2012 die Beklagte zu 5) sämtliche Geschäftsanteile an der Beklagten zu 1).
15
Am 02.05.2012 kündigte die Klägerin den Händlervertrag mit der Beklagten zu 1) - gestützt auf die in dessen § 18 Abs. 2 enthaltene so genannte Change-of-Ownership-Klausel - zum 30.06.2012 mit der Begründung, dem neuen Gesellschafter und Geschäftsführer fehle es an der nötigen Erfahrung im Marketing und Verkauf. Am 10.05.2012 schloss die Klägerin einen Arbeitsvertrag mit dem Beklagten zu 4) und setzte ihn als Regionalverkaufsleiter für Italien, Spanien, Portugal und Frankreich für alle Marken der ... ein.
16
Die Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) reichten daraufhin - eine Zustellung an die Klägerin ist im Herbst 2015 erfolgt - bei dem Handelsgericht in Toulon Leistungsklage ein (Anlage K5/2 = Bd. I Bl. 125 ff. d.A.) mit den Anträgen, den Beklagten zu 4) und die Klägerin gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Beklagte zu 1) einen Betrag von 861.650,00 € zu zahlen, an die Beklagte zu 5) einen Betrag von 236.487,00 € sowie an die Beklagten zu 2) und 3) einen Betrag von 57.000,00 €. Für die konkreten Beträge und deren Berechnung wird ergänzend auf Seiten 16 ff. der vorbezeichneten Klageschrift Bezug genommen.
17
Zur Begründung führten die Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) gegenüber dem Handelsgericht aus, die Kündigung des Vertriebsvertrags habe zahlreiche Monate kaufmännischer Anstrengungen und finanzieller Investitionen zur Förderung der Marke brutal zunichte gemacht. Sie bedeute den Verlust eines erheblichen Teils des Umsatzes. Die neue Tätigkeit des Beklagten zu 4) stelle eine Verletzung der vertraglichen Wettbewerbsklausel dar. Zudem scheine klar zu sein, dass die abrupte Kündigung des Händlervertrags direkt mit der Einstellung des Beklagten zu 4) durch die Klägerin zusammenhänge. Der Beklagte zu 4) könne nur darauf hingewirkt haben, dass der Vertrag gekündigt werde. Mit Schreiben vom 19.11.2012 hätten die Beklagten zu 2) und 3) von dem Beklagten zu 4) die Einstellung der wettbewerbswidrigen Tätigkeit verlangt. Zugleich hätten sie die Klägerin informiert. Die Chronologie lasse keinen Zweifel daran, dass die Kündigung des Händlervertrags auf den Beklagten zu 4) zurückgehe. Nach französischem Recht hafte der Beklagte zu 4) den Beklagten zu 2) und 3) wegen Verletzung der Wettbewerbsklausel durch die Einstellung bei der Klägerin, der Beklagten zu 1), weil sie die Wettbewerbsklausel habe schützen sollen, und der Beklagten zu 5), weil der Veräußerer dem Erwerber garantieren müsse, dass er den Besitz nicht störe, hier eine Kette von Veräußerungen – zunächst Beklagter zu 4) an die Beklagten zu 2) und 3) und anschließend diese an die Beklagte zu 5) – vorliege und nach französischem Recht eine Durchgriffshaftung bestehe.
18
Die Klägerin habe sich der „Beihilfe“ - im Sinne eines kollusiven Zusammenwirkens mit dem Beklagten zu 4) zum Nachteil der übrigen Beklagten - schuldig gemacht, weil sie die Wettbewerbsklausel schon im März 2012, im Übrigen aber jedenfalls aufgrund des Schreibens vom 19.11.2012 gekannt habe. Der Beklagten zu 1) sei durch die Kündigung ein Verlust in Höhe des Umsatzes vom 01.11.2009 bis zum 31.10.2011 von 861.650,00 € entstanden. Der Beklagten zu 5) sei ein Schaden von 236.487,00 € entstanden, der dem Verhältnis des Umsatzverlustes der Beklagten zu 1) gegenüber dem Wert des Unternehmens bei Veräußerung von 485.000,00 € entspreche. Nach Art. 1145 Code Civil schulde derjenige, der gegen eine Unterlassungspflicht verstoße, allein deshalb und ohne Nachweis eines Schadens Schadensersatz. Im Übrigen seien durch die Kündigung und die Einstellung des Beklagten zu 4) bei der Klägerin die Beziehungen der Beklagten zu 2) und 3) zur Beklagten zu 5) konfliktbeladen. Sie verlangen deshalb 50 % des an den Beklagten zu 4) gezahlten Kaufpreises für die Geschäftsanteile, mithin 57.000,00 €.
19
Die vorliegende Klage ist am 18.06.2015 beim Landgericht eingegangen und den Beklagten zu 1), 3), 4) und 5) im Frühjahr 2016 zugestellt worden. Zum Zeitpunkt der Zustellung der in Frankreich erhobenen Klage verhält sich die durch den Senat mit Beschluss vom 29.11.2017 (Bd. III Bl. 451 / 451-Rs. d.A.) eingeholten Auskunft des Handelsgerichts in Toulon vom 31.01.2019 (Bd. IV Bl. 479 ff. / 542 ff. d.A.).
20
Die Klägerin hat ihre Klage auf Feststellung gerichtet, dass Ansprüche der Beklagten im Zusammenhang mit der Händlervertragskündigung vom 02.05.2012 und der Einstellung des Beklagten zu 4) vom 10.05.2012 nicht bestehen. Die Klägerin hat hierzu in tatsächlicher Hinsicht behauptet, der Beklagte zu 4) habe angekündigt, die Klägerin im Fall seiner Verurteilung in Toulon in Regress zu nehmen, weil die Klägerin den Schaden durch die Kündigung des Händlervertrags verursacht habe.
21
Die Klägerin hat die Klage für zulässig gehalten, weil eine Leistungsklage umgekehrten Rubrums zuständigkeitshalber bei dem Landgericht Stralsund zu erheben sei und anderweitige Rechtshängigkeit mangels Zustellung der französischen Klage nicht gegeben sei. Die internationale Zuständigkeit des Landgerichts Stralsund ergebe sich aus Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Auch bei Wettbewerbsverstößen sei der Ort der tatsächlichen Handlung zuständigkeitsbegründend. Die der Klägerin durch die Beklagten vorgeworfenen Handlungen - die Kündigung des Händlervertrages mit der Beklagten zu 1) und die Einstellung des Beklagten zu 4) - seien in bzw. von Greifswald aus erfolgt. Außerdem folge die - ausschließliche - Zuständigkeit des Landgerichts Stralsund aus der Gerichtsstandsvereinbarung in dem gekündigten Händlervertrag zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1). Für die näheren Einzelheiten des klägerischen Vorbringens hierzu wird auf die in erster Instanz zu den Akten gereichten Schriftsätze Bezug genommen, insbesondere auf die Schriftsätze vom 05.07.2016 (Bd. II Bl. 212 ff. d.A.) und 18.10.2016 (Bd. II Bl. 269 ff. d.A.).
22
Die Klägerin ist davon ausgegangen, gegenüber den Beklagten nicht zu haften. Insbesondere sei ihr ein etwaiges Wettbewerbsverbot des Beklagten zu 4) gegenüber der Beklagten zu 1) nicht bekannt gewesen. Der Beklagte zu 4) habe auf ein solches Verbot nicht hingewiesen.
23
Erstinstanzlich hat die Klägerin vor dem Landgericht beantragt,
24
1. festzustellen, dass den Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) weder wegen der Einstellung des Beklagten zu 4) mit Vertrag vom 10.05.2012 noch aufgrund der Kündigung vom 02.05.2012 des Händlervertrags zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) vom 01.04.2010 Ansprüche gegen die Klägerin zustehen;
25
2. festzustellen, dass dem Beklagten zu 4) keine Ansprüche gegen die Klägerin zustehen, soweit er wegen des Abschlusses des Arbeitsvertrags mit der Klägerin vom 10.05.2012 und der damit angeblich verbundenen Vertragsverletzung des zwischen ihm und den Beklagten zu 1), 2) und 3) am 07.02.2012 geschlossenen Aufhebungs- und Übertragungsvertrags und/oder wegen der Kündigung vom 02.05.2012 des Händlervertrags zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) vom 01.04.2010 rechtskräftig verurteilt wird, der Beklagten zu 1) und/oder dem Beklagten zu 2) und oder dem Beklagten zu 3) und/oder der Beklagten zu 5) Schadenersatz aus vorgenannten Gründen zu leisten.
26
Die Beklagten zu 1), 3), 4) und 5) haben in erster Instanz beantragt,
27
die Klage abzuweisen.
28
Der Beklagte zu 2) hat keinen Antrag gestellt und auch sonst nicht auf die Klage reagiert. Eine Zustellung an den Beklagten zu 2) ist nicht dokumentiert. Es liegt aus erster Instanz lediglich die - von der Klägerin mit Nichtwissen bestrittene - Mitteilung der Beklagten zu 1), 3) und 5) vom 01.06.2016 (Bd. II Bl. 155 d.A.) vor, der Beklagte zu 2) sei verstorben.
29
Die Beklagten zu 1), 3) und 5) haben das Landgericht für international unzuständig und die Klage aus diesem Grund für unzulässig gehalten.
30
Der Beklagte zu 4) hat sich diesbezüglich zuletzt der Auffassung der Klägerin angeschlossen und eine Zuständigkeit des Landgerichts auf der Grundlage des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO für gegeben erachtet. Er hat die Klage im Ergebnis gleichwohl für unzulässig gehalten, weil der Klägerin das notwendige Feststellungsinteresse fehle. Er - der Beklagte zu 4) - habe sich gegenüber der Klägerin keines (Regress-) Anspruches berühmt. Erstens sei es nicht richtig und werde bestritten, dass er - der Beklagte zu 4) - der Klägerin am 09.06.2015 per E-Mail mitgeteilt habe, dass ihm „keine andere Lösung zur Verfügung stehe, als die Klägerin in das Verfahren in Frankreich einzubeziehen“. Und zweitens stelle eine solche - als wahr unterstellte - Äußerung keine (Regress-) Anspruchsberühmung dar. Außerdem genüge die Klage, soweit sie sich gegen ihn - den Beklagten zu 4) - richte, nicht den Anforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO; die beantragte Feststellung hänge von unzulässigen Bedingungen ab. Für die näheren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Beklagten zu 4) vom 04.10.2016 (Bd. II Bl. 260 ff. d.A.) Bezug genommen.
31
Die Beklagten zu 1), 3) und 5) haben behauptet, die Klägerin sei bereits im März 2012 über die Wettbewerbsklausel informiert gewesen. Dieser Darstellung hat sich der Beklagte zu 4) angeschlossen. Er hat vorgetragen, den klägerischen Verkaufsleiter T. bereits vor Abschluss des Arbeitsvertrages mit der Klägerin auf das Wettbewerbsverbot mündlich hingewiesen zu haben. Diese Information sei gegenüber der Klägerin im Zuge einer E-Mail-Korrespondenz am 10.06.2012 bzw. 17.06.2012 (Anlagen B 4/2 und B 4/3 = Bd. II Bl. 196 ff. d.A.) noch einmal bestätigt worden. Für die näheren diesbezüglichen Einzelheiten wird auf den Sachvortrag auf Seiten 3 f. des Schriftsatzes des Beklagten zu 4) vom 21.06.2016 (Bd. II Bl. 185 f. d.A.) Bezug genommen.
32
Mit Beschluss vom 10.08.2016 (Bd. II Bl. 225 d.A.) hat das Landgericht gemäß § 280 Abs. 1 ZPO angeordnet, über die Zulässigkeit der Klage sei abgesondert zu verhandeln. Mit Urteil vom 30.12.2016 (Bd. II Bl. 290 ff. d.A.) hat es die Klage als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
33
Für die Klage gegen den Beklagten zu 4) sei der Rechtsweg gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG - ausschließlich - zu den Arbeitsgerichten eröffnet, weil sich der vermeintliche Regressanspruch des Beklagten zu 4) nur aus dem Arbeitsverhältnis mit der Klägerin ergeben könne. Soweit die Klägerin die Auffassung vertrete, es gehe um eine vermeintliche Haftung aus dem „Innenverhältnis“ zwischen ihr und dem Beklagten zu 4), stelle gerade der Arbeitsvertrag mit dem Beklagten zu 4) dieses Innenverhältnis dar. Im Übrigen - also hinsichtlich der Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) - sei die internationale Zuständigkeit des Gerichts nicht gegeben. Nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO sei ein Gerichtstand in Frankreich gegeben, weil dort der Erfolgs- oder Handlungsort liege. Maßgebliche Handlung sei nämlich nicht die Anstellung des Beklagten zu 4), sondern die daraufhin zu erbringende Tätigkeit des Beklagten zu 4) als Vertriebsleiter in Frankreich. Die Gerichtstandsvereinbarung aus dem Vertrag vom 01.04.2010 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 EuGVVO greife nicht, weil es sich bei den Ansprüchen nicht um solche aus dem Händlervertrag handele und dieser ohnehin nur im Verhältnis zur Beklagten zu 1) gelte.
34
Das Urteil ist allen Parteien mit Ausnahme des Beklagten zu 2) zugestellt worden, der Klägerin am 04.01.2017.
35
Gegen das Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer am 06.02.2017, einem Montag, hier eingegangenen Berufung, die mit Eingang hier am 17.02.2017 begründet worden ist. Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Anträge unverändert weiter, zuletzt allerdings - insoweit ist auf die Sitzungsniederschrift über den Senatstermin vom 09.09.2020 (Bd. IV Bl. 587 ff. d.A.) zu verweisen - beschränkt auf die Beklagten zu 1), 3), 4) und 5).
36
Der Ansatz des Landgerichts, für die Frage der internationalen Zuständigkeit auf die Vertriebstätigkeit des Beklagten zu 4) in Frankreich abzustellen, sei verfehlt. Maßgeblich seien die der vorliegenden negativen Feststellungsklage durch die Klägerin zu Grunde gelegten Begründungslinien der Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) im Rahmen der in Frankreich gegen die Klägerin und den Beklagten zu 4) erhobenen Leistungsklage, zumal die von der Klägerin vorliegend formulierten und streitstoffbestimmenden Klageanträge ausdrücklich und alleinig auf die Vertragskündigung und die Einstellung des Beklagten zu 4) durch die Klägerin abstellen würden, nicht auf das geschäftliche Agieren des Beklagten zu 4) in Frankreich. Die in Frankreich erhobene Klage hätten die Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) ausschließlich mit der Kündigung des Händlervertrages durch die Klägerin und der Einstellung des Beklagten zu 4) durch die Klägerin - und damit durch in bzw. von Deutschland aus erfolgte Handlungen - begründet. Dass die Beklagten zu 1), 3) und 5) im vorliegenden Verfahren gegenüber dem Landgericht andere Gründe - insbesondere die Vertriebstätigkeit des Beklagten zu 4) in Frankreich und eine daran angelehnte vermeintliche Annexhaftung der Klägerin wegen einer Verleitung des Beklagten zu 4) zum Vertragsbruch gegenüber den Beklagten zu 1), 2) und 3) - „nachgeschoben“ hätten, spiele für die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit keine Rolle. Es könne nur darauf ankommen, wie die mit der vorliegenden Feststellungsklage abzuwehrenden Ansprüche im Zeitpunkt der Erhebung der vorliegenden Feststellungsklage begründet worden seien. Im Übrigen sei eine Schädigung der Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) durch die Akquisetätigkeit des Beklagten zu 4) auf dem französischen Markt schon deshalb ausgeschlossen, weil sich die Marktfelder der Klägerin und der Beklagten zu 1) nicht überschneiden würden. Während nämlich die Klägerin ausschließlich an gewerbliche Händler veräußere, betreibe die Beklagte zu 1) ausschließlich Endkundengeschäft. Bezeichnenderweise hätten die Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) vor dem Handelsgericht in Toulon auch nicht zu konkreten Kundenabwerbungen durch den Beklagten zu 4) vorgetragen. Sie würden ihren Schaden vielmehr im Verlust der Vertragsbeziehung zur Klägerin - infolge der Kündigung des Händlervertrages - sehen.
37
Im Übrigen sei im Rahmen des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO für jeden einzelnen Beteiligten auf dessen jeweiligen eigenen Tatbeitrag abzustellen. Selbst wenn man von einer Beihilfehandlung der Klägerin ausgehe, spiele daher der Ort der vermeintlichen Haupttat des Beklagten zu 4) in Frankreich für die vorliegende Zuständigkeitsbestimmung keine Rolle.
38
Zudem folge die Zuständigkeit des Landgerichts schon aus der Gerichtsstandsvereinbarung in dem Vertrag vom 01.04.2010. Insbesondere dessen § 1 mache deutlich, dass die Regelung des § 22 b) umfassende Geltung für die gesamte Geschäftsbeziehung zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) beanspruche. Hiernach sei das Landgericht für die vorliegende Klage jedenfalls insofern zuständig, wie diese sich gegen die Beklagte zu 1) richtet. Letztlich folge aus der Gerichtsstandsvereinbarung aber auch eine Zuständigkeit im Verhältnis zu den weiteren Beklagten, weil auch diese ihre angeblichen Ansprüche gegen die Klägerin aus einer vermeintlichen Verletzung des Vertrages vom 01.04.2010 ableiten würden und sich folgerichtig auch die Gerichtsstandsbestimmung aus diesem Vertrag entgegenhalten lassen müssten.
39
Für die Klage gegen den Beklagten zu 4) sei innerhalb der deutschen Gerichtsbarkeit auch der ordentliche Rechtsweg eröffnet. Eine Zuständigkeit des Arbeitsgerichts bestehe nicht. Die vermeintliche Haftung der Klägerin gegenüber dem Beklagten zu 4) ergebe sich aus den Vorschriften über den gesamtschuldnerischen Innenausgleich gemäß §§ 840, 426 BGB und knüpfe an ein - vermeintlich schädigendes - Verhalten der Klägerin aus der Zeit vor Abschluss des Arbeitsvertrages mit dem Beklagten zu 4) an. Für eine Anwendung des § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG sei daher kein Raum.
40
Für die näheren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Klägerin wird ergänzend Bezug genommen auf die Berufungsbegründungsschrift vom 16.02.2017 (Bd. III Bl. 332 ff. d.A.) sowie den weiteren klägerischen Schriftsatz vom 12.05.2017 (Bd. III Bl. 439 ff. d.A.).
41
Die Klägerin beantragt - nach Rücknahme der Berufung gegenüber dem Beklagten zu 2) in der mündlichen Verhandlung vom 09.09.2020 - nunmehr,
42
unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Stralsund vom 30.12.2016 – Az.: 6 O 140/15 –
43
1. festzustellen, dass den Beklagten zu 1), 3) und 5) weder wegen der Einstellung des Beklagten zu 4) mit Vertrag vom 10.05.2012 noch aufgrund der Kündigung vom 02.05.2012 des Händlervertrags zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) vom 01.04.2010 Ansprüche gegen die Klägerin zustehen;
44
2. festzustellen, dass dem Beklagten zu 4) keine Ansprüche gegen die Klägerin zustehen, soweit er wegen des Abschlusses des Arbeitsvertrags mit der Klägerin vom 10.05.2012 und der damit angeblich verbundenen Vertragsverletzung des zwischen ihm und den Beklagten zu 1), 2) und 3) am 07.02.2012 geschlossenen Aufhebungs- und Übertragungsvertrags und/oder der Kündigung vom 02.05.2012 des Händlervertrags zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) vom 01.04.2010 rechtskräftig verurteilt wird, der Beklagten zu 1) und/oder dem Beklagten zu 2) und oder dem Beklagten zu 3) und/oder der Beklagten zu 5) Schadenersatz aus vorgenannten Gründen zu leisten.
45
Hilfsweise beantragt die Klägerin,
46
die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Landgericht zurückzuverweisen.
47
Mit - nicht nachgelassenem - Schriftsatz vom 21.09.2020 (Bd. IV Bl. 601 f. d.A.) hat die Klägerin „die Berufung“ gegen den Beklagten zu 4) für erledigt erklärt und sich dem Beklagten zu 4) gegenüber auf die Einrede der Verjährung berufen. Infolge der Erklärung des Beklagten zu 4) in der mündlichen Verhandlung vom 09.09.2020, er berühme sich keines Anspruches gegen die Klägerin, sei die Klägerin nunmehr ausreichend „gesichert“. Etwaige Ansprüche des Beklagten zu 4) gegen die Klägerin seien verjährt, weil eine bloße Anspruchsberühmung keine Verjährungshemmung auslöse.
48
Mit - wiederum nicht nachgelassenem - Schriftsatz vom 25.09.2020 (Bd. IV Bl. 605 ff. d.A.) hat die Klägerin sich näher zu der Frage einer Zurückverweisung und deren Voraussetzungen erklärt. Die Klägerin vertritt den Standpunkt, der Senat müsse in der Sache selbst erkennen.
49
Die Beklagten zu 1), 3), 4) und 5) beantragen,
50
die Berufung zurückzuweisen.
51
Der Beklagte zu 4) beantragt hilfsweise,
52
das Verfahren auszusetzen, bis über den Bestand der Schadenersatzforderung der Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) gegen den Beklagten zu 4) im Verfahren vor dem Handelsgericht Toulon – Az.: 12014176 – rechtskräftig entschieden ist.
53
Die Beklagten zu 1), 3), 4) und 5) verteidigen - im Ergebnis übereinstimmend - das angefochtene Urteil.
54
Die Beklagten zu 1), 3) und 5) - für deren zweitinstanzliches Vorbringen ergänzend auf die Schriftsätze vom 28.03.2017 (Bd. III Bl. 387 ff. d.A.), 28.08.2020 (Bd. IV Bl. 579 ff. d.A.) und 16.09.2020 (Bd. IV Bl. 593 ff. d.A.) Bezug genommen wird - machen in Anknüpfung an ihre erstinstanzliche Argumentation geltend, dass sich die Haftung der Klägerin nicht aus der Kündigung des Händlervertrages oder dem Abschluss eines Arbeitsvertrages mit dem Beklagten zu 4) ergebe, sondern - allein - aus einer Mitwirkung an dem geschäftlichen Auftreten des Beklagten zu 4) in Frankreich unter Verstoß gegen die Bestimmungen des durch den Beklagten zu 4) mit den Beklagten zu 1), 2) und 3) geschlossenen Vertrages. Das ergebe sich unmissverständlich sowohl aus der bereits in erster Instanz vorgelegten Klage an das Handelsgericht in Toulon als auch nochmals aus dem erstmals in zweiter Instanz in Auszügen als Anlage B 5/4 (Bd. III Bl. 397 ff. d.A.) vorgelegten weiteren Schriftsatz gegenüber dem Handelsgericht in Toulon. Weder die Kündigung des Händlervertrages noch die Einstellung des Beklagten zu 4) durch die Klägerin hätten gegen die zwischen dem Beklagten zu 4) und den Beklagten zu 1), 2) und 3) geschlossene Vereinbarung verstoßen bzw. den hier streitbegriffenen Schaden ausgelöst. Sofern die Klägerin tatsächlich auf Feststellung des Nichtbestehens von Ansprüchen wegen der Vertragskündigung bzw. der Einstellung des Beklagten zu 4) durch die Klägerin antragen wolle, sei eine Klage dieses Inhalts gegenüber den Beklagten zu 1), 3) und 5) jedenfalls mangels Feststellungsinteresses unzulässig, denn solcher Ansprüche hätten sich jedenfalls die Beklagten zu 1), 3) und 5) zu keiner Zeit berühmt.
55
Der Beklagte zu 4) - für dessen zweitinstanzlichen Vortrag ergänzend auf die Schriftsätze vom 30.03.2017 (Bd. III Bl. 354 ff. d.A.) und 07.08.2020 (Bd. IV Bl. 575 ff. d.A.) Bezug genommen wird - ist unverändert der Auffassung, dass auch die gegen ihn erhobene Klage unzulässig sei, wobei er die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte weiterhin - abweichend von den Beklagten zu 1), 3) und 5) - nicht in Zweifel zieht. Wiederum abweichend von den Beklagten zu 1), 3) und 5) sieht der Beklagte zu 4) als vermeintlichen Anknüpfungspunkt für die mit der vorliegenden Klage abzuwehrende Haftung der Klägerin jedenfalls auch den Abschluss des Arbeitsvertrages zwischen der Klägerin und ihm, dem Beklagten zu 4). Die vermeintliche Haftung knüpfe an diesen Vertragsschluss ebenso an wie an das darauffolgende geschäftliche Auftreten des Beklagten zu 4) in Frankreich. Beide Facetten seien derart miteinander verknüpft, dass die Sache insgesamt als arbeitsrechtliche Streitigkeit zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu 4) i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG einzuordnen sei. Das angefochtene Urteil begegne daher insoweit keinen Bedenken. Zurecht habe das Landgericht den ordentlichen Rechtsweg im Verhältnis zum Beklagten zu 4) verneint. Im Übrigen fehle aus den bereits in erster Instanz ausgeführten Gründen aber jedenfalls auch das notwendige Feststellungsinteresse, weil der Beklagte zu 4) sich gegenüber der Klägerin keines Anspruches berühmt habe.
II.
56
Die Klage ist hinsichtlich der Beklagten zu 1), 3) und 5) zulässig und hinsichtlich des Beklagten zu 4) unzulässig, über die Klage gegen den Beklagten zu 2) hat der Senat wegen der teilweisen Berufungsrücknahme nicht mehr zu befinden. Offen kann bleiben, ob der Rechtsstreit dem Senat wegen der erstinstanzlich abgesonderten Verhandlung über die Zulässigkeit überhaupt nur hinsichtlich dieser Frage zur Entscheidung angefallen ist (und deshalb nach Entscheidung über die Zulässigkeit ohne Weiteres vom Landgericht weiter zu behandeln wäre) oder infolge der Klagabweisung durch Endurteil insgesamt, also auch hinsichtlich der Begründetheit (so OLG Dresden, Urteil vom 07.05.2009 – 10 U 1816/08, NJW-RR 2009, 1295 [Juris; Tz. 36 f.]; die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 03.03.1958 – III ZR 157/56, BGHZ 27, 15-29, und vom 23.05.1985 – III ZR 57/84 [Juris; Tz. 10, 28], betreffen Rechtsmittel gegen Zwischenurteile). Denn mit Blick auf die fehlende Entscheidungsreife in der Sache vor Beweiserhebung über das französische Recht erscheint dem Senat jedenfalls die Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO an das Landgericht geboten.
57
1. Im Verhältnis zu den Beklagten zu 1), 3) und 5) folgt die Zuständigkeit des Landgerichts aus Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Vor diesem Hintergrund konnte das klageabweisende Prozessurteil im Verhältnis zu den Beklagten zu 1), 3) und 5) keinen Bestand haben. Die Klage war gegenüber den Beklagten zu 1), 3) und 5) auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig. Insbesondere fehlt der Klägerin gegenüber diesen drei Beklagten, die unmissverständlich und konkret in Gestalt der in Frankreich gegen die hiesige Klägerin erhobenen Leistungsklage Ansprüche geltend gemacht haben, nicht das notwendige Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO.
58
a) Die Zuständigkeit des Landgerichts folgt aus Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Keine Rolle spielt für die Frage der Zuständigkeit, ob für die Anspruchsprüfung in materieller Hinsicht deutsches oder französisches Recht Anwendung findet. Ein gesetzlicher Gleichlauf zwischen internationaler Zuständigkeit und anzuwendendem materiellem Recht findet nicht statt (BGH, Urteil vom 09.07.2009 – Xa ZR 19/08, NJW 2009, 3371 [Juris; Tz. 13]; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, EuGVVO Art. 7 Rn. 62).
59
(1) Im Ergebnis der Erörterungen geht der Senat davon aus, dass eine ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts auf der Grundlage des § 22 b) des Händlervertrags vom 01.04.2010 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 EuGVVO ausscheidet, weil es sich selbst bei einem im Ausgangspunkt weiten Verständnis von der Anwendbarkeit des Vertrages, wie dessen § 1 sie im Prinzip nahelegt, nicht um eine vertragliche Streitigkeit handelt. Der Streitgegenstand ist nicht vertraglicher Natur.
60
(a) Die von der Beklagten zu 1) reklamierte Haftung der Klägerin ist nicht vertraglicher Natur. Den Streitgegenstand bestimmt auch im Fall der negativen Feststellungsklage allein die klagende Partei mit ihren Anträgen und dem zur Begründung vorgetragenen Lebenssachverhalt (BGH, Urteil vom 29.01.2013 – KZR 8/10, GRUR-RR 2013, 228 [Juris; Tz. 14]). Danach ist der von der Klägerin vorgetragene Lebenssachverhalt zur Spezifizierung des Streitgegenstands der negativen Feststellungsklage heranzuziehen. Diese bezieht sich zur Begründung auf die in Frankreich anhängige Klage, so dass zunächst die dortige Anspruchsbegründung maßgeblich ist. Streitgegenstand ist dort ein vermeintlicher Anspruch wegen der am 02.05.2012 erfolgten Kündigung des Händlervertrags und der am 10.05.2012 erfolgten Anstellung des Beklagten zu 4) trotz vermeintlicher Kenntnis der Klägerin von der Wettbewerbsvereinbarung zwischen den Beklagten zu 1) und 4). Es handelt sich um einen einheitlichen Streitgegenstand. Zwar sind in den Anträgen zwei Handlungen der Klägerin als Anknüpfungspunkt für die (verneinte) Haftung genannt. Die Beklagte zu 1) macht indes einen einheitlichen Anspruch geltend, bei dem Kündigung und Anstellung nur Teilaspekte eines einheitlich geplanten und vollzogenen kollusiven Zusammenwirkens in Kenntnis der Wettbewerbsabrede darstellen. In diesem einheitlichen Streitgegenstand ist auch das vom Landgericht für die Zuständigkeitsfrage für maßgeblich erachtete zeitlich nachfolgende Auftreten des Beklagten zu 4) für die Klägerin auf dem französischen Markt enthalten. Unabhängig von der wörtlichen Formulierung der Klageanträge im hiesigen Verfahren einerseits und der Fassung der Leistungsanträge bzw. ihrer Begründung im französischen Verfahren andererseits lässt sich das geschäftliche Agieren des Beklagten zu 4) im Rahmen seiner arbeitsvertraglichen Tätigkeit für die Klägerin von der Einstellung, die zur Begründung eben dieses Arbeitsverhältnisses geführt hat und erkennbar von vornherein auf einen entsprechenden Einsatz auf dem französischen Markt gerichtet war, nicht trennen. Das deckt sich mit der im Verhandlungstermin vor dem Senat durch die Beklagten zu 1), 3) und 5) mündlich erfolgten Klarstellung, der Klägerin werde letztlich nicht die - ausdrücklich als rechtlich zulässig anerkannte - Kündigung des Händlervertrages mit der Beklagten zu 1) vorgeworfen, sondern die zurechenbare Beteiligung an dem Auftreten des Beklagten zu 4) auf dem französischen Markt. In dieses Bild fügt sich auch die Passage auf Seite 17 (a.E.) der französischen Leistungsklage, die den auf 861.650,00 € bezifferten vermeintlichen Schaden der Beklagten zu 1) - anders als die insoweit missverständlichen Ausführungen auf Seite 16 - nicht oder jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne auf die Kündigung des Vertriebsvertrages zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) zurückführt, sondern auf die nahezu gleichzeitige und aus Sicht der Beklagten funktional mit der Händlervertragskündigung zusammenhängende Einstellung des Beklagten zu 4) durch die Klägerin, womit erkennbar nicht die Einstellung als solche gemeint ist, aus der allein der Beklagtenseite naturgemäß kein Schaden entstehen konnte, sondern erst das auf Grundlage dieser Einstellung sodann entfaltete Tätigwerden des Beklagten zu 4) auf dem französischen Markt. Der eigentliche Anknüpfungspunkt für die beklagtenseits reklamierte Haftung der Klägerin liegt damit in einem Bereich, der mit der Kündigungsberechtigung – die äußerstenfalls noch als vertragliche Auseinandersetzung zu begreifen gewesen wäre – nichts mehr zu tun hat. Dann aber ist für ein Abstellen auf die vertragliche Gerichtsstandsvereinbarung kein Raum.
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Wollte man demgegenüber - anders als der Senat - das Vorbringen dahin verstehen, mit der Feststellungsklage abzuwehrende Ansprüche würden auf die Kündigung des Händlervertrags unabhängig von der Anstellung des Beklagten zu 4) und dessen Tätigkeit gestützt, wäre hierfür eine ausschließliche Zuständigkeit des Landgerichts Stralsund zu bejahen. Zugleich wäre deutsches Haftungsrecht anzuwenden, auf dessen Grundlage Ansprüche nicht bestehen.
62
(b) Im Verhältnis zu den Beklagten zu 3) und 5) kann auf die vertragliche Gerichtsstandsvereinbarung auch deshalb nicht zurückgegriffen werden, weil die Beklagten zu 3) und 5) am Vertrag nicht beteiligt waren. Eine Drittwirkung der Prorogation käme allenfalls bei Zustimmung oder Rechtsnachfolge (EuGH, Urteil vom 07.02.2013 – C-543/10, EuZW 2013, 316 [Juris; Tz. 29 ff.]; OLG Stuttgart, Urteil vom 23.12.2003 – 3 U 147/03, TranspR 2004, 406 [Juris; Tz. 36 f.]; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, EuGVVO Art. 25 Rn. 51 ff. m.w.N.) sowie gegen persönlich haftende Gesellschafter (vgl. BGH, Urteil vom 12.11.1990 – II ZR 249/89, MDR 1991, 737 [Juris; Tz. 8], für eine Schiedsvereinbarung; Zöller/Schultzky, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 38 Rn. 13 m.w.N.) in Betracht. Keine dieser Fallgruppen ist hier einschlägig. Der von der Klägerin - ohne Norm- oder Fundstellenangabe - herangezogene Gedanke, wer sich für seine Ansprüche zumindest indirekt auf den Vertrag stütze, müsse sich konsequenterweise auch die dortige Gerichtsstandsvereinbarung entgegenhalten lassen, trägt nicht.
63
(2) Die Zuständigkeit des Landgerichts folgt indes aus Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Danach ist der besondere Gerichtstand der unerlaubten Handlung an dem Ort gegeben, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist der Begriff der unerlaubten Handlung autonom und ohne Rückgriff auf das nationale Recht auszulegen. In diesem Gerichtsstand sind alle Klagen zulässig, mit denen eine Schadenshaftung geltend gemacht wird, die nicht an einen Vertrag im Sinn des Art. 7 Nr. 1 EuGVVO anknüpft (EuGH, Urteil vom 21.04.2016 – C-572/14, GRUR 2016, 927 [Juris; Tz. 32]; BGH, Urteil vom 29.01.2013 – KZR 8/10, GRUR-RR 2013, 228 [Juris; Tz. 12], zur alten Fassung in Art. 5 Brüssel-I-VO). Auch die negative Feststellungsklage fällt unter diese Regelung (EuGH, Urteil vom 25.10.2012 – C-133/11, NJW 2013, 287 [Juris; Tz. 36]; BGH, Urteil vom 29.01.2013 – KZR 8/10, GRUR-RR 2013, 228 [Juris; Tz. 14]). Mit der Wendung: „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“, ist sowohl der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs (Erfolgsort) als auch der Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens (Handlungsort) gemeint, so dass der Beklagte nach Wahl des Klägers vor dem Gericht eines dieser beiden Orte verklagt werden kann (EuGH, Urteil vom 25.10.2011 – C-509/09, NJW 2012, 137 [Juris; Tz. 41]; EuGH, Urteil vom 16.06.2016 – C-12/15, NJW 2016, 2167 [Juris; Tz. 28]; BGH, Urteil vom 29.01.2013 – KZR 8/10 [aaO]). So ist etwa bei Ansprüchen wegen einer Kartellabsprache der Abspracheort maßgeblich, wenn das Kartell an einem bestimmten Ort geschlossen wurde (EuGH, Urteil vom 21. Mai 2015 – C-352/13 [Juris; Tz. 44]).
64
(a) Die streitgegenständlichen Ansprüche sind keine - den Anwendungsbereich des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ausschließenden - vertraglichen Ansprüche i.S.v. Art. 7 Nr. 1 EuGVVO, weil die Haftung an das Auftreten des Beklagten zu 4) auf dem französischen Markt und die Mitwirkung der Klägerin an diesem Auftreten - beginnend jedenfalls mit der Einstellung des Beklagten zu 4) zu eben diesem Zweck - anknüpft und diese Handlungen selbst bei einem tendenziell weiten Anwendungsverständnis nicht mehr mit einer etwaigen Verletzung von Pflichten aus dem Händlervertrag zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) in Verbindung stehen. Auch ergibt sich eine vertragliche Natur der reklamierten Haftung nicht aus dem das Wettbewerbsverbot enthaltenden Vertrag des Beklagten zu 4) mit den Beklagten zu 2) und 3); die Klägerin nämlich war an diesem Vertrag nicht beteiligt. Ob die vorliegend nicht - jedenfalls nicht unmittelbar - streitbegriffene Haftung des Beklagten zu 4) gegenüber den übrigen Beklagten vertraglicher Natur ist, spielt keine Rolle.
65
(b) Der Handlungsort ist Greifswald und damit im Inland belegen. Die Klägerin schloss hier bzw. von hier aus den Arbeitsvertrag mit dem Beklagten zu 4) und entsandte ihn von dort aus als ihren Arbeitnehmer auf den französischen Markt. Unerheblich ist, ob der Erfolgsort in Frankreich angesiedelt und deshalb zugleich eine Zuständigkeit eines französischen Gerichts begründet ist. Ebenso wenig kommt es auf die von den Parteien diskutierte Frage an, ob der Ort der vermeintlich schadenstiftenden Handlung des Beklagten zu 4) der Klägerin als vermeintlicher Teilnehmerin (“Beihilfe“) in zuständigkeitsbegründender Weise zugerechnet werden kann (ablehnend EuGH, Urteil vom 16.05.2013 – C-228/11, NJW 2013, 2099 [Juris; Tz. 40 f.]; EuGH, Urteil vom 03.04.2014 – C-387/12, NJW 2014, 1793 [Juris; Tz. 40]; BGH, Urteil vom 18.10.2016 – VI ZR 618/15, WM 2017, 323 [Juris; Tz. 18]; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, EuGVVO Art. 7 Rn. 56 m.w.N.).
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(c) Ausgehend von der durch Art. 7 Nr. 2 EuGVVO begründeten Zuständigkeit des Landgerichts besteht weder Veranlassung noch Raum für eine weitere Zurückstellung einer prozessbeendenden Sachentscheidung in Abhängigkeit vom Fort- bzw. Ausgang des in Frankreich anhängigen Leistungsklageverfahrens. Insoweit war insbesondere für die durch den Beklagten zu 4) hilfsweise beantragte Aussetzung kein Raum, zumal der Beklagte zu 4) mit seinem vorrangigen Sachantrag obsiegt hat und der Eventualfall damit nicht eingetreten ist.
67
Zwar ist der hier - lediglich - gegebene deliktische Gerichtsstand des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO im Unterschied zu der nach Auffassung der Klägerin durch eine Gerichtsstandsvereinbarung begründeten Zuständigkeit nicht ausschließlich (vgl. Art. 31 Abs. 2 EuGVVO). Der „Kernpunkt“ des hiesigen und des in Frankreich anhängigen Verfahrens ist der Gleiche (zur autonomen Auslegung des Art. 29 EuGVVO und dem daraus folgenden „weiten Verfahrensgegenstandsbegriff“ siehe Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, EuGVVO Art. 29 Rn. 25 m.w.N.). Es stellt sich daher nach Maßgabe des Art. 29 Abs. 2 EuGVVO die Frage, wie sich der vorliegende Prozess zu dem Verfahren vor dem französischen Gericht verhält und ob ggf. von hiesiger Seite eine Unzuständigkeit auszusprechen ist (Art. 29 Abs. 3 EuGVVO). Diese Frage ist indes unter Berücksichtigung der durch den Senat mit Beschluss vom 29.11.2017 (Bd. III Bl. 451 / 451-Rs. d.A.) eingeholten Mitteilung des Handelsgerichts in Toulon vom 31.01.2019 (Bd. IV Bl. 479 ff. / 542 ff. d.A.) dahin zu beantworten, das dem französischen Verfahren kein Vorrang gebührt.
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Da in Frankreich augenscheinlich bereits im Erkenntnisverfahren Parteibetrieb herrscht, die Klage also zunächst auf Veranlassung des Klägers durch den Gerichtsvollzieher an den Prozessgegner zuzustellen und erst dann bei Gericht einzureichen ist, ist für die Bestimmung der Priorität - bezogen auf das französische Verfahren - die Vorschrift des Art. 32 Abs. 1 Satz 1 lit. b) EuGVVO maßgeblich. Damit gilt das französische Gericht spätestens seit dem 02.11.2015 als angerufen, weil an diesem Tag das Amtsgericht Greifswald im Wege der Rechtshilfe (Art. 32 Abs. 1 Satz 2 EuGVVO) die Zustellung an die Klägerin bewirkt hat (Bd. IV Bl. 537-Rs. d.A.), frühestens aber seit dem 01.10.2015 (Eingang der Klage bei dem Gerichtsvollzieher in Frankreich).
69
Hinsichtlich des vorliegenden inländischen Prozesses richtet sich die Priorität nach Art. 32 Abs. 1 Satz 1 lit. a) EuGVVO. Danach kommt es auf den Zeitpunkt der Einreichung der Klage - also den Eingang bei Gericht - an, wenn der Kläger in der Folge nicht versäumt, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, damit die Zustellung an den Beklagten bewirkt werden kann. Beim Landgericht ist die Klage am 18.06.2015 eingegangen. Die Kostenrechnung vom 23.06.2015 wurde indes erst nach Mahnung am 12.08.2015 beglichen. Angeforderte Abschriften und Übersetzungen lagen sodann offenbar bis Mitte September 2015 vor. Die Klage wurde sodann erst am 06.04.2016 zur Zustellung abgesandt und am 11.04.2016 den Beklagten zu 1) und 5) sowie zu einem nicht genauer feststellbaren Zeitpunkt vor dem 27.05.2016 dem Beklagten zu 3) zugestellt. Die Bandbreite möglicher Zeitpunkte, zu bzw. ab denen das Landgericht im hier maßgeblichen Sinne als angerufen gilt, reicht mithin vom 18.06.2015 bis zum 11.04./27.05.2016.
70
Insoweit gilt zunächst, dass die offenbar allein auf Nachlässigkeit der Klägerin zurückzuführende Verspätung der Einzahlung des Kostenvorschusses - § 12 Abs. 1 GKG - jedenfalls eine Rückwirkung auf den Anhängigkeitszeitpunkt, also den 18.06.2015, hindert (MüKoZPO/Gottwald, ZPO, 05. Aufl. 2017, Brüssel-Ia-VO Art. 32 Rn. 2; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, EuGVVO Art. 32 Rn. 2); nur Verzögerungen im Bereich des gerichtlichen Zustellungsbetriebs gehen - ähnlich den innerstaatlich zu § 167 ZPO entwickelten Grundsätzen - nicht zu Lasten der klagenden Partei (OLG Karlsruhe, Urteil vom 28.03.2006 – 8 U 218/05 [Juris; Tz. 63]; Schlosser, in: Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 04. Aufl. 2015, EuGVVO Art. 32 Rn. 2). Es tritt aber eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt ein, in dem der Vorschuss bei Gericht eingegangen ist, mithin auf den 12.08.2015 und damit jedenfalls auf einen Zeitpunkt vor dem 01.10.2015. Ab dem 12.08.2015 nämlich hatte die Klägerin alles ihr für die Herbeiführung des Zustellererfolges nach der Prozessordnung Obliegende getan. Alles in der Folge zur Herbeiführung des Zustellererfolges noch zu Veranlassende, insbesondere die Fertigung von Übersetzungen, oblag von Amts wegen dem angerufenen Gericht und war für die Klägerin nicht weiter beeinflussbar (vgl. Schlosser, in: Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 04. Aufl. 2015, Brüssel-Ia-VO Art. 32 Rn. 2). Das Gericht muss hier mit der Behebung des Zustellhindernisses als angerufen gelten, und zwar mit der Behebung bereits und nur desjenigen Zustellhindernisses, das im Verantwortungsbereich der Klagepartei liegt. Soweit im Schrifttum für den Fall einer nachträglichen Behebung von Zustellerhindernissen vereinzelt die Auffassung vertreten wird, es komme auf die „endgültige Rechtshängigkeit“ nach nationalem Recht an (Prütting/Gehrlein/Pfeiffer, ZPO, 09. Aufl., Brüssel Ia-VO Art. 32 Rn. 5) oder auf den Zeitpunkt der Einlassung des Beklagten auf das Verfahren (Schlosser, in: Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 04. Aufl. 2015, EuGVVO Art. 32 Rn. 2), kann dem jedenfalls für die vorliegende Konstellation nicht beigetreten werden. Ein sachlich einleuchtender Grund, die Klägerin schlechter zu stellen als sie stünde, hätte sie die Klage - mit ausreichendem Kostenvorschuss - überhaupt erst am 12.08.2015 bei Gericht eingereicht, ist nicht ersichtlich (wie hier Gruber FamRZ 2000, 1129 [1133]; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, ZPO, 38. Aufl., EuGVVO Art. 32 Rn. 4; E. Peiffer/M. Peiffer, in: Geimer/Schütze Int. Rechtsverkehr, 58. EL Oktober 2019, VO (EG) 1215/2012 Art. 32 Rn. 12).
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b) Aus den zur Frage der Relevanz der Zuständigkeitsvereinbarung ausgeführten Gründen kann auch für die Frage des materiell anzuwendenden Rechts nicht auf den gekündigten Händlervertrag und die dort getroffene Rechtswahl - zu Gunsten des deutschen Rechts - abgestellt werden. Insbesondere und zumal unter Berücksichtigung der jetzt gegenüber dem Senat erfolgten Klarstellungen von Seiten der Beklagten zu 1), 3) und 5) zeigen bereits die Begründungslinien der in Frankreich erhobenen Leistungsklage, dass der gegen die Klägerin gerichtete Vorwurf, den Händlervertrag gekündigt zu haben, nicht dahingehend zu verstehen ist, der Klägerin habe kein Kündigungsrecht zugestanden bzw. die Kündigung sei - gemessen am Pflichtenprogramm des gekündigten Vertrages - pflichtwidrig bzw. unzeitig erfolgt und die Klägerin hafte deshalb, also gerade wegen eines vertragswidrigen Verhaltens gegenüber der Beklagten zu 1), auf Schadensersatz. Vielmehr greifen die Beklagten zu 1), 3) und 5) die Kündigung des Händlervertrages nicht als solche, sondern allein aus dem Blickwinkel an, es handele sich dabei um ein Element der deliktischen Mitwirkung der Klägerin an dem vertragsbrüchigen Verhalten des Beklagten zu 4). Nur vor diesem Hintergrund erschließen sich insbesondere die Ausführungen der Beklagten zu 1), 3) und 5) gegenüber dem französischen Gericht, die Klägerin sei durch den Beklagten zu 4) zur Kündigung des Händlervertrages gedrängt worden. Dieses vermeintliche Drängen und der von Beklagtenseite angenommene funktionale Zusammenhang zwischen der Kündigung des Vertrages mit der Beklagten zu 1) und der Einstellung des Beklagten zu 4) wären haftungsrechtlich im Hinblick auf die Klägerin ohne Belang, würde die vermeintliche Haftung der Klägerin wegen der Vertragskündigung im Vertrag selbst - also in der bilateralen Rechtsbeziehung (nur) zwischen Klägerin und Beklagter zu 1) - wurzeln.
72
Vielmehr ergibt sich hier die Anwendung französischen materiellen Privatrechts kraft Gesetzes aus Art. 4 Abs. 1 der EG-Verordnung 864/2007 (“Rom II“). Danach ist das Recht desjenigen Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind. Für die materielle Rechtsanwendung sind damit andere Maßstäbe heranzuziehen als diejenigen des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Für das materiell anzuwendende Recht ist unabhängig von den in bzw. von Greifswald aus erfolgten Handlungen der Klägerin auf den Ort abzustellen, an dem sich für die Beklagten zu 1), 3) und 5) der - vermeintliche - Schaden realisiert hat. Das ist unstreitig Frankreich, in dessen Territorium die Beklagten zu 1), 3) und 5) ansässig sind und in dem sie in - vermeintliche - Konkurrenz zur Klägerin in Gestalt des dort für jene auftretenden Beklagten zu 4) getreten sind. Es geht gerade um geschäftliche Einbußen auf dem französischen Markt. Ort des Schadenseintrittes ist somit Frankreich.
73
c) Ob das in der Sache selbst zur Anwendung gelangende - und gemäß § 293 Satz 1 ZPO wie ein tatsächlicher Umstand zu behandelnde, insbesondere also dem Beweis zugängliche - französische Privatrecht im Ergebnis zu der reklamierten Schadensersatzhaftung der Klägerin gegenüber den Beklagten zu 1), 3) und 5) nach Grund und Höhe führt, kann der Senat aus eigener Sachkunde nicht beurteilen. Das gilt neben etwaigen Besonderheiten der Haftung nach Art. 1134 Code Civil insbesondere für die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang das französische Recht eine (wettbewerbsrechtliche) Haftung wegen bloßer - einfacher - Fahrlässigkeit vorsieht, wie auf Seite 14 der in Frankreich erhobenen Leistungsklage (Bd. I Bl. 137 d.A.) unter Rekurs auf hier nicht bekannte und ohne sachverständige Unterstützung nicht verifizierbare Rechtsprechung des französischen Kassationsgerichthofes ausgeführt, worauf es u.a. ankommen dürfte, nachdem die Klägerin eine Kenntnis von dem vermeintlichen Verstoß des Beklagten zu 4) gegen die Wettbewerbsabrede mit den übrigen Beklagten ausdrücklich bestritten hat (vgl. Seite 7 der Klageschrift vom 15.06.2015 = Bd. I Bl. 9 d.A. / Seite 3 des Schriftsatzes vom 05.07.2016 = Bd. II Bl. 213 d.A.) und die Beklagten diesbezüglich keine Beweisantritte unternommen haben. Die Beklagten haben zwar auf Darlegungsebene die Behauptung aufgestellt, der seinerzeitige klägerische Mitarbeiter R. T. sei durch den Beklagten zu 4) bereits im März 2012 mündlich über das Wettbewerbsverbot in Kenntnis gesetzt worden, hierfür aber weder Herrn T. als Zeugen benannt noch anderweitig Beweis angeboten. Soweit der Beklagte zu 4) sich für die Frage der Kenntniserlangung der Klägerin auf E-Mails vom 10.06.2012 und 17.06.2012 bezieht (vgl. Schriftsatz vom 21.06.2016, Seite 3 = Bd. II Bl. 185 d.A.), ist zwar richtig, dass in diesen - für sich genommen wohl unbestrittenen - E-Mails (Bd. II Bl. 196 ff. d.A.) auf das zwischen dem Beklagten zu 4) und den übrigen Beklagten vereinbarte Wettbewerbsverbot verwiesen wird. Allerdings stellt sich insoweit einerseits die Frage, ob allein hieraus - nach den insoweit einschlägigen Maßstäben des französischen Rechts - auf einen ggf. haftungsbegründenden Vorsatz geschlossen werden kann, denn in beiden E-Mails erwähnt der Beklagte zu 4) das Verbot zwar, ist der Klägerin gegenüber aber gleichzeitig darum bemüht, nachvollziehbar darzutun, dass seine Anstellung bei der Klägerin und die hieran anknüpfende Tätigkeit als Vertriebsleiter in Frankreich nicht in Widerspruch zu diesem Verbot stehen. Zudem kann ohne sachverständige Unterstützung absehbar nicht beurteilt werden, ob nach Maßgabe des französischen Rechts eine ihrem Inhalt nach unterstelltermaßen hinreichende Kenntniserlangung am 10.06.2012 bzw. 17.06.2012, also zeitlich erst nach Einstellung des Beklagten zu 4), unter chronologischen Gesichtspunkten haftungsbegründenden wirken konnte.
74
d) Der Senat sieht nach § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO von einer Selbstentscheidung in der Sache ab und verweist den Rechtsstreit an das Landgericht zurück, weil die materielle Beurteilung nach französischem Privatrecht zu erfolgen hat, das im Rahmen einer Beweisaufnahme festzustellen ist (§ 293 ZPO). Unabhängig davon, ob die Beklagten sich in Anbetracht der erstinstanzlich angeordneten abgesonderten Verhandlung über die Zulässigkeit hinreichend zu Begründetheitsaspekten äußern konnten und ggf. auch vor dem Senat hätten äußern können, erscheint eine Zurückverweisung angesichts des absehbaren Aufwandes und Umfanges der Beweisaufnahme auch bei gebotener Berücksichtigung der Beschleunigungsmaxime hier angezeigt. Mit der klägerseitig mit Schriftsatz vom 25.09.2020 (Bd. IV Bl. 605 ff. d.A.) aufgeworfenen Frage einer Ermessensreduzierung auf Null hat das nichts zu tun. Der für die Aufhebung und Zurückverweisung notwendige Antrag zumindest einer Partei ist - durch die Klägerin - gestellt. Dass die Klägerin ihren Zurückverweisungsantrag nur hilfsweise gestellt hat, ist dabei unschädlich (OLG Rostock, Urteil vom 28.07.2017 - 6 U 131/15, NJOZ 2018, 1972 [1975] = BeckRS 2017, 119622 [Tz. 39]; Zöller/Heßler, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 538 Rn. 4). Insbesondere beinhaltet der Schriftsatz vom 25.09.2020 zwar eine kritische Bewertung der - soweit ersichtlich einhelligen - Auffassung, eine Zurückverweisung könne sich auch auf einen nur hilfsweise gestellten Antrag stützen, aber keine Rücknahme dieses Eventualantrages. Dem Senat erschließt sich nicht, warum ein Zurückverweisungsantrag nicht unter die - nach allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen regelmäßig unbedenkliche - innerprozessuale Bedingung eines Absehens von der parteiseitig primär angestrebten „Durchentscheidung“ gestellt werden können soll.
75
2. Infolge der Berufungsrücknahme (§ 516 Abs. 1 ZPO) im Verhältnis zum Beklagten zu 2) hat der Senat insoweit keine Entscheidung in der Sache zu treffen. Er muss in diesem Zusammenhang auch nicht dazu Stellung beziehen, ob überhaupt – gegenüber dem Beklagten zu 2) – rechtlich wirksam geurteilt werden konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 31.05.2010 – II ZB 9/09, NJW 2010, 3100 [Juris; Tz. 11]; Zöller/Feskorn, ZPO, 33. Aufl. 2020, Vor § 300 Rn. 16), nachdem in Anbetracht des jedenfalls zuletzt nicht mehr beachtlich bestrittenen Versterbens des Beklagten zu 2) vor Klageerhebung im Verhältnis zum Beklagten zu 2) Rechtshängigkeit nicht eingetreten ist (vgl. BGH, Urteil vom 12.06.2002 – VIII ZR 187/01, NJW 2002, 3110 [Juris; Tz. 10]; Zöller/Althammer, ZPO, 33. Aufl. 2020, Vor § 50 Rn. 12).
76
3. Gegenüber dem Beklagten zu 4) ist die Klage durch das Landgericht im Ergebnis zu Recht als unzulässig abgewiesen worden. Das angefochtene Urteil hat daher in diesem Punkt bestand.
77
a) Das folgt zwar nicht aus der vom Landgericht angenommenen Zuständigkeit der deutschen Arbeitsgerichte. Eine solche Zuständigkeit – ihr Vorliegen unterstellt – hätte den Erlass eines klageabweisende Prozessurteils nicht erlaubt. Insoweit hätte das Landgericht vielmehr – nach Abtrennung (§ 145 Abs. 1 Satz 1 ZPO) des Verfahrens gegen den Beklagten zu 4) – von Amts wegen Verweisungsbeschluss gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG erlassen müssen (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 280 Rn. 6). Lediglich bei Annahme einer Zuständigkeit der französischen (Arbeits-) Gerichtsbarkeit – Art. 20 Abs. 1, 22 Abs. 1 EuGVVO – wäre eine Klageabweisung durch Urteil in Betracht gekommen, weil weder die EuGVVO noch das nationale Verfahrensrecht eine grenzüberschreitende Verweisung zulassen.
78
b) Ob eine – ausschließliche (Art. 22 Abs. 1 EuGVVO: „nur ...“) – Zuständigkeit eines französischen (Arbeits-) Gerichts hier begründet ist und die Klage deswegen auf Zulässigkeitsebene erfolglos bleibt, kann der Senat letztlich offen lassen, weil die Zulässigkeit der gegen den Beklagten zu 4) erhobenen Klage jedenfalls am Erfordernis eines rechtlichen Feststellungsinteresses (§ 256 Abs. 1 ZPO) scheitert. Dieses Interesse hängt – wie stets bei negativen Feststellungsklagen – davon ab, ob sich das Verhalten des Beklagten zu 4) der Klägerin gegenüber als eine Anspruchsberühmung darstellt (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2019, § 256 Rn. 7 m.w.N.). Das ist im Ergebnis zu verneinen.
79
Zwar ist nicht erforderlich, dass die beklagte Partei behauptet, bereits eine durchsetzbare Forderung gegenüber der klagenden Partei zu haben. Deren Rechtsstellung ist vielmehr schon dann schutzwürdig betroffen, wenn geltend gemacht wird, aus dem bestehenden Rechtsverhältnis könne sich unter bestimmten Voraussetzungen, deren Eintritt noch ungewiss ist, ein Anspruch gegen sie ergeben. Demgegenüber enthält die bloße Ankündigung, unter bestimmten Voraussetzungen in eine Prüfung einzutreten, ob ein Anspruch gegen die Klagepartei besteht, noch keinen ernsthaften hinreichend bestimmten Eingriff in dessen Rechtssphäre, der ein alsbaldiges Interesse an gerichtlicher Klärung eines Rechtsverhältnisses der Parteien begründen könnte (BGH, Urteil vom 10.10.1991 – IX ZR 38/91, NJW 1992, 436 = WM 1992, 276 [Juris; Tz. 14]; BGH, Urteil vom 12.07.2011 – X ZR 56/09, GRUR 2011, 995 [Juris; Tz. 15]). Das Verhalten bzw. Auftreten des Beklagten zu 4) gegenüber der Klägerin ist insoweit analog §§ 133, 157 BGB auszulegen (vgl. BGH, Urteil vom 12.07.2011 – X ZR 56/09, GRUR 2011, 995 [Juris; Tz. 16]).
80
Ausgehend von diesen Maßstäben ist ein Feststellungsinteresse hier zu verneinen. Dabei kann offen bleiben, ob die Einschätzung des Beklagten zu 4) zutrifft, dass die bloße - angebliche - Äußerung des Beklagten zu 4) vom 09.06.2015 gegenüber der Klägerin, „dass ihm keine andere Lösung zur Verfügung stehe, als die Klägerin in das Verfahren in Frankreich einzubeziehen“ (vgl. Seite 5 der Replikschrift vom 05.07.2016 = Bd. II Bl. 215 d.A.), noch keine hinreichend konkrete Inanspruchnahme im Sinne einer Anspruchsgeltendmachung darstellt, sondern derart ambivalent erscheint, dass darin ohne Weiteres auch nur die Ankündigung liegen kann, mögliche (Regress-) Ansprüche zu prüfen bzw. gerichtlich prüfen zu lassen. Jedenfalls nämlich steht die bezeichnete angebliche Behauptung nicht fest. Der Beklagte zu 4) hat sie ausdrücklich bestritten und die Klägerin hat keine Beweisantritte unternommen, insbesondere die angebliche E-Mail vom 09.06.2015 nicht vorgelegt. Es liegt nicht einmal ein als solches gekennzeichnetes Wortlautzitat aus dieser - angeblichen - E-Mail vor. Zwar könnte diese Frage - weil die Zulässigkeitsebene betreffend - auch freibeweislich geklärt werden. Auch im Freibeweisverfahren gilt aber keine Amtsermittlung, sondern lediglich (analog § 56 Abs. 1 ZPO) Amtsprüfung (Zöller/Althammer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 56 Rn. 4 m.w.N.). Es wäre daher Sache der Klägerin gewesen, wenigstens die betreffende E-Mail vorzulegen (und ggf. auch deren Authentizität zu belegen). Das aber hat die Klägerin – auch auf wiederholten Hinweis des Beklagten zu 4) – nicht getan.
81
c) Soweit die Klägerin mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 21.09.2020 eine Erledigungserklärung im Hinblick auf den Beklagten zu 4) abgegeben hat, hatte dies auf den Prozessstoff und die durch den Senat zu treffende Entscheidung keinen Einfluss. Unabhängig davon, ob tatsächlich - wie wörtlich formuliert - das Rechtsmittel als solches Gegenstand der Erledigungserklärung sein soll oder nicht vielmehr die - im Rechtsmittelverfahren anhängige - Klage, wofür der Umstand spricht, dass das von der Klägerin benannte vermeintliche Erledigungsereignis den Klage- und nicht (bloß) den Rechtsmittelanlass betrifft und die ersichtliche Intention der Klägerin darin besteht, die Abweisung der Klage im Verhältnis zum Beklagten zu 4) gerade nicht in Rechtskraft erwachsen zu lassen, ist nach Schluss der mündlichen Verhandlung (§§ 296a Satz 1, 525 Satz 1 ZPO) und somit auch hier für neue Sachanträge, insbesondere auch für den mit einer Erledigungserklärung im Wege der Antragsumstellung herbeizuführenden Erledigungsfeststellungsantrag, kein Raum (Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 296a Rn. 2a, m.w.N.) Der Senat war insoweit auch nicht veranlasst, den Schriftsatz vom 21.09.2020 vor Urteilserlass den übrigen Parteien zu übermitteln, zumal selbst eine förmliche Zustellung an den Beklagten zu 4) nicht zu einer Rechtshängigkeit des in der Sache offenkundig angestrebten Erledigungsfeststellungsantrages geführt hätte (Greger, a.a.O.).
82
Abgesehen von Vorstehendem hätte ein Erledigungseintritt in der Sache letztlich auch nicht festgestellt werden können, weil aus den oben ausgeführten Gründen eine Anspruchsberühmung auch in der Zeit vor dem mündlichen Verhandlungstermin vor dem Senat nicht festgestellt werden kann und das notwendige Feststellungsinteresse insoweit bereits bei Klageerhebung gefehlt hat.
III.
83
Zu den prozessualen Nebenentscheidungen ist folgendes auszuführen:
84
1. Die tenorierte Verpflichtung der Klägerin, die zweitinstanzlichen außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 4) zu erstatten, folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Im Übrigen war die Kostenentscheidung (§§ 91 ff. ZPO) in Anbetracht der Zurückverweisung dem weiteren Verfahren vor dem Landgericht vorzubehalten (OLG Rostock, Urteil vom 28.07.2017 – 6 U 131/15, NJOZ 2018, 1972 [1981]; Zöller/Heßler, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 538 Rn. 58 m.w.N.).
85
2. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Dabei war das Urteil auch hinsichtlich der Zurückverweisung betreffend das Prozessrechtsverhältnis der Klägerin zu den Beklagten zu 1), 3) und 5) – obgleich das Urteil selbst insofern keinen im eigentlichen Sinne vollstreckungsfähigen Inhalt aufweist – mit Rücksicht auf die rechtlichen Folgewirkungen gemäß § 775 f. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären (OLG Rostock, Urteil vom 28.07.2017 – 6 U 131/15, NJOZ 2018, 1972 [1981]; OLG München, Urteil vom 18.09.2002 – 27 U 1011/01, NZM 2002, 1032 [Juris; Tz. 75]; Zöller/Heßler, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 538 Rn. 59 m.w.N.).
86
3. Die Verlustigerklärung im Verhältnis zum Beklagten zu 2) folgt aus § 516 Abs. 3 Satz 2 ZPO.
87
4. Anlass, die Revision zuzulassen, bestand nicht (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
88
5. Für die Streitwertfestsetzung (§ 63 Abs. 2 Satz 1 GKG) war von den Nennbeträgen der abzuwehrenden vermeintlichen Forderungen der Beklagten zu 1) bis 5) gegen die Klägerin auszugehen.
89
a) Dabei kommt es, wie im hiesigen Beschluss vom 29.11.2017 (Az.: 2 W 12/17) bereits ausgeführt, für die Gerichtsgebühren zu einer Addition der von den verschiedenen Beklagten reklamierten bzw. vermeintlich reklamierten Ansprüche gemäß § 39 Abs. 1 GKG, soweit sie nicht der Sache nach identische Schadenspositionen zum Gegenstand haben (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 5 Rn. 3 m.w.N.). Für die Rechtsanwaltsgebühren der Parteien war der jeweilige Umfang der Prozessbeteiligung zu berücksichtigen, wobei von einer Wertfestsetzung betreffend den Beklagten zu 2) abzusehen war, weil im Verhältnis zum Beklagten zu 2) mangels wirksamer Klagezustellung ein Prozessrechtsverhältnis, aus dem sich für den Beklagten zu 2) bzw. dessen Erben potentiell Kostenerstattungsansprüche ergeben könnten, nicht zur Entstehung gelangt ist.
90
b) Im Einzelnen gilt folgendes:
91
Die Werte der vermeintlichen Forderungen der Beklagten zu 2), 3) und 5) sind in der vermeintlichen Forderung der Beklagten zu 1) enthalten, weil es bei der vermeintlichen Forderung der Beklagten zu 5) um eine ausdrücklich umsatzanteilige und damit rechnerisch auf eine Teilmenge des vermeintlichen Anspruches der Beklagten zu 1) beruhende Verlustberechnung und im Fall der Beklagten zu 2) und 3) zwar um betragsmäßig pauschalierten, gleichwohl aber prozentual an den Kaufpreis für die Anteile an der Beklagten zu 1) bezogenen Schadensersatz geht und damit letztlich wiederum um den in den Umsatzzahlen zum Ausdruck kommenden Unternehmenswert, so dass insoweit eine Addition ausscheidet. Davon ist auch die landgerichtliche Wertfestsetzung - stillschweigend - ausgegangen.
92
Die vermeintliche Forderung des Beklagten zu 4) stellt sich als Regress wegen einer möglichen (gesamtschuldnerischen Mit-) Haftung des Beklagten zu 4) gegenüber den Beklagten zu 1), 2), 3) und 5) dar, so dass mit Rücksicht auf den akzessorischen Charakter dieser Forderung der Wert nicht weiter gehen kann, sich also wiederum in dem Nennbetrag der vermeintlichen Forderung der Beklagten zu 1) gegen die Klägerin erschöpft.
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Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 6. Kammer - vom 28. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade vom 28. Oktober 2019, soweit dieser der Antragstellerin vorläufigen Rechtsschutz im Wege zweier einstweiliger Anordnungen (erstens: Verbot einer Veröffentlichung der Formulierung „Nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln durch Ekel erregende und unhygienische Zustände“ zur Kontrolle vom 2. Juli 2019; zweitens: Gebot der Löschung der übrigen Informationen zu dieser Kontrolle mit Ablauf des 1. Februar 2020) gewährt hat, bleibt mangels Begründetheit ohne Erfolg.
2
Im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss dem auf vorläufiges Unterbleiben der beabsichtigten Veröffentlichung gerichteten Eilantrag der Antragstellerin teilweise entsprochen. Die vom Antragsgegner hiergegen dargelegten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung sich der Senat im Beschwerdeverfahren gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen eine Abänderung des Beschlusses im Sinne des Antragsgegners nicht.
3
Der Eilantrag der Antragstellerin ist zulässig (1.) und - jedenfalls - im durch das Verwaltungsgericht zugesprochenen Umfang begründet (2.). Dass er auch darüber hinaus - im durch den angefochtenen Beschluss (rechtskräftig) abgelehnten Umfang - begründet gewesen ist, trägt für das vorliegende Verfahren nichts aus, weil die Antragstellerin insoweit eine Beschwerde nicht eingelegt hat (3.).
4
1. Das Eilbegehren der Antragstellerin ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zulässig.
5
a) Grundsätzliche Bedenken gegen seine Statthaftigkeit bestehen nicht.
6
aa) Die vorläufige Untersagung einer Veröffentlichung überhaupt (dem „Ob“ nach und von Anfang an) oder eines bestimmten Veröffentlichungsinhalts (dem „Wie“ nach, hier: der Formulierung „Nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln durch Ekel erregende und unhygienische Zustände“) kann mit der einstweiligen Sicherungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO erstrebt werden. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
7
bb) Die verwaltungsgerichtlich angeordnete Löschung einer zunächst erfolgenden Veröffentlichung eines bestimmten Inhalts - hier der „übrigen Informationen“ außer der verbotenen o.g. Formulierung - zu einem bestimmten Zeitpunkt kann an sich vorläufig mit einer einstweiligen Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erstritten werden. Nach dieser Norm sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis - hier: dem „Wie lange“ nach - zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Allerdings ist das Begehren der Antragstellerin im vorliegenden Eilrechtsstreit auch hinsichtlich der „übrigen Informationen“ aus dem geplanten Veröffentlichungstext (Bl. 2 der GA = Bl. 88 der BA 001) nicht nur auf ein Löschungsgebot, sondern auf ein Veröffentlichungsverbot (ein Unterbleiben der Veröffentlichung) gerichtet (vgl. Bl. 1 der GA). Mit der zweiten einstweiligen Anordnung hat das Verwaltungsgericht ersichtlich auf dieses Begehren Bezug genommen und ihm nur teilweise - nämlich zeitlich erst ab dem 2. Februar 2020 - entsprochen; für den davor liegenden Zeitraum bis einschließlich 1. Februar 2020, 24.00 Uhr hat es den Eilantrag hingegen abgelehnt und die Veröffentlichung der „übrigen Informationen“ mithin für zulässig erachtet. Nach alledem stellt sich die zweite einstweilige Anordnung als ein auf diesen Zeitpunkt aufschiebend befristetes Veröffentlichungsverbot dar, für das auch in dieser Hinsicht ein Antrag auf Erlass einer Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft ist.
8
b) Zu Recht hat das Verwaltungsgericht ferner entschieden, dass der Statthaftigkeit eines Antrags auf Erlass derartiger einstweiligen Anordnungen nach § 123 Abs. 1 VwGO im vorliegenden Fall nicht die Vorrangregel aus § 123 Abs. 5 VwGO entgegensteht. Nach dieser Norm ist in den Fällen der §§ 80, 80a VwGO vorläufiger Rechtsschutz zwar (vorrangig) auf den dort geregelten Wegen zu suchen. Derartige prozessuale Möglichkeiten, die auf einen wirksamen vorläufigen Schutz vor Veröffentlichung hinausliefen, scheiden hier jedoch aus.
9
aa) Bei isolierter Betrachtung liegt die von diesen Vorschriften vorausgesetzte Anfechtungssituation ohnehin nicht vor. In der Hauptsache wäre nämlich hinsichtlich beider Begehren der Antragstellerin stattdessen eine (ausnahmsweise vorbeugende) negative allgemeine Leistungsklage im Sinne der §§ 43 Abs. 2 Satz 1, 111 Satz 1, 113 Abs. 4 VwGO (Unterlassungsklage) mit dem Ziel, ein schlicht hoheitliches Verwaltungshandeln (einen Realakt), hier: die Veröffentlichung eines bestimmten Inhalts von Anfang an oder ab einem zukünftigen Zeitpunkt, zu verhindern, statthaft. Eine solche Klage hat die Antragstellerin zwar bislang nicht erhoben. Ein Erlass einstweiliger Anordnungen ist jedoch nach § 123 Abs. 1 VwGO, wie ausgeführt, auch bereits vor der Klageerhebung in der Hauptsache zulässig. Nur eine Frage des Rechtsschutzbedürfnisses (§ 242 BGB analog) wäre es, ob eine solche Klage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über das Eilbegehren (namentlich in zeitlicher Hinsicht) noch zulässigerweise erhoben werden kann. Das ist bei der hier einschlägigen, nicht fristgebundenen Unterlassungsklage, bei der hier auch eine Verwirkung des Klagerechts nicht in Rede steht, der Fall.
10
bb) Ein Vorrang des einstweiligen Rechtsschutzes nach den §§ 80, 80a VwGO folgt im vorliegenden Einzelfall auch nicht aus der Existenz des Schreibens des Antragsgegners an die Antragstellerin vom 24. September 2019 (Bl. 88 f. der BA 001). Ein nach diesen Vorschriften eröffneter, vorrangig in Anspruch zu nehmender Eilrechtsschutz geht damit nicht einher.
11
Das gilt zum einen für einen automatischen Eintritt der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO) einer gegen dieses Schreiben gerichteten Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO durch deren Erhebung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 VwGO), zum anderen aber auch für einen etwaigen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer solchen Klage. Denn beide Varianten setzen voraus, dass es sich bei diesem Schreiben um einen Bescheid handelt, der einen belastenden, verbindlich feststellenden Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 NVwVfG dahingehend enthält, dass die streitige Veröffentlichung dem Grunde nach und in dem vom Antragsgegner beabsichtigten Umfang (nach Inhalt und Dauer) rechtlich zulässig sei, der diese Veröffentlichung mithin im Wege bestandskraftfähiger verbindlicher Einzelfallregelung rechtfertigen sollte. Das ist nicht der Fall.
12
(1) Einen solchen Regelungscharakter versucht der Antragsgegner diesem Schreiben im Eilverfahren zwar zu verleihen, indem er nachträglich seinen subjektiven Willen zu einer dahingehenden Deutung des Schreibens betont (vgl. Schriftsatz v. 15.10.2019, Bl. 12 f. der GA).
13
(2) Jedoch ist die Frage, ob es sich bei einem behördlichen Schreiben um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG handelt und welchen Inhalt bejahendenfalls eine solche Verfügung hat, entsprechend §§ 133, 157 BGB aus der Sicht eines durchschnittlichen objektivierten Empfängers in der Rolle des Adressaten zu beantworten (vgl. Senatsbeschl. v. 12.7.2019 - 13 OB 350/18 -, juris Rn. 18). Danach scheidet hier eine Deutung als Verwaltungsakt aus.
14
(a) Zwar ist dem Schreiben vom 24. September 2019 eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt worden, in welcher auf eine angebliche Klagemöglichkeit zum Verwaltungsgericht Stade binnen eines Monats nach Bekanntgabe hingewiesen wurde. Dieser formale Aspekt allein führt jedoch noch nicht zu einem Regelungscharakter des Schreibens. Anhand dieser Rechtsbehelfsbelehrung allein musste ein objektivierter Empfänger nicht davon ausgehen, dass der Antragsgegner vorliegend die rechtliche Zulässigkeit der zuvor im Schreiben avisierten Veröffentlichung verbindlich regeln wollte. Im Übrigen wäre auch die Rechtsbehelfsbelehrung nicht eindeutig, weil sie zusätzlich - vom Standpunkt des Antragsgegners aus inkonsequent - zusätzlich einen Hinweis auf einen Eilantrag gegen die Veröffentlichung nach § 123 (Abs. 1) VwGO enthält.
15
(b) Seinem sonstigen Inhalt nach kann dem Schreiben vom 24. September 2019 vom objektiven Empfängerhorizont aus keinerlei Anhaltspunkt auf die konkret-individuelle Regelung einer Veröffentlichungsbefugnis des Antragsgegners mit Bezug auf die Kontrolle vom 2. Juli 2019 entnommen werden. Vielmehr enthält das Schreiben lediglich die Ankündigung, am 4. Oktober 2019 eine im Einzelnen textlich bezeichnete Veröffentlichung (= Realakt, schlicht hoheitliches Verwaltungshandeln) vorzunehmen.
16
(c) Auch außerhalb des Schreibens fehlt es an Umständen, die ein Bedürfnis des Antragsgegners danach erkennen ließen, seine eigene Befugnis zu einem bestimmten Informationshandeln im Vorwege gegenüber der Veröffentlichungsbetroffenen durch verbindliche, bestandskraftfähige Einzelfallregelung festzustellen; ganz abgesehen davon, dass eine Rechtsgrundlage für ein derartiges „gestuftes“ Vorgehen nicht ersichtlich ist und eine Deutung des Geschehens, die zu einem rechtswidrigen Verwaltungshandeln führte, im Zweifel nicht zugrunde zu legen ist (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl. 2019, § 35 Rn. 55). § 40 Abs. 3 Satz 1 LFBG sieht lediglich eine Anhörung des Betroffenen im Vorfeld einer Veröffentlichung vor. Diese ist gegenüber der Antragstellerin bereits unter dem 20. August 2019 erfolgt (vgl. Bl. 65 der BA 001). Das Schreiben vom 24. September 2019 deutet der Senat nach alledem lediglich als Ergänzung und Konkretisierung dieser Anhörung, namentlich im Hinblick auf die Einzelheiten des konkret ins Auge gefassten Veröffentlichungstextes.
17
2. Der Antrag auf Erlass einstweiliger Anordnungen nach § 123 Abs. 1 VwGO ist entgegen der Ansicht des Antragsgegners jedenfalls im durch das Verwaltungsgericht zusprechend tenorierten Umfang begründet.
18
a) Das gilt zunächst für das vorläufige Verbot der vom Antragsgegner hier beabsichtigten Veröffentlichung der Formulierung „Nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln durch Ekel erregende und unhygienische Zustände“ als Beschreibung eines bei der Antragstellerin am 2. Juli 2019 angeblich festgestellten Verstoßes gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften.
19
Denn gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 VwGO sind ein auf Unterlassung einer Veröffentlichung dieser Formulierung gerichteter Anordnungsanspruch der Antragstellerin sowie ein Anordnungsgrund (eine besondere Dringlichkeit) glaubhaft gemacht. Letzterer folgt daraus, dass der Antragsgegner die in Rede stehende Veröffentlichung bereits seit dem 4. Oktober 2019 plant und hiervon keinen Abstand genommen hat. Ein Anordnungsanspruch ist voraussichtlich in Gestalt eines allgemeinen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - BVerwG 6 C 9.11 -, BVerwGE 141, 329, juris Rn. 22) gegeben, welcher voraussetzt, dass durch die hoheitlich veranlasste Veröffentlichung rechtswidrig in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen oder sonstige subjektive Rechte des Betroffenen eingegriffen und damit ein rechtswidriger Zustand geschaffen würde (vgl. Senatsbeschl. v. 25.7.2014 - 13 ME 97/14 -, juris Rn. 9). Diese Voraussetzungen sind hier aller Voraussicht nach erfüllt, weil die Veröffentlichung der streitigen Formulierung, würde sie durchgeführt, insgesamt ohne Rechtfertigung geschähe, damit rechtswidrig wäre und die Antragstellerin dadurch in ihrem Grundrecht der freien Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1, 19 Abs. 3 GG) verletzte. Die vom Antragsgegner hiergegen angeführten Argumente erweisen sich als nicht stichhaltig.
20
aa) Eine Rechtfertigung der Veröffentlichung insgesamt - und damit auch der umstrittenen Formulierung - ist im vorliegenden Fall entgegen der Beschwerde nicht bereits durch behördliche Einzelfallregelung bewirkt worden. Denn das Schreiben des Antragsgegners an die Antragstellerin vom 24. September 2019 stellt, wie oben unter I.1.b)bb) ausgeführt, nicht etwa einen die rechtliche Zulässigkeit der Veröffentlichung verbindlich feststellenden Verwaltungsakt dar, der mangels rechtzeitiger Klageerhebung (vgl. § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 80 Abs. 1 NJG) bestandskräftig geworden wäre.
21
bb) Unmittelbar auf die einzig in Betracht kommende gesetzliche Grundlage aus § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB kann die Veröffentlichung des hier beabsichtigten Inhalts ebenfalls nicht gestützt werden.
22
Nach dieser Norm informiert die zuständige Behörde die Öffentlichkeit unverzüglich unter Nennung der Bezeichnung des Lebensmittels oder Futtermittels sowie unter Nennung des Lebensmittel- oder Futtermittelunternehmens, unter dessen Namen oder Firma das Lebensmittel oder Futtermittel hergestellt oder behandelt oder in den Verkehr gelangt ist, u.a. wenn der durch Tatsachen hinreichend begründete Verdacht besteht, dass gegen andere als in Nummern 1 und 2 des § 40 Abs. 1a Satz 1 LFGB (Grenzwerte, Höchstgehalte, Höchstmengen; stoffliche Verwendungsverbote) im Anwendungsbereich des LFGB, die dem Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Gesundheitsgefährdungen oder vor Täuschung oder der Einhaltung hygienischer Anforderungen dienen, in nicht nur unerheblichem Ausmaß oder wiederholt verstoßen worden ist und die Verhängung eines Bußgeldes von mindestens 350 Euro zu erwarten ist. Die Voraussetzungen dieser den Antragsgegner zu einem Informationshandeln ermächtigenden Vorschrift sind nicht vollständig erfüllt.
23
(1) Wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, ist allein der vom Antragsgegner im Text der beabsichtigten Veröffentlichung (vgl. Bl. 2 der GA = Bl. 88 der BA 001) als „Feststellungstag“ bezeichnete Kontrolltag - 2. Juli 2019 - maßgeblich, an dessen Benennung der Antragsgegner sich festhalten lassen muss, so dass vorliegend nur Mängel, die bei der an diesem Tage im Hotelbetrieb der Antragstellerin durchgeführten Routinekontrolle festgestellt und dokumentiert wurden, zu berücksichtigen sind, während Mängel, die an den zwei weiteren Kontrolltagen - Beschwerdekontrolle am 15. Juli 2019 (Bl. 31 ff. der BA 001) und Nachkontrolle am 21. August 2019 (Bl. 67 ff. der BA 001) - festgestellt worden sein mögen, für die Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit der Veröffentlichung keine Rolle spielen.
24
(2) Ob die am 2. Juli 2019 im Rahmen der Routinekontrolle bei der Antragstellerin festgestellten zahlreichen lebensmittelhygiene- und -kennzeichnungsrechtlichen Verstöße (vgl. die zugehörige Niederschrift auf Bl. 1 ff. der BA 001) nach Schwere oder Repetitionsgrad und nach Bußgelderwartung den Tatbestand des § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB erfüllen, kann dahinstehen.
25
(3) Denn diese Norm gibt jedenfalls die im vorliegenden Einzelfall gewählte Rechtsfolge nicht her, das heißt lässt den hier vom Antragsgegner unter der Rubrik „Sachverhalt“ geplanten Inhalt der Veröffentlichung im Hinblick auf eine Wiedergabe des Verstoßes mit der Formulierung „Nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln durch Ekel erregende und unhygienische Zustände“ rechtlich nicht zu.
26
(a) Der Gesetzgeber hat - abgesehen von den nach § 40 Abs. 4 LFGB nachträglich aufzunehmenden Informationen (Berichtigung von Angaben bzw. Mitteilung einer Mängelbeseitigung) - in § 40 Abs. 1a Satz 1 LFGB außer der Bezeichnung des vom Verstoß betroffenen Lebensmittels (vgl. zu Ausnahmen von einem konkreten Produktbezug Senatsbeschl. v. 1.2.2019 - 13 ME 27/19 -, juris Rn. 10) und der Nennung des Lebensmittelunternehmens keine weiteren konkreten Vorgaben für die Veröffentlichung gemacht, so dass die Ausgestaltung der Veröffentlichung hinsichtlich der Art und Weise der Bezeichnung oder Darstellung eines Verstoßes gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften im Wesentlichen der Behörde, hier dem Antragsgegner, obliegt. Eine Veröffentlichung ist nicht zu beanstanden, wenn sie inhaltlich richtig (wahr) und bestimmt (klar) genug ist und möglichst schonend für das betroffene Lebensmittelunternehmen erfolgt sowie dem Zweck des § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB dient (vgl. bereits Senatsbeschl. v. 16.1.2020 - 13 ME 394/19 -, juris Rn. 5 m.w.N.). Diese Anforderungen ergeben sich aus dem verfassungsrechtlichen Gebot, zur Herstellung eines schonenden Ausgleichs (praktischer Konkordanz) zwischen den betroffenen Verfassungsgütern (Grundrecht der Berufsfreiheit der Lebensmittelunternehmen aus Art. 12 Abs. 1, 19 Abs. 3 GG und öffentlicher Verbraucherschutz sowie Lebensmittelsicherheit, abgeleitet auch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) einerseits dem Interesse der Verbraucher an richtiger und vollständiger Information über wesentliche Verstöße von Lebensmittelunternehmen gerecht zu werden, andererseits die Verhältnismäßigkeit eines derartigen staatlichen Informationshandelns zu wahren.
27
Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs soll die Regelung des § 40 Abs. 1a LFGB vor allem eine hinreichende Grundlage für eigenverantwortliche Konsumentscheidungen der Verbraucher schaffen (vgl. BT-Drs. 17/7374, S. 2). Daneben wird die Funktion des § 40 Abs. 1a LFGB hervorgehoben, zur Einhaltung der Bestimmungen des Lebensmittel- und Futtermittelrechts beizutragen. Der drohende Nachteil der Informationsverbreitung soll das einzelne Unternehmen dazu veranlassen, den Betrieb im Einklang mit den lebensmittel- und futtermittelrechtlichen Vorschriften zu betreiben (vgl. BT-Drs. 17/12299, S. 7). Das dient letztlich der Durchsetzung des allgemeinen Zwecks des Gesetzes, Gesundheitsgefahren vorzubeugen und abzuwehren und die Verbraucher vor Täuschung zu schützen (vgl. § 1 Abs. 1 LFGB; BVerfG, Beschl. v. 21.3.2018 - 1 BvF 1/13 -, BVerfGE 148, 40, juris Rn. 32).
28
Nur die Verbreitung richtiger Informationen ist zur Erreichung des mit der Norm legitimerweise verfolgten Informationszwecks überhaupt geeignet, und das Maß eines potentiellen Ansehensverlusts, der das Lebensmittelunternehmen aufgrund der mittelbar in dessen Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) eingreifenden Veröffentlichung trifft, hängt stark von der konkreten Darstellung der Informationen durch die Behörde ab (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.3.2018, a.a.O., Rn. 35, 39). Die zuständigen Behörden haben daher bei der Rechtsanwendung von Verfassungs wegen Vorkehrungen zu treffen, um die Richtigkeit der Informationen sicherzustellen und Fehlvorstellungen der Verbraucher zu vermeiden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.3.2018, a.a.O., Rn. 39; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 28.11.2019 - 9 S 2662/19 -, juris Rn. 19; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.3.2019 - 13 B 67/19 -, juris Rn. 18).
29
Obgleich § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB auf der Tatbestandsseite (verfassungsrechtlich unbedenklich) einen durch Tatsachen hinreichend begründeten Verdacht eines Verstoßes gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften genügen lässt, erfordert eine Veröffentlichung wegen ihrer potentiell massiven Auswirkungen auf die wirtschaftliche Betätigung der Lebensmittelunternehmen doch zumindest eine auf einem ausermittelten Sachverhalt mit dokumentierten Überwachungsergebnissen fußende Annahme eines Verstoßes; ein in tatsächlicher Hinsicht unaufgeklärter Verdacht der Behörde genügt nicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.3.2018, a.a.O., Rn. 43 f.). § 40 Abs. 4 Satz 1 LFGB, welcher bei nachträglichem Offenbarwerden einer Unrichtigkeit der veröffentlichten Informationen oder der zugrunde liegenden Umstände die Pflicht der veröffentlichenden Behörde zu deren Korrektur auslöst, entbindet die Behörde deshalb nicht von der Anforderung, bereits von Anfang an nur solche Informationen zu veröffentlichen und Umstände zugrunde zu legen, die sie im Zeitpunkt der Veröffentlichung aufgrund abschließender Ermittlungen für wahr hielt und halten durfte.
30
Aus alledem resultieren nach Ansicht des Senats folgende Vorgaben für die Art und Weise der Bezeichnung bzw. Darstellung eines Verstoßes im Sinne des § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB:
31
(aa) In erster Linie ist eine detaillierte Beschreibung der tatsächlich festgestellten Mängel angezeigt und zulässig, das heißt desjenigen Sachverhalts, welcher der Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale einer lebensmittelrechtlichen Ge- oder Verbotsnorm und damit der Bejahung eines Verstoßes zugrunde liegt. Eine derartige listenförmige Aufzählung (vgl. Bäcker, Konsumrelevante Veröffentlichungen durch Behörden, JZ 2016, 595, 601), die den bei der lebensmittelrechtlichen Kontrolle konkret festgestellten und dokumentierten Sachverhalt auch in Einzelheiten wiedergibt, ist regelmäßig auch unter dem Aspekt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 12 Abs. 1 Satz 2, 20 Abs. 3 GG) hinreichend schonend und damit rechtlich unbedenklich, weil sie einerseits den Verbraucher umfassend über die aufgetretenen Mängel informiert, auf der anderen Seite aber auch das Ausmaß dieser Mängel eindeutig eingrenzt (vgl. Senatsbeschl. v. 16.1.2020, a.a.O., Rn. 10).
32
(bb) Zusammenfassungen festgestellter Mängel (das heißt des Sachverhalts) unter einem Oberbegriff für Veröffentlichungszwecke werden in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung unter dem Aspekt der von Anfang an anzustrebenden Gewähr größtmöglicher Richtigkeit (siehe oben) mit Recht als rechtfertigungsbedürftig angesehen (vgl. etwa VG Regensburg, Beschl. v. 19.11.2019 - RN 5 E 19.1890 -, juris Rn. 40: „Mängel in der Betriebshygiene/Reinigungsmängel“, „Inverkehrbringen von nicht zum Verzehr geeigneten Lebensmitteln“ und „Verbrauchertäuschung“; VG München, Beschl. v. 9.1.2013 - M 18 E 12.5834 -, juris Rn. 58: „bauliche Mängel“, „Mängel in der Betriebshygiene“ und „Temperaturverstöße“), selbst wenn sie an den Gesetzeswortlaut angelehnt sein mögen (a.A. für die Angabe „Verbrauchertäuschung“ VG Würzburg, Beschl. v. 7.10.2019 - W 8 E 19.1223 -, juris Rn. 43). Denn sie bergen wegen der mit ihnen einhergehenden Pauschalierung und Generalisierung die Gefahr einer Verfälschung des Sachverhalts in sich (vgl. VG München, a.a.O.), namentlich in Gestalt des Potentials, Fehlvorstellungen bei Verbrauchern dahin zu wecken, es sei in einem (sachlich, räumlich, zeitlich oder persönlich) größeren Ausmaß gegen lebensmittelrechtliche Anforderungen verstoßen worden, als dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Soweit diese Gefahr im Einzelfall nicht besteht, können Zusammenfassungen allerdings - z.B. aus Vereinfachungs- und Übersichtlichkeitsgründen bei einer Vielzahl festgestellter gleichartiger oder ähnlicher Verstöße - zulässig sein.
33
(cc) Die Benennung einzelner Rechtsnormen des Lebensmittelrechts, welche diejenigen primären Verhaltenspflichten (Ge- oder Verbote) statuieren, gegen die verstoßen worden sein soll, stellt kein notwendiges Element des Veröffentlichungsinhalts dar; sie muss also in einer Veröffentlichung nach § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB nicht zwingend erfolgen (vgl. VG Freiburg i.Br., Beschl. v. 30.4.2019 - 4 K 168/19 -, juris Rn. 21; VG Würzburg, Beschl. v. 24.7.2019 - W 8 E 19.766 -, juris Rn. 43). Allenfalls kann eine derartige Benennung als nützlich dafür bezeichnet werden, der mit der Bestimmung intendierten Transparenz zu dienen und die informationelle Grundlage der Konsumentscheidung der Verbraucher zu erweitern (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 28.11.2019, a.a.O., Rn. 19 m.w.N.).
34
(aaa) Erfolgt eine Benennung von Rechtsnormen in der Veröffentlichung jedoch, muss diese Mitteilung zutreffend sein, das heißt es dürfen nur solche Normen aufgeführt werden, die am genannten Kontrolltag im Rahmen der Betriebskontrolle geprüft und deren Tatbestandsmerkmale von der kontrollierenden Behörde zu Recht bejaht worden sind. Auch die Bewertung, dass die Tatbestandsmerkmale einer lebensmittelrechtlichen Ge- oder Verbotsnorm aufgrund des festgestellten Sachverhalts erfüllt waren, muss mithin zunächst durch die Behörde vorgenommen und dokumentiert worden sein (notwendige Bedingung), ob diese Subsumtion zu Recht erfolgte, unterliegt sodann ggf. verwaltungsgerichtlicher Kontrolle (hinreichende Bedingung). Hingegen ist es nicht die Aufgabe der Gerichte, eine im (beabsichtigten) Veröffentlichungstext genannte Rechtsnorm, welche die kontrollierende Behörde am Kontrolltag gegenüber dem betroffenen Lebensmittelunternehmen nicht als einschlägigen Verstoßmaßstab angesehen hat, durch eine eigenständige Bewertung des festgestellten Sachverhalts anhand des Kontrollprotokolls einschließlich gefertigter Lichtbilder, Videos etc. anlässlich der anstehenden Veröffentlichung (ggf. erstmalig) für erfüllt zu erachten. Eine derartige Vorgehensweise missachtete die komplexen Zweckzusammenhänge zwischen der Kontrolle nach § 39 Abs. 1 Satz 2 LFGB, der Feststellung von Mängeln im Rahmen dieser Kontrolle, der Bekanntgabe dieser Mängel gegenüber dem betroffenen Lebensmittelunternehmer, dem präventiv-polizeilichen Hinwirken auf Abhilfe nach § 39 Abs. 2 LFGB zumeist noch vor Ort - „unter den Augen“ des Lebensmittelkontrolleurs -, ggf. der Nachkontrolle und der Veröffentlichung der festgestellten Mängel nach § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB sowie der oftmals parallel betriebenen oder jedenfalls nachfolgenden repressiv-polizeilichen Sanktion insbesondere nach Bußgeldvorschriften des Lebensmittelrechts. Ist die Kontrolle selbst schon darauf angelegt, Mängel gegenüber dem kontrollierten Lebensmittelunternehmer zu benennen und diesem gegenüber auf Abhilfe zu drängen, so verträgt es sich damit nicht, diesen erst später in der Veröffentlichungs- oder Bußgeldverhängungsphase mit der betreffenden Rechtsnorm und der aus ihr folgenden primären Verhaltenspflicht zu konfrontieren, welche der Lebensmittelunternehmer nicht erfüllt habe. Bei einem solchen Vorgehen bestünde für das Lebensmittelunternehmen kaum eine Chance, den Mangel zeitnah zu beseitigen. Regelmäßig drohte so die vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollte Konsequenz, erst nach der Veröffentlichung eine Mangelbeseitigung vornehmen zu können und lediglich nachträglich einen unverzüglichen Hinweis hierauf gemäß § 40 Abs. 4 Satz 2 LFGB in die Veröffentlichung aufnehmen zu lassen. Das ließe das betroffene Lebensmittelunternehmen in den Augen der interessierten Verbraucher unter Umständen zu Unrecht als uneinsichtig und/oder nachlässig erscheinen.
35
(bbb) Den Verstoß in einer Veröffentlichung nach § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB jedoch allein durch Nennung einer behördlicherseits für einschlägig erachteten und auch objektiv einschlägigen Rechtsnorm anzugeben, ist nicht hinreichend, weil der Verbraucher mit dieser isolierten Information „nichts anfangen kann“ (so ausdrücklich OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.3.2019, a.a.O., Rn. 30; ähnlich VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 12.2.2020 - 9 S 2637/19 -, juris Rn. 56). Vielmehr ist die Benennung von Rechtsnormen mit einer ausdrücklichen und auch für den juristischen Laien verständlichen Umschreibung des Rechtsverstoßes zu versehen, die es dem Verbraucher eindeutig ermöglicht, den Verstoß zu erkennen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.3.2019, a.a.O.; Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand: 176. EL März 2020, LFGB § 40 Rn. 135). Das meint in erster Linie eine Mitteilung des festgestellten detaillierten oder zulässigerweise zusammengefassten Sachverhalts, der behördlicherseits unter die Voraussetzungen der benannten Vorschrift subsumiert wurde (siehe oben). Ob die bloße Wiedergabe abstrakt-genereller Tatbestandsmerkmale einer benannten Rechtsnorm eine ausreichende Umschreibung darstellt, kann nur einzelfallbezogen - in Abhängigkeit vom Konkretheitsgrad der betreffenden Norm - beurteilt werden; dies kommt nur in Betracht, wenn die Erfüllung speziell formulierter Tatbestandsmerkmale der Vorschrift schlicht bejaht oder verneint werden kann (wenn mithin konkreter (realer) Sachverhalt und abstrakter (vertypter) Sachverhalt einander „auf einen Blick“ entsprechen); hingegen dürfte es ausscheiden, wenn die Tatbestandsmerkmale nur aufgrund im Einzelfall zusammengetragener Sachverhaltselemente im Rahmen einer Abwägung oder eines sonstigen komplexen Bewertungsvorgangs für erfüllt oder nicht erfüllt gehalten werden können.
36
(b) Nach diesen Maßstäben verstieße eine Veröffentlichung der Formulierung „Nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln durch Ekel erregende und unhygienische Zustände“ im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Beschwerde in mehrerlei Hinsicht gegen § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB.
37
(aa) Zum einen ist diese Angabe zweifach unrichtig.
38
(aaa) Wie der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren eingeräumt hat (vgl. Beschwerdeschrift v. 20.11.2019, Bl. 43 f. der GA), handelt es sich bei dieser im Veröffentlichungstext unter der Rubrik „Sachverhalt“ vorgesehenen Formulierung (vgl. Bl. 2 der GA = Bl. 88 der BA 001) schlicht um die Beschreibung des nach § 3 Satz 1 der Lebensmittelhygiene-Verordnung (LMHV) verbotenen Verhaltens der Schaffung einer „Gefahr der nachteiligen Beeinflussung“ beim Herstellen, Behandeln oder Inverkehrbringen von Lebensmitteln unter Wiedergabe der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV enthaltenen Legaldefinition dieser Begrifflichkeit („eine Ekel erregende oder sonstige Beeinträchtigung der einwandfreien hygienischen Beschaffenheit von Lebensmitteln“). Mit ihr wird mithin entgegen der Bezeichnung der Rubrik, unter der die Formulierung in der Veröffentlichung aufgeführt werden soll, nicht im strengen Sinne ein bei der amtlichen Kontrolle vom 2. Juli 2019 festgestellter Sachverhalt (19 einzelne lebensmittelrechtliche Beanstandungen, vgl. Niederschrift vom selben Tage auf Bl. 1 bis 3 der BA 001) mitgeteilt, sondern vielmehr - wie auch das Verwaltungsgericht auf Seite 8 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat - lediglich offenbart, dass im Rahmen der betreffenden Kontrolle ein Sachverhalt festgestellt worden sei, der unter die Tatbestandsmerkmale der Verbotsnorm aus § 3 Satz 1 LMHV zu subsumieren sei. Damit soll im Ergebnis also die veterinäramtsseitige Bejahung des Vorliegens eines tatbestandlich verbotenen Verhaltens und mithin eines Verstoßes gegen lebensmittelrechtliche Verbots- oder Gebotsvorschriften publiziert werden.
39
(bbb) Entgegen dem Beschwerdevorbringen (vgl. Schriftsatz v. 3.8.2020, Bl. 95 der GA) ist zudem am 2. Juli 2019 - dem in der beabsichtigten Veröffentlichung (vgl. Bl. 2 der GA = Bl. 88 der BA 001) genannten Kontrolltag - keine Bejahung eines Verstoßes gegen die dem nationalen Lebensmittelrecht entstammende Norm des § 3 Satz 1 LMHV in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV durch den Antragsgegner erfolgt und dokumentiert worden.
40
(aaaa) Von den 19 im Rahmen der Kontrolle bei der Antragstellerin an diesem Tage festgestellten Mängel bezogen sich drei auf Kennzeichnungspflichten und die übrigen 16 auf lebensmittelhygienische Anforderungen. Die 16 Hygienemängel wurden bei der Betriebskontrolle gegenüber der Antragstellerin ausweislich der Niederschrift des Lebensmittelkontrolleurs C. vom 2. Juli 2019 (Bl. 1 ff. der BA 001) allesamt lediglich als Verstöße gegen Art. 4 Abs. 2 in Verbindung mit verschiedenen Tatbestandsalternativen der Kapitel I, II und V des Anhangs II der VO (EG) Nr. 852/2004 (Allgemeine Lebensmittelhygiene-Verordnung) gewertet. Diese Alternativen (Kapitel I Nrn. 1, 2b und 4, Kapitel II Nr. 1a sowie Kapitel V Nr. 1a, 1b) statuieren verschiedene allgemeine Anforderungen an die Vor- und Instandhaltung sowie Sauberkeit von Oberflächen, Waschgelegenheiten, Bodenbelägen, Gegenständen, Armaturen und Ausrüstungen in Betriebsstätten, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird. Ihre Tatbestandsmerkmale sind jedoch nicht identisch mit denjenigen der §§ 3 Satz 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV im Hinblick auf die daraus zitierte Formulierung „Nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln durch Ekel erregende und unhygienische Zustände“ (vgl. zu deren Verhältnis zu unionsrechtlichen Hygieneanforderungen VG München, Urt. v. 27.1.2016 - M 18 K 13.3809 -, juris Rn. 19). Die drei Kennzeichnungsmängel waren gegenüber der Antragstellerin lediglich als Verstöße gegen § 4 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 der Lebensmittelinformations-Durchführungsverordnung (LMIDV), Art. 9 Abs. 1 lit. f), 24 Abs. 2 in Verbindung mit Anhang III Nr. 6 sowie Anhang X Nr. 3 der VO (EU) Nr. 1169/2011 vom 25. Oktober 2011 (Lebensmittelinformations-Verordnung) und § 9 Abs. 1, Abs. 6 Nr. 5 der Zusatzstoff-Zulassungsverordnung (ZZulV) gewertet worden.
41
Aus der Bejahung der Tatbestandsmerkmale der genannten unionsrechtlichen Hygienevorschriften, die allenfalls unhygienische Zustände im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV annehmen lassen könnte, folgte nicht ohne Weiteres auch die Annahme einer „nachteiligen Beeinflussung von Lebensmitteln“ durch den Antragsgegner. Dass am 2. Juli 2019 vom Antragsgegner im Betrieb der Antragstellerin ein „Ekel erregender Zustand“ beschrieben, fotografiert oder sonst wie angenommen worden sein soll, erschließt sich dem Senat anhand der Niederschrift zur Routinekontrolle und der gefertigten Lichtbilder nicht.
42
Dokumentiertermaßen erst am 4. Juli 2019 - zwei Tage nach der ersten Kontrolle vom 2. Juli 2019, um die es hier, wie auch das Verwaltungsgericht auf Seite 13 des angefochtenen Beschlusses zu Recht in Erinnerung gerufen hat, allein geht, ist im Rahmen eines an Amtsstelle ohne Beisein der Antragstellerin durchgeführten Ordnungswidrigkeitenverfahrens der am 2. Juli 2019 festgestellte Sachverhalt in der Retrospektive aufgrund einer Neubewertung der Hygiene- und Kennzeichnungsmängel (zugleich auch oder allein?) unter §§ 3 Satz 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV subsumiert und ist eine Anhörung nach § 55 OWiG zu einem auf § 10 Nr. 1 LMHV, § 60 Abs. 2 Nr. 26 lit. a) LFGB bezogenen Bußgeldbescheid gefertigt worden (vgl. Bl. 25 ff. der BA 001), wobei aus Sicht des Senats jedoch unklar geblieben ist, welche der 19 hygiene- und kennzeichnungsbezogenen Mängel dabei im Einzelnen den o.g. Tatbestandsmerkmalen dieser Norm zugeordnet wurden.
43
(bbbb) Das Beschwerdevorbringen führt zu keinem anderen Ergebnis.
44
Der seitens des Antragsgegners im Telefonat mit dem Berichterstatter vom 27. Juli 2020 zunächst eingenommene Standpunkt, der „Verstoß“ im Sinne des § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB sei ohnehin erst mit der Bewertung und Ahndung in der Bußgeldstelle vollständig festgestellt worden (vgl. Bl. 90 der GA), ist von vornherein nicht zielführend, weil diese Bewertung dort erst am 4. Juli 2019, nicht jedoch, wie der Text der geplanten Veröffentlichung angibt, am 2. Juli 2019, erfolgt ist. Im Übrigen vermag der Senat sich der Auffassung des Antragsgegners auch inhaltlich nicht anzuschließen. § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB setzt die Nichteinhaltung lebensmittelrechtlicher Anforderungen, die die primären Verhaltenspflichten (Ge- und Verbote) stellen, voraus, nicht hingegen eine repressiv-polizeiliche Sanktion, etwa nach § 10 Nr. 1 LMHV zu einem Verstoß gegen §§ 3 Satz 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV. Soweit § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB für eine Veröffentlichung zusätzlich eine Bußgeldhöhe von mindestens 350 EUR verlangt, so betrifft dies ein vom „Verstoß“ gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften zu unterscheidendes Merkmal, welches innerhalb der Menge festgestellter Verstöße ebenso wie das weitere Merkmal „in nicht nur unerheblichem Ausmaß oder wiederholt“ nur der Eingrenzung veröffentlichungsfähiger Verstöße auf solche von hinreichendem Gewicht dient (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.3.2018, a.a.O., Rn. 50 ff.). Die Einhaltung der primären Verhaltensnorm muss also dem Grunde nach bußgeldbewehrt sein; wo dies fehlt (wie bei vielen der hier festgestellten lebensmittelhygienerechtlichen Einzelverstöße gegen Art. 4 Abs. 2 in Verbindung mit den Kapiteln I, II und V des Anhangs II der VO (EG) Nr. 852/2004, vgl. § 2 Nrn. 2, 3 und 5 der Lebensmittelrechtlichen Straf- und Bußgeldverordnung (LMRStV)), liegt ggf. ein wesentlicher Verstoß vor, der jedoch mangels irgendeiner Bußgelderwartung nicht veröffentlichungsfähig sein dürfte.
45
Soweit der Antragsgegner später im Beschwerdeverfahren mit Schriftsatz vom 3. August 2020 (Bl. 93 ff. der GA) - in Reaktion auf gerichtliche Hinweise des Berichterstatters des Senats vom 24. und 27. Juli 2020 (Bl. 83 ff., 90 der GA) - nunmehr ein Erinnerungsprotokoll des Lebensmittelkontrolleurs C. vom 31. Juli 2020 (Bl. 97 der GA) sowie ein Gedächtnisprotokoll der Lebensmittelkontrolleurin D. vom 28. Juli 2020 (Bl. 98 der GA) über auf § 3 Satz 1 LMHV bezogene, bereits am 2. Juli 2019 getroffene Feststellungen und vorgenommene Bewertungen im Zusammenhang mit der Routinekontrolle eingereicht hat, ist diese Darlegung außerhalb der Beschwerdebegründungsfrist des § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 3 VwGO erfolgt und daher der Prüfung im Beschwerdeverfahren gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nicht zugrunde zu legen. Im Übrigen änderte dieses Vorbringen an dem vom Antragsgegner nicht bestrittenen Umstand nichts, dass die Antragstellerin im Rahmen der Kontrolle vom 2. Juli 2019 nicht auch mit dem Vorwurf eines Verstoßes gegen §§ 3, 2 LMHV konfrontiert worden ist. Im Gegenteil äußert die Kontrolleurin D. in ihrem Gedächtnisprotokoll, dass (erst) in der (ausweislich des Erinnerungsprotokolls des Kontrolleurs C. (Bl. 97 der GA) unmittelbar nach der Kontrolle durchgeführten) Nachbesprechung mit Herrn C. besprochen worden sei, dass es sich bei den vorgefundenen Mängeln um Verstöße gegen § 3 Satz 1 LMHV gehandelt habe, woraufhin eine Verwaltungsfachangestellte gebeten worden sei, ein Ordnungswidrigkeitenverfahren einzuleiten (Bl. 98 der GA).
46
(bb) Zum anderen wäre selbst dann, wenn entgegen den unter (aa) gemachten Ausführungen am 2. Juli 2019 auch ein Verstoß gegen §§ 3 Satz 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV geprüft, bejaht und dokumentiert worden wäre, die Formulierung „Nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln durch Ekel erregende und unhygienische Zustände“ kein zulässiger Veröffentlichungsinhalt, wie das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss vom 28. Oktober 2019 zutreffend entschieden hat.
47
(aaa) Ob der auf Seite 9 des Beschlusses hierfür gegebenen zweiten Begründung, es handele sich dabei um eine „sehr drastische“ Formulierung, deren Veröffentlichung unverhältnismäßig sei, gefolgt werden muss, oder insoweit der Ansicht des Antragsgegners zuzustimmen ist, diese Begrifflichkeiten seien gerade dem Text der betreffenden Verordnungsbestimmungen entnommen, und ihre Verwendung könne daher nicht unverhältnismäßig sein (vgl. Beschwerdeschrift v. 20.11.2019, Bl. 43 der GA), kann dahinstehen.
48
(bbb) Denn die Formulierung erschöpft sich, wie das Verwaltungsgericht in der ersten Begründung auf Seite 8 seines Beschlusses ausgeführt hat, in der Tat in einer bloßen Wiedergabe der zentralen abstrakten Tatbestandsmerkmale der §§ 3 Satz 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV.
49
Das ist gemessen an den oben (I.2.a)bb)(3)(a)(cc)(bbb)) aufgezeigten und entwickelten Maßstäben unter dem Aspekt einer Eignung zur hinreichenden Information der Verbraucher über Verstöße nicht ausreichend, denn mit diesem Veröffentlichungsinhalt geht der Antragsgegner nicht über die bloße Nennung dieser Paragraphen hinaus, die an anderer Stelle der Veröffentlichung unter der Rubrik „Rechtsgrundlagen“ erfolgen soll (vgl. Bl. 2 der GA = Bl. 88 der BA 001). Der Verbraucher kann aus dieser Formulierung einen bei der Routinekontrolle am 2. Juli 2019 (unterstellt) festgestellten Verstoß nicht eindeutig erkennen, so dass es zusätzlich einer sachverhaltsbasierten Umschreibung im o.g. geforderten Sinne bedurft hätte. Methodologisch in Kategorien des juristischen Syllogismus‘ ausgedrückt, fehlt es dem durch die Nennung der Rechtgrundlage mitgeteilten Schlusssatz (der Ergebnismitteilung) neben dem noch mitgeteilten Obersatz (den Tatbestandsmerkmalen) an einer Mitteilung des Untersatzes (dem diese Merkmale ausfüllenden Lebenssachverhalt).
50
Es handelt sich bei §§ 3 Satz 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV auch nicht um ausnahmsweise sehr konkret gefasste Normen mit textlich speziell formulierten Verhaltensanforderungen, deren Erfüllung schlicht bejaht oder verneint werden könnte, wie dies z.B. bei derjenigen aus Art. 4 Abs. 2 in Verbindung mit Kapitel I Nr. 4 Satz 1 des Anhangs II der VO (EG) Nr. 852/2004 (erforderliches Handwaschbecken vorhanden: nein, vgl. Mangel Nr. 9 gemäß Niederschrift v. 2.7.2019, Bl. 2 der BA 001) der Fall sein mag (deren Nichteinhaltung jedoch nicht nach § 2 LMRStV bußgeldbedroht ist). Vielmehr sind die Tatbestandsmerkmale der §§ 3 Satz 1, 2 Abs. 1 Nr. 1 LMHV entgegen den Versuchen des Antragsgegners in der Beschwerdeschrift vom 20. November 2019 (Bl. 44 der GA), den einzelnen darin verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffen „nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln“, „unhygienische Zustände“ und „Ekel erregend“ eine Anschaulichkeit auch für den nicht lebensmittelrechtlich vorgebildeten Laien zuzuschreiben, sehr allgemein gehalten und verlangten bei ihrer Anwendung auf den Einzelfall einen Bewertungsvorgang des Inbegriffs konkret festgestellten Sachverhalts einschließlich der Kausalitätszusammenhänge.
51
(4) Durfte die vom Verwaltungsgericht beanstandete, zwischen den Beteiligten streitige Formulierung mithin bei jeder Betrachtungsweise nicht auf das im geplanten Veröffentlichungstext genannte Datum „2. Juli 2019“ bezogen werden und musste ihre Veröffentlichung daher überhaupt (dem „Ob“ nach) unterbleiben, kommt es auch nicht mehr darauf an, ob eine Veröffentlichung dieses Inhalts dem „Wie lange“ nach jetzt (am 30. September 2020) noch zulässig geblieben oder aber bereits zuvor auf zeitliche Grenzen (etwa bis zum Ablauf des 1. Februar 2020, wie es das Verwaltungsgericht - freilich nur für den „übrigen Informationen“ aus der geplanten Veröffentlichung - angenommen hat, oder eine sonstige bereits erreichte oder überschrittene zeitliche Limitierung) aus § 40 Abs. 4a LFGB gestoßen wäre.
52
b) Soweit das Verwaltungsgericht ferner durch weitere einstweilige Anordnung im Beschluss vom 28. Oktober 2019 dem Antragsgegner vorläufig aufgegeben hat, die Veröffentlichung der übrigen Informationen zur Kontrolle vom 2. Juli 2019 („Rahmendaten“ unter den Rubriken Produktbezeichnung, Betriebsbezeichnung, Name, Straße, PLZ, Ort, Betreiber, Feststellungstag, Rechtsgrundlage, Verstoß behoben, Datum der Behebung des Verstoßes, vgl. Bl. 2 der GA = Bl. 88 der BA 001) spätestens mit Ablauf des 1. Februar 2020 zu löschen (und gelöscht zu lassen), das heißt dem Antragsgegner die Veröffentlichung dieser Informationen über den 1. Februar 2020 hinaus vorläufig verboten hat (vgl. oben I.1.a)bb)), ist die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners ebenfalls nicht begründet.
53
aa) Zunächst spricht vieles dafür, dass bereits die Darlegungen des Antragsgegners selbst im Erfolgsfalle nur noch dazu führen könnten, dass die Veröffentlichung dieser Informationen für eine Zeitspanne (weiterhin) erfolgt, der dem Zeitraum vom 2. Februar 2020 längstens bis einschließlich 6. Mai 2020 entspricht, das heißt für weitere rund drei Monate ab Bekanntgabe der heutigen Beschwerdeentscheidung.
54
Er hat (zu Recht) darauf verwiesen, dass § 40 Abs. 4a LFGB - verfassungsgerichtlichen Vorgaben folgend - eine Befristung der Veröffentlichung auf sechs Monate nach deren Beginn vorsehe. Ferner hat er sich gegen den Ansatz des Verwaltungsgerichts gewandt, rund zwei Monate des Zeitraums zwischen der Kontrolle vom 2. Juli 2019 und dem geplanten Beginn der Veröffentlichung am 4. Oktober 2019 seien entsprechend § 121 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 40 Abs. 1a Satz 1 a.A. LFGB (Pflicht zur „unverzüglichen“ Information der Öffentlichkeit) infolge einer „schuldhaften Verzögerung“ der Veröffentlichung von der Sechsmonatsfrist aus § 40 Abs. 4a LFGB bei einem gedachten Beginn am 4. Oktober 2019 abzutragen, so dass die Veröffentlichung der übrigen Informationen hier nur noch bis einschließlich 1. Februar 2020 rechtlich zulässig sei (vgl. Seiten 12 ff. des angefochtenen Beschlusses). Zur Begründung hat der Antragsgegner geltend gemacht, eine „schuldhafte Verzögerung“ liege nicht vor, weil er im Sommer 2019 seinen Aufgaben der Gefahrenabwehr den Vorzug vor einer reinen Verbraucherinformation über bereits behobene Mängel habe geben müssen und dürfen und die Beschwerdekontrolle im Betrieb der Antragstellerin vom 15. Juli 2019, die vorübergehende Betriebsschließung sowie die Nachkontrolle vom 21. August 2019, die allesamt der Antragstellerin zuzurechnen seien, eine erhebliche Kapazitätsbindung nach sich gezogen hätten (Bl. 45 f. der GA). Vor der Nachkontrolle am 21. August 2019 habe er die Veröffentlichung ohnehin nicht vornehmen können, weil andernfalls der Hinweis auf die Mängelbeseitigung nach § 40 Abs. 4 Satz 2 LFGB nicht von Anfang an in die Veröffentlichung hätte einfließen können. Wenn eine zeitliche Verzögerung maßgeblich auf der Zurückstellung der Veröffentlichung seitens der Behörde während eines laufenden gerichtlichen Eilverfahrens beruhe, stehe diese einer späteren Veröffentlichung auch in mehrmonatigem zeitlichem Abstand zu der betreffenden Kontrolle nicht entgegen, wie das VG Stuttgart mit Beschluss vom 23. September 2019 - 16 K 2470/19 -, juris Rn. 67 (bestätigt durch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 12.2.2020 - 9 S 2637/19 -, juris Rn. 48) entschieden habe. Zu dieser Argumentation, der die Antragstellerin entgegengetreten ist, muss der Senat im vorliegenden Verfahren nicht abschließend Stellung nehmen. Selbst wenn man ihr folgte, wäre zu konstatieren, dass das Verwaltungsgericht mit seinem Beschluss vom 28. Oktober 2019 bezogen auf die „übrigen Informationen“ zur geplanten Veröffentlichung nur ein Verbot der Veröffentlichung ab dem 2. Februar 2020 erlassen und den Eilantrag der Antragstellerin im Übrigen abgelehnt hat. Damit war die Veröffentlichung dieser Informationen unter Zugrundelegung des Ansatzes des Antragsgegners (jedenfalls) im Zeitraum von der Zustellung des angefochtenen Beschlusses vom 28. Oktober 2019 (6.11.2019, vgl. Bl. 39 der GA) bis zum 1. Februar 2020, 24.00 Uhr, vorläufig zulässig und ist insoweit - weil die Antragstellerin gegen die Teilablehnung ihres Eilantrags kein Beschwerdeverfahren geführt hat - nicht Gegenstand des in der Beschwerdeinstanz vom Antragsgegner fortgeführten Eilrechtsstreits 6 B 1327/19 // 13 ME 377/19 geworden. Dass die Veröffentlichung der übrigen Informationen in diesem Zeitraum unterblieben ist, geht daher nicht auf den Eilrechtsstreit, sondern auf die Entscheidung des Antragsgegners selbst zurück. Nur die weitere Veröffentlichung ab dem 2. Februar 2020 bis zum 6. Mai 2020 steht im Eilbeschwerdeverfahren des Antragsgegners allenfalls noch im Streit, nur insoweit hat das Eilverfahren den Antragsgegner bislang an einer Veröffentlichung gehindert; wäre der Argumentation des Antragsgegners in der Sache vollends zu folgen, könnte nach erfolgreichem Abschluss des Beschwerdeverfahrens in Anbetracht der von den genannten baden-württembergischen Gerichten offenbar vertretenen „hemmungsähnlichen Lösung“ eine Veröffentlichung für die sich daraus ergebenden rund drei Monate in Betracht kommen.
55
bb) Der Senat muss die abschließende Entscheidung all dieser Streitfragen hier jedoch nicht treffen, weil das vorläufige Verbot, die übrigen Informationen zur Kontrolle vom 2. Juli 2019 jedenfalls über den 1. Februar 2020 hinaus zu veröffentlichen, dem Antragsgegner gegenüber aus anderen Gründen (im Ergebnis zu Recht) ergangen ist. Denn der Antragsgegner kann der Sache nach in der Konsequenz des oben (I.2.a)) dargelegten Befundes nicht darauf dringen, die übrigen Daten in der Zeit seit dem 2. Februar 2020 veröffentlichen zu dürfen, weil § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 LFGB hierfür keine gesetzliche Grundlage bietet.
56
Denn weil die unter der Rubrik „Sachverhalt“ geplante streitige Formulierung („Nachteilige Beeinflussung von Lebensmitteln durch Ekel erregende und unhygienische Zustände“), mit welcher der Verstoß beschrieben werden sollte, als das „Herzstück“ der beabsichtigten Veröffentlichung überhaupt nicht veröffentlicht werden darf, ist auch die Veröffentlichung eines sonach verbleibenden zugehörigen „Torsos“ rechtswidrig. Dieser ist nach Streichung der einzig geplanten Beschreibung eines festgestellten Verstoßes abgesehen von der - nach den obigen Grundsätzen nicht ausreichenden - Bezeichnung der Rechtsnormen (§§ 2, 3 LMHV) unter der Rubrik „Rechtsgrundlage“ - die überdies ohnehin nach dem oben Ausgeführten unrichtig erfolgte - ohne jeden Informationsgehalt (substanzlos) und somit mangels Geeignetheit, den Verbraucher zu informieren, sowie mangels Angemessenheit unverhältnismäßig. Für die verbleibende Mitteilung, dass bei der Antragstellerin am 2. Juli 2019 eine Kontrolle stattgefunden, nicht aber, welches Ergebnis sie gehabt habe, insbesondere welcher Verstoß begangen worden sei, sowie die Nachricht, dass ein nicht bezeichneter Verstoß am 21. August 2019 behoben worden sei, besteht weder Anlass noch Rechtfertigung. Eine derartige „Geheimnistuerei“ belastete den Lebensmittelunternehmer schon deshalb übermäßig, weil sie Fehlvorstellungen beim Verbraucher hervorzurufen geeignet ist. § 40 Abs. 1a LFGB lässt es nicht zu, hinsichtlich der Feststellungen und Bewertungen an einem bestimmten Kontrolltag sozusagen eine „Leerstelle“ für die Veterinärverwaltung zu belassen, in die nach gerichtlicher Streichung einer Formulierung während der bereits laufenden Veröffentlichung später eine andere Formulierung eingesetzt werden kann.
57
3. Das Verwaltungsgericht hätte nach alledem dem Antragsgegner auch die Veröffentlichung der übrigen Informationen durch einstweilige Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO insgesamt vorläufig verbieten müssen. Dieser Umstand wirkt sich im vorliegenden Beschwerdeverfahren jedoch nicht aus, weil die Antragstellerin die vorläufige Zulassung einer Veröffentlichung des aus den übrigen Informationen bestehenden „Torsos“ nicht durch Einlegung einer eigenen Eilbeschwerde zu verhindern gesucht hat.
58
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
59
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG und Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NordÖR 2014, 11).
60
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Bescheid vom 14. Mai 2020 wird aufgehoben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der positiven Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans sowie gegen die entsprechende negative Feststellung.
2
Der Kläger meldete sich am 19. Oktober 2015 bei der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Hamburg. Mit Schreiben seines Amtsvormunds vom 21. September 2016 beantragte er bei der Beklagten Asyl (5453779-423) mit den Angaben: Geburtsdatum 8. November 2000, Geburtsort X.
3
Bei der Anhörung gemäß § 25 AsylG am 27. Juni 2017 gab der Kläger an: Er sei Tadschike und Schiit. Ein Bruder (A.) lebe in Hamburg, ein Bruder (B.) in Gießen. In den Iran sei er 2009/2010 gegangen und dort bis 2015/2016 geblieben. Zunächst sei er zurück nach Afghanistan gegangen, aber mit der „gesamten Familie“, gemeint Eltern und dem Bruder, der nun mit Frau in Gießen lebe, wieder ausgereist. Seine Eltern seien im Iran geblieben. Mit dem Bruder sei er in die Türkei gegangen. Zu Onkel und Tante väterlicherseits in Afghanistan habe er keinen Kontakt.
4
Die Beklagte lehnte mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Oktober 2017 (Nr. 1) zulasten des Klägers die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, (Nr. 2) die Anerkennung als Asylberechtigter, (Nr. 3) die Zuerkennung subsidiären Schutzes ab, stellte aber zugunsten des Klägers (Nr. 4) ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG fest. Zur Begründung führte sie insoweit aus: Im Heimatland verfüge der Kläger über keine tragfähigen verwandtschaftlichen Beziehungen bzw. über keinen Kontakt zu im Heimatland lebenden Verwandten. Die Eltern befänden sich nach Angaben des Klägers im Iran, seine beiden Brüder bei ihren Familien in Deutschland. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sich als „minderjähriger Jugendlicher“ sein Existenzminimum eigenständig sichern könne. Er könne aufgrund der Ausreise des Familienverbandes und mangels Kontakts zu weiteren Verwandten auch nicht auf die Unterstützung seines Familienverbandes zurückgreifen.
5
Eine den abgelehnten Asylantrag weiterverfolgende Klage nahm der Kläger zurück (VG Hamburg, Beschl. v. 15.11.2017, 4 A 9114/17).
6
Zulasten des Bruders des Klägers A. hatte die Beklagte bereits mit Bescheid vom 29. September 2011 den Asylantrag (5453779-423) abgelehnt sowie festgestellt, dass kein Abschiebungsverbot vorliege und die Abschiebung angedroht. Gerichtlicher Rechtsschutz blieb ohne Erfolg (VG Kassel, Urt. v. 17.7.2013, 6 K 1300/11.KS.A; VGH Kassel, Beschl. v. 18.11.2014, 8 A 1956/13.Z.A). Am 11. Dezember 2014 wurde A. nach Hamburg umverteilt.
7
Zugunsten des Bruders des Klägers B., dessen Ehefrau und Kind stellte die Beklagte in Erfüllung einer gerichtlichen Verpflichtung (VG Gießen, Urt. v. 24.9.2019, 8 K 3962/17.GI.A) mit Bescheid vom 17. Dezember 2019 (6576702-423) ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans fest.
8
Hinsichtlich des Klägers leitete die Beklagte ein Widerrufsverfahren (7791967-423) ein. Der schriftlich angehörte Kläger teilte am 17. April 2020 mit, dass er den mittleren Schulabschluss erreicht habe und aktuell eine Ausbildung als Verkäufer im Bereich einer Bäckerei absolviere. In seiner Heimat habe er keine Familie und auch keine Bekannten. Seine zwei Brüder lebten mit ihren Familien in Hamburg.
9
Die Beklagte sprach mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Mai 2020 aus, (Nr. 1) das mit Bescheid vom 30. Oktober 2017 festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu widerrufen und (Nr. 2) festzustellen, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliege. Zur Begründung führte sie aus: Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Erstbescheids minderjährig (16 Jahre) und unbegleitet gewesen, es sei deshalb angenommen worden, dass ihm im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan zu diesem Zeitpunkt als vulnerable Person mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe. Mittlerweile sei er über 19 Jahre alt und gehöre damit nicht mehr zum Personenkreis der vulnerablen Personen. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben. Der Bescheid wurde am 4. Juni 2020 zugestellt.
10
Der Kläger hat dagegen am 12. Juni 2020 Klage erhoben.
11
Der Kläger hat schriftsätzlich die Anträge formuliert,
12
den mit Schreiben vom 29. Mai 2020 übersandten Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2020 (7791967-423) aufzuheben,
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hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des mit Schreibens vom 29. Mai 2020 übersandten Bescheides vom 14. Mai 2020 (7791967-423) zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
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Die Beklagte hat schriftsätzlich den Antrag formuliert,
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die Klage abzuweisen.
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Das Gericht hat die Beteiligten mit Verfügung vom 19. August 2020, zugestellt am 20. August 2020, binnen Frist von zwei Wochen zum Erlass eines Gerichtsbescheids angehört.
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Die Asylakten des Erst- sowie des Widerrufsverfahrens des Klägers, die Asylakten seiner Brüder, die für den Kläger geführte Ausländerakte sowie die in den Entscheidungsgründen genannten Erkenntnismittel haben bei der Entscheidung vorgelegen. Darauf sowie auf die Gerichtsakte wird wegen der Einzelheiten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
18
Das Gericht entscheidet gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.
II.
19
Die Klage wird gemäß § 88 VwGO nach dem erkennbar verfolgten Rechtsschutzziel als einheitlicher Anfechtungsantrag ausgelegt, den Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 durch das Gericht in vollem Umfang aufzuheben. Dies entspricht dem vom Kläger formulierten Hauptantrag, demgegenüber aber kein Raum mehr für den Hilfsantrag verbleibt. Der Kläger verfolgt das Rechtsschutzziel, den durch den Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 erlangten Schutz ungeschmälert wiederzuerlangen. Dazu ist die vollumfängliche gerichtliche Aufhebung des Widerrufsbescheids sachdienlich. Im Einzelnen:
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Der angefochtene Verwaltungsakt ist i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet zum einen durch Aufhebung der vorherigen (prinzipalen positiven) Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, zum anderen durch (prinzipale negative) Feststellung, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt.
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Angefochten ist der Widerrufsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Mai 2020 (7791967-423). Im Tenor ist ausgesprochen, (Nr. 1) das im Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 (7791967-423) festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu widerrufen und (Nr. 2) festzustellen, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliege. Der Tenor des Widerrufsbescheids ist, wie bereits der Tenor des in Bezug genommen Ausgangsbescheids, einer Auslegung zugänglich und bedürftig, um dem jeweils dahinterstehenden erkennbaren behördlichen Willen praktische Wirksamkeit zu verleihen. Bei Verwaltungsakten kommt es wie bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen auf den objektiven Erklärungswert an. Maßgeblich ist, wie der Empfänger die Erklärung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der für ihn erkennbaren Umstände verstehen musste. Dabei ist vom Wortlaut der Erklärung auszugehen und deren objektiver Gehalt unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts zu ermitteln (BVerwG, Urt. v. 20.6.2013, 8 C 46/12, BVerwGE 147, 81, Rn. 27).
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In Nr. 4 des Ausgangsbescheids ist dem Wortlaut nach ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt. In Nr. 1 des Widerrufsbescheids ist dem Wortlaut nach ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG widerrufen und in Nr. 2 dem Wortlaut nach ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 AufenthG verneint. Allerdings legten es die gewählten Formulierungen bei isolierter Betrachtung nahe, dass die Beklagte von zwei verschiedenen Rechtsinstituten des Schutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG einerseits und des Schutzes nach § 60 Abs. 7 AufenthG andererseits ausgegangen wäre. Indessen würde diese Auslegung nicht zu den Rechtsfolgen führen, die behördlich erkennbar gewollt sind.
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Zwar ist ein Verwaltungsakt nach § 35 Satz 1 VwVfG jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Auch tritt die behördlich erstrebte unmittelbare Rechtswirkung gemäß § 43 Abs. 3 VwVfG grundsätzlich unabhängig davon ein, ob sie im Einzelfall rechtmäßig ist. Doch kommt dem Verwaltungsakt keine vom einschlägigen Gesetz losgelöste Bedeutung, sondern eine Individualisierungs- und Klarstellungsfunktion zu: Die Behörde entscheidet durch Verwaltungsakt, dass ein bestimmter von ihr ermittelter Sachverhalt tatsächlich geschehen ist und die Voraussetzungen eines bestimmten im Gesetz vorgesehenen, abstrakt formulierten Tatbestandes erfüllt sind, so dass hieran die hierfür vorgesehene Rechtsfolge geknüpft werden kann (Stelkens, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 Rn. 31). Der Verwaltungsakt ist als behördliche Willenserklärung mit Rücksicht darauf auszulegen, welche vertypten Rechtsfolgen das jeweilige Fachrecht vorsieht. Da die Behörde durch Verwaltungsakt nur in dem vom Fachrecht gesteckten Rahmen eine Rechtsfolge setzen darf und grundsätzlich nicht angenommen werden kann, dass sie diesen Rahmen verlassen will, muss im Zweifel angenommen werden, dass sie sich bei der Regelung im fachrechtlich gesteckten Rahmen hält. So ist etwa höchstrichterlich entschieden, dass im Prüfungsrecht ausschließlich anhand der jeweiligen Prüfungsordnung zu klären ist, ob einer Einzelnote Regelungsqualität i.S.d. § 35 Satz 1 VwVfG zukommt (BVerwG, Urt. v. 23.5.2012, 6 C 8/11, NJW 2012, 2901, Rn. 14). Ein als Befristung eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots formulierter Ausspruch des Bundesamts ist nach § 11 Abs. 2 AufenthG unionsrechtskonform als behördliche Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots zu verstehen (BVerwG, Urt. v. 25.7.2017, 1 C 10/17, juris Rn. 23). Soweit möglich ist der Verwaltungsakt gesetzeskonform auszulegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.2004, 1 C 30/03, BVerwGE 122, 293, Rn. 18; Urt. v. 18.12.2007, 6 C 47/06, NVwZ 2008, 571, Rn. 29). Die Begrenzung auf den Entscheidungsgegenstand entspricht – bei gesetzmäßigen Entscheidungen – dem Umfang, in dem das Gesetz der Verwaltung die Befugnis zu verbindlicher Regelung einräumt; wichtigstes Hilfsmittel zur Bestimmung des Entscheidungsgegenstandes außerhalb des Verwaltungsaktes sind die zugrundeliegenden Rechtsnormen (Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 43 Rn. 57a, 62).
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Gemäß dem vorliegend einschlägigen Fachrecht bildet das nationale Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG nicht zwei verschiedene Schutzformen, sondern einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen (BVerwG, Urt. v. 29.6.2015, 1 C 2/15, NVwZ-RR 2015, 790, juris Rn. 14). Eingeordnet ist dies in die Prüfreihenfolge im Asylrecht. Nach dieser sind zu prüfen die Asylberechtigung, die Flüchtlingseigenschaft, sodann der subsidiäre Schutz und schließlich das nationale Abschiebungsverbot (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 16).
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Vor diesem Hintergrund kann und muss der Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 gesetzeskonform ausgelegt werden: Unter Nr. 1 bis 3 hat das Bundesamt die dem Asylantrag i.S.d. § 13 AsylG entsprechenden vorrangigen Schutzstatus abgelehnt. Unter Nr. 4 hat das Bundesamt ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans als Herkunftsland des Klägers festgestellt, unabhängig davon, ob dieses aus § 60 Abs. 5 AufenthG oder aus § 60 Abs. 7 AufenthG folgen mag.
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Anknüpfend daran ist der Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 auszulegen. Es handelt sich dabei, wenn nicht um eine gesetzeskonforme Auslegung (der Widerrufsbescheid erweist sich als rechtswidrig, s.u. III.), so doch um eine Auslegung im Rahmen der vom Gesetz vertypten Rechtsfolgen. Die behördliche Erklärung unter Nr. 1 und Nr. 2 des Widerrufsbescheids lässt den dahinterstehenden behördlichen Willen zu zwei Rechtsfolgen erkennen.
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Zum einen soll die im Ausgangsbescheid zu Gunsten des Klägers getroffene positive Feststellung beseitigt werden. Die dem Ausgangsbescheid unter Nr. 4 im Wege der Auslegung zu entnehmende Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans soll durch Widerruf als actus contrarius nach § 43 Abs. 2 VwVfG ihre Wirksamkeit als Verwaltungsakt verlieren.
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Zum anderen soll nunmehr zu Lasten des Klägers eine negative Feststellung getroffen werden, dass kein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans vorliegt, unabhängig davon, ob dieses auf § 60 Abs. 5 AufenthG oder auf § 60 Abs. 7 AufenthG gründen mag. Diese negative Feststellung ist nicht angesichts des zugleich ausgesprochenen Widerrufs der im Ausgangsbescheid getroffenen positiven Feststellung entbehrlich. Dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht vorliegt, ist als inzidente Feststellung lediglich ein nicht bestandskraftfähiges Begründungselement des Widerrufs. Bestandskraftfähig ist nur eine am Regelungsgehalt teilhabende prinzipale Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht vorliegt. Ein Widerruf der positiven Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot vorliegt, ohne eine negative Feststellung, dass kein Abschiebungsverbot vorliegt, ließe keine Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zurück. Dies widerspräche aber dem erkennbaren Regelungswillen, die Frage eines nationalen Abschiebungsverbots für die Ausländerbehörde verbindlich zu beantworten. Die Ausländerbehörde ist nach § 42 Satz 1 AsylG an die Entscheidung (Alt. 1) des Bundesamts oder (Alt. 2) des Verwaltungsgerichts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gebunden. Diese Bindungswirkung bezieht sich nur auf den Tenor der Entscheidung, nicht auf Feststellungen in den Gründen oder ein obiter dictum (Faßbender, in BeckOK MigR, 5. Ed. 1.10.2019, AsylG, § 42 Rn. 6 m.w.N.). Sie knüpft an den bestands- oder rechtskraftfähigen Regelungsgehalt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung, nicht an bloße Begründungselemente an. Dies folgt aus dem Gesetzeszweck des § 42 Satz 1 AsylG. Die Ausländerbehörde ist weder am behördlichen noch am gerichtlichen Asylverfahren beteiligt. Ohne die durch § 42 Satz 1 AsylG bewirkte Erstreckung auf die Ausländerbehörden wären sie nach § 121 VwGO mangels Verfahrensbeteiligung nicht einmal an rechtskräftige gerichtliche Entscheidung gebunden (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AsylG, § 42 Rn. 3). Verbindlich sind nicht nur positive Feststellungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und der Gerichte, sondern auch ablehnende Entscheidungen (Bergmann, a.a.O., § 42 Rn. 6).
III.
29
Die so ausgelegte zulässige Klage ist nach §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2020 ist in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die erforderlichen Befugnisse, die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots aufzuheben (hierzu unter 1.) und festzustellen, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt (hierzu unter 2.), fehlen der Beklagten im Einzelfall deshalb, weil zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt zugunsten des Klägers die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans vorliegen (hierzu unter 3.).
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1. Die Befugnis der Beklagten, eine zuvor zugunsten des Ausländers getroffene Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu seinen Lasten aufzuheben, bestimmt sich nach § 73c Abs. 1 und 2 AsylG.
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Die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG ist nach § 73c Abs. 1 AsylG zurückzunehmen, wenn sie fehlerhaft ist, und nach § 73c Abs. 2 AsylG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Die besonderen Vorschriften in § 73c Abs. 1 und 2 AsylG verdrängen die allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften über Rücknahme und Widerruf in §§ 48 f. VwVfG (Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 3 f.; Fleuß, in BeckOK Ausländerrecht, 26. Ed. 1.7.2020, AsylG, § 73c Rn. 4, 10; vgl. BVerwG, Urt. v. 29.9.2011, 10 C 24/10, NVwZ 2012, 451, Rn. 12 f.).
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Die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots ist in ihrem Regelungsgehalt, d.h. inwieweit sie als Verwaltungsakt auf Rechtswirkung nach außen gerichtet sind, nicht danach unterscheidbar, ob eine Rücknahme oder ob ein Widerruf ergeht. Rücknahme und Widerruf sind auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet (zu Rücknahme und Widerruf von Flüchtlingsschutz/Asylanerkennung: OVG Münster, Beschl. v. 4.4.2013, 13 A 806/13.A, juris Rn. 17; vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, 9 C 53/97, BVerwGE 108, 30, Rn. 16 „prinzipiell“, auf die selbe Rechtsfolge gerichtet). Dem entspricht es, dass ein fälschlich als Rücknahme begründeter Bescheid rechtens ist, wenn die Widerrufsvoraussetzungen vorliegen (zu Rücknahme und Widerruf des Flüchtlingsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 29.4.2013, 10 B 40/12, juris Rn. 4; Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand Dezember 2019, § 73 Rn. 28). Die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots bleibt als Verwaltungsakt gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG nur wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Darauf, ob die Aufhebung durch Rücknahme, Widerruf oder anderweitig vorgenommen wird, kommt es nicht an.
33
Die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots erfordert, dass in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt die Feststellung nicht zutrifft, weil die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 AufenthG nicht gegeben sind. Da es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt, dürfen weder die Anspruchsvoraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG noch diejenigen des § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sein. Es handelt sich um eine notwendige Bedingung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung. Die Abweichung zwischen verwaltungsaktförmiger Feststellung und gesetzlichen Voraussetzungen muss stets gegenwärtig sein. Liegen im maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 5 oder nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor, kann die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots weder als Rücknahme noch als Widerruf gerechtfertigt sein.
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Zur Rücknahme der Feststellung nach § 73c Abs. 1 AsylG führt es dabei, wenn die Abweichung zwischen Bescheidlage und Gesetzeslage sowohl in dem für die Beurteilung der Feststellung maßgeblichen Zeitpunkt vorlag als auch in dem für die Beurteilung der Aufhebung maßgeblichen Zeitpunkt vorliegt. Die nach § 73c Abs. 1 AsylG verpflichtend zur Rücknahme führende Fehlerhaftigkeit meint eine andauernde oder zumindest zu den beiden benannten Zeitpunkten bestehende Abweichung zwischen Bescheidlage und Gesetzeslage. Nur ungenau wird die Fehlerhaftigkeit i.S.d. § 73c Abs. 1 AsylG als ursprüngliche Fehlerhaftigkeit beschrieben (etwa Hailbronner, Ausländerrecht, Stand September 2014, AsylG, § 73c Rn 7; vgl. Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 3; Hocks/Leuschner, in NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG, § 73 Rn. 34), anknüpfend daran, dass im Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG grundsätzlich die Rechtswidrigkeit die ursprüngliche Rechtswidrigkeit meint (dazu Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG, § 48 Rn. 49). Denn auch die ursprünglich fehlerhafte, d.h. anfänglich von der Gesetzeslage abweichende, Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots ist nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht zurückzunehmen, vielmehr die ergangene Rücknahme ihrerseits aufzuheben, wenn nunmehr die gesetzlichen Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 AufenthG eingetreten sind.
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Zum Widerruf der Feststellung führt gemäß § 73c Abs. 2 AsylG bereits, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht mehr vorliegen. Der Widerruf ist ohne jede Beschränkung zulässig und geboten, wenn die Voraussetzungen für die Feststellung eines der genannten Abschiebungsverbote nicht mehr vorliegen (Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 4). Aus § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG ergibt sich, dass nicht nur solche Tatsachen einen Widerrufsbescheid als rechtmäßig tragen können, die schon bei dessen Erlass vorgelegen haben, sondern gerade auch weitere Tatsachen zu berücksichtigen sind (BVerwG, Urt. v. 29.6.2015, 1 C 2/15, NVwZ-RR 2015, 790, juris Rn. 15). Bei der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Feststellung einerseits und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sachlage andererseits muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Gefährdungsprognose ergeben (vgl. für den Widerruf des Flüchtlingsschutzes: Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand Dezember 2019, § 73 Rn. 28).
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Die gegenwärtige Abweichung zwischen verwaltungsaktförmiger Feststellung und gesetzlichen Voraussetzungen ist grundsätzlich auch eine hinreichende Bedingung der Rechtmäßigkeit einer behördlichen Aufhebung der Feststellung. Sie führt grundsätzlich bereits zwingend zur Aufhebung der Feststellung. Zutreffend wird es als „Testfrage“ beschrieben, ob heute im Sinne einer Spiegelbildlichkeit ein nationales Abschiebungsverbot festzustellen wäre (Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 2). Liegen in dem für die Beurteilung der Aufhebung maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots weder nach § 60 Abs. 5 AufenthG noch nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor, ist die behördliche Aufhebung der vormaligen behördlichen Feststellung grundsätzlich geboten. Insoweit kann ungeprüft bleiben, ob die Aufhebung als Rücknahme (Abweichung der Bescheidlage von der Gesetzeslage auch im Zeitpunkt der Feststellung) oder als Widerruf (Abweichung erst danach) gerechtfertigt ist.
37
Eine Ausnahme, in dem die gegenwärtige Abweichung zwischen verwaltungsaktförmiger Feststellung und gesetzlichen Voraussetzungen keine hinreichende Bedingung der behördlichen Aufhebung ist, liegt nur dann vor, wenn die Rechtskraft eines zur Feststellung verpflichtenden Urteils zu beachten ist. Rechtskräftige Urteile binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, gemäß § 121 Nr. 1 Var. 1 VwGO die Beteiligten. Streitgenstand der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO ist der prozessuale Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsaktes. Darüber ist im Fall der Stattgabe mit Verpflichtungsurteil nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO positiv entschieden. Die Rechtskraft eines zur Feststellung verpflichtenden Urteils kann zwar nicht einem Widerruf der Feststellung entgegenstehen. Denn den Widerruf eröffnen gerade neue und deshalb zeitlich nicht von der Rechtskraft erfassbare Tatsachen. Der Widerruf der positiven Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots setzt nach § 73c Abs. 1 AsylG voraus, dass die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen (vgl. ebenso für den Widerruf von Asylanerkennung/Flüchtlingsschutz: § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Ob die Voraussetzungen „nicht mehr vorliegen“ ist durch einen Vergleich der Umstände zu dem für die Widerrufsentscheidung selbst nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt und dem für die Schutzgewährung maßgeblichen Zeitpunkt zu bestimmen. In letzterer Hinsicht maßgeblich für die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs einer positiven Feststellung, die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen ist, ist dabei nicht der Zeitpunkt des Ergehens des Bescheids, sondern des rechtskräftig gewordenen Verpflichtungsurteils (vgl. für den Widerruf von Asylanerkennung/Flüchtlingsschutz: BVerwG, Urt. v. 8.5.2003, 1 C 15/02, BVerwGE 118, 174 Rn. 8). Doch steht die Rechtskraft eines zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots verpflichtenden Urteils der Annahme, eine Feststellung sei ursprünglich fehlerhaft, und damit einer Rücknahme zumindest grundsätzlich entgegen (BVerwG, Urt. v. 18.9.2001, 1 C 7/01, BVerwGE 115, 118, Rn. 9; für die Rücknahme der Asylanerkennung: BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, 9 C 53/97, BVerwGE 108, 30, Rn. 11 ff.; Bergmann, a.a.O., § 73 Rn. 5). Die Rechtskraft eines Verpflichtungsurteils endet dabei – wie sich schon aus allgemeinen Regeln und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ergibt – nicht mit einer Erfüllung des Verpflichtungsurteils (a.A. Hailbronner, a.a.O., § 73 Rn 11). Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist aber jedenfalls nach dem Rechtsgedanken des § 826 BGB eine Rücknahme möglich, wenn das Urteil sachlich unrichtig ist, die von dem Urteil Gebrauch machenden Personen dies wissen und besondere Umstände hinzutreten, die die Ausnutzung des Urteils als sittenwidrig erscheinen lassen (vgl. für die Rücknahme der Asylanerkennung: BVerwG, Urt. v. 19.11.2013, 10 C 27/12, BVerwGE 148, 254, Rn. 21). Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann auch zulasten des Betroffenen nach den Maßstäben des § 51 VwVfG im Fall einer Täuschungshandlung die Rechtskraft durchbrochen werden (BVerwG, Beschl. v. 29.4.2013, 10 B 40/12, juris Rn. 4, bezugnehmend auf BVerwG, Urt. v. 22.10.2009, 1 C 26/08, BVerwGE 135, 137, Rn. 19, betreffend allerdings ein zugunsten des Betroffenen nach Ermessen eröffnetes Wiederaufgreifen i.w.S. nach gerichtlich bestätigter Ausweisung).
38
Die Wirkung von Rücknahme und Widerruf im Asylrecht differieren auch nicht in zeitlicher Hinsicht (dies offenlassend für Rücknahme und Widerruf einer Asylanerkennung: BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, 9 C 53/97, BVerwGE 108, 30, Rn. 16). Sie weisen den gleichen zeitlichen Regelungsgehalt auf. Im allgemeinen Verwaltungsrecht ist der Begriff der Rücknahme nicht notwendig mit einer Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit (z.B. ex tunc ab Erlass des Ausgangsverwaltungsaktes) verbunden, ebenso wenig wie der Begriff des Widerrufs mit einer Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft (z.B. ex nunc ab Erlass des Ausgangsverwaltungsaktes). So ist im Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 VwVfG eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft eröffnet und im Anwendungsbereich des § 49 Abs. 3 VwVfG ein Widerruf mit Wirkung für die Vergangenheit. Nach den Besonderheiten des Asylverfahrens ist sowohl bei der Rücknahme als auch beim Widerruf nur die Wirkung ab dem für die Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Zeitpunkt zu betrachten. Im Asylverfahren gilt die Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (st. Rspr., BVerwG, Urt. v. 29.6.2015, 1 C 2/15, juris Rn. 14, unter Fortführung von Urt. v. 8.9.2011, 10 C 14/10, BVerwGE 140, 319, Rn. 10). Der Blick nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft folgt vor diesem Hintergrund aus der Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts in § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach Halbs. 1 dieser Vorschrift stellt das Gericht in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist nach Halbs. 2 der Vorschrift der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. Maßgeblich ist der in der jeweiligen Entscheidungssituation denkbar letzte Zeitpunkt.
39
2. Die Befugnis der Beklagten, im Zuge der Rücknahme oder des Widerrufs einer vorherigen positiven Feststellung zugleich die negative Feststellung zu treffen, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, gründet auf § 73c Abs. 3 i.V.m. § 73 Abs. 3 AsylG.
40
Für Rücknahme oder Widerruf der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 73c Abs. 1 oder 2 AsylG verweist § 73c Abs. 3 AsylG auf eine entsprechende Geltung des § 73 Abs. 2c bis 6 AsylG. Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 3 AsylG ist bei Widerruf oder Rücknahme der Anerkennung als Asylberechtigter oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für den subsidiären Schutz oder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Dies wird im Entwurf des Gesetzes (BT-Drs. 17/13063, S. 23) wie folgt begründet:
41
„Im Falle eines Widerrufs oder einer Rücknahme der Asylberechtigung oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist über das Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes zu entscheiden. Liegen diese nicht vor, ist das Bestehen nationaler Abschiebungsverbote zu prüfen. Damit soll der Betroffene Klarheit über seinen Rechtsstatus bzw. über bestehende Abschiebungsverbote erhalten.“
42
Dem liegt die Prüfreihenfolge im Asylrecht (vgl. dazu BT-Drs. 17/13063, S. 16) zugrunde, dass vorrangig über die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise über die Zuerkennung subsidiären Schutzes und höchsthilfsweise über die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zu entscheiden ist. Im Wortlaut des § 73 Abs. 3 AsylG kommt unmittelbar zum Ausdruck, dass bei behördlicher Aufhebung (Widerruf oder Rücknahme) der vorrangigen Schutzgewährung (Asylberechtigung und Flüchtlingsschutz) über nachrangige Schutzgewährungen (subsidiärer Schutz und nationales Abschiebungsverbot) zu entscheiden ist. Die Vorschrift korrespondiert mit § 31 Abs. 3 AsylG; da dem Adressaten einer Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidung seinerzeit ein Status gewährt worden war, hatte man entsprechend § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG von einer Entscheidung über den subsidiären Schutz und die nationalen Abschiebungsverbote abgesehen; das ist nun nachzuholen (Hocks/Leuschner, in NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016 Rn. 45, AsylVfG § 73 Rn. 45). Insofern stellt § 73 Abs. 3 AsylG klar, dass über die alternativen Schutzformen zu entscheiden ist (insoweit Hailbronner, a.a.O., § 73 Rn. 116). Es handelt sich um eine logische Folge der mehrstufigen Prüfung (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand September 2014, AsylVfG, § 73c Rn. 20). Die vom Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung verfolgte Klarheit über den Rechtsstatus nach § 13 Abs. 1 AsylG dürfte es nicht erfordern, dass mit der Aufhebung der bisher positiven Entscheidung über die vorrangige Schutzgewährung eine negative Entscheidung auf gleicher Ebene über die vorrangige Schutzgewährung verknüpft wird. Denn über den Asylantrag ist dann entschieden, ohne eine positive Entscheidung zu treffen, ein Status (Asylanerkennung, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz) nicht gewährt und kann insoweit allenfalls noch in einem Folgeverfahren erwirkt werden.
43
Demgegenüber erschließt sich der Sinn der der durch § 73c Abs. 3 AsylG angeordneten entsprechende Geltung des § 73 Abs. 3 AsylG nicht in gleicher Weise (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 73c Rn. 20). Denn im Verhältnis zum nationalen Abschiebungsverbot, auf das sich die Aufhebungsentscheidung nach § 73c Abs. 1 und 2 AsylG beschränkt, existiert kein nachrangiger Schutz. Doch gebietet es die nach der Gesetzesbegründung zu fordernde Klarheit über Abschiebungsverbote, dass bei Rücknahme oder Widerruf der ohnehin nachrangigen Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf gleicher nachrangiger Ebene eine negative Feststellung über das nationale Abschiebungsverbot zu treffen ist.
44
Zum einen läuft nur durch diese Auslegung der in § 73c Abs. 3 AsylG enthaltene Verweis auf eine entsprechende Geltung des § 73 Abs. 3 AsylG nicht grundsätzlich leer. Diese Inbezugnahme wäre entbehrlich, ging es nur um die wegen der Unteilbarkeit des nationalen Abschiebungsverbots ohnehin erforderliche Prüfung, ob im Fall eines auf § 60 Abs. 7 AufenthG gestützten Ausgangsbescheids die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind oder umgekehrt (diesen Sinn der Inbezugnahme annehmend aber Funke-Kaiser, a.a.O., § 73c Rn. 24; VG Berlin, Urt. v. 6.4.2018, 6 K 733.17 A, juris Rn. 16). Auch soweit angenommen wird, dass gemäß § 73c Abs. 3 i.V.m. § 73 Abs. 3 AsylG zu prüfen ist, ob „andere (neue)“ Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG als die ursprünglich festgestellten vorliegen (so Keßler, in NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG, § 73c Rn. 5), bleibt zu beachten, dass es sich beim nationalen Abschiebungsverbot um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt. Von einem „anderen“ Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 6 oder 7 AufenthG kann deshalb nur dann die Rede sein, wenn sich das Verbot auf die Abschiebung in einen anderen Zielstaat als den zu nächst betrachteten bezieht.
45
Zum anderen ist die als Annex zur Statusentscheidung über den Asylantrag i.S.d. § 13 AsylG dem Bundesamt obliegende Entscheidung über ein nationales Abschiebungsverbot selbst keine Statusentscheidung. Es handelt sich beim nationalen Abschiebungsverbot nicht um einen formalisierten Schutzstatus, sondern bloß um einen feststellenden Verwaltungsakt (Funke-Kaiser, a.a.O., § 73c Rn. 2). Höbe das Bundesamt die (positive) Feststellung des Ausgangsbescheids auf, ohne zugleich eine (negative) Feststellung zu treffen, bliebe keine Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zurück, an die die Ausländerbehörde nach § 42 Satz 1 Alt. 1 AsylG gebunden wäre (s.o. II.). Dies ist vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt.
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Ausgehend davon ist das Bundesamt zur (negativen) Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht vorliegt, auf Grundlage des § 73c Abs. 3 i.V.m. § 73 Abs. 3 AsylG nur dann befugt, wenn die (positive) Feststellung zu Recht nach § 73c Abs. 1 und 2 AsylG aufgehoben wird. Die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der positiven Feststellung ist eine notwendige Bedingung der Rechtmäßigkeit der negativen Feststellung. Grundsätzlich obliegt die inzidente Feststellung, ob ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, in Vollzug des Aufenthaltsgesetzes nach § 75 AufenthG der Ausländerbehörde. Das Bundesamt ist zur prinzipalen Feststellung, ob ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, nur in den vom Gesetz bezeichneten Fällen befugt. Das Bundesamt entscheidet über ein nationales Abschiebungsverbot nur aufgrund § 31 Abs. 3 AsylG im Zuge der ihm obliegenden Statusentscheidung über einen Asylantrag oder aufgrund § 51 VwVfG oder § 73c AsylG im Zuge der Korrektur einer von ihm selbst zuvor getroffenen Entscheidung über ein nationales Abschiebungsverbot.
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Grundsätzlich handelt es sich bei der Rechtmäßigkeit der Aufhebung der positiven Feststellung auch um eine hinreichende Bedingung der Rechtmäßigkeit der negativen Feststellung. Etwas Anderes kann nur gelten, wenn nunmehr ein anderer Zielstaat der Abschiebung in Betracht kommt, so dass auf diesen bezogen zusätzliche Klarheit zu schaffen ist. Aber auch insoweit besteht die vom Gesetzgeber begrenzte Befugnis des Bundesamts zur Entscheidung über ein nationales Abschiebungsverbot nur dann, wenn die Aufhebung des bisherigen Abschiebungsverbots rechtmäßig ist und damit Anlass für eine Befassung des Bundesamtes besteht.
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3. Nach diesem Maßstab ist der angefochtene Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 rechtswidrig. Die Beklagte ist bereits nicht zur Aufhebung der im Ausgangsbescheid getroffenen Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots befugt und deshalb auch nicht im Zuge dessen zu der negativen Feststellung, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt. Denn zumindest in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots vor. Da es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt, genügt es, wenn der Tatbestand einer Anspruchsgrundlage erfüllt ist. Hier ist der Tatbestand des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt. Ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden unmenschlichen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung (hierzu unter a)) leitet sich ausgehend von den allgemeinen humanitären Verhältnissen in Afghanistan (hierzu unter b)) und den dazu von der Kammer entwickelten Grundsätzen (hierzu unter c)) für den Kläger her (hierzu unter d)).
49
a) Ein Ausländer darf gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Zu prüfen sind insoweit lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 35). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 36). Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
50
Die Abschiebung durch einen Konventionsstaat kann dessen Verantwortlichkeit nach der Konvention begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In einem solchen Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Person nicht in dieses Land abzuschieben (EGMR, Urt. v. 7.7.1989, Nr. 1/1989/161/217, NJW 1990, 2183 Rn. 90 f. – Soering/Vereinigtes Königreich; Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 – Saadi/Italien). Erforderlich ist nach Art. 3 EMRK eine konkrete Gefahr („real risk“) der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung (EGMR, Urt. v. 17.7.2008, Nr. 25904/07, juris Rn. 40 – NA/Vereinigtes Königreich). Dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, BVerwGE 146, 67, juris Rn. 32 m.w.N.), d.h. der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014, 10 B 6/14, NVwZ 2014, 1039, juris Rn. 9).
51
Auch wenn schlechte humanitäre Bedingungen nicht auf das Handeln eines verantwortlichen Akteurs zurückgeführt werden, können sie dennoch als Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Erforderlich ist zwar keine Extremgefahr i.S.d. Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG (BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018, 1 B 25/18, NVwZ 2019, 61, juris Rn. 13). Doch müssen die gegen die Abschiebung sprechenden Gründe „zwingend“ sein (EGMR, Urt. v. 28.6.2011, Nr. 8319/07 und Nr. 11449/07, NVwZ 2012, 681, Rn. 280; BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 45/18, InfAuslR 2019, 455, juris Rn. 12; Urt. v. 13.6.2013, 10 C 13/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 24 f.; VGH München, Urt. v. 6.7.2020, 13a B 18.32817, Rn. 42; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 51; VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 169).
52
Dabei können Ausländer aus der Konvention kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen (EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334 Rn. 42 – N/Vereinigtes Königreich; vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 23). Maßgeblich ist die Fähigkeit des Betroffenen, im Zielgebiet elementare Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu decken, die Verletzlichkeit durch Misshandlungen und die Aussicht auf Verbesserung innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens (EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413, Rn. 254 – M.S.S./Belgien und Griechenland; Urt. v. 28.6.2011, Nr. 8319/07 und Nr. 11449/07, NVwZ 2012, 681, Rn. 283 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich; daran anknüpfend VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, A 11 S 1704/17, juris Rn. 168; Urt. v. 24.7.2013, A 11 S 697/13, juris Rn. 80). Darauf abzustellen ist, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (zur Parallelvorschrift Art. 4 GRCh: EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.; Urt. v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 92 ff.). Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt danach ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (VGH München, Beschl. v. 30.9.2015, 13a ZB 15.30063, juris Rn. 5), das nur unter strengen Voraussetzungen erreicht wird (OVG Münster, Beschl. v. 13.5.2015, 14 B 525/15.A, juris Rn. 15). Kann der Rückkehrer durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und sich damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren, rechtfertigt Art. 3 EMRK keinen Abschiebungsschutz (BVerwG, Beschl. v. 25.10.2012, 10 B 16/12, InfAuslR 2013, 45, juris Rn. 10). Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen u.s.w. (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 172).
53
Hinsichtlich der Gefahrprognose ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (EGMR, Urt. v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 265, 301, 309; BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 26). Dieser Ort ist im Fall einer Abschiebung nach Afghanistan Kabul (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 192 f.).
54
Die vorausgesetzten individuellen Umstände können auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 171 unter Bezugnahme auf EGMR, Urt. v. 13.12.2016, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 187, 189 – Paposhvili/Belgien), so dass eine ganze Bevölkerungsgruppe betroffen ist (VGH München, Urt. v. 23.3.2017, 13a B 17.30030, AuAS 2017, 175, juris Rn. 15). Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG hinsichtlich allgemeiner Gefahren steht nicht entgegen. Gemäß dieser Vorschrift sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei Anordnungen der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG über die Aussetzung der Abschiebung zu berücksichtigen. Diese Sperrwirkung wird in verfassungskonformer Anwendung nur durchbrochen im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12 Rn. 38). Weder nach Wortlaut noch Sinn und Zweck findet der im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG zu prüfende Satz 6 indessen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK Anwendung. Verstieße eine Abschiebung völkerrechtlich gegen Art. 3 EMRK, führt dies nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu einem Abschiebungsverbot, selbst wenn damit einer allgemeinen Gefahr begegnet wird. Es bedarf keiner Durchbrechung einer grundsätzlichen Sperrwirkung nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG. Dieses Verständnis liegt auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018, a.a.O.) zugrunde, die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG keine Extremgefahr verlangt, wie sie zur Durchbrechung der Sperrwirkung für allgemeine Gefahren im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG erforderlich wäre.
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Bei familiärer Lebensgemeinschaft ist für jedes Familienmitglied gesondert zu prüfen, ob ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 45/18, InfAuslR 2019, 45, juris Rn. 15, 16, 19). Jedoch ist für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose im Regelfall auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist.
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b) Nach Angaben des Auswärtigen Amtes ist Afghanistan nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Das rapide Bevölkerungswachstum mache es dem afghanischen Staat nahezu unmöglich, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, bereitzustellen. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bleibe zudem geprägt von der schwierigen Sicherheitslage sowie schwacher Investitionstätigkeit. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sei eine zentrale Herausforderung für Afghanistan und der Anteil formaler Beschäftigungsverhältnisse extrem gering. Vor diesem Hintergrund sei die Grundversorgung für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was in besonderem Maße für Rückkehrer gelte. Darüber hinaus träten Dürre, Überschwemmungen oder extreme Kälteeinbrüche regelmäßig auf. Dürren der vergangenen Jahre hätten dazu beigetragen, dass ca. zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren als akut unterernährt gälten. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung finde kaum bis gar nicht statt. Insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie zeigten sich Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems. Zwar sei die medizinische Grundversorgung nach der Verfassung für alle Staatsangehörigen kostenlos. Die Verfügbarkeit und die Qualität der Grundbehandlung sei jedoch mangels gut ausgebildeter Ärzte und Assistenzpersonal, mangels Verfügbarkeit von Medikamenten, aufgrund schlechten Managements sowie schlechter Infrastruktur begrenzt und deshalb ebenfalls korruptionsanfällig. Viele Afghanen suchten daher, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variierten stark und müssten von den Patienten komplett selbst getragen werden. Daher sei die Qualität der Gesundheitsversorgung stark einkommensabhängig. Insbesondere Rückkehrern werde die Reintegration stark erschwert, wenn sie lange Zeit im Ausland gelebt oder Afghanistan mit der gesamten Familie verlassen hätten, da es in diesem Fall wahrscheinlich sei, dass lokale Netzwerke nicht mehr existierten oder der Zugang zu diesen erheblich erschwert sei. Der Mangel an Arbeitsplätzen stelle für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhänge (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 26, nachfolgend: „Lagebericht 2020“).
57
Im Hinblick auf den Zugang zu Unterkunft, grundlegender Infrastruktur und grundlegender Versorgung, hebt das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen die Bedeutung sozialer Netzwerke hervor, die bereit und trotz der prekären humanitären Lage zur Unterstützung fähig sind (UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.8.2018, S. 124 f.). Nach einem Bericht des European Asylum Support Office (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan Networks, Februar 2018) sei der afghanische Staat schwach sowie Netzwerke und nicht der Staat seien entscheidend für die Sicherheit, den Schutz, die Unterstützung und die Pflege vulnerabler Personen. Die Treue zu Familie, Clan und örtlichen Anführern sei stärker als die Bindung an den Staat oder die Behörden. Die erweiterte Familie sei die Grundsäule der afghanischen Gesellschaft. Die wechselseitige Verpflichtung zu Hilfe und Unterstützung innerhalb der erweiterten Familie sei stark (S. 13). Nach der patrilinearen Gesellschaftsstruktur Afghanistans gehörten Kinder zur Familie ihres Vaters. Die Familie der Mutter könne aber zum individuellen Netzwerk gehören (S. 14). Das ethnische Zugehörigkeitsgefühl sei stark (S. 16). Allein aufgrund der gleichen ethnischen Zugehörigkeit könne jedoch keine Unterstützung erwartet werden (S. 16 f.). Ein Zugang zum Arbeitsmarkt sei ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Wiedereingliederung. Dieser sei herausfordernd und die Arbeitslosenquote sei hoch. Auch für die Hochgebildeten und gut Qualifizierten sei es schwer, ohne Netzwerk oder Empfehlung einen Arbeitgeber zu finden. Vetternwirtschaft sei weit verbreitet und die meisten höheren Positionen in Verwaltung und Gesellschaft würden auf Grundlage von Beziehungen oder Bekanntschaft vergeben. Aus Sicht eines Arbeitgebers sei es praktisch, jemanden aus dem eigenen Netzwerk anzustellen, weil er genau wisse, was er bekomme. Der Schlüssel, um eine Beschäftigung zu erlangen, liege in den persönlichen Beziehungen und Netzwerken, denen Arbeitgeber mehr Wert beimessen als formalen Qualifikationen (S. 27 f.).
58
Infolge der weltweiten Corona-Pandemie hat sich diese prekäre humanitäre Lage in Afghanistan weiter verschärft.
59
Die COVID-19-Pandemie führt insbesondere zu einer weiteren Anspannung des auch vorher schon hart umkämpften Arbeitsmarktes in Afghanistan. Während sich der landwirtschaftliche Sektor aufgrund guter Witterungsbedingungen positiv entwickelt habe, seien der Industrie- und der Dienstleistungssektor aufgrund des Lockdowns und der Grenzschließungen stark eingebrochen (World Bank Group, Surviving the Storm, Juli 2020, S. II, 3, nachfolgend: „World Bank Group 2020“). Aufgrund des Lockdowns der Innenstädte könnten hunderttausende Pendler, Händler und Tagelöhner kein Einkommen mehr generieren (Konrad Adenauer Stiftung, Die COVID-Krise in Afghanistan: Welche Auswirkungen auf die humanitäre und politische Lage?, Stand: Juli 2020, S. 5, nachfolgend: „KAS 2020“). Zwei Drittel der Einkommen in den afghanischen Städten würde von Berufsgruppen, wie Einzelhändlern, Tagelöhnern, Bauarbeitern, Landwirtschaftshelfern oder Personaldienstleistern, erzielt, die besonders sensibel auf den pandemiebedingten Lockdown sowie dessen Auswirkungen reagierten. Ärmere Haushalte seien gezwungen, die Quantität und die Qualität ihrer Nahrung zu verringern, da es ihnen aufgrund ihres geringen Ausgangsniveaus nicht mehr möglich sei, ihren Verbrauch weiter zu reduzieren oder mangels Kreditwürdigkeit einen Kredit aufzunehmen. Dies könne insbesondere bei Kindern zu negativen Langzeitwirkungen führen (World Bank Group 2020, S. 20, 23). Humanitäre Hilfsorganisationen seien insbesondere besorgt über die Auswirkungen des Lockdowns auf vulnerable Personen, wie behinderte Menschen und Familien, die abhängig vom Tagelohn seien (vgl. OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi Sectoral Response, 22.7.2020, S. 1). Die insgesamt drastischen Einkommensverluste sowie ein wahrgenommener Anstieg der Kriminalität führten dazu, dass sich viele Branchen ohne Zugang zu ausländischer Unterstützung nur langsam von der wirtschaftlichen Krise würden erholen können (KAS 2020, S. 7).
60
Über die unmittelbaren Auswirkungen des Lockdowns hinaus werde der afghanische Arbeitsmarkt durch die anhaltende Rückkehr afghanischer Gastarbeiter und Flüchtlinge insbesondere aus dem Iran, aber auch aus Pakistan, strapaziert. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie habe sich die Rückkehr bzw. die Abschiebung aus dem Iran besonders problematisch entwickelt (KAS 2020, S. 4). Die Anzahl der Rückkehrer aus dem Iran sei weiterhin auf einem hohen Stand – in den ersten vier Monaten 2020 seien 271.000 Afghanen aus dem Iran zurückgekehrt, im Jahr 2019 insgesamt 485.000 und 2018 775.000 (Lagebericht 2020, S. 18, 24). Diese fortdauernde Rückkehr führe ebenfalls zu einem Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie zu einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt (Lagebericht 2020, S. 18).
61
Der internationale Lockdown habe in Afghanistan außerdem zu einer aktuellen Nahrungsmittelkrise geführt, die einem Einkommensausfall vieler Haushalte bei gleichzeitig gestiegenen Lebensmittelpreisen folge (KAS 2020, S. 5; s.a. OCHA, COVID-19 Multi Sector Humanitarian Country Plan Afghanistan, 24.3.2020, S. 6 f; BAMF, Briefing Notes, 20.7.2020, S. 2). Die Preise einiger Grundnahrungsmittel seien im ersten Halbjahr 2020 um bis zu 20 % gestiegen (World Bank Group 2020, S. II, siehe im Einzelnen zu den Nahrungsmittelpreisen: OCHA, Afghanistan: COVID-19 Sectoral Response, 22.7.2020; World Food Programme, Afghanistan Countrywide Weekly Market Price Bulletin, 29.7.2020).
62
Die Armutsrate werde infolgedessen vermutlich auf bis zu 72 % ansteigen, da die Einkommen bei steigenden Nahrungsmittelpreisen fielen (World Bank Group 2020, S. II). International wird dabei die Armutsgrenze bei verfügbaren 1,90 USD pro Person und Tag gezogen (OCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 9). Die COVID-19-Krise werde sich auch ernsthaft und nachhaltig auf Afghanistans Wirtschaft auswirken. Insgesamt werde erwartet, dass auch das Brutto-Inlandsprodukt von Afghanistan aufgrund der COVID-19-Pandemie um bis zu 7,4 % sinken werde. Es werde mittelfristig unterhalb des Niveaus vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie bleiben (World Bank Group 2020, S. IV, 18, 15). Eine Erholung der Volkswirtschaft werde erwartungsgemäß mehrere Jahre andauern und sei nicht vor 2023 oder 2024 zu erwarten (World Bank Group 2020, S. 15). Diese wirtschaftliche Rezession führe zu einer weiteren Belastung der privaten Haushalte (Lagebericht 2020, S. 22). Infolgedessen werde die Nachfrage für Konsumgüter und Dienstleistungen weiter stark reduziert (World Bank Group 2020, S. 3). Auch die mit der Pandemie verbundenen Grenzschließungen seien für die afghanische Wirtschaft und die humanitäre Lage einschneidend (KAS 2020, S. 3).
63
Rückkehrer könnten allerdings von anfänglichen Unterstützungsmaßnahmen seitens des Bundes, internationaler Organisationen sowie des afghanischen Staates profitieren (vgl. im Einzelnen Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S. 24; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, Stand: August 2017, S. 17 ff.), wobei die tatsächliche Inanspruchnahme der Hilfsangebote vor Ort aufgrund technischer und bürokratischer Hürden sowie der Befürchtung, als Rückkehrer identifiziert zu werden, offenbar begrenzt ist (Asylos, Situation of young male „Westernised“ returnees to Kabul, S. 26 f.; s.a. VGH Mannheim, Urt. v. 16.10.2017, A 11 S 512/17, juris Rn. 284, 295, m.w.N.).
64
c) Die Kammer (bereits VG Hamburg, Urt. v. 7.8.2020, 1 A 3562/17, juris Rn. 53 ff.) geht für die im Einzelfall unter Würdigung aller Umstände zu erstellende Gefahrenprognose von folgenden Grundsätzen aus:
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Dem Rückkehrer nach Afghanistan droht dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung, wenn er sein Existenzminimum an Nahrung, Hygiene und Unterkunft voraussichtlich nicht zu sichern vermag, da er weder allein die zur Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse notwendigen Beziehungen aufbauen könnte noch hinreichend von einem bereits vorhandenen Netzwerk unterstützt würde.
66
Eine Existenzsicherung ohne bereits vorhandenes Netzwerk setzt grundsätzlich voraus:
67
Zum einen muss der Rückkehrer volljährig, gesund, arbeitsfähig und – ausgehend von den sozialen Gegebenheiten des Zielstaats – männlichen Geschlechts sein sowie eine Landessprache (Dari/Farsi oder Paschto) hinreichend verstehen und sprechen. Diese Voraussetzungen entsprechen im Wesentlichen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. VGH München, Urt. 6.7.2020, 13a B 18.32817, juris Rn. 47; VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2019, A 11 S 2376/19, juris Rn. 11; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 50; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 198; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 55; auch VG Freiburg, Urt. v. 19.5.2020, A 8 K 9604/17, juris Rn. 40 ff.).
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Zum anderen bedarf es, um die Erwartung zu tragen, dass der Rückkehrer sich aus eigener Kraft durchsetzen wird, nach Überzeugung der Kammer zusätzlicher Umstände. Auf dem Land (im ruralen Raum) bedarf er zur Existenzsicherung eines ihm zur Bewirtschaftung zur Verfügung stehenden Landbesitzes. In den Großstädten (im urbanen oder semi-urbanen Raum) muss er sich auf dem infolge der COVID-19-Pandemie besonders umkämpften Wohnungs- und Arbeitsmarkt allein behaupten und dafür notwendige Beziehungen knüpfen können.
69
Dabei folgt die Kammer nicht der Regel, dass eine Existenzsicherung nur dann zu erwarten wäre, wenn der Rückkehrer über erhebliche eigene finanzielle Mittel verfügt oder zu erwarten ist, dass er von Dritten erhebliche nachhaltige finanzielle oder andere materielle Unterstützung erhält (so nun VG Hamburg, GB v. 10.8.2020, 4 A 7929/17, n.v., unter Bezugnahme auf: VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 44 ff.; VG Cottbus, Urt. v. 29.5.2020, 3 K 633/20.A, juris Rn. 53; VG Freiburg, Urt. v. 22.5.2020, A 10 K 573/17, asylnet, S. 10; VG Karlsruhe, Urt. v. 15.5.2020, A 19 K 16467/17, juris Rn. 107; VG Düsseldorf, GB v. 5.5.2020, 21 K 19075/17.A, juris Rn. 271 ff.).
70
Fehlt dem Rückkehrer allerdings eine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis (der mindestens Afghanistan und den sprachlich sowie religiös-politisch verwandten Iran umfasst), weil er aus diesem Kulturkreis noch minderjährig ausgereist ist, kann eine Durchsetzungsfähigkeit grundsätzlich nicht angenommen werden. In diesem Fall kann ausgehend von der überragenden Wichtigkeit von Beziehungen für den Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Obdach die Fähigkeit, ohne vorhandenes Netzwerk vor Ort die erforderlichen Beziehungen zu knüpfen, nicht unterstellt werden. Etwaige Rückkehrhilfen und humanitäre Hilfen ermöglichen einen gewissen zeitlichen Aufschub der zu befürchtenden Verelendung, vermindern die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts aber nur unwesentlich (insoweit VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, a.a.O., Rn. 45 ff.). Ausnahmsweise kann eine Durchsetzungsfähigkeit angenommen werden z.B. aufgrund besonderer Vermögenswerte, besonderer Ressourcen, besonderer Fertigkeiten, besonderen organisatorisches, strategisches und menschliches Geschicks (vgl. hierzu VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2019, a.a.O., Rn. 113) oder einer besonderen Robustheit im Umgang mit roher Gewalt, wie sie das Verhalten des Rückkehrers im heimischen Kulturkreis oder im Gastland belegt (vgl. hierzu VG Hamburg, Urt. v. 30.1.2020, 1 A 886/19, n.v., in Deutschland aufgewachsener Intensivtäter).
71
Verfügt der (volljährige, gesunde, arbeitsfähige, männliche, eine Landessprache sprechende) Rückkehrer indessen über eine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis und hat dort wirtschaftlich und sozial auf eigenen Beinen gestanden, so ist seine Durchsetzungsfähigkeit grundsätzlich dann anzunehmen, wenn aus Art und Weise der in der Vergangenheit im heimischen Kulturkreis gezeigten Existenzsicherung gefolgert werden kann, dass ihm eine Existenzsicherung in der Zukunft auch ohne bereits vorhandenes Netzwerk und auch unter Berücksichtigung der Folgen der COVID-19-Pandemie erneut gelingen wird. Anknüpfen kann diese Erwartung z.B. an eine im heimischen Kulturkreis in der Vergangenheit entfaltete unternehmerische Aktivität, vielfältige erfolgreiche Erwerbstätigkeiten oder die gezeigte Fähigkeit, hohe finanzielle Mittel aufzubringen. Dass jedem Rückkehrer unabhängig von bereits vorhandenen Erfahrungen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten die Verelendung drohen würde, kann nicht angenommen werden. Es gibt keine dahingehende Studie, die hinsichtlich der Anzahl der Untersuchten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland belastbar wäre (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.12.2019, 9 LA 452/19, juris Rn. 15). Wer im heimischen Kulturkreis bereits das Leben eines Erwachsenen geführt und in der Vergangenheit vergleichbare Herausforderungen gemeistert hat, wie diejenigen, denen er sich gegenwärtig bei einer Rückkehr stellen müsste, wird voraussichtlich daran anknüpfen können.
72
Eine Existenzsicherung mit Hilfe eines Netzwerks ist wie folgt zu prüfen:
73
Der spezifische Bedarf, d.h. in welcher Hinsicht und in welchem Umfang ein Rückkehrer auf Unterstützung durch ein Netzwerk angewiesen ist, kann grundsätzlich ausgehend davon bestimmt werden, welche Umstände fehlen, dass er nicht ohne Netzwerk seine Existenz zu sichern vermag. Ein spezifischer Unterstützungsbedarf kann z.B. auf Krankheit, Behinderung, hohem Alter, fehlenden Sprachkenntnissen, fehlenden Erfahrungen auf dem afghanischen Arbeitsmarkt, einer fehlenden vollständigen Sozialisation beruhen.
74
Der so ermittelte Unterstützungsbedarf muss voraussichtlich durch ein vorfindliches Netzwerk vor Ort gedeckt werden. Die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft des Netzwerks sind nach den zur Verfügung stehenden sachlichen Mitteln und personalen Mitteln zu beurteilen. In Betracht kommt insbesondere, welche Unterstützungsleistungen das Netzwerk in der Vergangenheit geleistet hat und in welcher Weise sich die Ressourcen des Netzwerks verändert haben.
75
Für in realitätsnaher Betrachtung allein zurückkehrende Frauen oder gemeinsam mit minderjährigen Kindern zurückkehrende Eltern steht eine Existenzsicherung ohne bereits vor Ort vorhandenes, zur Aufnahme fähiges und bereites Netzwerk grundsätzlich nicht zu erwarten. Der von diesem Netzwerk zu deckende Unterstützungsbedarf gemeinsamer Rückkehrer ist grundsätzlich vielfältiger und umfangreicher als bei alleinigen Rückkehrern und hängt auch von Anzahl und Alter der Kinder ab.
76
d) Vor diesem Hintergrund folgt ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK daraus, dass dem Kläger bei Rückkehr eine unmenschliche Behandlung droht.
77
Ohne ein zur Unterstützung fähiges und bereites Netzwerk vor Ort würde der Kläger voraussichtlich seine Existenz nicht sichern können. Die gegenteilige Annahme der Beklagten im Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 trägt nicht. Zwar ist der Kläger nunmehr volljährig geworden, gesund, arbeitsfähig, männlich und spricht die Landessprache Dari. Doch fehlt es an erforderlichen zusätzlichen Umständen, um die Erwartung zu tragen, dass der Kläger in seinem Herkunftsland die zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse Nahrung, Hygiene und Unterkunft notwendigen Beziehungen wird aufbauen können. Der am 8. November 2000 geborene Kläger ist weder vollständig sozialisiert im Land seiner Staatsangehörigkeit Afghanistan noch im zwischenzeitlichen Land seines gewöhnlichen Aufenthalts Iran. Vielmehr hat er als unbegleiteter Minderjähriger mit knapp 15 Jahren den heimischen Kulturkreis verlassen und spätestens am 19. Oktober 2015 Hamburg erreicht. Dass der Kläger zwischenzeitlich fernab seiner Heimat volljährig geworden ist, vermittelt ihm keine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis. Auch die beigezogene Ausländerakte gibt keinen Hinweis darauf, dass der Kläger das hinsichtlich Vorerfahrungen bestehende Defizit ausnahmsweise ausgleichen könnte durch Ressourcen, Fertigkeiten, Geschick oder Robustheit in besonderer Ausprägung.
78
Unterstützung bedürfte der Kläger durch ein Netzwerk vor Ort, anhand dessen er das Leben eines Erwachsenen in seinem Kulturkreis erlernen und mit dieser Hilfe seine Existenz sichern könnte. Ein solches Netzwerk besteht in Afghanistan für den aus seinem Herkunftsland bereits 2009/2010 in den Iran ausgereisten Kläger glaubhaft nicht mehr. Im Heimatland verfügt er über keine tragfähigen verwandtschaftlichen Beziehungen bzw. über keinen Kontakt zu im Heimatland lebenden Verwandten. Im Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 hat die Beklagte dies zutreffend ausgeführt.
IV.
79
Die Kostenentscheidung beruht auf § 83b AsylG, § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 Satz 1 und 2 ZPO.
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Tenor
Nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache wird das Beschwerdeverfahren eingestellt.Die Antragstellerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1 Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben - die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 22.08.2020, der Antragsgegner entsprechend § 161 Abs. 2 Satz 2 VwGO, da er der ihm am 25.08.2020 unter Hinweis auf § 161 Abs. 2 Satz 2 VwGO zugestellten Erledigungserklärung der Antragstellerin nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Erledigungserklärung enthaltenden Schriftsatzes widersprochen hat -, ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und gemäß § 161 Abs. 2 VwGO über die Kosten des nach § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gerichtskostenfreien Verfahrens zu entscheiden.2 1. Zuständig ist gemäß § 87a Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 VwGO - einer Vorschrift, die auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und in Beschwerdeverfahren entsprechende Anwendung findet (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 05.12.2018 - 1 So 108/18 -, juris Rn. 8; Riese in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 87a Rn. 17) - die für das Verfahren bestellte Berichterstatterin, da die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren zu treffen ist. Dem steht nicht entgegen, dass der (regulär besetzte) Senat in vorliegender Sache bereits mit Beschluss vom 03.08.2020 den Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten u.a. mit der Begründung fehlender hinreichender Erfolgsaussicht der Beschwerde abgelehnt hat. Der gesetzlich nicht definierte Begriff des „vorbereitenden Verfahrens“ ist entsprechend dem Sinn und Zweck des § 87a VwGO, das Gericht als Spruchkörper von Nebenentscheidungen zu entlasten, weit zu verstehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17.05.2019 - 6 A 6.19, 6 A 6.19 (6 A 10.14) -, juris Rn. 3 m.w.N.). Es bedarf vorliegend auch keiner Entscheidung, ob das vorbereitende Verfahren und damit die Befugnis des Berichterstatters nach § 87a Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3 VwGO in Verfahren ohne mündliche Verhandlung bereits in dem Moment endet, in dem sich der Spruchkörper mit der Sache befasst, um eine abschließende Entscheidung in der Sache zu treffen (vgl. Riese a.a.O., § 87a Rn. 13, 17), oder ob das vorbereitende Verfahren in solchen Verfahren erst dann endet, wenn eine die Instanz beendende Entscheidung durch den Spruchkörper erlassen wurde (vgl. Schübel-Pfister in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 87a Rn. 3). Denn beides liegt hier mit dem Erlass des Prozesskostenhilfebeschlusses (noch) nicht vor. Ausgeschlossen sein sollen von der Regelung des § 87a VwGO nur solchen Entscheidungen, die zu treffen sind, nachdem das Gericht als Kollegium bereits mit der Sache befasst war „und“ darüber beim normalen Fortgang des Verfahrens „unmittelbar“ abschließend durch Beschluss entscheiden würde, wenn nicht ein Ereignis eingetreten wäre, das nur noch eine Entscheidung der in § 87a Abs. 1 Nr. 1 bis 5 VwGO genannten Art erfordert (vgl. W.-R. Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 87a Rn. 4). Allein mit dem Erlass des Prozesskostenhilfebeschlusses war der Senat indes noch nicht derart mit der (Haupt-)Sache befasst, dass er über diese beim normalen Fortgang des Verfahrens unmittelbar abschließend durch Beschluss entschieden hätte.3 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Es entspricht billigem Ermessen, die Kosten des erledigten Verfahrens der Antragstellerin aufzuerlegen, weil sie ohne den Eintritt des erledigenden Ereignisses voraussichtlich unterlegen wäre. Wie bereits im Prozesskostenhilfebeschluss vom 03.08.2020 ausgeführt, hätten es die Beschwerdegründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO) voraussichtlich nicht gerechtfertigt, der Antragstellerin entgegen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren und die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die vom Antragsgegner am 25.07.2019 vorgenommene Inobhutnahme ihrer Tochter S. T. wiederherzustellen. Insoweit wird von einer weiteren Begründung abgesehen und auf die Ausführungen im Prozesskostenhilfebeschluss vom 03.08.2020 verwiesen.4 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). | {
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf die Wertstufe bis 25.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der am 17. März 2020 sinngemäß bei Gericht gestellte Antrag,
3dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die Beförderungsplanstelle „Oberstudiendirektor/in eines voll ausgebauten Gymnasiums (Besoldungsgruppe A 16 LBesO NRW) an dem I. -Gymnasium in F. “ mit dem Beigeladenen zu besetzen, bis über die Bewerbung des Antragstellers auf diese Stelle unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden worden ist,
4hat keinen Erfolg. Er ist unzulässig.
5Es fehlt dem Antrag im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Mit dem am 16. September 2020 erfolgten Abbruch des Stellenbesetzungsverfahrens geht der vorliegende Antrag, der darauf gerichtet ist, die zwischen den Beteiligten im Streit stehende Stelle vorläufig nicht mit dem Beigeladenen zu besetzen, ins Leere. Denn mit dem wirksamen Abbruch ist der stets auf ein konkretes Stellenbesetzungsverfahren bezogene Bewerbungsverfahrensanspruch erloschen.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. Februar 2020 - 6 A 1027/19 -, juris, Rn. 6; VG Bremen, Beschluss vom 6. August 2014 - 6 V 725/14 -, juris, Rn. 15 ff.
7Der im Streitfall erfolgte Abbruch des Stellenbesetzungsverfahrens begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Sofern der Dienstherr - wie vorliegend - die Stelle weiterhin besetzen will, hierfür aber ein neues Auswahlverfahren für erforderlich hält, bedarf es für die Abbruchentscheidung eines sachlichen Grundes, der den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG genügt.
8Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. April 2018 - 6 B 355/18 -, juris, Rn. 13.
9Ein solcher sachlicher Grund ist hier gegeben. Die Schulkonferenz des I. -Gymnasiums hat sich in ihrer Sitzung am 9. Juli 2019 einstimmig für eine Stellenbesetzung mit dem Beigeladenen ausgesprochen und ihn insoweit auf der Grundlage des § 61 Abs. 2 Satz 1 SchulG NRW vorgeschlagen. Der Antragsteller, der nach dem Rückzug der Bewerbung durch den Beigeladenen der einzig verbliebene Bewerber ist, hat demnach nicht einen einzigen Teilnehmer aus dem insgesamt achtzehnköpfigen Kreise der Lehrer-, Schüler- und Elternschaft für sich gewinnen können. In einem solchen Fall erscheint es nicht als sachwidrig, wenn der Dienstherr die darin zum Ausdruck kommende mangelnde Akzeptanz eines Bewerbers in seine Entscheidung mit einbezieht, ob er ein Besetzungsverfahren abbricht.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. August 2016 - 6 B 890/16 -, juris, Rn. 6; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16. Januar 2020 - 1 M 132/19 -, juris, wonach der Dienstherr ein Auswahlverfahren für die Besetzung einer Beförderungsstelle abbrechen kann, wenn eine erneute Ausschreibung erforderlich wird, um eine hinreichende Anzahl leistungsstarker Bewerber zu erhalten.
11Soweit der Antragsteller mit Schreiben vom 28. September 2020 jedenfalls vorläufig von der Abgabe einer Hauptsachenerledigungserklärung abgesehen und die Kammer zugleich um „Mitteilung“ gebeten hat, ob er im Zuge einer verfahrensbeendenden Erklärung unter Umständen „seine berechtigten Ansprüche - etwa den auf eine rechtmäßige Fortsetzung des Stellenbesetzungsverfahrens, auf eine verfassungsgemäße Besetzungsentscheidung oder ggf. auf Schadensersatz“ – aufgeben würde, begehrt er eine rechtliche Beratung, die der Kammer nicht zusteht und die etwa über die Pflicht, auf die Stellung sachlicher Anträge hinzuweisen (vgl. § 86 Abs. 3 VwGO), bei Weitem hinausgeht.
12Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 sowie § 162 Abs. 3 VwGO. Die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen wäre unbillig, weil er sich nicht am Kostenrisiko beteiligt hat.
13Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 6 Satz 4 in Verbindung mit Satz 1 Nr. 1 und den Sätzen 2 und 3 GKG und § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs. Hiernach ist für den Antrag auf vorläufige Freihaltung der Beförderungsstelle ein Viertel der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge des angestrebten Amtes (Besoldungsgruppe A 16) in Ansatz gebracht worden.
14Rechtsmittelbelehrung:
15(1) Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.
16Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingelegt werden.
17Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.
18Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
19Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –).
20Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
21(2) Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
22Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
23Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
24Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
25Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften. War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Die Verordnung über das Naturschutzgebiet „Mascheroder- und Rautheimer Holz“ in der Stadt Braunschweig (NSG BR 153) ist unwirksam.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.
Die Antragsgegnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht der Antragsteller vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Antragsteller wendet sich mit seinem Normenkontrollantrag gegen die Verordnung über das Naturschutzgebiet „Mascheroder- und Rautheimer Holz“ in der Stadt Braunschweig (NSG BR 153).
2
Diese Naturschutzgebietsverordnung wurde vom Rat der Antragsgegnerin am 18. Dezember 2018 beschlossen und in der Ausgabe Nr. 14/2018 des Amtsblatts für die Stadt Braunschweig am 28. Dezember 2018 bekannt gemacht. Als Tag des Inkrafttretens legt § 10 Abs. 1 VO den Tag nach der Verkündung fest, also den 29. Dezember 2018.
3
Am 27. Dezember 2019 hat der Antragsteller, der eine rund 70 ha große im Geltungsbereich der Verordnung liegende Waldfläche bewirtschaftetet, einen Normenkontrollantrag gestellt. Er macht geltend, die Verordnung sei aus formellen und materiellen Gründen unwirksam.
4
Der Antragsteller beantragt,
5
die Verordnung über das Naturschutzgebiet „Mascheroder- und Rautheimer Holz“ in der Stadt Braunschweig für unwirksam zu erklären.
6
Die Antragsgegnerin beantragt,
7
den Antrag abzulehnen.
8
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Beiakten (1-7) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
9
Der Normenkontrollantrag ist zulässig und begründet.
10
Der Antrag ist statthaft, weil die angegriffene Naturschutzgebietsverordnung nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 75 NJG der Normenkontrolle durch das Oberverwaltungsgericht unterliegt.
11
Der Antrag erfüllt auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen. Er ist innerhalb der Antragsfrist des § 47 Abs. 1 Satz 2 VwGO und damit rechtzeitig gestellt worden. Außerdem ist der Antragsteller i. S. d. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO antragsbefugt, weil er Waldflächen im Geltungsbereich der Verordnung bewirtschaftet und daher geltend machen kann, durch die Bestimmungen der Verordnung oder deren Anwendung in eigenen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Das gilt insbesondere in Bezug auf die in § 3 Abs. 1 und 2 VO geregelten Verbote, die der Antragsteller bei der Bewirtschaftung der Waldflächen zu beachten hat, soweit keine der in 4 VO geregelten Freistellungen eingreift.
12
Der demnach zulässige Normenkontrollantrag ist auch begründet. Die Naturschutzgebietsverordnung ist bereits aus formellen Gründen, nämlich wegen einer fehlerhaften Bekanntmachung der zur Verordnung gehörenden Karten unwirksam.
13
Nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG richten sich Form und Verfahren der Unterschutzstellung sowie die Beachtlichkeit von Form- und Verfahrensfehlern und die Möglichkeit ihrer Behebung nach Landesrecht. Die landesrechtlichen Vorgaben zu Form und Verfahren der Unterschutzstellung und der Beachtlichkeit von Verfahrensmängeln sind in § 14 NAGBNatSchG geregelt. Hier hat die Antragsgegnerin bei der Verkündung der Verordnung die Vorgaben des § 14 Abs. 4 NAGBNatSchG nicht vollständig beachtet.
14
Gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 NAGBNatSchG werden der geschützte Teil von Natur und Landschaft und der Geltungsbereich von Vorschriften in der Verordnung zeichnerisch in Karten bestimmt. Werden bei der Verkündung die Karten nicht oder nicht vollständig abgedruckt, so ist gemäß § 14 Abs. 4 Sätze 2 bis 6 NAGBNatSchG wie folgt zu verfahren: Die Naturschutzbehörde, die die Verordnung erlässt, und die Gemeinden, deren Gebiet betroffen ist, haben eine Ausfertigung der Karten aufzubewahren und jedermann kostenlos Einsicht zu gewähren. Hierauf ist in der Verordnung hinzuweisen. Außerdem sind die zum Schutzgebiet gehörenden Örtlichkeiten im Text der Verordnung grob zu beschreiben. Diese Beschreibung ist nicht erforderlich, wenn eine Übersichtskarte mit einem Maßstab von 1 : 50 000 oder einem genaueren Maßstab Bestandteil der Verordnung ist. Nach § 14 Abs. 4 Satz 7 NAGBNatSchG erfolgt die Verkündung der Verordnung im amtlichen Verkündungsblatt oder, sofern ein solches nicht vorhanden ist, im Niedersächsischen Ministerialblatt.
15
Hierzu ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass Karten, die Bestandteil der Verordnung sind, in Originalgröße im amtlichen Verkündungsblatt abzudrucken sind, da Karten mit abweichenden, in der Regel verkleinerten Maßstab den Verlauf der Grenze des unter Schutz gestellten Gebietes ungenauer als die Originalkarten wiedergeben (vgl. Senatsurt. v. 4.12.2018 - 4 KN 77/16 -, v. 19.7.2017 - 4 KN 29/15 -, v. 2.5.2017 - 4 KN 318/13 -; so auch Nds. OVG, Urt. v. 15.9.2005 - 8 KN 72/02 -; Urt. v. 13.3.2003 - 8 KN 236/01 -; Bay. VGH, Urt. v. 3.4.1984 - 9 N 83 A.1461 -; Louis, Niedersächsisches Naturschutzgesetz, Kommentar, § 30 Rn. 6).
16
Diese Vorgaben hat die Antragsgegnerin nicht befolgt, denn sie hat sämtliche Karten, die Bestandteil der Verordnung sind, bei der Verkündung in ihrem Amtsblatt nur in einem deutlich verkleinerten Maßstab abgedruckt. Gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 VO ergibt sich die Grenze des Schutzgebiets aus der maßgeblichen und mitveröffentlichten Karte im Maßstab 1 : 10.000 (Anlage 1) und aus der Übersichtskarte im Maßstab 1 : 50.000 (Anlage 2). Ferner sind nach Satz 2 der Regelung die forstlichen Freistellungen und Betretensrechte gemäß § 4 VO in der Detailkarte im Maßstab 1 : 10.000 dargestellt (Anlage 3). Alle drei genannten Karten hat die Antragsgegnerin zusammen mit dem Text der Verordnung in ihrem Amtsblatt verkündet. Die drei Karten weisen aber nur in dem ausgefertigten Original-Exemplar der Verordnung die in § 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 VO festgelegten Maßstäbe von 1 : 10.000 bzw. 1 : 50.000 auf (Beiakte 4, Bl. 1674-76). Bei der Bekanntmachung im Amtsblatt (siehe Beiakte 7) sind hingegen alle drei Karten nur noch etwas mehr als halb so groß abgedruckt worden. Damit unterschreitet die verkündete Fassung der Übersichtskarte (Anlage 2) zugleich auch den durch § 14 Abs. 4 Satz 6 NAGBNatSchG vorgegebenen Mindestmaßstab von 1 : 50.000 deutlich.
17
Die fehlerhafte Verkündung der Karten ist auch nicht aufgrund einer groben Beschreibung des von der Unterschutzstellung erfassten Gebiets im Text der Verordnung unerheblich. Denn an einer den Anforderungen von § 14 Abs. 4 Satz 5 NAGBNatSchG genügenden textlichen Grobbeschreibung fehlt es hier.
18
Das Erfordernis einer textlichen Grobbeschreibung ist nur dann erfüllt, wenn die Gebietsgrenzen im Verordnungstext selbst grob beschrieben und diese Gebietsbeschreibung auch ohne Zuhilfenahme von Karten aus sich heraus verständlich ist (Senatsurt. v. 19.7.2017 - 4 KN 29/15 -; Nds. OVG, Beschl. v. 10.2.2000 - 3 K 3887/99 - u. Beschl. v. 6.12.1990 - 3 K 21/89 -). Eine derartige Grobbeschreibung soll Anstoßfunktion haben und die potenziell Betroffenen dazu anregen, sich mithilfe der hinterlegten Karte zu vergewissern, ob ihre Grundstücke innerhalb oder außerhalb des Schutzgebietes liegen (vgl. Blum/Agena, Niedersächsisches Naturschutzrecht, Kommentar, Stand Januar 2017, § 14 Rn. 44).
19
Hier enthält der Verordnungstext zwar in § 1 Abs. 2 VO Hinweise auf die Lage des Schutzgebiets, insbesondere in Satz 2 zur Begrenzung des Gebiets durch die Siedlungsbereiche Mascherode, Südstadt und Heidberg. Die Lage und Ausbreitung des Naturschutzgebiets wird hierdurch jedoch nicht insgesamt grob ersichtlich, da anhand dieser Beschreibung nur Teilstücke des Verlaufs der Gebietsgrenze grob nachvollzogen werden können.
20
Der somit vorliegende Verkündungsmangel führt, auch wenn er vom Antragsteller nicht gerügt worden ist, zur Unwirksamkeit der Naturschutzgebietsverordnung. Denn er ist von Amts wegen zu berücksichtigen, da sich die Präklusionsregelung in § 14 Abs. 7 NAGBNatSchG, wonach eine Verletzung von Formvorschriften unbeachtlich ist, wenn sie nicht innerhalb eines Jahres nach Verkündung der Verordnung geltend gemacht worden ist, nur auf die Vorschriften des § 14 Abs. 1 bis 3 NAGBNatSchG bezieht, nicht jedoch auf die Vorschriften über die Verwendung von Karten und die Verkündung der Verordnung in § 14 Abs. 4 NAGBNatSchG.
21
Den Fehler bei der Verkündung der Verordnung kann die Antragsgegnerin aber dadurch ex nunc beheben, dass sie die Verordnung und die dazugehörigen Karten in der Originalgröße vollständig erneut verkündet. Ist eine naturschutzrechtliche Schutzgebietsverordnung wegen eines Verfahrensfehlers nicht wirksam geworden bzw. nichtig, bedarf es nämlich keiner Wiederholung des gesamten Normsetzungsverfahrens. Es genügt vielmehr, den Fehler zu beheben und eventuell nachfolgende Verfahrensschritte zu wiederholen (vgl. Senatsurt. v. 19.4.2018 - 4 KN 258/17 -, v. 30.10.2017 - 4 KN 275/17 - u. v. 2.5.2017 - 4 KN 318/13 -; Nds. OVG, Urt. v. 10.3.2005 - 8 KN 41/02 - u. v. 13.3.2003 - 8 KN 236/01 -; Bay. VGH, Urt. v. 28.10.1994 - 9 N 87.03911 und 9 N 90.00928 -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 4.6.1992 - 5 S 2616/91 -; Blum/Agena, Nds. Naturschutzrecht, § 14 Rn. 56; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 24.5.1989 - 4 NB 10.89 - zu Bebauungsplänen).
22
Da die Naturschutzgebietsverordnung bereits aufgrund des Verkündungsfehlers unwirksam ist, bedarf es keiner umfassenden Prüfung, ob sie in sonstiger, insbesondere materieller Hinsicht mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Der Senat weist allerdings darauf hin, dass er nicht die vom Antragsteller vertretene Ansicht teilt, dass die Antragsgegnerin zur Wahrung des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes die zeichnerische Bestimmung des geschützten Teils von Natur und Landschaft in der für die Gebietsabgrenzung maßgeblichen Karte (Anlage 1 zu § 1 Abs. 3 Satz 1 VO) in einem noch genaueren als dem gewählten Maßstab von 1 : 10.000 hätte vornehmen müssen.
23
§ 14 Abs. 4 Satz 6 NAGBNatSchG lässt sich entnehmen, dass eine Übersichtskarte einen Mindestmaßstab von 1 : 50.000 aufweisen muss. Im Gegenschluss ergibt sich daraus, dass die für die Grenzziehung des geschützten Teils von Natur und Landschaft maßgebliche Karte nach § 14 Abs. 4 Satz 1 NAGBNatSchG einen genaueren Maßstab aufweisen muss, der eine zeichnerische Darstellung ermöglicht, anhand derer sich das Schutzgebiet klar und nachprüfbar bestimmen lässt. Die Wahl des Kartenmaßstabs hat sich dabei an den Erfordernissen der jeweiligen tatsächlichen Gegebenheiten auszurichten, insbesondere an der Größe des Gebiets und der Übersichtlichkeit des Grenzverlaufs (vgl. Blum/Agena, Niedersächsisches Naturschutzrecht, § 14 NAGBNatSchG Rn. 37). Für kleinere Schutzgebiete – i.d.R. Naturschutzgebiete – werden Maßstäbe von 1 : 2.500 bis 1 : 5.000 als ausreichend angesehen, während größere Schutzgebiete – i.d.R. Landschaftsschutzgebiete – auch durch Karten mit größeren Maßstäben noch hinreichend genau bezeichnet werden können (vgl. Senatsbeschl. v. 2.9.2020 - 4 MN 53/19 - u. Senatsurt. v. 15.10.2019 - 4 KN 185/17 -).
24
Daran gemessen geht der Senat davon aus, dass die Karte im Maßstab von 1 : 10.000 die Grenzen des Geltungsbereichs der Verordnung (noch) mit ausreichender Bestimmtheit darstellt. Es handelt sich bei dem eine Fläche von ca. 155 ha (§ 1 Abs. 5 VO) einnehmenden Naturschutzgebiet zwar nicht um ein besonders großes Schutzgebiet. Der Senat ist aber der Auffassung, dass anhand der Karte und anhand der Regelung in § 1 Abs. 3 Sätze 3 und 4 VO, wonach die Gebietsgrenze das in die Karte eingezeichnete graue Band von innen berührt, der Grenzverlauf noch mit ausreichender Klarheit erkennbar wird. Das gilt insbesondere deshalb, weil die Gebietsgrenze mit Flurstücks- und Straßengrenzen sowie im Südosten mit der Stadtgrenze übereinstimmt, wie aus der Karte zu ersehen ist. Der Grenzverlauf ist daher nicht so unübersichtlich, dass er einer genaueren Darstellung als in dem gewählten Maßstab von 1 : 10.000 bedurft hätte.
25
Im Übrigen würde eine zu unbestimmte Abgrenzung des Schutzgebiets durch Wahl eines zu kleinen Kartenmaßstabs ohnehin nicht einen Rechtsfehler darstellen, der (ebenso wie der oben dargestellte Verkündungsmangel) zur Unwirksamkeit der gesamten Verordnung führen würde. Denn ein Bestimmtheitsmangel bei der Gebietsabgrenzung führt grundsätzlich nur zur Teilnichtigkeit der Verordnung, die sich räumlich auf den „Unschärfebereich“ beschränkt (OVG NRW, Urt. v. 2.10.1997 - 11 A 4310/94 -, NuR 1998, 329; Blum/Agena/Brüggeshemke, Nds. Naturschutzrecht, Stand: 16. EL 2020, § 14 Rn. 37; Hendrischke in: Schlacke, GK-BNatSchG, 2. Aufl. 2017, § 22 Rn. 10 m. w. Nachw.; zu Bebauungsplänen BVerwG, Urt. v. 4.1.1994 - 4 NB 30.93 -, Buchholz 406.11 § 9 BauGB Nr. 69 = NVwZ 1994, 684).
26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
27
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
28
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 25.10.2019, Az. 6 O 229/19, wird zurückgewiesen.2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Karlsruhe ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.1 Der Kläger begehrt von der Beklagten (der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder) die Zahlung einer Betriebsrente, weil er der Ansicht ist, eine Gesetzesänderung zum 01.01.2017 habe einen Versicherungsfall nach § 33 VBL-Satzung (im Folgenden: VBLS) ausgelöst.2 Der am ... 1969 geborene Kläger erhielt wegen eines Versicherungsfalls vom 31.08.1987 seit dem 01.09.1987 eine Invalidenrente nach §§ 8 bis 11 der 1. Rentenverordnung DDR. Diese Rente wurde nach der deutschen Wiedervereinigung gemäß § 302a SGB VI in der Fassung bis zum 30.06.2017 (im Folgenden: a.F.) als gesetzliche Rente wegen Berufsunfähigkeit fortgeführt. Durch das Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung der Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexirentengesetz) vom 08.12.2016 wurde § 302a SGB VI dahingehend geändert, dass alle überführten Invalidenrenten des Beitrittsgebiets ab 01.07.2017 als Renten wegen voller Erwerbsminderung gelten, sofern ein Anspruch ununterbrochen bestanden hat.3 Infolge dieser Gesetzesänderung teilte die Deutsche Rentenversicherung dem Kläger mit Bescheid vom 08.05.2018 mit, dass seine Rente ab dem 01.07.2017 als Rente wegen voller Erwerbsminderung gelte.4 Seit dem 01.01.1997 ist der Kläger bei der Bundesagentur für Arbeit beschäftigt und bei der Beklagten pflichtversichert. Der Arbeitgeber hat ab diesem Zeitpunkt die Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit und für das Jahr 2018 ein zusatzversorgungspflichtiges Entgelt in Höhe von 31.709,58 EUR gemeldet.5 Am 13.09.2018 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Betriebsrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Mitteilungen vom 24.10.2018 und 14.11.2018 mit der Begründung ab, zum Zeitpunkt des allein maßgeblichen Versicherungsfalls vom 31.08.1987 sei er noch nicht bei der Beklagten pflichtversichert gewesen.6 Der Kläger hat geltend gemacht, ihm stehe eine Betriebsrente zu, weil aufgrund der Umstufung des Rentenanspruchs zum 01.07.2017 der Versicherungsfall nach § 33 Abs. 1 VBLS eingetreten sei. Erst ab diesem Zeitpunkt habe ein Anspruch auf gesetzliche Rente wegen voller Erwerbsminderung bestanden. Die Wartezeit des § 34 VBLS sei am 01.07.2017 erfüllt gewesen. Dass ihm bereits vor dem 01.07.2017 aufgrund des Leistungsfalls vom 31.08.1987 ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit zugestanden habe, sei unerheblich. Der Anspruch auf Rente wegen teilweiser Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI habe andere Voraussetzungen als der Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI; maßgeblich sei nach § 33 Abs. 1 VBLS allein die Entstehung des Letzteren. Daher ändere es auch nichts, dass die Umstufung des Anspruchs auf eine gesetzliche Neuregelung des § 302a SGB VI zurückgehe.7 Der Kläger hat in erster Instanz zuletzt beantragt:8 Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 01.07.2017 eine Betriebsrente in Höhe von monatlich 343,36 EUR zu zahlen.9 Die Beklagte hat beantragt,10 die Klage abzuweisen.11 Sie hat geltend gemacht, zum 01.07.2017 sei kein neuer Versicherungsfall nach § 33 Abs. 1 VBLS eingetreten, da die Rentenbezüge des Klägers durchweg auf ein- und demselben Leistungs- und Versicherungsfall vom 31.08.1987 beruhten. Da die Rente aufgrund einer Gesetzesänderung umgestellt worden sei, habe die Deutsche Rentenversicherung zum 01.07.2017 nicht geprüft, ob die Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 SGB VI für einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vorlagen. Damit sei kein Versicherungsfall im Sinne des § 33 VBLS eingetreten. Bei Eintritt des Versicherungsfalles am 31.08.1987 habe aber noch keine Pflichtversicherung bestanden und auch die Wartezeit nach § 34 VBLS sei noch nicht abgelaufen gewesen.12 Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 25.10.2019 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 33 VBLS nicht erfüllt seien. Allen Rentenbescheiden der gesetzlichen Rentenversicherung liege der allein maßgebliche Versicherungsfall vom 31.08.1987 zu Grunde. Durch die Umstellung zum 01.07.2017 aufgrund der Änderung des § 302a Abs. 1 SGB VI habe die ursprüngliche Rente des Klägers lediglich eine neue Bezeichnung erhalten, ohne dass sich die tatsächlichen Voraussetzungen geändert hätten. Dem Bescheid der Deutschen Rentenversicherung habe daher auch keine neue Prüfung der Voraussetzungen zum Versicherungsfall zugrunde gelegen.13 Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags. Ergänzend macht er geltend, dass bei der Umstellung zum 01.07.2017 ein neuer Rentenbescheid erteilt worden sei, weil sich unter anderem der Rentenartfaktor geändert habe. Diese Umstellung falle unter den Wortlaut des § 33 VBLS. Hätte die Beklagte ausschließen wollen, dass die Umstufung von Renten aufgrund des Flexirentengesetzes zur Entstehung von Betriebsrenten führen, hätte sie § 33 VBLS ändern müssen. Das habe sie aber nicht getan. Überdies sei dem Kläger mitgeteilt worden, dass sich aus der Änderung keine Nachteile für ihn ergeben sollten. Die Entscheidung des Landgerichts führe aber zu einem Nachteil für den Kläger. Ein neuer Versicherungsfall könne auf Grundlage der Rechtsauffassung des Landgerichts erst bei Erreichen der Altersgrenze 2034 bzw. 2036 eintreten. Dem Kläger wäre es damit verwehrt, bei Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation und einer weiteren Erkrankung einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen, da er eine solche bereits erhalte.14 Der Kläger beantragt in der Berufung:15 Unter Aufhebung des Urteils des Landgerichtes Karlsruhe vom 25.10.2019 wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab 01.07.2017 eine Betriebsrente in satzungsgemäßer Höhe zu zahlen.16 Die Beklagte beantragt,17 die Berufung zurückzuweisen,18 und verteidigt das erstinstanzliche Urteil.19 Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29.09.2020 verwiesen.II.20 Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.1.21 Ein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Betriebsrente könnte sich nur aus § 33 Satz 3 VBLS ergeben. Voraussetzung ist, dass der Versicherungsfall eingetreten und in diesem Zeitpunkt bereits die Wartezeit nach § 34 VBLS erfüllt ist. Für beides ist allein entscheidend, ob mit der Änderung zum 01.07.2017 ein Versicherungsfall nach § 33 Satz 1 VBLS eingetreten ist. Von diesem rechtlichen Ausgangspunkt ist das Landgericht zu Recht ausgegangen, er ist insoweit auch zwischen den Parteien nicht umstritten.22 Zutreffend hat das Landgericht entschieden, dass die Änderung zum 01.07.2017 keinen Versicherungsfall im Sinne des § 33 Satz 1 VBLS darstellt. Bei der Auslegung dieser Vorschrift ist - nach den Grundsätzen, die für die Auslegung allgemeiner Vertragsbedingungen gelten - auf den Verständnishorizont eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers abzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 10.10.2012 - IV ZR 10/11 - juris Rn. 40). Allgemeine Vertragsbedingungen sind im Unterschied zu individuellen Vertragsbestimmungen objektiv ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und des Willens der konkreten Parteien auszulegen. Besondere Bedeutung kommt daher dem Wortlaut einer Klausel und seinem Verständnis durch die typischerweise beteiligten redlichen Verkehrskreise unter Berücksichtigung derer Interessen zu (BGH, Urteil vom 20.12.2018 - I ZR 104/17 - juris Rn. 41). Für die Auslegung allgemeiner Versicherungsbedingungen ist demzufolge maßgebend, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss; dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit - auch - auf seine Interessen an (BGH, Urteil vom 23.06.1993 - IV ZR 135/92, BGHZ 123, 83-92, Rn. 14; BGH, Beschluss vom 24.06.2009 - IV ZR 110/07 - juris Rn. 7).a.23 Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Wortlaut des § 33 Satz 1 VBLS allein darauf abstellt, ab welchem Monat „der Anspruch auf gesetzliche Rente wegen Alters als Vollrente bzw. wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung besteht“, und nicht nach dem Grund differenziert, auf dem der Anspruch beruht. Insoweit ließe es sich mit dem Wortlaut der Vorschrift grundsätzlich vereinbaren, dass der Versicherungsfall nicht nur durch eine Änderung der tatsächlichen Umstände, sondern auch durch eine Änderung der maßgeblichen Vorschriften - wie hier des § 302a SGB VI - eintreten kann.24 Dieses am unmittelbaren Wortlaut orientierte Verständnis, auf das sich der Kläger beruft, übergeht aber, dass die Vorschrift den Versicherungsfall zeitlich an den Ersten desjenigen Monats anknüpft, „von dem an der Anspruch auf gesetzliche Rente (...) besteht“. Damit stellt § 33 Satz 1 VBLS auf den Zeitpunkt ab, zu dem „der Anspruch“ entsteht. Von der Entstehung eines Anspruchs sind die Fälle zu unterscheiden, in denen ein bereits bestehender Anspruch lediglich verändert wird. So stellt es - unstreitig - keinen Versicherungsfall dar, wenn die Rente ohne Änderung der Tatsachengrundlage neu berechnet und in der Höhe angepasst wird, wie es im Fall des Klägers etwa im Juni 2016 der Fall war (Bescheid vom 05.06.2016, Anlage K7). Entscheidendes Abgrenzungskriterium ist die rechtliche Kontinuität: Der Versicherungsfall tritt nach § 33 Satz 1 VBLS nur ein, wenn ein im Rechtssinne (ganz oder teilweise) neuer Anspruch auf eine gesetzliche Rente entsteht. In diesem Fall sind - von der gesetzlichen Rentenversicherung, an deren Bescheid § 33 Satz 2 VBLS anknüpft - auch die Anspruchsvoraussetzungen neu zu prüfen. Wird dagegen eine bereits bestehende Forderung umgestaltet, führt dies nicht zu einer erneuten Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen oder einer sonstigen Zäsur, die den Versicherungsfall auslösen würde. Der Zeitpunkt, „von dem an der Anspruch (...) besteht“, ist dann nicht dessen Veränderung, sondern seine ursprüngliche Entstehung.25 Das entspricht dem - maßgeblichen - Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers. Für diesen steht im Vordergrund, dass er tatsächlich „die Rente“ - in Form regelmäßiger Zahlungen - erhält. Die rechtliche Einkleidung der Zahlungen spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Dementsprechend begreift ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer eine Änderung der rechtlichen Grundlagen für die Rentenzahlung auch nicht als Zäsur, sondern identifiziert die vorherigen Zahlungen mit den späteren als dieselbe Rente.26 Nach diesen Maßstäben ist zum 01.07.2017 kein Rentenanspruch zu Gunsten des Klägers entstanden und damit kein Versicherungsfall eingetreten. Mit der Änderung des § 302a SGB VI durch das Flexirentengesetz vom 08.12.2016 wurden keine neuen Rentenansprüche begründet, sondern bereits bestehende Ansprüche umgestaltet. Die rechtliche Kontinuität kommt im Wortlaut des § 302a SGB VI deutlich zum Ausdruck: „Bestand am 31. Dezember 1991 Anspruch auf eine nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets berechnete Invalidenrente (...), die am 30. Juni 2017 als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder als Rente wegen Berufsunfähigkeit geleistet wurde, gilt diese Rente als Rente wegen voller Erwerbsminderung“ (Hervorhebungen hinzugefügt). Das entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers: Ein Hauptzweck des Gesetzes war die Verbesserung der Möglichkeit, Teilrente und Hinzuverdienst flexibler zu gestalten (BT-Drs. 18/9787, S. 2, 23). Die Änderung des § 302a SGB VI war für die Betroffenen vorteilhaft, da „das für Invalidenrenten vorausgesetzte Restleistungsvermögen von einem Drittel geringer ist als das nach heutigem Recht für volle Erwerbsminderung vorausgesetzte Restleistungsvermögen von unter drei Stunden täglich.“ (BT-Drs. 18/9787, S. 48). Darüber hinaus diente die Umstellung der Verwaltungsvereinfachung: „Zugleich wird durch die Geltung als Erwerbsminderungsrente erreicht, dass bisherige Sonderregelungen für Renten wegen Erwerbsunfähigkeit oder Renten wegen Berufsunfähigkeit entfallen können.“ (BT-Drs. 18/9787, S. 48). Dieser Gesetzeszweck kommt im Wortlaut des § 302a SGB VI zum Ausdruck: Der Rentenanspruch bleibt dem Grunde nach unangetastet, „gilt“ aber - für die Berechnung - als Rente wegen Erwerbsminderung. Die Änderung des § 302a SGB VI durchbricht demnach die Kontinuität der Rente ebensowenig wie die Überführung der Invalidenrenten des Beitrittsgebiets in Renten wegen Erwerbsunfähigkeit durch § 302a Abs. 1 SGB VI a.F. (dazu BSG, Urteil vom 26.10.2004, B 4 RA/04 R - juris Rn. 29-32).27 Nichts Anderes folgt aus dem Bescheid vom 08.05.2018. Darin heißt es, „der bisherige Bescheid wird hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab dem 01.07.2017 aufgehoben“ (Hervorhebung hinzugefügt); die Rente wurde - zugunsten des Klägers - neu berechnet. Dementsprechend wurden auch die Anspruchsvoraussetzungen nicht neu überprüft.b.28 Anders als der Kläger meint, war die Beklagte vor diesem gesetzlichen Hintergrund nicht gehalten, ihre Satzung zu ändern, um die Entstehung neuer Betriebsrentenansprüche auszuschließen. Da mit der Änderung des § 302a SGB VI keine Ansprüche neu begründet wurden, führte das Flexirentengesetz auch nach der bestehenden Fassung des § 33 Satz 1 VBLS nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls. Eine Klarstellung wäre möglich gewesen, war aber nicht erforderlich.c.29 Der Kläger kann sich auch nicht auf Vertrauensschutz oder ein Verschlechterungsverbot berufen.30 Dabei ist schon fraglich, ob mit dem Flexirentengesetz ein solch umfassendes Benachteiligungsverbot einherging, wie es der Kläger in der Berufungsbegründung in Anspruch nimmt. Letzlich beruft sich der Kläger insoweit darauf, dass er auch bei späteren Änderungen seiner Leistungsfähigkeit und seiner Lebensumstände nicht schlechter stehen dürfe, als es - hypothetisch - der Fall gewesen wäre, wenn sein Anspruch als Rente wegen Berufsunfähigkeit weitergeführt worden wäre. Die Gesetzesbegründung bezieht sich aber lediglich auf den status quo und hält fest, dass infolge „der Umstellung des Hinzuverdienstrechts auf eine jahresdurchschnittliche Betrachtung die bisherige Differenzierung von Rentenarten für nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets berechnete Invalidenrenten oder Bergmannsinvalidenrenten in Abhängigkeit von einer monatlichen 450 Euro-Grenze nicht mehr zielführend“ sei und dass „das für Invalidenrenten vorausgesetzte Restleistungsvermögen von einem Drittel geringer ist als das nach heutigem Recht für volle Erwerbsminderung vorausgesetzte Restleistungsvermögen von unter drei Stunden täglich“ (Bt.-Drs. 18/9787, S. 48). Auch der Hinweis „Daraus ergeben sich für Sie keine Nachteile“ im Bescheid vom 08.05.2018 (Anlage K2) bezieht sich nach dessen Zusammenhang nicht auf zukünftige Veränderungen, sondern nur auf den damaligen Ist-Zustand, insbesondere auf die Rentenhöhe.31 Letztendlich kann die Frage, ob und in welchem Umfang mit dem Flexirentengesetz ein Verschlechterungsverbot einhergeht, im vorliegenden Fall aber dahinstehen. Diese Frage wäre nur dann von Bedeutung, wenn dem Kläger aufgrund der Gesetzesänderung zum 01.07.2017 bereits ein Nachteil entstanden wäre. Dies hat er aber nicht vorgetragen; die von ihm beschriebenen Konstellationen sind zukünftig und hypothetisch. Der Kläger nimmt vielmehr seinerseits mit seiner Auslegung des § 33 Satz 1 VBLS und der Forderung nach Zahlung einer Betriebsrente einen Vorteil in Anspruch, den er - unstreitig - nicht gehabt hätte, wenn es zum 01.07.2017 nicht zu einer Änderung des Rentenanspruchs gekommen wäre. Dass aus dem Flexirentengesetz - jenseits der in der Gesetzesbegründung genannten Vorteile - ein Anspruch auf eine derartige Besserstellung folgen würde, ist aber weder vorgetragen noch ersichtlich.32 Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, dass ein Härtefall vorliege, der nach § 242 BGB zu einer Sonderbehandlung führen müsse, ist dies nicht nachvollziehbar. Dem Kläger entsteht gegenwärtig - wie ausgeführt - durch die Regelung des § 33 VBLS weder ein Nachteil im Verhältnis zu seiner rechtlichen und wirtschaftlichen Stellung vor dem 01.07.2017, noch ist eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Versicherungsnehmern in vergleichbarer Lage vorgetragen oder ersichtlich.2.33 Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Anlass für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) bestand nicht. | {
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Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 15. November 2018 - 1 K 16072/17 - geändert. Der Gebührenbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen - Eich- und Beschusswesen - Nr. ... vom 6. September 2017 wird aufgehoben.Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1 Die Klägerin, ein Messdienstleistungsunternehmen, wendet sich gegen die Heranziehung zu einer Gebühr i.H.v. 125,-- EUR für eine eichrechtliche Verwendungsüberwachung von im Eigentum Dritter stehenden Kaltwassermessgeräten.
2 Die Klägerin ist eine in der Immobilienwirtschaft tätige .... Sie erbringt für Eigentümer und Verwalter von Wohn- und Gewerbeimmobilien Dienstleistungen. Sie liest unter anderem bundesweit über 11 Millionen Messgeräte ab und übermittelt die abgelesenen Werte an ihre jeweiligen Auftraggeber.
3 Der Tätigkeit der Klägerin liegen in vielen Fällen - und so auch hier - folgende Rahmenbedingungen zugrunde: In der Gemeinde, in der die jeweilige Immobilie gelegen ist, versorgt das zuständige Versorgungsunternehmen ein Grundstück unter anderem mit Wasser. Die gelieferte Gesamtwassermenge wird an dem Hausanschluss mit einem dort befindlichen und in der Regel im Eigentum des Versorgungsunternehmens stehenden sog. Hauptzähler gemessen. Diese Hauptzähler werden von dem Versorgungsunternehmen selbst abgelesen. Dieses rechnet die gelieferte Wassermenge gegenüber dem Eigentümer oder ggf. - wie hier - der Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG) ab. Das an den Hausanschluss gelieferte Wasser wird über die sich daran anschließenden Leitungen an die einzelnen Wohnungen oder sonstigen Nutzungseinheiten in dem Gebäude verteilt. In den Einheiten befinden sich sog. Unterzähler. Auf der Grundlage der an den Unterzählern abgelesenen Verbrauchswerte rechnet im Falle einer WEG diese oder der von ihr bestellte Verwalter den Verbrauch ggf. gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern und rechnen diese ggf. die Nebenkosten gegenüber ihren Mietern ab. Die Klägerin wird in solchen Fällen vielfach von der WEG durch einen privatrechtlichen Vertrag damit beauftragt, zum einen die Unterzähler abzulesen (sog. Ableseservice) sowie zum anderen, die abgelesenen Messwerte in Abrechnungsmuster einzutragen und als Abrechnungsentwürfe der WEG oder ihrem Verwalter zu übermitteln (sog. Abrechnungsservice). Die WEG rechnet den Wasserverbrauch ausgehend von den Abrechnungsentwürfen aufgrund eines von ihr zu fassenden Beschlusses selbst oder durch den Verwalter gegenüber den Wohnungseigentümern ab. Von wem die Unterzähler gestellt werden, in wessen Eigentum diese stehen und ob die Klägerin über die genannten Dienstleistungen (Ablese- und Abrechnungsservice) hinaus weitergehende Pflichten in Bezug auf die Unterzähler - beispielsweise deren Wartung betreffend - übernimmt, hängt von den im jeweiligen Einzelfall zwischen ihr und der WEG oder dem sonstigen Eigentümer vereinbarten vertraglichen Pflichten ab. Mit der Durchführung der Ablesung der Unterzähler beauftragt die Klägerin typischerweise - wie auch hier - Subunternehmer.
4 Unter dem ...2009 schloss die Klägerin mit der durch eine Hausverwalterin (zuletzt ...) vertretenen, ein Gebäude mit fünf Wohnungen umfassenden WEG in der ..., ... ... (im Folgenden: die WEG), einen auf unbestimmte Zeit geschlossenen sog. Wärmedienstvertrag. Dieser Vertrag hat die jährliche Durchführung des Ablese- und Abrechnungsdienstes für die genannte Liegenschaft zum Gegenstand (Nr. 1 des Vertrages, vgl. Bl. 51 d. VG-Akte). Er bezieht sich neben der Heizung auf das Warm- und Kaltwasser (Nr. 2 des Vertrages), für die 9 Warmwasserzähler und 11 Kaltwasserzähler abzulesen sind (vgl. Anlage 1 zum Vertrag, S. 8 des Schriftsatzes vom 18.12.2019 = Bl. 383 d. Senatsakte). In den zum Vertragsbestandteil erklärten Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB, vgl. Nr. 5 des Vertrages) sind unter anderem „Mitwirkungspflichten“ des Auftraggebers (der WEG) geregelt (Nr. VIII AGB). Dort heißt es unter anderem, der Auftraggeber sei „[n]ach den gesetzlichen Bestimmungen (z.B. Heizkostenverordnung, AVB-Fernwärme, Neubaumietenverordnung)“ für die „vollständige Ausrüstung der Liegenschaft mit geeigneten Erfassungsgeräten und eine verbrauchsabhängige Abrechnung“ verantwortlich und unter anderem verpflichtet, die Nutzer unverzüglich über Ablesetermine zu informieren sowie freien Zugang zu den Messgeräten zu gewährleisten. Nach Nr. VII.1 AGB obliegt die Weitergabe der Einzelabrechnungen an die Nutzer dem Auftraggeber. Die von der Klägerin abzulesenden Wasserzähler stehen im Eigentum der WEG. Über den sog. Ablese- und den sog. Abrechnungsservice hinausgehende Leistungen haben die Parteien des Vertrages nicht vereinbart (vgl. Schriftsatz vom 18.12.2019, a.a.O.).
5 Im Mai 2017 teilte ein Bewohner des genannten Anwesens dem Beklagten mit, dass die Kaltwasseruhren (d.h. die Unterzähler) für die Wohnungen seit 2005 nicht mehr geeicht worden seien und dass dies seit einer Eigentümerversammlung im Jahr ... der Hausverwaltung bekannt, bis jetzt aber nichts veranlasst worden sei, um die Uhren auszutauschen.
6 Das Regierungspräsidium Tübingen - Eich- und Beschusswesen Baden-Württemberg - teilte dem Anzeigeerstatter mit E-Mail vom 29.05.2017 mit, verantwortlich für die fristgerechte Eichung von Messgeräten sei deren Verwender und daher in der Regel der Haus- oder Wohnungseigentümer. Es verwies ihn an das Eichamt.
7 Das daraufhin unterrichtete Eichamt teilte der WEG mit an die Verwalterin gerichtetem Schreiben vom 19.07.2017 mit, dass es beabsichtige, am 09.08.2017 eine Verwendungsüberwachung der Kalt- und Warmwasserzähler gemäß § 54 MessEG durchzuführen. Die Verwalterin übermittelte dem Eichamt hierauf mit E-Mail vom 17.07.2017 die von der Klägerin für das Jahr 2016 entworfenen Abrechnungen nebst Anlagen (Bl. 3 d. Verw.-Akte) und teilte mit, daraus sei für sie „nirgendwo ersichtlich, welche Eichfristen die Geräte haben. Ein Infoschreiben zu einer abgelaufenen Eichfrist haben wir auch nicht erhalten.“ Auf diese Weise erfuhr der Beklagte erstmals von der Tätigkeit der Klägerin für die WEG.
8 Am 09.08.2017 führte das Eichamt die Kontrolle durch. Es stellte fest, dass die Eichfrist von sechs im Keller des Anwesens befindlichen Messgeräten am 31.12.2006 abgelaufen war und diese im Zeitpunkt der Kontrolle ungeeicht waren.
9 Mit Schreiben vom 22.08.2017 teilte das Regierungspräsidium der Klägerin unter dem Betreff „Ahndung von Ordnungswidrigkeiten“ mit, es habe festgestellt, dass auf der Grundlage von Messergebnissen aus den ungeeichten Messgeräten Verbrauchsabrechnungen erstellt worden seien. Das stelle gemäß § 60 Nr. 19 MessEG eine Ordnungswidrigkeit dar. Es habe daher den Verantwortlichen zu ermitteln. Die Klägerin solle mitteilen, wem in ihrem Verantwortungsbereich die Einhaltung der „einschlägigen Vorschriften“ übertragen sei. Die Klägerin erwiderte unter dem 04.09.2017 sinngemäß, sie sei nicht verantwortlich. Die fraglichen Kaltwasserzähler befänden sich im Eigentum der WEG. Sie (die Klägerin) habe weder von der WEG noch von deren Verwalterin und auch nicht von dem von ihr (der Klägerin) für die Ablesung eingesetzten Subunternehmer einen Hinweis erhalten, dass die Zähler nicht geeicht seien.
10 Ohne weitere Sachverhaltsermittlungen und ohne Anhörung der Klägerin erließ das Regierungspräsidium Tübingen - Eich und Beschusswesen Baden-Württemberg - unter dem „Rechnungsdatum“ 06.09.2017 unter Verweis auf das „Prüfdatum 09.08.2017“ folgenden an die Klägerin adressierten Gebührenbescheid Nr. ... für die Verwendungsüberwachung:
11 Am 06.10.2017 hat die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart mit dem Antrag erhoben, den Gebührenbescheid des Regierungspräsidiums vom 06.09.2017 aufzuheben. Sie hat unter anderem und mit näherer Begründung geltend gemacht, sie sei nicht die richtige Adressatin dieses Bescheids, weil sie nicht verpflichtet sei, die Kosten für die Verwendungsüberwachung zu tragen. Die Kosten für eine solche Prüfung seien von demjenigen zu tragen, der sie beantragt habe oder der das Messgerät verwende. Unter dem Begriff des „Verwendens“ eines Messgeräts sei nach den gesetzlichen Bestimmungen das Betreiben oder Bereithalten eines solchen Geräts zu verstehen und als Verwender nur derjenige anzusehen, der die tatsächliche und rechtliche Funktionsherrschaft über das Gerät habe. Die „Verwenderin“ könne daher nicht sie, sondern nur die WEG sein, da diese als Eigentümerin und unmittelbare Besitzerin die Funktionsherrschaft über die Liegenschaft habe. Ihr (der Klägerin) könne auch nicht zur Last gelegt werden, dass die Messgeräte nicht mehr geeicht gewesen seien. Die dahingehende Pflicht treffe den Eigentümer der Messgeräte. Das Ablesen von Messwerten für eine WEG stelle auch keine „Verwendung von Messwerten im geschäftlichen Verkehr“ im Sinne des Gesetzes dar. Als „Verwender von Messwerten“ sei derjenige anzusehen, der die Messwerte in Rechnungen an Verbraucher weitergebe. Das sei hier die WEG im Verhältnis zu den Eigentümern, aber nicht sie (die Klägerin), deren Tätigkeit sich im Wesentlichen auf das Ablesen der Werte beschränke. Ausweislich eines länderübergreifenden Informationsblatts der Eichbehörden gingen diese auch selbst davon aus, dass das Ablesen von Messwerten den genannten Tatbestand nicht erfülle, sondern die WEGen als verantwortliche „Verwender“ anzusehen seien (vgl. Informationsblatt „Die Eichaufsichtsbehörden informieren: Angeben und Verwenden von Messwerten“, Stand 05.07.2017, Bl. 59 d. VG-Akte).
12 Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Er hat ausgeführt, die Klägerin sei zu Recht als Gebührenschuldnerin herangezogen worden. § 33 Abs. 2 MessEG schreibe vor, dass, wer Messwerte verwende, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu vergewissern habe, dass das Messgerät die gesetzlichen Anforderungen erfülle, und sich von der Person, die das Messgerät verwende, bestätigen zu lassen habe, dass sie ihre Verpflichtungen erfülle. Dies habe die Klägerin versäumt. Es handele sich um ein Organisationsverschulden. Sie habe sicherstellen müssen, dass die von ihr beauftragte Ablesefirma überprüfe, ob die abgelesenen Geräte geeicht seien.
13 Mit Urteil vom 15.11.2018 - 1 K 16072/17 - hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, die Klägerin sei Gebührenschuldnerin der Gebühr für die Verwendungsüberwachung. Bei dieser Maßnahme handele es sich um eine ihr im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG „individuell zurechenbare öffentliche Leistung“. Zurechenbar sei die Leistung zu bestimmten „Verwendern“ im Sinne des Mess- und Eichgesetzes. Die Klägerin sei sowohl Verwenderin der Messgeräte (vgl. § 3 Nr. 22 MessEG) als auch Verwenderin der Messwerte (vgl. § 3 Nr. 23 MessEG). Als Messdienstleistungsunternehmen müsse sie sich zur Erfüllung ihrer Pflichten aus dem zivilrechtlichen Vertrag mit den Grundstückseigentümern notwendigerweise der Messgeräte (Unterzähler) und der Messwerte bedienen.
14 Auf Antrag der Klägerin hat der Senat mit Beschluss vom 06.11.2019 - 1 S 2896/18 - die Berufung gegen das Urteil wegen ernstlicher Richtigkeitszweifel zugelassen.
15 Zur Begründung ihrer Berufung macht die Klägerin geltend, der angefochtene Bescheid sei schon formell rechtswidrig, weil er ohne vorherige Anhörung erlassen und dieser Fehler nicht nach § 46 LVwVfG geheilt worden sei. Der Bescheid sei zudem materiell rechtswidrig. Sie sei nicht Schuldnerin der Gebühr für die Verwendungsüberwachung. Diese sei ihr nicht im Sinne von § 59 MessEG „individuell zuzurechnen“. Sie habe diese Überwachung insbesondere nicht veranlasst und sie sei auch nicht ihrem Pflichtenkreis zuzurechnen, sondern demjenigen der WEG, weil allein diese im Sinne des Gesetzes die „Verwenderin“ der Messgeräte und der Messwerte sei.
16 Sie (die Klägerin) werde von der WEG lediglich beauftragt, die Messwerte abzulesen („Ableseservice“) und auf ihrer Grundlage Abrechnungsentwürfe zu erstellen („Abrechnungsservice“). Die eigentliche Abrechnung der WEG gegenüber den Wohnungseigentümern erfolge nicht durch sie (die Klägerin), sondern erst aufgrund eines Beschlusses der WEG durch diese bzw. den von ihr bestellten Verwalter. Ebenso erfolge die Abrechnung der Wohnungseigentümer gegenüber etwaigen Mietern nicht durch sie (die Klägerin), sondern durch die Eigentümer. Sie (die Klägerin) sei kein Organ der WEG und von dieser auch nicht rechtsgeschäftlich dazu beauftragt oder bevollmächtigt, Abrechnungen gegenüber den Wohnungseigentümern oder etwaigen Mietern vorzunehmen. Ihre Tätigkeit beschränke auch auf eine vorbereitende, technisch-praktische Tätigkeit ohne rechtlichen Entscheidungsspielraum. Dem entsprächen die Vereinbarungen in dem sog. Wärmedienstvertrag, wonach die WEG unter anderem für die Ausstattung der Liegenschaft mit geeigneten Erfassungsgeräten und die Weitergabe der Einzelabrechnungen an die einzelnen Nutzer verantwortlich sei.
17 Vor diesem Hintergrund zeige sich, dass sie (die Klägerin) im vorliegenden Fall zum einen nicht „Verwenderin von Messgeräten“ (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 1, § 3 Nr. 22 MessEG) sei. Hierfür fehle es aus den bereits erstinstanzlich genannten Gründen und in Ermangelung eines eigenen Zutrittsrechts zu den Räumen an einer Funktionsherrschaft über die fraglichen Geräte in der Gestalt einer Verfügungs- und Einwirkungsmöglichkeit. Dass sie sich - worauf das Verwaltungsgericht allein abgestellt habe - der Geräte für die Zwecke der Ablesung „bedienen“ müsse, genüge für ein „Verwenden“ im Sinne des Gesetzes gerade nicht. Der Gesetzgeber habe in der Gesetzesbegründung ausdrücklich klargestellt, dass der Begriff des „Betreibens“ als Unterfall des Verwendens eines Messgerätes enger sei als der der bloßen „Nutzung“. Auch das Regierungspräsidium selbst sei in seiner E-Mail vom 29.05.2017 noch davon ausgegangen, dass für die fristgerechte Eichung der Messgeräte grundsätzlich die Wohnungseigentümer als Verwender der Geräte verantwortlich seien.
18 Die Verwendungsüberwachung als öffentliche Leistung könne ihr (der Klägerin) auch nicht mit der Erwägung „individuell zugerechnet“ werden, sie sei eine „Verwenderin von Messwerten im geschäftlichen Verkehr“ im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG (und § 6 Nr. 6 MessEV). Die Vorschrift bestimme, dass Werte für Messgrößen „im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder bei Messungen im öffentlichen Interesse“ grundsätzlich nur dann angegeben oder verwendet werden dürften, wenn zu ihrer Bestimmung ein Messgerät bestimmungsgemäß verwendet worden sei. Unter das Tatbestandsmerkmal des „Verwendens von Messwerten“ fielen nach der Legaldefinition der zuletzt zitierten Norm solche Tätigkeiten nicht, die „rein privater, innerbetrieblicher oder amtlicher Natur“ seien. So aber liege der Fall - was das Verwaltungsgericht übersehen habe - hier. Sie (die Klägerin) übernehme für die WEG mit dem Ablesen und Erstellen von Abrechnungsentwürfen lediglich Tätigkeiten, welche die WEG andernfalls selbst erledigen müsste, weshalb es sich um eine rein interne Tätigkeit der WEG handele. Aus der Rechtssphäre der WEG träten erst die von der WEG beschlossenen Rechnungen heraus, mit denen sie gegenüber den einzelnen Wohnungseigentümern abrechne und mit denen Forderungen der WEG gegenüber den Eigentümern entstünden. Diese Abrechnung und den nach außen tretenden Rechtsakt nehme aber, wie auch aus den AGB des Vertrages ersichtlich, nicht sie (die Klägerin), sondern die WEG vor.
19 Unabhängig davon würden bei ihrer (der Klägerin) Tätigkeit auch nicht, wie von § 6 Nr. 6 MessEV für den Begriff des „geschäftlichen Verkehrs“ vorausgesetzt, Messwerte ermittelt oder verwendet, die geeignet seien, „den wirtschaftlichen Wert einer Sache oder einer Dienstleistung näher zu bestimmen“. Der Wert einer Wasserlieferung bestimme sich nach dem privatrechtlichen Liefervertrag zwischen dem Versorgungsunternehmen und der WEG. Zwischen diesen werde der Wasserpreis vereinbart. Die Liefermenge ergebe sich aus dem Hauptzähler, der von dem Versorgungsunternehmen und nicht ihr (der Klägerin) abgelesen werde. Der Warenwert stehe damit bereits fest und werde nicht von ihr bestimmt.
20 Die Gesetzessystematik bestätige, dass sie nicht „Verwenderin von Messwerten im geschäftlichen Verkehr“ sei. § 33 MessEG stelle auch in Absatz 3 maßgeblich auf die - nicht von ihr beschlossene - Abrechnung als Gegenstand des „Verwendens“ von Messwerten ab. Außerdem bestimme § 33 Abs. 2 MessEG, dass sich der Messwerteverwender vom Messgeräteverwender bestätigen lassen müsse, dass dieser das Gerät bestimmungsgemäß verwende. Da im vorliegenden Fall die WEG die Messgeräteverwenderin sei, könne sie (die Klägerin) nicht Messwerteverwenderin sein, weil § 33 MessEG andernfalls einen „Schutz gegen sich selbst“ bewirken würde. Auch die Systematik des Gesetzes insgesamt spreche gegen die Annahme, sie (die Klägerin) sei in einer Konstellation wie der vorliegenden eine „Verwenderin von Messwerten im geschäftlichen Verkehr“. Der Gesetzgeber habe in § 32 MessEG, der eine Anzeigepflicht für neue und erneuerte Messgeräte regele, ausdrücklich zwischen dem „Verwender“ von Messgeräten und dem von ihm mit der Erfassung von Messwerten „Beauftragten“ unterschieden. Auch der Vergleich mit der Gesamtrechtsordnung spreche dagegen, die hier fragliche Tätigkeit als eine solche im „geschäftlichen Verkehr“ einzuordnen. So entziehe unter anderem § 14 Abs. 2 MarkenG mit demselben Tatbestandsmerkmal Vorgänge, die nicht über den internen Geschäftsbereich hinauswirkten, dem Anwendungsbereich des Gesetzes. Auch Sinn und Zweck des § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG untermauerten dieses Verständnis. Diese Vorschrift wolle denjenigen, dem gegenüber Messwerte verwendet würden, schützen. Auch das spreche dafür, in einem Fall wie dem vorliegenden die WEG in die Pflicht zu nehmen, denn sie nutze die Messwerte und trete damit nach außen als Rechnungsstellerin im geschäftlichen Verkehr auf. Im Verhältnis zwischen der WEG und ihr (der Klägerin) fehle es hingegen an einem Schutzbedürfnis. Es sei gerade Pflicht der WEG, für ordnungsgemäße Messgeräte zu sorgen. Entsprechendes gelte für den Zweck des Gesetzes, die Lauterkeit des Geschäfts- und Rechtsverkehrs zu schützen. Diese Lauterkeit sei in den jeweiligen Rechtsbeziehungen zu schützen.
21 Die Gesetzesmaterialien sprächen ebenfalls dafür, dass nicht der Messdienstleister, sondern der Wohnungseigentümer bzw. die WEG die nach § 33 MessEG verantwortliche Person sei. Denn in den Materialien werde ausgeführt, dass der aus dieser Vorschrift folgenden Kontrollpflicht des Messwerteverwenders durch „entsprechende vertragliche Abrede zwischen Messgeräteverwender und Messwerteverwender genügt werden kann“ (BR-Drs. 32/13, S. 83). Selbst wenn man entgegen dem zuvor Gesagten davon ausgehen wolle, dass sie (die Klägerin) „Messwerteverwenderin“ sei, habe sie der Kontrollpflicht aus § 33 MessEG jedenfalls durch die vertraglichen Abreden in dem Wärmedienstvertrag mit der WEG genügt, der, wie gezeigt, ausdrücklich regele, dass die WEG für die „vollständige Ausrüstung der Liegenschaft mit geeigneten Erfassungsgeräten und eine verbrauchsabhängige Abrechnung“ verantwortlich sei. Die von ihr (der Klägerin) vertretene Auslegung entspreche auch den Bestimmungen der nach § 33 Abs. 1 Satz 2 MessEG vorrangig zu beachtenden HeizkostenV, die den „Gebäudeeigentümer“ als verantwortliche Person für die Erfassung und Abrechnung von Wärme und Warmwasser in die Pflicht nehme, was für Kaltwasser entsprechend gelte.
22 Selbst wenn man sie (die Klägerin) entgegen dem zuvor Gesagten als Gebührenschuldnerin ansehen wolle, sei der angefochtene Bescheid dennoch materiell rechtswidrig. Der Beklagte hätte dann eine Auswahlentscheidung zwischen ihr und der WEG treffen müssen. Das sei nicht geschehen, weshalb ein Ermessensausfall, jedenfalls ein Ermessensfehlgebrauch vorliege.
23 Hinzu komme, dass der angefochtene Bescheid sie in ihren Grundrechten verletze. Falls man die streitentscheidenden Normen in dem vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Sinne auslege, würden diese sie (die Klägerin) in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG) verletzen, weil sie dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot nicht genügten und, soweit die Legaldefinition aus dem Verordnungsrecht (§ 6 Nr. 6 MessEV) zur Anwendung komme, keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage vorhanden sei, ferner, weil die Vorschriften teils mit dem Wesentlichkeitsvorbehalt nicht zu vereinbaren und insgesamt unverhältnismäßig seien. Verletzt sei außerdem ihr (der Klägerin) Grundrecht auf gesetzliche Bestimmtheit (nulla poena sine lege) aus Art. 103 Abs. 2, 20 Abs. 3 GG und Art. 7 EMRK, weil Verstöße gegen § 31 Abs. 1 Satz 1 MessEG i.V.m. § 3 Nr. 22 MessEV bußgeldbewehrt seien (§ 60 Abs. 1 Nr. 14 und 19 MessEG) und jene Vorschriften dem für solche Vorschriften geltenden besonders strengen Bestimmtheitsanforderungen erst recht nicht genügten. Jedenfalls werde sie (die Klägerin) in ihrem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus „Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG“ verletzt.
24 Außerdem habe der Gesetzgeber, wenn man das Normverständnis des Verwaltungsgerichts zugrunde lege, mit den § 31 Abs. 1 Satz 1, § 33 Abs. 1 Satz 1 sowie § 60 Abs. 1 Nr. 14 und 19 MessEG einen „Handlungs- und Sanktionsdruck“ aufgebaut, der auf unionsrechtswidrige Weise in den durch Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2014/32/EU eröffneten Freiheitsraum für den Messgerätemarkt übergreife.
25 Die Klägerin beantragt,
26 das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 15.11.2018 - 1 K 16072/17 - zu ändern und den Gebührenbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen - Eich- und Beschusswesen - Nr. ... vom 06.09.2017 aufzuheben.
27 Der Beklagte beantragt,
28 die Berufung zurückzuweisen.
29 Er verteidigt das angefochtene Urteil und macht geltend, die Klägerin sei zweifelsfrei eine „Verwenderin von Messwerten“ im Sinne des Gesetzes, weil sie die Messwerte verwenden müsse, um überhaupt die Abrechnungen erstellen und ihre vertraglichen Pflichten gegenüber der WEG erfüllen zu können. Unerheblich sei es dabei, ob die Abrechnung selbst durch die Klägerin oder die WEG erfolge. In der „Abrechnungskette“ könnten mehrere Akteure Messwerteverwender sein. Die Klägerin sei außerdem eine „Verwenderin von Messgeräten“. Sie habe die erforderliche Funktionsherrschaft über diese Geräte. Die Funktion der Geräte bestehe darin, einen Messwert anzuzeigen. Diesen Wert lese die Klägerin ab. In dem Augenblick des Ablesens habe sie folglich die Herrschaft über die Funktion des Geräts, nämlich über seine Anzeige. Eine WEG oder die Wohnungseigentümer kümmerten sich in der Regel nicht um die Funktion eines Messgeräts und hätten folglich keine Funktionsherrschaft darüber. Entgegen dem Berufungsvorbringen handele die Klägerin auch „im geschäftlichen Verkehr“. Sie gebe die abgelesenen Werte nach außen an die WEG oder die Hausverwaltung weiter. Außerdem stehe entgegen ihrem Vortrag auch der Warenwert der Wasserlieferungen für die einzelnen Wohnungen nicht bereits fest. Dieser Wert errechne sich erst aus den abgelesenen Werten. Der behauptete Verstoß gegen Unionsrecht liege nicht vor. Das Mess- und Eichgesetz sei der Europäischen Kommission notifiziert worden. Diese habe keine Verstöße gegen europäisches Recht festgestellt. Deshalb könne davon ausgegangen werden, dass es mit Unionsrecht vereinbar sei.
30 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
31 Die Berufung der Klägerin hat Erfolg.
A.
32 Der Senat entscheidet ohne eine Beiladung der WEG.
33 Ein Fall der notwendigen Beiladung (§ 65 Abs. 2 VwGO) liegt nicht vor. Das ist nur dann der Fall, wenn die begehrte Sachentscheidung nicht wirksam getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig und unmittelbar in Rechte des Dritten eingegriffen wird, d.h. seine Rechte gestaltet, bestätigt oder festgestellt, geändert oder aufgehoben werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 07.02.2011 - 6 C 11/10 - NVwZ-RR 2011, 382 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind hier - wie regelmäßig bei Anfechtungsklagen von Adressaten von sie belastenden Verwaltungsakten - nicht erfüllt. Wenn der Senat dem Begehren der Klägerin entspricht und den angefochtenen Verwaltungsakt aufhebt, wird dadurch nicht - zumal nicht unmittelbar - in Rechte der WEG eingegriffen.
34 Von einer einfachen Beiladung (§ 65 Abs. 1 VwGO) sieht der Senat in Ausübung des ihm insoweit eröffneten Ermessens ab. Er lässt sich dabei maßgeblich von den Normzwecken des § 65 Abs. 1 VwGO leiten (vgl. zu diesen BT-Drs. 5/55 S. 37; Bier/Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch u.a., VwGO, 38. Erg.-Lfg., § 65 Rn. 3). Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts ist eine Beiladung nicht erforderlich, da der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist. Eine Beiladung könnte auch nicht im Interesse der Prozessökonomie dazu beitragen, größere Streitkomplexe zu erledigen. Im Falle einer klagabweisenden Entscheidung des Senats sind Rechtsstreitigkeiten zwischen der WEG und dem Beklagten nicht zu erwarten. Im Falle einer der Klage stattgebenden Entscheidung ist zwar nicht ausgeschlossen, dass, aber derzeit völlig ungewiss, ob der Beklagte sich dann stattdessen an die WEG wendet, um diese zur Gebühr heranzuziehen. Er hat bislang schon nicht erkennen lassen, anhand welcher Maßstäbe er sein Auswahlermessen für die Heranziehung von Gebührenschuldnern bei Verwendungsüberwachungsgebühren auf der Rechtsfolgenseite überhaupt ausüben will (s. dazu unter IV.2.). Unabhängig davon ließe sich selbst dann, wenn der Beklagte die WEG im Ergebnis zur Gebührenerhebung heranzieht und diese damit nicht einverstanden ist, ein darauf bezogener Rechtsstreit durch eine Beiladung der WEG zum vorliegenden Verfahren nicht vermeiden. Die WEG müsste auch dann, wenn sie am vorliegenden Verfahren beteiligt wäre, einen etwaigen gegen sie erlassenen Gebührenbescheid anfechten. Die Frage, ob ein etwaiger an die WEG adressierter Gebührenbescheid dann ermessensfehlerfrei ist (vgl. IV.2.), kann im vorliegenden Fall mangels Ermessensausübung nicht - erst recht nicht mit Bindungswirkung (vgl. § 121 VwGO) - beantwortet werden.
B.
35 Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Sie ist zulässig und begründet. Der Gebührenbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen - Eich- und Beschusswesen - Nr. ... vom 06.09.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36 Ausgehend vom maßgeblichen Zeitpunkt (I.) und der Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 3 MessEG (II.) ist der angefochtene Bescheid zwar nicht wegen formeller Mängel (III.), aber aufgrund materieller Rechtswidrigkeit aufzuheben (IV.).
I.
37 Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017.
38 Bei der Beurteilung der Begründetheit einer Klage ist auf die Sach- und Rechtslage abzustellen, auf die es nach dem Streitgegenstand und dem darauf anwendbaren materiellen Recht für die Entscheidung ankommt. Danach ergibt sich für eine - wie hier - Anfechtungsklage im Allgemeinen, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich ist, es sei denn, das materielle Recht regelt etwas Abweichendes (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.06.2006 - 6 C 19.06 - BVerwGE 126, 149). Eine solche abweichende Regelung besteht im Verwaltungsgebührenrecht. Da dessen Regelungen sicherstellen sollen, dass die mit der Vornahme einer Amtshandlung verbundenen Kosten für den Kostenschuldner vorhersehbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.10.2016 - 7 C 6.15 - NVwZ 2017, 485), ist bei der Anfechtung von Bescheiden über die Heranziehung zu Kosten (Gebühren und Auslagen) maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Entstehens der Kostenschuld abzustellen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.10.1988 - 14 S 1771/87 - ESVGH 39, 50; NdsOVG, Urt. v. 27.09.2017 - 13 LC 218/16 - NdsVBl 2018, 43; SächsOVG, Urt. v. 20.1.2014 - 3 A 623/12 - juris). Das ist im Falle der Kostenschuld für eine öffentliche Leistung in der Gestalt von behördlichen Überwachungsmaßnahmen der Zeitpunkt der Beendigung der jeweiligen Maßnahme (vgl. § 3 Abs.1 Nr. 3, § 4 Abs. 1 BGebG).
39 Zugrunde zu legen ist danach im vorliegenden Fall das im Zeitpunkt der Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 geltende Mess- und Eichgesetz (MessEG) vom 25.07.2013 (BGBl I 2013, 2722 <2723>), in Kraft getreten am 01.01.2015, in der Fassung des Gesetzes vom 11.04.2016 (BGBl. I. 718), die am 19.04.2016 in Kraft trat, aber ohne die durch Gesetz vom 20.11.2019 (BGBl. I 1626) erfolgten - für den vorliegenden Fall unabhängig davon auch inhaltlich nicht erheblichen - weiteren Gesetzesänderungen. Abzustellen ist darüber hinaus auf die am 01.01.2015 in Kraft getretene Eich- und Messverordnung (MessEV) vom 11.12.2014 (BGBl I 2014, 2010 <2011>) in der vom 02.09.2016 bis 15.08.2017 geltenden Fassung sowie auf die Mess- und Eichgebührenverordnung (MessEGebV) in der vom 28.03.2015 bis 07.05.2019 geltenden Fassung. Die nachfolgend verwendeten Gesetzesabkürzungen beziehen sich auf die Normen in den zuvor genannten Fassungen.
II.
40 Als Rechtsgrundlage für den angefochtenen Gebührenbescheid kommt einzig § 59 Abs. 1 und 3 MessEG i.V.m. der Mess- und Eichgebührenverordnung in Betracht.
41 Nach diesen Vorschriften erheben die Landesbehörden für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen nach dem Mess- und Eichgesetz und den auf diesem Gesetz beruhenden Rechtsverordnungen nach näheren Maßgaben Gebühren und Auslagen (vgl. § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG), wobei zu den in Betracht kommenden öffentlichen Leistungen insbesondere die Überwachung der Verwendung von Messgeräten und Messwerten gemäß § 54 Abs. 1 und 3 MessEG (Verwendungsüberwachung) zählt (vgl. § 59 Abs. 3 MessEG i.V.m. §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 MessEGebV und Schlüsselzahl 15.2.1.1 der Anlage zu § 3 MessEGebV).
III.
42 Der hierauf gestützte Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 06.09.2017 ist nicht wegen formeller Rechtsfehler aufzuheben.
43 Die Klägerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass der Bescheid ohne ihre vorherige Anhörung und damit unter Verstoß gegen § 28 Abs. 1 LVwVfG erlassen wurde. Dieser Mangel wurde allerdings gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 LVwVfG geheilt. Denn die Anhörung wurde im erstinstanzlichen Verfahren im Ergebnis nachgeholt.
IV.
44 Der angefochtene Gebührenbescheid ist aber materiell rechtswidrig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Heranziehung der Klägerin zu Gebühren für die Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 liegen zwar vor (1.). Der Beklagte hat aber das ihm zustehende Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt (2.).
45 1. Der Tatbestand der Rechtsgrundlage aus § 59 Abs. 1 und 3 MessEG ist erfüllt.
46 Nach Satz 1 des § 59 Abs. 1 MessEG erheben die Landesbehörden für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen nach dem Mess- und Eichgesetz und den auf diesem Gesetz beruhenden Rechtsverordnungen Gebühren und Auslagen nach Absatz 2, der insbesondere den Umfang der Gebühren und Auslagen regelt, und nach Absatz 3, der eine Ermächtigungsgrundlage für die Gebührenverordnung mit den Gebührentatbeständen enthält. Für Prüfungen und Untersuchungen werden gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG keine Gebühren und Auslagen erhoben, wenn die Prüfung und Untersuchung (1.) nach § 52 MessEG ergibt, dass ein Messgerät den Bestimmungen dieses Gesetzes und der hierauf erlassenen Rechtsverordnungen entspricht, oder (2.) nach § 56 MessEG ergibt, dass ein Messgerät entsprechend den Bestimmungen dieses Gesetzes und der hierauf erlassenen Rechtsverordnungen verwendet wurde. § 59 Abs. 1 Satz 3 MessEG bestimmt, dass, wenn eine Befundprüfung nach § 39 MessEG ergibt, dass ein Messgerät die Verkehrsfehlergrenze nicht einhält oder den sonstigen wesentlichen Anforderungen nach § 6 Abs. 2 MessEG nicht entspricht, die Gebühren und Auslagen von demjenigen zu tragen sind, der das Messgerät verwendet, in den übrigen Fällen von demjenigen, der die Befundprüfung beantragt hatte.
47 Die sich hieraus ergebenden Tatbestandsvoraussetzungen für eine Heranziehung der Klägerin zu den Gebühren für die Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 sind erfüllt. Diese Kontrollmaßnahme stellt eine „öffentliche Leistung“ im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG dar (a)). Die Gebührenpflichtigkeit dieser öffentlichen Leistung ist nicht gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG entfallen (b)). Die öffentliche Leistung ist der Klägerin auch gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG „individuell zurechenbar“ (c)). Durchgreifende verfassungsrechtliche (d)) oder unionsrechtliche Bedenken (e)) gegen die daraus folgende Einordnung der Klägerin als Gebührenschuldnerin bestehen nicht.
48 a) Eine „öffentliche Leistung“ im Sinne des § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG liegt mit der am 09.08.2017 vom Beklagten durchgeführten Kontrollmaßnahme vor.
49 Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat für den Bereich der Landesverwaltung gestützt auf § 59 Abs. 3 MessEG mit Zustimmung des Bundesrates die gebührenpflichtigen Tatbestände in der Mess- und Eichgebührenverordnung bestimmt. Zu den dem Grunde nach gebührenpflichtigen öffentlichen Leistungen zählt danach die Überwachung der Verwendung von Messgeräten und Messwerten gemäß § 54 Abs. 1 und 3 MessEG i.V.m. § 55 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 MessEG (vgl. §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 MessEGebV und Schlüsselzahl 15.2.1.1 der Anlage zu § 3 MessEGebV; Hollinger, in: dems./Schade, MessEG/MessEV, § 59 Rn. 5).
50 Eine solche Verwendungsüberwachung hat der Beklagte am 09.08.2017 durchgeführt. Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 MessEG kontrollieren die zuständigen Behörden anhand angemessener Stichproben auf geeignete Weise und in angemessenem Umfang, ob beim Verwenden von Messgeräten und Messwerten die Vorschriften des Abschnitts 3 des Mess- und Eichgesetzes beachtet sind (Verwendungsüberwachung). Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 MessEG, der die „Maßnahmen der Verwendungsüberwachung“ regelt, treffen die Behörden die erforderlichen Maßnahmen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass Messgeräte nicht entsprechend den Anforderungen des Abschnitts 3 verwendet werden. Sie sind gemäß § 55 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MessEG insbesondere befugt, ein Messgerät zu prüfen. Nach dem in Abschnitt 3 stehenden § 31 Abs. 1 MessEG dürfen ausschließlich Messgeräte oder sonstige Messgeräte verwendet werden, die den Bestimmungen des Mess- und Eichgesetzes und der auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen entsprechen. Nach dem ebenfalls in Abschnitt 3 stehenden § 37 Abs. 1 MessEG dürfen Messgeräte nicht ungeeicht verwendet werden, (1.) nachdem die in der Rechtsverordnung nach § 41 Nr. 6 MessEG bestimmte Eichfrist abgelaufen ist oder (2.) wenn die Eichfrist nach § 37 Abs. 2 MessEG vorzeitig endet. Die von dem Beklagten am 09.08.2017 durchgeführte Kontrolle diente dem Zweck festzustellen, ob unter anderem die in der WEG als Messgeräte im Bereich der Wasserversorgung eingesetzten Unterzähler den zuvor genannten Bestimmungen aus dem Abschnitt 3 des Mess- und Eichgesetzes entsprachen. Diese Überwachungsmaßnahme unterfiel damit als öffentliche Leistung dem Gebührentatbestand in der Schlüsselzahl 15.2.1.1 der Anlage zu § 3 MessEGebV.
51 b) Die dem Grunde nach bestehende Gebührenpflichtigkeit dieser öffentlichen Leistung ist nicht gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG entfallen.
52 Nach der hier allenfalls in Betracht kommenden Nummer 2 des § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG werden für Prüfungen und Untersuchungen keine Gebühren und Auslagen erhoben, wenn die Prüfung und Untersuchung nach § 56 MessEG - der die Betretungsrechte sowie Mitwirkungs- und Duldungspflichten bei der Verwendungsüberwachung regelt - ergibt, dass ein Messgerät entsprechend den Bestimmungen dieses Gesetzes und der hierauf erlassenen Rechtsverordnungen verwendet wurde. Mit dieser Vorschrift soll klargestellt werden, dass die Verwendungsüberwachung nur im Beanstandungsfall der Kostenpflicht unterliegt (Hollinger, a.a.O., § 59 Rn. 9). Ein solcher Fall liegt hier indes vor. Die von dem Beklagten am 09.08.2017 durchgeführte Prüfung hat ergeben, dass die Eichfrist, die bei Kaltwasserzählern sechs Jahre beträgt (vgl. Nr. 5.5.1 der Anlage 7 zu § 34 Abs. 1 Nr. 1 MessEV), von sechs im Keller des Anwesens befindlichen Messgeräten bereits am 31.12.2006 abgelaufen war und diese Geräte im Zeitpunkt der Kontrolle ungeeicht waren.
53 c) Die daher gebührenpflichtige Verwendungsüberwachung ist der Klägerin auch im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG „individuell zurechenbar“.
54 Unter welchen Voraussetzungen und wem eine nach dem Mess- und Eichgesetz erbrachte öffentliche Leistung „individuell zurechenbar“ ist, hat der Bundesgesetzgeber in diesem Gesetz und in der auf seiner Grundlage erlassenen Gebührenverordnung nicht ausdrücklich geregelt. Der Gesetzesbegründung ist aber zu entnehmen, dass er sich an dem Bundesgebührengesetz orientieren wollte (vgl. BT-Drs. 17/12727).
55 Das Bundesgebührengesetz geht ebenfalls davon aus, dass Gebühren und Auslagen nur für „individuell zurechenbare öffentliche Leistungen“ vom Gebührenschuldner erhoben werden können (vgl. § 1 BGebG). Mit der Tatbestandsvoraussetzung der „individuellen Zurechenbarkeit“ hat der Gesetzgeber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen, wonach eine Leistung individuell zurechenbar sein muss, um die Erhebung einer Gebühr zu rechtfertigen: „In dieser individuellen Zurechenbarkeit liegt die Rechtfertigung, dass die öffentliche Leistung nicht aus allgemeinen Steuermitteln, sondern ganz oder teilweise vom Gebührenschuldner finanziert wird. Das Kriterium der individuellen Zurechenbarkeit betrifft damit die Frage nach der Abgrenzung von Hoheitsmaßnahmen, die ausschließlich aus allgemeinen Steuereinnahmen zu finanzieren sind, gegenüber denjenigen, die durch ein besonderes Leistungsverhältnis ausgestaltet sind und deshalb durch Erhebung von Gebühren und Auslagen finanziert werden dürfen“ (vgl. BT-Drs. 17/10422, S. 95, unter Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 06.02.1979 - 2 BvL 5/76 - BVerfGE 50, 217). Ein solches besonderes, eine individuelle Gebührenerhebung rechtfertigendes Leistungsverhältnis liegt jedenfalls dann vor, wenn die Amtshandlung an eine besondere, aus der Sache selbst ableitbare Verantwortlichkeit des Betroffenen anknüpft (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.10.1994 - 1 BvL 19/90 - BVerfGE 91, 207) oder im Pflichtenkreis des Betroffenen erfolgt (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.12.2015 - BVerwG 3 C 3.15 - BVerwGE 153, 321; NdsOVG, Urt. v. 27.09.2017, a.a.O., m.w.N.; näher dazu Senat, Urt. v. 16.08.2018 - 1 S 625/18 - juris m.w.N.).
56 Von diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ausgehend, hat der Bundesgesetzgeber in § 3 Abs. 2 BGebG die Fallgruppen aufgeführt, in denen eine individuelle Finanzierungsverantwortlichkeit für öffentliche Leistungen - insbesondere für behördliche Überwachungsmaßnahmen mit Außenwirkung (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 BGebG) - besteht und in denen die hierfür entstandenen Kosten auf den von der öffentlichen Leistung Betroffenen überwälzt werden können (vgl. BT-Drs. 17/10422, S. 95). Nach § 3 Abs. 2 BGebG ist eine Leistung individuell zurechenbar, (1.) die beantragt oder sonst willentlich in Anspruch genommen wird, (2.) die zugunsten des von der Leistung Betroffenen erbracht wird, (3.) die durch den von der Leistung Betroffenen veranlasst wurde oder (4.) bei der ein Anknüpfungspunkt im Pflichtenkreis des von der Leistung Betroffenen rechtlich begründet ist, wobei Letzteres für Stichprobenkontrollen nur gilt, soweit diese nach anderen Gesetzen des Bundes oder Rechtsakten der Europäischen Union besonders angeordnet sind und von dem Gegenstand der Kontrolle eine erhebliche Gefahr ausgeht.
57 Im vorliegenden Fall kann der Klägerin die Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 zwar nicht in Anlehnung an Nr. 1 bis 3 des § 3 Abs. 2 BGebG individuell zugerechnet werden (nachfolgend aa) bis bb)), aber nach Nr. 4 (dd)).
58 aa) Die am 09.08.2017 durchgeführte Verwendungsüberwachung kann der Klägerin nicht nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 BGebG „individuell zugerechnet“ werden. Die Klägerin hat diese Kontrolle insbesondere nicht beantragt und sie wurde auch nicht zu ihren Gunsten erbracht.
59 bb) Eine Zurechnung der Überwachung lässt sich auch nicht unter Verweis auf § 3 Abs. 2 Nr. 3 BGebG rechtfertigen. Die Kontrolle vom 09.08.2017 wurde nicht von der Klägerin „veranlasst“.
60 Für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der „Veranlassung“ reicht nach dem Willen des Gesetzgebers eine bloße Verursachung nicht aus. Die Finanzierungsverantwortlichkeit nach Nummer 3 des § 3 Abs. 2 BGebG trifft vielmehr nur denjenigen, der den Einsatz öffentlicher Personal- oder Sachmittel durch sein Verhalten oder durch den Zustand einer ihm zuzurechnenden Sache willentlich herbeigeführt hat (vgl. BT-Drs. 17/10422, S. 95, unter - allerdings verkürzendem - Verweis auf BVerwG, Urt. v. 22.10.1992 - 3 C 2.90 - BVerwGE 91, 109). An Letzterem fehlt es hier. Die Klägerin hat die Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 nicht willentlich herbeigeführt.
61 cc) Die Klägerin muss sich die Verwendungsüberwachung aber nach § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG in Anlehnung an Nummer 4 des § 3 Abs. 2 BGebG „individuell zurechnen“ lassen. Denn bei dieser Kontrolle ist im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift „ein Anknüpfungspunkt im Pflichtenkreis“ der Klägerin rechtlich begründet.
62 Ein die Heranziehung zur Gebührenerhebung rechtfertigender „Anknüpfungspunkt im Pflichtenkreis“ kann bei behördlichen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen insbesondere dann bestehen, wenn die Maßnahme speziell und individualisierbar (auch) auf die als Gebührenschuldner in Betracht kommende Person bezogen ist und (auch) ihrem Interesse dient, insbesondere dem Interesse daran, den kontrollierten Gegenstand weiterhin unbeanstandet nutzen zu können (vgl. BT-Drs. 17/10422, S. 95 f.; zur Gebührenerhebung für immissionsschutzrechtliche Kontrollen beim Anlagenbetreiber BVerwG, Urt. v. 25.08.1999 - 8 C 12.98 - BVerwGE 109, 272; zu waffenrechtlichen Kontrollen beim Waffenbesitzer BVerwG, Urt. v. 01.09.2009 - 6 C 30.08 - NVwZ-RR 2010, 146). Die im vorliegenden Fall im Raum stehenden mess- und eichrechtlichen Verwendungsüberwachungen dienen, wie gezeigt, der Kontrolle, ob beim Verwenden von Messgeräten und Messwerten die Vorschriften des Abschnitts 3 des Mess- und Eichgesetzes beachtet sind (§ 54 Abs. 1 Satz 1 MessEG). Ein „Anknüpfungspunkt“ für eine gebührenrechtliche Zurechnung einer solchen Kontrollmaßnahme kann sich daher aus dem Pflichtenkreis des Verwenders des kontrollierten Messgerätes sowie aus dem Pflichtenkreis des Verwenders der damit ermittelten Messwerte ergeben. Das Mess- und Eichgesetz regelt die Anforderungen an das Verwenden von Messgeräten (vgl. §§ 31 f. MessEG) als auch solche an das Verwenden von Messwerten (vgl. §§ 32 f. MessG) in seinem Abschnitt 3. Das Verwenden der Messgeräte und der Messwerte kann durch ein und dieselbe Person geschehen, muss es aber nicht (BT-Drs. 17/12727, S. 46).
63 Die in Abschnitt 3 geregelten Pflichten treffen teilweise auch die Klägerin. Sie war zwar am 09.08.2017 in Bezug auf die vom Beklagten kontrollierten Kaltwassermessgeräte - entgegen der Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts - keine „Verwenderin der Messgeräte“ (dazu nachfolgend (1)), aber - entgegen ihrer Auffassung - „Verwenderin der Messwerte“ (dazu (2)), die mit diesen Geräten gewonnen wurden.
64 (1) Anforderungen an das Verwenden von Messgeräten (vgl. zum Begriff § 3 Nr. 13 MessEG) sind insbesondere in § 31 MessEG geregelt (s. darüber hinaus § 32 MessEG zur Anzeigepflicht des Messgeräteverwenders).
65 Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 MessEG dürfen ausschließlich Messgeräte oder sonstige Messgeräte verwendet werden, die den Bestimmungen des Mess- und Eichgesetzes und der auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen entsprechen. Nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 MessEG hat, wer ein Messgerät verwendet, sicherzustellen, dass die wesentlichen Anforderungen an das Messgerät nach § 6 Abs. 2 MessEG - d.h. die in der Mess- und Eichverordnung festgelegten Anforderungen - während der gesamten Zeit, in der das Messgerät verwendet wird, erfüllt sind (vgl. BT-Drs. 17/12727, S. 46: „Pflicht, das ‚richtige Messen‘ eines Messgeräts zu gewährleisten“). Nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 MessEG hat, wer ein Messgerät verwendet, ferner sicherzustellen, das Messgerät nach § 37 Abs. 1 MessEG nicht ungeeicht verwendet wird.
66 Die zuvor genannten „zentralen Pflichten“ (BT-Drs. 17/12727, S. 46) treffen den „Verwender eines Messgeräts“. In dessen Pflichtenkreis fällt die Klägerin im vorliegenden Einzelfall nicht. Sie ist nicht „Verwenderin“ der am 09.08.2017 kontrollierten Messgeräte, d.h. der Kaltwasser-Unterzähler der WEG. Der Begriff des „Verwendens eines Messgeräts“ ist in § 3 Nr. 22 MessEG legaldefiniert. Nach dessen Halbsatz 1 ist das „Verwenden eines Messgeräts“ das erforderliche „Betreiben“ oder „Bereithalten“ eines Messgeräts zur Bestimmung von Messwerten im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder bei Messungen im öffentlichen Interesse. Die Klägerin hat die genannten Unterzähler weder „bereitgehalten“ (a) noch „betrieben“ (b).
67 (a) Die Klägerin hat die Unterzähler nicht im Sinne von § 3 Nr. 22 MessEG „bereitgehalten“.
68 „Bereitgehalten“ wird ein Messgerät nach Halbsatz 2 des § 3 Nr. 22 MessEG, wenn es ohne besondere Vorbereitung für die genannten Zwecke in Betrieb genommen werden kann und ein Betrieb zu diesen Zwecken nach Lage der Umstände zu erwarten ist. Das „Bereithalten“ soll nach der Gesetzesbegründung „einen dem Betrieb vorgelagerten Zeitraum (erfassen). Damit sollen Missbrauchsmöglichkeiten ausgeschlossen und Messgeräte, die jederzeit in Betrieb genommen werden könnten, der Regelung unterworfen werden“ (BT-Drs. 17/12727, S. 39; dem folgend Ambs, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 3 MessEG Rn. 25).
69 Von diesem Begriffsverständnis ausgehend wurden die am 09.08.2017 kontrollierten Geräte nicht von der Klägerin „bereitgehalten.“ Dieser Unterfall des „Verwendens“ lag schon deshalb nicht vor, weil sich die Geräte damals im Betrieb befanden und der mit dem Begriff des „Bereithaltens“ nur erfasste zeitliche Bereich vor der Inbetriebnahme eines Gerätes bereits (seit Jahren) verlassen worden war. Die Geräte befanden sich am 09.08.2017 schon seit mehreren Jahren im laufenden Betrieb.
70 (b) Die Klägerin hat die fraglichen Unterzähler im August 2017 auch nicht im Sinne von § 3 Nr. 22 MessEG „betrieben“.
71 Der Gesetzgeber hat den Begriff des „Betreibens“ im Mess- und Eichgesetz nicht definiert. Er wurde aber in der Gesetzesbegründung der Bundesregierung näher erläutert. Dort wurde für „den Begriff des ‚Betreibens‘ (...) auf das auch in anderen Rechtsvorschriften übliche Begriffsverständnis verwiesen. Wenn etwa im Telekommunikations- oder im Anlagenrecht gefordert wird, dass eine rechtliche und tatsächliche Kontrolle über die Funktionen des Gegenstandes bestehen muss (Funktionsherrschaft), so gilt dies auch hier. Der Begriff des ‚Betreibens‘ ist damit enger als der einer bloßen ‚Nutzung‘. So fordert er neben der Herrschaft über das Gerät eine gewisse Stetigkeit. Kurzfristige Nutzungen an einem Messgerät (z. B. einmaliges Verwiegen eines Gegenstandes) werden daher den Betreiberbegriff nicht erfüllen“ (BT-Drs. 17/12727, S. 39; s. auch a.a.O. S. 46; dem folgend OLG Stuttgart, Beschl. v. 27.02.2019 - 4 Rb 16 Ss 1197/18 - juris; Ambs, a.a.O., § 3 MessEG Rn. 23; Pfügl, in: Bärmann/Seuß, Praxis des Wohnungseigentums, 7. Aufl., § 116 Rn. 9; Lindner, ZWE 2015, 442 <443>).
72 Dies zugrunde gelegt, hat die Klägerin die fraglichen Messgeräte - die Unterzähler für die Kaltwasserversorgung - nicht „betrieben“, sondern lediglich „genutzt“. Für dieses Auslegungsergebnis streitet insbesondere die Gesetzessystematik und die historische Auslegung des Mess- und Eichgesetzes:
73 Ob Messdienstleister, die Messgeräte auf Grundstücken Dritter ablesen, eine „Funktionsherrschaft“ im zuvor genannten Sinne über die Geräte haben, ist seit dem Inkrafttreten des Mess- und Eichgesetzes am 01.01.2015 umstritten (vgl. verneinend Lindner, a.a.O., S. 443 f.; Pfügl, a.a.O., § 116 Rn. 9 m.w.N.; bejahend Lammel, WuM 2015, 531 <535 f.> und ders., jurisPK-MietR 16/2019 Anm. 1; Fritsch, ZMR 2015, 361; differenzierend Ruff, WuM 2016, 255 <258>; s. zum Streitstand ferner OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019 - 4 A 804/16 - NWVBl 2019, 463, Ganske/Ley, DVBl. 2015, 1296 ff.; und Jennißen/Kemm, ZWE 2017, 390 <392>, jeweils m.w.N.). Dieser Streit, ob ein Messdienstleister als „Messgerätebetreiber“ und damit „-verwender“ im Sinne des Mess- und Eichgesetzes anzusehen ist, entzündete sich ursprünglich nicht an der im vorliegenden Fall zu § 59 Abs. 1 MessEG aufgeworfenen Frage, ob ein Messdienstleister Gebührenschuldner für Überwachungsmaßnahmen sein kann. Der Streit wurde vielmehr zunächst zu § 32 Abs. 1 MessEG ausgetragen. Diese Vorschrift sah in ihrer ursprünglichen Fassung vor, dass derjenige, der „neue oder erneuerte Messgeräte verwendet“, diese der nach Landesrecht zuständigen Behörde spätestens sechs Wochen nach Inbetriebnahme anzuzeigen hat. Die Frage, ob ein Messdienstleister bußgeldbewehrt (§ 60 Nr. 18 MessEG) dazu verpflichtet war, neue Geräte, die er „nur“ bei Dritten ablas, der Behörde anzuzeigen, hing also von der Beantwortung der Frage ab, ob der Messdienstleister als „Verwender der Messgeräte“ einzuordnen war.
74 Der Gesetzgeber hat diesen Streit durch das Erste Gesetz zur Änderung des Mess- und Eichgesetzes vom 11.04.2016 (BGBl. I S. 718) geklärt. Mit diesem am 19.04.2016 in Kraft getretenen Gesetz wurde § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG dahin geändert, dass die dort geregelte Anzeigenpflicht nicht nur denjenigen trifft, der „neue oder erneuerte Messgeräte verwendet“, sondern auch denjenigen, „der im Auftrag des Verwenders Messwerte von solchen Messgeräten erfasst“. Messdienstleister fallen daher seither unzweifelhaft unter die Anzeigepflicht aus § 32 MessEG (vgl. Jennißen/Kemm, a.a.O., S. 392; so auch ausdrücklich die Gesetzesbegründung zu dem Änderungsgesetz, BT-Drs. 18/7194, S. 9: „Zur Straffung des Verfahrens der Anzeige und zur Nutzung der bereits an verschiedenen Stellen vorhandenen Informationen (z. B. bei Messdienstleistern) wird die Anzeigepflicht neben Verwendern auch auf solche Dritten ausgeweitet, die im Auftrag von Verwendern Messwerte erfassen“; allg. zum Telos der Anzeigepflicht Gertz/Weise/Raschetti, IR 2015, 29 <30 f.>).
75 Diese Gesetzesänderung betraf unmittelbar nur § 32 MessEG und die Frage, ob Messdienstleister der dort geregelten Anzeigepflicht unterfallen. Der Gesetzesänderung lässt sich allerdings zugleich entnehmen, dass der Gesetzgeber eine Person, die (nur) „im Auftrag des Verwenders Messwerte von solchen Messgeräten erfasst“, nicht zugleich als „Verwender des Messgeräts“ ansieht. Denn der Gesetzgeber unterscheidet im Wortlaut des § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG nun ausdrücklich zwischen diesen beiden Personen („oder“). Auch der zitierten Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass das bloße Erfassen von Messwerten noch keine „Verwendung des Messgeräts“ darstellt. Denn der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass er die Anzeigepflicht über die Gruppe der Messgeräteverwender hinaus auf die Messwerteerfasser „ausgedehnt“ hat (BT-Drs. 18/7194, S. 9). Dem liegt ersichtlich die Vorstellung zugrunde, dass diese Gruppe nicht von vornherein mit jener identisch ist.
76 Die Gesetzesbegründung zu dem Gesetz zur Neuregelung des gesetzlichen Messwesens, mit dem das am 01.01.2015 in Kraft getretene Mess- und Eichgesetz erlassen wurde, bestätigt dieses Normverständnis.
77 In dem diesbezüglichen Gesetzgebungsverfahren wurde, wie gezeigt, zwischen der „Verwendung“ (dem „Betreiben“) und der bloßen „Nutzung“ eines Messgeräts unterschieden und als maßgebliches Abgrenzungskriterium darauf abgestellt, ob der Betroffene eine „rechtliche und tatsächliche Kontrolle über die Funktionen des Gegenstandes“ - eine „Funktionsherrschaft“ - innehat. Für den Begriff der „Funktionsherrschaft“ wurde wiederum (ohne nähere Spezifizierung) beispielhaft auf das „Telekommunikations- oder im Anlagenrecht“ verwiesen (vgl. erneut BT-Drs. 17/12727, S. 39; s. auch S. 46). Der Begriff der Funktionsherrschaft wurde im Telekommunikationsrecht in § 3 Nr. 1 und Nr. 2 TKG in der Fassung vom 25.07.1996 (BGBl. I S. 1120) definiert. Danach ist das „Betreiben von Übertragungswegen“ das Ausüben der rechtlichen und tatsächlichen Kontrolle (Funktionsherrschaft) über die Gesamtheit der Funktionen, die zur Realisierung der Informationsübertragung auf Übertragungswegen unabdingbar erbracht werden müssen (Nr. 1) und ist das „Betreiben von Telekommunikationsnetzen“ das Ausüben der rechtlichen und tatsächlichen Kontrolle (Funktionsherrschaft) über die Gesamtheit der Funktionen, die zur Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen (...) unabdingbar zur Verfügung gestellt müssen; dies gilt auch dann, wenn im Rahmen des Telekommunikationsnetzes Übertragungswege zum Einsatz kommen, die im Eigentum Dritter stehen (Nr. 2). Diese Definitionen sind zwar seit der Neufassung des Telekommunikationsgesetzes durch das Gesetz vom 22.06.2004 (BGBl. I S. 1190) in dem Gesetz nicht mehr enthalten, werden dem Betreiberbegriff aber weiter zugrunde gelegt (OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019, a.a.O.). Maßgeblicher Gegenstand der Funktionsherrschaft ist demnach im Telekommunikationsrecht nicht die körperliche Infrastruktur des Leitungsnetzes, sondern die Möglichkeit, diese zum bestimmungsgemäßen Zweck der Telekommunikation zu nutzen. Die Funktionsherrschaft hat inne, wer über die Nutzung der Leitungen zu Zwecken der Telekommunikation entscheidet. Für diese Beurteilung ist ohne Belang, ob die Befugnis auf dem Eigentum oder auf einem vertraglichen Nutzungsrecht beruht (OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019, a.a.O.; BGH, Urt. v. 16.03.2012 - V ZR 98/11 - NJW-RR 2012, 1334). Auf das Gebiet des Mess- und Eichwesens übertragen bedeutet dies, dass es auch hier für die Beurteilung, wer die „Funktionsherrschaft über die Messgeräte hat, maßgeblich darauf ankommt, wer sie bereitstellt oder zur Bereitstellung befugt ist, sie einrichtet, betreibt, kontrolliert oder zur Verfügung stellt und die Möglichkeit hat, sie zum bestimmungsgemäßen Zweck zu nutzen sowie über die Nutzung der Messgeräte zu diesem Zweck zu bestimmen (OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019, a.a.O.; insoweit ähnl. Ganske/Ley, a.a.O., S. 1297 f., 1299 f.).
78 Auch hiervon ausgehend reicht das bloße Ablesen von Messwerten von einem Messgerät, das im Eigentum eines Dritten steht, also das bloße „Messwerteerfassen“ (vgl. erneut BT-Drs. 18/7194, S. 9), allein nicht dazu aus, dem Ableser eine „Funktionsherrschaft“ zuzuschreiben und ihn auf diesem Wege zum „Betreiber“ (§ 3 Nr. 22 Satz 1 Alt. 1 MessEG) und damit zum „Verwender“ eines Messgerätes im Sinne von § 31 MessEG zu erklären. Eine solche Annahme ist vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn der Messdienstleister über das bloße Ablesen hinaus weitere Aufgaben oder Rechtspositionen in Bezug auf die Messgeräte übernimmt.
79 Letzteres kann etwa dann der Fall sein, wenn die Geräte im Eigentum des Messdienstleisters verbleiben und er mit dem Grundstückseigentümer ein umfassendes „Dienstleistungspaket“ vertraglich vereinbart, das den Zweck hat, dem Eigentümer jegliche eigene nach der Heizkostenverordnung erforderliche Verwendung der Messgeräte abzunehmen und die Verantwortung für sämtliche Zugriffsnotwendigkeiten von Anfang an dem Messdienstleister zu übertragen bzw. ihm zu belassen (so OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019, a.a.O., dort für einen Fall, in dem die Geräte im Eigentum des Messdienstleisters standen und er mit dem Eigentümer über einen „Ablese-“ und „Abrechnungsservice“ hinaus unter anderem vereinbart hatte, dass die Geräte dem Eigentümer zum vertragsgemäßen Gebrauch überlassen [vermietet], aber ausschließlich von dem Messdienstleister unterhalten und erneuert werden; ähnlich Ruff, a.a.O., S. 258 m.w.N.; a.A. Pfügl, a.a.O., § 116 Rn. 9 und Lindner, a.a.O., S. 443 f.: auch dann keine Funktionsherrschaft des Dienstleisters). Liegt der Fall jedoch anders und beschränkt sich die Tätigkeit des Messdienstleisters darauf, Geräte, die im Eigentum des Grundstückseigentümers oder eines sonstigen Dritten stehen, abzulesen und auf dieser Grundlage Abrechnungsentwürfe zu erstellen, ohne dass in Bezug auf diese fremden Geräte weitergehende Wartungs- oder sonstige Pflichten übernommen werden, geht die Tätigkeit des Messdienstleisters über eine „Nutzung“ der Geräte nicht hinaus. In einem solchen Fall „betreibt“ der Messdienstleister das Gerät nicht und ist er infolgedessen auch nicht als dessen „Verwender“ anzusehen (vgl. § 3 Nr. 22 Satz 1 Alt. 1 MessEG; im Ergebnis ebenso differenzierend OVG NRW, Beschl. v. 06.06.2019 - 4 A 804/16 -, a.a.O., juris Rn. 63: Einordnung von Messdienstleistern als Messgeräteverwendern „abhängig von ihren jeweils übernommenen Aufgaben“; ebenso die Eichverwaltung in dem vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen geführten Verfahren 4 A 804/16, vgl. OVG NRW, Beschl. v. 06.06.2019, a.a.O., juris Rn. 12).
80 Diese differenzierende Sichtweise haben - ohne dass es darauf entscheidungserheblich ankäme - nach dem Inkrafttreten des Mess- und Eichgesetzes wohl auch die Eichämter der Länder selbst zugrunde gelegt. Die Klägerin weist zutreffend darauf hin, dass in dem von der Arbeitsgemeinschaft Mess- und Eichwesen (AGME) erstellten Informationsblatt „Die Eichaufsichtsbehörden informieren: Angeben und Verwenden von Messwerten“ (Stand 05.07.2017) Fallbeispiele enthalten sind, die diese Differenzierung jedenfalls nahelegen (vgl. insbesondere „Fall 6“ gegenüber „Fall 7“, Bl. 59 ff. d. VG-Akte). Dem entspricht auch der Beklagtenvortrag der Eichverwaltung in dem vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen geführten Verfahren 4 A 804/16 (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 06.06.2019, a.a.O., juris Rn. 12), wonach es „anerkannt“ sei, „dass Hauseigentümer oder Wohneigentumsgemeinschaften Verwender von Messgeräten seien, wenn diese in ihrem Eigentum stünden und sich die Aufgaben beauftragter Messdienstleister auf das reine Ablesen beschränkten. Etwas anderes gelte allerdings dann, wenn die Messgeräte im Eigentum des Messdienstleisters stünden und diesen weitergehende Pflichten träfen, die über das Ablesen und Auswerten der Messgeräte hinausgingen. Dann sei (zumindest auch) das Messdienstleistungsunternehmen als Verwender im Sinne des Mess- und Eichgesetzes anzusehen.“
81 An den vorstehenden differenzierenden Maßstäben gemessen, hat die Klägerin die von dem Beklagten am 09.08.2017 kontrollierten Messgeräte - die Unterzähler für die Kaltwasserversorgung der WEG - nicht selbst „betrieben“, sondern lediglich „genutzt“. Denn die fraglichen Geräte standen nicht im Eigentum der Klägerin und die von ihr privatvertraglich gegenüber der WEG geschuldete Tätigkeit beschränkte sich darauf, die Geräte abzulesen und auf der Grundlage der erfassten Messwerte Abrechnungsentwürfe zu erstellen. Ein weitergehendes „Dienstleistungspaket“ war im vorliegenden Einzelfall nicht vereinbart. Insbesondere war die Klägerin nicht vertraglich für die Wartung, Unterhaltung oder Erneuerung der Geräte verantwortlich.
82 Die Klägerin war infolgedessen lediglich „Nutzerin“, nicht aber „Verwenderin“ dieser Geräte (§ 3 Nr. 22 Satz 1 Alt. 1 MessEG) im Sinne vom § 31 MessEG. Deshalb bieten die dort geregelten Pflichten für den „Verwender der Messgeräte“ auch keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für die Heranziehung der Klägerin zur Gebühr für die Verwendungsüberwachung dieser Geräte (vgl. § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG und § 3 Abs. 2 Nr. 4 BGebG).
83 (2) Ein „Anknüpfungspunkt“ für eine gebührenrechtliche Zurechnung der am 09.08.2017 durchgeführten Verwendungsüberwachung zur Klägerin ergibt sich aber aus dem gesetzlichen Pflichtenkreis der „Verwender von Messwerten“.
84 Die Klägerin ist als „Verwenderin von Messwerten“ im Sinne des Gesetzes anzusehen (a). Der diesbezügliche Pflichtenkreis bietet auch nach der - gesetzlich gebotenen - Betrachtung der Umstände des vorliegenden Einzelfalls ausreichende Anknüpfungspunkte für ihre Einordnung als Gebührenschuldnerin (b).
85 (a) Die Klägerin ist eine „Verwenderin von Messwerten“ in Bezug auf die vom Beklagten am 09.08.2017 kontrollierten Messgeräte.
86 Die zentralen Anforderungen an das Verwenden von Messwerten sind in § 33 MessEG geregelt. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG dürfen Werte für Messgrößen - d.h. für diejenigen physikalischen Größen, die durch die Messung zu bestimmen sind (§ 3 Nr. 15 MessEG) - im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder bei Messungen im öffentlichen Interesse nur dann angegeben oder verwendet werden, wenn zu ihrer Bestimmung ein Messgerät „bestimmungsgemäß“ verwendet wurde und die Werte auf das jeweilige Messergebnis zurückzuführen sind, soweit nicht durch Rechtsverordnung (§ 41 Nr. 2 MessEG) etwas anderes bestimmt ist. „Bestimmungsgemäß“ wird ein Messgerät im Sinne dieser Vorschrift nur eingesetzt, wenn es im Einklang mit § 31 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 verwendet wird (BT-Drs. 17/12727, S. 46), also insbesondere geeicht und im Übrigen gesetzeskonform ist (vgl. oben [1] zu § 31 MessEG; ferner Lammel, WuM 2015, 531 <533>). Nach § 33 Abs. 2 MessEG hat außerdem derjenige, der Messwerte verwendet, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu vergewissern, dass das Messgerät die gesetzlichen Anforderungen erfüllt und sich von der Person, die das Messgerät verwendet, bestätigen zu lassen, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllt.
87 Diese für den „Verwender von Messwerten“ geltenden Pflichten haben im August 2017 dem Grunde nach auch die Klägerin getroffen. Sie hat Messwerte, die sie von den fraglichen Messgeräten abgelesen hatte, im Sinne des § 33 MessEG „verwendet“.
88 Der Begriff des „Verwendens von Messwerten“ ist in § 3 Nr. 23 MessEG legaldefiniert. Danach ist Verwenden von Messwerten die erforderliche Nutzung von Messergebnissen eines Messgeräts im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder bei Messungen im öffentlichen Interesse. Der Gesetzgeber lässt also für den Begriff der Verwendung von Messwerten - anders als für die Verwendung von Messgeräten (s.o. unter (1)) - die „Nutzung“ ausdrücklich ausreichen, wenn diese zu bestimmten Zwecken, nämlich unter anderem „im geschäftlichen Verkehr“, erfolgt (aa) und „erforderlich“ (bb) ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
89 (aa) Die Klägerin hat die von ihr abgelesenen Messwerte im Sinne des § 3 Nr. 23 MessEG „im geschäftlichen Verkehr“ genutzt.
90 Den Begriff des „geschäftlichen Verkehrs“ hat der Gesetzgeber im Mess- und Eichgesetz und in der Gesetzesbegründung nicht erläutert (vgl. BT-Drs. 17/12727, S. 39). Allerdings hat der Verordnungsgeber der auf dieses Gesetz gestützten Mess- und Eichverordnung in § 6 Nr. 6 MessEV bestimmt, dass im Sinne der Verordnung „geschäftlicher Verkehr“ jede Tätigkeit ist, die nicht rein privater, innerbetrieblicher oder amtlicher Natur ist, sofern dabei Messwerte ermittelt oder verwendet werden, die geeignet sind, den wirtschaftlichen Wert einer Sache oder einer Dienstleistung näher zu bestimmen.
91 Diese Verordnungsvorschrift ist zwar schon aus Gründen der Normenhierarchie nicht dazu in der Lage, den Begriff des „geschäftlichen Verkehrs“ im Sinne von § 3 Nr. 23 MessEG verbindlich zu bestimmen. Inhaltlich bestehen aber keine Bedenken, die Definition aus § 6 Nr. 6 MessEV auch im Rahmen des § 3 Nr. 23 MessEG heranzuziehen (ebenso Schade, in: Hollinger/Schade, a.a.O., § 33 Rn. 2). Denn der Verordnungsgeber hat damit lediglich im Wesentlichen die Definition des Begriffs des „geschäftlichen Verkehrs“ aufgegriffen, die für das gleichlautende Tatbestandsmerkmal in dem früheren, bis zum 31.12.2014 geltenden Eichgesetz maßgeblich war (vgl. § 1 Nr. 1, § 25 Abs. 1 Nr. 1 EichG a.F.). Zu diesem war in der Rechtsprechung geklärt, dass das Merkmal „geschäftlicher Verkehr“ nicht voraussetzte, dass die ausgeübte Tätigkeit betrieblich oder wirtschaftlich ausgeübt wird. Es genügte vielmehr, wenn sie der Förderung eines beliebigen Geschäftszweckes diente. Es durfte sich lediglich nicht nur um eine rein private oder ausschließlich amtliche Betätigung handeln. „Geschäftlich ist daher alles, was nicht privat ist. Privat ist, was sich im Bereich des einzelnen außerhalb von Erwerb und Berufsausübung abspielt“ (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 13.09.2000 - 2 Ws (B) 370/00 OWiG - NStZ-RR 2001, 89 m.w.N.). Davon ausgehend war beispielsweise anerkannt, dass die Verrechnung des Energie- und Wasserverbrauchs durch Zwischenzähler im Rahmen einer Wohnungseigentümergemeinschaft - ungeachtet des „Verbleibs“ der Messwerte innerhalb der WEG-Mitglieder - einen „geschäftlichen Verkehr“ darstellte, weil auch in diesen Fällen die rein private Sphäre verlassen und eine gerichtlich durchsetzbare Forderung, nämlich die der insoweit teilrechtsfähigen Eigentümergemeinschaft gegenüber dem einzelnen Eigentümer, begründet wird (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2016 - 4 A 1150/15 - juris, und v. 25.07.2016 - 4 A 1149/15 - juris; BayObLG, Beschl. v. 26.03.1998 - 2Z BR 154/97 -, BayObLGZ 1998, 97; jeweils m.w.N.; ebenso bei der Abrechnung der Vermieters gegenüber seinem Mieter, vgl. dazu nur Ruff, a.a.O., S. 257). Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des seit dem 01.01.2015 maßgeblichen Mess- und Eichgesetzes insoweit von einem anderen Verständnis des Begriffs des „geschäftlichen Verkehrs“ ausgegangen ist (im Ergebnis ebenso Schade, in: Hollinger/Schade, a.a.O., § 33 Rn. 2; Jennißen/Kemm, a.a.O., S. 391; wohl auch Lindner, a.a.O., S. 444; Pfügl, a.a.O., § 116 Rn. 9 m.w.N.).
92 Dies zugrunde gelegt, ist die Klägerin als „Verwenderin von Messwerten“ anzusehen. Sie hat die von ihr an den fraglichen Messgeräten erfassten Messergebnisse im geschäftlichen Verkehr genutzt. Sie hat sie zur Erfüllung ihrer gegenüber der WEG bestehenden vertraglichen Pflicht abgelesen, dieser gegenüber mitgeteilt und darüber hinaus mithilfe der Messwerte Abrechnungsentwürfe für die WEG zur weiteren Verwendung durch diese gegenüber Dritten erstellt. Damit hat die Klägerin die erfassten Messwerte zur Förderung von Geschäftszwecken - ihren eigenen und denen der WEG - genutzt und den Bereich des rein Privaten verlassen (im Ergebnis ebenso Lammel, WuM 2015, 531 <535 f.> und ders., jurisPK-MietR 16/2019 Anm. 1; vgl. zur Einordnung bereits der Vorbereitung von Jahresabrechnungen durch den Verwalter einer WEG für diese als „geschäftlicher Verkehr“ im Sinne von § 25 Abs. 1 Nr. 1 EichG a.F. OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2016 - 4 A 1150/15 - juris).
93 Die Klägerin kann dem nicht mit Erfolg entgegenhalten, sie nehme mit dem sog. Ablese- und dem Abrechnungsservice nur Tätigkeiten war, die dem „innerbetrieblichen“ Bereich der WEG zuzuordnen seien, weil die WEG ohne ihrer (der Klägerin) Tätigkeit die Messgeräte selbst ablesen und die Abrechnungsentwürfe selbst erstellen müsse und weil für den nach außen tretenden Rechtsakt der Abrechnung gegenüber den WEG-Mitgliedern nicht sie (die Klägerin), sondern die WEG verantwortlich sei, die dazu auch erst einen Beschluss fassen müsse (§§ 23 ff. des Wohnungseigentumsgesetzes [WEG]). Die Klägerin betrachtet bei dieser Argumentation nur das Rechtsverhältnis zwischen einer WEG und ihren Mitgliedern. Diese Betrachtung greift zu kurz, wenn die WEG die genannten Tätigkeiten nicht selbst durchführt, sondern damit einen Dritten beauftragt. Denn in diesem Fall verbleiben die abgelesenen Messwerte nicht in dem Innenbereich der WEG. Sie werden dann vielmehr auch dazu verwendet, die Pflichten in dem rechtsgeschäftlichen Verhältnis zwischen dem beauftragten Messdienstleister und der WEG zu erfüllen. Sie weisen schon deshalb keine „rein“ (§ 6 Nr. 6 MessEV) innerbetriebliche Natur mehr auf. Das gilt umso mehr, als der Vertrag zwischen dem Messdienstleister und der WEG ersichtlich dazu dient, die WEG in die Lage zu versetzen, die Messwerte gegenüber Dritten abzurechnen und diesen gegenüber Forderungen zu begründen. Dass dies einen zusätzlichen Schritt - die Beschlussfassung - der WEG erfordert, ändert nichts daran, dass bereits das Ablesen und die darauf aufbauende Abrechnungsentwurfserstellung durch den Messdienstleister keine Tätigkeit darstellt, die dem „rein privaten oder innerbetrieblichen“ Bereich zuzuordnen ist (ebenso für die Vorbereitung von Jahresabrechnungen durch den Verwalter einer WEG für dieselbe OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2016 - 4 A 1150/15 - juris zu § 25 Abs. 1 Nr. 1 EichG a.F.).
94 Vor diesem Hintergrund führt auch der Hinweis der Klägerin auf die „Gesamtrechtsordnung“ nicht weiter, zu dem sie geltend macht, mit dem Begriff des „geschäftlichen Verkehrs“ würden auch in anderen Rechtsgebieten wie dem Markenrecht rein innerbetriebliche Vorgänge abgeschichtet (vgl. § 14 Abs. 2 MarkenG). Letzteres mag zutreffen, ändert aber nichts daran, dass dieser rein interne Bereich hier durch die von der Klägerin vertraglich geschuldeten Tätigkeiten verlassen wird.
95 Ebenfalls ohne Erfolg bleibt die Erwägung der Klägerin, jedenfalls aus § 33 Abs. 3 MessEG folge, dass es „maßgeblich auf die Abrechnung ankommt“. Die Vorschrift bestimmt, dass derjenige, der Messwerte verwendet, (Nr. 1) dafür zu sorgen hat, dass Rechnungen, soweit sie auf Messwerten beruhen, von demjenigen, für den die Rechnungen bestimmt sind, in einfacher Weise zur Überprüfung angegebener Messwerte nachvollzogen werden können, und dass er (Nr. 2) für die in Nummer 1 genannten Zwecke erforderlichenfalls geeignete Hilfsmittel bereitzustellen hat. Diese Bestimmung regelt zusätzliche Pflichten für denjenigen, der eigene Rechnungen erstellt, die auf Messwerten beruhen. Der Vorschrift lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass nur derjenige, der solche Rechnungen selbst erstellt, „Verwender von Messwerten“ im Sinne des Gesetzes ist.
96 Ihre Eigenschaft als „Verwenderin von Messwerten“ vermag die Klägerin auch nicht mit dem Einwand in Frage zu stellen, nach § 6 Nr. 6 MessEV liege ein „geschäftlicher Verkehr“ nur dann vor, wenn Messwerte ermittelt oder verwendet würden, die geeignet seien, „den wirtschaftlichen Wert einer Sache oder einer Dienstleistung näher zu bestimmen“, woran es hier fehle, weil der Wert des vom Wasserversorgungsunternehmen gelieferten Wassers bereits feststehe und die Messung der Unterzähler nur dazu diene, diesen auf die einzelnen Einheiten zu verteilen. Der Einwand greift zu kurz. Die Klägerin nimmt als „Sache, deren Wert zu bestimmen ist“, nur die vom Versorgungsunternehmen gelieferte Gesamtwassermenge in den Blick. Sie lässt dagegen die von der WEG gegenüber den einzelnen Mitgliedern verbrauchsabhängig abzurechnende Wassermenge außer Betracht. Zur Bestimmung des Wertes dieser Sache werden die von der Klägerin ermittelten Werte verwendet. Der Fall liegt nicht anders als bei demjenigen, der von einem Obsthändler eine Handvoll Früchte erwerben will. Auch hier steht der Preis für die vorhandene Gesamtmenge - etwa als Kilopreis - bereits zuvor fest. Gleichwohl ist eine geeichte Wage erforderlich, um den Wert der von dem einzelnen Käufer begehrten Teilmenge zu ermitteln. Dazu werden die von der Waage abgelesenen Messwerte verwendet. Nicht anders verhält es sich in der vorliegenden Konstellation.
97 Ihre Einordnung als „Verwenderin von Messwerten“ vermag die Klägerin auch nicht mit dem Verweis auf das Verhältnis der Absätze 1 und 2 des § 33 MessEG in Frage zu stellen. § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG bestimmt, wie gezeigt, dass Werte für Messgrößen (unter anderem) im geschäftlichen Verkehr grundsätzlich nur dann angegeben oder verwendet werden dürfen, wenn zu ihrer Bestimmung ein Messgerät bestimmungsgemäß verwendet wurde. § 33 Abs. 2 MessEG bestimmt, dass derjenige, der Messwerte verwendet, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu vergewissern hat, dass das Messgerät die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, und dass er sich von der Person, die das Messgerät verwendet, bestätigen zu lassen hat, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllt. Die Klägerin meint, aus der Zusammenschau dieser Vorschriften ergebe sich, dass sie keine „Verwenderin von Messwerten“ sein könne, weil die WEG hier die „Verwenderin der Messgeräte“ sei und es nicht sein könne, dass die WEG zugleich diejenige sei, der gegenüber Messwerte nach § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG angegeben oder verwendet würden, weil die Vorschrift sonst einen „Schutz gegen sich selbst“ bewirken würde. Diesem Einwand liegt die Erwägung zugrunde, dass die WEG als Messgeräteverwenderin gegenüber der Klägerin nicht schutzwürdig ist, weil die Geräte in ihrem (der WEG) Eigentum stehen und sie für deren Eichung selbst verantwortlich ist. Diese Erwägung greift jedoch zu kurz. Die Klägerin übersieht, dass das Mess- und Eichgesetz mit den Vorschriften über die gesetzeskonforme Verwendung von Messgeräten und Messwerten zum einen auf den Schutz der Verbraucher zielt, denen gegenüber Messwerte (zuletzt) angegeben werden, und zum anderen die Lauterkeit des Geschäfts- und Rechtsverkehrs gewährleisten will (vgl. zu dem Schutzzwecken, Lammel, WuM 2015, 531 <532>; Zehelein, NZM 2017, 794 <796>). Beide Schutzzwecke sprechen dafür, dass im Falle einer längeren Kette von Personen, die bei der Ermittlung von Messwerten beteiligt sind, möglichst viele Personen aus dieser Kette dazu verpflichtet sind, bei ihrem Umgang mit Messwerten darauf zu achten, dass diese gesetzeskonform gewonnen und möglichst „richtig“ sind. Denn auf diese Weise wird am besten gewährleistet, dass die am Ende der Kette gegenüber dem Verbraucher erstellte und in den Rechtsverkehr eingespeiste Verbrauchsabrechnung auf zutreffenden Messwerten beruht. Werden etwa die Daten für eine Wasserabrechnung gegenüber einem Wohnungsmieter dadurch gewonnen, dass ein Messdienstleister sie für den Eigentümer abliest, mag der Eigentümer gegenüber dem Messdienstleister in Bezug auf die Frage, ob die Daten aus einem geeichten Gerät stammen, nicht schutzwürdig sein. Der Mieter und der Rechtsverkehr insgesamt profitieren aber davon, wenn nicht nur der Eigentümer, sondern auch andere in den Prozess der Ablesung und Rechnungserstellung eingebundene Personen ihrerseits dazu verpflichtet sind darauf zu achten, dass die ermittelten Messwerte aus einem gesetzeskonformen, insbesondere geeichten Gerät stammen. Ein solches „Vier-Augen-Prinzip“ bietet eine höhere Richtigkeitsgewähr. Dass der Gesetzgeber bei der zum 01.01.2015 erfolgten Novellierung des Mess- und Eichrechts jeden „Verwender von Messwerten“ hierzu in die Pflicht genommen hat, führt deshalb nicht zu einem „Schutz gegen sich selbst“, sondern ist gemessen an den Zielen des Mess- und Eichgesetzes folgerichtig (vgl. Schade, in: Hollinger/Schade, a.a.O., § 33 Rn. 3: „Die Vorschrift [§ 33 Abs. 1 MessEG] dient dem Schutz desjenigen, dem die Werte anschließend z.B. in Form einer Rechnung vorgelegt werden.“).
98 Die Erwägungen der Klägerin zur Schutzbedürftigkeit (nur) der WEG greifen aus einem zweiten Grund zu kurz. Der Gesetzgeber des Mess- und Eichgesetzes hat aus unionsrechtlichen Gründen (vgl. die Richtlinie 2014/31/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Bereitstellung nichtselbsttätiger Waagen auf dem Markt sowie die Richtlinie 2014/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Messgeräten auf dem Markt ) dem sog. New Approach der EU-Kommission folgend das frühere Verfahren der staatlichen Erst- und Nacheichung zugunsten des privatwirtschaftlichen Konformitätsbewertungsverfahrens abgeschafft (vgl. §§ 6 ff. MessEG). Die dadurch entfallenen staatlichen Kontrollmöglichkeiten bei dem erstmaligen Inverkehrbringen von Messgeräten hat er durch die behördliche sog. Markt- und Verwendungsüberwachung teilweise kompensiert (vgl. §§ 48 ff., 54 ff. MessEG und dazu BT-Drs. 17/12727, S. 31 ff., 49 ff.; BT-Drs. 18/7194, S. 8; näher dazu Lindner, a.a.O., S. 442 f.; Gertz/Weise/Raschetti, a.a.O., S. 29 ff.; Zehelein, a.a.O., S. 798). Deshalb ist bei der Bestimmung des Kreises der im Umgang mit Messwerten Sorgfaltsverpflichteten sowie der Adressaten von Maßnahmen der Verwendungsüberwachung keine zu restriktive Auslegung angezeigt. Das übersieht die Klägerin auch bei ihren übrigen Erwägungen zum Telos des Mess- und Eichgesetzes sowie zu der Verantwortlichkeit des „Gebäudeeigentümers“ gegenüber den Gebäudenutzern nach der Heizkostenverordnung.
99 Ihrer Einstufung als „Verwenderin von Messwerten“ kann die Klägerin auch nicht entgegensetzen, der Gesetzgeber habe in dem die Anzeigepflicht für neue Messgeräte betreffenden § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG zwischen dem „Messgeräteverwender“ und demjenigen unterschieden, der „im Auftrag des Verwenders Messwerte von solchen Messgeräten erfasst“ (vgl. dazu oben [(1)(b)]), woraus zugleich zu folgen sei, dass der „Messwerteerfasser“ kein „Messwerteverwender“ sein könne. Die Klägerin übersieht bei diesem Einwand, dass der Gesetzgeber in § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG die Pflicht zur Anzeige von neuen Messgeräten deshalb auf Messdienstleister erstreckt hat, weil er annahm, dass diese aufgrund ihrer Tätigkeit beim Erfassen der Messgeräte neben den Messgeräteverwendern am besten darüber informiert sind, wenn neue Messgeräte eingesetzt werden (vgl. oben [(1)(b)] und erneut BT-Drs. 18/7194, S. 9). Ausgehend von diesem Regelungszweck wäre es nicht sinnvoll - weil unter Umständen überschießend - gewesen, jeden „Verwender von Messwerten“ in den Kreis der Adressaten der Anzeigenpflicht aus § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG aufzunehmen. Der Gesetzgeber hat sich deshalb darauf beschränkt, nur diejenigen Personen in den Pflichtenkreis des § 32 MessEG einzubeziehen, die tatsächlich vor Ort vor den Messgeräten stehen und deren Alter und Eichung daher typischerweise am besten kennen. Der Begriff des „Messwerteerfassers“ wurde daher zwar in Abgrenzung zum Begriff des „Messgeräteverwenders“ eingeführt (vgl. oben [(1)(b)]), aber nicht, wie die Klägerin meint, in Abgrenzung zum Begriff des „Messwerteverwenders“. Der „Messwerteerfasser“ muss nicht, er kann aber je nach den Umständen des Einzelfalls auch ein „Messwerteverwender“ sein, wenn er die dafür maßgeblichen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt. Aus der Terminologie des § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG lässt sich daher kein Argument für die Herausnahme der Klägerin aus dem Pflichtenkreis des § 33 MessEG gewinnen.
100 (bb) Bei der von der Klägerin mithin im Sinne von § 3 Nr. 23 MessEG erfolgten „Nutzung von Messwerten im geschäftlichen Verkehr“ handelt es sich auch um eine „erforderliche“ Nutzung im Sinne der genannten Vorschrift.
101 Mit dem einschränkenden Tatbestandsmerkmal der „Erforderlichkeit“ der Nutzung wollte der Gesetzgeber klarstellen, dass nicht jeder Einsatz eines Messgeräts im Zusammenhang mit einem der genannten Zwecke - d.h. dem Zweck der Bestimmung von Messwerten „im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder im öffentlichen Interesse“ - den Begriff des „Verwendens“ erfüllt: „Der Einsatz des Messgeräts oder der Messwerte muss zu dem bestimmten Zweck auch relevant sein (‚sofern die Nutzung von Messergebnissen dabei erforderlich ist‘). Ausgeschlossen werden damit beispielsweise Messungen einer Partei, die für die Leistungsbeziehung und Rechnungsstellung nicht relevant sind, wie etwa Funktionsüberwachungen im Rahmen einer Pauschalabrechnung (flat rate)“ (BT-Drs. 17/12727, S. 39; dem folgend Ganske/Ley, a.a.O., S. 1298; Ambs, a.a.O., § 3 MessEG Rn. 25). Aus dieser Gesetzesbegründung erschließt sich, dass eine „Nutzung von Messwerten im geschäftlichen Verkehr“ immer (schon) dann „erforderlich“ ist, wenn sie für den Einsatz im geschäftlichen Verkehr „relevant“ ist. Das ist hier der Fall. Sowohl für die Erfüllung der vertraglichen Pflichten, welche die Klägerin gegenüber der WEG eingegangen ist, als auch für die spätere Verwendung der Messwerte durch die WEG gegenüber ihren Mitgliedern ist das Ablesen der Messwerte ein notwendiger Schritt und nicht etwa nur eine überobligatorische „Zusatznutzung“.
102 (b) Die Klägerin ist mithin als „Verwenderin von Messwerten“ im Sinne des Gesetzes anzusehen. Der sie daher aus § 33 MessEG treffende Pflichtenkreis bietet auch im vorliegenden Einzelfall im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG und § 3 Abs. 2 Nr. 4 BGebG ausreichende „Anknüpfungspunkte“ für ihre Heranziehung zur Gebühr für die Verwendungsüberwachung.
103 (aa) Eine Heranziehung des „Verwenders von Messwerten“ für die Gebühren einer Verwendungsüberwachung (§ 54 MessEG) ist nicht - wie die Klägerin meint - wegen Satz 3 des § 59 Abs. 1 MessEG ausgeschlossen.
104 Satz 3 des § 59 Abs. 1 MessEG bestimmt, dass, wenn eine Befundprüfung nach § 39 MessEG ergibt, dass ein Messgerät die Verkehrsfehlergrenze nicht einhält oder den sonstigen wesentlichen Anforderungen nach § 6 Abs. 2 MessEG nicht entspricht, die Gebühren und Auslagen von demjenigen zu tragen sind, der das Messgerät verwendet, in den übrigen Fällen von demjenigen, der die Befundprüfung beantragt hatte. Aus dem Umstand, dass nach dieser Vorschrift als Gebührenschuldner einer Befundprüfung (§ 39 MessEG) neben dem Antragsteller nur der „Verwender des Messgeräts“ - und nicht der Verwender von Messwerten“ - herangezogen werden kann, folgt nicht, dass der Gesetzgeber den Kreis der Gebührenschuldner auch bei einer Verwendungsüberwachung (§ 54 MessEG) auf diese Weise beschränkt hat. Dass bei einer Befundprüfung nach § 39 MessEG neben dem Antragsteller nur der „Messgeräteverwender“ als Schuldner in Betracht kommt, erklärt sich daraus, dass eine Befundprüfung gemäß § 39 Abs. 1 MessEG nur die Frage zum Gegenstand hat, ob ein Messgerät die dort näher bezeichneten Anforderungen erfüllt. Die Verwendungsprüfung nach § 54 Abs. 1 MessEG ist im Vergleich dazu umfassender. Sie hat gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 MessG, wie gezeigt, die Frage zum Gegenstand, ob beim Verwenden von Messgeräten und Messwerten die Vorschriften des Abschnitts 3 des Mess- und Eichgesetzes beachtet sind. Dem entspricht ist es, dass bei einer Verwendungsüberwachung, die zu Beanstandungen geführt hat, neben dem „Verwender des Messgeräts“ auch der „Verwender von Messwerten“ dem Grunde nach als Gebührenschuldner in Betracht kommt.
105 (bb) Daraus folgt allerdings nicht, dass sich aus dem in § 33 MessEG geregelten Pflichtenkreis des „Messwerteverwenders“ in jedem Einzelfall ausreichende Anknüpfungspunkte für eine Heranziehung zur Gebühr für eine Verwendungsüberwachung im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG und § 3 Abs. 2 Nr. 4 BGebG ergeben. Insoweit kommt es vielmehr auf die - von der Behörde zu ermittelnden und zu berücksichtigenden - Umstände des Einzelfalls an.
106 Die Notwendigkeit einer insoweit differenzierenden Betrachtung ergibt sich aus Absatz 2 des § 33 MessG. Die Vorschrift bestimmt, wie gezeigt, dass derjenige, der Messwerte verwendet, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu vergewissern hat, dass das Messgerät die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, und dass er sich von der Person, die das Messgerät verwendet, bestätigen zu lassen hat, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllt. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass der „Messwerteverwender“ dieser Kontrollpflicht „insbesondere durch entsprechende vertragliche Abreden zwischen Messgeräteverwender und Messwerteverwender genüg[en]“ kann (BT-Drs. 17/12727, S. 46; dem folgend Schade, in: Hollinger/Schade, a.a.O., § 33 Rn. 6; Gertz/Weise/Raschetti, a.a.O., S. 32). Wenn eine solche vertragliche Abrede im Einzelfall besteht und der Messwerteverwender seiner Kontrollpflicht aus Absatz 2 des § 33 MessG entsprochen hat, bietet der in dieser Vorschrift geregelte Pflichtenkreis des Messwerteverwenders keine genügenden Anhaltspunkte mehr dafür, ihn anstelle des Messgeräteverwenders zu den Kosten für eine Verwendungsüberwachung heranzuziehen, die sich auf Messgeräte bezogen hat, von denen Messwerte abgelesen wurden. Denn in einem solchen Fall steht aufgrund der - nach dem Willen des Gesetzgebers zulässigen - vertraglichen Abrede fest, dass in dem Einzelfall nicht der die Messgeräte nutzende Messwerteverwender, sondern der Messgeräteverwender selbst die Verantwortung insbesondere für die Eichung der Geräte tragen soll. In einem solchen Fall besteht für eine Heranziehung des Messverwenders zu den der Sache nach durch das Unterlassen der Eichung (vgl. § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG) ausgelösten Gebühren für die Verwendungsüberwachung kein Raum.
107 Davon ausgehend bietet der in § 33 MessEG geregelte Pflichtenkreis des „Messwerteverwenders“ im vorliegenden Einzelfall noch ausreichende „Anknüpfungspunkte“ für eine Heranziehung der Klägerin zur Gebühr für die fragliche Verwendungsüberwachung. Denn eine ausreichend vertragliche Abrede zwischen der Klägerin und der WEG, mit der jene ihren eigenständigen Kontrollpflichten aus Absatz 2 des § 33 MessEG entsprochen hat, besteht nicht.
108 In Betracht kommt hierfür einzig Nr. VIII AGB des zwischen der Klägerin und der WEG im März 2009 geschlossenen sog. Wärmedienstvertrages. In dem genannten Abschnitt der AGB heißt es unter der Überschrift „Mitwirkungspflichten des AG“ (d.h. des Auftraggebers), der Auftraggeber (die WEG) sei „[n]ach den gesetzlichen Bestimmungen (z.B. Heizkostenverordnung, AVB-Fernwärme, Neubaumietenverordnung)“ für die „vollständige Ausrüstung der Liegenschaft mit geeigneten Erfassungsgeräten und eine verbrauchsabhängige Abrechnung“ verantwortlich. Mit diesem pauschalen Verweis der Klägerin in ihren AGB auf gesetzliche Bestimmungen - in dem das Mess- und Eichrecht nicht einmal erwähnt wird - lag keine „Vergewisserung“, dass die von der WEG eingesetzten Messgeräte die gesetzlichen Anforderungen erfüllten, und erst recht keine „Bestätigung“, dass die WEG ihre Verpflichtungen insbesondere zur Eichung der Geräte erfüllt.
109 Der Gesetzgeber wollte mit § 33 Abs. 2 MessEG, wie gezeigt, eine „eigenständige Kontrollpflicht“ des Verwenders von Messgeräten einführen (vgl. erneut BT-Drs. 17/12727, S. 46). Die Schaffung dieser eigenständigen und neben der Pflicht des Messgeräteverwenders zusätzlichen Pflicht soll ersichtlich dazu dienen, auch vor dem Hintergrund der Abschaffung des früheren Verfahrens der staatlichen Erst- und Nacheichung und dem dadurch bedingten teilweisen Wegfall der staatlichen Kontrollmöglichkeiten bei dem erstmaligen Inverkehrbringen von Messgeräten (vgl. oben [(a)(aa)]) eine effektive Kontrolle der im Verkehr befindlichen Messgeräte im Interesse des Verbraucherschutzes und des Schutzes der Lauterkeit des Handels- und Rechtsverkehrs zu erreichen. Die sich daraus ergebende Bedeutung der eigenständigen Kontrollpflicht des Messwerteverwenders har zur Folge, dass der Messwerteverwender sich dieser wichtigen Pflicht nicht durch formelhafte Abreden in einem Vertrag entledigen kann. Es bedarf keiner Entscheidung, ob der vom Gesetzgeber mit § 33 MessEG und insbesondere dessen Absatz 2 verfolgten Absicht, sicherzustellen, dass neben dem Messgeräteverwender auch der Messwerteverwender die Einhaltung der eichrechtlichen Mindestanforderungen effektiv kontrolliert, überhaupt durch Allgemeine Geschäftsbedingungen genügt werden kann. Dagegen spricht, dass AGB bei lebensnaher Betrachtung im Wirtschaftsleben vielfach nicht oder nur oberflächlich zur Kenntnis genommen und von Verbrauchern - wovon auch der Bundesgesetzgeber ausgeht (vgl. §§ 305 ff. BGB) - regelmäßig „widerspruchslos hingenommen“ (Basedow, in: MüKo-BGB, 8. Aufl., Vor § 305 Rn. 4 und Rn. 5 ff. zum Telos der §§ 305 ff.) werden. Eine „Vergewisserung“ und „Bestätigung“ im Sinne von § 33 Abs. 2 MessEG setzt jedenfalls eine vertragliche Abrede voraus, die über einen pauschalen Verweis auf nur fragmentarisch angesprochene „gesetzliche Bestimmungen“ hinausgeht und erkennen lässt, dass sich die Vertragsparteien mit den im Einzelfall vorhandenen Geräten konkret auseinandergesetzt und die Frage nach der effektiven Überwachung der Eichfristen bewusst geregelt haben. Daran fehlt es hier.
110 d) Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegen die daraus folgende Einordnung der Klägerin als Gebührenschuldnerin bestehen nicht.
111 Das gilt auch dann, wenn zugunsten der Klägerin unterstellt wird - was der Senat offenlassen kann -, dass die §§ 31 ff., 59 MessEG eine objektiv berufsregelnde Tendenz aufweisen und einen Eingriff in ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG begründen. Der damit verbundene Eingriff wäre jedenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
112 Der Einwand der Klägerin, die genannten Vorschriften genügten bereits dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot nicht, ist unbegründet. Handelt es sich um eine Rechtsgrundlage für eine - wie hier - Gebührenerhebung, gebietet das Bestimmtheitsgebot, dass diese so gefasst ist, dass der (künftige) Gebührenschuldner erkennen kann, für welche öffentliche Leistung die Gebühr erhoben wird und welchen Zweck der Normgeber mit der Gebührenerhebung verfolgt (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.03.2003 - 2 BvL 9 bis 12/98 - BVerfGE 108, 1; BVerwG, Urt. v. 01.09.2009 - 6 C 30.08 - NVwZ-RR 2010, 146; Senat, Urt. v. 16.08.2018 - 1 S 625/18 - juris m.w.N.). Auch im Bereich des Abgabenrechts nimmt die Auslegungsbedürftigkeit einer Regelung derselben allerdings noch nicht die verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.03.1967 - 1 BvR 334/61 - BVerfGE 21, 209, v. 18.05.1988 - 2 BvR 579/84 - BVerfGE 78, 205 und v. 09.11.1988 - 1 BvR 243/86 - BVerfGE 79, 106). Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass sich aus Wortlaut, Zweck und Zusammenhang der Regelung objektive Kriterien gewinnen lassen, die eine willkürliche Handhabung der Norm durch die für die Vollziehung zuständigen Behörden ausschließen. Die willkürfreie Handhabung eines Gebührentatbestandes ist durch nachträgliche Auslegung nur dann gewährleistet, wenn ein Gebührenschuldner mit seiner Heranziehung rechnen musste, weil dies in Anwendung juristischer Methoden ein vertretbares Auslegungsergebnis darstellt (BVerwG, Urt. v. 01.09.2009, a.a.O., und v. 12.07.2006 - 10 C 9.05 - BVerwGE 126, 222; Senat, Urt. v. 16.08.2018, a.a.O.). Diese Anforderungen sind hier erfüllt. Die entscheidungserheblichen Vorschriften des Mess- und Eichgesetzes, insbesondere die gebührenrechtlichen Begriffe des § 59 MessEG sowie die Begriffe des „Messgeräteverwenders“ und des „Messwerteverwenders“ aus §§ 31 ff. MessEG können anhand der juristischen Auslegungsmethoden, wie gezeigt (oben a) bis c)), ausgelegt werden. Dass sie - wie bei einem neuen Gesetz nicht unüblich - auslegungsbedürftig sind, nimmt ihnen nicht die erforderliche Bestimmtheit.
113 Die der Gebührenerhebung zugrundeliegenden Bestimmungen aus § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG und § 3 Nr. 22 MessEG begegnen entgegen dem Berufungsvorbringen auch im Lichte der Wesentlichkeitslehre keinen Bedenken und erweisen sich als verhältnismäßig. Der Gesetzgeber verfolgt damit, wie gezeigt, legitime Ziele des Verbraucherschutzes und des Schutzes der Lauterkeit des Geschäfts- und Rechtsverkehrs. Die aus den Vorschriften unter Umständen - wie hier - folgende Einstufung von Messdienstleistern als „Messwerteverwender“ und die daran anknüpfende Auferlegung der in § 33 MessEG geregelten Sorgfaltspflichten stellen geeignete und erforderliche Mittel zur Erreichung dieser Ziele dar und belasten die Klägerin nicht unangemessen. Das gilt umso mehr, als der Gesetzgeber, wie gezeigt, ausdrücklich von der Möglichkeit ausgegangen ist, dass der Messwerteverwender die Erfüllung dieser Pflichten durch entsprechende vertragliche Abreden mit seinem Auftraggeber steuern kann. Dass die Klägerin von dieser Möglichkeit im vorliegenden Fall durch ihre pauschalen AGB nicht auf geeignete Weise Gebrauch gemacht hat, führt nicht zur Verfassungswidrigkeit der genannten Bestimmungen.
114 Ob verfassungsrechtliche Bedenken gegen den von der Klägerin darüber hinaus in Bezug genommenen und an § 33 MessEG anknüpfenden Ordnungswidrigkeitentatbestand aus § 60 Abs. 1 Nr. 19 MessEG bestehen, bedarf im vorliegenden Verfahren mangels Entscheidungserheblichkeit dieser Vorschrift keiner Entscheidung.
115 e) Durchgreifende unionsrechtliche Bedenken gegen die Einordnung der Klägerin als Gebührenschuldnerin bestehen ebenfalls nicht.
116 Weshalb, wie die Klägerin meint, mit den § 31 Abs. 1 Satz 1, § 33 Abs. 1 Satz 1 sowie § 60 Abs. 1 Nr. 14 und 19 MessEG ein „Handlungs- und Sanktionsdruck“ aufgebaut wird, der auf unionsrechtswidrige Weise in den durch Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2014/32/EU eröffneten Freiheitsraum für den Messgerätemarkt übergreifen sollte, ist dem Berufungsvorbringen nicht substantiiert zu entnehmen. Dafür besteht in Bezug auf die im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblichen Vorschriften aus den §§ 33, 59 MessEG auch im Übrigen kein Anhaltspunkt.
117 Ohne Erfolg verweist die Klägerin insbesondere auf das zur (früheren) sog. Bauprodukterichtlinie (Richtlinie 89/106/EWG) ergangene Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 16.10.2014 (- C-100/13 - NVwZ 2015, 49). Der EuGH hat in diesem Urteil entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106/EWG verstoßen hat, dass sie durch die Bauregellisten, auf die die Bauordnungen der Bundesländer damals verwiesen, zusätzliche Anforderungen für den wirksamen Marktzugang und die Verwendung von Bauprodukten in Deutschland gestellt hatte, die von den harmonisierten Normen EN 681-2:2000 („Elastomer-Dichtungen - Werkstoff-Anforderungen für Rohrleitungs-Dichtungen für Anwendungen in der Wasserversorgung und Entwässerung - Teil 2: Thermoplastische Elastomere“), EN 13162:2008 („Wärmedämmstoffe für Gebäude - Werkmäßig hergestellte Produkte aus Mineralwolle - Spezifikation“) und EN 13241-1 („Tore - Produktnorm - Teil 1: Produkte ohne Feuer- und Rauchschutzeigenschaften“) erfasst wurden und mit der CE-Kennzeichnung versehen waren.
118 Weder hat die Klägerin mit ihrem insoweit pauschalen Vortrag aufgezeigt noch erschließt sich sonst, weshalb sich aus den von ihr beanstandeten Vorschriften aus dem Mess- und Eichgesetz, insbesondere aus den Bestimmungen über die Kontrollpflichten des Messwerteverwenders aus § 33 MessEG, vergleichbare und unionsrechtlich bedenkliche „zusätzliche Anforderungen für den wirksamen Marktzugang und die Verwendung“ im Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Messgeräten auf dem Markt (Neufassung, ABl. L 096 vom 29.03.2014, S. 149) ergeben sollten. Weder § 33 MessEG noch die anderen im vorliegenden Fall allein entscheidungserheblichen Vorschriften begründen Pflichten der Messwerteverwender, die mit den in der Richtlinie genannten Pflichten der „Wirtschaftsakteure“ (vgl. Art. 8 ff. der Richtlinie) unvereinbar wären oder den Konformitätsmechanismus (Art. 14 ff. der Richtlinie) des von der Klägerin angesprochenen sog. New Approach der EU-Kommission sonst in Frage stellen würden. Der Bundesgesetzgeber hat mit den von der Klägerin beanstandeten Vorschriften auch nicht den ihm vom Unionsgesetzgeber gezogenen Umsetzungsspielraum überschritten. Die Richtlinie 2014/32/EU stellt einheitliche Standards für Geräte auf, die in Verkehr gebracht werden sollen, und normiert einheitliche Anforderungen an das Konformitätsbewertungsverfahren. Die Richtlinie hat aber keine umfassende und abschließende Regelung für sämtliche mit der Verwendung von Messgeräten nach deren Inverkehrbringung oder Inbetriebnahme zusammenhängenden Vorgaben getroffen (vgl. Zehelein, a.a.O., S. 799).
119 2. Der angefochtene Bescheid ist nach dem zuvor Gesagten auf der Tatbestandsseite im Ergebnis nicht zu beanstanden. Er erweist sich aber auf der Rechtsfolgenseite als materiell rechtswidrig. Er leidet unter einem Ermessensfehler.
120 Dem Beklagten war zwar kein Entschließungsermessen eröffnet. Denn wenn die Voraussetzungen von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG vorliegen, „werden“ für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen grundsätzlich Gebühren und Auslagen erhoben (vgl. zu Ausnahmen im Bereich der Gebührenermäßigung und Befreiung § 59 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 MessEG i.V.m. § 7 MessEGebV).
121 Der Beklagte hatte allerdings Auswahlermessen auszuüben. Denn neben der Klägerin als „Messwerteverwenderin“ kam nach dem zuvor (unter 1.) Gesagten - und auch nach Auffassung des Beklagten (vgl. dessen Auskunft in der E-Mail vom 29.05.2017) - jedenfalls auch die WEG als „Messgeräteverwenderin“ als Gebührenschuldnerin in Betracht (vgl. zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einer WEG neben dieser ggf. auch an deren Verwalter zu denken ist, Jennißen/Kemm, a.a.O., S. 390 ff.; ferner OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2016 - 4 A 1150/15 - a.a.O.).
122 Mehrere Gebührenschuldner haften auch im Anwendungsbereich des Mess- und Eichgesetzes als Gesamtschuldner (vgl. § 5 Abs. 2 LGebG; bei einer Orientierung am Bundesgebührengesetz ergibt sich nichts anderes, vgl. § 6 Abs. 3 BGebG). Sinngemäß ist damit § 421 Satz 1 BGB anzuwenden, wonach der Gläubiger einer Gesamtschuld die Leistung nach seinem Belieben - im öffentlichen Gebührenrecht: nach seinem Ermessen - von jedem der Schuldner ganz oder zu einem Teil fordern kann, der Gläubiger sich seinen Schuldner mithin aussuchen darf (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.09.2015 - 4 C 3.14 - juris, v. 21.10.1994 - 8 C 11.93 - juris, und v. 22.01.1993 - 8 C 57.91 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.09.2018 - 2 S 731/18 - VBlBW 2019, 56, und v. 02.08.1994 - 2 S 1449/94 -, VBlBW 1995, 147 m.w.N.). Mangels abweichender Ausgestaltung des Gesamtschuldverhältnisses hat die Behörde bei der Entscheidung, welchen von mehreren Gesamtschuldnern sie zur Zahlung einer Gebühr heranzieht, nach pflichtgemäßem Ermessen zu handeln. Das ihr dabei eingeräumte Ermessen ist sehr weit. Dies ergibt sich aus dem Wesen und dem Zweck der Anordnung einer gesamtschuldnerischen Haftung der Gebührenschuldner. Sie soll der Verwaltung den Vollzug der Gebührennorm erleichtern, den damit verbundenen Verwaltungsaufwand verringern und insbesondere in Bereichen des „Massengeschäfts“ zu einer ertragreichen Gebührenerhebung beitragen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.01.1993, a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.09.2018, a.a.O.). Dementsprechend ist der Behörde insbesondere eine Auswahl aus finanziellen oder aus verwaltungspraktischen Gründen erlaubt. Innerhalb der ihrem Ermessen lediglich durch das Willkürverbot und offenbare Unbilligkeit gezogenen Grenzen kann die Behörde den Gesamtschuldner in Anspruch nehmen, dessen Wahl ihr geeignet und zweckmäßig erscheint. Deshalb sind Ermessenserwägungen zur Auswahl eines Gesamtschuldners nur dann veranlasst, wenn Willkür- oder Billigkeitsgründe geltend gemacht werden und tatsächlich vorliegen. Einwände eines Schuldners gegen seine Auswahl müssen dabei auf Billigkeitserwägungen beruhen, die gerade ihn selbst betreffen. Nicht einwenden kann ein Schuldner, dass es andere Gesamtschuldner gebe, die ebenfalls oder an seiner Stelle heranzuziehen seien. Bedenken gegen ein weites Ermessen der Behörde bestehen angesichts der Möglichkeit des herangezogenen Schuldners, entsprechend § 426 BGB Ausgleich von den anderen Gesamtschuldnern zu verlangen, nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.09.2015, a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.09.2018, a.a.O.).
123 Nach diesem Maßstab leidet der angefochtene Bescheid des Beklagten an einem der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterworfenen (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) Ermessensfehler. Es ist nicht erkennbar - und wird von dem Beklagten auch nicht vorgetragen - dass er im vorliegenden Fall überhaupt Ermessenserwägungen angestellt hat. Im vorliegenden Einzelfall waren aber Ermessenserwägungen zur Auswahl eines Gesamtschuldners veranlasst, um einen Verstoß gegen das Willkürverbot zu vermeiden.
124 Das vorliegende Verfahren lässt insgesamt nicht erkennen, dass der Beklagte die Frage, anhand welcher Maßstäbe er das ihm gegebenenfalls zur Verfügung stehende Auswahlermessen bei der Heranziehung von Gebührenschuldnern unter dem neuen Mess- und Eichgesetz im Rahmen des § 59 MessEG generell ausüben will, für sich bislang überhaupt beantwortet hat. So hat das Regierungspräsidium Tübingen - Eich und Beschusswesen Baden-Württemberg - unter dem 10.03.2017 ein auch gegenwärtig online abrufbares „Merkblatt über die Eichpflicht für Wohnungswasserzähler“ verfasst (https://www.mebw.de/sites/default/files/H204-3_IN00B_Merkblatt_1-0.pdf; zuletzt abgerufen am 29.09.2020). Dort heißt es unter der Überschrift „Angeben und Verwenden von Messwerten“, es sei „im Fall vom Messdienstleistern zwischen dem ‚Ausleser‘ der Messwerte und dem ‚Ersteller‘ der daraus resultierenden Abrechnungen zu unterscheiden. Rechne der Messdienstleister „direkt“ mit dem Verbraucher ab, habe er (der Messdienstleister) als Verwender die Regelungen des § 33 MessEG zu beachten. Stelle der Messdienstleister hingegen „nur“ die Messwerte zur Verfügung, treffe die Pflicht des § 33 MessEG bezüglich des Verwendens „den Abrechnenden (Verwalter, Vermieter etc.)“; falls dem Messdienstleister bekannt sei, dass die Messwerte von nicht gültig geeichten Messgeräten stammten, dürfe er sie allerdings nicht angeben. Die Ausführungen in diesem Merkblatt stehen teils schon in Widerspruch zu dem Vortrag des Beklagten im vorliegenden Verfahren zum Tatbestand des § 33 MessEG. Sie deuten zudem darauf hin, dass der Beklagte in den Fällen, in denen der Messdienstleister - wie hier die Klägerin - „nur“ Messwerte abliest und an den Eigentümer weitergibt, aber nicht selbst gegenüber Verbrauchern abrechnet, den Eigentümer (möglicherweise auch den Verwalter oder einen etwaigen Vermieter), aber nicht den Messdienstleister als primär Eichverantwortlichen ansieht. Dem entspricht die Auskunft des Regierungspräsidiums in der E-Mail vom 29.05.2017, verantwortlich für die fristgerechte Eichung von Messgeräten sei deren Verwender und daher in der Regel der Haus- oder Wohnungseigentümer, für den die Verbrauchsabrechnung erfolge, und eine WEG könne gegebenenfalls ihren Verwalter zivilrechtlich belangen, wenn er trotz Aufforderung Wasserzähler nicht ausgetauscht habe (Bl. 1 d. Verw.-Akte). In dieselbe Richtung deuten Passagen in dem von der Klägerin bereits erstinstanzlich vorgelegten Informationsblatt „Die Eichbehörden informieren: Angeben und Verwenden von Messwerten“ (vgl. dort das Fallbeispiel 7, Bl. 59 ff. d. VG-Akte). Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, anhand welcher Maßstäbe der Beklagte sich im vorliegenden Einzelfall für eine (alleinige) Heranziehung die Klägerin zur Gebührenerhebung für die Verwendungsüberwachung entschieden hat. Es wären zumindest Ermessenserwägungen zur willkürfreien Auswahl eines Gesamtschuldners veranlasst gewesen. An solchen Ermessenserwägungen fehlt es.
C.
125 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
D.
126 Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
127 Beschluss vom 29. September 2020
128 Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 47 Abs. 1, § 63 Abs. 2 und § 52 Abs. 3 GKG auf 152,-- EUR festgesetzt.
129 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Gründe
31 Die Berufung der Klägerin hat Erfolg.
A.
32 Der Senat entscheidet ohne eine Beiladung der WEG.
33 Ein Fall der notwendigen Beiladung (§ 65 Abs. 2 VwGO) liegt nicht vor. Das ist nur dann der Fall, wenn die begehrte Sachentscheidung nicht wirksam getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig und unmittelbar in Rechte des Dritten eingegriffen wird, d.h. seine Rechte gestaltet, bestätigt oder festgestellt, geändert oder aufgehoben werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 07.02.2011 - 6 C 11/10 - NVwZ-RR 2011, 382 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind hier - wie regelmäßig bei Anfechtungsklagen von Adressaten von sie belastenden Verwaltungsakten - nicht erfüllt. Wenn der Senat dem Begehren der Klägerin entspricht und den angefochtenen Verwaltungsakt aufhebt, wird dadurch nicht - zumal nicht unmittelbar - in Rechte der WEG eingegriffen.
34 Von einer einfachen Beiladung (§ 65 Abs. 1 VwGO) sieht der Senat in Ausübung des ihm insoweit eröffneten Ermessens ab. Er lässt sich dabei maßgeblich von den Normzwecken des § 65 Abs. 1 VwGO leiten (vgl. zu diesen BT-Drs. 5/55 S. 37; Bier/Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch u.a., VwGO, 38. Erg.-Lfg., § 65 Rn. 3). Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts ist eine Beiladung nicht erforderlich, da der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist. Eine Beiladung könnte auch nicht im Interesse der Prozessökonomie dazu beitragen, größere Streitkomplexe zu erledigen. Im Falle einer klagabweisenden Entscheidung des Senats sind Rechtsstreitigkeiten zwischen der WEG und dem Beklagten nicht zu erwarten. Im Falle einer der Klage stattgebenden Entscheidung ist zwar nicht ausgeschlossen, dass, aber derzeit völlig ungewiss, ob der Beklagte sich dann stattdessen an die WEG wendet, um diese zur Gebühr heranzuziehen. Er hat bislang schon nicht erkennen lassen, anhand welcher Maßstäbe er sein Auswahlermessen für die Heranziehung von Gebührenschuldnern bei Verwendungsüberwachungsgebühren auf der Rechtsfolgenseite überhaupt ausüben will (s. dazu unter IV.2.). Unabhängig davon ließe sich selbst dann, wenn der Beklagte die WEG im Ergebnis zur Gebührenerhebung heranzieht und diese damit nicht einverstanden ist, ein darauf bezogener Rechtsstreit durch eine Beiladung der WEG zum vorliegenden Verfahren nicht vermeiden. Die WEG müsste auch dann, wenn sie am vorliegenden Verfahren beteiligt wäre, einen etwaigen gegen sie erlassenen Gebührenbescheid anfechten. Die Frage, ob ein etwaiger an die WEG adressierter Gebührenbescheid dann ermessensfehlerfrei ist (vgl. IV.2.), kann im vorliegenden Fall mangels Ermessensausübung nicht - erst recht nicht mit Bindungswirkung (vgl. § 121 VwGO) - beantwortet werden.
B.
35 Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Sie ist zulässig und begründet. Der Gebührenbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen - Eich- und Beschusswesen - Nr. ... vom 06.09.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36 Ausgehend vom maßgeblichen Zeitpunkt (I.) und der Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 3 MessEG (II.) ist der angefochtene Bescheid zwar nicht wegen formeller Mängel (III.), aber aufgrund materieller Rechtswidrigkeit aufzuheben (IV.).
I.
37 Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017.
38 Bei der Beurteilung der Begründetheit einer Klage ist auf die Sach- und Rechtslage abzustellen, auf die es nach dem Streitgegenstand und dem darauf anwendbaren materiellen Recht für die Entscheidung ankommt. Danach ergibt sich für eine - wie hier - Anfechtungsklage im Allgemeinen, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich ist, es sei denn, das materielle Recht regelt etwas Abweichendes (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.06.2006 - 6 C 19.06 - BVerwGE 126, 149). Eine solche abweichende Regelung besteht im Verwaltungsgebührenrecht. Da dessen Regelungen sicherstellen sollen, dass die mit der Vornahme einer Amtshandlung verbundenen Kosten für den Kostenschuldner vorhersehbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.10.2016 - 7 C 6.15 - NVwZ 2017, 485), ist bei der Anfechtung von Bescheiden über die Heranziehung zu Kosten (Gebühren und Auslagen) maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Entstehens der Kostenschuld abzustellen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.10.1988 - 14 S 1771/87 - ESVGH 39, 50; NdsOVG, Urt. v. 27.09.2017 - 13 LC 218/16 - NdsVBl 2018, 43; SächsOVG, Urt. v. 20.1.2014 - 3 A 623/12 - juris). Das ist im Falle der Kostenschuld für eine öffentliche Leistung in der Gestalt von behördlichen Überwachungsmaßnahmen der Zeitpunkt der Beendigung der jeweiligen Maßnahme (vgl. § 3 Abs.1 Nr. 3, § 4 Abs. 1 BGebG).
39 Zugrunde zu legen ist danach im vorliegenden Fall das im Zeitpunkt der Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 geltende Mess- und Eichgesetz (MessEG) vom 25.07.2013 (BGBl I 2013, 2722 <2723>), in Kraft getreten am 01.01.2015, in der Fassung des Gesetzes vom 11.04.2016 (BGBl. I. 718), die am 19.04.2016 in Kraft trat, aber ohne die durch Gesetz vom 20.11.2019 (BGBl. I 1626) erfolgten - für den vorliegenden Fall unabhängig davon auch inhaltlich nicht erheblichen - weiteren Gesetzesänderungen. Abzustellen ist darüber hinaus auf die am 01.01.2015 in Kraft getretene Eich- und Messverordnung (MessEV) vom 11.12.2014 (BGBl I 2014, 2010 <2011>) in der vom 02.09.2016 bis 15.08.2017 geltenden Fassung sowie auf die Mess- und Eichgebührenverordnung (MessEGebV) in der vom 28.03.2015 bis 07.05.2019 geltenden Fassung. Die nachfolgend verwendeten Gesetzesabkürzungen beziehen sich auf die Normen in den zuvor genannten Fassungen.
II.
40 Als Rechtsgrundlage für den angefochtenen Gebührenbescheid kommt einzig § 59 Abs. 1 und 3 MessEG i.V.m. der Mess- und Eichgebührenverordnung in Betracht.
41 Nach diesen Vorschriften erheben die Landesbehörden für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen nach dem Mess- und Eichgesetz und den auf diesem Gesetz beruhenden Rechtsverordnungen nach näheren Maßgaben Gebühren und Auslagen (vgl. § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG), wobei zu den in Betracht kommenden öffentlichen Leistungen insbesondere die Überwachung der Verwendung von Messgeräten und Messwerten gemäß § 54 Abs. 1 und 3 MessEG (Verwendungsüberwachung) zählt (vgl. § 59 Abs. 3 MessEG i.V.m. §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 MessEGebV und Schlüsselzahl 15.2.1.1 der Anlage zu § 3 MessEGebV).
III.
42 Der hierauf gestützte Bescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 06.09.2017 ist nicht wegen formeller Rechtsfehler aufzuheben.
43 Die Klägerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass der Bescheid ohne ihre vorherige Anhörung und damit unter Verstoß gegen § 28 Abs. 1 LVwVfG erlassen wurde. Dieser Mangel wurde allerdings gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 LVwVfG geheilt. Denn die Anhörung wurde im erstinstanzlichen Verfahren im Ergebnis nachgeholt.
IV.
44 Der angefochtene Gebührenbescheid ist aber materiell rechtswidrig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Heranziehung der Klägerin zu Gebühren für die Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 liegen zwar vor (1.). Der Beklagte hat aber das ihm zustehende Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt (2.).
45 1. Der Tatbestand der Rechtsgrundlage aus § 59 Abs. 1 und 3 MessEG ist erfüllt.
46 Nach Satz 1 des § 59 Abs. 1 MessEG erheben die Landesbehörden für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen nach dem Mess- und Eichgesetz und den auf diesem Gesetz beruhenden Rechtsverordnungen Gebühren und Auslagen nach Absatz 2, der insbesondere den Umfang der Gebühren und Auslagen regelt, und nach Absatz 3, der eine Ermächtigungsgrundlage für die Gebührenverordnung mit den Gebührentatbeständen enthält. Für Prüfungen und Untersuchungen werden gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG keine Gebühren und Auslagen erhoben, wenn die Prüfung und Untersuchung (1.) nach § 52 MessEG ergibt, dass ein Messgerät den Bestimmungen dieses Gesetzes und der hierauf erlassenen Rechtsverordnungen entspricht, oder (2.) nach § 56 MessEG ergibt, dass ein Messgerät entsprechend den Bestimmungen dieses Gesetzes und der hierauf erlassenen Rechtsverordnungen verwendet wurde. § 59 Abs. 1 Satz 3 MessEG bestimmt, dass, wenn eine Befundprüfung nach § 39 MessEG ergibt, dass ein Messgerät die Verkehrsfehlergrenze nicht einhält oder den sonstigen wesentlichen Anforderungen nach § 6 Abs. 2 MessEG nicht entspricht, die Gebühren und Auslagen von demjenigen zu tragen sind, der das Messgerät verwendet, in den übrigen Fällen von demjenigen, der die Befundprüfung beantragt hatte.
47 Die sich hieraus ergebenden Tatbestandsvoraussetzungen für eine Heranziehung der Klägerin zu den Gebühren für die Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 sind erfüllt. Diese Kontrollmaßnahme stellt eine „öffentliche Leistung“ im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG dar (a)). Die Gebührenpflichtigkeit dieser öffentlichen Leistung ist nicht gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG entfallen (b)). Die öffentliche Leistung ist der Klägerin auch gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG „individuell zurechenbar“ (c)). Durchgreifende verfassungsrechtliche (d)) oder unionsrechtliche Bedenken (e)) gegen die daraus folgende Einordnung der Klägerin als Gebührenschuldnerin bestehen nicht.
48 a) Eine „öffentliche Leistung“ im Sinne des § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG liegt mit der am 09.08.2017 vom Beklagten durchgeführten Kontrollmaßnahme vor.
49 Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat für den Bereich der Landesverwaltung gestützt auf § 59 Abs. 3 MessEG mit Zustimmung des Bundesrates die gebührenpflichtigen Tatbestände in der Mess- und Eichgebührenverordnung bestimmt. Zu den dem Grunde nach gebührenpflichtigen öffentlichen Leistungen zählt danach die Überwachung der Verwendung von Messgeräten und Messwerten gemäß § 54 Abs. 1 und 3 MessEG i.V.m. § 55 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 MessEG (vgl. §§ 1, 3 Abs. 1 Satz 1 MessEGebV und Schlüsselzahl 15.2.1.1 der Anlage zu § 3 MessEGebV; Hollinger, in: dems./Schade, MessEG/MessEV, § 59 Rn. 5).
50 Eine solche Verwendungsüberwachung hat der Beklagte am 09.08.2017 durchgeführt. Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 MessEG kontrollieren die zuständigen Behörden anhand angemessener Stichproben auf geeignete Weise und in angemessenem Umfang, ob beim Verwenden von Messgeräten und Messwerten die Vorschriften des Abschnitts 3 des Mess- und Eichgesetzes beachtet sind (Verwendungsüberwachung). Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 MessEG, der die „Maßnahmen der Verwendungsüberwachung“ regelt, treffen die Behörden die erforderlichen Maßnahmen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass Messgeräte nicht entsprechend den Anforderungen des Abschnitts 3 verwendet werden. Sie sind gemäß § 55 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 MessEG insbesondere befugt, ein Messgerät zu prüfen. Nach dem in Abschnitt 3 stehenden § 31 Abs. 1 MessEG dürfen ausschließlich Messgeräte oder sonstige Messgeräte verwendet werden, die den Bestimmungen des Mess- und Eichgesetzes und der auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen entsprechen. Nach dem ebenfalls in Abschnitt 3 stehenden § 37 Abs. 1 MessEG dürfen Messgeräte nicht ungeeicht verwendet werden, (1.) nachdem die in der Rechtsverordnung nach § 41 Nr. 6 MessEG bestimmte Eichfrist abgelaufen ist oder (2.) wenn die Eichfrist nach § 37 Abs. 2 MessEG vorzeitig endet. Die von dem Beklagten am 09.08.2017 durchgeführte Kontrolle diente dem Zweck festzustellen, ob unter anderem die in der WEG als Messgeräte im Bereich der Wasserversorgung eingesetzten Unterzähler den zuvor genannten Bestimmungen aus dem Abschnitt 3 des Mess- und Eichgesetzes entsprachen. Diese Überwachungsmaßnahme unterfiel damit als öffentliche Leistung dem Gebührentatbestand in der Schlüsselzahl 15.2.1.1 der Anlage zu § 3 MessEGebV.
51 b) Die dem Grunde nach bestehende Gebührenpflichtigkeit dieser öffentlichen Leistung ist nicht gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG entfallen.
52 Nach der hier allenfalls in Betracht kommenden Nummer 2 des § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG werden für Prüfungen und Untersuchungen keine Gebühren und Auslagen erhoben, wenn die Prüfung und Untersuchung nach § 56 MessEG - der die Betretungsrechte sowie Mitwirkungs- und Duldungspflichten bei der Verwendungsüberwachung regelt - ergibt, dass ein Messgerät entsprechend den Bestimmungen dieses Gesetzes und der hierauf erlassenen Rechtsverordnungen verwendet wurde. Mit dieser Vorschrift soll klargestellt werden, dass die Verwendungsüberwachung nur im Beanstandungsfall der Kostenpflicht unterliegt (Hollinger, a.a.O., § 59 Rn. 9). Ein solcher Fall liegt hier indes vor. Die von dem Beklagten am 09.08.2017 durchgeführte Prüfung hat ergeben, dass die Eichfrist, die bei Kaltwasserzählern sechs Jahre beträgt (vgl. Nr. 5.5.1 der Anlage 7 zu § 34 Abs. 1 Nr. 1 MessEV), von sechs im Keller des Anwesens befindlichen Messgeräten bereits am 31.12.2006 abgelaufen war und diese Geräte im Zeitpunkt der Kontrolle ungeeicht waren.
53 c) Die daher gebührenpflichtige Verwendungsüberwachung ist der Klägerin auch im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG „individuell zurechenbar“.
54 Unter welchen Voraussetzungen und wem eine nach dem Mess- und Eichgesetz erbrachte öffentliche Leistung „individuell zurechenbar“ ist, hat der Bundesgesetzgeber in diesem Gesetz und in der auf seiner Grundlage erlassenen Gebührenverordnung nicht ausdrücklich geregelt. Der Gesetzesbegründung ist aber zu entnehmen, dass er sich an dem Bundesgebührengesetz orientieren wollte (vgl. BT-Drs. 17/12727).
55 Das Bundesgebührengesetz geht ebenfalls davon aus, dass Gebühren und Auslagen nur für „individuell zurechenbare öffentliche Leistungen“ vom Gebührenschuldner erhoben werden können (vgl. § 1 BGebG). Mit der Tatbestandsvoraussetzung der „individuellen Zurechenbarkeit“ hat der Gesetzgeber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen, wonach eine Leistung individuell zurechenbar sein muss, um die Erhebung einer Gebühr zu rechtfertigen: „In dieser individuellen Zurechenbarkeit liegt die Rechtfertigung, dass die öffentliche Leistung nicht aus allgemeinen Steuermitteln, sondern ganz oder teilweise vom Gebührenschuldner finanziert wird. Das Kriterium der individuellen Zurechenbarkeit betrifft damit die Frage nach der Abgrenzung von Hoheitsmaßnahmen, die ausschließlich aus allgemeinen Steuereinnahmen zu finanzieren sind, gegenüber denjenigen, die durch ein besonderes Leistungsverhältnis ausgestaltet sind und deshalb durch Erhebung von Gebühren und Auslagen finanziert werden dürfen“ (vgl. BT-Drs. 17/10422, S. 95, unter Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 06.02.1979 - 2 BvL 5/76 - BVerfGE 50, 217). Ein solches besonderes, eine individuelle Gebührenerhebung rechtfertigendes Leistungsverhältnis liegt jedenfalls dann vor, wenn die Amtshandlung an eine besondere, aus der Sache selbst ableitbare Verantwortlichkeit des Betroffenen anknüpft (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.10.1994 - 1 BvL 19/90 - BVerfGE 91, 207) oder im Pflichtenkreis des Betroffenen erfolgt (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.12.2015 - BVerwG 3 C 3.15 - BVerwGE 153, 321; NdsOVG, Urt. v. 27.09.2017, a.a.O., m.w.N.; näher dazu Senat, Urt. v. 16.08.2018 - 1 S 625/18 - juris m.w.N.).
56 Von diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ausgehend, hat der Bundesgesetzgeber in § 3 Abs. 2 BGebG die Fallgruppen aufgeführt, in denen eine individuelle Finanzierungsverantwortlichkeit für öffentliche Leistungen - insbesondere für behördliche Überwachungsmaßnahmen mit Außenwirkung (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1 BGebG) - besteht und in denen die hierfür entstandenen Kosten auf den von der öffentlichen Leistung Betroffenen überwälzt werden können (vgl. BT-Drs. 17/10422, S. 95). Nach § 3 Abs. 2 BGebG ist eine Leistung individuell zurechenbar, (1.) die beantragt oder sonst willentlich in Anspruch genommen wird, (2.) die zugunsten des von der Leistung Betroffenen erbracht wird, (3.) die durch den von der Leistung Betroffenen veranlasst wurde oder (4.) bei der ein Anknüpfungspunkt im Pflichtenkreis des von der Leistung Betroffenen rechtlich begründet ist, wobei Letzteres für Stichprobenkontrollen nur gilt, soweit diese nach anderen Gesetzen des Bundes oder Rechtsakten der Europäischen Union besonders angeordnet sind und von dem Gegenstand der Kontrolle eine erhebliche Gefahr ausgeht.
57 Im vorliegenden Fall kann der Klägerin die Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 zwar nicht in Anlehnung an Nr. 1 bis 3 des § 3 Abs. 2 BGebG individuell zugerechnet werden (nachfolgend aa) bis bb)), aber nach Nr. 4 (dd)).
58 aa) Die am 09.08.2017 durchgeführte Verwendungsüberwachung kann der Klägerin nicht nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 BGebG „individuell zugerechnet“ werden. Die Klägerin hat diese Kontrolle insbesondere nicht beantragt und sie wurde auch nicht zu ihren Gunsten erbracht.
59 bb) Eine Zurechnung der Überwachung lässt sich auch nicht unter Verweis auf § 3 Abs. 2 Nr. 3 BGebG rechtfertigen. Die Kontrolle vom 09.08.2017 wurde nicht von der Klägerin „veranlasst“.
60 Für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der „Veranlassung“ reicht nach dem Willen des Gesetzgebers eine bloße Verursachung nicht aus. Die Finanzierungsverantwortlichkeit nach Nummer 3 des § 3 Abs. 2 BGebG trifft vielmehr nur denjenigen, der den Einsatz öffentlicher Personal- oder Sachmittel durch sein Verhalten oder durch den Zustand einer ihm zuzurechnenden Sache willentlich herbeigeführt hat (vgl. BT-Drs. 17/10422, S. 95, unter - allerdings verkürzendem - Verweis auf BVerwG, Urt. v. 22.10.1992 - 3 C 2.90 - BVerwGE 91, 109). An Letzterem fehlt es hier. Die Klägerin hat die Verwendungsüberwachung vom 09.08.2017 nicht willentlich herbeigeführt.
61 cc) Die Klägerin muss sich die Verwendungsüberwachung aber nach § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG in Anlehnung an Nummer 4 des § 3 Abs. 2 BGebG „individuell zurechnen“ lassen. Denn bei dieser Kontrolle ist im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift „ein Anknüpfungspunkt im Pflichtenkreis“ der Klägerin rechtlich begründet.
62 Ein die Heranziehung zur Gebührenerhebung rechtfertigender „Anknüpfungspunkt im Pflichtenkreis“ kann bei behördlichen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen insbesondere dann bestehen, wenn die Maßnahme speziell und individualisierbar (auch) auf die als Gebührenschuldner in Betracht kommende Person bezogen ist und (auch) ihrem Interesse dient, insbesondere dem Interesse daran, den kontrollierten Gegenstand weiterhin unbeanstandet nutzen zu können (vgl. BT-Drs. 17/10422, S. 95 f.; zur Gebührenerhebung für immissionsschutzrechtliche Kontrollen beim Anlagenbetreiber BVerwG, Urt. v. 25.08.1999 - 8 C 12.98 - BVerwGE 109, 272; zu waffenrechtlichen Kontrollen beim Waffenbesitzer BVerwG, Urt. v. 01.09.2009 - 6 C 30.08 - NVwZ-RR 2010, 146). Die im vorliegenden Fall im Raum stehenden mess- und eichrechtlichen Verwendungsüberwachungen dienen, wie gezeigt, der Kontrolle, ob beim Verwenden von Messgeräten und Messwerten die Vorschriften des Abschnitts 3 des Mess- und Eichgesetzes beachtet sind (§ 54 Abs. 1 Satz 1 MessEG). Ein „Anknüpfungspunkt“ für eine gebührenrechtliche Zurechnung einer solchen Kontrollmaßnahme kann sich daher aus dem Pflichtenkreis des Verwenders des kontrollierten Messgerätes sowie aus dem Pflichtenkreis des Verwenders der damit ermittelten Messwerte ergeben. Das Mess- und Eichgesetz regelt die Anforderungen an das Verwenden von Messgeräten (vgl. §§ 31 f. MessEG) als auch solche an das Verwenden von Messwerten (vgl. §§ 32 f. MessG) in seinem Abschnitt 3. Das Verwenden der Messgeräte und der Messwerte kann durch ein und dieselbe Person geschehen, muss es aber nicht (BT-Drs. 17/12727, S. 46).
63 Die in Abschnitt 3 geregelten Pflichten treffen teilweise auch die Klägerin. Sie war zwar am 09.08.2017 in Bezug auf die vom Beklagten kontrollierten Kaltwassermessgeräte - entgegen der Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts - keine „Verwenderin der Messgeräte“ (dazu nachfolgend (1)), aber - entgegen ihrer Auffassung - „Verwenderin der Messwerte“ (dazu (2)), die mit diesen Geräten gewonnen wurden.
64 (1) Anforderungen an das Verwenden von Messgeräten (vgl. zum Begriff § 3 Nr. 13 MessEG) sind insbesondere in § 31 MessEG geregelt (s. darüber hinaus § 32 MessEG zur Anzeigepflicht des Messgeräteverwenders).
65 Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 MessEG dürfen ausschließlich Messgeräte oder sonstige Messgeräte verwendet werden, die den Bestimmungen des Mess- und Eichgesetzes und der auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen entsprechen. Nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 MessEG hat, wer ein Messgerät verwendet, sicherzustellen, dass die wesentlichen Anforderungen an das Messgerät nach § 6 Abs. 2 MessEG - d.h. die in der Mess- und Eichverordnung festgelegten Anforderungen - während der gesamten Zeit, in der das Messgerät verwendet wird, erfüllt sind (vgl. BT-Drs. 17/12727, S. 46: „Pflicht, das ‚richtige Messen‘ eines Messgeräts zu gewährleisten“). Nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 MessEG hat, wer ein Messgerät verwendet, ferner sicherzustellen, das Messgerät nach § 37 Abs. 1 MessEG nicht ungeeicht verwendet wird.
66 Die zuvor genannten „zentralen Pflichten“ (BT-Drs. 17/12727, S. 46) treffen den „Verwender eines Messgeräts“. In dessen Pflichtenkreis fällt die Klägerin im vorliegenden Einzelfall nicht. Sie ist nicht „Verwenderin“ der am 09.08.2017 kontrollierten Messgeräte, d.h. der Kaltwasser-Unterzähler der WEG. Der Begriff des „Verwendens eines Messgeräts“ ist in § 3 Nr. 22 MessEG legaldefiniert. Nach dessen Halbsatz 1 ist das „Verwenden eines Messgeräts“ das erforderliche „Betreiben“ oder „Bereithalten“ eines Messgeräts zur Bestimmung von Messwerten im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder bei Messungen im öffentlichen Interesse. Die Klägerin hat die genannten Unterzähler weder „bereitgehalten“ (a) noch „betrieben“ (b).
67 (a) Die Klägerin hat die Unterzähler nicht im Sinne von § 3 Nr. 22 MessEG „bereitgehalten“.
68 „Bereitgehalten“ wird ein Messgerät nach Halbsatz 2 des § 3 Nr. 22 MessEG, wenn es ohne besondere Vorbereitung für die genannten Zwecke in Betrieb genommen werden kann und ein Betrieb zu diesen Zwecken nach Lage der Umstände zu erwarten ist. Das „Bereithalten“ soll nach der Gesetzesbegründung „einen dem Betrieb vorgelagerten Zeitraum (erfassen). Damit sollen Missbrauchsmöglichkeiten ausgeschlossen und Messgeräte, die jederzeit in Betrieb genommen werden könnten, der Regelung unterworfen werden“ (BT-Drs. 17/12727, S. 39; dem folgend Ambs, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 3 MessEG Rn. 25).
69 Von diesem Begriffsverständnis ausgehend wurden die am 09.08.2017 kontrollierten Geräte nicht von der Klägerin „bereitgehalten.“ Dieser Unterfall des „Verwendens“ lag schon deshalb nicht vor, weil sich die Geräte damals im Betrieb befanden und der mit dem Begriff des „Bereithaltens“ nur erfasste zeitliche Bereich vor der Inbetriebnahme eines Gerätes bereits (seit Jahren) verlassen worden war. Die Geräte befanden sich am 09.08.2017 schon seit mehreren Jahren im laufenden Betrieb.
70 (b) Die Klägerin hat die fraglichen Unterzähler im August 2017 auch nicht im Sinne von § 3 Nr. 22 MessEG „betrieben“.
71 Der Gesetzgeber hat den Begriff des „Betreibens“ im Mess- und Eichgesetz nicht definiert. Er wurde aber in der Gesetzesbegründung der Bundesregierung näher erläutert. Dort wurde für „den Begriff des ‚Betreibens‘ (...) auf das auch in anderen Rechtsvorschriften übliche Begriffsverständnis verwiesen. Wenn etwa im Telekommunikations- oder im Anlagenrecht gefordert wird, dass eine rechtliche und tatsächliche Kontrolle über die Funktionen des Gegenstandes bestehen muss (Funktionsherrschaft), so gilt dies auch hier. Der Begriff des ‚Betreibens‘ ist damit enger als der einer bloßen ‚Nutzung‘. So fordert er neben der Herrschaft über das Gerät eine gewisse Stetigkeit. Kurzfristige Nutzungen an einem Messgerät (z. B. einmaliges Verwiegen eines Gegenstandes) werden daher den Betreiberbegriff nicht erfüllen“ (BT-Drs. 17/12727, S. 39; s. auch a.a.O. S. 46; dem folgend OLG Stuttgart, Beschl. v. 27.02.2019 - 4 Rb 16 Ss 1197/18 - juris; Ambs, a.a.O., § 3 MessEG Rn. 23; Pfügl, in: Bärmann/Seuß, Praxis des Wohnungseigentums, 7. Aufl., § 116 Rn. 9; Lindner, ZWE 2015, 442 <443>).
72 Dies zugrunde gelegt, hat die Klägerin die fraglichen Messgeräte - die Unterzähler für die Kaltwasserversorgung - nicht „betrieben“, sondern lediglich „genutzt“. Für dieses Auslegungsergebnis streitet insbesondere die Gesetzessystematik und die historische Auslegung des Mess- und Eichgesetzes:
73 Ob Messdienstleister, die Messgeräte auf Grundstücken Dritter ablesen, eine „Funktionsherrschaft“ im zuvor genannten Sinne über die Geräte haben, ist seit dem Inkrafttreten des Mess- und Eichgesetzes am 01.01.2015 umstritten (vgl. verneinend Lindner, a.a.O., S. 443 f.; Pfügl, a.a.O., § 116 Rn. 9 m.w.N.; bejahend Lammel, WuM 2015, 531 <535 f.> und ders., jurisPK-MietR 16/2019 Anm. 1; Fritsch, ZMR 2015, 361; differenzierend Ruff, WuM 2016, 255 <258>; s. zum Streitstand ferner OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019 - 4 A 804/16 - NWVBl 2019, 463, Ganske/Ley, DVBl. 2015, 1296 ff.; und Jennißen/Kemm, ZWE 2017, 390 <392>, jeweils m.w.N.). Dieser Streit, ob ein Messdienstleister als „Messgerätebetreiber“ und damit „-verwender“ im Sinne des Mess- und Eichgesetzes anzusehen ist, entzündete sich ursprünglich nicht an der im vorliegenden Fall zu § 59 Abs. 1 MessEG aufgeworfenen Frage, ob ein Messdienstleister Gebührenschuldner für Überwachungsmaßnahmen sein kann. Der Streit wurde vielmehr zunächst zu § 32 Abs. 1 MessEG ausgetragen. Diese Vorschrift sah in ihrer ursprünglichen Fassung vor, dass derjenige, der „neue oder erneuerte Messgeräte verwendet“, diese der nach Landesrecht zuständigen Behörde spätestens sechs Wochen nach Inbetriebnahme anzuzeigen hat. Die Frage, ob ein Messdienstleister bußgeldbewehrt (§ 60 Nr. 18 MessEG) dazu verpflichtet war, neue Geräte, die er „nur“ bei Dritten ablas, der Behörde anzuzeigen, hing also von der Beantwortung der Frage ab, ob der Messdienstleister als „Verwender der Messgeräte“ einzuordnen war.
74 Der Gesetzgeber hat diesen Streit durch das Erste Gesetz zur Änderung des Mess- und Eichgesetzes vom 11.04.2016 (BGBl. I S. 718) geklärt. Mit diesem am 19.04.2016 in Kraft getretenen Gesetz wurde § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG dahin geändert, dass die dort geregelte Anzeigenpflicht nicht nur denjenigen trifft, der „neue oder erneuerte Messgeräte verwendet“, sondern auch denjenigen, „der im Auftrag des Verwenders Messwerte von solchen Messgeräten erfasst“. Messdienstleister fallen daher seither unzweifelhaft unter die Anzeigepflicht aus § 32 MessEG (vgl. Jennißen/Kemm, a.a.O., S. 392; so auch ausdrücklich die Gesetzesbegründung zu dem Änderungsgesetz, BT-Drs. 18/7194, S. 9: „Zur Straffung des Verfahrens der Anzeige und zur Nutzung der bereits an verschiedenen Stellen vorhandenen Informationen (z. B. bei Messdienstleistern) wird die Anzeigepflicht neben Verwendern auch auf solche Dritten ausgeweitet, die im Auftrag von Verwendern Messwerte erfassen“; allg. zum Telos der Anzeigepflicht Gertz/Weise/Raschetti, IR 2015, 29 <30 f.>).
75 Diese Gesetzesänderung betraf unmittelbar nur § 32 MessEG und die Frage, ob Messdienstleister der dort geregelten Anzeigepflicht unterfallen. Der Gesetzesänderung lässt sich allerdings zugleich entnehmen, dass der Gesetzgeber eine Person, die (nur) „im Auftrag des Verwenders Messwerte von solchen Messgeräten erfasst“, nicht zugleich als „Verwender des Messgeräts“ ansieht. Denn der Gesetzgeber unterscheidet im Wortlaut des § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG nun ausdrücklich zwischen diesen beiden Personen („oder“). Auch der zitierten Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass das bloße Erfassen von Messwerten noch keine „Verwendung des Messgeräts“ darstellt. Denn der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass er die Anzeigepflicht über die Gruppe der Messgeräteverwender hinaus auf die Messwerteerfasser „ausgedehnt“ hat (BT-Drs. 18/7194, S. 9). Dem liegt ersichtlich die Vorstellung zugrunde, dass diese Gruppe nicht von vornherein mit jener identisch ist.
76 Die Gesetzesbegründung zu dem Gesetz zur Neuregelung des gesetzlichen Messwesens, mit dem das am 01.01.2015 in Kraft getretene Mess- und Eichgesetz erlassen wurde, bestätigt dieses Normverständnis.
77 In dem diesbezüglichen Gesetzgebungsverfahren wurde, wie gezeigt, zwischen der „Verwendung“ (dem „Betreiben“) und der bloßen „Nutzung“ eines Messgeräts unterschieden und als maßgebliches Abgrenzungskriterium darauf abgestellt, ob der Betroffene eine „rechtliche und tatsächliche Kontrolle über die Funktionen des Gegenstandes“ - eine „Funktionsherrschaft“ - innehat. Für den Begriff der „Funktionsherrschaft“ wurde wiederum (ohne nähere Spezifizierung) beispielhaft auf das „Telekommunikations- oder im Anlagenrecht“ verwiesen (vgl. erneut BT-Drs. 17/12727, S. 39; s. auch S. 46). Der Begriff der Funktionsherrschaft wurde im Telekommunikationsrecht in § 3 Nr. 1 und Nr. 2 TKG in der Fassung vom 25.07.1996 (BGBl. I S. 1120) definiert. Danach ist das „Betreiben von Übertragungswegen“ das Ausüben der rechtlichen und tatsächlichen Kontrolle (Funktionsherrschaft) über die Gesamtheit der Funktionen, die zur Realisierung der Informationsübertragung auf Übertragungswegen unabdingbar erbracht werden müssen (Nr. 1) und ist das „Betreiben von Telekommunikationsnetzen“ das Ausüben der rechtlichen und tatsächlichen Kontrolle (Funktionsherrschaft) über die Gesamtheit der Funktionen, die zur Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen (...) unabdingbar zur Verfügung gestellt müssen; dies gilt auch dann, wenn im Rahmen des Telekommunikationsnetzes Übertragungswege zum Einsatz kommen, die im Eigentum Dritter stehen (Nr. 2). Diese Definitionen sind zwar seit der Neufassung des Telekommunikationsgesetzes durch das Gesetz vom 22.06.2004 (BGBl. I S. 1190) in dem Gesetz nicht mehr enthalten, werden dem Betreiberbegriff aber weiter zugrunde gelegt (OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019, a.a.O.). Maßgeblicher Gegenstand der Funktionsherrschaft ist demnach im Telekommunikationsrecht nicht die körperliche Infrastruktur des Leitungsnetzes, sondern die Möglichkeit, diese zum bestimmungsgemäßen Zweck der Telekommunikation zu nutzen. Die Funktionsherrschaft hat inne, wer über die Nutzung der Leitungen zu Zwecken der Telekommunikation entscheidet. Für diese Beurteilung ist ohne Belang, ob die Befugnis auf dem Eigentum oder auf einem vertraglichen Nutzungsrecht beruht (OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019, a.a.O.; BGH, Urt. v. 16.03.2012 - V ZR 98/11 - NJW-RR 2012, 1334). Auf das Gebiet des Mess- und Eichwesens übertragen bedeutet dies, dass es auch hier für die Beurteilung, wer die „Funktionsherrschaft über die Messgeräte hat, maßgeblich darauf ankommt, wer sie bereitstellt oder zur Bereitstellung befugt ist, sie einrichtet, betreibt, kontrolliert oder zur Verfügung stellt und die Möglichkeit hat, sie zum bestimmungsgemäßen Zweck zu nutzen sowie über die Nutzung der Messgeräte zu diesem Zweck zu bestimmen (OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019, a.a.O.; insoweit ähnl. Ganske/Ley, a.a.O., S. 1297 f., 1299 f.).
78 Auch hiervon ausgehend reicht das bloße Ablesen von Messwerten von einem Messgerät, das im Eigentum eines Dritten steht, also das bloße „Messwerteerfassen“ (vgl. erneut BT-Drs. 18/7194, S. 9), allein nicht dazu aus, dem Ableser eine „Funktionsherrschaft“ zuzuschreiben und ihn auf diesem Wege zum „Betreiber“ (§ 3 Nr. 22 Satz 1 Alt. 1 MessEG) und damit zum „Verwender“ eines Messgerätes im Sinne von § 31 MessEG zu erklären. Eine solche Annahme ist vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn der Messdienstleister über das bloße Ablesen hinaus weitere Aufgaben oder Rechtspositionen in Bezug auf die Messgeräte übernimmt.
79 Letzteres kann etwa dann der Fall sein, wenn die Geräte im Eigentum des Messdienstleisters verbleiben und er mit dem Grundstückseigentümer ein umfassendes „Dienstleistungspaket“ vertraglich vereinbart, das den Zweck hat, dem Eigentümer jegliche eigene nach der Heizkostenverordnung erforderliche Verwendung der Messgeräte abzunehmen und die Verantwortung für sämtliche Zugriffsnotwendigkeiten von Anfang an dem Messdienstleister zu übertragen bzw. ihm zu belassen (so OVG NRW, Urt. v. 06.06.2019, a.a.O., dort für einen Fall, in dem die Geräte im Eigentum des Messdienstleisters standen und er mit dem Eigentümer über einen „Ablese-“ und „Abrechnungsservice“ hinaus unter anderem vereinbart hatte, dass die Geräte dem Eigentümer zum vertragsgemäßen Gebrauch überlassen [vermietet], aber ausschließlich von dem Messdienstleister unterhalten und erneuert werden; ähnlich Ruff, a.a.O., S. 258 m.w.N.; a.A. Pfügl, a.a.O., § 116 Rn. 9 und Lindner, a.a.O., S. 443 f.: auch dann keine Funktionsherrschaft des Dienstleisters). Liegt der Fall jedoch anders und beschränkt sich die Tätigkeit des Messdienstleisters darauf, Geräte, die im Eigentum des Grundstückseigentümers oder eines sonstigen Dritten stehen, abzulesen und auf dieser Grundlage Abrechnungsentwürfe zu erstellen, ohne dass in Bezug auf diese fremden Geräte weitergehende Wartungs- oder sonstige Pflichten übernommen werden, geht die Tätigkeit des Messdienstleisters über eine „Nutzung“ der Geräte nicht hinaus. In einem solchen Fall „betreibt“ der Messdienstleister das Gerät nicht und ist er infolgedessen auch nicht als dessen „Verwender“ anzusehen (vgl. § 3 Nr. 22 Satz 1 Alt. 1 MessEG; im Ergebnis ebenso differenzierend OVG NRW, Beschl. v. 06.06.2019 - 4 A 804/16 -, a.a.O., juris Rn. 63: Einordnung von Messdienstleistern als Messgeräteverwendern „abhängig von ihren jeweils übernommenen Aufgaben“; ebenso die Eichverwaltung in dem vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen geführten Verfahren 4 A 804/16, vgl. OVG NRW, Beschl. v. 06.06.2019, a.a.O., juris Rn. 12).
80 Diese differenzierende Sichtweise haben - ohne dass es darauf entscheidungserheblich ankäme - nach dem Inkrafttreten des Mess- und Eichgesetzes wohl auch die Eichämter der Länder selbst zugrunde gelegt. Die Klägerin weist zutreffend darauf hin, dass in dem von der Arbeitsgemeinschaft Mess- und Eichwesen (AGME) erstellten Informationsblatt „Die Eichaufsichtsbehörden informieren: Angeben und Verwenden von Messwerten“ (Stand 05.07.2017) Fallbeispiele enthalten sind, die diese Differenzierung jedenfalls nahelegen (vgl. insbesondere „Fall 6“ gegenüber „Fall 7“, Bl. 59 ff. d. VG-Akte). Dem entspricht auch der Beklagtenvortrag der Eichverwaltung in dem vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen geführten Verfahren 4 A 804/16 (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 06.06.2019, a.a.O., juris Rn. 12), wonach es „anerkannt“ sei, „dass Hauseigentümer oder Wohneigentumsgemeinschaften Verwender von Messgeräten seien, wenn diese in ihrem Eigentum stünden und sich die Aufgaben beauftragter Messdienstleister auf das reine Ablesen beschränkten. Etwas anderes gelte allerdings dann, wenn die Messgeräte im Eigentum des Messdienstleisters stünden und diesen weitergehende Pflichten träfen, die über das Ablesen und Auswerten der Messgeräte hinausgingen. Dann sei (zumindest auch) das Messdienstleistungsunternehmen als Verwender im Sinne des Mess- und Eichgesetzes anzusehen.“
81 An den vorstehenden differenzierenden Maßstäben gemessen, hat die Klägerin die von dem Beklagten am 09.08.2017 kontrollierten Messgeräte - die Unterzähler für die Kaltwasserversorgung der WEG - nicht selbst „betrieben“, sondern lediglich „genutzt“. Denn die fraglichen Geräte standen nicht im Eigentum der Klägerin und die von ihr privatvertraglich gegenüber der WEG geschuldete Tätigkeit beschränkte sich darauf, die Geräte abzulesen und auf der Grundlage der erfassten Messwerte Abrechnungsentwürfe zu erstellen. Ein weitergehendes „Dienstleistungspaket“ war im vorliegenden Einzelfall nicht vereinbart. Insbesondere war die Klägerin nicht vertraglich für die Wartung, Unterhaltung oder Erneuerung der Geräte verantwortlich.
82 Die Klägerin war infolgedessen lediglich „Nutzerin“, nicht aber „Verwenderin“ dieser Geräte (§ 3 Nr. 22 Satz 1 Alt. 1 MessEG) im Sinne vom § 31 MessEG. Deshalb bieten die dort geregelten Pflichten für den „Verwender der Messgeräte“ auch keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für die Heranziehung der Klägerin zur Gebühr für die Verwendungsüberwachung dieser Geräte (vgl. § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG und § 3 Abs. 2 Nr. 4 BGebG).
83 (2) Ein „Anknüpfungspunkt“ für eine gebührenrechtliche Zurechnung der am 09.08.2017 durchgeführten Verwendungsüberwachung zur Klägerin ergibt sich aber aus dem gesetzlichen Pflichtenkreis der „Verwender von Messwerten“.
84 Die Klägerin ist als „Verwenderin von Messwerten“ im Sinne des Gesetzes anzusehen (a). Der diesbezügliche Pflichtenkreis bietet auch nach der - gesetzlich gebotenen - Betrachtung der Umstände des vorliegenden Einzelfalls ausreichende Anknüpfungspunkte für ihre Einordnung als Gebührenschuldnerin (b).
85 (a) Die Klägerin ist eine „Verwenderin von Messwerten“ in Bezug auf die vom Beklagten am 09.08.2017 kontrollierten Messgeräte.
86 Die zentralen Anforderungen an das Verwenden von Messwerten sind in § 33 MessEG geregelt. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG dürfen Werte für Messgrößen - d.h. für diejenigen physikalischen Größen, die durch die Messung zu bestimmen sind (§ 3 Nr. 15 MessEG) - im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder bei Messungen im öffentlichen Interesse nur dann angegeben oder verwendet werden, wenn zu ihrer Bestimmung ein Messgerät „bestimmungsgemäß“ verwendet wurde und die Werte auf das jeweilige Messergebnis zurückzuführen sind, soweit nicht durch Rechtsverordnung (§ 41 Nr. 2 MessEG) etwas anderes bestimmt ist. „Bestimmungsgemäß“ wird ein Messgerät im Sinne dieser Vorschrift nur eingesetzt, wenn es im Einklang mit § 31 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 verwendet wird (BT-Drs. 17/12727, S. 46), also insbesondere geeicht und im Übrigen gesetzeskonform ist (vgl. oben [1] zu § 31 MessEG; ferner Lammel, WuM 2015, 531 <533>). Nach § 33 Abs. 2 MessEG hat außerdem derjenige, der Messwerte verwendet, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu vergewissern, dass das Messgerät die gesetzlichen Anforderungen erfüllt und sich von der Person, die das Messgerät verwendet, bestätigen zu lassen, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllt.
87 Diese für den „Verwender von Messwerten“ geltenden Pflichten haben im August 2017 dem Grunde nach auch die Klägerin getroffen. Sie hat Messwerte, die sie von den fraglichen Messgeräten abgelesen hatte, im Sinne des § 33 MessEG „verwendet“.
88 Der Begriff des „Verwendens von Messwerten“ ist in § 3 Nr. 23 MessEG legaldefiniert. Danach ist Verwenden von Messwerten die erforderliche Nutzung von Messergebnissen eines Messgeräts im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder bei Messungen im öffentlichen Interesse. Der Gesetzgeber lässt also für den Begriff der Verwendung von Messwerten - anders als für die Verwendung von Messgeräten (s.o. unter (1)) - die „Nutzung“ ausdrücklich ausreichen, wenn diese zu bestimmten Zwecken, nämlich unter anderem „im geschäftlichen Verkehr“, erfolgt (aa) und „erforderlich“ (bb) ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
89 (aa) Die Klägerin hat die von ihr abgelesenen Messwerte im Sinne des § 3 Nr. 23 MessEG „im geschäftlichen Verkehr“ genutzt.
90 Den Begriff des „geschäftlichen Verkehrs“ hat der Gesetzgeber im Mess- und Eichgesetz und in der Gesetzesbegründung nicht erläutert (vgl. BT-Drs. 17/12727, S. 39). Allerdings hat der Verordnungsgeber der auf dieses Gesetz gestützten Mess- und Eichverordnung in § 6 Nr. 6 MessEV bestimmt, dass im Sinne der Verordnung „geschäftlicher Verkehr“ jede Tätigkeit ist, die nicht rein privater, innerbetrieblicher oder amtlicher Natur ist, sofern dabei Messwerte ermittelt oder verwendet werden, die geeignet sind, den wirtschaftlichen Wert einer Sache oder einer Dienstleistung näher zu bestimmen.
91 Diese Verordnungsvorschrift ist zwar schon aus Gründen der Normenhierarchie nicht dazu in der Lage, den Begriff des „geschäftlichen Verkehrs“ im Sinne von § 3 Nr. 23 MessEG verbindlich zu bestimmen. Inhaltlich bestehen aber keine Bedenken, die Definition aus § 6 Nr. 6 MessEV auch im Rahmen des § 3 Nr. 23 MessEG heranzuziehen (ebenso Schade, in: Hollinger/Schade, a.a.O., § 33 Rn. 2). Denn der Verordnungsgeber hat damit lediglich im Wesentlichen die Definition des Begriffs des „geschäftlichen Verkehrs“ aufgegriffen, die für das gleichlautende Tatbestandsmerkmal in dem früheren, bis zum 31.12.2014 geltenden Eichgesetz maßgeblich war (vgl. § 1 Nr. 1, § 25 Abs. 1 Nr. 1 EichG a.F.). Zu diesem war in der Rechtsprechung geklärt, dass das Merkmal „geschäftlicher Verkehr“ nicht voraussetzte, dass die ausgeübte Tätigkeit betrieblich oder wirtschaftlich ausgeübt wird. Es genügte vielmehr, wenn sie der Förderung eines beliebigen Geschäftszweckes diente. Es durfte sich lediglich nicht nur um eine rein private oder ausschließlich amtliche Betätigung handeln. „Geschäftlich ist daher alles, was nicht privat ist. Privat ist, was sich im Bereich des einzelnen außerhalb von Erwerb und Berufsausübung abspielt“ (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 13.09.2000 - 2 Ws (B) 370/00 OWiG - NStZ-RR 2001, 89 m.w.N.). Davon ausgehend war beispielsweise anerkannt, dass die Verrechnung des Energie- und Wasserverbrauchs durch Zwischenzähler im Rahmen einer Wohnungseigentümergemeinschaft - ungeachtet des „Verbleibs“ der Messwerte innerhalb der WEG-Mitglieder - einen „geschäftlichen Verkehr“ darstellte, weil auch in diesen Fällen die rein private Sphäre verlassen und eine gerichtlich durchsetzbare Forderung, nämlich die der insoweit teilrechtsfähigen Eigentümergemeinschaft gegenüber dem einzelnen Eigentümer, begründet wird (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2016 - 4 A 1150/15 - juris, und v. 25.07.2016 - 4 A 1149/15 - juris; BayObLG, Beschl. v. 26.03.1998 - 2Z BR 154/97 -, BayObLGZ 1998, 97; jeweils m.w.N.; ebenso bei der Abrechnung der Vermieters gegenüber seinem Mieter, vgl. dazu nur Ruff, a.a.O., S. 257). Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des seit dem 01.01.2015 maßgeblichen Mess- und Eichgesetzes insoweit von einem anderen Verständnis des Begriffs des „geschäftlichen Verkehrs“ ausgegangen ist (im Ergebnis ebenso Schade, in: Hollinger/Schade, a.a.O., § 33 Rn. 2; Jennißen/Kemm, a.a.O., S. 391; wohl auch Lindner, a.a.O., S. 444; Pfügl, a.a.O., § 116 Rn. 9 m.w.N.).
92 Dies zugrunde gelegt, ist die Klägerin als „Verwenderin von Messwerten“ anzusehen. Sie hat die von ihr an den fraglichen Messgeräten erfassten Messergebnisse im geschäftlichen Verkehr genutzt. Sie hat sie zur Erfüllung ihrer gegenüber der WEG bestehenden vertraglichen Pflicht abgelesen, dieser gegenüber mitgeteilt und darüber hinaus mithilfe der Messwerte Abrechnungsentwürfe für die WEG zur weiteren Verwendung durch diese gegenüber Dritten erstellt. Damit hat die Klägerin die erfassten Messwerte zur Förderung von Geschäftszwecken - ihren eigenen und denen der WEG - genutzt und den Bereich des rein Privaten verlassen (im Ergebnis ebenso Lammel, WuM 2015, 531 <535 f.> und ders., jurisPK-MietR 16/2019 Anm. 1; vgl. zur Einordnung bereits der Vorbereitung von Jahresabrechnungen durch den Verwalter einer WEG für diese als „geschäftlicher Verkehr“ im Sinne von § 25 Abs. 1 Nr. 1 EichG a.F. OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2016 - 4 A 1150/15 - juris).
93 Die Klägerin kann dem nicht mit Erfolg entgegenhalten, sie nehme mit dem sog. Ablese- und dem Abrechnungsservice nur Tätigkeiten war, die dem „innerbetrieblichen“ Bereich der WEG zuzuordnen seien, weil die WEG ohne ihrer (der Klägerin) Tätigkeit die Messgeräte selbst ablesen und die Abrechnungsentwürfe selbst erstellen müsse und weil für den nach außen tretenden Rechtsakt der Abrechnung gegenüber den WEG-Mitgliedern nicht sie (die Klägerin), sondern die WEG verantwortlich sei, die dazu auch erst einen Beschluss fassen müsse (§§ 23 ff. des Wohnungseigentumsgesetzes [WEG]). Die Klägerin betrachtet bei dieser Argumentation nur das Rechtsverhältnis zwischen einer WEG und ihren Mitgliedern. Diese Betrachtung greift zu kurz, wenn die WEG die genannten Tätigkeiten nicht selbst durchführt, sondern damit einen Dritten beauftragt. Denn in diesem Fall verbleiben die abgelesenen Messwerte nicht in dem Innenbereich der WEG. Sie werden dann vielmehr auch dazu verwendet, die Pflichten in dem rechtsgeschäftlichen Verhältnis zwischen dem beauftragten Messdienstleister und der WEG zu erfüllen. Sie weisen schon deshalb keine „rein“ (§ 6 Nr. 6 MessEV) innerbetriebliche Natur mehr auf. Das gilt umso mehr, als der Vertrag zwischen dem Messdienstleister und der WEG ersichtlich dazu dient, die WEG in die Lage zu versetzen, die Messwerte gegenüber Dritten abzurechnen und diesen gegenüber Forderungen zu begründen. Dass dies einen zusätzlichen Schritt - die Beschlussfassung - der WEG erfordert, ändert nichts daran, dass bereits das Ablesen und die darauf aufbauende Abrechnungsentwurfserstellung durch den Messdienstleister keine Tätigkeit darstellt, die dem „rein privaten oder innerbetrieblichen“ Bereich zuzuordnen ist (ebenso für die Vorbereitung von Jahresabrechnungen durch den Verwalter einer WEG für dieselbe OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2016 - 4 A 1150/15 - juris zu § 25 Abs. 1 Nr. 1 EichG a.F.).
94 Vor diesem Hintergrund führt auch der Hinweis der Klägerin auf die „Gesamtrechtsordnung“ nicht weiter, zu dem sie geltend macht, mit dem Begriff des „geschäftlichen Verkehrs“ würden auch in anderen Rechtsgebieten wie dem Markenrecht rein innerbetriebliche Vorgänge abgeschichtet (vgl. § 14 Abs. 2 MarkenG). Letzteres mag zutreffen, ändert aber nichts daran, dass dieser rein interne Bereich hier durch die von der Klägerin vertraglich geschuldeten Tätigkeiten verlassen wird.
95 Ebenfalls ohne Erfolg bleibt die Erwägung der Klägerin, jedenfalls aus § 33 Abs. 3 MessEG folge, dass es „maßgeblich auf die Abrechnung ankommt“. Die Vorschrift bestimmt, dass derjenige, der Messwerte verwendet, (Nr. 1) dafür zu sorgen hat, dass Rechnungen, soweit sie auf Messwerten beruhen, von demjenigen, für den die Rechnungen bestimmt sind, in einfacher Weise zur Überprüfung angegebener Messwerte nachvollzogen werden können, und dass er (Nr. 2) für die in Nummer 1 genannten Zwecke erforderlichenfalls geeignete Hilfsmittel bereitzustellen hat. Diese Bestimmung regelt zusätzliche Pflichten für denjenigen, der eigene Rechnungen erstellt, die auf Messwerten beruhen. Der Vorschrift lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass nur derjenige, der solche Rechnungen selbst erstellt, „Verwender von Messwerten“ im Sinne des Gesetzes ist.
96 Ihre Eigenschaft als „Verwenderin von Messwerten“ vermag die Klägerin auch nicht mit dem Einwand in Frage zu stellen, nach § 6 Nr. 6 MessEV liege ein „geschäftlicher Verkehr“ nur dann vor, wenn Messwerte ermittelt oder verwendet würden, die geeignet seien, „den wirtschaftlichen Wert einer Sache oder einer Dienstleistung näher zu bestimmen“, woran es hier fehle, weil der Wert des vom Wasserversorgungsunternehmen gelieferten Wassers bereits feststehe und die Messung der Unterzähler nur dazu diene, diesen auf die einzelnen Einheiten zu verteilen. Der Einwand greift zu kurz. Die Klägerin nimmt als „Sache, deren Wert zu bestimmen ist“, nur die vom Versorgungsunternehmen gelieferte Gesamtwassermenge in den Blick. Sie lässt dagegen die von der WEG gegenüber den einzelnen Mitgliedern verbrauchsabhängig abzurechnende Wassermenge außer Betracht. Zur Bestimmung des Wertes dieser Sache werden die von der Klägerin ermittelten Werte verwendet. Der Fall liegt nicht anders als bei demjenigen, der von einem Obsthändler eine Handvoll Früchte erwerben will. Auch hier steht der Preis für die vorhandene Gesamtmenge - etwa als Kilopreis - bereits zuvor fest. Gleichwohl ist eine geeichte Wage erforderlich, um den Wert der von dem einzelnen Käufer begehrten Teilmenge zu ermitteln. Dazu werden die von der Waage abgelesenen Messwerte verwendet. Nicht anders verhält es sich in der vorliegenden Konstellation.
97 Ihre Einordnung als „Verwenderin von Messwerten“ vermag die Klägerin auch nicht mit dem Verweis auf das Verhältnis der Absätze 1 und 2 des § 33 MessEG in Frage zu stellen. § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG bestimmt, wie gezeigt, dass Werte für Messgrößen (unter anderem) im geschäftlichen Verkehr grundsätzlich nur dann angegeben oder verwendet werden dürfen, wenn zu ihrer Bestimmung ein Messgerät bestimmungsgemäß verwendet wurde. § 33 Abs. 2 MessEG bestimmt, dass derjenige, der Messwerte verwendet, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu vergewissern hat, dass das Messgerät die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, und dass er sich von der Person, die das Messgerät verwendet, bestätigen zu lassen hat, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllt. Die Klägerin meint, aus der Zusammenschau dieser Vorschriften ergebe sich, dass sie keine „Verwenderin von Messwerten“ sein könne, weil die WEG hier die „Verwenderin der Messgeräte“ sei und es nicht sein könne, dass die WEG zugleich diejenige sei, der gegenüber Messwerte nach § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG angegeben oder verwendet würden, weil die Vorschrift sonst einen „Schutz gegen sich selbst“ bewirken würde. Diesem Einwand liegt die Erwägung zugrunde, dass die WEG als Messgeräteverwenderin gegenüber der Klägerin nicht schutzwürdig ist, weil die Geräte in ihrem (der WEG) Eigentum stehen und sie für deren Eichung selbst verantwortlich ist. Diese Erwägung greift jedoch zu kurz. Die Klägerin übersieht, dass das Mess- und Eichgesetz mit den Vorschriften über die gesetzeskonforme Verwendung von Messgeräten und Messwerten zum einen auf den Schutz der Verbraucher zielt, denen gegenüber Messwerte (zuletzt) angegeben werden, und zum anderen die Lauterkeit des Geschäfts- und Rechtsverkehrs gewährleisten will (vgl. zu dem Schutzzwecken, Lammel, WuM 2015, 531 <532>; Zehelein, NZM 2017, 794 <796>). Beide Schutzzwecke sprechen dafür, dass im Falle einer längeren Kette von Personen, die bei der Ermittlung von Messwerten beteiligt sind, möglichst viele Personen aus dieser Kette dazu verpflichtet sind, bei ihrem Umgang mit Messwerten darauf zu achten, dass diese gesetzeskonform gewonnen und möglichst „richtig“ sind. Denn auf diese Weise wird am besten gewährleistet, dass die am Ende der Kette gegenüber dem Verbraucher erstellte und in den Rechtsverkehr eingespeiste Verbrauchsabrechnung auf zutreffenden Messwerten beruht. Werden etwa die Daten für eine Wasserabrechnung gegenüber einem Wohnungsmieter dadurch gewonnen, dass ein Messdienstleister sie für den Eigentümer abliest, mag der Eigentümer gegenüber dem Messdienstleister in Bezug auf die Frage, ob die Daten aus einem geeichten Gerät stammen, nicht schutzwürdig sein. Der Mieter und der Rechtsverkehr insgesamt profitieren aber davon, wenn nicht nur der Eigentümer, sondern auch andere in den Prozess der Ablesung und Rechnungserstellung eingebundene Personen ihrerseits dazu verpflichtet sind darauf zu achten, dass die ermittelten Messwerte aus einem gesetzeskonformen, insbesondere geeichten Gerät stammen. Ein solches „Vier-Augen-Prinzip“ bietet eine höhere Richtigkeitsgewähr. Dass der Gesetzgeber bei der zum 01.01.2015 erfolgten Novellierung des Mess- und Eichrechts jeden „Verwender von Messwerten“ hierzu in die Pflicht genommen hat, führt deshalb nicht zu einem „Schutz gegen sich selbst“, sondern ist gemessen an den Zielen des Mess- und Eichgesetzes folgerichtig (vgl. Schade, in: Hollinger/Schade, a.a.O., § 33 Rn. 3: „Die Vorschrift [§ 33 Abs. 1 MessEG] dient dem Schutz desjenigen, dem die Werte anschließend z.B. in Form einer Rechnung vorgelegt werden.“).
98 Die Erwägungen der Klägerin zur Schutzbedürftigkeit (nur) der WEG greifen aus einem zweiten Grund zu kurz. Der Gesetzgeber des Mess- und Eichgesetzes hat aus unionsrechtlichen Gründen (vgl. die Richtlinie 2014/31/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Bereitstellung nichtselbsttätiger Waagen auf dem Markt sowie die Richtlinie 2014/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Messgeräten auf dem Markt ) dem sog. New Approach der EU-Kommission folgend das frühere Verfahren der staatlichen Erst- und Nacheichung zugunsten des privatwirtschaftlichen Konformitätsbewertungsverfahrens abgeschafft (vgl. §§ 6 ff. MessEG). Die dadurch entfallenen staatlichen Kontrollmöglichkeiten bei dem erstmaligen Inverkehrbringen von Messgeräten hat er durch die behördliche sog. Markt- und Verwendungsüberwachung teilweise kompensiert (vgl. §§ 48 ff., 54 ff. MessEG und dazu BT-Drs. 17/12727, S. 31 ff., 49 ff.; BT-Drs. 18/7194, S. 8; näher dazu Lindner, a.a.O., S. 442 f.; Gertz/Weise/Raschetti, a.a.O., S. 29 ff.; Zehelein, a.a.O., S. 798). Deshalb ist bei der Bestimmung des Kreises der im Umgang mit Messwerten Sorgfaltsverpflichteten sowie der Adressaten von Maßnahmen der Verwendungsüberwachung keine zu restriktive Auslegung angezeigt. Das übersieht die Klägerin auch bei ihren übrigen Erwägungen zum Telos des Mess- und Eichgesetzes sowie zu der Verantwortlichkeit des „Gebäudeeigentümers“ gegenüber den Gebäudenutzern nach der Heizkostenverordnung.
99 Ihrer Einstufung als „Verwenderin von Messwerten“ kann die Klägerin auch nicht entgegensetzen, der Gesetzgeber habe in dem die Anzeigepflicht für neue Messgeräte betreffenden § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG zwischen dem „Messgeräteverwender“ und demjenigen unterschieden, der „im Auftrag des Verwenders Messwerte von solchen Messgeräten erfasst“ (vgl. dazu oben [(1)(b)]), woraus zugleich zu folgen sei, dass der „Messwerteerfasser“ kein „Messwerteverwender“ sein könne. Die Klägerin übersieht bei diesem Einwand, dass der Gesetzgeber in § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG die Pflicht zur Anzeige von neuen Messgeräten deshalb auf Messdienstleister erstreckt hat, weil er annahm, dass diese aufgrund ihrer Tätigkeit beim Erfassen der Messgeräte neben den Messgeräteverwendern am besten darüber informiert sind, wenn neue Messgeräte eingesetzt werden (vgl. oben [(1)(b)] und erneut BT-Drs. 18/7194, S. 9). Ausgehend von diesem Regelungszweck wäre es nicht sinnvoll - weil unter Umständen überschießend - gewesen, jeden „Verwender von Messwerten“ in den Kreis der Adressaten der Anzeigenpflicht aus § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG aufzunehmen. Der Gesetzgeber hat sich deshalb darauf beschränkt, nur diejenigen Personen in den Pflichtenkreis des § 32 MessEG einzubeziehen, die tatsächlich vor Ort vor den Messgeräten stehen und deren Alter und Eichung daher typischerweise am besten kennen. Der Begriff des „Messwerteerfassers“ wurde daher zwar in Abgrenzung zum Begriff des „Messgeräteverwenders“ eingeführt (vgl. oben [(1)(b)]), aber nicht, wie die Klägerin meint, in Abgrenzung zum Begriff des „Messwerteverwenders“. Der „Messwerteerfasser“ muss nicht, er kann aber je nach den Umständen des Einzelfalls auch ein „Messwerteverwender“ sein, wenn er die dafür maßgeblichen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt. Aus der Terminologie des § 32 Abs. 1 Satz 1 MessEG lässt sich daher kein Argument für die Herausnahme der Klägerin aus dem Pflichtenkreis des § 33 MessEG gewinnen.
100 (bb) Bei der von der Klägerin mithin im Sinne von § 3 Nr. 23 MessEG erfolgten „Nutzung von Messwerten im geschäftlichen Verkehr“ handelt es sich auch um eine „erforderliche“ Nutzung im Sinne der genannten Vorschrift.
101 Mit dem einschränkenden Tatbestandsmerkmal der „Erforderlichkeit“ der Nutzung wollte der Gesetzgeber klarstellen, dass nicht jeder Einsatz eines Messgeräts im Zusammenhang mit einem der genannten Zwecke - d.h. dem Zweck der Bestimmung von Messwerten „im geschäftlichen oder amtlichen Verkehr oder im öffentlichen Interesse“ - den Begriff des „Verwendens“ erfüllt: „Der Einsatz des Messgeräts oder der Messwerte muss zu dem bestimmten Zweck auch relevant sein (‚sofern die Nutzung von Messergebnissen dabei erforderlich ist‘). Ausgeschlossen werden damit beispielsweise Messungen einer Partei, die für die Leistungsbeziehung und Rechnungsstellung nicht relevant sind, wie etwa Funktionsüberwachungen im Rahmen einer Pauschalabrechnung (flat rate)“ (BT-Drs. 17/12727, S. 39; dem folgend Ganske/Ley, a.a.O., S. 1298; Ambs, a.a.O., § 3 MessEG Rn. 25). Aus dieser Gesetzesbegründung erschließt sich, dass eine „Nutzung von Messwerten im geschäftlichen Verkehr“ immer (schon) dann „erforderlich“ ist, wenn sie für den Einsatz im geschäftlichen Verkehr „relevant“ ist. Das ist hier der Fall. Sowohl für die Erfüllung der vertraglichen Pflichten, welche die Klägerin gegenüber der WEG eingegangen ist, als auch für die spätere Verwendung der Messwerte durch die WEG gegenüber ihren Mitgliedern ist das Ablesen der Messwerte ein notwendiger Schritt und nicht etwa nur eine überobligatorische „Zusatznutzung“.
102 (b) Die Klägerin ist mithin als „Verwenderin von Messwerten“ im Sinne des Gesetzes anzusehen. Der sie daher aus § 33 MessEG treffende Pflichtenkreis bietet auch im vorliegenden Einzelfall im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG und § 3 Abs. 2 Nr. 4 BGebG ausreichende „Anknüpfungspunkte“ für ihre Heranziehung zur Gebühr für die Verwendungsüberwachung.
103 (aa) Eine Heranziehung des „Verwenders von Messwerten“ für die Gebühren einer Verwendungsüberwachung (§ 54 MessEG) ist nicht - wie die Klägerin meint - wegen Satz 3 des § 59 Abs. 1 MessEG ausgeschlossen.
104 Satz 3 des § 59 Abs. 1 MessEG bestimmt, dass, wenn eine Befundprüfung nach § 39 MessEG ergibt, dass ein Messgerät die Verkehrsfehlergrenze nicht einhält oder den sonstigen wesentlichen Anforderungen nach § 6 Abs. 2 MessEG nicht entspricht, die Gebühren und Auslagen von demjenigen zu tragen sind, der das Messgerät verwendet, in den übrigen Fällen von demjenigen, der die Befundprüfung beantragt hatte. Aus dem Umstand, dass nach dieser Vorschrift als Gebührenschuldner einer Befundprüfung (§ 39 MessEG) neben dem Antragsteller nur der „Verwender des Messgeräts“ - und nicht der Verwender von Messwerten“ - herangezogen werden kann, folgt nicht, dass der Gesetzgeber den Kreis der Gebührenschuldner auch bei einer Verwendungsüberwachung (§ 54 MessEG) auf diese Weise beschränkt hat. Dass bei einer Befundprüfung nach § 39 MessEG neben dem Antragsteller nur der „Messgeräteverwender“ als Schuldner in Betracht kommt, erklärt sich daraus, dass eine Befundprüfung gemäß § 39 Abs. 1 MessEG nur die Frage zum Gegenstand hat, ob ein Messgerät die dort näher bezeichneten Anforderungen erfüllt. Die Verwendungsprüfung nach § 54 Abs. 1 MessEG ist im Vergleich dazu umfassender. Sie hat gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 MessG, wie gezeigt, die Frage zum Gegenstand, ob beim Verwenden von Messgeräten und Messwerten die Vorschriften des Abschnitts 3 des Mess- und Eichgesetzes beachtet sind. Dem entspricht ist es, dass bei einer Verwendungsüberwachung, die zu Beanstandungen geführt hat, neben dem „Verwender des Messgeräts“ auch der „Verwender von Messwerten“ dem Grunde nach als Gebührenschuldner in Betracht kommt.
105 (bb) Daraus folgt allerdings nicht, dass sich aus dem in § 33 MessEG geregelten Pflichtenkreis des „Messwerteverwenders“ in jedem Einzelfall ausreichende Anknüpfungspunkte für eine Heranziehung zur Gebühr für eine Verwendungsüberwachung im Sinne von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG und § 3 Abs. 2 Nr. 4 BGebG ergeben. Insoweit kommt es vielmehr auf die - von der Behörde zu ermittelnden und zu berücksichtigenden - Umstände des Einzelfalls an.
106 Die Notwendigkeit einer insoweit differenzierenden Betrachtung ergibt sich aus Absatz 2 des § 33 MessG. Die Vorschrift bestimmt, wie gezeigt, dass derjenige, der Messwerte verwendet, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu vergewissern hat, dass das Messgerät die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, und dass er sich von der Person, die das Messgerät verwendet, bestätigen zu lassen hat, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllt. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass der „Messwerteverwender“ dieser Kontrollpflicht „insbesondere durch entsprechende vertragliche Abreden zwischen Messgeräteverwender und Messwerteverwender genüg[en]“ kann (BT-Drs. 17/12727, S. 46; dem folgend Schade, in: Hollinger/Schade, a.a.O., § 33 Rn. 6; Gertz/Weise/Raschetti, a.a.O., S. 32). Wenn eine solche vertragliche Abrede im Einzelfall besteht und der Messwerteverwender seiner Kontrollpflicht aus Absatz 2 des § 33 MessG entsprochen hat, bietet der in dieser Vorschrift geregelte Pflichtenkreis des Messwerteverwenders keine genügenden Anhaltspunkte mehr dafür, ihn anstelle des Messgeräteverwenders zu den Kosten für eine Verwendungsüberwachung heranzuziehen, die sich auf Messgeräte bezogen hat, von denen Messwerte abgelesen wurden. Denn in einem solchen Fall steht aufgrund der - nach dem Willen des Gesetzgebers zulässigen - vertraglichen Abrede fest, dass in dem Einzelfall nicht der die Messgeräte nutzende Messwerteverwender, sondern der Messgeräteverwender selbst die Verantwortung insbesondere für die Eichung der Geräte tragen soll. In einem solchen Fall besteht für eine Heranziehung des Messverwenders zu den der Sache nach durch das Unterlassen der Eichung (vgl. § 59 Abs. 1 Satz 2 MessEG) ausgelösten Gebühren für die Verwendungsüberwachung kein Raum.
107 Davon ausgehend bietet der in § 33 MessEG geregelte Pflichtenkreis des „Messwerteverwenders“ im vorliegenden Einzelfall noch ausreichende „Anknüpfungspunkte“ für eine Heranziehung der Klägerin zur Gebühr für die fragliche Verwendungsüberwachung. Denn eine ausreichend vertragliche Abrede zwischen der Klägerin und der WEG, mit der jene ihren eigenständigen Kontrollpflichten aus Absatz 2 des § 33 MessEG entsprochen hat, besteht nicht.
108 In Betracht kommt hierfür einzig Nr. VIII AGB des zwischen der Klägerin und der WEG im März 2009 geschlossenen sog. Wärmedienstvertrages. In dem genannten Abschnitt der AGB heißt es unter der Überschrift „Mitwirkungspflichten des AG“ (d.h. des Auftraggebers), der Auftraggeber (die WEG) sei „[n]ach den gesetzlichen Bestimmungen (z.B. Heizkostenverordnung, AVB-Fernwärme, Neubaumietenverordnung)“ für die „vollständige Ausrüstung der Liegenschaft mit geeigneten Erfassungsgeräten und eine verbrauchsabhängige Abrechnung“ verantwortlich. Mit diesem pauschalen Verweis der Klägerin in ihren AGB auf gesetzliche Bestimmungen - in dem das Mess- und Eichrecht nicht einmal erwähnt wird - lag keine „Vergewisserung“, dass die von der WEG eingesetzten Messgeräte die gesetzlichen Anforderungen erfüllten, und erst recht keine „Bestätigung“, dass die WEG ihre Verpflichtungen insbesondere zur Eichung der Geräte erfüllt.
109 Der Gesetzgeber wollte mit § 33 Abs. 2 MessEG, wie gezeigt, eine „eigenständige Kontrollpflicht“ des Verwenders von Messgeräten einführen (vgl. erneut BT-Drs. 17/12727, S. 46). Die Schaffung dieser eigenständigen und neben der Pflicht des Messgeräteverwenders zusätzlichen Pflicht soll ersichtlich dazu dienen, auch vor dem Hintergrund der Abschaffung des früheren Verfahrens der staatlichen Erst- und Nacheichung und dem dadurch bedingten teilweisen Wegfall der staatlichen Kontrollmöglichkeiten bei dem erstmaligen Inverkehrbringen von Messgeräten (vgl. oben [(a)(aa)]) eine effektive Kontrolle der im Verkehr befindlichen Messgeräte im Interesse des Verbraucherschutzes und des Schutzes der Lauterkeit des Handels- und Rechtsverkehrs zu erreichen. Die sich daraus ergebende Bedeutung der eigenständigen Kontrollpflicht des Messwerteverwenders har zur Folge, dass der Messwerteverwender sich dieser wichtigen Pflicht nicht durch formelhafte Abreden in einem Vertrag entledigen kann. Es bedarf keiner Entscheidung, ob der vom Gesetzgeber mit § 33 MessEG und insbesondere dessen Absatz 2 verfolgten Absicht, sicherzustellen, dass neben dem Messgeräteverwender auch der Messwerteverwender die Einhaltung der eichrechtlichen Mindestanforderungen effektiv kontrolliert, überhaupt durch Allgemeine Geschäftsbedingungen genügt werden kann. Dagegen spricht, dass AGB bei lebensnaher Betrachtung im Wirtschaftsleben vielfach nicht oder nur oberflächlich zur Kenntnis genommen und von Verbrauchern - wovon auch der Bundesgesetzgeber ausgeht (vgl. §§ 305 ff. BGB) - regelmäßig „widerspruchslos hingenommen“ (Basedow, in: MüKo-BGB, 8. Aufl., Vor § 305 Rn. 4 und Rn. 5 ff. zum Telos der §§ 305 ff.) werden. Eine „Vergewisserung“ und „Bestätigung“ im Sinne von § 33 Abs. 2 MessEG setzt jedenfalls eine vertragliche Abrede voraus, die über einen pauschalen Verweis auf nur fragmentarisch angesprochene „gesetzliche Bestimmungen“ hinausgeht und erkennen lässt, dass sich die Vertragsparteien mit den im Einzelfall vorhandenen Geräten konkret auseinandergesetzt und die Frage nach der effektiven Überwachung der Eichfristen bewusst geregelt haben. Daran fehlt es hier.
110 d) Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegen die daraus folgende Einordnung der Klägerin als Gebührenschuldnerin bestehen nicht.
111 Das gilt auch dann, wenn zugunsten der Klägerin unterstellt wird - was der Senat offenlassen kann -, dass die §§ 31 ff., 59 MessEG eine objektiv berufsregelnde Tendenz aufweisen und einen Eingriff in ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG begründen. Der damit verbundene Eingriff wäre jedenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
112 Der Einwand der Klägerin, die genannten Vorschriften genügten bereits dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot nicht, ist unbegründet. Handelt es sich um eine Rechtsgrundlage für eine - wie hier - Gebührenerhebung, gebietet das Bestimmtheitsgebot, dass diese so gefasst ist, dass der (künftige) Gebührenschuldner erkennen kann, für welche öffentliche Leistung die Gebühr erhoben wird und welchen Zweck der Normgeber mit der Gebührenerhebung verfolgt (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.03.2003 - 2 BvL 9 bis 12/98 - BVerfGE 108, 1; BVerwG, Urt. v. 01.09.2009 - 6 C 30.08 - NVwZ-RR 2010, 146; Senat, Urt. v. 16.08.2018 - 1 S 625/18 - juris m.w.N.). Auch im Bereich des Abgabenrechts nimmt die Auslegungsbedürftigkeit einer Regelung derselben allerdings noch nicht die verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.03.1967 - 1 BvR 334/61 - BVerfGE 21, 209, v. 18.05.1988 - 2 BvR 579/84 - BVerfGE 78, 205 und v. 09.11.1988 - 1 BvR 243/86 - BVerfGE 79, 106). Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass sich aus Wortlaut, Zweck und Zusammenhang der Regelung objektive Kriterien gewinnen lassen, die eine willkürliche Handhabung der Norm durch die für die Vollziehung zuständigen Behörden ausschließen. Die willkürfreie Handhabung eines Gebührentatbestandes ist durch nachträgliche Auslegung nur dann gewährleistet, wenn ein Gebührenschuldner mit seiner Heranziehung rechnen musste, weil dies in Anwendung juristischer Methoden ein vertretbares Auslegungsergebnis darstellt (BVerwG, Urt. v. 01.09.2009, a.a.O., und v. 12.07.2006 - 10 C 9.05 - BVerwGE 126, 222; Senat, Urt. v. 16.08.2018, a.a.O.). Diese Anforderungen sind hier erfüllt. Die entscheidungserheblichen Vorschriften des Mess- und Eichgesetzes, insbesondere die gebührenrechtlichen Begriffe des § 59 MessEG sowie die Begriffe des „Messgeräteverwenders“ und des „Messwerteverwenders“ aus §§ 31 ff. MessEG können anhand der juristischen Auslegungsmethoden, wie gezeigt (oben a) bis c)), ausgelegt werden. Dass sie - wie bei einem neuen Gesetz nicht unüblich - auslegungsbedürftig sind, nimmt ihnen nicht die erforderliche Bestimmtheit.
113 Die der Gebührenerhebung zugrundeliegenden Bestimmungen aus § 33 Abs. 1 Satz 1 MessEG und § 3 Nr. 22 MessEG begegnen entgegen dem Berufungsvorbringen auch im Lichte der Wesentlichkeitslehre keinen Bedenken und erweisen sich als verhältnismäßig. Der Gesetzgeber verfolgt damit, wie gezeigt, legitime Ziele des Verbraucherschutzes und des Schutzes der Lauterkeit des Geschäfts- und Rechtsverkehrs. Die aus den Vorschriften unter Umständen - wie hier - folgende Einstufung von Messdienstleistern als „Messwerteverwender“ und die daran anknüpfende Auferlegung der in § 33 MessEG geregelten Sorgfaltspflichten stellen geeignete und erforderliche Mittel zur Erreichung dieser Ziele dar und belasten die Klägerin nicht unangemessen. Das gilt umso mehr, als der Gesetzgeber, wie gezeigt, ausdrücklich von der Möglichkeit ausgegangen ist, dass der Messwerteverwender die Erfüllung dieser Pflichten durch entsprechende vertragliche Abreden mit seinem Auftraggeber steuern kann. Dass die Klägerin von dieser Möglichkeit im vorliegenden Fall durch ihre pauschalen AGB nicht auf geeignete Weise Gebrauch gemacht hat, führt nicht zur Verfassungswidrigkeit der genannten Bestimmungen.
114 Ob verfassungsrechtliche Bedenken gegen den von der Klägerin darüber hinaus in Bezug genommenen und an § 33 MessEG anknüpfenden Ordnungswidrigkeitentatbestand aus § 60 Abs. 1 Nr. 19 MessEG bestehen, bedarf im vorliegenden Verfahren mangels Entscheidungserheblichkeit dieser Vorschrift keiner Entscheidung.
115 e) Durchgreifende unionsrechtliche Bedenken gegen die Einordnung der Klägerin als Gebührenschuldnerin bestehen ebenfalls nicht.
116 Weshalb, wie die Klägerin meint, mit den § 31 Abs. 1 Satz 1, § 33 Abs. 1 Satz 1 sowie § 60 Abs. 1 Nr. 14 und 19 MessEG ein „Handlungs- und Sanktionsdruck“ aufgebaut wird, der auf unionsrechtswidrige Weise in den durch Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2014/32/EU eröffneten Freiheitsraum für den Messgerätemarkt übergreifen sollte, ist dem Berufungsvorbringen nicht substantiiert zu entnehmen. Dafür besteht in Bezug auf die im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblichen Vorschriften aus den §§ 33, 59 MessEG auch im Übrigen kein Anhaltspunkt.
117 Ohne Erfolg verweist die Klägerin insbesondere auf das zur (früheren) sog. Bauprodukterichtlinie (Richtlinie 89/106/EWG) ergangene Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 16.10.2014 (- C-100/13 - NVwZ 2015, 49). Der EuGH hat in diesem Urteil entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 89/106/EWG verstoßen hat, dass sie durch die Bauregellisten, auf die die Bauordnungen der Bundesländer damals verwiesen, zusätzliche Anforderungen für den wirksamen Marktzugang und die Verwendung von Bauprodukten in Deutschland gestellt hatte, die von den harmonisierten Normen EN 681-2:2000 („Elastomer-Dichtungen - Werkstoff-Anforderungen für Rohrleitungs-Dichtungen für Anwendungen in der Wasserversorgung und Entwässerung - Teil 2: Thermoplastische Elastomere“), EN 13162:2008 („Wärmedämmstoffe für Gebäude - Werkmäßig hergestellte Produkte aus Mineralwolle - Spezifikation“) und EN 13241-1 („Tore - Produktnorm - Teil 1: Produkte ohne Feuer- und Rauchschutzeigenschaften“) erfasst wurden und mit der CE-Kennzeichnung versehen waren.
118 Weder hat die Klägerin mit ihrem insoweit pauschalen Vortrag aufgezeigt noch erschließt sich sonst, weshalb sich aus den von ihr beanstandeten Vorschriften aus dem Mess- und Eichgesetz, insbesondere aus den Bestimmungen über die Kontrollpflichten des Messwerteverwenders aus § 33 MessEG, vergleichbare und unionsrechtlich bedenkliche „zusätzliche Anforderungen für den wirksamen Marktzugang und die Verwendung“ im Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung von Messgeräten auf dem Markt (Neufassung, ABl. L 096 vom 29.03.2014, S. 149) ergeben sollten. Weder § 33 MessEG noch die anderen im vorliegenden Fall allein entscheidungserheblichen Vorschriften begründen Pflichten der Messwerteverwender, die mit den in der Richtlinie genannten Pflichten der „Wirtschaftsakteure“ (vgl. Art. 8 ff. der Richtlinie) unvereinbar wären oder den Konformitätsmechanismus (Art. 14 ff. der Richtlinie) des von der Klägerin angesprochenen sog. New Approach der EU-Kommission sonst in Frage stellen würden. Der Bundesgesetzgeber hat mit den von der Klägerin beanstandeten Vorschriften auch nicht den ihm vom Unionsgesetzgeber gezogenen Umsetzungsspielraum überschritten. Die Richtlinie 2014/32/EU stellt einheitliche Standards für Geräte auf, die in Verkehr gebracht werden sollen, und normiert einheitliche Anforderungen an das Konformitätsbewertungsverfahren. Die Richtlinie hat aber keine umfassende und abschließende Regelung für sämtliche mit der Verwendung von Messgeräten nach deren Inverkehrbringung oder Inbetriebnahme zusammenhängenden Vorgaben getroffen (vgl. Zehelein, a.a.O., S. 799).
119 2. Der angefochtene Bescheid ist nach dem zuvor Gesagten auf der Tatbestandsseite im Ergebnis nicht zu beanstanden. Er erweist sich aber auf der Rechtsfolgenseite als materiell rechtswidrig. Er leidet unter einem Ermessensfehler.
120 Dem Beklagten war zwar kein Entschließungsermessen eröffnet. Denn wenn die Voraussetzungen von § 59 Abs. 1 Satz 1 MessEG vorliegen, „werden“ für individuell zurechenbare öffentliche Leistungen grundsätzlich Gebühren und Auslagen erhoben (vgl. zu Ausnahmen im Bereich der Gebührenermäßigung und Befreiung § 59 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 MessEG i.V.m. § 7 MessEGebV).
121 Der Beklagte hatte allerdings Auswahlermessen auszuüben. Denn neben der Klägerin als „Messwerteverwenderin“ kam nach dem zuvor (unter 1.) Gesagten - und auch nach Auffassung des Beklagten (vgl. dessen Auskunft in der E-Mail vom 29.05.2017) - jedenfalls auch die WEG als „Messgeräteverwenderin“ als Gebührenschuldnerin in Betracht (vgl. zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bei einer WEG neben dieser ggf. auch an deren Verwalter zu denken ist, Jennißen/Kemm, a.a.O., S. 390 ff.; ferner OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2016 - 4 A 1150/15 - a.a.O.).
122 Mehrere Gebührenschuldner haften auch im Anwendungsbereich des Mess- und Eichgesetzes als Gesamtschuldner (vgl. § 5 Abs. 2 LGebG; bei einer Orientierung am Bundesgebührengesetz ergibt sich nichts anderes, vgl. § 6 Abs. 3 BGebG). Sinngemäß ist damit § 421 Satz 1 BGB anzuwenden, wonach der Gläubiger einer Gesamtschuld die Leistung nach seinem Belieben - im öffentlichen Gebührenrecht: nach seinem Ermessen - von jedem der Schuldner ganz oder zu einem Teil fordern kann, der Gläubiger sich seinen Schuldner mithin aussuchen darf (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.09.2015 - 4 C 3.14 - juris, v. 21.10.1994 - 8 C 11.93 - juris, und v. 22.01.1993 - 8 C 57.91 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.09.2018 - 2 S 731/18 - VBlBW 2019, 56, und v. 02.08.1994 - 2 S 1449/94 -, VBlBW 1995, 147 m.w.N.). Mangels abweichender Ausgestaltung des Gesamtschuldverhältnisses hat die Behörde bei der Entscheidung, welchen von mehreren Gesamtschuldnern sie zur Zahlung einer Gebühr heranzieht, nach pflichtgemäßem Ermessen zu handeln. Das ihr dabei eingeräumte Ermessen ist sehr weit. Dies ergibt sich aus dem Wesen und dem Zweck der Anordnung einer gesamtschuldnerischen Haftung der Gebührenschuldner. Sie soll der Verwaltung den Vollzug der Gebührennorm erleichtern, den damit verbundenen Verwaltungsaufwand verringern und insbesondere in Bereichen des „Massengeschäfts“ zu einer ertragreichen Gebührenerhebung beitragen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.01.1993, a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.09.2018, a.a.O.). Dementsprechend ist der Behörde insbesondere eine Auswahl aus finanziellen oder aus verwaltungspraktischen Gründen erlaubt. Innerhalb der ihrem Ermessen lediglich durch das Willkürverbot und offenbare Unbilligkeit gezogenen Grenzen kann die Behörde den Gesamtschuldner in Anspruch nehmen, dessen Wahl ihr geeignet und zweckmäßig erscheint. Deshalb sind Ermessenserwägungen zur Auswahl eines Gesamtschuldners nur dann veranlasst, wenn Willkür- oder Billigkeitsgründe geltend gemacht werden und tatsächlich vorliegen. Einwände eines Schuldners gegen seine Auswahl müssen dabei auf Billigkeitserwägungen beruhen, die gerade ihn selbst betreffen. Nicht einwenden kann ein Schuldner, dass es andere Gesamtschuldner gebe, die ebenfalls oder an seiner Stelle heranzuziehen seien. Bedenken gegen ein weites Ermessen der Behörde bestehen angesichts der Möglichkeit des herangezogenen Schuldners, entsprechend § 426 BGB Ausgleich von den anderen Gesamtschuldnern zu verlangen, nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.09.2015, a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.09.2018, a.a.O.).
123 Nach diesem Maßstab leidet der angefochtene Bescheid des Beklagten an einem der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterworfenen (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) Ermessensfehler. Es ist nicht erkennbar - und wird von dem Beklagten auch nicht vorgetragen - dass er im vorliegenden Fall überhaupt Ermessenserwägungen angestellt hat. Im vorliegenden Einzelfall waren aber Ermessenserwägungen zur Auswahl eines Gesamtschuldners veranlasst, um einen Verstoß gegen das Willkürverbot zu vermeiden.
124 Das vorliegende Verfahren lässt insgesamt nicht erkennen, dass der Beklagte die Frage, anhand welcher Maßstäbe er das ihm gegebenenfalls zur Verfügung stehende Auswahlermessen bei der Heranziehung von Gebührenschuldnern unter dem neuen Mess- und Eichgesetz im Rahmen des § 59 MessEG generell ausüben will, für sich bislang überhaupt beantwortet hat. So hat das Regierungspräsidium Tübingen - Eich und Beschusswesen Baden-Württemberg - unter dem 10.03.2017 ein auch gegenwärtig online abrufbares „Merkblatt über die Eichpflicht für Wohnungswasserzähler“ verfasst (https://www.mebw.de/sites/default/files/H204-3_IN00B_Merkblatt_1-0.pdf; zuletzt abgerufen am 29.09.2020). Dort heißt es unter der Überschrift „Angeben und Verwenden von Messwerten“, es sei „im Fall vom Messdienstleistern zwischen dem ‚Ausleser‘ der Messwerte und dem ‚Ersteller‘ der daraus resultierenden Abrechnungen zu unterscheiden. Rechne der Messdienstleister „direkt“ mit dem Verbraucher ab, habe er (der Messdienstleister) als Verwender die Regelungen des § 33 MessEG zu beachten. Stelle der Messdienstleister hingegen „nur“ die Messwerte zur Verfügung, treffe die Pflicht des § 33 MessEG bezüglich des Verwendens „den Abrechnenden (Verwalter, Vermieter etc.)“; falls dem Messdienstleister bekannt sei, dass die Messwerte von nicht gültig geeichten Messgeräten stammten, dürfe er sie allerdings nicht angeben. Die Ausführungen in diesem Merkblatt stehen teils schon in Widerspruch zu dem Vortrag des Beklagten im vorliegenden Verfahren zum Tatbestand des § 33 MessEG. Sie deuten zudem darauf hin, dass der Beklagte in den Fällen, in denen der Messdienstleister - wie hier die Klägerin - „nur“ Messwerte abliest und an den Eigentümer weitergibt, aber nicht selbst gegenüber Verbrauchern abrechnet, den Eigentümer (möglicherweise auch den Verwalter oder einen etwaigen Vermieter), aber nicht den Messdienstleister als primär Eichverantwortlichen ansieht. Dem entspricht die Auskunft des Regierungspräsidiums in der E-Mail vom 29.05.2017, verantwortlich für die fristgerechte Eichung von Messgeräten sei deren Verwender und daher in der Regel der Haus- oder Wohnungseigentümer, für den die Verbrauchsabrechnung erfolge, und eine WEG könne gegebenenfalls ihren Verwalter zivilrechtlich belangen, wenn er trotz Aufforderung Wasserzähler nicht ausgetauscht habe (Bl. 1 d. Verw.-Akte). In dieselbe Richtung deuten Passagen in dem von der Klägerin bereits erstinstanzlich vorgelegten Informationsblatt „Die Eichbehörden informieren: Angeben und Verwenden von Messwerten“ (vgl. dort das Fallbeispiel 7, Bl. 59 ff. d. VG-Akte). Vor diesem Hintergrund ist nicht erkennbar, anhand welcher Maßstäbe der Beklagte sich im vorliegenden Einzelfall für eine (alleinige) Heranziehung die Klägerin zur Gebührenerhebung für die Verwendungsüberwachung entschieden hat. Es wären zumindest Ermessenserwägungen zur willkürfreien Auswahl eines Gesamtschuldners veranlasst gewesen. An solchen Ermessenserwägungen fehlt es.
C.
125 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
D.
126 Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
127 Beschluss vom 29. September 2020
128 Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 47 Abs. 1, § 63 Abs. 2 und § 52 Abs. 3 GKG auf 152,-- EUR festgesetzt.
129 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Der am 7. Februar 1985 in Bagdad geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit.
3Er verließ den Irak nach eigenen Angaben am 12. Mai 2015 über den Landweg und reiste am 5. Juni 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 24. September 2015 stellte er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag, den er bei seiner Anhörung am 2. November 2016 auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkte. In seiner Anhörung trug er im Wesentlichen vor: Er habe viele Drohungen von Milizen bekommen, für die er habe arbeiten sollen, sei entführt und gefoltert worden. Auch seine Freundin sei bedroht worden. Er habe nicht mit den Milizen kämpfen, sondern in Ruhe und Frieden leben wollen. Deswegen habe er seinen Stadtteil verlassen und bis zu seiner Ausreise bei einem Onkel gewohnt. Er habe auch Alkohol im Irak getrunken. Deswegen habe ihn die Miliz entführt. Die Milizen seien Schiiten. Er sei der Jüngste in der Familie. Sein Vater habe verstanden, dass er den Irak verlasse, weil er nicht mit den Milizen habe arbeiten wollen. Würden die Milizen ihn im Rückkehrfall finden, würden sie ihn töten.
4Mit Bescheid vom 12. Januar 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger weder die Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1) noch den subsidiären Schutzstatus zu (Ziff. 2), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 3), forderte ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte ihm bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung in den Irak oder einen anderen zur Aufnahme bereiten oder verpflichteten Staat an (Ziff. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 5). Zur Begründung führte das Bundesamt aus: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Der Antragsteller sei kein Flüchtling im Sinne von § 3 AsylG. Er habe seine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Die Schilderungen des Antragstellers seien nicht nur detailarm, sondern bestünden nur in wertenden Behauptungen, er sei von Milizen bedroht, entführt und gefoltert worden. Welcher Art die Drohungen gewesen seien, in welcher Form sie ausgesprochen oder mitgeteilt worden seien, wie und wann der Antragsteller entführt worden sei und wie die angebliche Folter erfolgt sei, habe der Antragsteller nicht mitgeteilt. Dies indiziere, dass weder irgendeine nach § 3a AsylG relevante Bedrohung noch eine Entführung oder Folterung in diesem Sinne vorgelegen habe. Auch habe er keinen Grund mitgeteilt, weshalb „die Milizen“ ihn zur Mitarbeit und zum Kämpfen hätten zwingen wollen. Ebenso habe er seine vorgeblichen Verfolger nicht benannt, die Bezeichnung als „Schiiten“ offenbare, dass ganz offensichtlich keine politische Gruppierung ihm nachstelle. Ein Verfolgungsgrund gemäß § 3b AsylG sei somit weder glaubhaft gemacht noch ersichtlich. Zudem habe der Antragsteller sich widersprüchlich eingelassen, was die Zusammenarbeit mit den Milizen angehe. Es sei auch unwahrscheinlich, dass schiitische Milizen Unwillige zwangsweise rekrutierten, da sie aufgrund der Unterstützung durch das schiitische religiöse Establishment keine Probleme bei der Gewinnung Freiwilliger hätten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Dem Kläger drohe nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Der Verstoß gegen das informelle Verbot des Alkoholgenusses und die angebliche Entführung seien nicht substantiiert und nicht glaubhaft gemacht worden. Ihm drohe auch nicht aufgrund des in Bagdad bestehenden oder jedenfalls nicht auszuschließenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine erhebliche individuelle Gefahr aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Der vorliegend festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau, demzufolge jedem Antragsteller allein wegen seiner Anwesenheit im Konfliktgebiet ohne Weiteres Schutz gewährt werden müsste. Persönliche gefahrerhöhende Umstände seien beim muslimischen, anscheinend schiitischen Antragsteller nicht gegeben. Auch Abschiebungsverbote lägen nicht vor.
5Der Kläger hat dagegen am 20. Januar 2017 beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Klage erhoben, die er später zurückgenommen hat, soweit sie auf die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtet war. Zur Begründung hat er ausgeführt, er werde in Bagdad durch staatliche und nicht staatliche Akteure aufgrund seiner politischen Überzeugung verfolgt. Er sei mehrfach aufgefordert worden, sich schiitischen Milizen anzuschließen. Bei einer unterstellten Rückkehr in den Irak könne er auch sein Existenzminimum nicht sichern.
6Der Kläger hat beantragt,
7die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2017 zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8hilfsweise das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
9Die Beklagte hat beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 15. Januar 2019 die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2017 verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG lägen vor. Die Kammer gehe aufgrund der aktuellen Erkenntnisse über die Situation in der Stadt Bagdad von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens bzw. der Unversehrtheit des Klägers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus. Aus der alltäglichen Gewalt in der Stadt Bagdad folge die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben des Klägers, die aus seiner bloßen Anwesenheit als Zivilpersonen in der Konfliktregion resultiere. Die hierfür nach der Rechtsprechung erforderliche Gefahrendichte folge aus der Häufigkeit und Qualität der Anschläge an Orten des öffentlichen Lebens, die in allen Teilen der Stadt verübt würden und regelmäßig erhebliche Zahlen Toter und schwer verletzter Menschen zur Folge hätten, ohne dass es auf die Größenordnung der Anschläge und die Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl ankomme.
12Auf den dagegen gerichteten Antrag der Beklagten hat der Senat durch Beschluss vom 4. Dezember 2019 wegen Divergenz die Berufung zugelassen, die die Beklagte durch Schriftsatz vom 13. Dezember 2019 begründet hat.
13Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
14unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 15. Januar 2019 die Klage abzuweisen.
15Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet die Vorsitzende als Berichterstatterin anstelle des Senats ohne mündliche Verhandlung, § 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. §§ 101 Abs. 2, 87a Abs. 2 und 3 VwGO.
19Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.
20Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 12. Januar 2017 ist, soweit er Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist, rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat in dem für die Sach- und Rechtslage maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG (I.) noch auf die hilfsweise begehrte Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 AufenthG (II.). Die Abschiebungsandrohung des Bundesamts und das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot sind ebenfalls nicht zu beanstanden (III.).
21I. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes.
22Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
231. Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG). Derartiges macht er auch selbst nicht geltend.
242. Dem aus Bagdad stammenden Kläger droht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts im Irak auch kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Abzustellen ist insoweit auf die tatsächlichen Verhältnisse in seinem Herkunftsort Bagdad.
25Der Senat hat hierzu in seinem Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, juris Rn. 42 ff., grundlegend entschieden, dass - das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG unterstellt - jedenfalls das Niveau willkürlicher Gewalt in Bagdad nicht derart hoch ist, dass unter Berücksichtigung der hohen Anforderungen an die Gefahrendichte praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne dieser Vorschrift ausgesetzt ist. Wegen der Einzelheiten wird auf dieses Urteil Bezug genommen.
26Nachfolgende Entwicklungen rechtfertigen nach der Senatsrechtsprechung keine andere Bewertung. Dies gilt sowohl für die landesweiten, in Bagdad besonders massiven Proteste der Bevölkerung gegen Arbeitslosigkeit, Korruption, mangelhafte Grundversorgung und letztlich die irakische Regierung seit Oktober 2019, bei denen nach Medienberichten Demonstranten, Polizei- und Armeeangehörige getötet und verletzt worden sind, als auch mit Blick auf den Einmarsch der Türkei in Nord-Syrien und die damit verbundene Freisetzung von IS-Kämpfern sowie die Tötung des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi im Oktober 2019.
27Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. November 2019 - 9 A 1951/19.A -, juris Rn. 11 ff.; siehe auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: März 2020) vom 2. März 2020, S. 4, 7.
28Die politischen Spannungen nach der Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani durch die USA am 3. Januar 2020 haben ebenfalls nicht zu einem erneuten Erstarken des IS oder anderer militärischer Einheiten und damit einhergehend zu einem relevanten Anstieg willkürlicher Gewalt gegen unbeteiligte Zivilpersonen i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG in Bagdad geführt. Die Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und dem Iran betraf im Irak fast ausschließlich militärische Stützpunkte.
29Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. März 2020 ‑ 9 A 278/18.A -, juris Rn. 16; DGVS (cgvsra), Office of the Commissioner General for Refugees and stateless Persons, COI Focus, IRAQ, Security Situation in Central and Southern Iraq, Brüssel, 20. März 2020, S. 38.
30Dem Senat liegen auch ansonsten keine Erkenntnisse dahingehend vor, dass die aktuelle Situation eine vom Senatsurteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A - abweichende Betrachtung rechtfertigte. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass sich die Gefahrendichte in Bagdad wesentlich geändert hat mit der Folge, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung des Berufungsgerichts praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
31Zu den (hohen) Anforderungen für eine solche Annahme vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 ‑ Rs. C-285/12 (Diakité) -, juris Rn. 30 ff.; BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 ‑ 10 C 4.09 ‑, BVerwGE 136, 360 = juris Rn. 32 ff., und vom 17. November 2011 ‑ 10 C 13.10 -, NVwZ 2012, 64 = juris Rn. 17 ff. m. w. N. (zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F.)
32Anhaltspunkte für eine wesentliche Veränderung der Bevölkerungszahl Bagdads, zu der auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats am 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, Rn. 49 ff., nur Schätzungen existierten, liegen dem Senat nicht vor.
33Vgl. nur http://citypopulation.de/Iraq-Cities.html (abgerufen am 28. September 2020).
34Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen sind ferner, auch wenn es nach wie vor zu Anschlägen kommt, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle und die Zahl der zivilen Opfer nicht angestiegen. Vielmehr spricht vieles dafür, dass das Niveau willkürlicher Gewalt weiter gesunken ist.
35Nach den Angaben des Iraq-Body-Count-Projekt (IBC) ist für den Irak insgesamt die Zahl getöteter Zivilisten rückläufig (650 in den ersten acht Monaten des Jahres 2020, 2.392 bzw. 2.362 im Jahr 2019 gegenüber rund 3.300 im Jahr 2018 und rund 13.000 im Jahr 2017).
36Vgl. https://www.iraqbodycount.org/analysis/numbers/2019/ (abgerufen am 28. September 2020); Iraq Body Count Iraq in 2019: Calls for a ‚True Homeland‘ met with deadly violence, 31. Dezember 2019; siehe auch EASO, Herkunftsländerinformation. Irak. Sicherheitslage (Ergänzung). Iraq Body Count - Zivile Todesfälle 2012, 2017-2018, S. 13.
37Diese Entwicklung gilt auch für Bagdad. Insbesondere ist die Zahl der Anschläge durch den IS im Jahr 2019 und im Januar 2020 weiter zurückgegangen; vor allem gilt das für Selbstmordattentate.
38Vgl. CGVS (cgvsra), Office of the Commissioner General for Refugees and stateless Persons, COI Focus, IRAQ, Security Situation in Central and Southern Iraq, Brüssel, 20. März 2020, S. 37 f., 40 (unter Auswertung von Zahlen von ACLED sowie von Joel Wing, „Musings on Iraq“).
39In der Zeit von März 2019 bis Januar 2020 gab es laut des belgischen CGVS, das auf ACLED-Daten zurückgreift, 346 sicherheitsrelevante Vorfälle in Bagdad. Insgesamt kamen dabei 375 Zivilisten zu Tode, wobei ein nicht unerheblicher Teil auf die Gewalt im Zusammenhang mit den oben erwähnten Demonstrationen entfiel, mithin nicht einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zuzurechnen ist.
40Vgl. CGVS (cgvsra), Office of the Commissioner General for Refugees and stateless Persons, COI Focus, IRAQ, Security Situation in Central and Southern Iraq, Brüssel, 20. März 2020, S. 39.
41Für das Jahr 2019 berichtet das Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) für Bagdad (Provinz) von 268 Vorfällen und 339 Todesfällen, für das erste Quartal des Jahres 2020 von 181 Vorfällen und 69 Todesopfern.
42Vgl. ACCORD, Irak, Jahr 2019: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), sowie ACCORD, Irak, 1. Quartal 2020: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), jeweils vom 23. Juni 2020.
43Die Anzahl sowohl der sicherheitsrelevanten Vorfälle als auch der Todesopfer in Bagdad ist damit niedriger als im Jahr 2018. Nach den Feststellungen des Senats in seinem Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A - hat die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) für 2018 insgesamt 398 zivile Tote dokumentiert, Joel Wing in seinem Blog „Musings on Iraq“ 423 zivile Tote (bei 660 Vorfällen), ACCORD (hochgerechnet) 241 Todesopfer bei 237 Vorfällen, EASO unter Rückgriff auf Zahlen des IBC 566 Todesopfer bei 392 Vorfällen.
44Vgl. zu den Zahlen und den Quellen im Einzelnen OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, a. a. O. Rn. 77 ff.
45Bei den Zahlen für 2019 und 2020 berücksichtigen zwar die oben genannten Quellen - die letztlich auf ACLED zurückgreifen - die Verletzten nicht, weshalb der Senat in seinem Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A - u. a. auf die alle zivilen Opfer (Tote und Verletzte) erfassenden höheren UNAMI-Zahlen abgestellt hat, die aber seit Dezember 2018 nicht mehr dokumentiert werden,
46https://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=itemlist&layout=category&task=category&id=159&Itemid=633&lang=en, abgerufen am 28. September 2020.
47Ungeachtet dieser und anderer Unsicherheiten bei der quantitativen Risikoermittlung,
48vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, a. a. O., Rn. 106 ff.,
49spricht aber die Entwicklung bei Anschlags- und Todeszahlen für weiter rückläufige Opferzahlen, nicht hingegen für eine Zunahme willkürlicher Gewalt. Da nach den Feststellungen des Senats im vorgenannten Urteil (Rn. 117) in rein quantitativer Hinsicht bei Weitem nicht eine Gefahrendichte erreicht war, bei der ohne Hinzutreten weiterer Umstände eine individuelle Gefährdung jeder in Bagdad anwesenden Zivilperson anzunehmen wäre, ist auf der Grundlage der oben genannten Zahlen für 2019 und 2020 nicht davon auszugehen, dass dies nunmehr der Fall ist. Auch eine wertende Gesamtbetrachtung der rein quantitativen Risikoermittlung fällt mangels grundlegender Veränderung der Lage in Bagdad heute nicht anders aus als im Senatsurteil vom 28. August 2019 (Rn. 119 ff.).
50In der Person des Klägers liegen ferner keine gefahrerhöhenden Umstände vor, die zu einer Individualisierung der allgemeinen konfliktbedingten Gefahren führen würden. Seinem Vorbringen sind insbesondere keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass er zu einer gegenüber der Bevölkerung im Übrigen besonders gefährdeten Gruppe gehört, etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit oder weil er von Berufs wegen gezwungen wäre, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Der Vortrag des vormaligen Gelegenheitsarbeiters, schiitische Milizen hätten ihn zur Mitarbeit und zum Kämpfen zwingen wollen, rechtfertigt ‑ ungeachtet der Frage der Glaubhaftigkeit - nicht die Annahme, der Kläger befinde sich in erhöhter Gefahr, im Falle einer Rückkehr Opfer eines Anschlags im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu werden.
513. Ein Anspruch des Klägers auf Gewährung subsidiären Schutzes besteht auch nicht nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG unter Berücksichtigung von Art. 3 EMRK. Ihm droht im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch einen Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG.
52Die Gefahr einer solchen Behandlung ergibt sich nach der Senatsrechtsprechung für den Kläger weder aus der allgemeinen Sicherheits- noch aus der allgemeinen humanitären Lage in Bagdad.
53Vgl. auch insoweit ausführlich OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, a. a . O., Rn. 145 ff.
54Eine allgemeine Situation der Gewalt, die zur Folge hätte, das jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre, ist hier nach den obigen Ausführungen nicht anzunehmen. Was die humanitäre Situation angeht, fehlt es jedenfalls deshalb am Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i. V. m. Art. 3 EMRK, weil die allgemein schwierige Versorgungslage nicht im Sinne von § 3c AsylG zielgerichtet vom irakischen Staat, von herrschenden Parteien oder Organisationen oder von nichtstaatlichen Dritten herbeigeführt worden ist.
55Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht dem Kläger auch nicht aus individuellen Gründen wegen des von ihm geltend gemachten Verfolgungsschicksals, Milizen hätten ihn bedroht und zur Mitarbeit und zum Kämpfen zwingen wollen oder gezwungen. Der Senat folgt insoweit den im Tatbestand wiedergegebenen Gründen des angefochtenen Bescheids des Bundesamts (§ 77 Abs. 2 AsylG). Aus den dortigen Ausführungen zu § 3 AsylG ergibt sich, dass eine Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Der Kläger ist den Bescheidgründen im gerichtlichen Verfahren auch nicht mit einer näheren Substantiierung seines Vortrags sowie Ausräumung der aufgezeigten Widersprüche entgegengetreten.
56II. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG in Bezug auf den Irak.
571. Ein Verbot der Abschiebung aus § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK, besteht im Fall des Klägers nach der Senatsrechtsprechung weder wegen der allgemeinen Sicherheitslage noch wegen der allgemeinen humanitären Verhältnisse im Irak bzw. in Bagdad als Zielort einer Abschiebung.
58Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, a. a. O. Rn. 161 ff..
59Der Kläger gehört als junger, arbeitsfähiger Mann nicht zu einer Personengruppe, die aufgrund der nach wie vor schwierigen wirtschaftlichen Situation und der teilweise angespannten Versorgungslage besonders gefährdet wäre.
60Vgl. zur Versorgungslage allgemein Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand März 2020) vom 2. März 2020, S. 25 f.
61Vielmehr wird er, etwa mit den früher auch schon ausgeübten Gelegenheitsjobs, in der Lage sein, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Zudem ist davon auszugehen, dass er Unterstützung durch seine Familie erhalten kann. Er hat bei der Anhörung durch das Bundesamt vorgetragen, dass sein Vater und die Großfamilie noch im Heimatland lebten.
622. Ein Verbot der Abschiebung des Klägers folgt auch nicht aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuelle Gefahren für Leib, Leben und Freiheit im Sinne dieser Vorschrift drohen, ist aus den bereits zu § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ausgeführten Gründen nicht ersichtlich.
63Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich nach der Senatsrechtsprechung auch nicht ausnahmsweise aufgrund allgemeiner Gefahren, weil es dafür an der erforderlichen extremen Gefahrenlage fehlt.
64Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, a. a. O., Rn. 229.
65Abgesehen davon besteht vorliegend ohnehin keine verfassungswidrige Schutzlücke, die im Einzelfall die Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 6 AufenthG erfordern würde. Denn der Kläger ist aufgrund der im Land Nordrhein-Westfalen geltenden ausländerrechtlichen Erlasslage, wonach grundsätzlich - für das Vorliegen eines Ausnahmefalls ist beim Kläger nichts ersichtlich - keine zwangsweisen Rückführungen in den Irak stattfinden, vergleichbar wirksam vor einer Abschiebung geschützt.
66Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, a. a. O., Rn. 234.
67III. Die unter Ziffer 4 des angegriffenen Bescheids verfügte Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung unter Fristsetzung von 30 Tagen ist rechtmäßig. Sie beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG, dessen Voraussetzungen im Fall des Klägers, der keinen Aufenthaltstitel besitzt, nach den obigen Ausführungen vorliegen, und § 38 Abs. 1 AsylG. Auch das auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 5 des Bescheids) ist nicht zu beanstanden. In der hier erfolgten behördlichen Befristungsentscheidung, die vor einer Abschiebung des Klägers ergangen ist, liegt auch die konstitutive Anordnung eines befristeten Einreiseverbots,
68vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 21. August 2018 - 1 C 21.17 -, juris Rn. 20 ff., und vom 27. Juli 2017 - 1 C 28.16 -, juris Rn. 42,
69wie sie nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl I S. 1294) nunmehr - in Umsetzung der genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist.
70Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 - 9 A 4590/18.A -, a. a. O., Rn. 236 ff.
71Fehler bei der im Bescheid erfolgten, die individuellen Belange des Klägers berücksichtigenden Ermessensentscheidung über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) sind nicht erkennbar.
72Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
73Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
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Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 1. September 2020 wird abgeändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 1. September 2020 bis 31. Januar 2021 vorläufig Leistungen für Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II unter Berücksichtigung einer Bruttokaltmiete von 1.300,00 Euro pro Monat zu gewähren.
Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner erstattet den Antragstellern 1/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird für das Beschwerdeverfahren abgelehnt.
Gründe
I.
1
Die Antragsteller begehren, den Antragsgegner durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, im Rahmen der Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) die volle Bruttokaltmiete der zum 1. September 2020 bezogenen Wohnung im N. 1, O., iHv 1.300,00 Euro pro Monat, die für diese Wohnung zu zahlenden Mietkaution iHv 3.300,00 Euro, 800,00 Euro für die Übernahme der Kücheneinrichtung, 2.500,00 Euro für die Anschaffung von Schlafzimmer- und Kinderzimmermöbeln, 1.000,00 Euro für die Anschaffung von Bekleidung, Heimtextilien und Schuhen sowie 936,69 Euro Stromschulden für ihre bisherige Wohnung zu übernehmen.
2
Die 1983 bzw 1985 geborenen Antragsteller zu 1. und 2. beziehen mit den in den Jahren 2002, 2004, 2007, 2011 sowie 2019 geborenen Antragstellern zu 3. bis 8. seit dem 1. Februar 2019 als Bedarfsgemeinschaft vom Antragsgegner laufende Leistungen nach dem SGB II. Vom 1. Dezember 2018 bis 31. August 2020 bewohnten sie eine 120 qm große Vier-Zimmer-Wohnung in der P. 16a, O.. Die dort anfallenden Unterkunftskosten wurden im Rahmen der Bewilligung vorläufiger SGB II-Leistungen vom Antragsgegner in voller Höhe als angemessener KdU-Bedarf anerkannt (vgl zum Bewilligungszeitraum vom 1. Februar bis 31. Juli 2020: Bewilligungsbescheid vom 14. Februar 2020; zum Bewilligungszeitraum vom 1. August 2020 bis 31. Januar 2021: Bewilligungsbescheide vom 14. Juni 2020).
3
Am 17. Juni 2020 beantragten die Antragsteller eine Zusicherung nach § 22 Abs 4 SGB II für den von ihnen geplanten Umzug in ein Einfamilienhaus mit sechs Zimmern im Q. Weg R. (Wohnfläche: 150 qm; Grundstücksfläche: 400 qm; monatliche Bruttokaltmiete: 1.300,00 Euro; zu zahlende Mietkaution: 3.300,00 Euro). Der Antragsgegner lehnte dies mit der Begründung ab, dass der Mietpreis die Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 1 SGB II überschreite. Diese betrage für einen achtköpfigen Haushalt 919,00 Euro pro Monat (Bescheid vom 6. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2020).
4
Während des laufenden Widerspruchsverfahrens beantragten die Antragsteller zusätzlich zur Übernahme der Miete und der Mietkaution auch die Übernahme der Abstandszahlung für die Küche iHv von 800,00 Euro, der Kosten für die Anschaffung von Einrichtungsgegenständen für Kinder- und Schlafzimmer iHv 2.500,00 Euro sowie von Handtüchern, Kleidung und Schuhen iHv 1.000,00 Euro. Über diese weiteren Leistungsanträge hat der Antragsgegner bislang nicht entschieden, sondern die Antragsteller schriftlich um weitere diesbezügliche Angaben gebeten (Aufforderungen zur Mitwirkung vom 3. September 2020). Hierauf haben die Antragsteller – soweit ersichtlich – bislang nicht reagiert.
5
Am 20. August 2020 haben die Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Hannover um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und über die bisherigen Anträge hinaus auch die Übernahme der in ihrer bisherigen Wohnung aufgelaufenen Stromschulden iHv 936,69 Euro begehrt.
6
Mit Beschluss vom 1. September 2020 hat das SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass eine Zusicherung iSd § 22 Abs 4 SGB II im Eilverfahren nur im Ausnahmefall zugesprochen werden könne, da dies die Hauptsache vorwegnehme. Vorliegend handele es sich nicht um einen solchen Ausnahmefall, da weder die Angemessenheit der neuen Wohnung noch die Erforderlichkeit des Umzugs feststehe. An dem vom Antragsgegner für die Bestimmung der angemessenen Kosten der Unterkunft (KdU) erstellten Konzept beständen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Bruttokaltmiete der neuen Wohnung liege deutlich oberhalb der vom Antragsgegner festgesetzten Mietobergrenze von 919,00 Euro. Die bisherige Wohnung sei erst Ende 2018 und damit unmittelbar vor der Geburt des Antragstellers zu 7. bezogen worden. Sie habe mit 120 qm Wohnfläche nur geringfügig unterhalb der für eine achtköpfige Bedarfsgemeinschaft angemessenen Wohnfläche von 125 qm gelegen. Die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, keine günstigere Wohnung finden zu können. Die Übernahme der Abstandszahlung für die Küche, der Kosten für die Einrichtung von vier Kinderzimmern und eines Schlafzimmers sowie der Mietkaution komme angesichts des fehlenden Anspruchs auf eine Zusicherung erst recht nicht in Betracht. Hinsichtlich der Stromschulden fehle es an einem Anordnungsgrund. Die Antragsteller hätten weder erläutert, wie es zu den Stromschulden gekommen sei, noch hätten sie dargelegt, alle naheliegenden und zumutbaren Selbsthilfemöglichkeiten ausgeschöpft zu haben. So sei zwar mit dem Energieversorger eine Ratenzahlung von monatlich 101,00 Euro vereinbart worden. Es sei jedoch nicht nachvollziehbar, weshalb die Ratenzahlung unterblieben sei, obwohl den Antragstellern Freibeträge aus dem Erwerbseinkommen zur Verfügung gestanden hätten. Es sei auch nicht glaubhaft gemacht worden, dass die Antragsteller sich um eine Anpassung der Raten an ihre aktuellen finanziellen Verhältnisse oder um einen Wechsel des Energieanbieters bemüht hätten.
7
Gegen diesen den Antragstellern am 1. September 2020 zugestellten Beschluss richtet sich ihre am 10. September 2020 eingelegte Beschwerde. Sie tragen vor, zum 1. September 2020 in die neue Wohnung umgezogen zu sein. Zwar treffe es zu, dass der Mietvertrag bis zum 31. März 2021 befristet sei und laut Vertrag auch nicht verlängert werden könne. Der Vermieter bestätige jedoch ausdrücklich, sehr daran interessiert zu sein, einen unbefristeten Mietvertrag abzuschließen. Er plane, ein Haus anzubauen. Wenn alles gut laufe, die Miete pünktlich gezahlt werde und es sonst keine weiteren Probleme gebe, werde dieses neue Haus nach Fertigstellung den Antragstellern zur Miete angeboten (vgl im Einzelnen: Schreiben des Vermieters vom 18. September 2020, Bl 100 GA). Hinsichtlich der noch fehlenden Einrichtungsgegenstände sowie des Bedarfs an weiterer Kinderkleidung beziehen sich die Antragsteller auf zur Gerichtsakte gereichte Lichtbilder (Bl 103, 104 GA).
8
Der Antragsgegner hält weitere Leistungsansprüche der Antragsteller für nicht gegeben. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Sondervorschrift nach § 67 SGB II, der keine Modifikation des Zusicherungserfordernisses nach § 22 Abs 4 und 6 SGB II enthalte.
II.
9
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist hinsichtlich der von den Antragstellern begehrten vorläufigen Übernahme der Bruttokaltmiete für die Zeit vom 1. September 2020 bis 31. Januar 2021 begründet, im Übrigen dagegen unbegründet.
10
Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist, insbesondere auch ein Eilbedürfnis vorliegt (Anordnungsgrund). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).
1.
11
Hinsichtlich der Stromschulden iHv 936,69 Euro fehlt es am sowohl am Anordnungsanspruch als auch am Anordnungsgrund.
12
Dieser Zahlungsrückstand ist in der bis Ende August 2020 bewohnten bisherigen Wohnung in der S. Straße T. angefallen. Eine Schuldenübernahme nach § 22 Abs 8 SB II kommt dagegen nur zur Sicherung der aktuell genutzten Unterkunft in Betracht (BSG, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 40/14 R –, SozR 4-4200 § 22 Nr 83, Rn 23 mwN). Für die derzeit bewohnte Wohnung bestehen weder Stromschulden noch ist dort eine Stromsperre angedroht worden. Ein Eilbedürfnis für die Übernahme von Altschulden einer nicht mehr bewohnten Wohnung ist ebenfalls nicht ersichtlich.
2.
13
Soweit die Antragsteller vorläufige Zuschussleistungen für Einrichtungsgegenstände für die Küche, vier Kinderzimmer sowie ein Schlafzimmer begehren, besteht kein Anordnungsanspruch.
14
§ 24 Abs 3 Nr 1 SGB II sieht entsprechende Zuschussleistungen nur für die Erstausstattung vor, nicht dagegen für Ersatzbeschaffungen.
15
Auch nach Hinweis des Senats (Verfügung vom 15. September 2020) haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, bislang über keine Kücheneinrichtung verfügt zu haben. Vielmehr haben sie eingeräumt, dass die Küche ihrer bisherigen Wohnung vollständig eingerichtet war (vgl Schriftsatz vom 21. September 2020). Ein grundsicherungsrechtlicher Bedarf an Leistungen für die Erstausstattung einer Küche besteht somit nicht. Zu den Einrichtungsgegenständen für Schlaf- und Kinderzimmer haben die Antragsteller auch auf den Hinweis des Senats lediglich vorgetragen, dass Matratzen „alt und durchgelegen“ gewesen seien. Dies spricht zwar für eine möglicherweise erforderliche Ersatzbeschaffung, belegt jedoch nicht, dass Matratzen oder andere Schlaf- und Kinderzimmermöbel in der früheren Wohnung nicht vorhanden waren. Die zur Gerichtsakte gereichten Lichtbilder aus der neuen Wohnung (Bl 103 – 105) vermitteln zwar einen Eindruck von der Inneneinrichtung der derzeitigen Wohnung, ersetzen aber ebenfalls nicht den Vortrag und die Glaubhaftmachung des anspruchsbegründenden Umstands, dass entsprechende Möbel bislang nicht vorhanden waren.
16
Etwaige Ansprüche auf Gewährung eines Darlehens zur Anschaffung von Möbeln nach § 24 Abs 1 SGB II sind im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen, da die Antragsteller ihr Rechtsschutzbegehren ausdrücklich auf Zuschussleistungen nach § 24 Abs 3 Nr 1 und 2 SGB II beschränkt haben (vgl Schriftsatz der Antragsteller vom 21. September 2020 als Antwort auf den Hinweis des Senats vom 15. September 2020).
3.
17
Hinsichtlich der begehrten 1.000,00 Euro als Leistung nach § 24 Abs 3 Nr 2 SGB II (Erstausstattung für Bekleidung und Erstausstattungen bei Schwangerschaft und Geburt) fehlt es an dem für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.
18
Dieses zunächst auf „Handtücher, Kleider und Schuhe“ und später auf „Winterkleidung und Winterschuhe“ lautende Leistungsbegehren wurde – soweit ersichtlich – erstmals im Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 20. August 2020 geltend gemacht. Im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren war ein entsprechender Antrag nicht gestellt worden. Erstmals im Beschwerdeverfahren sind Lichtbilder von schadhaften Kinder-Pullovern, -T-Shirts und -Jogginghosen zur Gerichtsakte gereicht worden (Bl 104 Gerichtsakte).
19
Der Antragsgegner hat auf diesen außerhalb des Verwaltungsverfahrens gestellten Antrag zeitnah reagiert und um Mitteilung gebeten, welche Gegenstände konkret benötigt werden und weshalb eine Anschaffung aus dem Regelbedarf nicht möglich sei. Gleichzeitig hat der Antragsgegner eine diesbezügliche abschließende Prüfung zugesagt (Schreiben vom 3. September 2020). Da die Antragsteller diese Aufforderung zur Mitwirkung bislang nicht beantwortet haben, ist die bislang noch nicht erfolgte Bescheidung ihres Antrags nach § 24 Abs 3 Nr 1 SGB II allein ihnen zuzurechnen. Die Antragsteller haben trotz ihrer Mitwirkungsobliegenheiten nach § 60 SGB I im Verwaltungsverfahren nicht hinreichend mitgewirkt, so dass ihnen ein Rechtsschutzbedürfnis für die Inanspruchnahme sozialgerichtlichen einstweiligen Rechtsschutzes fehlt. Es ist nicht Aufgabe der Sozialgerichte, nach unzureichender Mitwirkung im Verwaltungsverfahren im sich anschließenden sozialgerichtlichen Eilverfahren die Fortführung des Verwaltungsverfahrens zu moderieren, indem Schriftsätze der Beteiligten hin- und hergeschickt werden und - nochmals - auf die Nachholung der bereits im Verwaltungsverfahren unterlassenen Mitwirkung hingewirkt wird (vgl LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse vom 30. März 2016 - L 9 AS 98/16 B ER -, vom 16. Februar 2017 - L 9 AS 130/17 B ER -, vom 22. Juni 2017 - L 11 AS 452/17 B ER - und vom 19. Juli 2017 - L 11 AS 487/17 B ER –).
20
Unabhängig davon fehlt es insoweit auch an einem Anordnungsanspruch. Die Antragsteller haben bislang weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, weshalb es sich bei den möglicherweise notwendigen Ersatzbeschaffungen für Kleidung um eine Erstausstattung iSd § 24 Abs 3 Nr 3 SGB II handeln soll. Für Ersatzbeschaffungen kommen allenfalls darlehensweise zu gewährende Leistungen nach § 24 Abs 1 SGB II in Betracht. Die Antragsteller haben ihr Rechtsschutzbegehren dagegen ausdrücklich auf Zuschussleistungen beschränkt (vgl Schriftsatz der Antragsteller vom 21. September 2020).
4.
21
Hinsichtlich der Übernahme der Mietkaution fehlt es ebenfalls an einem Anordnungsanspruch. Die Antragsteller haben nicht glaubhaft gemacht, dass die für die Zahlung der Mietkaution erforderlichen finanziellen Mitteln ihnen tatsächlich nicht zur Verfügung stehen.
22
Die Antragsteller haben für ihre bisherige Wohnung eine Mietkaution iHv 2.100,00 Euro gezahlt (vgl Mietvertrag vom 26. September 2018, Bl 21ff Gerichtsakte). Dass ihnen dieser Betrag nach Auszug aus der alten Wohnung nicht oder nicht alsbald zur Verfügung stehen könnte, haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr haben sie auf Nachfrage des Senats vorgetragen, die Mietsicherheit der bisherigen Wohnung „im Wesentlichen für Heizkosten“ verwenden zu wollen. Somit besteht kein Anlass zur Annahme, dass den Antragstellern die „alte“ Mietsicherheit iHv 2.100,00 Euro nicht als sog bereites Mittel zur Verfügung stehen könnte.
23
Die nur pauschal vorgetragene und nicht weiter glaubhaft gemachte Absicht, einen Teilbetrag aus der „alten“ Mietsicherheit für Heizkosten verwenden zu wollen, hindert die Antragsteller nicht daran, diesen Betrag für die Mietsicherheit der neuen Wohnung zu verwenden. Dementsprechend besteht kein Anlass, den Antragsgegner zur Übernahme der Mietkaution in Höhe des den Antragstellern aus der „alten“ Mietkaution zur Verfügung stehenden Teilbetrags von 2.100,00 Euro zu verpflichten.
24
Die für die Zahlung der Mietkaution erforderlichen weiteren 1.200,00 Euro können die Antragsteller zumutbar aus den ihnen im Rahmen der Leistungsberechnung eingeräumten Einkommensfreibeträge bestreiten (bis einschließlich August 2020: 500,00 Euro pro Monat; ab September 2020: 330,00 Euro nach Auslaufen des Beschäftigungsverhältnisses des Antragstellers zu 3.). Dies gilt auch deshalb, weil die Mietkaution nicht sofort in voller Höhe fällig ist, sondern in drei Monatsraten gezahlt werden kann. Somit können die Antragsteller den Restbetrag aus den og Freibeträgen ansparen (vgl zum Verweis auf Einkommensfreibeträge im Rahmen des § 86b SGG: Landessozialgericht - LSG - Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Juli 2015 – L 13 AS 205/15 B ER –). Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Antragsteller möglicherweise auch über (Schon-)Vermögen verfügen, aus dem der Restbetrag von 1.200,00 Euro für die Mietkaution finanziert werden könnte (vgl zur Zumutbarkeit des Einsatzes von Schonvermögen im Rahmen des § 86b SGG: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Juli 2015, aaO, Rn 19 mwN). Eine abschließende Entscheidung ist insoweit allerdings nicht möglich, weil die Angaben der Antragsteller zu ihren finanziellen Verhältnissen unvollständig geblieben sind (vgl hierzu die unvollständig ausgefüllten PKH-Erklärungen sowie den Beschluss des Senats vom heutigen Tag im Verfahren L 11 AS 509/20 B).
5.
25
Dagegen erweist sich die Beschwerde hinsichtlich der von den Antragstellern begehrten Übernahme der vollen Bruttokaltmiete für die Monate September 2020 bis Januar 2021 als begründet.
26
Nach § 22 Abs 1 SGB II werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.
27
Die Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 1 SGB II ist durch das im Zuge der Corona-Pandemie am 27. März 2020 in Kraft getretene sog Sozialschutzpaket vorübergehend ausgesetzt worden: Nach § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II ist § 22 Abs 1 SGB II für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März bis 31. Dezember 2020 beginnen, mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten (vgl zur Verlängerung der Sonderregelung bis 31. Dezember 2020: § 1 der Verordnung zur Verlängerung des Zeitraums für das vereinfachte Verfahren für den Zugang zu den Grundsicherungssystemen und für Bedarfe für Mittagsverpflegung aus Anlass der COVID-19-Pandemie [Vereinfachter-Zugang-Verlängerungsverordnung – VZVV] vom 25. Juni 2020, BGBl I S 1509, sowie Erste Verordnung zur Änderung der VZVV vom 16. September 2020, BGBl I S 2001).
28
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners findet § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II Anwendung, obwohl weder die Hilfebedürftigkeit der Antragsteller noch ihr Umzug direkt auf die Corona-Pandemie zurückzuführen sind.
29
§ 67 SGB II ist nicht auf diejenigen Leistungsbezieher beschränkt, die direkt von der Corona-Pandemie betroffen sind. Eine Ursächlichkeit zwischen dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit und der epidemischen Lage ist nicht erforderlich (vgl Harich in: Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht - BeckOK Sozialrecht - 57. Edition, Stand Juni 2020, § 67 SGB II Rn 5; Kellner, NJ 2020, 213; ähnlich: Köhler in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand: 2020, K § 67 Rn 26). Der Anwendungsbereich des § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II ist auch nicht auf Erst- bzw Neuanträge begrenzt, sondern erfasst auch die in der Zeit von 1. März 2020 bis 31. Dezember 2020 beginnenden Weiterbewilligungszeiträume (vgl Voelzke, jM 2020,235, 237; Köhler, aaO, K § 76 Rn 13, 26; Harich, aaO, § 67 SGB II Rn 5; Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, Stand 2020, § 67 Rn 28; Meßling in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, Corona-Gesetzgebung - Gesundheit und Soziales, 1. Auflage 2020, § 2 Rn 32). Dies ergibt sich bereits aus § 67 Abs 3 Satz 3 SGB II, der eine Sonderreglung nach bereits erfolgtem Kostensenkungsverfahren und damit für eine Fallkonstellation enthält, die nur bei einer Weiterbewilligung von SGB II-Leistungen auftreten kann (ebenso: SG Berlin, Beschluss vom 20. Mai 2020 – S 179 AS 3426/20 ER –, Rn 27 – zitiert nach juris; Groth, aaO, Rn 28; Meßling, aaO, § 2 Rn 32; kritisch zu dieser Argumentation dagegen: Knickrehm in: Gagel, SGB II / SGB III, Stand: 78. Ergänzungslieferung Mai 2020, § 67 SGB II Rn 13, 29).
30
Bei § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II handelt sich um eine unwiderlegbare Fiktion (vgl etwa: Voelzke, jM 2020, 235; Groth, aaO, § 67 Rn 26; Schaumberg, ASR 2020, 128, 134; Meßling, aaO, § 2 Rn 29). Dementsprechend wird diese Vorschrift in der Kommentarliteratur sogar bei exorbitant hohen Unterkunftskosten bzw „Luxusmieten“ für anwendbar gehalten (vgl Köhler in: Hauck/Noftz, aaO, K § 67 Rn 25; Meßling, aaO, § 2 Rn 29; Groth, aaO, § 67 Rn 27; ebenso: Bittner, NZS 2020, 332, 333: „ohne jede Beschränkung in der Höhe, also auch bei sehr hohen Aufwendungen für Luxusimmobilien“). Aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift (tatsächliche Unterkunftskosten als angemessene KdU iSd § 22 Abs 1 SGB II) erfolgt im Rahmen des § 67 Abs 3 SGB II auch keine Begrenzung auf den bei Unschlüssigkeit eines KdU-Konzepts nach der BSG-Rechtsprechung zugrunde zu legenden Hilfsmaßstab (Tabellenwerte nach § 12 Wohngeldgesetz – WoGG - zzgl eines Sicherheitszuschlags iHv 10 %; vgl Harich, aaO, § 67 SGB II Rn 5).
31
Somit steht den Antragstellern für die Zeit vom 1. September 2020 (Einzug in die neue Wohnung) bis zum 31. Januar 2021 (Ablauf des Sechsmonatszeitraums nach § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II bei Beginn des Weiterbewilligungszeitraums am 1. August 2020) ein Anordnungsanspruch hinsichtlich der in ihrer neuen Wohnung anfallenden Bruttokaltmiete iHv 1.300,00 Euro zur Seite. Auch am Vorliegen eines Anordnungsgrunds bestehen keine Zweifel (vgl zum Anordnungsgrund bei einem Streit um laufende KdU: Beschluss des erkennenden Senats vom 28. Januar 2015 - L 11 AS 261/14 B -, NdsRpfl 2015, 183 sowie Breithaupt 2015, 801).
32
Gegen die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der tatsächlichen Bruttokaltmiete für die Zeit vom 1. September 2020 bis 31. Januar 2021 spricht auch nicht, dass die Antragsteller erst jüngst umgezogen sind und über keine Zusicherung nach § 22 Abs 4 SGB II verfügen. Der diesbezügliche Ablehnungsbescheid (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2020) ist noch nicht bestandskräftig. Der Senat kann dem Gesetzeswortlaut des § 67 Abs 3 SGB II oder den Gesetzesmaterialien auch nicht entnehmen, dass diese Sonderregelung nur für bereits seit längerem bewohnte Wohnungen gelten soll. Gesetzeszweck des § 67 Abs 3 SGB II ist, dass sich SGB II-Leistungsbezieher in der Zeit der Pandemie „nicht auch noch um ihren Wohnraum sorgen müssen“ (vgl Gesetzesbegründung, BT-Drs 19/18107, S 25). Kommt es jedoch - wie im vorliegenden Fall - nach einem tatsächlich erfolgten Umzug aufgrund der Deckelung der KdU-Leistungen auf die Angemessenheitsgrenze zu einer Deckungslücke zwischen den anfallenden KdU einerseits und den vom Jobcenter gewährten KdU-Leistungen andererseits, ist die aktuell bewohnte Wohnung bedroht. Diese Bedrohung soll nach § 67 Abs 3 SGB II zumindest vorübergehend, nämlich für die ersten sechs Monate eines in der Zeit vom 1. März bis 31. Dezember 2020 beginnenden Bewilligungszeitraums vermieden werden. Anhaltspunkte für die Zulässigkeit einer vom Wortlaut und von der Gesetzgebungsgeschichte des § 67 SGB II nicht gedeckten restriktiven Auslegung dieser Norm sieht weder der erkennende Senat noch - soweit ersichtlich - die einschlägige Kommentarliteratur (vgl dagegen zur restriktiven Auslegung von § 67 Abs 5 Satz 3 SGB II [Weitergewährung der SGB II-Leistungen für weitere zwölf Monate unter der Annahme unveränderter Verhältnisse], wenn es hierdurch „sehenden Auges“ zu rechtswidrigen Leistungsbewilligungen kommt: Beschluss des erkennenden Senats vom 22. September 2020 – L 11 AS 415/20 B ER – mit umfangreichen weiteren Nachweisen).
33
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners führt die Anwendung von § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II im vorliegenden Fall auch nicht zu einer Modifikation des § 22 Abs 4 SGB II (Erfordernis der Zusicherung bei Umzug in eine neue Wohnung). Vielmehr ergibt sich aus § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II, dass für einen Zeitraum von sechs Monaten die tatsächlichen KdU als angemessen iSd § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II anzusehen sind. Diese vorübergehend, nämlich für die ersten sechs Monate eines zwischen dem 1. März und 31. Dezember 2020 beginnenden Bewilligungszeitraums als angemessen anzusehenden KdU dürften im zeitlichen Anwendungsbereich des § 67 Abs 3 SGB II auch der Entscheidung nach § 22 Abs 4 SGB II zugrunde zu legen sein. Ansonsten würde im Rahmen des § 22 Abs 4 SGB II der Wille des Gesetzgebers konterkariert, die Deckelung der KdU auf die Angemessenheitsgrenze vorübergehend auszusetzen.
34
Die Rückausnahme nach § 67 Abs 3 Satz 3 SGB II ist nicht einschlägig. Für die seit Anfang September 2020 bewohnte Wohnung wurde noch kein Kostensenkungsverfahren durchgeführt, ebenso wenig wie für die bis 31. August 2020 bewohnte Wohnung.
6.
35
Der Senat begrenzt die einstweilige Anordnung in zeitlicher Hinsicht bis zum 31. Januar 2021 (Ablauf des Sechsmonatszeitraums nach § 67 Abs 3 Satz 1 SGB II). Für die Zeit ab 1. Februar 2021 ist derzeit kein Eilbedürfnis erkennbar. Auch endet das laut Mietvertrag nicht verlängerbare Mietverhältnis für die neue Wohnung bereits am 31. März 2021. Vor allem aber liegt die Bruttokaltmiete mit 1.300,00 Euro sowohl über der sich aus dem KdU-Konzept des Antragsgegners ergebenden sog Mietobergrenze von 919,00 Euro als auch oberhalb des bei Unschlüssigkeit eines KdU-Konzepts anzuwendenden Hilfsmaßstabs (Tabellenwert nach § 12 WoGG zzgl 10 % = 1.115,00 Euro für eine Wohnung der Mietenstufe III für acht Haushaltsmitglieder). Eine weitere Übernahme der vollen Bruttokaltmiete kommt somit für die Zeit ab 1. Februar 2021 angesichts der ab diesem Zeitpunkt anzuwendenden Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 1 SGB II nicht mehr in Betracht.
7.
36
Die Verpflichtung zur Übernahme der Bruttokaltmiete iHv 1.300,00 Euro für die Monate September 2020 bis Januar 2021 erfolgt lediglich vorläufig, dh vorbehaltlich der Entscheidung in der Hauptsache. Der Antragsgegner gewährt derzeit lediglich vorläufige Leistungen nach § 41a SGB II, so dass die endgültige Entscheidung im Rahmen der abschließenden Feststellung nach § 41a Abs 3ff SGB II erfolgt.
37
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Teilerfolg der Antragsteller.
38
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren wird gemäß § 73a SGG iVm § 118 Abs 2 Satz 4 ZPO abgelehnt. Zur Begründung wird auf den Beschluss des Senats vom heutigen Tag im Verfahren L 11 AS 509/20 B verwiesen.
39
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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Tenor
1. Der Körperschaftsteuerbescheid 2010 vom 05.11.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.09.2017 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
4. Die Revision wird zugelassen.
1Tatbestand
2Streitig ist die Nichtanerkennung der ertragsteuerlichen Organschaft zwischen der Klägerin als Organgesellschaft und der B-GmbH als Organträgerin im Jahr 2010 (Streitjahr).
3Die Klägerin wurde mit Gesellschaftsvertrag vom 28.05.2008 gegründet. Im Streitjahr entsprach ihr Wirtschaftsjahr dem Kalenderjahr.
4Alleingesellschafter der Klägerin war zunächst C. Dieser war zudem mit einem Anteil in Höhe von jeweils 70 % an der D-GmbH & Co. KG (D-KG) als Kommanditist sowie an deren Komplementär-GmbH als Gesellschafter beteiligt. Die übrigen 30 % an diesen beiden Gesellschaften hielt die Klägerin als Kommanditistin bzw. Gesellschafterin.
5Mit Vertrag vom 01/2010 brachte C seine Kommanditbeteiligung an der D-KG sowie seine Geschäftsanteile an der Komplementär-GmbH rückwirkend zum 01.01.2010, 0:00 Uhr, zu Buchwerten in die Klägerin ein. Ebenfalls mit Vertrag vom 01/2010 wurde die B-GmbH durch C gegründet. Er erbrachte die Stammeinlage durch die Einbringung seiner Geschäftsanteile an der Klägerin. Die Einbringung der Geschäftsanteile an der Klägerin erfolgte mit wirtschaftlicher Wirkung zum 01/2010 (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 von Teil B der Gründungsurkunde bzgl. der B-GmbH). Schließlich wurde ebenfalls am 01/2010 zwischen der B-GmbH und der Klägerin ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag abgeschlossen, der in 2010 ins Handelsregister eingetragen worden ist. Nach § 3 Abs. 3 dieses Vertrages gilt die Verpflichtung zur Gewinnabführung erstmals für den gesamten Gewinn des Geschäftsjahres, in dem dieser Vertrag wirksam wird. Wegen der weiteren Regelungen des Vertrags wird auf den Gewinnabführungsvertrag Bezug genommen.
6Zwischen C und der Klägerin bestand zuvor keine Organschaft.
7Bei der Klägerin fand eine steuerliche Außenprüfung statt. Die Prüferin erkannte für das Streitjahr die Organschaft nicht an, da der maßgebliche Zeitpunkt für die Organschaft beim Anteilstausch der Beginn des auf die Einbringung folgenden Wirtschaftsjahres sei.
8Den Feststellungen der Prüferin folgend änderte der Beklagte die Körperschaftsteuerfestsetzung 2010 mit auf § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) gestütztem Bescheid vom 05.11.2015 und setzte die Körperschaftsteuer in Höhe von 713.705 € fest. Dabei wurde die erfolgte Gewinnabführung an die B-GmbH [...] als Gewinnausschüttung qualifiziert. Zugleich wurde der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben.
9Hiergegen wandte sich die Klägerin mit dem Einspruch, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 19.09.2017 als unbegründet zurückwies. Aufgrund der erst im Kalenderjahr 2010 erfolgten Gründung der B-GmbH sei eine Begründung der erforderlichen finanziellen Eingliederung der Klägerin bereits zum 01.01.2010 unmöglich. Im Falle eines Anteilstauschs greife keine steuerliche Rückwirkung, die eine Zurechnung der Beteiligung an der Klägerin auf den 01.01.2010 begründe. Eine Organschaft zwischen der übernehmenden Gesellschaft und der erworbenen Gesellschaft könne frühestens ab dem Beginn des auf die Einbringung folgenden Wirtschaftsjahres der erworbenen Gesellschaft begründet werden, vorliegend also erst ab dem 01.01.2011 (vgl. BMF, Schreiben vom 11.11.2011, Bundessteuerblatt – BStBl – I 2011, S. 1314, „Umwandlungssteuererlass“, Org.15).
10Mit der Klage begehrt die Klägerin die Anerkennung der ertragsteuerlichen Organschaft. Die Klägerin sei trotz der erst im laufenden Kalenderjahr 2010 erfolgten Gründung der Organträgerin finanziell eingegliedert gewesen. Richtig sei, dass ein Anteilstausch nach § 21 des Umwandlungssteuergesetzes (UmwStG) nicht mit gesetzlich statuierter Rückwirkung erfolgen könne. Darauf komme es jedoch nicht an. Entscheidend sei, dass die B-GmbH als übernehmende Gesellschaft steuerrechtlicher Rechtsnachfolger des einbringenden C geworden sei, letztlich also seine seit dem Jahr 2008 bestehende unmittelbare Beteiligung an der Klägerin als solche fortgeführt werde. Aufgrund der Rechtsnachfolge werde der B-GmbH als übernehmender Gesellschaft zum 01.01.2010 die schon bestehende tatsächliche finanzielle Eingliederung der Klägerin zu C zugerechnet. Auch vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Voraussetzungen bei einer unmittelbaren Organschaft und einer mittelbaren Organschaft liege im Streitfall am 01.01.2010 eine finanzielle Eingliederung der Klägerin die B-GmbH vor. Denn während § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) für den Grundfall der unmittelbaren Organschaft fordere, dass der Organträger an der Organgesellschaft von Beginn ihres Wirtschaftsjahres an ununterbrochen in dem dort genannten Ausmaß beteiligt sein müsse, fehle in dem Satz 2 der Vorschrift für die Beteiligung der vermittelnden Gesellschaft an der Organgesellschaft eine entsprechende Aussage. Bei einer mittelbaren Organschaft komme es darauf an, dass der Organträger über seine Beteiligung an der vermittelnden Gesellschaft ununterbrochen seit Beginn des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft an der Organgesellschaft beteiligt sei. Ob der Organträger seine Beteiligung an der vermittelnden Gesellschaft unterjährig erworben habe, spiele keine Rolle. Dies ermögliche – ohne Bildung eines Rumpf-Wirtschaftsjahres – eine steuerunschädliche Verlängerung oder Verkürzung der Beteiligungskette zwischen Organträger und Organgesellschaft. Es sei daher unschädlich, wenn wie im Streitfall eine unmittelbare Mehrheitsbeteiligung in eine mittelbare wechsele.
11Die Klägerin beantragt,
121. den Körperschaftsteuerbescheid 2010 vom 05.11.2015 in Gestalt der Ein-spruchsentscheidung vom 19.09.2017 aufzuheben,
132. hilfsweise, die Revision zuzulassen,
143. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig
15zu erklären.
16Der Beklagte beantragt,
17 1. die Klage abzuweisen,
18 2. hilfsweise, die Revision zuzulassen.
19Die Voraussetzung der finanziellen Eingliederung sei ein tatsächliches Merkmal der Organschaft. Dieses Merkmal sei einer Rückbeziehung oder Rechtsnachfolge nicht zugänglich, da es sonst rechtlich überlagert würde. Der Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KStG („vom Beginn des Wirtschaftsjahres an“) sei eindeutig. Die Aussage, dass § 12 Abs. 3 Hs 1 UmwStG für jegliche Gewinnermittlungsvorschriften und damit auch für die körperschaftsteuerlichen Organschaftsvoraussetzungen gelte, treffe nicht zu. Die Rechtsnachfolge sei bezüglich der Organschaftsvoraussetzungen, insbesondere bezüglich des Merkmals der finanziellen Eingliederung, einschränkend auszulegen. Letzteres beziehe sich auf die jeweilige Person des Eingegliederten. Es sei damit höchstpersönlich und nicht rechtsnachfolgefähig. Dies gebiete auch der Zweck des § 14 KStG. Mit dieser Vorschrift werde das für das Körperschaftsteuerrecht prägende Merkmal des Trennungsprinzips durchbrochen. Ließe man die Nachfolge in die finanzielle Eingliederung zu, gäbe man das Trennungsprinzip preis. Die Ausnahme des § 14 KStG sei damit rechtfertigungsbedürftig und als Abweichung vom gesetzgeberisch intendierten Normalfall eng auszulegen. Das Merkmal der finanziellen Eingliederung erfordere, dass der Organträger in der Organgesellschaft seinen Willen durchsetzen könne. Damit seien tatsächliche Verhältnisse ausschlaggebend. Eine fiktive Rückbeziehung sei damit nicht möglich. Die Rückwirkungsfiktion des § 2 Abs. 1 i.V.m. § 20 Abs. 7 und 8 UmwStG 1995 beim Anteilstausch gelte seit der UmwStG-Novelle durch das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) nicht mehr. Der Gesetzgeber habe also bewusst von einer Rückwirkung Abstand genommen. Schließlich habe die Finanzverwaltung insoweit auch ihre Auffassung geändert (UmwSt-Erlass vom 25.03.1998, BStBl I 1998, 268, Rn. Org. 08 i.V.m. Org. 04).
20Das Gericht hat die Steuerakten zum Verfahren beigezogen. Auf den übersandten Verwaltungsvorgang und auf die Schriftsätze der Beteiligten wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.
21Entscheidungsgründe
22Die Klage ist begründet.
23Der Körperschaftsteuerbescheid 2010 vom 05.11.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.09.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Zu Unrecht nimmt der Beklagte an, dass zwischen der Klägerin und der B-GmbH im Streitjahr keine Organschaft bestand.
24Zwischen den Beteiligten herrscht Einigkeit darüber, dass die Voraussetzungen für eine Organschaft mit Ausnahme der hier umstrittenen finanziellen Eingliederung erfüllt sind. Entgegen der Ansicht des Beklagten war die Klägerin auch im Streitjahr finanziell eingegliedert.
25Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 KStG muss der Organträger an der Organgesellschaft vom Beginn des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft an ununterbrochen in einem solchen Maße beteiligt sein, dass ihm die Mehrheit der Stimmrechte aus den Anteilen an der Organgesellschaft zusteht (finanzielle Eingliederung).
26Wird bei Umwandlung das Organschaftsverhältnis mit dem übernehmenden Rechtsträger fortgesetzt oder eine Organschaft neu begründet, ist hinsichtlich des Erfordernisses der ununterbrochen bestehenden finanziellen Eingliederung der Organgesellschaft streitig, ob auch in Bezug auf den übernehmenden Rechtsträger die finanzielle Eingliederung (fort)besteht, wenn die Umwandlung während des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft erfolgt.
27Für den hier vorliegenden Fall des Anteilstausch nach § 21 UmwStG, bei dem nach dem SEStEG eine steuerliche Rückwirkung ausscheidet, weil § 21 Abs. 2 Satz 6 UmwStG nicht auch die Normen des § 20 Abs. 5 und Abs. 6 UmwStG für anwendbar erklärt, vertritt die Verwaltung die Auffassung, eine Organschaft könne bei einer unterjährigen Einbringung (und ohne Umstellung des Wirtschaftsjahres) nur im Folgejahr begründet werden [Umwandlungssteuererlass, Org. 15; ebenso:. Dötsch in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer, UmwStG Anh. 1, Rz. 37 (Januar 2017); anders noch: Dötsch, GmbHR 2012, S. 175 (177)].
28Diese Auffassung wird von der Literatur kritisiert [vgl. Walter in: Bott/Walter, KStG, § 14 Rn. 366 (Stand: Juni 2020); Widmann in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, Org. 15 (Stand: Januar 2017); Frotscher, KStG/GewStG/UmwStG, UmwStE 2011, Anm. zu Org 08; Beinert/M.Marx in Prinz/Witt, Steuerliche Organschaft, 2. Aufl., Rn. 12.65; Neumann in: Gosch, KStG, 4. Aufl. 2020, § 14 Rn. 159b; Blumenberg/Lechner, DB Beilage zu Heft 1/2012, S. 57 (61); Heinsen/Benzler, Ubg 2011, 442 (445 f.); Heurung/Engel/Thiedemann, Der Konzern 2012, S. 16 (20); Kröner, BB-Special 1.2011, S. 24 (26); Rödder, DStR 2011, S. 1053 (1056 f.)]. Nach Auffassung der Literatur ist auch im Rahmen eines unterjährigen Anteilstauschs eine nahtlose finanzielle Einbringung möglich. Die Literatur stützt ihre Auffassung im Kern auf zwei Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28.07.2010 (I R 89/09, BStBl II 2011, 528 und I R 111/09, Sammlung der Entscheidungen des BFH – BFH/NV– 2011, 67). In diesen Fällen hat der BFH entschieden, dass die Ausgliederung einer Mehrheitsbeteiligung mit nachfolgender erstmaliger Begründung einer Organschaft möglich ist, wenn seit dem Beginn des Wirtschaftsjahres eine finanzielle Eingliederung zunächst zum übertragenden Rechtsträger und anschließend zum übernehmenden Rechtsträger besteht und dieses Erfordernis bis zum Ende des Wirtschaftsjahres aufrechterhalten bleibt. Grund hierfür sei § 12 Abs. 3 Satz 1 (i.V.m. § 22 Abs. 1 und § 4 Abs. 2 Satz 3) UmwStG 1995, wonach im Falle der Kapitaleinbringung die übernehmende Körperschaft in die steuerliche Rechtsstellung der übertragenden Körperschaft eintritt. Das gelte für jegliche Gewinnermittlungsvorschriften und damit auch für die körperschaftsteuerlichen Organschaftsvoraussetzungen. Die Rechtsnachfolge der übernehmenden Körperschaft in die Position der übertragenden Körperschaft sei eine umfassende (sog. Fußstapfentheorie).
29Der Senat schließt sich im Ergebnis der Auffassung der Literatur an. Aus Sicht des Senats weist die Literatur zutreffend darauf hin, dass die Verwaltungsauffassung nicht mit den zuvor genannten Urteilen des BFH vereinbar ist. Denn trotz des fehlenden Bezugs in § 21 Abs. 1 UmwStG auf § 20 Abs. 5 und 6 UmwStG ist das Vorliegen der finanziellen Eingliederung ab Beginn des Wirtschaftsjahres der Organgesellschaft nach der Argumentation des BFH möglich, da dieser sich nicht auf die steuerliche Rückwirkung, sondern auf die umwandlungssteuerrechtliche Rechtsnachfolge des Übernehmers in die zum Überträger bestehende finanzielle Eingliederung bezieht. Die inzwischen nicht mehr mögliche steuerliche Rückwirkung des reinen Anteilstauschs selbst ändert daran nichts, da für die Einbringung unter dem gemeinen Wert § 23 Abs. 1 UmwStG auf die unverändert geltenden § 12 Abs. 3 Halbsatz 1 und § 4 Abs. 2 Satz 3 UmwStG verweist und folglich der Übernehmer in die Rechtsstellung des Überträgers eintritt.
30Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundsätze geht der Senat mit der Klägerin davon aus, dass der B-GmbH als übernehmende Gesellschaft und Rechtsnachfolgerin von C für die Zeit vom 01.01-14.01.2010 dessen finanzielle Eingliederung zur Klägerin im Wege der Rechtsnachfolge zugerechnet wird. Folglich bestand vorliegend von Beginn bis Ende des Wirtschaftsjahres der Klägerin eine ununterbrochene finanzielle Eingliederung.
31Der Senat verkennt dabei nicht, dass sich der vorliegende Fall von den zuvor genannten BFH-Fällen in der Weise unterscheidet, dass dort (I R 89/09) die Gründung (Ausgliederung) und Einbringung der Gesellschaft mit umwandlungssteuerlicher Rückwirkung zu Beginn des Wirtschaftsjahres erfolgte bzw. (I R 111/09) die Beteiligung mit steuerlicher Rückwirkung zum Ende des Vorjahres eingebracht wurde, so dass aufgrund dieser umwandlungssteuerlichen Rückwirkung eine finanzielle Eingliederung für das gesamte Wirtschaftsjahr zu einem das ganze Jahr schon existierenden Rechtsnachfolger möglich war. Wegen der zuvor zitierten Ausführungen des BFH in den Entscheidungsgründe der beiden Urteile sieht der Senat diese tatsächlichen Unterschiede jedoch als unerheblich an, auch wenn diese Auffassung dazu führen kann, dass eine finanzielle Eingliederung zeitgleich zu mehreren Gesellschaften bzw. Personen vorliegen kann (hier in der Zeit vom 01.01-[...].01.2010: Finanzielle Eingliederung zu C als tatsächlichen Inhaber der Anteile und zugleich zu der B-GmbH als Rechtsnachfolgerin).
32Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
33Die Entscheidung über die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren beruht auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO.
34Die Zulassung der Revision folgt aus §115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
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Tenor
Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt U. aus P. wird abgelehnt.
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, zu je 1/6.
Gründe:
1I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachstehend bezeichneten Gründen – schon zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
2II. Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. In Verfahren, auf die - wie hier - das Asylgesetz (AsylG) Anwendung findet, ist die Berufung nur zuzulassen, wenn einer der in § 78 Abs. 3 AsylG aufgeführten Zulassungsgründe geltend gemacht und den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt wird. Daran fehlt es hier.
31. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
4Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung des Streitfalls im Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft. Die Darlegung dieses Zulassungsgrundes setzt die Formulierung einer bestimmten, noch nicht geklärten und für die Rechtsmittelentscheidung erheblichen Frage und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll. Eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insoweit ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, durch die Benennung von bestimmten begründeten Informationen, Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.
5Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. Juli 2018 - 9 A 2789/17.A -, juris Rn. 4 f. m. w. N.
6Diesen Anforderungen genügt die Antragsbegründung nicht.
7Die Kläger werfen dort als grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage auf,
8ob „für Yeziden, die aus den kurdischen Autonomiegebieten stammen und dorthin wieder zurückkehren sollen, dort die wirtschaftlichen Voraussetzungen bzw. eine wirtschaftliche Existenzsicherung als gegeben anzusehen“ sind.
9Zur Begründung verweisen die Kläger in der Antragsbegründung vom 26. Februar 2018 sowie in den ergänzenden Schriftsätzen vom 25. Oktober 2019 und vom 2. April 2020 insbesondere auf die allgemeine Lage von Yeziden im Irak, die angespannte wirtschaftliche Lage in der Autonomen Region Kurdistan und die dortige Situation für Binnenflüchtlinge sowie auf gerichtliche Entscheidungen, in denen davon ausgegangen wird, dass der/die betreffende/n Kläger bei einer Rückkehr in die Autonome Region Kurdistan das lebensnotwendige Existenzminimum nicht sichern kann/können. Sie meinen, dass jedem Rückkehrer ‑ zumal jedem yezidischen ‑ wegen der humanitären, politischen und wirtschaftlichen Lage in der Autonomen Region Kurdistan dort eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung drohe. Bei verständiger Würdigung dieser Ausführungen zielt die aufgeworfene Frage mithin auf die Klärung der Frage, ob Yeziden, die aus den kurdischen Autonomiegebieten stammen, bei einer Rückkehr dorthin wegen der dort herrschenden allgemeinen humanitären Verhältnisse derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht, so dass ihnen unionsrechtlicher oder nationaler Abschiebungsschutz zu gewähren ist. Die Kläger wollen mithin geklärt wissen, ob generell jedem Yeziden, der aus der Autonomen Region Kurdistan stammt, bei einer Rückkehr dorthin eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, weil eine Sicherung des Existenzminimums nicht möglich ist.
10Hierfür bedarf es jedoch nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens. Die Frage ist zu verneinen. Zwar ist die Lage für yezidische Rückkehrer (auch) in der Autonomen Region Kurdistan in der Regel schwierig, es bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Existenzsicherung dort für zurückkehrende Yeziden generell unmöglich ist und Abschiebungen deshalb ausnahmslos unzulässig sind. Ob wegen schlechter humanitärer Verhältnisse ein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes bzw. auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK besteht, hängt von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Bei der erforderlichen einzelfallbezogenen Würdigung sind neben der Bewertung der tatsächlichen Lage in der Autonomen Region Kurdistan zahlreiche weitere Faktoren zu berücksichtigen, etwa das Alter des Rückkehrers, Geschlecht, Bildungsstand, Gesundheitszustand, Familienanschluss und mögliche bzw. zu erwartende Unterstützungsleistungen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Antragsbegründung und den dort genannten Erkenntnisquellen.
11Die Antragsbegründung setzt sich schon nicht hinreichend mit den rechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von subsidiären Schutz bzw. Abschiebungsschutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK auseinander. Insoweit ist in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK anerkannt, dass ‑ nur ‑ in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung Art. 3 EMRK verletzen. Eine Abschiebung kann danach Art. 3 EMRK verletzen, wenn humanitäre Gründe „zwingend“ gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Die im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein Mindestmaß an Schwere aufweisen.
12Vgl. zu den Maßstäben ausführlich OVG NRW, Urteil vom 28. August 2018 ‑ 9 A 4590/18.A ‑, juris Rn. 152 ff. und 161 ff. m. w. N.
13Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere kann erreicht sein, wenn Rückkehrer ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten.
14Vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 ‑ 1 C 45.18 ‑, juris Rn. 12, und Beschluss vom 8. August 2018 ‑ 1 B 25.18 ‑, juris Rn. 11.
15Anhaltspunkte dafür, dass dieses Mindestmaß an Schwere in allen Fällen der in die Autonome Region Kurdistan zurückkehrenden Yeziden erreicht würde, zeigt die Antragsbegründung mit den angeführten Erkenntnisquellen nicht auf.
16Zunächst führen insoweit die allgemeinen Ausführungen zur Lage von Yeziden im Irak sowie zur politisch-wirtschaftlichen Lage in der Autonomen Region Kurdistan und zur dortigen Situation für Binnenflüchtlinge nicht weiter. Ihnen lässt sich nicht entnehmen, dass es für aus der Autonomen Region Kurdistan stammende Yeziden wie die Kläger derzeit generell unmöglich ist, dort ihren existenziellen Lebensunterhalt zu sichern. Zudem betreffen die Ausführungen in weiten Teilen zum einen die Lage in der Region Sindjar, auf die es vorliegend aber nicht ankommt, und zum anderen die ‑ inzwischen veränderte ‑ Situation vor der weitgehenden territorialen Zurückdrängung des IS im Irak. In Bezug auf die Autonome Region Kurdistan hat sich die tatsächliche Lage inzwischen insbesondere insoweit verändert, als sich die Zahl der Binnenvertriebenen in dieser Region deutlich verringert hat. Von den ca. 6 Millionen durch den IS vertriebenen Binnenflüchtlingen sind ca. 4,3 Millionen in ihre Herkunftsorte zurückgekehrt; ca. 800.000 Binnenvertriebene halten sich noch in der Autonomen Region Kurdistan auf.
17Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: März 2020) vom 2. März 2020, S. 5 und 24.
18Auch das in der Antragsbegründung in Teilen wiedergegebene, offenbar nicht veröffentlichte Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 7. Juni 2017 - 3 A 3818/16 - betrifft die frühere Lage in der Autonomen Region Kurdistan. In der Entscheidung ist – so die Antragsbegründung - ausgeführt, dass die humanitäre Lage in der Autonomen Region Kurdistan „sehr schwierig“ sei. Die Region leide „zusätzlich zur herrschenden Wirtschaftskrise unter der großen Anzahl an aufgenommenen Binnenvertriebenen“; es hielten sich „derzeit über 11 Millionen Binnenvertrieben[e] in der Region“ auf. Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht Oldenburg den Anspruch auf Abschiebungsschutz im konkreten Fall ausdrücklich aufgrund einer einzelfallbezogenen Sachverhaltswürdigung wegen der „besonderen Verletzlichkeit“ der dortigen Kläger und der „besonderen individuellen Lage“ (keine familiären Bindungen [in der Herkunftsregion] mehr, keine Unterkunft, keine Ausbildung, „kleine“ Kinder in der Familie, Yeziden, Zuflucht in einem der überfüllten Flüchtlingslager nicht zumutbar) bejaht, nicht aber festgestellt, dass Yeziden generell ihren existenziellen Lebensunterhalt in der Autonomen Region Kurdistan nicht sichern können.
19Entsprechendes gilt für das von den Klägern weiter benannte Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 30. August 2017 - 3 K 8329/16.A - (veröffentlicht in juris). Das Verwaltungsgericht Köln hat - bereits zum damaligen Zeitpunkt - sogar ausdrücklich ausgeführt, dass die humanitären Bedingungen im Irak bzw. in Kurdistan nicht in einem Maße defizitär seien, dass mit ihnen generell - unabhängig von der konkreten Situation des Einzelnen - eine unmenschliche Behandlung und entsprechend eine Verletzung des Art. 3 EMRK einherginge (juris Rn. 27). Im besonderen Einzelfall der Kläger lägen jedoch außerordentliche individuelle Umstände (Gesundheitszustand des Klägers zu 1. und familiäre Gesamtsituation der Kläger) vor, so dass davon auszugehen sei, dass ihnen im Falle einer Rückkehr eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe (juris Rn. 29 und 40).
20Aus den mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2019 angesprochenen, vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeholten Auskünften des UNHCR (Informationen zur Situation vertriebener Jesiden in der Region Kurdistan-Irak, Stand Anfang Oktober 2018) sowie des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 25. Mai 2018 ergeben sich ebenfalls keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass aus der Autonomen Region Kurdistan stammende Yeziden dort generell nicht in der Lage sind, ihren existenziellen Lebensunterhalt zu sichern. Denn die Auskünfte betreffen die Lage von Yeziden aus ehemals vom IS besetzten Gebieten, die von dort in die Autonome Region Kurdistan geflohen sind (Binnenflüchtlinge bzw. Internally Displaced Persons - IDPs), und zwar namentlich die Fragen, welche Möglichkeiten für diesen Personenkreis bestehen, in der Autonomen Region Kurdistan eine Unterkunft zu finden, wie die Verhältnisse für IDPs in Lagern sind, ob sie Unterstützungsleistungen erhalten und wie sich für sie die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt darstellen. Die Kläger stammen nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die mit dem Zulassungsantrag nicht angegriffen worden sind, jedoch aus der Ortschaft Khanik in der Provinz Dohuk der Autonomen Region Kurdistan; sie wären bei einer Rückkehr dorthin keine Binnenflüchtlinge. Die Situation von Personen, die ‑ wie die Kläger ‑ aus der Autonomen Region Kurdistan stammen und insbesondere dort registriert sind, unterscheidet sich aber regelmäßig von der Lage von Binnenflüchtlingen, die nach den genannten Auskünften in besonderem Maße auf humanitäre Unterstützung angewiesen sind. Binnenflüchtlinge sind danach in vielen Bereichen - wie etwa Unterkunft, Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Bildungssystem und zu medizinischer Versorgung ‑ mit Schwierigkeiten konfrontiert und in der Versorgung mit dem Lebensnotwendigsten auf die Hilfe Dritter angewiesen.
21Vgl. hierzu auch OVG NRW, Urteil vom 28. August 2018 ‑ 9 A 4590/18.A ‑, juris Rn. 182 f. m. w. N.
22Zu dieser besonders gefährdeten Personengruppe der IDPs gehören die Kläger aber nicht. Soweit die genannten Auskünfte darauf hinweisen, dass die gesamtwirtschaftliche Lage in der Autonomen Region Kurdistan „insgesamt als sehr schwach“ beschrieben werde und dass sich die allgemeine Armutsrate durch den Zustrom von Flüchtlingen (syrische Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge) deutlich erhöht habe, lässt sich daraus zwar ableiten, dass die Existenzsicherung für die dortige Bevölkerung schwierig sein kann, nicht aber, dass sie generell unmöglich ist.
23Auch die im weiteren Schriftsatz der Kläger vom 2. April 2020 benannten Beispiele betreffen lediglich Einzelfälle besonders vulnerabler Personen, enthalten aber keine generelle Feststellung, dass aus der Autonomen Region Kurdistan stammende Yeziden bei einer Rückkehr dorthin ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können.
242. Die Berufung ist auch nicht wegen der weiter geltend gemachten Verfahrensmängel gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 VwGO zuzulassen.
25a) Die Kläger rügen zunächst, dass das Verwaltungsgericht ihren in der Klageschrift vom 22. Juli 2016 angekündigten und in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 9. Januar 2018 so auch gestellten Sachantrag unter Berücksichtigung ihrer Ausführungen in der weiteren Klagebegründung vom 22. November 2017 dahingehend hätte auslegen müssen, dass auch (weiter hilfsweise) die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5
26AufenthG beantragt worden sei, und sodann über diesen Antrag in dem angegriffenen Urteil hätte entscheiden müssen. Damit wird jedoch kein im asylrechtlichen Berufungszulassungsverfahren rügefähiger Verfahrensmangel dargelegt. Zwar entspricht es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
27vgl. hierzu zuletzt: BVerwG, Urteil vom 21. November 2006 - 1 C 10.06 -, BVerwGE 127, 161, juris Rn. 12; weitere Nachweise im Beschluss des Senats vom 8. Mai 2018 - 9 A 1434/18.A -, juris Rn. 10 ff.,
28der typischen Interessenlage des im Verwaltungsverfahren unterlegenen Asylsuchenden, sein dem Verwaltungsgericht unterbreitetes Rechtsschutzersuchen, wenn es nicht ausnahmsweise - was hier aber nicht der Fall war - deutlich erkennbar eingeschränkt sein sollte, in Anwendung von §§ 86 Abs. 3, 88 VwGO sachdienlich umfassend - und zwar in dem aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgenden Rangverhältnis – auszulegen. Dementsprechend hätte vorliegend das Verwaltungsgericht den weiteren Hilfsantrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG als vom Klageantrag mit umfasst ansehen und sodann im Urteil hierüber entscheiden müssen. Jedoch stellt diese Verletzung von §§ 86 Abs. 3, 88 VwGO durch das Verwaltungsgericht keinen im asylrechtlichen Berufungszulassungsverfahren rügefähigen Verfahrensmangel i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 VwGO dar.
29Vgl. hierzu: OVG NRW, Beschluss vom 8. Mai 2018
30- 9 A 1434/18.A -, juris Rn. 26 ff.
31Ein hier allenfalls in Erwägung zu ziehender Gehörsverstoß (§ 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor. Denn das Verwaltungsgericht hat den in der Klageschrift vom 22. Juli 2016 angekündigten und in der mündlichen Verhandlung am 9. Januar 2018 unter Bezugnahme darauf so auch gestellten Sachantrag ausweislich des Tatbestandes des angegriffenen Urteils zur Kenntnis genommen und in den Entscheidungsgründen auch beschieden. Damit scheidet ein Gehörsverstoß aber aus. Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG soll nämlich nur sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Beteiligten haben. Er bietet jedoch keinen Schutz gegen Entscheidungen, die das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lassen.
32Vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Februar 1996 - 9 B 418.95 -, NJW 1996, 1553, juris Rn. 5; Neu-mann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, Kommentar zur VwGO, 5. Auflage, 2018, § 138 Rn. 115 ff.
33Letzteres war hier aber der Fall, weil das Verwaltungsgericht nach seiner - insoweit maßgeblichen - Sicht den von den Klägern gestellten Klageantrag wörtlich verstanden und nicht in Anwendung von §§ 86 Abs. 3, 88 VwGO umfassend ausgelegt hat.
34b) Soweit die Kläger darüber hinaus einen Gehörsverstoß (Zulassungsgrund gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) darin sehen, dass das Verwaltungsgericht ihre Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK in Bezug auf die humanitäre Lage in der Autonomen Region Kurdistan unberücksichtigt gelassen hat, führt auch dieses Vorbringen nicht auf eine Versagung des rechtlichen Gehörs. Denn nach dem unter a) aufgezeigten - insoweit maßgeblichen - Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts kam es auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK in Bezug auf die humanitäre Lage in der Autonomen Region Kurdistan nicht entscheidungserheblich an, da die Kläger nach der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts keinen weiteren Hilfsantrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5AufenthG gestellt hatten.
35c) Zudem führt auch die (sinngemäß erhobene) Rüge, das Verwaltungsgericht hätte in Bezug auf die Frage nach der Versorgungslage für Yeziden, die aus der Autonomen Region Kurdistan stammen und dorthin zurückkehren, den Sachverhalt weiter ermitteln müssen, nicht zur Zulassung der Berufung. Etwaige Verstöße gegen die Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO gehören nämlich schon nicht zu den in § 138 VwGO genannten Verfahrensfehlern.
363. Soweit die Kläger schließlich meinen, es sei nicht nachvollziehbar, dass das Verwaltungsgericht angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Lage in der Autonomen Region Kurdistan zu der Einschätzung gelangt sei, es sei nicht ersichtlich, dass es der Klägerin zu 1. und ihrem damals 37 Jahre alten und gesundheitlich nicht eingeschränkten Ehemann im Falle einer Rückkehr der Familie in den Irak nicht möglich sein sollte, eine existenzsichernde Grundlage zu schaffen, wie ihnen dies auch bis zu ihrer Ausreise möglich gewesen sei (vgl. Seite 13 der Urteilsabschrift), wenden sie sich gegen die einzelfallbezogene Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Die entzieht sich aber zum einen einer grundsätzlichen Klärung i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. Zum anderen sind (etwaige) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung regelmäßig nicht dem Verfahrens-, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und können deshalb grundsätzlich keinen Verfahrensmangel i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO begründen.
37Vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995 ‑ 9 B 710.94 -, NVwZ-RR 1996, 359.
38Für einen ggf. in Betracht kommenden Ausnahmefall im Sinne des vorzitierten Beschlusses, der offen lässt, ob bei Willkür eine andere Beurteilung angezeigt sein könnte, haben die Kläger nichts dargelegt. Hierfür ist im Übrigen auch nichts ersichtlich.
39Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1 ZPO sowie § 83b AsylG.
40Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 28. September 2020 - 4 K 3113/20 - geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Tagesordnungspunkt 16 „Aufnahme von geflüchteten Menschen aus Griechenland (u.a. Aufnahmelager Moria, Insel Lesbos)“ der Sitzung des Gemeinderats der Stadt Freiburg vom 29.09.2020 von der Tagesordnung abzusetzen.Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1 1. Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat in der Sache Erfolg. Die vom Antragsteller in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat grundsätzlich beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), geben dem Senat Veranlassung, den angefochtenen Beschluss zu ändern und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Tagesordnungspunkt 16 „Aufnahme von geflüchteten Menschen aus Griechenland (u.a. Aufnahmelager Moria, Insel Lesbos)“ der Sitzung des Gemeinderats der Stadt Freiburg vom 29.09.2020 von der Tagesordnung abzusetzen.2 Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO.3 a) Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO, sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Verhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO, sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist, dass sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch vorliegen. Deren tatsächliche Voraussetzungen müssen zwar nicht zur Überzeugung des Gerichts feststehen, aber hinreichend wahrscheinlich („glaubhaft“) sein (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO)4 Ein Anordnungsgrund besteht, wenn eine vorläufige gerichtliche Entscheidung erforderlich ist, weil ein Verweis auf das Hauptsacheverfahren aus besonderen Gründen nicht zumutbar ist. Ein Anordnungsanspruch liegt vor, wenn der Antragsteller in der Hauptsache bei summarischer Prüfung voraussichtlich Erfolg haben wird.5 b) Der Anordnungsanspruch des Antragstellers ergibt sich aus § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO. Nach dieser Vorschrift beruft der Bürgermeister den Gemeinderat schriftlich oder elektronisch mit angemessener Frist ein und teilt rechtzeitig, in der Regel mindestens sieben Tage vor dem Sitzungstag die Verhandlungsgegenstände mit; dabei sind die für die Verhandlung erforderlichen Unterlagen beizufügen, soweit nicht das öffentliche Wohl oder berechtigte Interessen Einzelner entgegenstehen. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass bei der Aufnahme von Tagesordnungspunkt 16 auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung des Gemeinderats der Stadt Freiburg die Vorschrift des § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO verletzt worden ist.6 aa) Auf eine Verletzung von § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO kann sich der Antragsteller berufen. Ihm steht daher eine Antragsbefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO analog zu. Denn er macht die Verletzung seines organschaftlichen Rechts auf ordnungsgemäße Einberufung der Gemeinderatssitzung geltend. § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO ist eine Schutznorm zugunsten des einzelnen Gemeinderats (vgl. Senat, Urteil vom 25.03.1999 - 1 S 2059/98 - juris).7 bb) Der Anspruch richtet sich im körperschaftsinternen Organstreit gegen dasjenige Organ bzw. Organteil, dem die behauptete Kompetenz- oder Rechtsverletzung anzulasten wäre. Dies ist hier der Antragsgegner, da die Pflichten aus § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO ihn treffen.8 cc) § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO dient einer angemessenen Unterrichtung des einzelnen Gemeinderats über die anstehende Gemeinderatssitzung, um eine wirksame Ausübung der Rechte der einzelnen Gemeinderäte auf Beratung und Abstimmung über die Gegenstände anstehender Ratsentscheidungen sicherzustellen. Nur auf einer hinreichenden Informationsgrundlage können sich die Mitglieder des Gemeinderats eine jedenfalls vorläufige Meinung über die einzelnen Tagesordnungspunkte bilden, sich gegebenenfalls mit anderen Gemeinderäten hierüber beraten und abstimmen und ihre Auffassung wirksam in den Entscheidungsprozess im Gemeinderat einbringen. Daher sind die Tagesordnung und die erforderlichen Sitzungsunterlagen rechtzeitig, in der Regel sieben Tage vor dem Sitzungsbeginn den Gemeinderäten mitzuteilen.9 Eine Unterschreitung der gesetzlichen Regelfrist von sieben Tagen vor dem Sitzungsbeginn des Gemeinderates ist - wovon auch die Beteiligten und das Verwaltungsgericht zutreffend ausgehen - in Ausnahmefällen zulässig. Solche Ausnahmefälle liegen insbesondere vor, wenn wegen der Eilbedürftigkeit der Behandlung und gegebenenfalls Beschlussfassung im Gemeinderat die Einhaltung der Regelfrist von sieben Tagen nicht möglich ist. In solchen Fällen ist eine Aufnahme eines Tagesordnungspunkts auf die Tagesordnung und die Übersendung der erforderlichen Sitzungsunterlagen auch binnen einer kürzeren Frist rechtmäßig. Auch in einem solchen Fall sind jedoch bereits bekannte Umstände und vorhandene Unterlagen frühzeitig mitzuteilen, gegebenenfalls verbunden mit dem Hinweis, dass noch weitere Unterlagen oder mündliche Informationen erfolgen (vgl. Brenndörfer, in Dietlein/Pautsch, Kommunalrecht Baden-Württemberg, § 34 GemO Rn. 15). Ergibt sich kurzfristig, dass der Gemeinderat mit einer Angelegenheit zu befassen ist, und steht die Gemeinderatssitzung alsbald an, so dass die Einhaltung der Regelfrist von sieben Tagen infrage steht, folgt aus dem Sinn und Zweck des § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO, dass der Oberbürgermeister unverzüglich, jedenfalls am nächsten Arbeitstag, nachdem sich die Notwendigkeit der Befassung des Gemeinderats ergeben hat, die Tagesordnung des Gemeinderats zu ergänzen hat; hierüber sind die Gemeinderäte zu informieren; sobald als möglich sind die notwendigen Beratungsunterlagen zu übersenden.10 Es ist - entsprechend den Maßstäben des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens - überwiegend wahrscheinlich, dass das Vorgehen des Antragsgegners im Hinblick auf Tagesordnungspunkt 16 diesen Anforderungen nicht genügt hat. Zu Recht macht der Antragsteller mit der Beschwerde geltend, dass - wie in der Beschlussvorlage der Stadtverwaltung Drs. G-20/226 selbst aufgeführt - der Antragsgegner am 16.09.2020 erklärt hat, dass die Stadt Freiburg unter dem Vorbehalt eines entsprechenden Gemeinderatsbeschlusses bereit ist, umgehend 50 Geflüchtete aufzunehmen. Daher hätte der Antragsgegner vorliegend die Tagesordnung der Gemeinderatssitzung am 17.09.2020, nicht erst am 22.09.2020 um den Tagesordnungspunkt 16 ergänzen müssen.11 Ohne Erfolg macht der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren geltend, dass es bei der Erklärung vom 16.09.2020 lediglich um eine rein politische Äußerung im Rahmen der bundesweiten Diskussion gehandelt habe, dass diese Aussage nicht auf eine konkrete Aufnahmesituation bezogen gewesen sei und sich eine solche erst durch das Schreiben des Ministeriums für Soziales und Migration vom 18.09.2020 ergeben habe, dass diese Anfrage es notwendig gemacht habe, Aufnahmekapazitäten bei den Trägern der Jugendhilfeeinrichtungen abzufragen und dass die Rückmeldung hierzu erst am Montag, den 21.09.2020 vorgelegen habe. Die Erklärung des Antragsgegners vom 16.09.2020 erfolgte ersichtlich im Anschluss an die Ankündigung des Innenministers Baden-Württemberg vom 15.09.2020, dass Baden-Württemberg bereit sei, rund 200 Personen aufzunehmen. So ist es auch in der Beratungsvorlage Drs. G-20/226 dargestellt. Eine bloß politische Absichtserklärung des Antragsgegners vermag der Senat daher nicht zu erkennen. Der Antragsgegner ging bei seiner Erklärung am 16.09.2020 selbst davon aus, dass es für die Aufnahme der 50 Geflüchteten eines Beschlusses des Gemeinderats bedarf („unter dem Vorbehalt eines entsprechenden Gemeinderatsbeschlusses“). Aufgrund der Gesamtsituation nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria war auch davon auszugehen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen kurzfristig erfolgen würde und daher eine Befassung des Gemeinderats erst am 20.10.2020 voraussichtlich zu spät erfolgen würde. Da der Antragsgegner folglich zu Grunde legen musste, den Gemeinderat am 29.09.2020 mit der Angelegenheit zu befassen, war er verpflichtet, im Anschluss an seine Erklärung vom 16.09.2020 unverzüglich die Tagesordnung um einen entsprechenden Tagesordnungspunkt zu ergänzen und - wenn Umstände und Rahmenbedingungen einer Aufnahme von Flüchtlingen noch abzuklären waren - die notwendigen Beratungsunterlagen hierzu den Gemeinderäten nachzureichen.12 b) Ein Anordnungsgrund liegt ebenfalls vor. Die Eilbedürftigkeit der Entscheidung ergibt sich daraus, dass die Gemeinderatssitzung heute um 16:00 Uhr beginnen soll.13 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, 2 GKG.14 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). | {
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 1969/20, die gegen den Bescheid der Bezirksregierung Arnsberg vom 29. Juli 2020 gerichtet ist, wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Wohnsitzzuweisung ist auf den Eilantrag der Antragstellerin hin anzuordnen (§ 80 Abs. 5 VwGO).
3Der Antrag ist nicht unzulässig. Entgegen der Einwendung der Bezirksregierung ist ein Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Die Antragstellerin muss sich nicht auf ein Abänderungsverfahren (§ 12a Abs. 5 AufenthG) verweisen lassen. Der hier zu bewertende Einzelfall ist nicht mit dem (Sonder-)Fall zu vergleichen, der dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. März 2019 - 3 L 1200/18 - zu Grunde lag.
4In der Sache fällt die notwendige Abwägung der öffentlichen Interessen mit den privaten Interessen der Antragstellerin zu Gunsten der Antragstellerin aus.
5Die angefochtene Wohnsitzzuweisung ist nicht offensichtlich rechtmäßig. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW ist ‑ zumindest - offen, ob die Voraussetzungen des § 12a Abs. 3 AufenthG gegeben sind.
6Nach § 12a Abs. 3 AufenthG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Ausländerin nur dann nach dieser Vorschrift zur Wohnsitznahme an einem bestimmten Ort verpflichten, wenn dadurch ‑ kumulativ –
71. ihre Versorgung mit angemessenem Wohnraum,2. ihr Erwerb hinreichender mündlicher Deutschkenntnisse im Sinn des Niveaus A2 des Gemeinsamen Referenzrahmens für Sprachenund3. unter Berücksichtigung der örtlichen Lage am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit
8erleichtert werden kann. Erleichtert die Wohnsitznahme an einem bestimmten Ort auch nur das Erreichen eines der drei Integrationsziele nicht, kann die Wohnsitzzuweisung nicht auf § 12a Abs. 3 AufenthG gestützt werden. Wegen der Tatbestandsmerkmale bedarf es einer Prognoseentscheidung. Diese Prognose hat sich u.a. auf eine vergleichende Betrachtung der integrationsrelevanten Infrastruktur am beabsichtigten Zuweisungsort und an anderen möglichen Aufenthaltsorten im jeweiligen Bundesland zu beziehen. Nur so kann abgeschätzt werden, ob die Zuweisung die Erreichung der Integrationsziele erleichtern kann (so OVG NRW, Urteil vom 4. September 2018 - 18 A 256/18 -, juris Rn. 45 ff.; vgl. auch VG Münster, Urteil vom 11. Oktober 2018 - 8 K 5809/17 -, juris Rn. 20). Die nach dem Tatbestand des § 12a Abs. 3 AufenthG erforderliche Prognose zu allen drei Integrationszielen ist auf der Basis nachprüfbarer Prognosetatsachen auf den Einzelfall bezogen zu stellen. Die Wohnsitzbeschränkung darf wegen des durch Art. 33 EU-Qualifikationsrichtlinie begründeten Freizügigkeitsrechts nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgehen. Gleiches gilt für den mit der Wohnsitzzuweisung auch verbundenen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 26 Genfer Konvention und des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK (OVG NRW, a. a. O., Rn. 23; VG Münster, a. a. O., Rn. 21).
9Die in der Antragserwiderung von der Bezirksregierung zitierten Ausführungen zur Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW stehen nicht entgegen. Die Bezirksregierung beruft sich auf die obergerichtlichen Ausführungen zu § 12a Abs. 1 AufenthG. § 12a Abs. 1 AufenthG ist hier aber nicht betroffen, weil die Antragstellerin ihren Wohnsitz nicht in einem anderen Bundesland als Nordrhein - Westfalen nehmen will.
10Es ist zumindest zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 12a Abs. 3 AufenthG vorliegen.
11Die Bezirksregierung knüpft für die Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 12a Abs. 3 AufenthG an den „Integrationsschlüssel“ an, der nach dem landesrechtlichen § 4 Ausländer-Wohnsitzregelungsverordnung - AWoV – vom 15. November 2016 (GV. NRW. Seite 971 / SGV. NRW. Gl. - Nr. 26) gebildet wird. Der Verteilungsschlüssel bilde nach ihrer Auffassung die Integrationsmerkmale des § 12a Abs. 3 AufenthG ab. Er wird zum 1. Januar jeden Jahres im Wesentlichen (§ 4 Abs. 2 AWoV) aus
121. dem Einwohneranteil der Gemeinden an der Gesamtbevölkerung des Landes mit einem Anteil von 80 Prozent,
132. dem Flächenanteil der Gemeinden an der Gesamtfläche des Landes mit einem Anteil von 10 Prozent und
143. dem Anteil der als arbeitslos gemeldeten erwerbsfähigen Personen an der Bevölkerung der Gemeinden mit einem Anteil von 10 Prozent.
15gebildet. Der danach berechnete Schlüssel verringert sich um je 10 Prozent bei Gemeinden, die von § 1 der landesrechtlichen Mietpreisbegrenzungsverordnung nach § 556d Abs. 2 BGB erfasst werden (§ 4 Abs. 3 AWoV) und/oder die einen mindestens 50 Prozent über dem Landesdurchschnitt liegenden Anteil von Personen aus den EU-Mitgliedstaaten Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Tschechische Republik, Slowakei, Slowenien oder Ungarn aufweisen, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch erhalten (§ 4 Abs. 4 AWoV).
16Bei ihrer vergleichenden Prognose hat die zuständige Behörde aber nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 12a Abs. 3 Nr. 3 AufenthG - neben anderem - die örtliche Lage am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Mit örtlichem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt dürfte dabei nicht zwingend nur der der jeweiligen Wohnortgemeinde gemeint sein. Vielmehr kann auf den Einzugsbereich abgestellt werden, der vom Betroffenen mit vertretbarem Aufwand in zeitlicher und finanzieller Hinsicht erreicht werden kann (OVG NRW, a. a. O., Rn. 51). Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist ‑ zumindest ‑ offen, ob eine mittelbare Berücksichtigung der örtlichen Lage am Arbeitsmarkt über den „Integrationsschlüssel“ der bundesrechtlichen Vorgabe in § 12a Abs. 3 Nr. 3 AufenthG genügt (OVG NRW, a. a. O., Rn. 53 a. E.).
17Ob daneben weitere Gründe bestehen, die einer Abbildung der Integrationsmerkmale des § 12a Abs. 3 AufenthG durch den landesrechtlichen Integrationsschlüssel entgegen stehen, bedarf für die hier allein zu treffende Entscheidung keiner weiteren Erörterung.
18Sonstige einzelfallbezogene Umstände zu den Integrationskriterien des § 12a Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 AufenthG führt die Bezirksregierung im angefochtenen Bescheid und in der Antragserwiderung nicht an.
19Ist die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Bezirksregierung auch nur offen, überwiegen die Interessen der Antragstellerin jedenfalls infolge ihrer individuellen Situation. Art. 26 der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 33 EU-Qualifikationsrichtlinie begründen für die Antragstellerin ein Recht auf Freizügigkeit im Bundesgebiet einschließlich des Rechts, „ihren Aufenthalt zu wählen“. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer angemessenen Verteilung der mit der Gewährung von Sozialleistungen verbundenen Lasten auf deren jeweiligen Träger kann in diesen Zusammenhang aus unionsrechtlichen Gründen nicht bestehen (vgl. dazu EUGH, Urteil vom 1. März 2016 ‑ C 443/14 und C 444/14 ‑, juris Rn. 56).
20Fällt die Interessenabwägung aus den angeführten Gründen zu Gunsten der Antragstellerin aus, bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob die zu Lasten der Antragstellerin erfolgte pauschale Ermessensausübung rechtmäßig ist. Lediglich angemerkt sei, dass § 12a Abs. 3 AufenthG auf der Rechtsfolgenseite keine sog. "Soll-Entscheidung" für eine Wohnsitzzuweisung begründet, von der nur bei atypischen Situationen abgewichen werden könnte (OVG NRW, a. a. O., Rn. 23; VG Münster, a. a. O., Rn. 21).
21Gleichfalls bedarf keiner weiteren Erörterung, ob und wie es sich auswirken könnte, dass die Bezirksregierung - wohl entsprechend einer allgemeinen Übung - versuchte, den der Antragstellerin zuvor übergebenen Anhörungsbogen von ihr zurückzufordern, dies aber infolge entschuldigter Abwesenheit der Antragstellerin ohne Erfolg blieb und die Bezirksregierung bereits vor der Rückkehr der Antragstellerin aus stationärer Behandlung den angefochtenen Bescheid verfasste (vgl. § 28 VwVfG NRW).
22Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage - 10 K 2516/20 - des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 26.06.2020 wird angeordnet.Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.Der Streitwert wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage vom 28.07.2020 gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 26.06.2020 anzuordnen, ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 VwGO, § 12 Satz 1 LVwVG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Klage fristgerecht innerhalb der Monatsfrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO erhoben worden, nachdem der streitgegenständliche Bescheid dem ehemaligen Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers gegen Empfangsbekenntnis am 02.07.2020 zugestellt worden ist.
2 Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
3 Das private Interesse des Antragstellers, bis zum rechtskräftigen Abschluss der Hauptsache von einer Abschiebung nach Nigeria verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung. Dies folgt aus der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage. Nach dieser spricht Überwiegendes dafür, dass die Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung Aussicht auf Erfolg hat.
4 1. Die Abschiebungsandrohung dürfte bereits in formeller Hinsicht rechtswidrig sein. Denn das Regierungspräsidium Karlsruhe dürfte nicht die für ihren Erlass zuständige Behörde sein. Nach § 71 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1, Abs. 2 Nr. 1 AAZuVO ist das Regierungspräsidium Karlsruhe zwar bei vollziehbar ausreisepflichtigen sonstigen Ausländern landesweit insbesondere für den Erlass von Abschiebungsandrohungen zuständig. Bei dem Antragsteller handelt es sich jedoch voraussichtlich nicht um einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer. Es greifen vielmehr die allgemeinen Zuständigkeitsregeln nach § 71 Abs. 1 AufenthG i. V. m. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 2 AAZuVO. Danach ist die untere Ausländerbehörde des gewöhnlichen Aufenthalts des Ausländers unter anderem für den Erlass von Abschiebungsandrohungen im Zusammenhang mit der Ablehnung von Anträgen auf Erteilung von Aufenthaltstiteln zuständig. Da der Antragsteller in Lörrach seinen Wohnsitz genommen hat und er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Abkommen vom 21.06.1999 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (BGBl. II 2001 S. 810 - FreizügkAbk EU/Schweiz -) begehrt, ist allein die Stadt Lörrach für den Erlass einer Abschiebungsandrohung zuständig (s. zum Ganzen unter Ziff. 2.b.bb.).
5 2. Nach summarischer Prüfung dürfte sich die Abschiebungsandrohung auch in materiell-rechtlicher Hinsicht als rechtswidrig erweisen.
6 a. Rechtsgrundlage der verfügten Abschiebungsandrohung ist § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Danach ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Dabei muss weder die Abschiebung im Sinne des § 58 Abs. 1 AufenthG selbst vollziehbar sein noch - unter Berücksichtigung der Vorgaben der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG - die Ausreisepflicht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.04.2013 - 11 S 581/13 - juris Rn. 21; Kluth, in: BeckOK AuslR, 26. Ed. 01.07.2019, AufenthG, § 59 Rn. 7 ff., insb. Rn. 10; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AufenthG, § 59 Rn. 14).
7 b. Der Antragsteller dürfte nicht ausreisepflichtig sein. Nach § 50 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Vorliegend verfügt der Antragsteller zwar weder über einen Aufenthaltstitel noch über ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei. Ein Aufenthaltstitel wurde ihm in Deutschland nie erteilt. In der Vergangenheit wurde er lediglich geduldet. Er ist auch nicht vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AufenthG i. V. m. § 28 Satz 1 AufenthV befreit (aa.). Allerdings dürfte er nach überschlägiger Prüfung der Sach- und Rechtslage solange nicht ausreisepflichtig sein, wie ihm die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund des Rechts aus Art. 4, Art. 7 Buchst. d) FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz nicht amtlich mitgeteilt wurde (bb.).
8 aa. Der Antragsteller ist nicht vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Var. 2 AufenthG i. V. m. § 28 Satz 1 AufenthV befreit. Nach diesen Vorschriften sind allein Staatsangehörige der Schweiz nach Maßgabe des FreizügkAbk EU/Schweiz vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit. In den Genuss dieses - rein deklaratorischen - Rechts aus § 28 AufenthV kommen folglich unmittelbar nur die Ehefrau und die zwei Kinder des Antragstellers, nicht aber der Antragsteller selbst, der die nigerianische Staatsangehörigkeit besitzt.
9 bb. Der Antragsteller dürfte allerdings solange nicht ausreisepflichtig sein, wie ihm die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund des Rechts aus Art. 4, Art. 7 Buchst. d) FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz nicht amtlich mitgeteilt wurde.
10 Nach Art. 4 FreizügkAbk EU/Schweiz wird das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit vorbehaltlich des Artikels 10 nach Maßgabe des Anhangs I eingeräumt. Nach Art. 7 Buchst. d) FreizügkAbk EU/Schweiz, Art. 1 Abs. 1 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz ist dabei nicht nur den Staatsangehörigen der anderen Vertragsparteien, sondern unter anderem auch deren Familienangehörigen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit die Einreise in ihr Hoheitsgebiet gegen Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses gestatten. Nach Art. 2 Abs. 1 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz haben die Staatsangehörigen einer Vertragspartei unbeschadet der für die Übergangszeit gemäß Art. 10 FreizügkAbk EU/Schweiz und Kapitel VII des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz geltenden Bestimmungen das Recht, sich nach Maßgabe der Kapitel II bis IV im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufzuhalten und dort eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Zum Nachweis dieses Rechts wird eine Aufenthaltserlaubnis erteilt oder eine Sonderbescheinigung für Grenzgänger ausgestellt. Nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz haben die Familienangehörigen einer Person, die Staatsangehörige einer Vertragspartei ist und ein Aufenthaltsrecht hat, das Recht, bei ihr Wohnung zu nehmen. Nach Art. 3 Abs. 3 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz dürfen die Vertragsparteien für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige eines Staatsangehörigen einer Vertragspartei nur die dort ausdrücklich unter Buchst. a) bis c) genannten Unterlagen verlangen.
11 Offen bleiben kann vorliegend, ob dem Antragsteller nach diesen Maßgaben ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zusteht. So ist er zwar im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz Familienangehöriger von schweizerischen Staatsangehörigen. Seine schweizerische Ehefrau und seine zwei minderjährigen schweizerischen Kinder sind auch in die Bundesrepublik Deutschland gezogen. Ferner hat der Antragsteller gemeinsam mit ihnen in Lörrach Wohnung genommen. Da seine Ehefrau - weiterhin - in der Schweiz einer abhängigen Beschäftigung nachgeht, dürfte sie entweder - jedenfalls formal - eine abhängig beschäftigte Grenzgängerin im Sinne des Art. 7 Abs. 1 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz sein, die gemäß Abs. 2 Satz 1 der genannten Vorschrift keine Aufenthaltserlaubnis benötigt, oder sie ist eine Person, die keine Erwerbstätigkeit im Aufenthaltsstaat ausübt im Sinne des Art. 24. Abs. 1 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz. Nur in letzterem Falle würde die Ehefrau des Antragstellers der ausgestellten Aufenthaltserlaubnis (VAS 83 f.) bedürfen. Auch dürfte der Antragsteller die nach Art. 3 Abs. 3 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz erforderlichen Unterlagen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorgelegt haben (VAS 9-23).
12 Allerdings könnte fraglich sein, ob sich der Antragsteller überhaupt auf das Einreise- und Aufenthaltsrecht nach dem FreizügkAbk EU/Schweiz berufen kann. Gegen die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs des FreizügkAbk EU/Schweiz könnte der Sinn und Zweck des FreizügkAbk EU/Schweiz sprechen, demnach Freizügigkeit für EU-Bürger in der Schweiz und für Schweizer Bürger in den Mitgliedstaaten der EU hergestellt werden soll (vgl. Hailbronner, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Werkstand: 49. EL November 2019, D.I. Grundregeln Rn. 22). Sinn und Zweck des FreizügkAbk EU/Schweiz dürfte es demgegenüber nicht sein, dass der Antragsteller durch dessen Anwendung bessergestellt ist, als er stünde, wenn er mit seiner schweizerischen Familie weiterhin in der Schweiz wohnen würde (vgl. zu den Zielen des FreizügkAbk EU/Schweiz Zeitler, HTK-AuslR / EU-Recht / Freizügigkeitsabkommen EU/Schweiz, Stand: 18.11.2016, Rn. 5). Dies folgt aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 2 FreizügkAbk EU/Schweiz, das allein eine Schlechterstellung des Staatsangehörigen einer Vertragspartei in dem Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei verbietet. Im Hinblick auf den Familienangehörigen, der sein Einreise- und Aufenthaltsrecht von dem Staatsangehörigen einer Vertragspartei ableitet, kann nichts Anderes gelten. Ist danach aber gerade die Ausübung der Freizügigkeit Sinn und Zweck des FreizügkAbk EU/Schweiz, dürfte von ihr wohl auch in materieller Hinsicht Gebrauch gemacht werden müssen. Vorliegend bestehen Zweifel, ob die Ehefrau des Antragstellers und - von ihr abgeleitet - der Antragsteller von ihrem Recht auf Freizügigkeit in materieller Hinsicht Gebrauch gemacht haben. Denn nach Aktenlage haben sie mit ihren Kindern in der Bundesrepublik Deutschland Wohnsitz genommen, unmittelbar nachdem die schweizerische Niederlassungsbewilligung des Antragstellers wegen einer strafgerichtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 13 Monaten mit Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 26.08.2018 rechtskräftig widerrufen und der Antragsteller rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen wurde. Auch hat die Ehefrau des Antragstellers weder eine Erwerbstätigkeit in Deutschland ergriffen - sie arbeitet vielmehr weiterhin in der Schweiz - noch sind sonstige Gründe vorgetragen oder ersichtlich, die die Familie zu einem Umzug in die Bundesrepublik Deutschland bewogen haben könnten. Folglich erscheint es jedenfalls nicht fernliegend, dass die gesamte Familie ihren Wohnsitz nur deshalb in die Bundesrepublik verlegt hat, um einer Vollstreckung der ausländerrechtlichen Maßnahmen gegen den Antragsteller in der Schweiz zu entgehen. In solch einer Konstellation, in der einiges dafürspricht, dass das Freizügigkeitsrecht zu freizügigkeitsfremden Zwecken in Anspruch genommen wird, könnte ein Rechtsmissbrauch in Form der Zweckverfehlung des Freizügigkeitsrechts zu erwägen sein (vgl. Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG und § 2 Abs. 7 FreizügG/EU; vgl. weiter EuGH, Urteile vom 14.12.2000 - C-110/99 - juris Rn. 52 f. und vom 09.03.1999 - C-212/97 - juris Rn. 25; Hailbronner, AuslR, 100. Akt. März 2017, § 2 FreizügG/EU Rn. 142 ff. m. w. N.). Im Ergebnis kann hier jedoch dahinstehen, ob sich der Antragsteller dem Grunde nach auf ein Einreise- und Aufenthaltsrecht nach Art. 4, Art. 7 Buchst. d) FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz berufen kann.
13 Spätestens nachdem der Antragsteller nach telefonischer Auskunft der Stadt Lörrach (s. den Aktenvermerk der Berichterstatterin vom 25.09.2020, GAS 75) unter dem 28.02.2020 einen - nicht fristgebundenen - Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt hat, dürfte ihm die Entscheidung über die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis zwingend gemäß Art. 16 Abs. 1 FreizügkAbk EU/Schweiz, Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 7 Satz 1 der Richtlinie 64/221/EWG (vgl. Art. 30 und 31 i. V. m. Art. 15 Abs. 1 bzw. Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG) amtlich mitzuteilen sein. Denn in Art. 16 Abs. 1 FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz wird ausdrücklich auf die Richtlinie 64/221/EWG [ABl. L 56 S. 850] Bezug genommen, die wiederum in ihrem Art. 7 Satz 1 ausdrücklich eine amtliche Mitteilung der Entscheidung über die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis fordert. Nichts anderes folgt aus dem Umstand, dass die Richtlinie 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG [ABl. L 158 S.77] aufgehoben wurde. Denn das FreizügkAbk EU/Schweiz bedient sich einer statischen Verweisungstechnik (vgl. auch Art. 16 Abs. 2 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz).
14 Fehlt es an solch einer amtlich mitgeteilten Entscheidung dürfte die Ausreisepflicht gemäß Art. 16 Abs. 1 FreizügkAbk EU/Schweiz, Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 der Richtlinie 64/221/EWG vorläufig nicht bestehen. Denn hiernach kann sich der Familienangehörige, der nicht die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt, bis zur Entscheidung über die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis vorläufig im Hoheitsgebiet aufhalten. Dass derzeit keine Ausreisepflicht besteht, dürfte aufgrund des in Art. 2 FreizügkAbk EU/Schweiz verankerten Nichtdiskriminierungsgrundsatzes und der in Art. 16 Abs. 1 FreizügkAbk EU/Schweiz statuierten Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht auch aus dem als Auslegungshilfe heranziehbaren § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU folgen. Denn nach Art. 2 FreizügkAbk EU/Schweiz werden Staatsangehörige einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert. Im Hinblick auf die Entwicklung dieses Freizügigkeitsrechts ist in Art. 16 Abs. 1 FreizügkAbk EU/Schweiz festgehalten, dass die Vertragsparteien alle erforderlichen Maßnahmen treffen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden. Folglich wird den Schweizer Bürgern ein im Wesentlichen dem EU-Freizügigkeitsrecht entsprechendes Recht auf Einreise und Aufenthalt eingeräumt. Damit dürfte es aber einer in einem förmlichen Verfahren ergangenen Feststellung des Nichtbestehens bzw. der Verweigerung des Rechts auf Aufenthalt nach Art. 4, Art. 7 Buchst. d) FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz bedürfen (vgl. Hailbronner, AuslR, 100. Akt. März 2017, § 7 FreizügG/EU Rn. 4, 14; VG Bayreuth, Beschluss vom 14.02.2019 - B 6 S 19.74 - juris Rn. 26 jew. m. w. N.). Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Die Stadt Lörrach hat der Kammer auf eine entsprechende Nachfrage mitgeteilt, über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bislang nicht entschieden zu haben.
15 Dass der Antragsteller für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland kein Einreisevisum besaß - welches nach Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzen, verlangt werden darf -, dürfte nicht dazu führen, dass eine Feststellung des Nichtbestehens bzw. der Verweigerung des Aufenthaltsrechts entbehrlich wäre. Denn das Erfordernis einer amtlichen Mitteilung gemäß Art. 16 Abs. 1 FreizügkAbk EU/Schweiz, Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 7 Satz 1 der Richtlinie 64/221/EWG gilt dem Wortlaut und Telos nach einschränkungslos für jede Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis. Dies dürfte ungeachtet des Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 2 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz gelten, wonach die betreffende Vertragspartei diesen Personen alle Erleichterungen für die Beschaffung der gegebenenfalls benötigten Visa gewähren. Im Übrigen dürfte die Legalität der Einreise für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Wortlaut der Art. 4, Art. 7 Buchst. d) FreizügkAbk EU/Schweiz i. V. m. Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 des Anhangs I FreizügkAbk EU/Schweiz wohl keine Voraussetzung sein.
16 Über das Erfordernis einer förmlichen Nichtbestehens- bzw. Verweigerungsentscheidung dürfte schließlich wohl ebenfalls nicht hinweghelfen, dass der Antragsteller von der Schweiz am 13.12.2018 nach Art. 24 VO EG Nr. 1987/2006 (SIS II-VO) im Schengener Informationssystem zur Einreiseverweigerung in den Schengenraum ausgeschrieben wurde (VAS 119 ff.). Denn auch insofern dürfte das soeben Gesagte Geltung beanspruchen. Daneben dürften die auf den Einzelfall bezogenen Ausführungen des Antragsgegners, wonach im Falle des Antragstellers auch in der Bundesrepublik Deutschland das Ausweisungsinteresse schwer wiege, keine weitere Bewandtnis haben. Dies dürfte umso mehr gelten, als der Antragsgegner nicht - wie gemeinschaftsrechtlich gefordert - dargelegt hat, dass von der Anwesenheit des Antragstellers in seinem Hoheitsgebiet eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft ausgehe (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 31.01.2006 - C-503/03 - juris Rn. 52 ff.; Hailbronner, AuslR, 100. Akt. März 2017, § 2 FreizügG/EU Rn. 99).
II.
17 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
III.
18 Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG i. V. m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dabei war der Streitwert auf die Hälfte zu reduzieren, weil dem Antragsteller nicht bereits zuvor legal eine längere Aufenthaltsperspektive eröffnet worden war (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 19.07.2019 - 11 S 1812/19 - juris Rn. 5 f. und vom 24.09.2007 - 11 S 561/07 - juris Rn. 11).
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Heranziehung des Klägers zur Kostenerstattung für eine Abwasserleitung, die im öffentlichen Verkehrsraum verlegt und mit der Entwässerungsleitung seines Grundstücks verbunden wurde.
2
Der Kläger und seine Ehefrau sind seit 1988 Eigentümer des Anwesens "Im F..", Plannummer (Pnr.) .., im Stadtgebiet der Beklagten.
3
Der Mischwasserkanal in der Straße "Im F..." stammt aus dem Jahr 1953. Er endete an der südwestlichen Ecke des Anwesens "Im F..." (Grundstück Pnr. .../...) im früheren Schacht 93560. Ausweislich einer Baugenehmigung für die Rechtsvorgänger des Klägers vom 10.11.1959 verfügte deren Anwesen zunächst über eine Dreikammerfaulgrube zur Aufnahme des häuslichen Abwassers. Nach Aufgabe der Dreikammerfaulgrube wurde in den frühen 1960er Jahren eine Leitung von ca. 17 m Länge im öffentlichen Verkehrsraum verlegt und an den damaligen Anschlussschacht 93560 des ursprünglichen Mischwasserkanals angeschlossen. Die Leitungsverlegung erfolgte parallel zu den Grundstücksgrenzen. Diese Leitung bestand aus Steinzeug oder Beton und war nach den Feststellungen der Beklagten an den Verbindungsstellen der einzelnen Teile entweder textil oder mittels Teermaterial gemufft.
4
Im Mai 2006 meldete der Kläger eine Absenkung der Straßendecke vor seinem Grundstück. Im Verlauf der folgenden Reparaturarbeiten stellte man fest, dass schadensursächlich ein weiteres, in 40 cm Tiefe verlegtes Regenfallrohr - DN 100 - war, das der Dachentwässerung des klägerischen Grundstücks diente. Repariert wurde nach einer vorgelegten Rechnung der Firma F... lediglich eine Teilstrecke von 1 m. Die hierfür anfallenden Kosten waren Gegenstand der Verfahren beim Amtsgericht Neustadt/Weinstraße (Az.: 4 C 374/07) und bei dem Landgericht Frankenthal (Az.: 2 S 392/09), in denen die Zahlungsklage der Stadt Neustadt/Weinstraße abgewiesen wurde.
5
Im Jahr 2016 wurde in der gesamten Straße "Im F..." im Zuge des Ausbaus der Fahrbahn und der Sanierung der Ver- und Entsorgungsleitungen ein neuer Mischwasserkanal aus Polypropylen (PP) mit einem Nennwert DN 250 bis zur südöstlichen Ecke des Grundstücks des Klägers verlegt. Zudem wurden dort der neue Schacht 93560 hergestellt sowie der alte Schacht und die 17 m lange Altleitung entfernt. Zugleich wurde für das Grundstück des Klägers ein ca. 5,2 m langer Hausanschluss verlegt.
6
Die Arbeiten für diesen Hausanschluss wurden von der Firma B... GmbH ausgeführt, die der Beklagten hierfür einen Betrag von 1.730,91 € in Rechnung stellte.
7
Mit Bescheid vom 23.10.2017 zog die Beklagte den Kläger zum Ersatz von Aufwendungen für eine Grundstücksanschlussleitung gemäß § 13 des Kommunalabgabengesetzes (KAG) i.V.m. § 19 Abs. 1 Nr. 2a ihrer Entgeltsatzung Abwasser (ESA) in Höhe von 1.730,91 € heran. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass sie den Grundstücksanschluss für Mischwasser innerhalb des öffentlichen Verkehrsraums erneuert habe. Die hierfür angefallenen Aufwendungen seien in tatsächlicher Höhe zu erstatten.
8
Hiergegen hat der Kläger am 20.11.2017 Widerspruch erhoben und diesen im Wesentlichen damit begründet, dass den Anwohnern bei einer Informationsveranstaltung zugesichert worden sei, dass lediglich Kosten für die Verlegung von Leitungen auf dem eigenen Grundstück anfallen würden, nicht jedoch Kosten, die im Bereich der öffentlichen Verkehrsfläche entstünden. Da sein Haus grenzständig sei, habe er gemäß der Zusicherung keine Kosten für Anschlussleitungen zu übernehmen. Unabhängig davon sei die Anschlussleitung nicht erneuerungsbedürftig gewesen. Bei seiner Nachbarin sei daher von einer Kostenforderung abgesehen worden. Außerdem bestünden Bedenken gegen die zugrundeliegende Rechnung der Firma B... GmbH. Ein Betrag von 165,00 € für die Position "Verkehrsflächen absperren, aufstellen, räumen" sei von jedem Betroffenen erhoben worden, weshalb davon auszugehen sei, dass hier eine mehrfache Abrechnung erfolgt sei. Auffällig sei zudem, dass offensichtlich weniger Boden ausgeschachtet als verfüllt und verdichtet worden sei. Hinzukomme, dass in den Schacht noch Leitungen verlegt worden seien und aufgrund deren Verlegung in der Ausschachtung weniger Boden hätte verfüllt und verdichtet werden müssen als ausgeschachtet worden sei.
9
Die Beklagte half dem Widerspruch nicht ab und erwiderte: Die Aussage in der Informationsveranstaltung sei so nicht getroffen worden, da der Grundstücksanschluss die Verbindung vom öffentlichen Kanal und der Grundstücksgrenze zum öffentlichen Verkehrsraum sei und die Beklagte grundsätzlich nicht auf privaten Grundstücken tätig werde. Die Firma Bi... sei im Ausschreibungsverfahren der günstigste Anbieter gewesen, man könne Einzelpositionen nicht isoliert betrachten. Auf Kosten der Beklagten sei der Sammelkanal um 17 m verlängert worden. Der neue Anschluss des Klägers habe eine Länge von nur 5,20 m, der alte habe eine Länge von 17 m gehabt. Durch die Verkürzung der Anschlussleitung habe der Kläger die Aufwendungen von 12 m Anschluss erspart. Zudem habe er nur den Aushub für 1 m³ zu zahlen, weil dessen Hausanschluss den Kanalgraben mit nutze. Hätte die Firma alles in Rechnung gestellt, dann wären Kosten für eine Leitung von 17 m und für Bodenaushub von 25 m³ erhoben worden. Auch sei dem Kläger der Rückbau, der normalerweise vom Eigentümer zu leisten sei, nur teilweise in Rechnung gestellt worden. Der Kanal sei weit über 40 Jahre alt und erneuerungsbedürftig gewesen. Die Verbindung der alten Steinzeugrohre an den neuen Kanal sei aus Altersgründen und aus technischer Sicht nicht vertretbar gewesen. Der angesprochene Fall in der Nachbarschaft sei nicht vergleichbar, dort sei der Grundstücksanschluss noch recht neu gewesen.
10
Mit Widerspruchsbescheid vom 2.12.2019 wies der Stadtrechtsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus: Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 KAG i.V.m. mit § 19 Abs. 1 Nr. 2a ESA seien der Beklagten die Aufwendungen für die erstmalige Herstellung und die Erneuerung der Grundstücksanschlüsse und Grundstücksentwässerungseinrichtungen innerhalb des öffentlichen Verkehrsraums in der tatsächlichen Höhe zu erstatten. Nicht nur die erstmalige Herstellung, sondern auch die Erneuerung eines Grundstücksanschlusses sei erstattungspflichtig, da die Anschlusspflicht nach § 6 Abs. 1 der Allgemeinen Entwässerungssatzung (AES) die Grundstückseigentümer nicht nur verpflichte, sich an die Anlage anzuschließen, sondern auch, an die Anlage angeschlossen zu bleiben. Dieser Verpflichtung, den Anschluss dauerhaft aufrechtzuerhalten, könnten die Grundstückseigentümer nur nachkommen, wenn der Anschluss durch notwendige Maßnahmen der Erneuerung funktionsbereit bleibe (vgl. § 17 Abs. 4 AES). Die Beklagte habe die durchgeführten Arbeiten zutreffend als Erneuerung des Grundstücksanschlusses im Sinne von § 19 Abs. 1 Nr. 2a ESA eingeordnet. Dessen Nutzungsdauer sei mit weit mehr als 40 Jahren überschritten. Die ursprünglich vorhandenen Steinzeugrohre entsprächen nicht mehr dem Stand der Technik. Demnach sei die Beklagte dem Grunde nach berechtigt, die ihr entstandenen Kosten für die Erneuerung des Grundstücksanschlusses innerhalb des öffentlichen Verkehrsraums im Wege der Kostenerstattung gegenüber dem Kläger geltend zu machen. Hinsichtlich der Höhe der erstattungsfähigen Aufwendungen seien keine Fehler ersichtlich. Das Argument, dass die Position "Verkehrsflächen absperren aufstellen, räumen" mehrfach abgerechnet worden sei, sei nicht schlüssig dargelegt. Baustellen seien zwingend und generell abzusichern. Resultierend aus der Verkehrssicherungspflicht müssten geeignete Maßnahmen zur Gefahrenverhütung getroffen werden. Dies beinhalte, dass die Gefahrenstellen entsprechend abgesichert würden, insbesondere die offenen Gräben, damit niemand hineinfalle. Hierzu gehöre auch das sichere Überqueren derselben. Dementsprechend müssten die offen gelegten Hausanschlüsse jeweils gesichert werden, so dass diese Kosten bei jedem Kostenpflichtigen angefallen seien. Die Behauptung, dass mehr Boden verfüllt, als ausgeschachtet worden sei, könne nicht nachvollzogen werden. Ausweislich der Massenberechnung habe die Firma B... 1 m³ ausgeschachtet und wieder verfüllt. Da bereits vor Beginn dieser Arbeiten der Straßenunterbau anderweitig beseitigt worden sei, bestünden keine Bedenken gegen die errechneten Mengen.
11
Nach Zustellung des Widerspruchsbescheids am 5.12.2019 hat der Kläger am 6.1.2020, einem Montag, die vorliegende Klage erhoben.
12
Der Kläger trägt ergänzend vor: Die Straße "Im F..." sei in der Vergangenheit mit schweren Fahrzeugen befahren worden, obwohl sie hierfür nicht ausgelegt gewesen sei. Infolge der hierdurch verursachten Absenkung des Straßenniveaus sei auch der Kanalanschluss des Klägers schon einmal erneuert worden. Da der erneuerte Hausanschluss funktionsfähig und lediglich 10 Jahre alt gewesen sei, habe kein Erneuerungsbedarf bestanden. Die Leitung, die Gegenstand des benannten Zivilprozesses gewesen sei, sei von der Beklagten vollständig erneuert worden. Die Erwägungen der Zivilgerichte seien auf den vorliegenden Fall übertragbar. Dass die Beklagte sich im Zuge der Erneuerung der Straße auch zur Erneuerung der dort verlegten Leitungen entschlossen habe, sei deren Entscheidung gewesen. Die von der Beklagten genannten Gründe für die Verlegung der bisherigen Kanalleitung fielen nicht in seine - des Klägers - Verantwortungssphäre. Auch die Verlegung des bisherigen Hausanschlusses sei nicht von ihm veranlasst worden. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die ursprüngliche Leitung in seinem Eigentum stehen solle. Auch das LG Frankenthal habe ausgeführt, dass die rechtlichen und tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf diese Leitung allein bei der Beklagten gelegen hätten. Er bestreite, dass der frühere Anschluss als Privatkanal/verlängerter Hausanschluss verlegt worden sei. Dieser sei vielmehr ordnungsgemäß abgenommen und genehmigt worden und Teil der öffentlichen Abwasserbeseitigungsanlage gewesen. Ansonsten hätte der Bau nicht genehmigt und kein Abwasser in den Kanal eingeleitet werden dürfen. Die von der Beklagten vorgelegte Baugenehmigung betreffe nicht sein Grundstück. Eine Kostentragungspflicht zu seinen Lasten bestehe mit Blick auf § 16 Abs. 6 AES nicht.
13
Der Kläger beantragt,
14
den Bescheid der Beklagten vom 23.10.2017 und den hierzu ergangenen Widerspruchsbescheid vom 2.12.2019 aufzuheben.
15
Die Beklagte beantragt,
16
die Klage abzuweisen.
17
Sie erwidert ergänzend: Der Mischwasserkanal in der Straße "Im F..." habe an der südwestlichen Ecke des Anwesens "Im F..." (Grundstück Flur-Nr. .../..) geendet, weil die Grundstücke Im Falkenhorst 13 und 15 damals noch über eine Dreikammerfaulgrube verfügt hätten. Diese sei auch Gegenstand der damaligen Baugenehmigung für das Doppelhaus gewesen. Die Baugenehmigung habe auch das Grundstück des Klägers betroffen. Denn als Bauherren seien zwar J...L... und M... G... angeführt, die nicht namensgleich mit dem Verkäufer seien, der das Grundstück an den Kläger veräußert habe. Allerdings sei die damalige Verkäuferin eine geborene L.... Die Bebauung mit einem Doppelhaus sei damals also "in der Familie" erfolgt. Nach Aufgabe der Dreikammerfaulgrube sei der Hausanschluss an den damaligen Anschlussschacht ... des ursprünglichen Mischwasserkanals parallel zu den Grundstücksgrenzen im öffentlichen Verkehrsraum, damals als "Privatkanal" (verlängerter Hausanschluss) verlegt worden. Der verlängerte Hausanschluss aus Steinzeug oder Beton sei an den Verbindungsstellen der einzelnen Teile entweder textil oder mittels Teermaterials gemufft gewesen. Diese Leitung sei zu keinem Zeitpunkt von der Beklagten abgenommen worden und habe sich auch nicht im Anlagen- bzw. Vermögensverzeichnis befunden. Im Mai 2006 sei vom Kläger eine Absenkung der Straßendecke vor seinem Grundstück gemeldet worden. Die Reparaturarbeiten im Jahr 2006 hätten ergeben, dass schadensursächlich für eine Straßenabsenkung ein privat, also nicht von der Beklagten bzw. dem ESN in nur 40 cm Tiefe, demgemäß unsachgemäß verlegtes Regenfallrohr - DN 100 - gewesen sei, das vom Grundstück des Klägers in die Straßenhauptleitung geführt und der Dachentwässerung gedient habe. Repariert worden sei lediglich eine Teilstrecke von 1 m. Im Jahr 2006 sei also lediglich eine Maßnahme an dem ungenehmigten und unsachgemäß verlegten Regenwasseranschluss erfolgt. Der "Privatkanal" (verlängerter Hausanschluss) sei 2006 (oder danach bis 2016) weder erneuert noch repariert worden. Genauso wenig habe bis 2016 eine bauliche Maßnahme am Mischwasserkanal im öffentlichen Verkehrsbereich stattgefunden. Die Reparatur im Jahr 2006 habe keinen ordnungsgemäßen Hausanschluss hergestellt, da ausweislich der Rechnung der Firma F... im Bereich der Zusammenführung der einzelnen Rohre aus dem Anwesen der Kläger lediglich ein Rohr mit der Nennweite von DN 100 eingebaut worden sei. Die Satzung schreibe allerdings eine Nennweite von DN 150 vor. Wegen der Länge des Hausanschlusses wäre eigentlich sogar eine Nennweite von DN 200 erforderlich gewesen. In 2016 sei in der gesamten Straße "Im F..." ein neuer Mischwasserkanal bis zur südöstlichen Ecke des Grundstücks des Klägers und abweichend vom Verlauf des früheren Kanals verlegt worden. Der neue Kanal ende mit dem neuen Schacht 93560. Der alte Hausanschluss habe schon wegen Materialunverträglichkeit nicht unmittelbar mit dem neuen Mischwasserkanal aus Polypropylen (PP) verbunden werden können. Die Herstellung lediglich eines Teils des alten Hausanschlusses in PP und dessen Verbindung mit dem alten Hausanschluss aus Steinzeug oder Beton wäre, wenn überhaupt technisch zulässig, mindestens genauso kostenaufwändig gewesen wie der neue Hausanschluss zum neuen Mischwasserkanal. Der Verlauf des neuen Mischwasserkanals aus PP - mittig in der Straße - entspreche dem Stand der Technik. Die neue Linienführung sei gewählt worden, um die generelle Versorgung mit Wasser, Strom etc. der Anlieger aufrechtzuerhalten. Der Kanal sei aufgrund neuer Richtlinien insbesondere in Bezug auf den Verlauf von Gas und Wasser notwendig gewesen.
Die vom Kläger angeführte Eigentümerin des Grundstücks "Im F..." habe einen Anschluss gehabt, der aufgrund seines im Vergleich zu dem des Klägers deutlich geringeren Alters (ca. 30 Jahre) habe repariert werden können. Es habe sich bereits um einen Anschluss aus PP gehandelt, der mit dem neuen Mischwasserkanal aus PP technisch kompatibel gewesen sei. Insbesondere wegen dessen Alters sei die Grundstückseigentümerin nicht zu einem Aufwendungsersatz herangezogen worden. Daher sei die Beklagte in Bezug auf das Grundstück Im F... nicht von einer Erneuerung ausgegangen.
Der Anspruch auf Aufwendungsersatz für die Erneuerung des Hausanschlusses sei damit nach § 19 Abs. 1 Nr. 2a ESA berechtigt. Es handle sich bei dem Hausanschluss um eine Grundstücksanschlussleitung im öffentlichen Verkehrsraum. Eine Erneuerung sei nach KVR-Leitlinie (Leitlinien zur Durchführung dynamischer Kostenvergleichsrechnungen) 50 - 80 (100)a der LAWA das vollständige (Wieder-)Herstellen einer Leitung, wohingegen es bei einer Reparatur nach KVR 2 - 15a um eine Maßnahme gehe, bei der der überwiegende Teil eines Kanalabschnitts oder eines Hausanschlusses unverändert bleibe. Zur Definition der Erneuerung verweise sie auf DIN EN 752 und das DWA-Merkblatt 143-1. Erstattungspflichtig sei der Kläger als Grundstückseigentümer (§ 19 Abs. 3 ESA). Der neue Hausanschluss sei Bestandteil der öffentlichen Einrichtung Abwasserbeseitigung der Beklagten; er liege im öffentlichen Verkehrsraum. Die Straße "Im F..." sei auch vor den Grundstücken "Im F..." neu hergestellt worden. Wäre es im Verlauf des alten Hausanschlusses aus den 1960er Jahren zu einem Schaden gekommen, hätte die gerade neu hergestellte Straße geöffnet werden müssen. Dieses Risiko habe die Beklagte vermeiden wollen. Unabhängig davon seien aufgrund der Abnutzung in absehbarer Zeit verschleißbedingte Störungen zu erwarten gewesen, die die unschädliche Abwasserbeseitigung gefährdet hätten. Der Kläger nehme nicht zur Kenntnis, dass 2006 lediglich 1 m der weiteren Anschlussleitung zur Ableitung des Regenwassers repariert worden sei. Der verlängerte Hausanschluss sei hiervon nicht betroffen gewesen. Der Träger der Abwasserbeseitigung dürfe nach seinem Ermessen eine Erneuerung vornehmen, wenn die Anlage verschlissen und/oder zumindest die übliche Nutzungszeit abgelaufen sei. Maßgeblich sei nach der Rechtsprechung allein, ob sich diese Entscheidung noch im Rahmen des Vertretbaren bewege. Dabei komme es nicht darauf an, ob ein Hausanschluss z.B. bereits ge-/zerbrochen sei und Abwasser einschließlich Niederschlagswasser in das Erdreich austrete. Das Urteil des AG Neustadt a.d.W. vom 28.10.2009 entfalte keine Bindungswirkung l für das anhängige verwaltungsgerichtliche Verfahren. § 16 Abs. 6 AES, der Änderungen und Unterhaltungsarbeiten betreffe, sei nicht heranzuziehen, denn § 16 Abs. 10 Satz 2 AES verweise auf die hier einschlägige Anspruchsgrundlage des § 19 Abs. 1 Nr. 2a ESA. Der Anspruch auf Aufwendungsersatz für die Erneuerung des Hausanschlusses mit einer Nennweite von DN 150 sei auch der Höhe nach berechtigt.
18
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts-, Widerspruchs- und Verwaltungsakte verwiesen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
19
Die zulässige Anfechtungsklage ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 23.10.2017 und der Widerspruchsbescheid vom 2.12.2019 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
20
Dabei geht das Gericht davon aus, dass die Beklagte zu Recht einen Erstattungsanspruch wegen der Erneuerung eines zuvor bestehenden Grundstücksanschlusses im öffentlichen Verkehrsraum geltend macht (A). Selbst wenn man aber (hilfsweise) unterstellt, dass die von den Voreigentümern verlegte 17 m lange Leitung lediglich ein Provisorium war, ändert sich an der Erstattungspflicht des Klägers nichts, denn es liegt dann ein Fall der erstmaligen Herstellung einer Grundstücksleitung vor, die gleichfalls einen Erstattungsanspruch in der hier geltend gemachten Höhe auslöst (B).
(A)
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Der angefochtene Bescheid, mit dem die Beklagte den Ersatz von Aufwendungen für die Erneuerung der Abwasserhausanschlussleitung des Anwesens des Klägers verlangt, findet seine Rechtsgrundlage in § 13 Abs. 1 Satz 1 KAG i.V.m. § 16 Abs. 10 Satz 2 AES i.V.m. §§ 1 Abs. 5a und 19 Abs. 1 Nr. 2a ESA.
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Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 KAG können die kommunalen Gebietskörperschaften bestimmen, dass ihnen die Aufwendungen für die Herstellung von Grundstücksanschlüssen, die Herstellung zusätzlicher Grundstücksanschlüsse und die Erneuerung von Grundstücksanschlüssen an leitungsgebundene Anlagen sowie Aufwendungen für Änderungs- und Unterhaltungsmaßnahmen, die von den Erstattungspflichtigen verursacht wurden, in der tatsächlich entstandenen Höhe, als Pauschalbetrag oder als Pauschalsatz je laufendem Meter erstattet werden. Von dieser gesetzlichen Ermächtigung hat die Beklagte in § 19 Abs. 1 Nr. 2a ESA dergestalt Gebrauch gemacht, dass ihr die Aufwendungen nicht nur für die Herstellung, sondern auch für die Erneuerung aller für ein Grundstück vorhandenen Grundstücksanschlüsse innerhalb des öffentlichen Verkehrsraum in der tatsächlichen Höhe zu erstatten sind. Erstattungspflichtig ist dabei gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 KAG i.V.m. § 19 Abs. 3 ESA, wer bei Fertigstellung der Maßnahme Eigentümer oder dinglich Nutzungsberechtigter des Grundstücks ist.
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Dementsprechend konnte die Beklagte mit Bescheid vom 23.10.2017 vom Kläger Aufwendungsersatz in der festgesetzten Höhe verlangen, denn er ist gemäß § 19 Abs. 3 AES als (Mit-)Eigentümer des Grundstücks "Im F..." der Beklagten in tatsächlicher Höhe erstattungspflichtig, weil es sich bei der Maßnahme um die Erneuerung eines Grundstücksanschlusses im öffentlichen Verkehrsraum im Sinne von § 19 Abs. 1 Nr. 2a Satz 1 ESA handelt.
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1) Die von der Firma B... im Auftrag der Beklagten verlegte 5,2 m lange Leitung ist eine Grundstücksanschlussleitung, denn sie verläuft von der nunmehr bis in den Bereich des klägerischen Grundstücks verlegten Straßenleitung bis zur Grundstücksgrenze (vgl. § 2 Abs. 2a, Abs. 4 AES).
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2) Die neu verlegte Grundstücksanschlussleitung diente der Erneuerung der zuvor verlegten 17 m langen, mit Betonrohren oder Steinzeug ausgeführten überlangen Hausanschlussleitung (vgl. §§ 4 Abs. 1; 16 Abs. 10 Satz 1 AES). Diese verband seit den frühen 1960er Jahren - nach Aufgabe einer Dreikammerfaulgrube auf dem Grundstück des Klägers - das Anwesen "Im F..." mit dem nächstgelegenen Abwasserstutzen 93560 am südwestlichen Bereich des Nachbargrundstücks "im F...", an dem auch die damals vorhandene Abwassersammelleitung endete. Zwar haben die Beteiligten keine gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AES nach heutiger Satzungslage erforderliche Genehmigung für einen solchen überlangen Hausanschluss vorgelegt. Ebenso fehlt eine Kostenübernahmeerklärung der Voreigentümer des klägerischen Grundstücks. Dies steht aber in Anbetracht des seit der Leitungsverlegung verstrichenen Zeitraums sowie des Eigentümerwechsels, bei dem möglicherweise auch ältere Unterlagen nicht übergegangen sind, der lebensnahen Annahme nicht entgegen, dass mangels einer an das Grundstück des Klägers herangeführten Abwassersammelleitung den Voreigentümern durch die Verlegung eines überlangen Hausanschlusses die Möglichkeit eröffnet wurde, ihr Abwasser statt wie zuvor über eine Dreikammerfaulgrube, nun mittels Hausanschlussleitung an den alten Abwasserstutzen 93560 anzuschließen. Die Tatsache, dass der Eigentümer des Anwesens "Im F..." entsprechend dieser Rechtslage die Kosten der ersten Herstellung des Grundstücksanschlusses möglicherweise selbst getragen hat, lässt die grundsätzliche Erstattungspflicht im Falle der Erneuerung des Anschlusses unberührt. Dies gilt auch für den Umstand, dass für dieses Anwesen möglicherweise in den vergangenen Jahrzehnten Abwassergebühren und wiederkehrende Abwasserbeiträge bezahlt wurden, denn die Beklagte hat von der Möglichkeit des § 13 Abs. 1 Satz 2 KAG, wonach die Kosten für die Herstellung und Erneuerung von Grundstücksanschlüssen im öffentlichen Verkehrsraum in die Gebühren und Beiträge einbezogen werden können, in den §§ 1 Abs. 5a, 9 Abs. 1 und 19 ESA gerade keinen Gebrauch gemacht.
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3) Der hiergegen gerichtete Einwand des Klägers, dass nach seiner Einschätzung die in den frühen 1960er Jahren verlegte Leitung als regulärer Abwasserkanal - und nicht als Hausanschlussleitung - verlegt worden sei, greift nicht durch. Denn nach den unbestrittenen Darlegungen der Beklagten und den vorgelegten Plänen existierte bis 2016 keine Abwassersammelleitung im Bereich des klägerischen Grundstücks, auch nicht in Gestalt der 17 m langen Beton- oder Steinzeugleitung. Dies ergibt sich zunächst aus dem Bauantrag aus dem Jahr 1959, wo als Entwässerungsart für das Grundstück des Klägers eine Dreikammerfaulgrube angeführt ist. Diese vermittelte dem Grundstück zunächst eine ordnungsgemäße Entwässerung. Die Beklagte hat mit Hinweis auf die verwandtschaftlichen Verhältnisse zum damaligen Zeitpunkt schlüssig dargelegt, dass diese Baugenehmigung auch das Anwesen "Im F..." betraf. Weiter belegt der zur Verwaltungsakte genommene Bestandsplan, dass bis 2016 eine öffentliche Abwassersammelleitung in Gestalt einer Steinzeugleitung nur bis zu dem alten Abwasserstutzen 93560 am südwestlichen Ende des Grundstücks "Im F... " bestand. Projektiert war hingegen zu diesem Zeitpunkt die Verlegung einer Abwassersammelleitung aus Polypropylen - ausgeführt als Mischwasserkanal - bis zum südöstlichen Ende des klägerischen Anwesens sowie die Herstellung eines neuen Abwasserstutzens an dieser Stelle, ebenfalls mit der Stutzennummer .... Auch ein Bestandsplan vom November 2015 weist als Kanalbestand lediglich eine aus Steinzeug gefertigte Leitung bis zu dem alten Abwasserstutzen ..., nicht jedoch im Bereich des klägerischen Grundstücks aus. Ergänzend hat die Beklagte darauf verwiesen, dass östlich des alten Stutzens ... weder nach ihrem Entwässerungsplan, noch nach ihrem Vermögens- oder Anlageverzeichnis eine Leitung erfasst war. Dieser Umstand korrespondiert mit der Annahme, dass damals nur ein überlanger Hausanschluss, aber keine Abwassersammelleitung verlegt wurde. Denn das Fehlen dieser Leitung in den soeben erwähnten Unterlagen erscheint konsequent, weil nach der Rechtsprechung des OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.9.2006 - 6 A 10506/06.OVG und Urteil vom 31.10.1996 - 12 A 13386/95.OVG) Grundstücksanschlüsse an leitungsgebundene Anlagen im öffentlichen Verkehrsraum - jedenfalls im Bereich der Abwasserbeseitigung - nicht Bestandteil der Entwässerungseinrichtung sind, wenngleich diese dennoch dem öffentlich-rechtlichen Kostenregime unterfallen.
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4) Weiter liegen hier auch die Voraussetzungen einer Erneuerungsmaßnahme vor.
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a) Unter den Begriff der Erneuerung fällt jede Wiederherstellung eines nach bestimmungsgemäßer Nutzung abgenutzten Anschlusses durch die Ersetzung der ganzen Leitung oder eines nicht unerheblichen Teils der Leitung. Die Beklagte hat die zuvor 17 m überlange Hausanschlussleitung entfernt und stattdessen eine 5,2 m lange Hausanschlussleitung verlegt. Die damit verbundenen Arbeiten gestalteten nicht lediglich die alte Leitung im Sinne einer nicht erstattungsfähigen Änderung um (vgl. hierzu: OVG RP, Urteil vom 29.6.2017 - 6 A 11639/16.OVG). Diese Maßnahme geht vielmehr quantitativ und qualitativ erheblich über die Reparatur oder Unterhaltung einer vorhandenen Leitung hinaus. Denn die neue Hausanschlussleitung unterscheidet sich von der bisherigen Leitung sowohl was die Länge und den Verlauf, als auch das Leitungsmaterial und die Dimensionierung (DN 150 statt bisher DN 100) betrifft. Die neue Leitung tritt somit funktional vollständig an die Stelle der in den 1960er Jahren verlegten Altleitung.
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b) Im Jahr 2016 bestand auch Erneuerungsbedarf.
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aa) Gemäß § 6 Abs. 1 AES ist jeder Anschlussberechtigte verpflichtet, sein Grundstück an die Abwasseranlage anzuschließen, wenn für das Grundstück eine betriebsfertige öffentliche Abwasseranlage hergestellt wurde und vorgehalten wird. Die Befolgung dieses Anschluss- und Benutzungszwangs setzt das Vorhandensein funktionstüchtiger Grundstücksanschlüsse voraus (vgl. § 16 AES). Bei der Entscheidung, ob und wann Kanalanschlussleitungen infolge Verschleißes einer Erneuerung bedürfen, hat die Gemeinde einen Einschätzungsspielraum. Als Folge ihrer kraft Gesetzes vorgegebenen Pflicht zur unschädlichen Beseitigung der im Gemeindegebiet anfallenden Abwässer (vgl. § 18a WHG) muss die Gemeinde die Abwasseranlage und die Grundstücksanschlussleitungen in einem technisch einwandfreien Zustand halten, um eine Störung der Ortsentwässerung möglichst zu vermeiden. Diese gesetzgeberische Zielsetzung gebietet es daher, dass eine Gemeinde Grundstücksanschlussleitungen nicht erst bei Eintreten eines Schadens erneuert, sondern bereits dann, wenn deren Zustand in absehbarer Zeit nach den Regeln der Entsorgungstechnik - etwa verschleißbedingte - Störungen erwarten lässt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 8.2.1990 - 22 A 2053/88). Voraussetzung für eine Verschlissenheit ist also nicht, dass der Kanal auf Grund der Abnutzung nicht mehr bestimmungsgemäß genutzt werden kann. Vielmehr genügt, dass in absehbarer Zeit verschleißbedingte Störungen zu erwarten sind, die die unschädliche Abwasserbeseitigung gefährden (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 17.3.2014 - 13 L 235/14). Erweisen sich also Anschlussleitungen für die unschädliche Abwasserbeseitigung als untauglich, z.B. weil sie schadhaft geworden sind oder (z.B. aus Altersgründen) in absehbarer Zeit untauglich zu werden drohen, und werden sie deshalb von der Gemeinde erneuert, so nimmt die Kommune Handlungen vor, die der ordnungsgemäßen Erfüllung der Anschlusspflicht an die gemeindliche Abwasseranlage dienen, und damit zum Pflichtenkreis des Grundstückseigentümers gehören und die ihn von der diesbezüglichen Last befreien. Dabei hat die Gemeinde bei der Frage, ob eine Grundstücksanschlussleitung erneuerungsbedürftig ist, einen Einschätzungsspielraum (zusammenfassend: VG NW, Urteil vom 9.2.2017 - 4 K 883/16.NW; VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2009 - 5 K 4176/08). Damit ist die Verantwortung für die Feststellung der Erneuerungsbedürftigkeit nach der von § 13 KAG gedeckten Normstruktur der §§ 16 AES, 19 ESA der Gemeinde übertragen, wobei die Ermächtigungsnorm im Hinblick auf die erforderliche Prognoseentscheidung der Gemeinde eine Bandbreite von zulässigen Entscheidungsalternativen eröffnet. Die Prüfung der Gerichte beschränkt sich deshalb auf die Rechtmäßigkeit der aufgrund willkürfreier Ermittlungen vorgenommenen Bewertung durch die Gemeinde. Es ist dagegen nicht Aufgabe der Judikative, die der Exekutive zugewiesene Wertung durch eine eigene Prognose zu ersetzen. Die Rechtmäßigkeitsprüfung erfolgt dabei aus der Sicht ex ante. Es können also nur solche Umstände, Daten, Erfahrungssätze und Entwicklungstendenzen verwandt werden, die zum maßgeblichen Zeitpunkt (hier: der Entscheidung, die Altleitung zu ersetzen) vorlagen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den in den einschlägigen Richtlinien enthaltenen Angaben lediglich um Anhaltspunkte handelt, die keine starren Vorgaben oder gar Bindungen für den Einzelfall enthalten (vgl. zu den vorstehenden Ausführungen OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8.2.1990, a.a.O.). Dass eine Erneuerung i.S.d. § 13 Abs. 1 Satz 1 KAG im Allgemeinen erst nach Ablauf der Nutzungsdauer eines Grundstücksanschlusses in Betracht kommt, folgt nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Begriffe "Erneuerung" einerseits und "Änderung" andererseits. Dies ergibt sich aber aus dem vom Gesetzgeber mit der Bestimmung des § 13 Abs. 1 Satz 1 KAG verfolgten Zweck unter Berücksichtigung der normativen Risikoverteilung (OVG RP, Urteil vom 29.6.2017, a.a.O.).
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bb) Daran gemessen ist die Entscheidung der Beklagten, die Grundstücksanschlussleitung des Anwesens "Im F..." im Zuge der Straßenausbau- und Kanalarbeiten im Jahr 2016 zu erneuern, rechtlich nicht zu beanstanden.
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Die in den frühen 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts verlegte Hausanschlussleitung war im Zeitpunkt ihrer Erneuerung über 50 Jahre alt. Damit war ihre reguläre Nutzungsdauer abgelaufen. Die für die Erneuerung anzusetzende betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer wird in der Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt. So beträgt die übliche Nutzungsdauer nach VG Düsseldorf (Urteil vom 20.3.2009, a.a.O.) nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik bei Leitungen aus Steinzeug mit vorgefertigter Dichtung 120 Jahre, Steinzeugrohren ohne vorgefertigte Dichtung 80 Jahre, Gussrohren 50 Jahre, Betonrohren 40 Jahre, Kunststoff (Kanalgrundleitungsrohre) 50 Jahre und bei PE-HD Druckrohrleitungen 50 Jahre. Es sei, so dieses Gericht weiter, bei dieser Sachlage mithin sachgerecht, dass die Satzung einen Erneuerungsbedarf für Anschlussleitungen entsprechender Qualität nach 80 bzw. 50 Jahren vorsieht, um der Gefahr verschleißbedingt schädlicher Abwasserbeseitigung vorzubeugen. Nach OVG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 6.6.1997 - 9 A 5899/95) beträgt die übliche Nutzungsdauer bei Kanalleitungen 80 und bei sonstigen Bauwerken 50 Jahre. Das VG Gelsenkirchen (Urteil vom 13.1.2011 - 13 K 774/09) geht hingegen davon aus, dass die technische Lebensdauer von Abwasserkanälen für Haltungen aus Betonrohren, unterschieden nach ihrer jeweiligen Funktion, für Schmutzwasserkanäle auf 30-50 Jahre beträgt; Voraussetzung für eine Verschlissenheit ist nach dieser Entscheidung, dass der Kanal auf Grund der Abnutzung nicht mehr bestimmungsgemäß genutzt werden kann oder in absehbarer Zeit verschleißbedingte Störungen zu erwarten sind, die die unschädliche Abwasserbeseitigung gefährden. Das VG Gelsenkirchen führt dazu weiter aus, dass zur Ermittlung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer auf die der Vermögensbewertung dienenden Wertermittlungsrichtlinien des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zurückzugreifen sei. Das selbe Gericht hat später (Urteil vom 10.11.2016 - 13 K 3414/14) nochmals entschieden, dass die technische Lebensdauer von Abwasserkanälen für Haltungen aus Betonrohren, unterschieden nach ihrer jeweiligen Funktion, für Schmutzwasserkanäle auf 30-50 Jahre und für Regenwasserkanäle auf 40-60 Jahre festgesetzt wird. Das OVG Rheinland-Pfalz ging jedenfalls bei einem Mischwasserkanal nach 44 Jahren vom Ablauf der üblichen Nutzungsdauer aus (OVG RP, Beschluss vom 29.6.2007 - 6 B 10418/07.OVG). Das OVG Rheinland-Pfalz tendiert in einer weiteren Entscheidung (Urteil vom 29.6.2017 - 6 A 11639/16.OVG) bei Hausanschlüssen zur Auffassung, dass bei einer technischen Abnutzung der Anschlussnehmer die Erneuerungskosten ebenso tragen soll, wie im Fall der erstmaligen Herstellung, und zwar unabhängig davon, ob bereits 40 Jahre seit der Installation des Grundstücksanschlusses verstrichen sind. Bei der anzusetzenden Nutzungsdauer geht das OVG Rheinland-Pfalz danach offenbar von 40 Jahren aus. Dieser Auffassung folgt die erkennende Kammer auch mit Blick auf die zur Bekräftigung herangezogene Regelung in § 37 KAG 1986. Dort ging der rheinland-pfälzische Gesetzgeber bei Hausanschlüssen von einer üblichen Nutzungsdauer von 40 Jahren aus. Für diese Auffassung spricht der Gedanke der Rechtskontinuität und Rechtssicherheit.
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cc) Selbst wenn der Ablauf der gewöhnlichen Nutzungsdauer einer Hausanschlussleitung allein nicht als Grund für deren Erneuerung angesehen würde, ist die Entscheidung der Beklagten die Altleitung zu erneuern, mit Blick auf die Besonderheiten des vorliegenden Falls rechtlich nicht zu beanstanden. Denn die Beklagte hat zutreffend darauf verwiesen, dass die Erneuerung jedenfalls der über 50 Jahre alten Hausanschlussleitung vertretbar erscheint. Denn deren Anschluss an die neuverlegte Polypropylen-Leitung war materialbedingt nicht mehr ohne Zusatzaufwand möglich. Zudem war die alte Leitung teilweise mit 100 DN nicht hinreichend dimensioniert. Außerdem erneuerte die Beklagte 2016 nicht nur die Hausanschlussleitungen, sondern führte ihre bisher nur bis zum südwestlichen Bereich der Fnr. .../... reichende Kanalleitung bis zum Grundstück des Klägers fort. Sie versetzte zudem den Abwasserstutzen von der Fnr. ..../.. weg in den östlichen Bereich auf Höhe des klägerischen Grundstücks. Zugleich erfolgte auch noch der Ausbau der Verkehrsanlage "Im F...". Gerade im Ausbaubeitragsrecht ist anerkannt, dass der Straßenbaulastträger Kanalarbeiten zum Anlass nehmen kann, bei Ablauf der Nutzungsdauer der Verkehrsanlage diese zeitgleich mit den Leitungsarbeiten auszubauen (OVG RP, Urteil vom 11.5.2020 - 6 A 11143/19.OVG; Beschluss vom 23.6.2010 - 6 A 10399/10.OVG; Urteil vom 14.3.2008 - 6 A 11227/08.OVG; Beschluss vom 25.2.2000 - 6 B 10257/00.OVG; Urteil vom 13.10.1992 - 6 A 12299/91.OVG). Diese Erwägung gilt freilich auch im umgekehrten Fall der Kombination von Leitungs- und Straßenbauarbeiten. Demnach ist nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte zur Vermeidung erneuter Ausschachtungs- und Leitungsarbeiten, bei Gelegenheit der Straßenausbauarbeiten und der Verlängerung und Umplanung ihrer Kanalleitung, in der Straße "Im F..." jedenfalls die Hausanschlussleitungen erneuert, die ein fortgeschrittenes Alter (hier über 50 Jahre) erreicht hatten, nicht hinreichend dimensioniert waren und aufgrund unterschiedlicher Materialien nicht mit normalem Aufwand an die Kanalleitung angeschlossen werden konnten. Zuletzt ist die Erneuerungsentscheidung der Beklagten auch deshalb nicht zu beanstanden, weil eine von den Voreigentümern des klägerischen Grundstücks im öffentlichen Verkehrsraum verlegte Dachentwässerungsleitung eine Leckage ausgewiesen hatte, die 2006 zur Ausspülung und Absenkung der Straßenfläche geführt hatte. Der Kläger hatte dies auf ein Befahren der Straße durch einen Tanklastwagen zurückgeführt. Vor diesem Hintergrund war es nicht sachwidrig, die 17 m lange Leitung anlässlich der geschilderten umfangreichen Arbeiten an der Kanalisation und an der Verkehrsfläche zu erneuern, bevor auch diese Leckagen aufweist.
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Damit bleibt festzuhalten, dass mit Blick auf die Besonderheiten des vorliegenden Falls die Beklagte nicht verpflichtet war, mit der Erneuerung der Anschlussleitung zuzuwarten, bis diese nicht mehr funktionstüchtig wird.
35
dd) Der Kläger kann schließlich nicht mit Erfolg darauf verweisen, seine Hausanschlussleitung sei bereits im Jahr 2006 erneuert worden, womit eine Erneuerung im Jahr 2016 nicht erforderlich gewesen sei. Hierbei verkennt der Kläger, dass Gegenstand der Reparaturarbeiten im Jahr 2006 - ausweislich der Rechnung der Firma Faust vom 14.9.2006 - nicht der 2016 erneuerte Hausanschluss, sondern eine weitere - wohl von den Voreigentümern verlegte - Leitung war, die der Fortleitung des von den Dachflächen abfließenden Niederschlagswassers diente. Diese weitere Leitung wurde zudem nur auf einer Länge von 1 m repariert und damit nicht erneuert.
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5) Sollte die ursprüngliche Hausanschlussleitung nicht von der Beklagten, sondern von den Grundstückseigentümern auf deren Kosten verlegt worden sein, ist dies im Hinblick auf die hier streitgegenständliche Erstattungspflicht unerheblich. KAG und ESA sehen nämlich einen Aufwendungsersatz des Grundstückseigentümers nicht nur für die Erneuerung, sondern auch für die Herstellung von Grundstücksanschlüssen vor (VG NW, Urteil vom 9.2.2017, a.a.O.). Sollte die 17 m lange Leitung also nicht als Hausanschlussleitung verlegt und genehmigt gewesen sein, läge in diesem Fall im Jahr 2016 eine erste Herstellung einer Hausanschlussleitung vor, die gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 KAG i.V.m. § 16 Abs. 10 Satz 2 AES i.V.m. §§ 1 Abs. 5a und 19 Abs. 1 Nr. 2a ESA ebenfalls den hier streitigen Erstattungsanspruch begründet.
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6) Schließlich begegnet auch die Höhe des geltend gemachten Aufwendungsersatzes keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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a) Der Erstattungsanspruch des § 13 Abs. 1 Satz 1 KAG stellt einen öffentlich-rechtlichen Anspruch eigener Art dar, der in der Sache mit dem Aufwendungsersatzanspruch eines auftragslosen Geschäftsführers gemäß §§ 683, 670 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB – vergleichbar ist. Diese Bestimmungen sind daher auf den geltend gemachten Erstattungsanspruch mit Einschränkungen entsprechend anwendbar. Eine Geschäftsführung ohne Auftrag verpflichtet den Geschäftsherrn nach § 670 BGB (nur) zum Ersatz solcher Aufwendungen, die der Geschäftsführer den Umständen nach für erforderlich halten durfte. Diese Begrenzung der Erstattungspflicht durch das Merkmal der Erforderlichkeit ist nicht gleichbedeutend mit dem beitragsrechtlichen Grundsatz, dass nur der erforderliche Aufwand beitragsfähig ist. Wenngleich im Erschließungsbeitragsrecht der Gemeinde bei der Beurteilung der Angemessenheit von Kosten ein weiter Entscheidungsspielraum zugebilligt wird, der durch die Erforderlichkeit begrenzt wird, und ein solcher auch im Ausbaubeitragsrecht anerkannt ist, gilt dies nicht in gleicher Weise für Aufwendungen, die der Geschäftsführer in analoger Anwendung des § 670 BGB den Umständen nach für erforderlich halten darf. Denn die Erstattungspflicht des Grundstückseigentümers für einen Hausanschluss unterscheidet sich in wesentlicher Hinsicht von der Erhebung von Beiträgen. Während die letztgenannten errechnet werden, indem man den beitragsfähigen Aufwand nach einem vorteilsorientierten Maßstab verteilt, bedeutet Erstattung von Aufwendungen, dass die Kosten, die für ein bestimmtes Grundstück angefallen sind, in der tatsächlich entstandenen Höhe ersetzt werden. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass der Erstattungsanspruch – anders als der Beitrag – nicht durch einen Gemeindeanteil gemindert wird, der erwarten lässt, der kommunale Entscheidungsträger werde sich schon im finanziellen (Eigen-)Interesse der Gemeinde an den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit halten. Eine solche Erwartung wird nicht in jedem Falle auch dann bestehen, wenn von der abwasserbeseitigungspflichtigen Gemeinde verursachte Kosten ausschließlich von den Grundstückseigentümern getragen werden müssen. Da sich die Kosten von Baumaßnahmen, die nicht beitragsfinanziert, sondern in vollem Umfang erstattet verlangt werden, mithin unmittelbar auf die Höhe der Geldleistungsforderung des Herangezogenen auswirken, muss eine Kommune in einem solchen Fall die Interessen des Erstattungspflichtigen in besonderer Weise bei der Beurteilung der Erforderlichkeit kostenverursachender Maßnahmen berücksichtigen (OVG RP, Urteil vom 14.7.2015 - 6 A 11179/14.OVG, m.w.N.).
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b) Diesen Vorgaben wird die Höhe des hier streitigen Erstattungsanspruchs gerecht.
40
aa) So hat die Beklagte, ohne dass dem der Kläger substantiiert widersprochen hat, dargelegt, dass die Firma B... nach einer vorausgegangenen Ausschreibung das günstigste Gesamtangebot unterbreitet hat.
41
bb) Weiter hat der Stadtrechtsausschuss der Beklagten in seinem Widerspruchsbescheid vom 2.12.2019 überzeugend ausgeführt, weshalb für jede Anschlussstelle Absperrkosten i.H.v. 165 € in Ansatz gekommen sind. Hierauf kann gemäß § 117 Abs. 5 VwGO verwiesen werden.
42
cc) Auch besteht keine signifikante Diskrepanz zwischen der Menge des berechneten Aushubs und dem wieder eingebauten Füllmaterial. Beide Ansätze finden sich in der Rechnung der Firma B.... mit 2 m³.
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dd) Schließlich wurde dem Kläger auch nur der Aufwand für "seine" 5,2 m lange Hausanschlussleitung in Rechnung gestellt.
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7) Die Heranziehung des Klägers zur Aufwandserstattung verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 3 Grundgesetz). Die Beklagte hat auf den Vorhalt des Klägers, eine Nachbarin sei nicht zur Aufwandserstattung herangezogen worden, im Einzelnen ausgeführt, dass deren Hausanschlussleitung noch deutlich jünger als diejenige des Klägers gewesen sei und die Beschaffenheit der Hausanschlussleitung der Nachbarin mit der öffentlichen Kanalleitung kompatibel gewesen sei. Dem ist der Kläger zwar entgegengetreten. Selbst aber, wenn bei der Nachbarin ebenfalls die Voraussetzungen für eine Erneuerung der Hausanschlussleitung vorgelegen hätten, machte dies die Heranziehung des Klägers zu den streitigen Aufwendungen nicht rechtswidrig.
(B)
45
Selbst wenn das Gericht hier (hilfsweise) davon ausgeht, dass die in den frühen 1960ern verlegte Leitung kein überlanger Hausanschluss war, ändert sich am Ausgang des vorliegenden Verfahrens nichts. Es liegt in diesem Fall im Jahr 2016 eine erste Herstellung einer Hausanschlussleitung vor, die gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 KAG i.V.m. § 16 Abs. 10 Satz 2 AES i.V.m. §§ 1 Abs. 5a und 19 Abs. 1 Nr. 2a ESA ebenfalls den hier streitigen Erstattungsanspruch begründet.
46
Denn qualifiziert man die damals verlegte 17 m lange Leitung als Provisorium i.S.d. heutigen § 4 Abs. 3 AES, so verfügte das Anwesen des Klägers bis zur Herstellung der im Jahr 2016 verlegten 5,2 m langen Hausanschlussleitung noch über keinen ordnungsgemäßen Hausanschluss an einen öffentlichen Abwasserkanal. Für diese Annahme spricht die Ausführung der damals verlegten Leitung mit textilen und teerhaltigen Muffen, was als Abdichtungsmix bei einer einheitlichen Leitung für dessen provisorische Beschaffenheit spricht. Für diesen rechtlichen Ansatz und gegen die Annahme der Verlegung eines öffentlichen Abwasserkanals bereits in den 1960er Jahren im maßgeblichen Bereich sprechen ebenfalls die unter A Punkt 3 des vorliegenden Urteils niedergelegten Erwägungen. Hinzukommt, dass die Unterhaltung, Änderung und Erneuerung des Provisoriums dem Grundstückseigentümer obliegen (§ 4 Abs. 3 Satz 2 AES), was erklärt, weshalb diese Leitung nicht als öffentliche Leitung im Bestands- und Vermögensverzeichnis der Beklagten aufgeführt war.
47
Schlussendlich verweist das erkennende Gericht darauf, dass die angeführten zivilrechtlichen Entscheidungen zur früheren Dachentwässerungsleitung des Klägers für die öffentlich-rechtliche Bewertung der hier streitigen Maßnahme nicht verbindlich sind (vgl. LG FT, Urteil vom 24.3.2010 - 2 S 392/09 und AG NW, Urteil vom 28.10.2009 - 4 C 374/07). Die zivilgerichtlichen Urteile enthielten sich dezidiert einer öffentlich-rechtlichen Bewertung, weil damals - anders als es die Satzungslage eröffnete - kein Bescheid der Beklagten gegen den Kläger ergangen war, der im zivilgerichtlichen Verfahren u.U. hätte mitgeprüft werden müssen. Die Rechtslage nach Haftpflichtversicherungsgesetz oder nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches ist dabei, anders als vor den Zivilgerichten, vorliegend nicht maßgeblich, sondern allein die Vorgaben des § 13 Abs. 1 KAG und die mehrfach zitierten satzungsrechtlichen Bestimmungen.
48
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
49
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten folgt den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.
Beschluss
50
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 1.730,91 € festgesetzt (§§ 52, 63 Abs. 2 GKG).
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Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17. Juli 2019 wird aufgehoben.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
1T a t b e s t a n d
2Der am 5. Februar 1993 in S./Syrien geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 28. Mai 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24. Juni 2019 einen Asylantrag bei der Beklagten. Ausweislich eines EURODAC-Treffers der Kategorie 1 hatte der Kläger am 15. April 2019 bereits in G./Griechenland die Gewährung internationalen Schutzes beantragt.
3Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 4. Juli 2019 gab der Kläger an, er sei mit Hilfe eines Schleppers über die türkische Grenze nach Griechenland gekommen. In Griechenland habe er keinen Asylantrag stellen, sondern nach Deutschland weiterreisen wollen. Er sei aber festgenommen worden und habe seine Fingerabdrücke abgeben müssen. Er habe keine Wahl gehabt. In Griechenland sei er nur 15 Tage gewesen, dann sei er mit Hilfe eines Schleppers mit dem Flugzeug nach Deutschland gekommen.
4Ein Aufnahmegesuch des Bundesamts vom 4. Juli 2019, in dem das Bundesamt für den Fall einer Annahme des Gesuchs um die Abgabe einer individuellen Zusicherung gebeten hatte, dass der Antragsteller im Fall einer Rückführung nach den Standards des europäischen Rechts behandelt wird, wurde von der griechischen Asylbehörde mit Schreiben vom 15. Juli 2019 unter Verweis auf Art. 18 Abs. 1 lit. b) Dublin III-VO akzeptiert. Dem Schreiben war u. a. folgender Text beigefügt:
5
6Mit Bescheid vom 17. Juli 2019, dem Kläger zugestellt am 24. Juli 2019, lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.), und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Griechenland an (Ziffer 3.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.). Zur Begründung verwies das Bundesamt im Wesentlichen darauf, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, weil sich eine Zuständigkeit Griechenlands für die Bearbeitung des Asylgesuchs ergebe. Abschiebungsverbote lägen nicht vor, insbesondere sei nicht mit einer Verletzung von Art. 3 EMRK zu rechnen.
7Der Kläger hat am 30. Juli 2019 Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt (4 L 884/19.A). Zur Begründung trägt er vor, im Fall einer Rückkehr drohe ihm in Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK. Nach der Empfehlung der Europäischen Kommission vom 8. Dezember 2016 dürften Rückführungen zur Durchführung von Asylverfahren nur dann vorgenommen werden, wenn im Einzelfall aufgrund einer Zusicherung der griechischen Behörden feststehe, dass keine Verletzung von Art. 3 EMRK drohe, insbesondere müsse feststehen, dass der Zurückzuführende in einer Flüchtlingsunterkunft unterkommen könne. Eine solche konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung liege hier aber nicht vor. Die abgegebene Zusicherung der griechischen Asylbehörde sei nicht hinreichend konkret, sie enthalte keine Angaben dazu, in welcher Einrichtung der Kläger in Griechenland untergebracht werden solle. Sie enthalte weiterhin keine Angaben dazu, wo sich diese Einrichtung befinde, wie sie ausgestattet sei und dass sich in dieser Einrichtung überhaupt noch freie Unterbringungsplätze befänden. Vor diesem Hintergrund sei im Falle einer Rückführung des Klägers eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu befürchten.
8Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
9den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17. Juli 2019 aufzuheben.
10Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
11die Klage abzuweisen.
12Zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags bezieht sie sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids.
13Dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat die vormals zuständige 4. Kammer des erkennenden Gerichts mit Beschluss vom 14. August 2019 stattgegeben (4 L 884/19.A).
14Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens und des Verfahrens 4 L 884/19.A sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamts Bezug genommen.
16E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
17Die Klage, über die die Kammer mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.
18A. Die Klage ist zulässig, insbesondere als Anfechtungsklage statthaft. Denn im Fall eines Bescheids, mit dem das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abgelehnt hat, ist allein die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO die statthafte Klageart. Eine gerichtliche Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung hat zur Folge, dass das Bundesamt, wenn kein erneutes Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen nachrangig zuständigen Mitglied- oder Vertragsstaat in Betracht kommt, das Verfahren fortführen und eine Sachentscheidung treffen muss.
19Vgl. BVerwG, u. a. Urteile vom 9. Januar 2019 - 1 C 36.18 -, juris, Rn. 12, und vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 -, juris, Rn. 13 f.
20Hiermit wird dem Rechtsschutzbegehren des Klägers vollumfänglich entsprochen.
21B. Die zulässige Klage ist auch begründet.
22Der Bescheid des Bundesamts vom 17. Juli 2019 erweist sich im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
23I. Rechtsgrundlage für die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des Bundesamtsbescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
24Ein Asylantrag ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der „Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist“ (sog. Dublin III-VO), zuständig ist. Zuständig für ein Asylbegehren, das von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird (Art. 3 Abs. 3 Dublin III-VO), ist grundsätzlich der Mitgliedstaat, der einem Antragsteller einen Aufenthaltstitel ausgestellt oder ein gültiges Visum erteilt hat, mit dem er in die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten eingereist ist (Art. 12 Dublin III-VO). Zuständig für die Prüfung des Antrags eines Antragstellers, der illegal in die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten eingereist ist, ist der Mitgliedstaat, dessen Land-, See- oder Luftgrenze der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal überschritten hat (Art. 13 Dublin III-VO). In einem solchen Fall prüft das Bundesamt den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann, § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG.
25Hiervon ausgehend ist zunächst Griechenland nach Art. 13 Dublin III-VO für das Asylbegehren des Klägers zuständig geworden und gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b) Dublin III-VO verpflichtet, ihn nach Maßgabe der Art. 23, 24, 25 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen. Denn der Kläger, der syrischer Staatsangehöriger ist, hat sein Heimatland - vermutlich - Anfang April 2019 verlassen und ist über die Türkei auf dem Landweg illegal nach Griechenland eingereist. Dort hat er ausweislich des in der Bundesamtsakte befindlichen EURODAC-Treffers am 15. April 2019 einen Asylantrag gestellt. Am 28. Mai 2019 ist er weitergereist nach Deutschland und hat hier am 24. Juni 2019 ebenfalls um internationalen Schutz nachgesucht. Ein auf die vorherige Antragstellung in Griechenland gestütztes (Wieder-)Aufnahmegesuch des Bundesamts vom 4. Juli 2019 hat das griechische Migrationsministerium mit Schreiben vom 15. Juli 2019 unter Verweis auf Art. 18 Abs. 1 lit. b) Dublin III-VO angenommen.
26Die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags des Klägers auf Gewährung internationalen Schutzes ist jedoch nachträglich auf die Beklagte übergegangen.
27Zu einem Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist ist es zwar nicht gekommen. Die 6-Monats-Frist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO für eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ist mit der am 15. Juli 2019 erklärten Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs in Lauf gesetzt worden. Durch den am 30. Juli 2019 - innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG - gestellten Antrag auf gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (4 L 884/19.A) ist die Frist unterbrochen worden und nach Stattgabe des Antrags durch Beschluss vom 14. August 2019 nicht erneut angelaufen.
28Vgl. BVerwG; Vorlagebeschluss vom 27. April 2016 - 1 C 22.15 -, juris, Rn. 20 ff., und Urteil vom 26. Mai 2016 - 1 C 15.15 -, juris, Rn. 11 f.
29Die Zuständigkeit Griechenlands für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ist jedoch gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO entfallen.
30Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III der Dublin III-VO vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Dies wäre dann der Fall, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in diesem Zielstaat aufgrund systemischer Mängel, d. h. regelhaft, so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylsuchenden auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta droht.
31Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 9.
32Kann keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO).
33Die Voraussetzungen für einen Zuständigkeitsübergang aufgrund dieser Regelungen von Griechenland auf die Beklagte liegen vor. Denn dem Kläger droht in Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta.
341. Der sog. Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erlaubt zwar regelmäßig die Annahme, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten.
35Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 83, und vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 80, m. w. N.
36Im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems muss daher die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Dies gilt insbesondere bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (sog. Verfahrensrichtlinie), in dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylverfahrens der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck kommt.
37Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 85, und vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 82, m. w. N.
38Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist.
39Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 86, und vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 83, m. w. N.
40Daher ist das Gericht, das über die Unzulässigkeit eines Asylantrags zu entscheiden hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen.
41Vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 38, sowie Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 88, und - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 90, m. w. N.
42Solche Schwachstellen müssen jedoch eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Sie wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
43Vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39, sowie Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 89 f., und - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 91 f., m. w. N.
44Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.
45Vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 39, sowie Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 91, und - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 93.
46Ein Verstoß liegt ausgehend hiervon erst dann vor, wenn die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, insbesondere eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren und zu waschen („Bett, Brot, Seife“).
47Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., 44 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 27. Mai 2019 - A 4 S 1329/19 -, juris, Rn. 5.
48Der Verstoß muss zudem unabhängig vom Willen des Betroffenen drohen. Er liegt daher nicht vor, wenn der Betroffene nicht den Versuch unternimmt, sich unter Zuhilfenahme gegebener, wenn auch bescheidener Möglichkeiten und gegebenenfalls unter Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes eine Existenz im Abschiebezielstaat aufzubauen.
49Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 47 ff.; Schl.-H. OVG, Urteil vom 6. September 2019 - 4 LB 17/18 -, juris, Rn. 71, 174 f.
50Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Überstellung eines Antragstellers in den nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat nicht nur im Fall systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, sondern in all jenen Situationen ausgeschlossen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
51Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 85 ff., 87 f.
52Für die Anwendung von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
53Vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed) -, juris, Rn. 37, sowie Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 87, und - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 88, m. w. N.
54Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG darf sich daher nicht auf die Beurteilung systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat beschränken, sondern muss ebenfalls in den Blick nehmen, wie sich die Situation des Asylantragstellers nach Zuerkennung des internationalen Schutzstatus im zuständigen Mitgliedstaat darstellen wird. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Asylantragsteller konkrete Anhaltspunkte dafür benannt hat, dass ihm nach Zuerkennung internationalen Schutzes in dem zuständigen Mitgliedstaat eine Art 4 der EU-Grundrechtecharta widersprechende Behandlung droht.
55Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2019 - 2 BvR 721/19 -, juris, Rn. 22.
562. Ausgehend hiervon durfte der Asylantrag des Klägers nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abgelehnt werden, weil ihm zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK droht. Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Kläger unter Berücksichtigung der Umstände seines persönlichen Einzelfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und seine elementarsten Bedürfnisse, insbesondere eine menschenwürdige Unterkunft zu finden, für einen längeren Zeitraum nicht wird befriedigen können.
572.1 Bereits die Aufnahmebedingungen für sog. Dublin-Rückkehrer in Griechenland weisen - nach wie vor - systemische Mängel im vorgenannten Sinn auf.
58a. Der EGMR hat im Jahr 2011 festgestellt, dass das griechische Asylverfahren erhebliche strukturelle Mängel aufweise. Asylsuchende hätten sehr geringe Chancen, dass ihr Antrag von den griechischen Behörden ernsthaft geprüft werde. Mangels eines wirksamen Rechtsbehelfs seien sie letztlich nicht gegen eine willkürliche Abschiebung in ihr Herkunftsland geschützt. Die systematische Inhaftierung von Asylsuchenden ohne Angabe von Gründen und unter inakzeptablen Bedingungen stelle eine verbreitete Praxis griechischer Behörden dar. Die überdies unzulänglichen Lebensbedingungen in Griechenland führten zu einer erniedrigenden Behandlung von Asylsuchenden und damit zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK.
59Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - (M.S.S. v. Belgium and Greece), Kurztext bei juris, vollständige Originalfassung im Internet abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/eng#{"itemid":["001-103 050"]} (abgerufen am 28. September 2020).
60In der Folgezeit wurden ebenso wie in anderen Mitgliedstaaten auch in Deutschland Dublin-Überstellungen nach Griechenland ausgesetzt. Seit Erlass des Urteils im Jahr 2011 verfolgte das Ministerkomitee des Europarats die Lage in Griechenland auf der Grundlage von Fortschrittsberichten, die von der griechischen Regierung vorgelegt wurden. Unter dem 8. Dezember 2016 sprach die Europäische Kommission schließlich die Empfehlung aus, Dublin-Überstellungen von Personen, die ab dem 15. März 2017 nach Griechenland einreisen oder für die Griechenland ab dem 15. März 2017 nach den Dublin-Kriterien zuständig wird, schrittweise wieder aufzunehmen. Griechenland habe beim Aufbau der wesentlichen rechtlichen und institutionellen Strukturen für ein ordnungsgemäßes funktionierendes Asylsystem erhebliche Fortschritte erzielt. Insbesondere habe Griechenland die Gesamtaufnahmekapazität zuletzt beträchtlich erhöht. Es seien mehr Unterbringungsmöglichkeiten für schutzbedürftige Personen geschaffen worden. Griechenland habe die Kapazität des Asyldienstes ausgebaut und bei der Einrichtung von regionalen Asylbüros deutliche Verbesserungen zu verzeichnen gehabt. Mit der Einrichtung einer Rechtsbehelfsbehörde und von Rechtsbehelfsausschüssen im April 2016 seien Fortschritte dahingehend erzielt worden, dass Asylsuchende wirksamen Zugang zu einem Rechtsbehelf gegen eine ablehnende Entscheidung über ihren Antrag haben. Ebenso sei die Bereitstellung unentgeltlicher Rechtsberatung für Asylsuchende, die Rechtsbehelfe eingelegt haben, im griechischen Recht verankert worden.
61Zugleich stellte die Kommission jedoch auch eine Reihe fortwirkender schwerer Defizite fest. Was die Qualität anbelange, erfüllten viele der Aufnahmeeinrichtungen in Griechenland bei Weitem nicht die Anforderungen der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (sog. Aufnahmerichtlinie); dies gelte insbesondere für Unterkünfte auf den Inseln und einige der vorübergehenden Unterkünfte auf dem Festland. Die Hotspot-Einrichtungen auf den Inseln seien nicht nur überfüllt, sondern erfüllten, was die Bedingungen der Sanitär- und Hygieneanlagen und den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung insbesondere für schutzbedürftige Gruppen betreffe, nicht den Standard. Die Sicherheit sei unzureichend und es bestünden nach wie vor Spannungen zwischen verschiedenen Nationalitäten. Auch werde die Organisation der Aufnahme in Griechenland anscheinend unzureichend koordiniert. Als noch zu ergreifende Maßnahmen zählte sie insbesondere die Schaffung weiterer offener (winterfester) Aufnahmeeinrichtungen, die Schaffung von Strukturen für schutzbedürftige Asylsuchende und eine effektive Umsetzung der Vorschriften über die unentgeltliche Rechtsberatung auf. Vor diesem Hintergrund empfahl die Kommission keine uneingeschränkte Wiederaufnahme der Überstellungen nach Griechenland, sondern forderte vielmehr für jede zu überstellende Person eine individuelle Zusicherung der griechischen Behörden, dass sie in geeigneter Weise untergebracht und ihr Asylantrag dem EU-Recht entsprechend behandelt werde. Vulnerable Personen sollten vorläufig weiterhin nicht nach Griechenland überstellt werden.
62Vgl. Europäische Kommission, Empfehlung der Kommission vom 8.12.2016 an die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Wiederaufnahme der Überstellungen nach Griechenland gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013, im Internet abrufbar unter https:// ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/wh at-we-do/policies/european-agenda-migration/propos al-implementation-package/docs/20161208/recomme ndation_on_the_resumption_of_transfers_to_greece _de.pdf (abgerufen am 28. September 2020).
63In der Folge nahm die Beklagte ab dem 15. März 2017 Dublin-Überstellungen nach Griechenland mit Ausnahme vulnerabler Personen nach Maßgabe der Empfehlung der Europäischen Kommission wieder auf. Das Bundesamt holt seitdem mit dem (Wieder-)Aufnahmegesuch jeweils auch eine individuelle Zusicherung ein, dass der jeweilige Antragsteller für den Fall der Annahme des Gesuchs entsprechend den Regelungen der Aufnahmerichtlinie untergebracht und sein Antrag nach Maßgabe der Verfahrensrichtlinie bearbeitet wird.
64Vgl. den entsprechenden Erlass des Bundesministeriums des Innern vom 15. März 2017, im Internet abrufbar unter: https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/me dia/Dublin/BMI_v._15.3.17_zu_Dublin-UEberstellung en_nach_GR.pdf (abgerufen am 28. September 2020).
65b. Wurden die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Griechenland danach über Jahre hinweg bis zum Jahr 2017 einhellig als unmenschliche und erniedrigende Behandlung i. S. d. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. 3 EMRK eingestuft, ist das gegenseitige Vertrauen, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten, in Bezug auf Griechenland nachhaltig erschüttert worden.
66Vgl. auch BVerfG, Beschlüsse vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 -, juris, Rn. 25, und vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, juris, Rn. 22.
67Vor diesem Hintergrund bedarf die Annahme, dass dieses Vertrauen aufgrund einer nachhaltigen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse in Griechenland inzwischen wieder gerechtfertigt ist und systemische Mängel des griechischen Asylsystems und der Aufnahmebedingungen nicht mehr vorliegen, einer hinreichend verlässlichen, auf Tatsachen gestützten Grundlage. Diese ist vorliegend jedoch nicht festzustellen. Im Gegenteil steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger in Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta droht.
68aa. Die von der griechischen Asylbehörde mit Schreiben vom 15. Juli 2019 gegenüber dem Bundesamt abgegebene individuell auf den Kläger bezogene Zusicherung rechtfertigt nicht die Annahme, dass er im Fall seiner Überstellung nach Griechenland keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird und eine angemessene Bearbeitung seines Asylgesuchs erwarten kann.
69In der Zusicherung vom 15. Juli 2019 haben die griechischen Behörden entsprechend ihrer bis Mai 2020 geübten Praxis zunächst erklärt, dass der Kläger in einer Aufnahmeeinrichtung in Übereinstimmung mit der Aufnahmerichtlinie untergebracht wird. Hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren entsprechend der Verfahrensrichtlinie haben die griechischen Behörden zudem zugesichert, dass der Kläger nach seiner Ankunft am Flughafen mit Hilfe eines Dolmetschers über das Verfahren im Einzelnen in Kenntnis gesetzt wird, das heiße („i. e.“) über die Antragsfristen und die Adresse und Öffnungszeiten der Behörde. Derzeit dauerten die Asylverfahren in erster Instanz im Durchschnitt sechs Monate.
70Diese Zusicherung deckt jedoch nicht alle Aspekte ab, die bei der Überprüfung der systemischen Schwachstellen im oben genannten Sinne gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO in den Blick zu nehmen sind. Zugesichert wird, dass die Aufnahmebedingungen für den Kläger im konkreten Fall keine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen und er in einer den Anforderungen an die Aufnahmerichtlinie entsprechenden Aufnahmeeinrichtung untergebracht werden wird. Details hierzu würden übermittelt, sobald das Datum der Überstellung benannt werde. Ob eine Zusicherung in dieser Allgemeinheit ausreicht oder aber erforderlich ist, dass bereits die Unterbringung in einer konkret benannten Aufnahmeeinrichtung zugesichert wird, kann an dieser Stelle offenbleiben.
71Vgl. hierzu auch VG Meiningen, Beschluss vom 8. November 2019 - 2 E 1275/19.Me -, soweit ersichtlich nicht veröffentlicht, Beschlussabdruck S. 8; vgl. zur praktischen Abwicklung Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4. Dezember 2019 an das VG Berlin, S. 2.
72Denn die Zusicherung erweist sich jedenfalls hinsichtlich der Durchführung des Asylverfahrens als lückenhaft und unzureichend. Sie betrifft nur den Zugang zum Asylverfahren, nicht aber das danach folgende Verfahren. Der Zugang zum Asylverfahren ist in Art. 6 der Verfahrensrichtlinie geregelt. Die Vorschrift trifft Verfahrensregelungen zur Registrierung der Asylsuchenden (Abs. 1) und zur förmlichen Antragstellung (Abs. 2 bis 4). Allein auf diese ersten Verfahrensschritte bezieht sich die von den griechischen Behörden erteilte Zusicherung, da sie ausdrücklich nur die Prozedur erläutert, welche der Kläger bei seiner Ankunft am Flughafen erfahren wird (Zugang zu Informationen zum Asylverfahren mit Hilfe eines Dolmetschers). Hierfür spricht auch, dass die Zusicherung den diesbezüglichen Satz einleitet mit dem Begriff „Zugang zum Asylverfahren“ („[…] access to the asylum procedure […]“). Hierbei handelt es sich um die in der englischen Fassung der Verfahrensrichtlinie in Artikel 6 benutzte Überschrift. Diese Formulierung kann vor diesem Hintergrund nur dahingehend verstanden werden, dass sie lediglich für den Zugang zum Asylverfahren konkrete Zusicherungen enthält, das heißt für den ersten Schritt im Asylverfahren, nicht aber für den weiteren Lauf des Asylverfahrens (z. B. bezüglich einer persönlichen Anhörung [Art. 14 ff. der Verfahrensrichtlinie], eines Rechtsbeistands [Art. 20 ff. der Verfahrensrichtlinie], des Einsatzes von Dolmetschern [Art. 15 Abs. 3 lit. c der Verfahrensrichtlinie] oder Abschiebungsschutzes während des laufenden Asylverfahrens [Art. 9 der Verfahrensrichtlinie]). Auch der die Zusicherung abschließende Satz, dass das Asylverfahren derzeit in erster Instanz im Durchschnitt sechs Monate dauere, kann nicht im Sinne einer all diese Umstände umfassenden Zusicherung verstanden werden, zumal er allein die derzeitige Situation darstellt, aber keine Zusage für die Zukunft beinhaltet.
73Damit entspricht diese individuelle Zusicherung weder der Empfehlung der Europäischen Kommission vom 8. Dezember 2016 noch den hieraus abgeleiteten Anforderungen des BMI-Erlasses vom 15. März 2017 bzw. der entsprechenden Anfrage des Bundesamts in dem konkret den Kläger betreffenden (Wieder-)Aufnahmegesuch vom 4. Juli 2019. Darin bat das Bundesamt die griechischen Behörden um die umfassende Zusicherung, dass der Kläger entsprechend den beiden oben genannten Richtlinien behandelt werde, insbesondere auch, dass sein Antrag auf internationalen Schutz in Übereinstimmung mit der Verfahrensrichtlinie bearbeitet werde. An einer solchen umfassenden Zusicherung fehlt es.
74a. A.: VG Cottbus, Beschluss vom 18. Februar 2020 - 5 L 545/19.A -, juris, Rn. 20; VG Magdeburg, Beschluss vom 6. Dezember 2019 - 9 B 442/19 -, juris, Rn. 31; VG des Saarlandes, Beschluss vom 6. September 2019 - 5 L 1112/19 -, juris, Rn. 37 ff., jeweils m. w. N.
75bb. Das Nichtvorliegen einer belastbaren individuellen Zusicherung rechtfertigt allein zwar nicht die Annahme systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und unzulänglicher Lebensbedingungen für Dublin-Rückkehrer. Die Erkenntnisse, die der Kammer über die aktuelle Situation der Dublin-Rückkehrer in Griechenland vorliegen, berechtigen jedoch zu durchgreifenden Zweifeln jedenfalls an menschenwürdigen Aufnahmebedingungen. Ob auch das Asylsystem nach wie vor systemische Mängel aufweist, kann vorliegend daher dahinstehen.
76(1) Dabei kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht entscheidend auf die offenkundig vollkommen unzureichende Situation der Asylantragsteller in den sog. Hot Spots auf den griechischen Inseln an und auch nicht auf die Frage der Rechtmäßigkeit sog. Pushbacks an der türkisch-griechischen Grenze.
77Vgl. zu diesen etwa BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Griechenland, Gesamtaktualisierung vom 4. Oktober 2019, S. 6 f., 15.
78Denn Dublin-Rückkehrer, die nach Rückführung in das griechische Asylverfahren zurückkehren und laut Gesetz (Art. 17.1 L 4540/2018) grundsätzlich ein Recht auf angemessene Unterbringung haben, werden nach der Auskunftslage nicht auf den griechischen Inseln, sondern auf dem Festland, und zwar regelmäßig offenbar im Eleonas Refugee Camp in Athen untergebracht und dort versorgt.
79Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4. Dezember 2019 an das VG Berlin, S. 4.
80Die ursprüngliche Kapazität dieses Lagers wird von RSA mit 700 Plätzen angegeben, die tatsächliche Auslastung mit 1.470 Personen (Stand jeweils: 14.09.2020), vom Camp selbst auf seiner Homepage inzwischen sogar mit etwa 2.300 Personen.
81Vgl. Refugee Support Aegean (RSA), Eleonas Camp, im Internet abrufbar unter https://rsaegean. org/en/eleonas-camp/; vgl. auch die Informationen zum Project Elea, im Internet abrufbar unter https:// projectelea.org/about-us/ (beide abgerufen am 28. September 2020); vgl. zudem die Anfragebeantwortung der Informations- und Dokumentationsstelle des OVG NRW zur Unterbringung und Versorgung zurückkehrender Asylbewerber (Dublin-Rückkehrer) in Griechenland (Stand: 25.11.2019), S. 3 f.
82Für Dezember 2019 wird die aktuelle Belegung des Camps mit 1.839 Personen angegeben, was einer Auslastung von 99,41 % entspreche.
83Vgl. aida, Country Report: Greece, Update 2019 (Juni 2020), S. 150.
84Angesichts dieser Vollauslastung ist nicht zu erwarten, dass Dublin-Rückkehrer tatsächlich Aufnahme im Camp Eleonas finden werden. So wurden etwa im Jahr 2019 insgesamt 950 Anfragen von bereits auf dem Festland unter prekären Bedingungen oder sogar obdachlos lebenden Asylsuchenden gestellt mit dem Ziel einer Unterbringung in einem der Unterbringungszentren. In lediglich 55 Fällen (= 5,7 %) konnte ein Platz zur Verfügung gestellt werden.
85Vgl. aida, Country Report: Greece, Update 2019 (Juni 2020), S. 150.
86Dafür, dass Dublin-Rückkehrer in anderen Unterbringungseinrichtungen aufgenommen werden, gibt es nach der Erkenntnislage keine Anhaltspunkte.
87(2) Selbst wenn aber eine Unterbringung im Camp Eleonas möglich sein sollte, ist (auch) dieses Lager nicht auf eine Langzeitunterbringung ausgerichtet, sondern dient lediglich als temporäres Unterbringungszentrum. Eine dauerhafte Unterbringung von Asylsuchenden hat das vom UNHCR geführte und durch die EU finanzierte Hilfsprogramm „ESTIA“ (Emergency Support to Integration and Accommodation) zum Ziel, das überdies schrittweise die Verantwortung für die Unterbringung auf die griechische Regierung verlagern soll. Seit dem 1. September 2020 wurde mit 12.000 - theoretisch zur Verfügung stehenden - Unterbringungsplätzen im Rahmen von „ESTIA II“ bereits etwa die Hälfte der Plätze auf diese Weise verlagert und in die Verantwortung Griechenlands übergeben. Mit Stand vom 14. September 2020 belief sich die Gesamtzahl der - derzeit faktisch zur Verfügung stehenden - Plätze dieses Programms auf 22.810 (9.405 bereits unter griechischer Verantwortung, 13.405 noch unter Verantwortung des UNHCR), von denen 21.938 (also ca. 96,2 %) tatsächlich belegt waren. Bezogen auf das griechische Festland, wohin Dublin-Rückkehrer regelmäßig rückgeführt werden, ergab sich zu diesem Stichtag eine Kapazität von 21.126 Plätzen, von denen 20.498 (also ca. 97,0 %) tatsächlich belegt waren.
88Vgl. ESTIA Accommodation Capacity Weekly Update, Stand: 14. September 2020, im Internet abrufbar unter http://estia.unhcr.gr/en/estia-accommodatio n-capacity-weekly-update-14-september-2020/; vgl. überdies die Meldung des UNHCR zum Start von ESTIA II, im Internet abrufbar unter https://www.unhc r.org/gr/en/15985-towards-estia-ii-unhcr-welcomes-gr eeces-commitment-to-ensure-the-continuation-of-flag ship-reception-programme-for-asylum-seekers.html (beide abgerufen am 28. September 2020).
89Das ESTIA-Unterbringungsprogramm steht ungeachtet der ohnehin hohen Auslastung jedoch nur vulnerablen, also besonders schutzbedürftigen Personen offen, nach griechischer Verwaltungspraxis mithin unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten und unheilbar Kranken, Alten, Schwangeren, Wöchnerinnen, alleinstehenden Elternteilen mit minderjährigen Kindern, Opfern von Folter, Vergewaltigung oder anderen schweren Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt sowie Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung und Opfern von Menschenhandel. Der Großteil der in Griechenland aufhältigen bzw. rückgeführten Asylsuchenden ist von einer Aufnahme in dieses Programm daher ausgeschlossen und wird keine Unterkunft in einer der ESTIA-Einrichtungen erhalten können.
90Vgl. aida, Country Report: Greece, Update 2019 (Juni 2020), S. 151 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Griechenland, Gesamtaktualisierung vom 4. Oktober 2019, S. 10, 17 f.; University of the Aegean, Greece Country Report des Projekts RESPOND: Reception Policies, Practices and Responses, S. 43.
91(3) So wird zunehmend darüber berichtet, dass die Aufnahmebedingungen nicht nur auf den ägäischen Inseln, sondern auch auf dem Festland kritisch und viele Lager überbelegt seien, der Zugang zu grundlegenden Unterstützungsleistungen erschwert und die Gesundheitsversorgung mangelhaft sei und besonders Schutzbedürftige nicht adäquat versorgt würden. Aufgrund des Mangels an Unterbringungskapazitäten auf dem Festland griffen Neuankömmlinge, einschließlich vulnerabler Personen, auf Notunterkünfte zurück oder blieben in den städtischen Gebieten von Athen, Thessaloniki oder Petra obdachlos. Andere lebten unter prekären Bedingungen in besetzten oder verlassenen Gebäuden ohne Zugang zu Strom oder Wasser.
92Vgl. aida, Country Report: Greece, Update 2019 (Juni 2020), S. 80; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Griechenland, Gesamtaktualisierung vom 4. Oktober 2019, S. 18; University of the Aegean, Greece Country Report des Projekts RESPOND: Reception Policies, Practices and Responses, S. 43; Raphaelswerk e.V., Griechenland: Informationen für Geflüchtete, die nach Grie-chenland rücküberstellt werden (Stand: Dezember 2019), S. 9; Neues Deutschland vom 25. Juni 2020 „In Athen auf der Straße gelandet“, im Internet abrufbar unter https://www.neues-deutschland.de/artikel/1 138340.coronakrise-in-griechenland-in-athen-auf-der -strasse-gelandet.html (abgerufen am 28. September 2020).
93Für den Großteil der Asylsuchenden ist eine Unterbringung in einer der überfüllten Obdachlosenunterkünfte ebenfalls nicht erreichbar.
94Vgl. VG Aachen, u. a. Urteil vom 20. Juli 2020 - 10 K 1678/19.A -, juris, Rn. 85 ff., m. w. N.
95Es ist zu erwarten, dass sich diese ohnehin schon prekäre Situation nicht entspannen, sondern eher verschärfen wird, wenn zum einen die griechische Regierung ihr - ursprüngliches und durch die Zerstörung des Lagers Moria Anfang September 2020 wieder relevant gewordenes - Vorhaben aufgreift, Asylsuchende von den völlig überlasteten Inseln auf das Festland zu verbringen.
96Vgl. hierzu etwa Die Welt vom 3. November 2019 „Eine Reparatur des Türkei-Deals - die auch Deutschland entlastet“, im Internet abrufbar unter https://www.welt.de/politik/ausland/article202910296/Griechenland-Reparatur-des-Tuerkei-Deals-entlastet -auch-Deutschland.html; Deutsche Welle vom 1. November 2019 „Harte Zeiten für Asylbewerber in Griechenland“, im Internet abrufbar unter https://www.dw. com/de/harte-zeiten-f%C3%BCr-asylbewerber-in-grie chenland/a-51081382; Deutsche Welle vom 31. Oktober 2019 „Lage von Migranten in Griechenland ´explosiv´“, im Internet abrufbar unter https://www.d w.com/de/lage-von-migranten-in-griechenland-explos iv/a-51064623, und Handelsblatt vom 25. Oktober 2019 „Schärfere Asylgesetze - Griechenland will härter gegen Asylbewerber vorgehen“, im Internet abrufbar unter https://www.handelsblatt.com/politik/inter national/schaerfere-asylgesetze-griechenland-will-ha erter-gegen-asylbewerber-vorgehen/25154264.html? ticket=ST-3101115-ovDJrGoDLiHBwiRkf9sH-ap6 (alle abgerufen am 28. September 2020); vgl. zu dieser Einschätzung auch VG Minden, Urteile vom 6. Februar 2020 - 12 K 491/19.A -, juris, Rn. 126 ff., sowie vom 6. Februar 2020 - 12 K 492/19.A -, juris, Rn. 129 ff., und VG Magdeburg, Urteil vom 10. Oktober 2019 - 6 A 390/19 -, juris, Rn. 39, jeweils m. w. N.; vgl. zudem VG Düsseldorf, Urteil vom 25. März 2020 - 12 K 7300/19.A -, juris, Rn. 65.
97Zum anderen wird der Druck auf den Wohnungsmarkt bzw. auf die Unterbringungskapazitäten des griechischen Staates und der in Griechenland tätigen Nichtregierungsorganisationen dadurch weiter verschärft, dass seit dem 5. März 2020 mit Blick auf den Ausbruch der Corona-Pandemie die Türkei die Aufnahme bzw. Rücknahme von Asylsuchenden im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens verweigert.
98Vgl. Hürriyet vom 11. September 2020 „Rücknahme von Flüchtlingen: EU-Türkei-Abkommen wird kaum umgesetzt“, im Internet abrufbar unter https://www. hurriyet.de/news_ruecknahme-von-fluechtlingen-eu-tuerkei-abkommen-wird-kaum-umgesetzt106508_14 3540487.html; Deutschlandfunk vom 10. September 2020 „Statisten in einem Abschreckungsdrama“, im Internet abrufbar unter https://www.deutschlandfunk. de/migrationsexperte-zur-lage-der-fluechtlinge-auf-le sbos.694.de.html?dram:article_id=483913; Die Zeit vom 8. Mai 2020 „Migration: EU erwartet neuen Flüchtlingsandrang an türkisch-griechischer Grenze“, im Internet abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/ ausland/2020-05/frontex-bericht-migration-fluechtling e-griechenland-tuerkei-grenze (alle abgerufen am 28. September 2020).
99(4) Obwohl Dublin-Rückkehrer nach der Auskunftslage ebenso wie andere Asylsuchende Bargeldleistungen aus dem Cash-Card-Programm (zwischen 90 Euro monatlich für untergebrachte Alleinstehende bis zu 550 Euro für Familien mit sieben Personen in eigener Unterkunft), eine medizinische Basisversorgung und nach dem zum 1. Januar 2020 in Kraft getretenen neuen Asylgesetz sechs Monate nach der Registrierung als Asylsuchende - theoretisch - auch Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten,
100vgl. zu den Leistungen für Asylsuchende u. a. die Anfragebeantwortung der Informations- und Dokumentationsstelle des OVG NRW zur Unterbringung und Versorgung zurückkehrender Asylbewerber (Dublin-Rückkehrer) in Griechenland (Stand: 25.11.2019), S. 5 f.; aida, Country Report: Greece, Update 2019 (Juni 2020), S. 140 ff.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Griechenland, Gesamtaktualisierung vom 4. Oktober 2019, S. 15 f.; University of the Aegean, Greece Country Report des Projekts RESPOND: Reception Policies, Practices and Responses, S. 49 ff.; Raphaelswerk e.V., Griechenland: Informationen für Geflüchtete, die nach Griechenland rücküberstellt werden (Stand: Dezember 2019), S. 8 ff.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4. Dezember 2019 an das VG Berlin, S. 5 ff.,
101verbleibt nach alledem ein hohes Risiko der Obdachlosigkeit für den Fall einer Überstellung. Denn der private Wohnungsmarkt ist Flüchtlingen mangels erwartbarer Einkünfte bzw. vorhandenen Vermögens und angesichts des ohnehin in Griechenland traditionell bevorzugten Vermietens an Familienmitglieder, hilfsweise Bekannte und Studenten, in der Regel verschlossen.
102Vgl. VG Aachen, u. a. Urteil vom 20. Juli 2020 - 10 K 1678/19.A -, juris, Rn. 69 f., m. w. N.
103Es kommt daher allenfalls eine Unterbringung im allerdings nahezu vollständig ausgelasteten Camp Eleonas in Betracht.
104cc. Dass nicht mit der erforderlichen Sicherheit von einer Unterbringung in diesem Camp ausgegangen werden kann und daher für den Fall einer Überstellung die ernsthafte Gefahr einer längerfristigen Obdachlosigkeit und damit einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. 3 EMRK angenommen werden muss, belegen im Übrigen die Antwortschreiben der griechischen Asylbehörde, die nach der Kenntnis der Kammer jedenfalls in allen seit dem 25. Mai 2020 bei der Kammer anhängig gewordenen und der Beklagten damit bekannten Dublin-Verfahren (10 K 1303/20.A, 10 K 1323/20.A, 10 K 1337/20.A, 10 K 1355/20.A und 10 K 1551/20.A) in Reaktion auf entsprechende (Wieder-)Aufnahmeersuchen des Bundesamts verschickt worden sind und die folgenden Wortlaut aufweisen:
105
106Sehen sich die griechischen Behörden danach aktuell offenbar nicht (mehr) in der Lage, eine Unterbringung von Dublin-Rückkehrern entsprechend der Aufnahmerichtlinie zuzusichern, kann aus Sicht der Kammer im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich an ihre Zusicherung vom 15. Juli 2019 noch gebunden fühlen bzw. dass sie (noch) in der Lage sind, diese Zusicherung tatsächlich umzusetzen.
107c. Dass der Kläger ausnahmsweise aufgrund seiner persönlichen Umstände - insbesondere seines Alters, Geschlechts, Gesundheitszustands, seiner Volkszugehörigkeit oder Ausbildung, seines Vermögens oder familiärer oder freundschaftlicher Verbindungen - befähigt ist, trotz der beschriebenen unzuträglichen Lebenssituation bei einer Rückkehr nach Griechenland eine menschenwürdige Unterkunft zu erlangen, sollte er nicht im Camp Eleonas untergebracht werden, ergibt sich aus dem Akteninhalt nicht. Allein sein Alter von erst 27 Jahren und seine damit - ungeachtet der vorgetragenen Asthmaerkrankung und Nasennebenhöhlenentzündung - anzunehmende grundsätzlich bestehende Erwerbsfähigkeit reichen hierfür nicht aus. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Kläger etwa (noch) über eine soziale Vernetzung in Griechenland (landsmannschaftliches bzw. familiäres Netzwerk) verfügt, die eine Unterbringung bei Freunden, Verwandten etc. erwarten lässt. Auch haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass dem Kläger finanzielle Mittel in einer Höhe zur Verfügung stehen, die ihm die private Anmietung einer Wohnung in Griechenland ermöglichen werden, oder dass er über persönliche Fähigkeiten und/oder Sprachkenntnisse verfügt, die ihm alsbald nach einer Rückkehr nach Griechenland ausnahmsweise die Aufnahme einer Arbeit ermöglichen könnten, mit deren Hilfe er sich eine menschenwürdige Existenz aufbauen könnte. Zwar soll eine Schwester des Klägers noch in Griechenland leben. Über deren Lebenssituation ist allerdings nichts bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich bei ihr ebenfalls um eine Schutzsuchende bzw. anerkannt Schutzberechtigte handelt, auch sie daher den zuvor beschriebenen Schwierigkeiten bei der Sicherung ihres eigenen Lebensunterhaltes begegnen dürfte und angesichts dessen nicht zu erwarten ist, dass sie auch für den Lebensunterhalt des Klägers aufkommen oder ihn insoweit entscheidend unterstützen könnte.
1082.2 Ungeachtet der zuvor beschriebenen und nach Auffassung der Kammer fortbestehenden systemischen Mängel jedenfalls der Aufnahmebedingungen in Griechenland ist (auch) für die Zeit nach einer möglichen Zuerkennung internationalen Schutzes nach Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 VwGO) mit der ernsthaften Gefahr einer erniedrigenden Behandlung des Klägers i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK zu rechnen.
109a. Die Kammer hat auf der Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel in inzwischen gefestigter Rechtsprechung festgestellt, dass jedenfalls dann, wenn ein Asylantragsteller nicht im Einzelfall ausnahmsweise aufgrund seiner persönlichen Umstände (insbesondere wegen Vermögens oder familiärer oder freundschaftlicher Verbindungen) befähigt ist, trotz der in Griechenland für anerkannt Schutzberechtigte festzustellenden unzuträglichen Lebenssituation eine menschenwürdige Unterkunft zu erlangen, im Regelfall eine Verletzung von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK droht.
110Vgl. grundlegend und im Einzelnen VG Aachen, Urteile vom 16. März 2020 - 10 K 157/19.A -, juris, Rn. 60 ff., und vom 16. März 2020 - 10 K 875/19.A -, juris, Rn. 58 ff., sowie vom 20. Juli 2020 - 10 K 1838/19.A -, juris, Rn. 57 ff., jeweils m. w. N.
111An dieser Rechtsprechung, auf die die Kammer insoweit zur weiteren Begründung verweist, hält sie ausdrücklich fest.
112Ergänzend weist sie darauf hin, dass der Kläger nach einer Anerkennung als Schutzberechtigter finanzielle Unterstützung zur Anmietung einer Unterkunft auch nicht über das durch die Europäische Kommission finanzierte und von der IOM durchgeführte sog. „HELIOS 2 - Programm“ (Hellenic Integration Support for Beneficiaries of International Protection) erhalten wird.
113Vgl. aber VG Magdeburg, Beschluss vom 6. Dezember 2019 - 9 B 442/19 -, juris, Rn. 51 f., das einen Zugang zum HELIOS 2 - Programm im dort entschiedenen Fall angenommen hat.
114Denn Asylsuchende, die erst im Jahr 2020 oder später anerkannt werden, haben aller Voraussicht nach keine Chance, an diesem Programm noch teilzunehmen. Ungeachtet der ohnehin bestehenden erheblichen Schwierigkeiten, denen Asylsuchende bei dem Versuch der Anmietung privaten Wohnraums in Griechenland begegnen, und ungeachtet der Frage, ob diese Personengruppe überhaupt die materiellen Antragsvoraussetzungen des HELIOS 2 - Programms für eine finanzielle Unterstützung der Anmietung einer Unterkunft erfüllt, dürften die formalen Antragsfristen für eine Teilnahme an dem bereits Ende November 2020 auslaufenden Programm zwischenzeitlich verstrichen bzw. für rückgeführte Asylsuchende und erst später als schutzberechtigt Anerkannte nicht einzuhalten sein.
115Vgl. im Einzelnen VG Aachen, u. a. Urteil vom 20. Juli 2020 - 10 K 1838/19.A -, juris, Rn. 79 f.
116b. Die Kammer verkennt nicht, dass die Situation von Dublin-Rückkehrern und rückgeführten anerkannt Schutzberechtigten nicht ohne weiteres vergleichbar ist. Denn anders als anerkannt Schutzberechtigte, die insoweit auf den Grundsatz der Inländergleichbehandlung verwiesen werden und für die es derzeit keine staatlichen Förderprogramme gibt, haben Dublin-Rückkehrer im Fall einer Überstellung zunächst kraft Gesetzes einen Anspruch auf Unterbringung und u. a. Zugang zum Cash-Card-Programm und damit - jedenfalls rechtlich - andere Startvoraussetzungen als rückgeführte anerkannt Schutzberechtigte.
117Vgl. hierzu VG Leipzig, Beschluss vom 27. Februar 2020 - 6 L 413/19.A -, juris, Rn. 33; VG Cottbus, Beschluss vom 18. Februar 2020 - 5 L 545/19.A -, juris, Rn. 47.
118Andererseits darf - wie zuvor bereits ausgeführt - mit guten Gründen bezweifelt werden, dass der Kläger überhaupt in einer staatlichen Unterbringungseinrichtung Unterkunft finden wird. Dies wird Dublin-Rückkehrern nach Kenntnis der Kammer jedenfalls aktuell nicht einmal mehr von der griechischen Asylbehörde zugesichert. Auch mit Hilfe der Bargeldleistungen aus dem Cash-Card-Programm wird dem Kläger die Anmietung einer Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt aus den dargelegten Gründen nicht möglich sein. Doch selbst wenn der Kläger als Dublin-Rückkehrer bis zu einer Anerkennung als Schutzberechtigter im Camp Eleonas oder einer anderen staatlichen oder von Nichtregierungsorganisationen getragenen Unterbringungseinrichtung Unterkunft finden sollte, wird es ihm nach der Auskunftslage zur Überzeugung der Kammer nicht möglich sein, während der Zeit der Prüfung seines Asylantrags die Voraussetzungen dafür zu schaffen, nach einer Anerkennung ein menschenwürdiges Leben zu führen.
119Ende 2019 wurden von insgesamt 87.461 Asylgesuchen nur 42.436 Anträge innerhalb von sechs Monaten und damit innerhalb der von der griechischen Asylbehörde bis Mai 2020 regelmäßig zugesicherten durchschnittlichen Verfahrensdauer abschließend bearbeitet. Die Bearbeitung der 45.025 verbliebenen Anträge nahm mehr als sechs Monate in Anspruch. Dabei belief sich die durchschnittliche Verfahrensdauer für den Zeitraum zwischen Vor-Registrierung und Entscheidung über das Asylgesuch auf 10,6 Monate.
120Vgl. aida, Country Report: Greece, Update 2019 (Juni 2020), S. 54.
121Dass es dem Kläger in diesem Zeitfenster möglich sein wird, sich trotz des in den Unterbringungseinrichtungen regelmäßig fehlenden Kontakts zur griechischen Bevölkerung ein soziales Netzwerk aufzubauen, das ihn bei der Sicherung seines Lebensunterhalts und insbesondere bei der Suche nach einer menschenwürdigen Unterkunft für die Zeit nach einer Anerkennung unterstützen kann, oder dass er alternativ in der Lage sein wird, eine einkömmliche und legale Arbeit zu finden und zuvor die hierfür nach der Auskunftslage nahezu zwingend erforderlichen griechischen Sprachkenntnisse zu erwerben, ist zur Überzeugung der Kammer im Regelfall ausgeschlossen. Hiergegen sprechen auch die Erfahrungen der Kammer aus einer Vielzahl inzwischen entschiedener Verfahren anerkannt Schutzberechtigter, die vor ihrer Weiterreise nach Deutschland ausnahmslos nicht in der Lage gewesen sind, sich während der Dauer ihres Asylverfahrens in Griechenland eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. Der Kläger verfügt - wie bereits ausgeführt - nicht über persönlichen Umstände oder Fähigkeiten, die ihn ausnahmsweise hierzu befähigen könnten. Er wird daher in Griechenland spätestens nach einer Anerkennung als Schutzberechtigter in eine Situation extremer materieller Not geraten.
122II. Die unter Ziffer 2. des Bundesamtsbescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist bei Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung jedenfalls verfrüht ergangen. Denn das Bundesamt ist nunmehr zunächst verpflichtet, den Antrag des Klägers materiell zu prüfen. Eine Entscheidung über Abschiebungsverbote kann sachgemäß erst nach Abschluss des Asylverfahrens erfolgen und insoweit auch nur in Bezug auf den (Heimat-)Staat, in den abgeschoben werden soll.
123Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, BVerwGE 157, 18 = juris, Rn. 21; OVG NRW, Beschluss vom 27. Januar 2020 - 11 A 1897/18.A -, unveröffentlicht, Bl. 7 des Beschlussabdrucks.
124III. Die unter Ziffer 3. des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Anordnung der Abschiebung nach Griechenland ist ebenfalls aufzuheben.
125Rechtsgrundlage für die angefochtene Abschiebungsanordnung ist § 34a AsylG. Danach ordnet das Bundesamt dann, wenn ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, ohne vorherige Androhung und Fristsetzung die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann (§ 34a Abs. 1 Sätze 1 und 3 AsylG). Ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG liegt - wie ausgeführt - nicht vor, § 26a AsylG ist nicht einschlägig.
126IV. Die in Ziffer 4. des Bundesamtsbescheids enthaltene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist nach alledem gegenstandslos geworden und ebenfalls aufzuheben.
127C. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.
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Tenor
Die Berufung des Beigeladenen gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 7.5.2019 wird zurückgewiesen.
Der Beigeladene trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beklagten, die diese selbst trägt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beigeladene kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis für den Betrieb der unter der postalischen Adresse „P. Str. 00, 00000 S. “ ab dem 1.6.2016 bis Anfang 2018 vom Kläger betriebenen Spielhalle. Für diese war ihm am 24.5.2016 eine Erlaubnis nach § 33i GewO sowie zum dortigen Aufstellen von 12 Geldspielgeräten eine Geeignetheitsbestätigung gemäß § 33c Abs. 3 GewO jeweils für eine Übergangsfrist bis zum 30.11.2017 erteilt worden. Darin befand sich jeweils der Hinweis darauf, dass für deren Fortbestand ab Dezember 2017 derzeit noch keine Aussage getroffen werden könne. Der Beigeladene betreibt in ca. 287 m Luftlinie Entfernung eine Spielhalle unter der postalischen Adresse „S1. str. 00, 00000 S. “. Dafür war ihm am 21.6.2010 eine unbefristete Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden.
3Am 12.1.2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis „über das Jahr 2017 hinaus“. Nach Anhörung im April 2017 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19.7.2017 den Antrag, den sie als Antrag auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis gemäß § 24 GlüStV, einer Spielhallenerlaubnis gemäß § 33i GewO und einer Geeignetheitsbestätigung gemäß § 33c Abs. 3 GewO jeweils ab dem 1.12.2017 wertete, ab und forderte ihn auf, seine Spielhalle ab dem 1.12.2017 geschlossen zu halten. Zur Begründung führte sie aus, der innerhalb des erforderlichen Mindestabstands von 350 m liegende Betrieb des Beigeladenen genieße anders als der des Klägers Vertrauensschutz, weil er bereits seit 1985 bestehe, seit 2010 und damit vor der gesetzlichen Neuregelung vom gleichen Inhaber geführt werde und gewerberechtlich unbefristet erlaubt worden sei.
4Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen geltend gemacht: Es sei schon unklar, wie die Beklagte den Abstand von 287 m zwischen den konkurrierenden Spielhallen gemessen habe. Die getroffene Auswahlentscheidung sei ermessensfehlerhaft. Hilfskriterien wie das Alter der Spielhalle oder der gewerberechtlichen Erlaubnis sowie Härtefallgesichtspunkte wie Vertrauensschutz seien bei der Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis erst dann zu berücksichtigen, wenn ein Antragsteller im Rahmen eines an Sachkriterien orientierten Auswahlverfahrens unterlegen sei. Die Beklagte habe nicht einmal ansatzweise geprüft, ob der Kläger und der Beigeladene die glücksspielrechtlichen Voraussetzungen für die Erlaubniserteilung erfüllten, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Dass sie nunmehr nach Abschluss des Auswahlverfahrens und Erteilung der Erlaubnis für den Beigeladenen von diesem die Vorlage von Unterlagen wie ein Sozialkonzept fordere, könne dieses Versäumnis nicht ausgleichen. Unabhängig davon lägen jedenfalls beim Kläger keine subjektiven Versagungsgründe vor. Selbst wenn man Härtefallgesichtspunkte als gleichwertig gegenüber sachlichen Auswahlkriterien betrachte, sei die Entscheidung ermessensfehlerhaft, weil die Beklagte außer Acht gelassen habe, dass der Mietvertrag des Beigeladenen jederzeit mit einer Frist von sechs Monaten zum Monatsende gekündigt werden könne, wohingegen der Mietvertrag des Klägers noch bis zum 31.1.2020 laufe.
5Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
671. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bürgermeisters der Beklagten gegenüber dem Kläger über die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis für seine Spielhalle P. Straße 00 in S. vom 19.7.2017 zu verpflichten, dem Kläger auf seine Anträge hin eine entsprechende glücksspielrechtliche Erlaubnis zu erteilen,
892. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bürgermeisters der Beklagten gegenüber dem Kläger vom 19.7.2017 zu verpflichten, dem Kläger ab dem 1.12.2017 eine gewerberechtliche Erlaubnis gemäß § 33i GewO zu erteilen,
10113. die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bürgermeisters der Beklagten gegenüber dem Kläger vom 19.7.2017 zu verpflichten, dem Kläger ab dem 1.12.2017 eine gewerberechtliche Geeignetheitsbestätigung gemäß § 33c Abs. 3 GewO zu erteilen.
12Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie hat im Wesentlichen vorgetragen, den Abstand zwischen den Spielhallen mittels der behördlichen Software „WEBGIS“ jeweils von der Gebäudemitte aus ermittelt zu haben. Sowohl der Kläger als auch der Beigeladene seien in der Vergangenheit nicht negativ in Erscheinung getreten. Allerdings sei die Verwendung der Bezeichnung „Q. “, unter der der Kläger seine Spielhalle bis zu deren Schließung Anfang 2018 beworben habe, bedenklich. Der Beigeladene habe seine Spielhalle nach Hinweis der Beklagten im Jahr 2013 hingegen unverzüglich umbenannt. Die Beklagte habe die Bewerber nicht ungleich behandelt. Nachdem beide Betriebe im Verwaltungsverfahren bis zur Auswahlentscheidung keine Unterlagen wie ein Sozialkonzept und Nachweise über Mitarbeiterschulungen vorgelegt hätten, habe sie solche Unterlagen vom Beigeladenen nach Erteilung seiner Erlaubnis nachgefordert. Am 2.2.2018 habe sie die Spielhalle des Beigeladenen überprüft, ohne Mängel festzustellen.
15Mit Bescheid vom 23.11.2017 hat die Beklagte dem Beigeladenen eine bis zum 30.6.2021 befristete glücksspielrechtliche Erlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 GlüStV erteilt. Im Hinblick auf das vom Kläger betriebene Klageverfahren hat sie die Erlaubniserteilung unter Widerrufsvorbehalt gestellt.
16Der Beigeladene hat im erstinstanzlichen Verfahren keinen Antrag gestellt. In der Sache hat er im Wesentlichen geltend gemacht, die Auswahlentscheidung der Beklagten sei ermessensfehlerfrei erfolgt. Im Übrigen habe die Beklagte ihr Ermessen auch noch im Klageverfahren zulässig ergänzt. Derjenige, der seinen Betrieb an seinem konkreten Standort länger geführt habe, dürfe objektiv darauf vertrauen, dass er weiterhin seinen Lebensunterhalt mit dem entsprechenden Betrieb werde verdienen können. Der Kläger habe hingegen schon bei Übernahme der Spielhalle in der P. Str. 00 von der geänderten Rechtslage gewusst. Das vom Kläger behauptete nicht ordnungsgemäße Verhalten des Beigeladenen im Jahr 2013 sei für die Auswahlentscheidung schon deshalb unerheblich, weil der Kläger seinen Spielhallenbetrieb erst 2016 übernommen habe. Etwaige Ordnungswidrigkeitenverfahren könnten allenfalls dann als Auswahlkriterium herangezogen werden, wenn die Konkurrenten zum exakt gleichen Tag ihren Betrieb aufgenommen hätten. Unabhängig davon scheide die Bevorzugung von Spielhallenbetreibern nach einem „besseren“ oder „umfangreicheren“ Ausfüllen der gesetzlichen Grundvoraussetzungen ohnehin als sachwidrig aus. Die glücksspielrechtliche Erlaubnis hätte dem Beigeladenen auch nicht aus anderen Gründen versagt werden müssen. Es sei völlig üblich, dass Unterlagen wie ein Sozialkonzept und Schulungsnachweise auch noch nachträglich von der Erlaubnisbehörde angefordert würden. Entscheidend sei allein, dass die Behörde ihre eigenen Richtmaximen verfolge und einhalte. Durch den Widerrufsvorbehalt habe die Beklagte die Möglichkeit gehabt, die erteilte Erlaubnis aufzuheben, falls der Beigeladene das Sozialkonzept und die Schulungsnachweise nicht vorgelegt hätte.
17Der Kläger hat im parallel geführten erstinstanzlichen Klageverfahren gegen die dem Beigeladenen erteilte Erlaubnis sein undatiertes betriebliches Sozialkonzept sowie Dokumentationen und Bescheinigungen aus dem Jahr 2017 über die Einhaltung des Spieler- und Jugendschutzes in seiner Spielhalle in der P. Str. 00 vorgelegt.
18Das Verwaltungsgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 7.5.2019 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19.7.2017 verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden und ihm eine Geeignetheitsbestätigung gemäß § 33c Abs. 3 GewO für die Räume seiner Spielhalle in der P. Str. 00 zu erteilen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Behörde unter Spielhallen, die den Mindestabstand zueinander unterschritten, eine Auswahlentscheidung treffen müsse, sofern vom Mindestabstandsgebot nicht im Einzelfall abgewichen werde. Die Beklagte habe die für die Auswahlentscheidung notwendige Abwägung nicht in ausreichendem Umfang vorgenommen. Eine Auswahlentscheidung zwischen Konkurrenten setze stets eine umfassende Ermittlung und Bewertung der miteinander konkurrierenden Sachverhalte voraus. Zwar sei es nicht ausgeschlossen, auch die Bestandsdauer eines Betriebes und die bestehende Genehmigungslage mit einzubeziehen. Hieraus ergebe sich allerdings nicht der (logische) Rückschluss, dass die Dauer eines legalen Betriebs alleiniges und maßgebliches Auswahlkriterium sein dürfe.
19Zur Begründung seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung macht der Beigeladene im Wesentlichen geltend, die Klage sei sowohl unzulässig als auch unbegründet. Es sei sachgerecht, maßgeblich auf das Alter der gewerberechtlichen Erlaubnis nach § 33i GewO abzustellen. Er bezieht sich hierzu unter anderem auf Rechtsprechung des erkennenden Senats. Die Mindestanforderungen an die Zuverlässigkeit des Spielhallenbetreibers seien allein relevant für die Frage, ob die Erlaubnis versagt werden müsse; bei der anschließenden Auswahlentscheidung könnten sie nicht erneut berücksichtigt werden.
20Der Beigeladene beantragt schriftsätzlich,
21den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 7.5.2019 abzuändern und die Klage abzuweisen.
22Die Beklagte stellt keinen Antrag.
23Der Kläger beantragt,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Neben der vorliegenden Klage hat der Kläger die zu Gunsten des Beigeladenen für die Spielhalle in der S1. str. 00 erteilte Erlaubnis angefochten (VG Düsseldorf, Az. 3 K 19962/17). Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Gerichtsbescheid vom 7.5.2019 stattgegeben. Über die Berufung des Beigeladenen hat der Senat mit Urteil vom heutigen Tage (Az. 4 A 2325/19) entschieden.
26Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten in diesem Verfahren, im Verfahren 3 L 5765/17 (VG Düsseldorf) sowie im Verfahren 4 A 2325/19 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten in diesem Verfahren (vier Hefter) sowie im Verfahren 4 A 2325/19 (ein Hefter) und der vom Kläger im zuletzt genannten Verfahren erstinstanzlich vorgelegten Unterlagen (zwei Ordner) Bezug genommen.
27Entscheidungsgründe:
28Der Senat konnte trotz Ausbleiben des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil seine Prozessbevollmächtigten mit der Ladung gemäß §§ 125 Abs. 1, 102 Abs. 2 VwGO auf diese Möglichkeit hingewiesen worden waren.
29Die Berufung des Beigeladenen hat keinen Erfolg.
30I. Die Berufung ist teilweise unzulässig.
31Hinsichtlich der vom Verwaltungsgericht ausgesprochenen Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Geeignetheitsbestätigung gemäß § 33c Abs. 3 GewO für die Räume der Spielhalle des Klägers in der P. Str. 00 ist der Beigeladene mangels materieller Beschwer nicht rechtsmittelbefugt. Die Erteilung der Geeignetheitsbestätigung berührt den Beigeladenen nicht nachteilig in seinen rechtlich geschützten Interessen, weil sie unabhängig von der Erteilung seiner glücksspielrechtlichen Erlaubnis ausschließlich die nachgelagerte Frage betrifft, ob der Kläger Spielgeräte in seiner Spielhalle aufstellen darf.
32Im Übrigen ist die Berufung zulässig. Der Beigeladene ist, soweit er sich gegen die Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung wendet, wegen der möglichen Auswirkung der Neubescheidung auf den Bestand seiner eigenen Erlaubnis durch den angegriffenen Gerichtsbescheid in seinen rechtlichen Interessen nachteilig betroffen und mithin materiell beschwert.
33Vgl. BVerwG, Urteile vom 28.10.1999 – 7 C 32.98 –, BVerwGE 110, 17 = juris, Rn. 11, und vom 15.2.1990 – 4 C 39.86 –, NVwZ 1990, 857 = juris, Rn. 15.
34II. Im zulässigen Umfang ist die Berufung jedoch unbegründet.
35Insoweit hat das Verwaltungsgericht der Klage zu Recht und ohne den Beigeladenen in subjektiven Rechten zu verletzen teilweise stattgegeben, indem sie die Beklagte verpflichtet hat, den Antrag des Klägers auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO.
36Die Ablehnung des Antrags des Klägers auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis durch den Bescheid der Beklagten vom 19.7.2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weil die Beklagte ermessensfehlerhaft die zur Auflösung der Konkurrenz zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen erforderlichen Maßstäbe nicht hinreichend beachtet hat.
371. Die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis setzt grundsätzlich voraus, dass das Mindestabstandsgebot aus § 25 Abs. 1 GlüStV i. V. m. § 16 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 AG GlüStV NRW eingehalten wird. Nach diesen Vorschriften soll ein Mindestabstand von 350 Metern Luftlinie zu einer anderen Spielhalle nicht unterschritten werden. Die Behörde darf aber unter bestimmten Voraussetzungen von dem Mindestabstandsgebot abweichen, § 16 Abs. 3 Satz 3 AG GlüStV NRW. Zudem kann sie gemäß § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV zu Gunsten eines Betreibers eine Befreiung von der Einhaltung des Mindestabstandsgebots für einen angemessen Zeitraum zulassen, wenn dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich ist; hierbei sind der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33 i GewO sowie die Ziele des § 1 GlüStV zu berücksichtigen.
38Begehren nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV mehrere Betreiber von Spielhallen, die zueinander das Mindestabstandsgebot nicht einhalten, die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, bedarf es zur Auflösung der Konkurrenzsituation einer Auswahlentscheidung. Diese von der Behörde zu treffende Auswahlentscheidung ist eine Ermessensentscheidung, die nach Maßgabe des § 114 VwGO der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle (nur) daraufhin unterliegt, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 40 VwVfG NRW).
39Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 43, und Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, ZfWG 2019, 516 = juris, Rn. 23 f., m. w. N.
40Die in die Auswahlentscheidung einzustellenden Kriterien (Auswahlparameter) lassen sich dem Gesetz entnehmen und wurden durch die die Behörde bindenden Erlasse des Ministeriums für Inneres (und Kommunales) näher konturiert. Insbesondere kann im Rahmen der Auswahl zunächst auf die Regelung zur Härtefallbefreiung nach § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV zurückgegriffen werden. Die ohnehin geforderte Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Positionen der Spielhallenbetreiber gebietet auch ohne ausdrückliche gesetzliche Präzisierung, dass die zuständigen Behörden sich eines Verteilmechanismus bedienen, der die bestmögliche Ausschöpfung der bei Beachtung der Mindestabstände verbleibenden Standortkapazität in dem relevanten Gebiet ermöglicht. Das gilt auch, sofern bei der erforderlichen Auswahlentscheidung zusätzlich Erlaubnisanträge neu in den Markt eintretender (und erst vor kurzem eingetretener) Bewerber einzubeziehen sind, wobei grundrechtsrelevante Positionen der Betreiber von Bestandsspielhallen zu berücksichtigen bleiben. Dazu zählt etwa die Amortisierbarkeit von Investitionen. Zudem ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung in § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV, dass bereits bei der Auswahlentscheidung die mit der Neuregelung verfolgten Ziele des § 1 GlüStV zu beachten sind und bei Bestandsspielhallen überdies der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33i GewO zu berücksichtigen ist. Diese gesetzlichen Vorgaben sind ergänzend durch die über das Internet allgemein zugänglichen Ministerialerlasse vom 10.5.2016 und 6.11.2017 näher konturiert worden, die weitere Hinweise zu den heranzuziehenden Kriterien enthalten und der Ausübung des Ermessens durch die hieran gebundenen Behörden zusätzliche Grenzen setzen.
41Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 45 f., Beschluss vom 14.6.2019 ‒ 4 B 1488/18 ‒, juris, Rn. 14 ff., jeweils m. w. N. und unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 7.3.2017 ‒ 1 BvR 1314/12 u. a. ‒, BVerfGE 145, 20 = juris, Rn. 179 ff., 182 ff.
42Die in der Auswahlentscheidung auch zu berücksichtigenden Ziele des § 1 GlüStV erfordern einen Vergleich der konkurrierenden Spielhallen daraufhin, welche besser geeignet ist, die Ziele des Staatsvertrags zu erreichen. Solche Unterschiede können sich unter anderem aus Besonderheiten des Umfeldes des jeweiligen Standorts oder aus der Art der zu erwartenden Betriebsführung der einzelnen Betreiber ergeben. Hierbei ist etwa maßgeblich, inwieweit prognostisch von einem rechtstreuen Verhalten des Spielhallenbetreibers auszugehen ist, also von der Einhaltung von Vorschriften, die gerade die Erreichung der Ziele des § 1 GlüStV sicherstellen sollen. Vorgaben für die Betriebsführung, durch die der Gesetzgeber die abstrakten Zielvorgaben des § 1 GlüStV konkretisiert hat, finden sich insbesondere in den Vorschriften, auf die der Landesgesetzgeber in § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 AG GlüStV NRW (im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Auswahlentscheidung der Beklagten noch in Nr. 2 geregelt) Bezug genommen hat. Das sind die Jugendschutzanforderungen nach § 4 Abs. 3 GlüStV, das Internetverbot in § 4 Abs. 4 GlüStV, die Werbebeschränkungen nach § 5 GlüStV, die Anforderungen an das Sozialkonzept nach § 6 GlüStV und die Anforderungen an die Aufklärung über Suchtrisiken nach § 7 GlüStV. Der Glücksspielstaatsvertrag selbst fordert in § 6 Satz 2 GlüStV zudem, dass die Vorgaben des Anhangs zum Glücksspielstaatsvertrag „Richtlinien zur Vermeidung und Bekämpfung von Glücksspielsucht“ von den Spielhallenbetreibern zu erfüllen sind. Auch in diesen Richtlinien finden sich qualitative Anforderungen an die Betriebsführung. Weitere Kriterien für die Bewertung der Betriebsführung lassen sich den für die Behörden verbindlichen Erlassen vom 10.5.2016 und 6.11.2017 des Ministeriums für Inneres (und Kommunales) des Landes Nordrhein-Westfalen entnehmen. Hierzu gehören: Die gesetzliche Einhaltung der Vorgaben zu äußerer und innerer Gestaltung der Spielhalle, die Einhaltung baurechtlicher Anforderungen, keine unerlaubten Glücksspiele, die Einhaltung und sichtbare Ausweisung gesetzlich vorgeschriebener Öffnungszeiten, gültige PTB-Prüfplakette sichtbar vorhanden, Übereinstimmung der tatsächlichen Flächen mit § 3 Abs. 2 Satz 1 SpielV, keine illegalen Unterhaltungsspielgeräte, keine Sportwettenterminals vorhanden, keine unerlaubten EC-Kartenautomaten und keine internetfähigen Computer im Betrieb vorhanden.
43Der Bewertung, in welchem Maße von den konkurrierenden Spielhallen oder Betreibern materielle Anforderungen an die Betriebsführung erfüllt werden, und die Berücksichtigung von etwaigen hinreichend gewichtigen Unterschieden in der Auswahlentscheidung steht nicht entgegen, dass die Erfüllung materieller Anforderungen ohnehin Voraussetzung für die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis ist.
44Zwar ist unter anderem nach §§ 24 Abs. 2 Satz 1 GlüStV, 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 AG GlüStV NRW eine glücksspielrechtliche Erlaubnis zu versagen, wenn die Errichtung und der Betrieb einer Spielhalle den Zielen des § 1 GlüStV zuwiderläuft bzw. die Einhaltung der in § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 AG GlüStV NRW genannten Anforderungen nicht sichergestellt ist. Hierdurch sowie durch die weiteren Versagungsgründe in § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 ‒ 4 AG GlüStV NRW wird gewährleistet, dass die Spielhallen, die den qualitativen und räumlichen Kriterien sowie den Anforderungen an die Zuverlässigkeit des Betreibers nicht genügen, aus der Auswahl ausscheiden. Die diese Anforderungen erfüllenden Spielhallen stehen insoweit auf einer Stufe.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.12.2016 – 8 C 6.15 –, BVerwGE 157, 126 = juris, Rn. 55; OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 49.
46Ausgehend hiervon mag es dem Landesgesetzgeber offen stehen, durch ausdrückliche gesetzliche Anordnung zu bestimmen, dass (etwa aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität) in der Auswahlentscheidung durch die Behörde nicht weiter zu bewerten ist, inwieweit zwischen den die Erlaubnisvoraussetzungen beachtenden, insoweit auf einer Stufe stehenden, Bewerbern Unterschiede vorliegen, die sich auf die Erreichung bzw. Förderung der Ziele des § 1 GlüStV auswirken können.
47Vgl. dies annehmend Hamb. OVG, Beschluss vom 9.7.2018 – 4 Bs 12/18 –, ZfWG 2018, 449 = juris, Rn. 104, für das dortige Landesrecht; zum Losverfahren nach dem Berliner Landesrecht BVerwG, Urteil vom 16.12.2016 – 8 C 6.15 –, BVerwGE 157, 126 = juris, Rn. 54 f., und OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 24.7.2020 – 1 N 77.19 –, juris, Rn. 5 ff.
48Im nordrhein-westfälischen Landesrecht findet sich aber gerade keine derartige Regelung. Schon deshalb verbleibt es dabei, dass nach den gesetzlichen Vorgaben des Glücksspielstaatsvertrags, wie sie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts festgestellt wurden, sowie dem Rechtsgedanken aus § 29 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 GlüStV auch die Ziele des § 1 GlüStV, die durch weitere Vorschriften und Ministerialerlasse konkretisiert werden können, bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigen sind. Ein dem Vergaberecht vergleichbar gestuftes Verfahren, in dem auf der ersten Stufe Eignungskriterien zu erfüllen sind, die bei der Auswahl auf der zweiten Stufe dann nicht mehr zur Differenzierung herangezogen werden dürfen, hat der Gesetzgeber für konkurrierende Spielhallen gerade nicht vorgesehen.
49Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 53, und Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, ZfWG 2019, 516 = juris, Rn. 28 ff., m. w. N.
50Ergibt der Vergleich der konkurrierenden Spielhallen, dass eine von ihnen besser Gewähr für die Förderung der Ziele des Staatsvertrags als die Konkurrenten bietet, ist die Auswahl eines dieser Konkurrenten allein wegen seiner Bestandsschutz- und Vertrauensschutzinteressen sachwidrig. Bei der Auswahlentscheidung sind nach dem Zweck der Ermächtigung die (dauerhaft anzustrebenden) Ziele des § 1 GlüStV gegenüber Bestandsschutz- und Vertrauensschutzinteressen, denen im Rahmen von Härtefallentscheidungen (nur vorübergehend) Rechnung getragen werden kann, jedenfalls nicht nachrangig. Dies ergibt sich schon aus den Regelungen des Glücksspielstaatsvertrags selbst. Bestandsschutz- und Vertrauensschutzgesichtspunkte können bei unzumutbaren Belastungen eine Erlaubniserteilung nur für einen angemessenen (begrenzten) Zeitraum rechtfertigen, § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV. Würde aber ein im Hinblick auf die Erfüllung der Ziele des § 1 GlüStV vorzuziehender Bewerber zu Gunsten eines anderen Bewerbers abgelehnt, nur weil Bestandsschutz- und Vertrauensschutzgesichtspunkte für diesen sprechen, würde der ausgewählte Betreiber aller Voraussicht nach den unterlegenen Konkurrenten nicht nur für einen angemessenen Zeitraum, sondern dauerhaft verdrängen. Denn der unterlegene Bewerber muss sein Geschäft wegen des Mindestabstandsgebots aufgeben.
51Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 55, Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, ZfWG 2019, 516 = juris, Rn. 44 ff., m. w. N.
522. Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Beklagte den Antrag des Klägers auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis ermessensfehlerhaft abgelehnt.
53Der Kläger hat auf Grund seines Antrags auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis nach den §§ 24 Abs. 1 GlüStV, 16 Abs. 2 AG GlüStV NRW einen noch nicht erfüllten Anspruch auf Beteiligung an dem in Folge der Nichteinhaltung des Mindestabstandsgebots nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV notwendigen Auswahlverfahren. Ein Auswahlverfahren war hier erforderlich, weil die Spielhalle des Klägers den erforderlichen Abstand von 350 m Luftlinie,
54vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2020 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris Rn. 40 f., m. w. N.,
55zur Spielhalle des Beigeladenen nicht einhält, was der Kläger nicht mehr bestreitet.
56Konkurrieren demnach mehrere Betreiber um den Erhalt einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, darf der Senat die von der Beklagten zu treffende Auswahlentscheidung nicht ersetzen. Angesichts der verschiedenen Auswahlkriterien, deren Erfüllung bislang noch nicht – auch nicht durch ergänzenden Vortrag der Beklagten im Klageverfahren – ermessensfehlerfrei abgewogen worden ist, besteht kein Anhalt dafür, dass die Auswahl zwingend zu Gunsten des Beigeladenen ausfallen müsste. Umgekehrt sind Gründe, aus denen der Antrag des Klägers nach §§ 24 Abs. 2 Satz 1 GlüStV, 16 Abs. 2 Satz 3 AG GlüStV NRW zwingend abzulehnen und deshalb von vornherein kein Auswahlverfahren gegenüber dem Beigeladenen durchzuführen wäre, nicht ersichtlich.
57Die Beklage hätte bei der von ihr getroffenen Auswahlentscheidung jedenfalls nicht allein darauf abstellen dürfen, wann den betroffenen Betreibern eine Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden ist. Lediglich wenn die Beklagte bei der Prüfung der Ziele des § 1 GlüStV und der weiteren in die Auswahlentscheidung einzustellenden Kriterien nachvollziehbar keine entscheidungserheblichen Unterschiede zwischen den Spielhallen festgestellt hätte, wäre es vertretbar gewesen, auf den Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis nach § 33i GewO abzustellen.
58Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 76 f., m. w. N.; Beschlüsse vom 4.12.2019 – 4 B 1037/18 –, GewArch 2020, 193 = juris Rn. 21, und vom 14.6.2019 – 4 B 1488/18 –, ZfWG 2019, 383 = juris, Rn. 21 ff.
59Dabei käme es auf den Zeitpunkt der Erteilung gegenüber dem antragstellenden Betreiber an, auch wenn dem früheren Betreiber des Standorts bereits zuvor eine Erlaubnis erteilt worden war. Dem steht nicht entgegen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
60vgl. BVerwG, Urteil vom 5.4.2017 – 8 C 16.16 –, ZfWG 2017, 394 = juris, Rn. 42 ff.,
61die fünfjährige Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV spielhallen- und nicht betreiberbezogen ist. Diese Rechtsprechung bezieht sich allein auf die Frage des Anwendungsbereichs der Übergangsvorschrift. Daraus lassen sich jedoch keine Rückschlüsse auf die Beantwortung der Frage ziehen, welcher in den Anwendungsbereich der Vorschrift fallenden Spielhalle im Rahmen der nach Ablauf der Übergangsfrist zu treffenden Auswahlentscheidung der Vorzug zu geben ist.
62Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4.12.2019 – 4 B 1037/18 –, juris, Rn. 23 ff.
63Auch darf sich die Betrachtung der Erfüllung der Ziele des § 1 GlüStV nicht darauf beschränken, ob die Erlaubnis für die betroffenen Spielhallen aus den in § 16 Abs. 2 Satz 3 AG GlüStV NRW genannten Gründen zwingend zu versagen ist. Eine Differenzierung der Bewerber danach, in welchem Maße sie materielle Anforderungen erfüllen, ist nicht gleichzusetzen mit der Prüfung der Versagungsgründe nach § 16 Abs. 2 Satz 3 AG GlüStV NRW. So kommt beispielsweise in Betracht, dass ein Spielhallenbetreiber gegen bestimmte materielle Anforderungen (zeitweise) verstoßen hat, ohne dass dies die Versagung der Erlaubnis rechtfertigen würde, obwohl auch künftig mit entsprechenden oder ähnlichen geringfügigen Verstößen zu rechnen ist. Dennoch kann sich hierdurch nachvollziehbar ergeben, dass er im Vergleich zu einem stets ohne Beanstandungen tätig gewordenen Spielhallenbetreiber weniger die Gewähr für ein rechtstreues an der Suchtprävention ausgerichtetes Verhalten bietet. Andererseits ist auch denkbar, dass zwar bei keinem der konkurrierenden Betreiber Beanstandungen festzustellen sind, ein Bewerber die gesetzlichen Anforderungen, insbesondere soweit sie unmittelbar auf die Suchtbekämpfung bezogen sind, im Vergleich zu den anderen Bewerbern deutlich übererfüllt und deshalb vorzuziehen ist. Unterschiede zwischen den Bewerbern können sich zudem aus Besonderheiten des Umfeldes des jeweiligen Standorts oder der einzelnen Betreiber ergeben.
64Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 78 f., m. w. N.
65Bei der zu wiederholenden Auswahlentscheidung wird die Beklagte überdies zu berücksichtigen haben, beiden Bewerbern eine hinreichende Chancengleichheit zu gewährleisten. Entscheidend ist dabei, durch die Verfahrensgestaltung zu gewährleisten, dass die Auswahl tatsächlich unter beiden Bewerbern erfolgen kann. Die Berücksichtigung nachträglicher Veränderungen oder Erkenntnisse, die vorliegend gesetzlich nicht ausgeschlossen ist, muss transparent erfolgen und jedem Mitbewerber eine faire Chance belassen, nach Maßgabe der wesentlichen Kriterien und des vorgesehenen Verfahrens berücksichtigt zu werden.
66Vgl. für die Marktzulassung OVG NRW, Urteil vom 19.9.2019 – 4 A 2177/18 –, GewArch 2020, 148 = juris, Rn. 63 f., m. w. N., 97.
67Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3 Halbsatz 1 VwGO. Der Beigeladene ist nicht verpflichtet, die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu tragen. Dieser hat im Berufungsverfahren nicht obsiegt und ist deshalb nicht erstattungsberechtigt.
68Vgl. BVerwG, Urteile vom 25.10.2018 – 3 C 22.16 –, BVerwGE 163, 283 = juris, Rn. 33, m. w. N., und vom 26.3.2015 – 4 C 1.14 –, NVwZ-RR 2015, 685 = juris, Rn. 18.
69Außergerichtliche Kosten des unterlegenen Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, § 162 Abs. 3 VwGO.
70Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
71Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind. Zwar sind die Regelungen des Glücksspielstaatsvertrags nach § 33 GlüStV revisibel. Es ist aber bereits durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7.3.2017 ‒ 1 BvR 1314/12 u. a. ‒ geklärt, dass nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV ein Auswahlverfahren stattfinden und an welchen Kriterien sich die Auswahlentscheidung grundsätzlich ausrichten muss.
72Soweit die Gewichtung und der Inhalt der Auswahlkriterien nicht bereits durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geklärt wurden, beruhen alle weiteren Vorgaben auf nicht revisiblen landesrechtlichen Regelungen. Insoweit erhalten die Auswahlkriterien ihren in Nordrhein-Westfalen maßgeblichen Inhalt erst durch die Konturierung im Landesrecht, die außer durch das Ausführungsgesetz zum Glücksspielstaatsvertrag durch die die Behörden bindenden spielhallenrechtlichen Erlasse erfolgt ist.
73Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 88 f., m. w. N.
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Tenor
Die Berufung des Beigeladenen gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 7.5.2019 wird zurückgewiesen.
Der Beigeladene trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beklagten, die diese selbst trägt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beigeladene kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen eine dem Beigeladenen für dessen Spielhalle in der S. str. 00 in 00000 S1. von der Beklagten erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis. Die Spielhalle des Klägers befindet sich unter der postalischen Anschrift „P. Str. 00, 00000 S1. “ in einer Entfernung von ca. 287 m Luftlinie zu der Spielhalle des Beigeladenen. Dem Beigeladenen wurde am 21.6.2010 eine unbefristete Erlaubnis nach § 33i GewO, dem Kläger am 24.5.2016 eine bis zum 30.11.2017 befristete Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt.
3Am 9.12.2015 beantragte der Beigeladene bei der Beklagten die Erteilung einer „weiteren Konzession (über das Jahr 2017 hinaus)“ zum Betrieb seiner Spielhalle in der S. str. 00. Die Spielhalle werde von ihm seit Jahren ohne negative Vorkommnisse geführt. Sie sei die Existenzgrundlage für ihn und seine Familie. Die von ihm gezahlte Miete trage zudem zur Sicherung eines wesentlichen Teils der Lebenshaltungskosten seiner Vermieterin bei.
4Am 12.1.2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten ebenfalls die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis „über das Jahr 2017 hinaus“. Nach Anhörung im April 2017 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19.7.2017 seinen Antrag ab und forderte ihn auf, seine Spielhalle ab dem 1.12.2017 geschlossen zu halten. Zur Begründung führte sie aus, der innerhalb des erforderlichen Mindestabstands von 350 m liegende Betrieb des Beigeladenen genieße anders als der des Klägers Vertrauensschutz, weil er bereits seit 1985 bestehe, seit 2010 und damit vor der gesetzlichen Neuregelung vom gleichen Inhaber geführt werde und gewerberechtlich unbefristet erlaubt worden sei.
5Dem Beigeladenen erteilte die Beklagte mit Bescheid vom 23.11.2017 eine bis zum 30.6.2021 befristete glücksspielrechtliche Erlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 GlüStV. Sie stellte die Erlaubniserteilung unter Widerrufsvorbehalt für den Fall, dass aufgrund des gerichtlichen Verfahrens, das der Kläger gegen die Ablehnung der von ihm beantragten Erlaubnis führt (Az.: 3 K 14518/17 VG Düsseldorf; 4 A 2324/19), eine Neuentscheidung notwendig werden sollte.
6Am 27.11.2017 ging bei der Beklagten ein anonymer, schriftlicher Hinweis ein, wonach in der Spielhalle des Beigeladenen für Getränke kein Geld kassiert werde, seit Jahren elf (anstatt der erlaubten neun) Geldspielgeräte aufgestellt seien und die Spielhalle fast jede Nacht bis 4 oder 5 Uhr geöffnet habe. Am selben Tag forderte die Beklagte den Beigeladenen auf, ein Unterrichtungskonzept der Industrie- und Handelskammer sowie ein Sozialkonzept vorzulegen, weil nun über den Fortbestand seiner Spielhalle entschieden worden sei. Am 18.12.2017 legte der Beigeladene der Beklagten Teilnahmebescheinigungen vom 7.12.2017 für Schulungen nach dem Glücksspielstaatsvertrag, ein betriebliches Sozialkonzept für gewerbliche Spielstätten vom 7.12.2017 sowie von seinen Mitarbeitern am 7.12.2017 unterschriebene Dienstanweisungen zum Spieler-, Jugend- und Datenschutz, Verpflichtungserklärungen nach dem Bundesdatenschutzgesetz, Vorlagen zur Dokumentation von Spieler- und Jugendschutzmaßnahmen und eine Teilnahmebescheinigung der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer vom 15.12.2017 über die Unterrichtung nach § 33c Abs. 2 Nr. 2 GewO vor.
7Der Kläger hat gegen die dem Beigeladenen erteilte Erlaubnis Klage erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen geltend gemacht: Es sei schon unklar, wie die Beklagte den Abstand von 287 m zwischen den konkurrierenden Spielhallen gemessen habe. Die getroffene Auswahlentscheidung sei ermessensfehlerhaft, weil nicht sachliche, an den Zielen des Glücksspielstaatsvertrages orientierte Auswahlkriterien den Ausschlag für die Auswahlentscheidung gegeben hätten, sondern sich die Beklagte vielmehr ausschließlich an den wirtschaftlichen Interessen der Antragsteller orientiert habe. Diese seien aber erst und nur im Rahmen der Härtefallprüfung gemäß § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV zu berücksichtigen. Unabhängig davon könne sich der Beigeladene auch nicht auf Vertrauensschutz berufen. Er könne seinen Mietvertrag für die Spielhalle in der S. str. 00 mit einer sechsmonatigen und damit vergleichsweise kurzen Frist kündigen. Eventuell vom Beigeladenen im Jahr 2010 angeschafftes Anlagevermögen dürfte wohl abgeschrieben sein. Darüber hinaus hätte dem Beigeladenen auch aus anderen Gründen keine glücksspielrechtliche Erlaubnis für die Spielhalle in der S. str. 00 erteilt werden dürfen. Die Beklagte habe im Juli 2013 und damit noch 20 Monate nach Inkrafttreten der glücksspielrechtlichen Neuregelung werberechtliche Verstöße des Beigeladenen festgestellt. Darüber hinaus sei dem Beigeladenen die Erlaubnis erteilt worden, obwohl die Beklagte offenbar seit dem Jahr 2012 nicht geprüft habe, ob er als Betreiber der Spielhalle in der S. str. 00 die sich aus dem Glücksspielstaatsvertrag ergebenden Pflichten erfülle. Die vom Beigeladenen nach der Erlaubniserteilung vorgelegten Unterlagen seien unvollständig und träfen zudem keine Aussage über die Zeit bis zur Erlaubniserteilung.
8Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
9den Bescheid des Bürgermeisters der Beklagten gegenüber dem Beigeladenen vom 24.11.2017 (richtig: 23.11.2017) über die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis für die Spielhalle S. straße 00 in S1. aufzuheben.
10Die Beklagte hat unter Verweis auf die Begründung des angefochtenen Bescheides schriftsätzlich beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Der Beigeladene hat im erstinstanzlichen Verfahren keinen Antrag gestellt. In der Sache hat er im Wesentlichen geltend gemacht, die Klage sei möglicherweise verfristet und der Kläger sei nicht klagebefugt, weil er sich auf keine drittschützende Norm berufen könne, die möglicherweise durch die streitgegenständliche Erlaubniserteilung verletzt sei. Ungeachtet dessen sei die Auswahlentscheidung der Beklagten ermessensfehlerfrei erfolgt. Derjenige, der seinen Betrieb an seinem konkreten Standort länger geführt habe, dürfe objektiv darauf vertrauen, dass er weiterhin seinen Lebensunterhalt mit dem entsprechenden Betrieb werde verdienen können. Der Kläger habe hingegen bereits bei Übernahme der Spielhalle in der P. Str. 00 von der geänderten Rechtslage gewusst. Das vom Kläger behauptete nicht ordnungsgemäße Verhalten des Beigeladenen im Jahr 2013 sei für die Auswahlentscheidung schon deshalb unbeachtlich, weil der Kläger seinen Spielhallenbetrieb erst 2016 übernommen habe. Etwaige Ordnungswidrigkeitenverfahren könnten allenfalls dann als Auswahlkriterium herangezogen werden, wenn die Konkurrenten zum exakt gleichen Tag ihren Betrieb aufgenommen hätten. Unabhängig davon scheide die Bevorzugung von Spielhallenbetreibern nach einem „besseren“ oder „umfangreicheren“ Ausfüllen der gesetzlichen Grundvoraussetzungen ohnehin als sachwidrig aus. Die glücksspielrechtliche Erlaubnis hätte dem Beigeladenen auch nicht aus anderen Gründen versagt werden müssen. Es sei völlig üblich, dass Unterlagen wie ein Sozialkonzept und Schulungsnachweise auch noch nachträglich von der Erlaubnisbehörde angefordert würden. Entscheidend sei allein, dass die Behörde ihre eigenen Richtmaximen verfolge und einhalte. Durch den Widerrufsvorbehalt habe die Beklagte die Möglichkeit gehabt, die erteilte Erlaubnis aufzuheben, falls der Beigeladene das Sozialkonzept und die Schulungsnachweise nicht vorgelegt hätte.
13Der Kläger hat im erstinstanzlichen Klageverfahren sein undatiertes betriebliches Sozialkonzept sowie Dokumentationen und Bescheinigungen aus dem Jahr 2017 über die Einhaltung des Spieler- und Jugendschutzes in seiner Spielhalle in der P. Str. 00 vorgelegt.
14Das Verwaltungsgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 7.5.2019 die dem Beigeladenen erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei zulässig. Sie sei fristgerecht eingelegt; der Kläger sei klagebefugt, weil mit der Erlaubniserteilung gegenüber dem Beigeladenen zwangsläufig die Ablehnung seines eigenen Antrages verbunden sei. Die Klage sei auch begründet, weil sich das von der Beklagten zu Lasten des Klägers durchgeführte Auswahlverfahren als ermessensfehlerhaft erweise. Die Beklagte habe die für die Auswahlentscheidung notwendige Abwägung nicht in ausreichendem Umfange vorgenommen. Eine Auswahlentscheidung zwischen Konkurrenten setze stets eine umfassende Ermittlung und Bewertung der miteinander konkurrierenden Sachverhalte voraus. Zwar sei es nicht ausgeschlossen, auch die Bestandsdauer eines Betriebes und die bestehende Genehmigungslage mit einzubeziehen. Hieraus ergebe sich allerdings nicht der (logische) Rückschluss, dass die Dauer eines legalen Betriebs alleiniges und maßgebliches Auswahlkriterium sein dürfe.
15Zur Begründung seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung macht der Beigeladene geltend: Die Klage sei mangels Klagebefugnis schon unzulässig. Insoweit dürfe der Beigeladene, der eine „vollwertige“ glücksspielrechtliche Erlaubnis erhalten habe, nicht schlechter gestellt werden als Inhaber einer Härtefallerlaubnis, die nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht der Drittanfechtung unterliege. Die Klage sei überdies unbegründet. Es sei sachgerecht, maßgeblich auf das Alter der gewerberechtlichen Erlaubnis nach § 33i GewO abzustellen. Er bezieht sich hierzu unter anderem auf Rechtsprechung des erkennenden Senats. Die Mindestanforderungen an die Zuverlässigkeit des Spielhallenbetreibers seien allein relevant für die Frage, ob die Erlaubnis versagt werden müsse; bei der anschließenden Auswahlentscheidung könnten sie nicht erneut berücksichtigt werden.
16Der Beigeladene beantragt schriftsätzlich,
17den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vorn 7.5.2019 abzuändern und die Klage abzuweisen.
18Die Beklagte stellt keinen Antrag.
19Der Kläger beantragt,
20die Berufung zurückzuweisen.
21Neben der vorliegenden Klage hat der Kläger auch Klage gegen den an ihn gerichteten Versagungsbescheid vom 19.7.2017 erhoben (VG Düsseldorf, Az. 3 K 14518/17). Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom 7.5.2019 verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis neu zu bescheiden. Über die Berufung des Beigeladenen hat der Senat mit Urteil vom heutigen Tage (Az. 4 A 2324/19) entschieden.
22Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte in diesem Verfahren, im Verfahren 3 L 5765/17 (VG Düsseldorf) sowie im Verfahren 4 A 2324/19 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten in diesem Verfahren (ein Hefter) sowie im Verfahren 4 A 2324/19 (vier Hefter) und der vom Kläger im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen (zwei Ordner) Bezug genommen.
23Entscheidungsgründe:
24Der Senat konnte trotz Ausbleiben des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil seine Prozessbevollmächtigten mit der Ladung gemäß §§ 125 Abs. 1, 102 Abs. 2 VwGO auf diese Möglichkeit hingewiesen worden waren.
25Die zulässige Berufung des Beigeladenen ist unbegründet.
26Die Klage des Klägers gegen die dem Beigeladenen mit Bescheid der Beklagten vom 23.11.2017 erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnis für die vom Beigeladenen betriebene Spielhalle in der S. str. 00 in S1. ist zulässig (unten I.) und begründet (unten II.).
27I. Die Klage ist zulässig. Der Kläger ist insbesondere klagebefugt, § 42 Abs. 2 VwGO.
28Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch das streitgegenständliche Verhalten der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt zu sein. Das ist dann der Fall, wenn nach dem tatsächlichen Klagevorbringen eine Verletzung eigener subjektiver Rechte des Klägers möglich erscheint.
29Vgl. BVerwG, Urteil vom 10.7.2001 – 1 C 35.00 –, BVerwGE 114, 356 = juris, Rn. 15, m. w. N.; OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 665/19 –,GewArch 2020, 104 = juris, Rn. 24 f., m. w. N.
30Danach ist der Kläger klagebefugt. Bei der dem Beigeladenen erteilten Erlaubnis vom 23.11.2017 handelt es sich nicht um eine Härtefallerlaubnis, die nach § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV unter Befreiung vom Mindestabstandsgebot erteilt wurde; die Beklagte hat vielmehr die Erlaubnis nach § 24 Abs. 1 GlüStV ohne eine solche Befreiung ausgesprochen und dabei Vertrauens- und Bestandsschutzinteressen im Ergebnis tragend im Rahmen der Auswahlentscheidung berücksichtigt. Eine derartige glücksspielrechtliche Erlaubnis, die einem Spielhallenbetreiber als Ergebnis des Auswahlverfahrens nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV erteilt wird, löst gegenüber den unterlegenen Konkurrenten das Mindestabstandsgebot aus und berührt diese dadurch in ihren Rechten.
31Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 665/19 –, GewArch 2020, 104 = juris Rn. 55 f., m. w. N., 58.
32II. Die Klage ist auch begründet. Die dem Beigeladenen erteilte Erlaubnis ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen subjektiven Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
331. Die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis setzt grundsätzlich voraus, dass das Mindestabstandsgebot aus § 25 Abs. 1 GlüStV i. V. m. § 16 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 AG GlüStV NRW eingehalten wird. Nach diesen Vorschriften soll ein Mindestabstand von 350 Metern Luftlinie zu einer anderen Spielhalle nicht unterschritten werden. Die Behörde darf aber unter bestimmten Voraussetzungen von dem Mindestabstandsgebot abweichen, § 16 Abs. 3 Satz 3 AG GlüStV NRW. Zudem kann sie gemäß § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV zu Gunsten eines Betreibers eine Befreiung von der Einhaltung des Mindestabstandsgebots für einen angemessen Zeitraum zulassen, wenn dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich ist; hierbei sind der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33 i GewO sowie die Ziele des § 1 GlüStV zu berücksichtigen.
34Begehren nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV mehrere Betreiber von Spielhallen, die zueinander das Mindestabstandsgebot nicht einhalten, die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, bedarf es zur Auflösung der Konkurrenzsituation einer Auswahlentscheidung. Die in die Auswahlentscheidung einzustellenden Kriterien (Auswahlparameter) lassen sich dem Gesetz entnehmen und wurden durch die die Behörde bindenden Erlasse des Ministeriums für Inneres (und Kommunales) näher konturiert. Insbesondere kann im Rahmen der Auswahl zunächst auf die Regelung zur Härtefallbefreiung nach § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV zurückgegriffen werden. Die ohnehin geforderte Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Positionen der Spielhallenbetreiber gebietet auch ohne ausdrückliche gesetzliche Präzisierung, dass die zuständigen Behörden sich eines Verteilmechanismus bedienen, der die bestmögliche Ausschöpfung der bei Beachtung der Mindestabstände verbleibenden Standortkapazität in dem relevanten Gebiet ermöglicht. Das gilt auch, sofern bei der erforderlichen Auswahlentscheidung zusätzlich Erlaubnisanträge neu in den Markt eintretender (oder erst vor kurzem eingetretener) Bewerber einzubeziehen sind, wobei grundrechtsrelevante Positionen der Betreiber von Bestandsspielhallen zu berücksichtigen bleiben. Dazu zählt etwa die Amortisierbarkeit von Investitionen. Zudem ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung in § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV, dass bereits bei der Auswahlentscheidung die mit der Neuregelung verfolgten Ziele des § 1 GlüStV zu beachten sind und bei Bestandsspielhallen überdies der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33i GewO zu berücksichtigen ist. Diese gesetzlichen Vorgaben sind ergänzend durch die über das Internet allgemein zugänglichen Ministerialerlasse vom 10.5.2016 und 6.11.2017 näher konturiert worden, die weitere Hinweise zu den heranzuziehenden Kriterien enthalten und der Ausübung des Ermessens durch die hieran gebundenen Behörden zusätzliche Grenzen setzen.
35Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 45 f., Beschluss vom 14.6.2019 ‒ 4 B 1488/18 ‒, juris, Rn. 14 ff., jeweils m. w. N. und unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 7.3.2017 ‒ 1 BvR 1314/12 u. a. ‒, BVerfGE 145, 20 = juris, Rn. 179 ff., 182 ff.
36Die in der Auswahlentscheidung auch zu berücksichtigenden Ziele des § 1 GlüStV erfordern einen Vergleich der konkurrierenden Spielhallen daraufhin, welche besser geeignet ist, die Ziele des Staatsvertrags zu erreichen. Solche Unterschiede können sich unter anderem aus Besonderheiten des Umfeldes des jeweiligen Standorts oder aus der Art der zu erwartenden Betriebsführung der einzelnen Betreiber ergeben. Hierbei ist etwa maßgeblich, inwieweit prognostisch von einem rechtstreuen Verhalten des Spielhallenbetreibers auszugehen ist, also von der Einhaltung von Vorschriften, die gerade die Erreichung der Ziele des § 1 GlüStV sicherstellen sollen. Vorgaben für die Betriebsführung, durch die der Gesetzgeber die abstrakten Zielvorgaben des § 1 GlüStV konkretisiert hat, finden sich insbesondere in den Vorschriften, auf die der Landesgesetzgeber in § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 AG GlüStV NRW (im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Auswahlentscheidung der Beklagten noch in Nr. 2 geregelt) Bezug genommen hat. Das sind die Jugendschutzanforderungen nach § 4 Abs. 3 GlüStV, das Internetverbot in § 4 Abs. 4 GlüStV, die Werbebeschränkungen nach § 5 GlüStV, die Anforderungen an das Sozialkonzept nach § 6 GlüStV und die Anforderungen an die Aufklärung über Suchtrisiken nach § 7 GlüStV. Der Glücksspielstaatsvertrag selbst fordert in § 6 Satz 2 GlüStV zudem, dass die Vorgaben des Anhangs zum Glücksspielstaatsvertrag „Richtlinien zur Vermeidung und Bekämpfung von Glücksspielsucht“ von den Spielhallenbetreibern zu erfüllen sind. Auch in diesen Richtlinien finden sich qualitative Anforderungen an die Betriebsführung. Weitere Kriterien für die Bewertung der Betriebsführung lassen sich den für die Behörden verbindlichen Erlassen vom 10.5.2016 und 6.11.2017 des Ministeriums für Inneres (und Kommunales) des Landes Nordrhein-Westfalen entnehmen. Hierzu gehören: Die gesetzliche Einhaltung der Vorgaben zu äußerer und innerer Gestaltung der Spielhalle, die Einhaltung baurechtlicher Anforderungen, keine unerlaubten Glücksspiele, die Einhaltung und sichtbare Ausweisung gesetzlich vorgeschriebener Öffnungszeiten, gültige PTB-Prüfplakette sichtbar vorhanden, Übereinstimmung der tatsächlichen Flächen mit § 3 Abs. 2 Satz 1 SpielV, keine illegalen Unterhaltungsspielgeräte, keine Sportwettenterminals vorhanden, keine unerlaubten EC-Kartenautomaten und keine internetfähigen Computer im Betrieb vorhanden.
37Der Bewertung, in welchem Maße von den konkurrierenden Spielhallen oder Betreibern materielle Anforderungen an die Betriebsführung erfüllt werden, und die Berücksichtigung von etwaigen hinreichend gewichtigen Unterschieden in der Auswahlentscheidung steht nicht entgegen, dass die Erfüllung materieller Anforderungen ohnehin Voraussetzung für die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis ist.
38Zwar ist unter anderem nach §§ 24 Abs. 2 Satz 1 GlüStV, 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 AG GlüStV NRW eine glücksspielrechtliche Erlaubnis zu versagen, wenn die Errichtung und der Betrieb einer Spielhalle den Zielen des § 1 GlüStV zuwiderläuft bzw. die Einhaltung der in § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 AG GlüStV NRW (ebenso § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 AG GlüStV NRW in der bis zum 13.12.2019 gültigen Fassung) genannten Anforderungen nicht sichergestellt ist. Hierdurch sowie durch die weiteren Versagungsgründe in § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 ‒ 4 AG GlüStV NRW wird gewährleistet, dass die Spielhallen, die den qualitativen und räumlichen Kriterien sowie den Anforderungen an die Zuverlässigkeit des Betreibers nicht genügen, aus der Auswahl ausscheiden. Die diese Anforderungen erfüllenden Spielhallen stehen insoweit auf einer Stufe.
39Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.12.2016 – 8 C 6.15 –, BVerwGE 157, 126 = juris, Rn. 55; OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 49.
40Ausgehend hiervon mag es dem Landesgesetzgeber offen stehen, durch ausdrückliche gesetzliche Anordnung zu bestimmen, dass (etwa aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität) in der Auswahlentscheidung durch die Behörde nicht weiter zu bewerten ist, inwieweit zwischen den die Erlaubnisvoraussetzungen beachtenden, insoweit auf einer Stufe stehenden, Bewerbern Unterschiede vorliegen, die sich auf die Erreichung bzw. Förderung der Ziele des § 1 GlüStV auswirken können.
41Vgl. dies annehmend Hamb. OVG, Beschluss vom 9.7.2018 – 4 Bs 12/18 –, ZfWG 2018, 449 = juris, Rn. 104, für das dortige Landesrecht; zum Losverfahren nach dem Berliner Landesrecht BVerwG, Urteil vom 16.12.2016 – 8 C 6.15 –, BVerwGE 157, 126 = juris, Rn. 54 f., und OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 24.7.2020 – 1 N 77.19 –, juris, Rn. 5 ff.
42Im nordrhein-westfälischen Landesrecht findet sich aber gerade keine derartige Regelung. Schon deshalb verbleibt es dabei, dass nach den gesetzlichen Vorgaben des Glücksspielstaatsvertrags, wie sie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts festgestellt wurden, sowie dem Rechtsgedanken aus § 29 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 GlüStV auch die Ziele des § 1 GlüStV, die durch weitere Vorschriften und Ministerialerlasse konkretisiert werden können, bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigen sind. Ein dem Vergaberecht vergleichbar gestuftes Verfahren, in dem auf der ersten Stufe Eignungskriterien zu erfüllen sind, die bei der Auswahl auf der zweiten Stufe dann nicht mehr zur Differenzierung herangezogen werden dürfen, hat der Gesetzgeber für konkurrierende Spielhallen gerade nicht vorgesehen.
43Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 53, und Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, ZfWG 2019, 516 = juris, Rn. 28 ff., m. w. N.
44Ergibt der Vergleich der konkurrierenden Spielhallen, dass eine von ihnen besser Gewähr für die Förderung der Ziele des Staatsvertrags als die Konkurrenten bietet, ist die Auswahl eines dieser Konkurrenten allein wegen seiner Bestandsschutz- und Vertrauensschutzinteressen sachwidrig. Bei der Auswahlentscheidung sind nach dem Zweck der Ermächtigung die (dauerhaft anzustrebenden) Ziele des § 1 GlüStV gegenüber Bestandsschutz- und Vertrauensschutzinteressen, denen im Rahmen von Härtefallentscheidungen (nur vorübergehend) Rechnung getragen werden kann, jedenfalls nicht nachrangig. Dies ergibt sich schon aus den Regelungen des Glücksspielstaatsvertrags selbst. Bestandsschutz- und Vertrauensschutzgesichtspunkte können bei unzumutbaren Belastungen eine Erlaubniserteilung nur für einen angemessenen (begrenzten) Zeitraum rechtfertigen, § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV. Würde aber ein im Hinblick auf die Erfüllung der Ziele des § 1 GlüStV vorzuziehender Bewerber zu Gunsten eines anderen Bewerbers abgelehnt, nur weil Bestandsschutz- und Vertrauensschutzgesichtspunkte für diesen sprechen, würde der ausgewählte Betreiber aller Voraussicht nach den unterlegenen Konkurrenten nicht nur für einen angemessenen Zeitraum, sondern dauerhaft verdrängen. Denn der unterlegene Bewerber muss sein Geschäft wegen des Mindestabstandsgebots aufgeben.
45Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 55, Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, ZfWG 2019, 516 = juris, Rn. 44 ff., m. w. N.
462. Ausgehend davon hat die Beklagte die dem Beigeladenen erteilte Erlaubnis jedenfalls aufgrund einer ermessensfehlerhaften Auswahlentscheidung rechtswidrig erteilt und dadurch subjektive Rechte des Klägers verletzt.
47Der Kläger hat aufgrund seines Antrags auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis nach den §§ 24 Abs. 1 GlüStV, 16 Abs. 2 AG GlüStV NRW einen noch nicht erfüllten Anspruch auf Beteiligung an dem in Folge der Nichteinhaltung des Mindestabstandsgebots nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV notwendigen Auswahlverfahren. Ein Auswahlverfahren war hier erforderlich, weil die Spielhalle des Klägers den erforderlichen Abstand von 350 m Luftlinie,
48vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2020 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 40 f., m. w. N.,
49zur Spielhalle des Beigeladenen nicht einhält, was der Kläger nicht mehr bestreitet.
50Dabei kann im vorliegenden Zusammenhang dahinstehen, ob dem Beigeladenen die glücksspielrechtliche Erlaubnis nach § 24 Abs. 1 GlüStV schon nach §§ 24 Abs. 2 Satz 1 GlüStV, 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 AG GlüStV NRW a. F. zu versagen war, weil im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Erlaubniserteilung die Errichtung und der Betrieb seiner Spielhalle den Zielen des § 1 GlüStV zuwiderlief bzw. die Einhaltung der in § 16 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 AG GlüStV NRW a. F. genannten Anforderungen nicht sichergestellt war. Die Beklagte hat bei Bescheiderlass ohne ausdrückliche Prüfung und ohne dokumentierte Einholung aussagekräftiger Unterlagen angenommen, dass der Beigeladene sämtliche Erteilungsvoraussetzungen erfüllt.
51Unabhängig davon, ob diese Annahme im Ergebnis richtig war, hätte die Beklage bei ihrer Auswahlentscheidung jedenfalls nicht allein darauf abstellen dürfen, wann den betroffenen Betreibern eine Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden ist. Lediglich wenn die Beklagte bei der Prüfung der Ziele des § 1 GlüStV und der weiteren in die Auswahlentscheidung einzustellenden Kriterien nachvollziehbar keine entscheidungserheblichen Unterschiede zwischen den Spielhallen festgestellt hätte, wäre es vertretbar gewesen, auf den Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis nach § 33i GewO abzustellen.
52Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 76 f., m. w. N.; Beschlüsse vom 4.12.2019 – 4 B 1037/18 –, GewArch 2020, 193 = juris Rn. 21, und vom 14.6.2019 – 4 B 1488/18 –, ZfWG 2019, 383 = juris, Rn. 21 ff.
53Beruht die Erlaubniserteilung damit auf einer unzureichenden Ermessensausübung, ist sie allein deshalb rechtswidrig. Da sie den Kläger aufgrund dessen in seinen Rechten verletzt, unterliegt sie der Aufhebung im Wege der hier streitgegenständlichen (Dritt-)Anfechtungsklage.
54Bei der zu wiederholenden Auswahlentscheidung wird die Beklagte insbesondere zu berücksichtigen haben, beiden Bewerbern eine hinreichende Chancengleichheit zu gewährleisten. Entscheidend ist dabei, durch die Verfahrensgestaltung zu gewährleisten, dass die Auswahl tatsächlich unter beiden Bewerbern erfolgen kann. Die Berücksichtigung nachträglicher Veränderungen oder Erkenntnisse, die vorliegend gesetzlich nicht ausgeschlossen ist, muss transparent erfolgen und jedem Mitbewerber eine faire Chance belassen, nach Maßgabe der wesentlichen Kriterien und des vorgesehenen Verfahrens berücksichtigt zu werden.
55Vgl. für die Marktzulassung OVG NRW, Urteil vom 19.9.2019 – 4 A 2177/18 –, GewArch 2020, 148 = juris, Rn. 63 f., m. w. N., 97.
56Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3 Halbsatz 1 VwGO. Der Beigeladene ist nicht verpflichtet, die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu tragen. Diese hat im Berufungsverfahren nicht obsiegt und ist deshalb nicht erstattungsberechtigt.
57Vgl. BVerwG, Urteile vom 25.10.2018 – 3 C 22.16 –, BVerwGE 163, 283 = juris, Rn. 33, m. w. N., und vom 26.3.2015 – 4 C 1.14 –, NVwZ-RR 2015, 685 = juris, Rn. 18.
58Außergerichtliche Kosten des unterlegenen Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, § 162 Abs. 3 VwGO.
59Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
60Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind. Zwar sind die Regelungen des Glücksspielstaatsvertrags nach § 33 GlüStV revisibel. Es ist aber bereits durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7.3.2017 ‒ 1 BvR 1314/12 u. a. ‒ geklärt, dass nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV ein Auswahlverfahren stattfinden und an welchen Kriterien sich die Auswahlentscheidung grundsätzlich ausrichten muss.
61Soweit die Gewichtung und der Inhalt der Auswahlkriterien nicht bereits durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geklärt wurden, beruhen alle weiteren Vorgaben auf nicht revisiblen landesrechtlichen Regelungen. Insoweit erhalten die Auswahlkriterien ihren in Nordrhein-Westfalen maßgeblichen Inhalt erst durch die Konturierung im Landesrecht, die außer durch das Ausführungsgesetz zum Glücksspielstaatsvertrag durch die die Behörden bindenden spielhallenrechtlichen Erlasse erfolgt ist.
62Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 88 f., m. w. N.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.Der Streitwert wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.I.2 Statthaft ist ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO, da Maßnahmen, die – wie hier – im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits die Rechtsstellung von Organen oder Organteilen betreffen, mangels Außenwirkung keine Verwaltungaktsqualität im Sinne von § 123 Abs. 5 VwGO besitzen (OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 14.12.2007 - 1 B 1839/07 -, juris Rn. 45 f., m.w.N.).3 Der Antragsteller ist auch antragsbefugt (analog § 42 Abs. 2 VwGO). Denn ihm steht eine eigene wehrfähige intraorganschaftliche Rechtsposition zu, da sein innerorganisatorische Mitgliedschaftsrecht als klagefähige Rechtsposition das Recht auf ordnungsgemäße Einberufung der Sitzung im Sinne des § 34 GemO umfasst (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.12.1987 - 1 S 2832/86 -, NVwZ-RR 1989, 153, Leitsatz 2; Urt. v. 12.02.1990 - 1 S 588/89 -, juris Rn. 16). Regelungszweck des § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO ist es gerade, den einzelnen Gemeinderat zu schützen und ihm ausreichend Zeit zur Vorbereitung der jeweiligen Sitzung einzuräumen (LT.-Drs. 15/7265, S.40; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.06.2002 - 1 S 896/00 -, juris Rn. 24; Urt. v. 25.03.1999 - 1 S 2059/98 -, juris Rn. 23). Eine Rechtsverletzung des Antragstellers erscheint nicht offensichtlich ausgeschlossen und daher möglich.4 Richtiger Antragsgegner ist der Oberbürgermeister selbst, da ihm die behauptete Verletzung der Rechtsposition des Antragstellers anzulasten wäre (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 12.02.1990 - 1 S 588/89 -, juris Rn. 22; VG Stuttgart, Urt. v. 19.06.2020 - 7 K 5890/18 -, juris Rn. 89).II.5 Der Antrag ist allerdings nicht begründet.6 Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Zum Erlass einer solchen Regelungsanordnung ist nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen, dass ein Anordnungsgrund besteht, das heißt eine vorläufige gerichtliche Entscheidung erforderlich ist, und ein Anordnungsanspruch gegeben ist, das heißt die tatsächlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch erfüllt sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das einstweilige Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO grundsätzlich nur der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses dient; einem Antragsteller soll grundsätzlich nicht bereits das gewährt werden, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen kann. Für eine ausnahmsweise mögliche Durchbrechung des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache ist allerdings dann Raum, wenn dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG schlechterdings unabweisbar ist; dies setzt hohe Erfolgsaussichten, also eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in der Hauptsache oder – mit anderen Worten – eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Aufnahme des strittigen Tagesordnungspunktes voraus (vgl. zum grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes: BVerfG, Beschl. v. 11.03.2005 - 1 BvR 2298/04 -, NVwZ-RR 2005, 442; Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 123, Rn. 59 ff.; Schoch, in: ders./Schneider/Bier, VwGO, 38. EGL 2020, § 123 Rn. 141 ff., m.w.N.; sowie im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits, VG Hannover, Beschl. v. 28.03.2019 - 1 B 1368/19 -, juris Rn. 16; Beschl. v. 30.10.2019 - 1 B 4400/19 -, juris Rn. 30; VG Trier, Beschl. v. 10.11.2010 - 1 L 1246/10.TR -, juris Rn. 2 f.).7 Gemessen an diesem Maßstab steht dem Antragsteller zwar aufgrund der morgen stattfindenden Gemeinderatssitzung ein Anordnungsgrund zu. Allerdings hat er eine Rechtsverletzung, aus der sich ein Anordnungsanspruch ergeben könnte, nicht glaubhaft gemacht; denn nach summarischer Prüfung kann von einer – zumal offensichtlichen – Rechtswidrigkeit der nachträglichen Aufnahme des Tagesordnungspunkts Nr. 16 „X“ für die Gemeinderatssitzung am 29.09.2020 nicht ausgegangen werden. Dies ergibt sich aus Folgendem:8 Nach der seit dem 01.12.2015 geltenden Fassung des § 34 Abs. 1 Satz 1 GemO beruft der (Ober-)Bürgermeister den Gemeinderat schriftlich oder elektronisch mit angemessener Frist ein und teilt rechtzeitig, in der Regel mindestens sieben Tage vor dem Sitzungstag, die Verhandlungsgegenstände mit; dabei sind die für die Verhandlung erforderlichen Unterlagen beizufügen, soweit nicht das öffentliche Wohl oder berechtigte Interessen Einzelner entgegenstehen. Nach Abs. 1 Satz 7 der Vorschrift sind Zeit, Ort und Tagesordnung der öffentlichen Sitzung rechtzeitig ortsüblich bekanntzugeben. Eine Frist von drei Tagen ist hier im Allgemeinen ausreichend. Bei diesen Normen handelt es sich nicht um bloße Ordnungsvorschriften, sondern um zwingende Verfahrensvorschriften. Denn nach § 37 Abs. 1 Satz 1 GemO kann der Gemeinderat nur in einer ordnungsgemäß einberufenen und geleiteten Sitzung beraten und beschließen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 02.08.2018 - 3 S 1523/16 -, juris Rn. 83 f.).9 Auch nach der Änderung des § 34 Abs. 1 GemO ist bei Vorliegen besonderer Umstände (z.B. Eilbedürftigkeit) eine kurzfristigere Nachreichung einzelner Verhandlungsgegenstände möglich (LT.-Drs. 15/7265, S.40), solange solche Eilfälle nicht zur Regel werden (Engel/Heilshorn, Kommunalrecht BW, 11. Aufl. 2018, § 14 Rn. 132). Bei der Beurteilung, ob ein Regelfall vorliegt, kann etwa auf die Größe der Gemeinde, Inhalt und Umfang der Tagesordnung, Bedeutung des Beratungsgegenstandes für die Gemeinde sowie eine Vorbefassung in früheren (Ausschuss-)Sitzungen abgestellt werden (vgl. zur alten Rechtslage VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.04.1999 - 8 S 5/99 -, juris Rn. 26; Urt. v. 24.06.2002 - 1 S 896/00 -, juris Rn. 24; außerdem VG Stuttgart, Urt. v. 19.06.2020 - 7 K 5890/18 -, juris Rn. 92). Die besonderen Umstände des Einzelfalls sind vom (Ober-)Bürgermeister zu belegen (zum Ganzen, Kunze/Bronner/Katz, GemO Bad.-Württ., Band 1, 27. EGL 2020, § 34 Rn. 4a). Bei der Beurteilung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist überdies zu beachten, dass die Gemeinderäte ehrenamtlich tätig sind und dass der Umfang der Beratungsgegenstände und -unterlagen für eine sachgerechte Vorbereitung von maßgeblicher Bedeutung ist (vgl. Dusch, VBlBW 2016, 8, 13 f.)10 Der Antragsgegner hat spätestens mit der Antragserwiderung nachvollziehbar belegt, dass ein atypischer Ausnahmefall vorliegt. Die besondere Eilbedürftigkeit der Aufnahme des Tagesordnungspunkts 16 „X“ ergibt sich danach vor allem daraus, dass das Ministerium für Soziales und Migration Baden-Württemberg sich mit Schreiben vom 18.09.2020 mit der Bitte an den Städtetag gewandt hat, bis spätestens Mittwoch, den 23.09.2020, mitzuteilen, ob die jeweiligen Jugendämter bereit seien, freiwillig junge Menschen aus dem (abgebrannten) Flüchtlingslager Moria aufzunehmen. Nachdem der Antragsgegner mit Schreiben an das Ministerium vom 23.09.2020 vorbehaltlich eines entsprechenden Gemeinderatsbeschlusses mitgeteilt hatte, dass vorhandene Kapazitäten bestünden, hat das Ministerium zuletzt mitgeteilt, dass eine Aufnahme bereits am 30.09. bzw. 07.10.2020 erfolgen müsse. Die nächste, auf die morgige Sitzung folgende Gemeinderatssitzung findet aber erst am 20.10.2020 statt.11 Eine Abweichung vom Regelfall ergibt sich wohl schon daraus, dass den Gemeinderatsmitgliedern die Möglichkeit einer Tagesordnungsergänzung bekannt war bzw. hätte bekannt sein müssen. Dies folgt vor allem daraus, dass der Antragsgegner dargelegt hat, dass bereits in der nichtöffentlichen Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses am 21.09.2020 – und damit mehr als eine Woche vorher – über eine mögliche Befassung des Gemeinderats in der bevorstehenden Sitzung am 29.09.2020 mit dem Thema und damit eine mögliche Änderung der Tagesordnung informiert zu haben, wobei ein Vertreter der Gruppe, der der Antragsteller angehört, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr anwesend gewesen sei. Aufgabe des Hauptausschusses, der regelmäßig eine Woche vor der Gemeinderatssitzung tagt, ist es gerade, Verhandlungsgegenstände des Gemeinderats zusätzlich vorzuberaten (vgl. § 7 Abs. 1 der Hauptsatzung X). Schließlich ist die mit dem Tagesordnungspunkt angesprochene Thematik und vor allem die Aufnahmesituation von Flüchtlingen in X seit einigen Jahren immer wieder Thema im Gemeinderat. Insbesondere hat der Antragsgegner auf eine dahingehende umfangreiche Anfrage der Gruppe des Antragstellers nach § 24 Abs. 4 GemO erst am 25.06.2020 ausführlich geantwortet.12 Dem stehen keine gewichtigen Gründe gegenüber, welche die Einhaltung der Regelfrist von sieben Tagen gebieten könnten. Der Antragsteller hat insbesondere nicht substantiiert und glaubhaft dargelegt, dass ihm unter Berücksichtigung seiner Vorkenntnisse zum Thema, des konkreten Befassungsgegenstands, des Umfangs der Beschlussvorlage und der übrigen Tagesordnung eine ausreichende Vorbereitung nicht mehr möglich wäre.13 Schließlich bestehen weder Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit der Beschlussvorlage, die einen konkreten Beschlussantrag umfasst, noch an der Befassungskompetenz des Gemeinderats, hinsichtlich der von der Bundesregierung ermöglichten und von der Landesregierung angefragten Aufnahme von Geflüchteten im Gemeindegebiet.III.14 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG (sogenannter Auffangstreitwert von 5.000,- EUR); denn es fehlt an hinreichenden Anhaltspunkten für die Bedeutung der Sache für den Antragsteller im Sinn von § 52 Abs. 1 GKG (ebenso VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.11.2018 - 1 S 1824/18 -, Beschl. v. 18.03.2019 - 1 S 1023/18 - und Beschl. v. 26.03.2020 - 1 S 424/20 -, alle juris). Somit sieht die Kammer keinen Grund, der Empfehlung von Nr. 22.7 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu folgen, bei Kommunalverfassungsstreitigkeiten den Streitwert gemäß § 52 Abs. 1 GKG allgemein und ausnahmslos auf 10.000,- EUR festzusetzen. Wegen der erstrebten Vorwegnahme der Hauptsache bleibt es beim Hauptsachestreitwert (vgl. Nr. 1.5 Satz 2 Streitwertkatalog 2013; VG Hannover, Beschl. v. 30.10.2019 - 1 B 4400/19 -, juris Rn. 91). | {
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Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde des Gefangenen gegen den Beschluss der kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 7. Mai 2020 wird auf Kosten des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen.
2. Der Antrag des Beschwerdeführers ihm für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen wird zurückgewiesen.
3. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 500 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller verbüßt eine Haftstrafe von 12 Jahren wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer und gefährlicher Körperverletzung in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Seit Anfang Sommer 2019 lernte der Antragsteller über Briefkontakt den in der Justizvollzugsanstalt Ludwigshafen inhaftierten Z kennen, der sich im Vollzug einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren 6 Monaten mit anschließender Sicherungsverwahrung wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung befindet. Die Sicherungsverwahrung wurde seit dem 29. März 2010 in der Justizvollzugsanstalt Diez vollzogen. Am 14. August 2018 wurde Z im Rahmen einer sozialtherapeutischen Behandlung in die Justizvollzugsanstalt Ludwigshafen verlegt.
2
Im Rahmen des Briefkontaktes verlobten sich der Antragsteller und Z im September 2019. Der Antragsteller beantragte daraufhin über die Justizvollzugsanstalt Bruchsal eine Besuchsüberstellung in die Anstalt der Antragsgegnerin, die mit Schreiben der Justizvollzugsanstalt Bruchsal vom 30. Oktober 2019 abgelehnt wurde. Die Antragsgegnerin hatte zuvor auf entsprechende Anfrage der Justizvollzugsanstalt Bruchsal mitgeteilt, eine Besuchsüberstellung zur Antragsgegnerin werde abgelehnt, weil der rheinland-pfälzische Vollstreckungsplan nur die Aufnahme rheinland-pfälzischer Strafgefangener bzw. Untergebrachter vorsehe, bei denen eine Indikation für eine sozialtherapeutische Behandlung vorliege.
3
Gegen diese Entscheidung der Justizvollzugsanstalt Bruchsal wendet sich der Antragssteller vor dem Landgericht Karlsruhe mit einem Antrag gem. § 109 StVollzG. Der Ausgang dieses Verfahrens ist offen. Zugleich hat er beim Landgericht Frankenthal (Pfalz) gem. § 109 StVollzG beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm die Besuchsüberstellung aus der JVA Bruchsal in die JVA Ludwigshafen zwecks Besuchs seines Verlobten zu gewähren bzw. der vorgenannten Besuchsüberstellung zuzustimmen, hilfsweise die Antragsgegnerin zu verpflichten, über die Gewährung der Besuchsüberstellung neu zu entscheiden sowie ihm hierfür Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
4
Mit Beschluss vom 7. Mai 2020 hat die kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) den Antrag im Haupt- und Hilfsantrag als unzulässig abgelehnt und die Gewährung von Prozesskostenhilfe verweigert, weil es an einer Maßnahme im Sinne des § 109 StVollzG fehle und eine Notwendigkeit für eine parallele Geltendmachung gegenüber der vollziehenden und der aufnehmenden Haftanstalt nicht bestehe. Ergänzend hat die Strafvollstreckungskammer ausgeführt, dass der Antrag auch unbegründet sei.
5
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde.
I.
6
Die Frage, ob in der hiesigen Konstellation eines länderübergreifenden Besuchsüberstellungsantrags eines Gefangenen zu einer im Vollzug der Sicherungsverwahrung befindlichen Person, der daran scheitert, dass die Justizvollzugseinrichtung, in die die Überstellung begehrt wird, ihre Zustimmung zum Überstellungsgesuch des Antragstellers verweigert, neben einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Vollzugsanstalt der Antragstellers ein weiterer Antrag, ggf. nach § 109 StVollzG, gegen die aufnehmende Justizvollzugsanstalt eines anderen Bundesland gerichtet werden kann oder muss (dafür OLG Jena, NStZ 1997, 455; dagegen in einem ähnlichen Fall Senat, Beschluss vom 6. Januar 1983 – 1 Vollz (Ws) 37/82, Forum Strafvollzug 1983, 248; ebenso für den ausdrücklichen Fall der Überstellung Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. 2020, 2. Kap. Aufnahme, Planung, Unterbringung D. Verlegung, Überstellung, Ausantwortung, Rn. 15; offenlassend BVerfGK 13, 487), kann hier offen bleiben. Nach den zugrunde zu legenden Feststellungen bietet die Rechtsbeschwerde keinen Anlass, sie zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen, § 116 Abs. 1 StVollzG.
II.
7
1. Die Rechtsbeschwerde ist zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen und des Verfahrensrechts aufzustellen oder weiterzuentwickeln. Die in Rede stehende Rechtsfrage muss von praktischer Bedeutung, entscheidungserheblich und klärungsbedürftig sein, also offen, zweifelhaft oder bestritten (KG, Forum Strafvollzug 2007, 280 mwN). Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist sie zuzulassen, wenn vermieden werden soll, dass schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung bestehen oder fortbestehen, wobei es maßgeblich darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat (BGH NJW 1971, 389). Die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung durch das Rechtsbeschwerdegericht in dem vorgenannten Sinn muss geboten sein, d.h. sie muss sich im konkreten Einzelfall geradezu aufdrängen und darf nicht bloß naheliegen (OLG München Forum Strafvollzug 2010, 365). Allein der Umstand, dass die angefochtene Entscheidung rechtsfehlerhaft ist, reicht für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht aus (vgl. OLG Bamberg BeckRS 2010, 20246). Die Entscheidung muss zudem auf dem zulassungsrelevanten Fehler beruhen.
8
2. Diese Zulassungsgründe sind vorliegend nicht gegeben. Selbst wenn die Strafvollstreckungskammer zu Unrecht von einer Unzulässigkeit des Rechtswegs nach § 109 StVollzG für die vorliegende Konstellation ausgegangen wäre, beruhte die Entscheidung im Ergebnis nicht auf diesem – unterstellten – Fehler. Der Antragsteller hat nach den für das Rechtsbeschwerdegericht bindenden Feststellungen keinen Anspruch auf die begehrte Entscheidung.
9
a. Zum einen setzt das gerichtliche Entscheidungsverfahren gem. § 109 StVollzG voraus, dass der Antragsteller von einer Maßnahme der Antragsgegnerin betroffen sein muss, die unmittelbare Außenwirkung hat. Das ist vorliegend nicht der Fall. Vorgerichtlich ist der Antragsteller nicht an die Antragsgegnerin herangetreten und hat etwa einen Antrag auf Besuchserlaubnis nach den §§ 27 ff. LSVVollzG Rheinland-Pfalz gestellt. Eine darauf erfolgende, ggf. rechtswidrige Ablehnung eines Besuchs kann auch dem Besucher unter bestimmten Voraussetzungen den Rechtsbehelf nach § 109 StVollzG eröffnen. Es stünde insoweit auch der Weg über die Dienstaufsichtsbeschwerde nach § 92 Abs. 3 LSVVollzG offen, für die eine Bescheidungspflicht besteht einschließlich der Vorlagepflicht an die Aufsichtsbehörde für den Fall, dass der Dienstaufsichtsbeschwerde nicht abgeholfen wird.
10
b. Zum anderen hat sich die Antragsgegnerin bei ihrer Mitwirkungshandlung an der Überstellungsprüfung der Justizvollzugsanstalt Bruchsal im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens gehalten. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Es besteht jedenfalls unter den Umständen des konkreten Falles kein Anspruch auf eine Besuchsüberstellung der begehrten Art.
11
(1) Aus den für das vorliegende Verfahren maßgeblichen §§ 27 ff. LSVVollzG Rheinland-Pfalz ergibt sich, dass Untergebrachte regelmäßig Besuch empfangen dürfen, § 27 Abs. 1 Satz 1 LSVVollzG. Für Besuche von Gefangenen untereinander sind nach der Rechtsprechung des Senats zum alten Vollzugsrecht (vgl. Senat, Beschluss vom 6. März 1985 – 1 Vollz (Ws) 12/84, MDR 1986, 79; vgl. für Fälle in denen sich die Gefangenen in derselben Justizvollzugsanstalt befinden HOLG Bremen, NStZ-RR 2014, 326; OLG Rostock, Beschluss vom 15. Dezember 2004 – I Vollz (Ws) 5/04, BeckRS 2010, 27373) die Besuchsregeln einschlägig. Daran ist auch unter dem neuen Recht festzuhalten. Befinden sich die Gefangenen nicht in derselben Vollzugsanstalt müssen ggf. ergänzend die Überstellungsvorschriften beachtet werden. Das gleiche gilt im hier zu beurteilenden Verhältnis des Besuchs eines Gefangenen bei einem in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten. Besuche von Angehörigen iSd. § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB, also auch von Verlobten, werden besonders unterstützt, § 27 Abs. 2 LSVVollzG. Besuche sollen zugelassen werden, wenn sie die Eingliederung des Untergebrachten unterstützen, § 27 Abs. 3 LSVVollzG. Nach Absatz 4 kann die Anstaltsleitung auch Langzeitbesuche zulassen, wenn dies der Eingliederung der Untergebrachten dient und sie hierfür geeignet sind. Nach § 28 LSVVollzG kann die Anstaltsleitung Besuche untersagen, wenn der Besuch die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährden würde oder wenn es sich um Personen handelt, die keine Angehörigen sind und von denen aufgrund konkreter Tatsachen zu befürchten ist, dass sie einen schädlichen Einfluss auf den Untergebrachten haben oder die Erreichung des Vollzugsziels behindern, § 28 Nr. 1 und 2 LSVVollzG.
12
Im konkreten Fall ist weiter zu berücksichtigen, dass es sich bei der Antragsgegnerin um eine Vollzugseinrichtung handelt, die ausschließlich Strafgefangene und Untergebrachte im Rahmen einer Sozialtherapie iSv. § 24 LJVollzG bzw. § 17 LSVVollzG aufnimmt und entsprechend den Bedürfnissen der gesetzlichen Grundlagen dieser Vollzugsform als therapeutische Gemeinschaft organisiert ist. In der Sicherungsverwahrung erfolgt der Vollzug in Wohngruppen, § 12 LSVVollzG. Untergebrachte und Gefangene sind dabei zu trennen, § 10 LSVVollzG und § 66 c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB.
13
(2) Anders als der in Freiheit befindliche Besucher begehrt der Antragsteller keinen stundenweisen, ggf. im Rahmen eines Langzeitbesuchs (§ 27 Abs. 4 LSVVollzG) mehrstündigen, Aufenthalt bei dem Untergebrachten Reifschneider, sondern eine Überstellung, die zumindest eine zeitweise, in der Regel zumindest mehrere Tage dauernde Integration in den Anstaltsbetrieb der Antragsgegnerin erfordert, da während des Besuchs zugleich weiter der Freiheitsentzug gegen den Antragsteller vollzogen werden muss. Eine solche Besuchsform ist im LSVVollzG und soweit ersichtlich auch in anderen Strafvollzugsgesetzen der Länder nicht vorgesehen, so dass einfachgesetzlich kein dahingehendes subjektives Recht des Antragstellers besteht, dessen Verletzung er rügen kann. Den grundrechtlichen Ansprüchen aus Art. 6 Abs. 1 GG, der in gewissem Ausmaß auch auf das der Ehe vorgelagerte Verlöbnis ausstrahlt, aber verfassungsrechtlich nicht zu gleichermaßen weitgehenden Schutzmaßnahen verpflichtet (vgl. OVG Magdeburg, NZFam 2018, 620), ist im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen und u.a. für diese Zwecke ausgestalteten Besuchsrechte zur Wirkung zu verhelfen. Der Gesetzgeber des LSVVollzG war sich – wie die §§ 27 ff. LSVVollzG zeigen – der Bedeutung des Art. 6 Abs. 1 GG sowohl für die Untergebrachten als auch für die Besucher bewusst und hat solchermaßen verbundenen Personen ein privilegiertes Besuchsrecht zugestanden. Zugleich hat der Gesetzgeber mit dem LSVVollzG im Wege praktischer Konkordanz einen Ausgleich geschaffen, der auch die ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestattete Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege und ihrer Einrichtungen zur Geltung bringt (vgl. hierzu Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Vorb. zu Abschnitt I, Rn. 120 ff.). Freiheitsentzug und die notwendigen Einschränkungen von Grundrechten auf gesetzlicher Grundlage sind von der Verfassung vorgesehen (Art. 104 Abs. 1 und 2 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG, vgl. BVerfGE 33, 1 ff.). Die Verweigerung eines über die Möglichkeiten des LSVVollzG hinausgehenden Besuchs ist daher auch unter Berücksichtigung der Rechte des Antragstellers aus Art. 6 Abs. 1 GG und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht zu beanstanden. Dies gilt umso mehr als es sich bei er Antragsgegnerin um eine ausschließliche sozialtherapeutische Anstalt handelt, in die nur Strafgefangene aufgenommen werden können, bei denen die Indikation für eine sozialtherapeutische Behandlung besteht. Diese besondere Vollzugsform sieht neben den therapeutischen Elementen auch höhere innervollzugliche Freiheitsgrade vor, für die der Antragsteller nach den Feststellungen nicht ausdrücklich qualifiziert ist. Das LSVVollzG sieht wegen der Unterschiedlichkeit des Vollzugs von Strafhaft und Sicherungsverwahrung ausdrücklich eine Trennung von Gefangenen und Untergebrachten vor, § 10 Abs. 1 LSVVollzG und § 66 c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB (vgl. zum sog. Abstandsgebot BVerfG, NJW 2011, 1931 Rn. 100 ff.). Einen Anspruch auf Änderung des vollzuglichen Zuschnitts der aufnehmenden Einrichtung kann dabei auch unter Berücksichtigung von Grundrechten nicht gefordert werden. Hierbei sind auch die Grundrechte anderer Untergebrachter in derselben Anstalt in den Blick zu nehmen, die durch eine Aufweichung des Abstandsgebots negativ betroffen sein können. Dem Zusammenführungswunsch des Antragstellers kann, worauf das Ministerium der Justiz in seiner Stellungnahme zum Verfahren vom 17. Juni 2020 zutreffend verweist, durch eine stundenweise Besuchsausführung des Antragstellers entsprochen werden, die eine Begegnung ermöglicht ohne die zumindest zeitweise Integration des Antragstellers in den Vollzug der Antragsgegnerin zu erfordern.
14
(3) Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der Überstellungsvorschriften (in Rheinland-Pfalz § 27 LJVollzG, vgl. Arloth/Krä, StVollzG, 4. Auflage 2017, § 24 Rn. 2). Danach ist eine Überstellung aus wichtigem Grund zulässig. Der Besuchskontakt mit einem Angehörigen stellt dabei regelmäßig einen wichtigen Grund im Rahmen einer zu treffenden Überstellungsentscheidung dar (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 2 BvR 345/17, FamRZ 2017, 1434). Unabhängig von der Frage, ob die Antragsgegnerin für einen Überstellungsantrag des Antragstellers zuständig ist, kann auch im Rahmen der Überstellungsvorschriften von einem Antragsteller aber nicht gefordert werden, dass zur Umsetzung seines Besuchswunsches eine von anderen Gefangenen derselben Anstalt abweichende Vollzugsausgestaltung inklusive der damit verbundenen personellen und räumlichen Voraussetzungen erst geschaffen wird.
III.
15
Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren war zurückzuweisen, weil der Antrag keine Aussicht auf Erfolg hat.
IV.
16
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers und der Bedeutung der Sache gem. §§ 60, 52 Abs. 1 GKG auf 500 Euro festgesetzt.
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Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13. August 2020 - 1 K 2237/20 - wird zurückgewiesen.Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 15,13 EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13.08.2020 ist zulässig, aber unbegründet.2 Unter Berücksichtigung der im Beschwerdeverfahren fristgerecht dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung durch den Senat grundsätzlich zu beschränken hat (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Zwangsvollstreckung der mit Bescheid des Antragsgegners vom 01.02.2020 für den Zeitraum November 2019 bis einschließlich Januar 2020 festgesetzten Rundfunkbeiträge in Höhe von 52,50 EUR sowie eines Säumniszuschlags in Höhe von 8,- EUR (insgesamt 60,50 EUR) zu Recht abgelehnt.3 1. Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist das Verwaltungsgericht mit Recht davon ausgegangen, dass der Einwand des Antragstellers, sein Sohn sei mit Bescheid vom 09.09.2019 von der Rundfunkbeitragspflicht befreit worden und diese Befreiung erstrecke sich auch auf ihn, im Vollstreckungsverfahren unerheblich ist, da der Festsetzungsbescheid vom 01.02.2020 bestandskräftig geworden ist.4 Allgemeine Vollstreckungsvoraussetzung ist, dass der zu vollstreckende Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist (§ 2 Nr. 1 LVwVG) oder die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs entfällt (§ 2 Nr. 2 LVwVG). Ist die zu vollstreckende Grundverfügung unanfechtbar, ist ihre Rechtmäßigkeit im Verwaltungsvollstreckungsverfahren - abgesehen von dem hier nicht gegebenen Ausnahmefall nachträglich entstandener Einwendungen - nicht mehr zu prüfen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 12.11.2019 - 2 S 2365/19 - n.v., vom 08.01.2019 - 2 S 2822/18 - n.v., vom 12.03.2018 - 2 S 416/18 - n.v., vom 04.10.2016 - 2 S 1203/16 - BeckRS 2016, 125881 Rn. 9 und vom 17.12.2015 - 8 S 2187/15 - juris Rn. 11 mwN; Lemke, VwVG, 1. Aufl., § 6 Rn. 25).5 Das Verwaltungsgericht hat im angegriffenen Beschluss zutreffend festgestellt, dass der zu vollstreckende Rundfunkbeitragsbescheid nach Aktenlage unanfechtbar geworden ist, da der Antragsteller nicht in der erforderlichen Form, nämlich schriftlich (vgl. § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO), Widerspruch hiergegen erhoben hat.6 Dies hat der Antragsteller im Beschwerdeverfahren auch nicht bestritten, sondern vielmehr vorgetragen, die Behörde hätte auch bei Fehlen eines schriftlichen Widerspruchs die Möglichkeit, sich in sonstiger Weise auf das Verfahren erneut einzulassen. Mit diesem Vortrag stellt der Antragsteller das Vorliegen der allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzung der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes (§ 2 Nr. 1 LVwVG) allerdings nicht in Frage. Im Übrigen erläutert er im Beschwerdeverfahren nicht, woraus sich die behauptete Möglichkeit der Antragsgegnerin, sich trotz Bestandskraft des Festsetzungsbescheides „auf das Verfahren erneut einzulassen“, ergeben soll.7 Mit seinem Einwand, sein Sohn sei mit Bescheid vom 09.09.2019 von der Rundfunkbeitragspflicht befreit worden und diese Befreiung erstrecke sich auch auf ihn, beruft sich der Antragsteller nicht auf Umstände, die erst nach Bestandskraft des Festsetzungsbescheides vom 01.02.2020 eingetreten sind und die deshalb ausnahmsweise noch im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen sein könnten.8 Seine Auffassung, der zu vollstreckende Rundfunkbeitragsfestsetzungsbescheid sei nichtig, erläutert der Antragsteller im Beschwerdeverfahren entgegen seiner Darlegungspflicht (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO) nicht. Gründe für eine Nichtigkeit des Bescheides (entsprechend der in § 44 Abs. 1 und 2 LVwVfG zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgrundsätze) sind auch nicht ersichtlich (vgl. zur ausnahmsweisen Anwendbarkeit von Regelungen des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes im Rundfunkbeitragsrecht VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.10.2017 - 2 S 114/17 - juris Rn. 23 f. mwN). Selbst wenn der Vortrag des Antragstellers zuträfe, die seinem Sohn gewährte Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht erstrecke sich auch auf ihn, so könnte dies allenfalls die Rechtswidrigkeit des Festsetzungsbescheides, nicht aber dessen Nichtigkeit zur Folge haben.9 2. Ungeachtet dessen ist das Verwaltungsgericht auch mit Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller mit seinem Vortrag, sein volljähriger Sohn, mit dem er gemeinsam eine Wohnung bewohne, sei mit Bescheid vom 09.09.2019 gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 RBStV wegen Bewilligung von Grundsicherung bei Erwerbsminderung von der Rundfunkbeitragspflicht befreit worden, keine Umstände glaubhaft gemacht hat, die in rechtlicher Hinsicht die Annahme rechtfertigen, diese Befreiung erstrecke sich auch auf ihn als Vater.10 Rechtsfehlerfrei hat das Verwaltungsgericht hierzu ausgeführt, die einem Wohnungsinhaber gewährte Befreiung begünstige nicht jeden Mitbewohner. Nach der gesetzlichen Regelung im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag erstrecke sie sich vielmehr nur auf den Ehegatten (§ 4 Abs. 3 Nr. 1 RBStV) bzw. den eingetragenen Lebenspartner der Person, die eine Befreiung beanspruchen könne (§ 4 Abs. 3 Nr. 2 RBStV), auf Kinder des Antragstellers und Kinder des Ehegatten bzw. des eingetragenen Lebenspartners bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres (§ 4 Abs. 3 Nr. 3 RBStV) sowie auf Wohnungsinhaber, deren Einkommen und Vermögen bei der Gewährung einer Sozialleistung nach § 4 Abs. 1 RBStV berücksichtigt worden sei (§ 4 Abs. 3 Nr. 4 RBStV).11 Keine dieser Fallgestaltungen liege hier voraussichtlich vor. § 4 Abs. 3 Nr. 3 RBStV erstrecke zwar die einem Elternteil gewährte Befreiung auch auf dessen Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres. Die Vorschrift sehe aber für den hier vorliegenden umgekehrten Fall, dass das Kind des Antragstellers von der Rundfunkbeitragspflicht befreit sei, keine Erstreckung auf dessen Elternteil vor.12 Auch § 4 Abs. 3 Nr. 4 RBStV sei nicht einschlägig. Insbesondere sei das Einkommen oder Vermögen des Antragstellers nicht bei der Gewährung einer Sozialleistung für seinen Sohn berücksichtigt worden. Bei der Berechnung des Bedarfs seines Sohnes durch das Landratsamt Ortenaukreis - Amt für Soziales und Versorgung - in dem Berechnungsbogen des Bewilligungsbescheides vom 19.02.2020 werde das Einkommen und das Vermögen des Antragstellers bei dem einzusetzenden Einkommen seines Sohnes nicht berücksichtigt.13 Hiergegen hat der Antragsteller im Beschwerdeverfahren - entgegen seiner Darlegungslast gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO - keine Einwendungen erhoben.14 Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts sind auch in der Sache nicht zu beanstanden. Zwar betrifft der Bewilligungsbescheid des Landratsamtes Ortenaukreis vom 19.02.2020, den das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, nur den Zeitraum ab dem 01.01.2020, nicht aber den Zeitraum November und Dezember 2019, den der Festsetzungsbescheid vom 01.02.2020 ebenfalls erfasst. Einen Bescheid über die Bewilligung von Grundsicherung für die Monate November und Dezember 2019 hat der Antragsteller jedoch entgegen seiner Verpflichtung zur Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) trotz der Aufforderung des Verwaltungsgerichts mit Verfügung vom 16.07.2020, den „vollständigen Bescheid“ über den Bezug von Leistungen zur Grundsicherung für seinen Sohn vorzulegen, weder im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch im Beschwerdeverfahren eingereicht. Da im Bewilligungsbescheid vom 19.02.2020 für den Zeitraum ab dem 01.01.2020 bei der Berechnung des Bedarfs seines Sohnes das Einkommen und das Vermögen des Antragstellers nicht berücksichtigt wurde, spricht im Übrigen auch viel dafür, dass dies auch bei der Bedarfsberechnung für die vorangegangenen beiden Monate nicht der Fall gewesen war.15 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.16 Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Nrn. 1.5 und 1.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (1/4 der zu vollstreckenden Forderung in Höhe von insgesamt 60,50,- EUR). Eine weitere Reduzierung des Streitwerts ist wegen der Vorwegnahme der Hauptsache nicht angezeigt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 04.08.2017 - 2 S 1446/17 - juris Rn. 5 ff.).17 Der Beschluss ist unanfechtbar. | {
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Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg – Harburg vom 8. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin verfolgt im Beschwerdeverfahren ihren Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für ein Umgangsabänderungsverfahren erster Instanz weiter.
2
Die Beteiligten sind geschiedene Ehegatten. Aus der Ehe sind der 6-jährige K. und der 4-jährige A. hervorgegangen. Zwischen ihnen sind und waren zahlreiche Umgangs- und Sorgerechtsverfahren anhängig.
3
Zuletzt einigten sich die Eltern am 2. Januar 2020 in einem Umgangsvermittlungsverfahren darauf, dass der Antragsgegner einen Wochenendumgang alle zwei Monate mit seinen Söhnen und jeden Sonntag einen Videotelefonkontakt wahrnimmt. Die gerichtliche Vereinbarung wurde mit Beschluss des Amtsgerichts vom 20. Januar 2020 gebilligt. Es erfolgte weiter ein Hinweis auf die Folgen einer Zuwiderhandlung. Der Umgang wurde durch den Vater bisher nicht umgesetzt.
4
Unter dem 29. Juni 2020 beantragte die Antragstellerin die Umgangsvereinbarung vom 2. Januar 2020 aufzuheben. Sie bereite die beiden Söhne auf die möglichen Umgänge regelmäßig vor, die jedoch nie stattfänden. Es sei für die beiden Söhne sehr schwer nachzuvollziehen, dass es eine wirksame Umgangsregelung gebe und ihr Vater diese Möglichkeiten nicht nutze. Sie seien mittlerweile schwer enttäuscht und wollten den Kindesvater derzeit auch nicht sehen. Die Antragstellerin wolle nicht, dass die beiden Söhne weiterhin durch eine nicht umgesetzte Umgangsregelung enttäuscht würden. Dazu möchte sie nicht eventuellen Ordnungsmittelanträgen des Antragsgegners ausgesetzt sein. Sie wünsche sich für ihre Söhne weiterhin eine stabile Beziehung und regelmäßige Umgänge mit dem Antragsgegner.
5
Das Familiengericht hat den Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe mit Beschluss vom 8. Juli 2020 zurückgewiesen. Es bestehe kein Regelungsbedürfnis und die von der Antragstellerin erstrebte Aufhebung der getroffenen Umgangsvereinbarung sei als Regelung nicht vorgesehen. Die Umstände hätten sich nicht geändert und es sei keine Umgangsregelung ersichtlich, welche den Bedürfnissen und Gegebenheiten besser gerecht werden könne. Der Antragsgegner nehme den Umgang nicht wahr. Eine zwangsweise Durchsetzung sei von der Mutter nicht gewollt und mache keinen Sinn. Da der Antragsgegner den Umgang nicht wahrnehme stehe auch nicht zu befürchten, dass der Vater im Falle eines Sinneswandels mit einem Ordnungsmittelantrag reagiere. Dies sei ihm verwehrt, da er sich selbst nicht an die Umgangsregelung halte.
6
Gegen die Entscheidung wendet sich die Antragstellerin mit ihrer sofortigen Beschwerde. Sie beantragt nunmehr, den Umgang anderweitig zu regeln. Die Existenz der Umgangsregelung löse bei den Kindern Erwartungen aus, die enttäuscht würden. Die Situation sei für die Kinder und die Antragstellerin belastend. Sie benötigten Planungssicherheit. Es sei für die Kinder leichter, wenn die Umgänge entweder seltener stattfänden oder für einen bestimmten Zeitraum ganz ausgesetzt würden. Zudem sei sehr wohl denkbar, dass der Antragsgegner plötzlich wieder auf Umgänge bestehe und die Antragstellerin mit einem Ordnungsmittelverfahren überziehe.
II.
7
Die gemäß §§ 76 Abs. 1, 2 FamFG, 567ff ZPO zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin hat in der Sache keinen Erfolg.
8
Gemäß §§ 76 Abs. 1 FamFG, 114 Abs. 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
9
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
10
Die Antragstellerin verfolgt ihr Ziel einer Neuregelung des Umgangs nicht im Wege eines erneuten Umgangsvermittlungsverfahrens gemäß § 165 FamFG, sondern in einem Abänderungsverfahren gemäß § 166 Abs. 1 FamFG. Gemäß § 1696 Abs. 1 BGB ist ein gerichtlich gebilligter Vergleich zum Umgangsrecht zu ändern, wenn dies aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt ist. Der Maßstab des § 1696 Abs. 1 ist als qualifizierte positive Kindeswohlprüfung strenger als der in anderen Vorschriften vorgesehene Maßstab einer einfachen positiven Kindeswohlprüfung. Bei der Abänderung einer Umgangsregelung sind die Anforderungen für eine Abänderung niedriger als bei der Abänderung einer Sorgeentscheidung (vgl. MükoBGB/Lugani, 8. Auflage 2020, § 1696 Rn. 24). Ziel dieser Einschränkung der Abänderungsmöglichkeit ist es auch, Kinder vor fortwährenden Gerichtsverfahren zu schützen (vgl. BeckOK BGB/Veit, Stand 1.11.2019, § 1696 Rn. 14). Eine Änderung aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründe soll dann angezeigt sein, wenn die Änderung „geboten“ ist, weil die für eine Änderung sprechenden Umstände die Nachteile einer solchen Änderung „deutlich überwiegen“ (vgl. BeckOGK BGB/Mehrle, Stand 1.11.2018, § 1696 Rn. 73).
11
Dies ist vorliegend nicht der Fall. Es ist weder von der Antragstellerin vorgetragen noch ersichtlich, dass sich eine Abänderung der vereinbarten Umgangsregelung positiv auf das Kindeswohl auswirken würde.
12
Es ist weder gewollt noch praktisch realisierbar, dass sämtliche gerichtlichen Umgangsregelungen, die einmal getroffen wurden, bis zur Volljährigkeit des Kindes permanent nach § 1696 Abs. 1 BGB abgeändert werden. Vielmehr sollen die Eltern grundsätzlich erforderliche Anpassungen der Umgangsregelung einvernehmlich selbst vornehmen (vgl. Hammer in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Auflage 2020, § 89 Rn. 17). Die Antragstellerin hat vorliegend nicht einmal den Versuch einer außergerichtlichen Abänderung der Umgangsregelung dargelegt. Die von ihr im gerichtlichen Verfahren aufgezeigten Möglichkeiten zur Neuregelung des Umgangs überzeugen nicht.
13
Für den von der Antragstellerin in den Raum gestellten befristeten Ausschluss des Umgangs des Antragsgegners gemäß § 1684 Abs. 4 BGB mit seinen Söhnen genügen die dargelegten Gründe nicht. Eine Kindeswohlgefährdung ist nicht ansatzweise erkennbar.
14
Eine gerichtliche Regelung größerer Abstände zwischen den seltenen Umgangsterminen würde auch nicht zum Ziel führen. Der Antragsgegner nimmt nach dem Vortrag der Antragstellerin derzeit gar keinen Umgang wahr. Die Gründe dafür hat die Antragstellerin nicht genannt. Sie hat auch nicht vorgetragen, ob und inwieweit sie mit dem Antragsgegner über eine Neuregelung des Umgangs gesprochen hat und ob sie nach den Gründen für die ablehnende Haltung des Antragsgegners gefragt hat. Deshalb ist nicht zu erkennen, aus welchen Gründen der Antragsgegner bei einer geänderten Umgangsregelung den Umgang mit seinen beiden Söhnen wahrnehmen sollte. Weiter lässt sich durch eine Neuregelung des Umgangs nicht vermeiden, dass die Kinder durch die Nichtwahrnehmung von Umgängen durch den Antragsgegner nicht wieder enttäuscht werden. Eine Enttäuschung der Kinder ließe sich zielführender durch eine Kommunikation der Eltern untereinander als durch eine gerichtliche Abänderung der Umgangsregelung erreichen. Aber auch die Antragstellerin hat nicht dargelegt, inwieweit sie im Vorfeld der nur alle zwei Monate stattfindenden Umgangstermine (vergeblich) Kontakt zum Antragsgegner aufgenommen hat um zu erfahren, ob dieser den Umgang wahrnehmen wird.
15
Schließlich ist eine Abänderung auch nicht deswegen angezeigt, weil der Antragstellerin ein Ordnungsmittel wegen der Nichteinhaltung der gerichtlich gebilligten Umgangsregelung droht. Dies ist nicht der Fall. Denn ein Umgang, den der Berechtigte nicht einfordert, kann nicht vereitelt werden (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 21. Juli 2018, 7 WF 881/17, FamRZ 2018, 595, juris Rn. 19).
16
Eine Kostenentscheidung ist nicht erforderlich (§§ 76, FamFG; 127 Abs. 4 ZPO).
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"language": "de"
} |
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg – Harburg vom 6. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
1
Die Kindesmutter verfolgt im Beschwerdeverfahren ihren Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für ein Sorgerechtsverfahren erster Instanz weiter.
2
Die Beteiligten sind geschiedene Ehegatten. Aus der Ehe sind der 6-jährige K. und der 4-jährige A. hervorgegangen. Zwischen ihnen sind und waren zahlreiche Umgangs- und Sorgerechtsverfahren anhängig.
3
Im Jahr 2018 leitete die Antragstellerin ein Sorgerechtsverfahren (Az. 637 F 127/18) ein. Dieses wurde mit einer gerichtlich protokollierten Einigung der Eltern beendet. Danach bestand Einigkeit zwischen den Eltern, dass sie das Sorgerecht weiterhin gemeinsam ausüben. Weiter erteilte der Antragsgegner der Antragstellerin eine Vollmacht für die Bereiche Gesundheitssorge und Kindergarten. Schließlich verpflichteten sich die Eltern an einer Erziehungsberatung teilzunehmen.
4
Unter dem 22. November 2019 beantragte die Antragstellerin erneut, ihr die elterliche Sorge zu übertragen (Az. 637 F 156/19). Die Kindeseltern hätten keinerlei Beziehungs-, Kommunikations- und Kooperationsbasis. Die Antragstellerin könne sich nicht auf den Antragsgegner verlassen. Es habe immer wieder das Problem gegeben, dass die Antragstellerin hinter dem Antragsgegner hergelaufen sei. Zwischenzeitlich sei der Antragsgegner in die Nähe von Basel gezogen. Dies erschwere die Ausübung des Sorgerechts zusätzlich. Die bisherige Vollmacht sei nicht ausreichend. Sie decke nur Teilbereiche ab. Die Beteiligten schlossen in der mündlichen Verhandlung am 2. Januar 2020 zur Erledigung des Verfahrens einen erneuten Vergleich. Danach bestand Einigkeit zwischen den Eltern, dass sie das Sorgerecht weiterhin gemeinsam ausüben. Der Antragsgegner erteilte der Antragstellerin eine erweiterte Vollmacht und es wurde bekräftigt, dass der Lebensmittelpunkt der Kinder bei der Antragstellerin ist.
5
Unter dem 29. Juni 2020 beantragte die Antragstellerin ihr erneut das alleinige Sorgerecht für die Kinder zu übertragen und beantragte für die Durchführung des Verfahrens die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe. Zur Begründung wurde wiederum auf die fehlende Kommunikationsebene der Eltern verwiesen. Es bestehe ein fortdauernder Konflikt. Der Vater sei nicht bereit an der Situation zu arbeiten und die Kommunikation zu verbessern. Die Erziehungsberatung nehme er nicht wahr. Es sei ihr mit der Vollmacht nicht gelungen ein Konto für die Kinder zu eröffnen.
6
Das Familiengericht hat den Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe mit Beschluss vom 6. Juli 2020 zurückgewiesen. Eine Sorgerechtsübertragung sei aufgrund der vom Antragsgegner erteilten Vollmacht nicht erforderlich. Die Antragstellerin habe keine wesentlichen Umstände vorgetragen, aus denen sich ergebe, dass es ihr nicht möglich sei, die elterliche Sorge entsprechend dem Wohl der Kinder auszuüben. Soweit es ihr nicht gelungen sei ein Konto für die Kinder zu eröffnen habe sie nicht vorgetragen, dass sie erfolglos versucht habe sich an den Vater zu wenden.
7
Gegen die Entscheidung wendet sich die Antragstellerin mit ihrer sofortigen Beschwerde. Die vom Antragsgegner erteilte Vollmacht mache die Übertragung der elterlichen Sorge nicht entbehrlich. Es fehle an einem Mindestmaß an Kommunikation. Der Antragsgegner sei für die Antragstellerin nicht erreichbar. Unterschriften seien nicht zu erlangen. Es sei auch nicht zu erwarten, dass sich dies in der Zukunft ändere. Der Vater wirke auch weiterhin nicht an der Erziehungsberatung mit. Soweit ein Bereich von der Vollmacht nicht abgedeckt sei, sei die Antragstellerin handlungsunfähig. Dies sei frustrierend und bleibe auch den Kindern nicht verborgen. Eine Alleinentscheidungsbefugnis der Antragstellerin würde die Kinder entlasten.
II.
8
Die gemäß §§ 76 Abs. 1, 2 FamFG, 567ff ZPO zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin hat in der Sache keinen Erfolg.
9
Gemäß §§ 76 Abs. 1 FamFG, 114 Abs. 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
10
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Übertragung der alleinigen Sorge gemäß § 1671 Abs. 1 BGB nicht ausreichend dargelegt.
11
Gemäß § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB ist einem Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge stattzugeben, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
12
In die Entscheidung sind alle für und gegen die gemeinsame Sorge sprechenden Umstände im Rahmen einer einzelfallbezogenen und umfassenden Betrachtung gegeneinander abzuwägen. Gewichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls sind die Erziehungseignung der Eltern, die Bindungen des Kindes, die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität sowie die Beachtung des Kindeswillens. Diese Kriterien stehen aber nicht kumulativ nebeneinander. Jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Kindeswohl entspricht. Zu berücksichtigen sind dabei auch die durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gewährleisteten Elternrechte.
13
Eine gemeinsame elterliche Sorge ist nicht anzuordnen, wenn eine schwerwiegende und nachhaltige Störung auf der Kommunikationsebene der Eltern vorliegt, die befürchten lässt, dass den Eltern eine gemeinsame Entscheidungsfindung nicht möglich sein wird und das Kind folglich erheblich belastet würde, würde man die Eltern zwingen, die Sorge gemeinsam zu tragen. Maßgeblich ist, welche Auswirkungen die mangelnde Einigungsfähigkeit der Eltern bei einer Gesamtbeurteilung der Verhältnisse auf die Entwicklung und das Wohl des Kindes haben wird. Die Gefahr einer erheblichen Belastung des Kindes kann sich im Einzelfall auch aus der Nachhaltigkeit und der Schwere des Elternkonflikts ergeben. Eine vollständige Kommunikationsverweigerung der Eltern muss allerdings nicht gegeben sein. Die Kommunikation der Eltern ist bereits dann schwer und nachhaltig gestört, wenn sie zwar miteinander in Kontakt treten, hierbei aber regelmäßig nicht in der Lage sind, sich in der gebotenen Weise sachlich über die Belange des Kindes auszutauschen und auf diesem Wege zu einer gemeinsamen Entscheidung zu gelangen. Dann ist zu prüfen, ob hierdurch eine erhebliche Belastung des Kindes zu befürchten ist. Die Belastung des Kindes muss nicht bereits tatsächlich bestehen. Es genügt die begründete Befürchtung, dass es zu einer solchen Belastung kommt (vgl. im Einzelnen: BGH, Beschluss vom 15. Juni 2016, XII ZB 419/15, FamRZ 2016, 1439, juris Rn. 18ff).
14
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann eine Bevollmächtigung eines mitsorgeberechtigten Elternteils durch den anderen eine Übertragung des Sorgerechts ganz oder teilweise entbehrlich machen, wenn und soweit sie dem bevollmächtigten Elternteil eine ausreichend verlässliche Handhabe zur Wahrnehmung der Kindesbelange gibt. Das setzt allerdings auch eine ausreichende Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der Eltern voraus, soweit eine solche unter Berücksichtigung der durch die Vollmacht erweiterten Handlungsbefugnisse des bevollmächtigten Elternteils unerlässlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2020, XII ZB 112/19, FamRZ 2020, 1171, juris Rn. 21, 28). Es ist im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, ob die Vollmacht unter den gegebenen Umständen ausreicht, um die Kindesbelange verlässlich wahrnehmen zu können. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich aufgrund der für die Sorgerechtsübertragung nach § 1671 BGB anerkannten Kriterien, wobei die Erforderlichkeit einer (teilweisen) Sorgerechtsübertragung stets mit Blick auf die erteilte Vollmacht und die durch sie erweiterten Handlungsbefugnisse des hauptverantwortlichen Elternteils zu beurteilen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2020, XII ZB 112/19, FamRZ 2020, 1171, juris Rn. 34).
15
Die Eltern haben sich in zwei vorangegangenen gerichtlichen Verfahren darauf verständigt, dass sie die elterliche Sorge gemeinsam ausüben und der Antragsgegner die Antragstellerin bevollmächtigt. Die letzte Vereinbarung der Eltern erfolgte noch in diesem Jahr. Diese Vereinbarung spricht vorliegend entscheidend gegen den Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge auf die Mutter.
16
Zwar führt eine Sorgerechtsvereinbarung der Eltern nicht dazu, dass der Maßstab des § 1696 BGB für die zu treffende Sorgerechtsentscheidung maßgeblich ist. Trotzdem ist dieser ursprüngliche Wille bei der nach § 1671 BGB zu treffenden Entscheidung zu beachten. Denn die im elterlichen Konsens getroffene Entscheidung lässt vermuten, dass sie dem Kindeswohl entspricht, weshalb sie eine gewisse Indizwirkung entfaltet (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2011, XII ZB 407/10, FamRZ 2011, 796, juris Rn. 78; BeckOK BGB/Veit, § 1696 Rn. 10.1).
17
Demgegenüber hat die Mutter keine Gesichtspunkte von ausreichendem Gewicht vorgetragen, die gegen eine gemeinsame Sorge sprechen. Sie hat mitgeteilt, dass sie mit der Vollmacht ein Bankkonto nicht eröffnen konnte. Sie hat aber nicht dargelegt, dass sie den Vater für diese nicht eilige Maßnahme vergeblich aufgefordert hat mitzuwirken. Die weiteren Ausführungen, dass der Vater für sie nicht erreichbar sei und Unterschriften nicht zu erlangen seien ist nicht ausreichend konkretisiert worden. Vielmehr hat die Mutter diese Vorwürfe bereits in dieser pauschalen Form in den vorangegangenen Verfahren erhoben.
18
Eine Kostenentscheidung ist nicht erforderlich (§§ 76 FamFG, 127 Abs. 4 ZPO).
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Tenor
Auf die weitere Beschwerde des Beteiligten zu 2. wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 23.06.2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Münster zurückverwiesen.
Diese Entscheidung ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
1Gründe:
2I.
3Das vorliegende Verfahren betreffend den Gerichtskostenansatz hat die Erstattung von Gerichtskosten nach Vergleichsabschluss im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 31 Abs. 4 GKG zum Gegenstand.
4Zugrunde liegt ein Mietrechtsstreit, in dem der Kläger vom Beklagten die Zahlung rückständiger Miete sowie die Räumung der Wohnung nach auf Verzug gestützter Kündigung begehrte. Den Beklagten, die Mängel der Wohnung einwandten, wurde Prozesskostenhilfe, auch für eine auf Rückzahlung überzahlter Miete gerichtete Hilfswiderklage, bewilligt. Nach Zeugeneinvernahme und Einholung eines Sachverständigengutachtens sowie Rücknahme der Widerklage schlossen die Parteien in der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2019 einen Vergleich (Bl. 449), der eine Kostenübernahme bezüglich der Kosten des Rechtsstreits im Verhältnis 80:20 zulasten der Beklagten vorsah. Der Vergleichsschluss erfolgte nach dem Vorspann zum protokollierten Vergleich ausdrücklich auf Vorschlag des Gerichts. Den Beklagten wurde im Anschluss an den Vergleichsschluss durch Beschluss der Einzelrichterin Prozesskostenhilfe auch für den Abschluss des Vergleichs bewilligt; weiter heißt es im Beschluss: "Die Kostenquote für den Rechtsstreit ist im Hinblick auf die weit überwiegenden Erfolgsaussichten der Klage sachgerecht".
5Gemäß Schlusskostenrechnung vom 06.01.2020 (Bl. III) beliefen sich die Gerichtskosten insgesamt auf 3.494,00 EUR, wovon nach Abzug von klägerseits geleisteten Vorschüssen i.H.v. 1.185,00 EUR noch 2.309,40 EUR offen standen. Diese wurden mit 1. Rechnung vom 07.01.2020 vom Kläger als Zweitschuldner nach § 31 Abs. 3 und 4 GKG i.V.m. §§ 22 Abs. 1, 29 GKG angefordert unter gleichzeitigem Hinweis darauf, dass er sich ggf. die Kosten gegen die Beklagten nach §§ 103 ff. ZPO titulieren lassen könne.
6Den hiergegen gerichteten Rechtsbehelf des Klägers vom 16.01.2020 (Bl. 466) wies das Amtsgericht durch Beschluss vom 12.02.2020 (Bl. 475) zurück. Der Inanspruchnahme des Klägers stehe die Regelung des § 31 Abs. 4 GKG nicht entgegen. Es sei weder im Vergleichsvorschlag noch im eigentlichen Vergleichstext niedergelegt worden, dass die Kostenfolge der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspreche. Der nachträgliche Zusatz führe zu keiner anderen Beurteilung. Eine analoge Anwendung komme nicht in Betracht, da die Vorschrift allein auf die Erfüllung objektiver Kriterien abstelle.
7Gegen diesen Beschluss legte der Kläger mit Schreiben vom 19.02.2020 (Bl. 481) Beschwerde ein. Diese wurde nach Nichtabhilfe am 30.03.2020 dem Landgericht als Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt. Die dortige Einzelrichterin hat mit Beschluss vom 07.05.2020 den amtsgerichtlichen Beschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer an das Amtsgericht zurückgegeben. Die Einzelrichterin hat die Voraussetzungen des § 31 Abs. 4 GKG als gegeben angesehen. Das Amtsgericht verkenne, dass im Protokoll kein ausführlicher ausformulierter Vergleichsvorschlag festgehalten sei, sondern der Vergleichsabschluss auf einen entsprechend mündlich unterbreiteten Vorschlag des Gerichts erfolgt sei. Der im Protokoll enthaltene Text sei der Vergleich selbst. Allenfalls im Vorschlag verlange § 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG aber die genannte Feststellung. Eine Aufnahme in den Vergleich selber, der eine Parteivereinbarung darstelle, wäre nicht denkbar. Die erforderliche Feststellung werde durch den Protokollzusatz nach Sinn und Zweck der Vorschrift in ausreichendem Maße getroffen. Auch wenn das Wort „sachgerecht“ zunächst eine mildere Wirkung habe, werde damit unmittelbar an die Erfolgsaussichten der Klage angeknüpft. Angesichts des Umstands, dass es nicht um einen bezifferten Antrag gegangen sei, reiche die gewählte Formulierung noch aus. Unschädlich sei auch, dass der Zusatz nur eine Aussage hinsichtlich der Kosten des Rechtsstreits und nicht hinsichtlich der Kosten des Vergleichs treffe, denn hierüber wäre eine Entscheidung nicht erfolgt.
8Mit Beschluss vom 26.05.2020 (Bl. 510) hat das Amtsgericht die Kostenrechnung vom 07.01.2020 aufgehoben und die Sache an den Kostenbeamten zur erneuten Erstellung einer Kostenrechnung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts zurückgegeben.
9Hiergegen hat der Beteiligte zu 2. mit Schreiben vom 08.06.2020 (Bl. 516) Beschwerde eingelegt und Feststellung beantragt, dass es bei der ursprünglichen Kostenrechnung verbleibt, hilfsweise die Zulassung der weiteren Beschwerde begehrt. Die ursprüngliche Bewertung stehe mit der bisherigen Anwendungspraxis im Einklang. Eine abweichende und am Einzelfall orientierte Auslegung des § 31 Abs. 4 GKG würde hingegen dazu führen, dass der Kostenbeamte bei jedem Vergleichsabschluss die halb oder ggf. gar nicht erfüllten Voraussetzungen bewerte und damit Protokollinhalte und Feststellungen des Richters nachträglich interpretiere. Diese Konsequenz stehe mit der Vorschrift des § 31 Abs. 4 GKG nicht im Einklang.
10Die Amtsrichterin hat der Beschwerde am 10.06.2020 nicht abgeholfen und die Sache dem Landgericht als Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt (Bl. 517).
11Nach Übertragung des Verfahrens von der Einzelrichterin auf die Kammer (Bl. 520) hat diese die Beschwerde durch Beschluss vom 23.06.2020 (Bl. 522) zurückgewiesen und die weitere Beschwerde zugelassen. In Ergänzung der Begründung des Beschlusses vom 07.05.2020 hat die Kammer zunächst darauf verwiesen, dass eine wörtliche Protokollierung des gerichtlichen Vergleichsvorschlages nicht erforderlich sei, sondern der Zusatz, dass der Vergleich auf Vorschlag des Gerichts geschlossen sei, gemäß § 31 Abs. 4 Nr. 2 GKG genüge. Die in § 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG geforderte Feststellung müsse nicht zwingend in einer dem Wortlaut der Norm exakt entsprechenden Formulierung getroffen werden. Es reiche aus, wenn sich die notwendigen Feststellungen bei verständigem Lesen ohne weiteres aus dem Protokoll entnehmen ließen. Die Feststellung müsse aus sich heraus so deutlich getroffen sein, dass der Kostenbeamte nicht selbst die Erfolgsaussichten in der Sache bewerten und/oder zunächst Rückfragen an den Richter stellen müsse. Dies sei der Fall, denn die gewählte Erklärung bringe ausreichend klar zum Ausdruck, dass die vom Gericht vorgeschlagene und im Vergleich vereinbarte Kostenfolge einer sonst zu erwartenden Kostenfolge entspreche. Auch der Umstand, dass die Feststellung erst nach dem Vergleich protokolliert worden sei, führe zu keiner anderen Beurteilung. Die Vorschrift verlange eine frühzeitige Feststellung, damit das Kostenansatzverfahren praktikabel sei. Dem stehe die zeitlich nachfolgende Feststellung nicht entgegen, sofern sie unmittelbar nach dem Vergleichsschluss zu Protokoll getroffen werde. Die Auffassung der Beteiligten zu 2., dass die Anwendung der Vorschrift nur streng nach dem Wortlaut überhaupt umsetzbar sei, teile die Kammer nicht, vielmehr sei sie wie jede andere Vorschrift auch der Auslegung zugänglich, um eine einzelfallgerechte Entscheidung herbeizuführen.
12Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Beteiligten zu 2. (Bl. 529). Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 4 GKG müssten nach Wortlaut und Gesetzesbegründung kumulativ und insbesondere unzweifelhaft ohne weitere Auslegungen erfüllt sein. Anderenfalls könne dem Ausnahmecharakter und dem Sicherheitserfordernis, dass der Vergleichsinhalt der ansonsten zu treffenden Streitentscheidung des Gerichts entspreche, nicht Rechnung getragen werden. Im vorliegenden Fall enthalte das Protokoll schon keine Anhaltspunkte dafür, dass der Vergleich einschließlich der Verteilung der Kosten vom Gericht vorgeschlagen worden sei. Insbesondere fehle die ausdrückliche Feststellung des Gerichts, dass die Kostenregelung der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspreche. Im Passus am Ende des Protokolls werde lediglich festgehalten, dass die Regelung im Hinblick auf die Erfolgsaussichten vertretbar sei; es werde aber nicht festgestellt, dass das Gericht im Entscheidungsfall exakt diese Kostentragung ausgesprochen hätte. Auf eine Billigung der Parteiregelung komme es nicht an, sondern auf eine den Parteien vor einer Einigung vorgeschlagene Kostenhaftung, die die Parteien genau in dem Umfang übernähmen. Sowohl für den Kostenbeamten als auch im sich anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren solle es nicht zu Auslegungen oder materiellrechtlichen Auswertungen kommen. Dies zeige sich etwa auch an der Handhabung des § 15a Abs. 2 RVG. Entsprechend habe auch das OLG Oldenburg (Beschluss vom 04.05.2016, 12 W 50/16, juris) bestätigt, dass das Gericht Ausführungen zu der zu erwartenden Kostenentscheidung treffen müsse.
13Die Kammer hat der weiteren Beschwerde im Beschluss vom 03.07.2020 (Bl. 532) nicht abgeholfen, da die Einwände gegen den angefochtenen Beschluss nicht durchgreifend seien, und die Sache dem Oberlandesgericht als Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt.
14II.
15Die weitere Beschwerde des Beteiligten zu 2., an deren Zulassung durch das Landgericht der Senat gemäß §§ 66 Abs. 4 S. 4, Abs. 3 S. 4 GKG gebunden ist, erweist sich als zulässig und begründet.
16Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf einer Rechtsverletzung, weil die Rechtsnorm des § 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG nicht richtig angewendet worden ist, §§ 546 ZPO, 66 Abs. 4 S. 2 GKG. Zur Erfüllung dieses Tatbestandes reicht eine im Anschluss an den Vergleich protokollierte richterliche Bewertung der vereinbarten Kostenquote nicht aus. Dass schon mit dem vorgeschlagenen Vergleich die zu erwartende Kostenentscheidung mitgeteilt worden wäre, ist nicht feststellbar.
171.
18§ 31 Abs. 4 GKG erklärt unter bestimmten Voraussetzungen die Vorschrift des § 31 Abs. 3 GKG bei Abschluss eines Vergleichs für entsprechend anwendbar. Jener Absatz bestimmt, dass bei Entscheidungsschuldnerschaft der Partei, der Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, die Haftung eines anderen Kostenschuldners, namentlich des Antragstellers gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 GKG, nicht geltend gemacht werden darf und von diesem bereits erhobene Kosten grundsätzlich zurückzuzahlen sind. § 31 Abs. 4 GKG betrifft den Fall der Übernahmeschuldnerschaft der Prozesskostenhilfepartei. Dann soll ebenfalls die Haftung des anderen Kostenschuldners nicht mehr geltend gemacht werden dürfen und er bereits erhobene Kosten zurückerhalten, allerdings nur, wenn die Prozesskostenhilfepartei die Kosten in einem vor Gericht abgeschlossenen oder gegenüber dem Gericht angenommenen Vergleich übernommen hat (Nr. 1), der Vergleich einschließlich der Verteilung der Kosten von dem Gericht vorgeschlagen worden ist (Nr. 2) und das Gericht in seinem Vergleichsvorschlag ausdrücklich festgestellt hat, dass die Kostenregelung der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspricht (Nr. 3).
192.
20Jedenfalls die Voraussetzung des § 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG ist im vorgelegten Fall nicht erfüllt.
21Der Senat hält es bereits für sehr zweifelhaft, ob die Bewertung der vereinbarten Kostenquote als sachgerecht mit der ausdrücklichen Feststellung gleichzusetzen ist, dass die vereinbarte Kostenquote der potentiellen Kostenentscheidung entspricht, zumal die Kostenentscheidung sich nicht stets nach der Sach- und Rechtslage richtet, sondern auch weitere Aspekte einfließen, wie insbesondere bei Kostenentscheidungen nach § 91a ZPO die Billigkeit. Das OLG Oldenburg (Beschluss vom 04.05.2016, 12 W 50/16, juris Rn. 2) hat eine vergleichbare Formulierung, die in einem gerichtlichen Vergleichsvorschlag enthalten war, nicht ausreichen lassen (ebenso Jungbauer, Jungbauer, Das familienrechtliche Mandat-Abrechnung in Familiensachen, 4. Aufl. 2017, § 2 Rn. 54).
22Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben. Nach dem aktenkundigen Sachverhalt fehlt es an dem Erfordernis, dass die erforderliche Feststellung bereits im Vergleichsvorschlag enthalten sein muss. Hierfür gibt es insbesondere im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2019 keine Anhaltspunkte. Danach ist der Vergleich „auf Vorschlag des Gerichts“ zustande kommen. Hieraus mag geschlossen werden können, dass der Vorschlag den nachstehenden Vergleichstext beinhaltete. Die Annahme, dass die vorgeschlagene Kostenquote auch der mutmaßlichen Kostenentscheidung entspricht, ist allerdings vom Bedeutungsgehalt dieser Erklärung nicht mehr gedeckt. Auch der im Anschluss an den Vergleich protokollierten Erklärung kann schon rein sprachlich nicht entnommen werden, dass die Feststellung, dass die vereinbarte Kostenquote der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspricht, schon Bestandteil des gerichtlichen Vergleichsvorschlags war. Nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck ist insofern aber eine enge Gesetzesauslegung geboten.
23a)
24Unter Berufung auf den Wortlaut fordert die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ausdrücklich, dass die Feststellung bereits Teil des gerichtlichen Vergleichsvorschlags sein muss (OLG Bamberg, Beschluss vom 22.08.2014, 2 UF 77/14, FamRZ 2015, 525, 526; OLG Frankfurt, Beschluss vom 02.08.2017, 5 UF 310/15, juris Rn. 5; Schneider/Thiel AnwBl Online 2013, 298, 299; dies. AGS 2013, 159, 161; Hansens RVGreport 2018, 35, 36; Volpert, in: Schneider/Volpert/Fölsch, FamGKG, 3. Aufl. 2019, § 26 Rn. 106; Schneider, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 2. Aufl. 2017, § 26 FamGKG, Rn. 54; Hellstab, in: Oestreich/Hellstab/Trenkle, GKG/FamGKG, Aktualisierungslieferung 131, Juni 2020, § 31 Rn. 27, § 26 FamGKG Rn. 21; Semmelbeck, in: BeckOK-Kostenrecht, Stand: 30. Ed. 01.06.2020, § 31 GKG Rn. 38); eine Nachholung der Feststellung soll nach einhelliger Auffassung nicht möglich sein (OLG Bamberg a. a. O.; OLG Frankfurt a. a. O.; Schneider a. a. O.; ders. FamRB 2018, 452, 453; Nickel MDR 2016, 438, 440; 2018, 369, 370; Schneider/Thiel a. a. O.en sowie NJW 2013, 3222, 3223; dies. AnwBl Online 2013, 298, 299; Jungbauer a. a. O. § 2 Rn. 51 f.; Semmelbeck a. a. O.; Volpert a. a. O.; Dörndorfer, in: Binz/Dörndorfer/Zimmermann, GKG, FamGKG, JVEG, 4. Aufl. 2019, § 31 Rn. 6; Dürbeck, in: Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 9. Aufl. 2020, Rn. 768; Hellstab a. a. O. § 31 GKG Rn. 27, § 27 FamGKG Rn. 21; Toussaint, in: Hartmann, Kostenrecht, 50. Aufl. 2020, § 31 Rn. 33). Die Feststellung, dass die Kostenregelung der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspricht, muss sich den Gerichtsakten entnehmen lassen (OLG Frankfurt a. a. O.; Schneider FamRB 2018, 452, 453; Hansens ZfSch 2015, 45f.; Hellstab a. a. O.en), nach weitergehender Auffassung bei Vergleichsprotokollierung in der mündlichen Verhandlung dem Sitzungsprotokoll (Schneider, in: Schneider/Volpert/Fölsch § 26 FamGKG Rn. 54; Meyer, GKG/FamGKG 2016, § 31 GKG Rn. 31; Hansens ZfSch 2015, 45 f.). Nach einer Entscheidung des OLG Jena (Beschluss vom 11.10.2017, 1 UF 42/15, ihm folgend Dürbeck a. a. O) soll eine ausdrückliche Formulierung im vorgeschlagenen Vergleich ausnahmsweise nicht erforderlich sein, sofern die ausdrückliche Feststellung dem Verfahrensverlauf und der Gerichtsakte entnommen werden kann (juris Rn. 12), was jedoch mit den Besonderheiten des Falles begründet wurde (juris Rn. 22). Auch diese Auffassung geht jedoch davon aus, dass die gerichtliche Feststellung selbst vor Vergleichsschluss getroffen sein muss (vgl. OLG Jena a. a. O. juris Rn. 11).
25b)
26Auch der Senat erachtet es für die kostenrechtliche Vergünstigung nach § 34 Abs. 4 GKG als notwendig, dass das Gericht feststellbar bereits in seinem Vergleichsvorschlag auf die sonst zu erwartende Kostenentscheidung hingewiesen hat.
27aa)
28§ 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG verlangt dies schon nach seiner unmissverständlichen Formulierung. Das Wort „Vorschlag“ impliziert etwas Vorheriges in dem Sinne, dass der Vergleichsabschluss in zeitlicher Hinsicht danach liegen muss.
29bb)
30Auch der systematische Zusammenhang der Vorschrift spricht für ein strenges Verständnis.
31Die Vorschrift des § 31 GKG behandelt die Situation, dass mehrere Kostenschuldner existieren. Ausgehend vom Grundsatz der Gesamtschuldnerschaft aller Kostenschuldner gemäß § 31 Abs. 1 GKG, regelt § 31 Abs. 2 GKG die Reihenfolge ihrer Inanspruchnahme: Vorrangig haftet der Kostenschuldner, der aufgrund von § 29 Nr. 1 oder 2 GKG, also als Entscheidungs- oder Übernahmeschuldner, haftet (Erstschuldner); lediglich bei erfolgloser oder aussichtsloser Zwangsvollstreckung in dessen bewegliches Vermögen kommt die Haftung anderer Kostenschuldner zum Tragen (Zweitschuldner). § 31 Abs. 3 und Abs. 4 GKG befassen sich mit dem Sonderfall, dass dem Erstschuldner Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, und zwar Abs. 3 bezüglich des Entscheidungsschuldners und Abs. 4 bezüglich des Übernahmeschuldners. Dabei wird die Rechtsfolge, die Abs. 3 für den Entscheidungsschuldner anordnet, für den Übernahmeschuldner vom Vorliegen eng gefasster Voraussetzungen abhängig gemacht, für die dem Gericht und dem von ihm unterbreiteten Vergleichsvorschlag insgesamt eine entscheidende Bedeutung zukommt, und zwar sowohl hinsichtlich Vergleichsinhalt und Kostenverteilung (Nr. 2) als auch bezüglich der zu erwartenden Kostenentscheidung (Nr. 3). Der dem gerichtlichen Vergleichsvorschlag in Nrn. 2 und 3 zugewiesenen Bedeutung würde es widersprechen, wenn im Zusammenhang mit dem Aspekt der zu erwartenden Kostenentscheidung abweichende, insbesondere geringere Anforderungen an den Inhalt des Vergleichsvorschlags gestellt würden. Hinzu kommt, dass gerade durch die Bezugnahme auf die potentielle Kostenentscheidung des Gerichts die Gewähr für einen Gleichlauf mit der von Abs. 3 behandelten gerichtlichen Entscheidung hergestellt wird.
32cc)
33Die Entstehungsgeschichte von § 31 Abs. 4 GKG lässt ebenfalls darauf schließen, dass eine streng am Wortlaut orientierte Auslegung geboten ist.
34§ 58 Abs. 2 S. 2 GKG a. F. bestimmte bis zum Inkrafttreten des neuen GKG zum 30.06.2004 lediglich, dass im Umfang der Prozesskostenhilfebewilligung für einen Entscheidungsschuldner die Haftung eines anderen Kostenschuldners nicht geltend gemacht werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat es in einem Beschluss vom 28.06.2000 – 1 BvR 741/00 – (NJW 2000, 3271) nicht für verfassungsrechtlich geboten gehalten, die Schutzvorschrift des § 58 Abs. 2 S. 2 GKG a. F. auch auf den Kostenschuldner aus einem Vergleich zu erstrecken. Begründet hat es dies damit, dass ein Vergleich von anderen Erwägungen als denen der Anspruchsberechtigten getragen werden könne und damit die Gefahr einer Manipulation der Prozessparteien hinsichtlich der Gerichtskosten zu Lasten der Staatskasse in sich berge; ferner beruhe die Haftung der Prozesskostenhilfepartei im Falle der Vergleichsschuldnerschaft auf der privatautonomen Entscheidung zum Abschluss eines Prozessvergleichs und sei damit - auch wenn sich die Kostenregelung möglicherweise an dem verhältnismäßigen Obsiegen und Unterliegen nach dem Erkenntnisstand des Gerichts zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses orientiere – etwas qualitativ Anderes als eine gerichtliche Kostenentscheidung, die der Bedürftige nicht beeinflussen könne.
35Unter Bezugnahme auf den letztgenannten Aspekt dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber es bei Schaffung des neuen GKG unterlassen, eine Verpflichtung der Staatskasse zur Rückzahlung von Kosten auch an den zweitschuldnerisch haftenden Gegner einer als Übernahmeschuldner haftenden Prozesskostenhilfepartei zu regeln (BT-Drucks. 15/1971). Bezüglich der als Entscheidungsschuldner haftenden Prozesskostenhilfepartei hat er hingegen in den an die Stelle von § 58 Abs. 2 GKG a. F. tretenden § 31 Abs. 3 GKG n. F. eine klarstellende gesetzliche Regelung im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23.06.1999 – 1 BvR 984/89 – (NJW 1999, 3186) aufgenommen. Dieses hatte für den unterliegenden Beklagten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, durch die über § 123 ZPO eingeräumte Möglichkeit des Klägers, wegen von ihm gezahlter Gerichtskosten im Rahmen der Kostenfestsetzung Rückgriff zu nehmen, eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber dem Kläger gesehen, der sich bei Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klage keinem vergleichbaren Anspruch ausgesetzt sah, und eine verfassungsgemäße Auslegung dahingehend vorgenommen, dass ein Kläger, der in einem Rechtsstreit gegen eine Prozesskostenhilfepartei obsiege, die Rückzahlung verauslagter Kosten verlangen könne.
36Die Regelung des § 31 Abs. 4 GKG sowie die Parallelregelungen in § 26 Abs. 4 FamGKG und § 33 Abs. 3 GNotKG wurden schließlich durch das 2. KostRModG mit Wirkung vom 01.08.2013 eingefügt mit der Intention, die Vergleichsbereitschaft bei bewilligter Prozesskostenhilfe zu stärken. Zu Grunde lag die Erkenntnis, dass die bisherige Regelung der bedürftigen Partei den Abschuss eines Vergleichs erschwerte, weil sich diese entweder bei einer Kostenübernahme im Vergleich einem Rückgriff des Zweitschuldners im Rahmen der Kostenfestsetzung ausgesetzt sah oder bei gerichtlicher Kostenentscheidung gemäß § 91a ZPO für alle Parteien, also auch die Nicht-PKH-Partei, die Gebührenermäßigung entfiel. Damit ging einher, dass es auch dem Gericht Probleme bereitete, einen Rechtsstreit durch einen Vergleich zum Abschluss zu bringen, wenn Prozesskostenhilfe bewilligt worden war. Zur Gesetzesbegründung heißt es weiter auszugsweise wörtlich:
37„Die Belastung der Staatskasse dürfte sich in Grenzen halten, weil die Wirkungen denjenigen entsprechen, die im Fall einer gerichtlichen Entscheidung ohnehin eintreten würden. Im Übrigen würden mögliche Mindereinnahmen durch eine Entlastung der Gerichte ausgeglichen. Ein mögliches Missbrauchspotenzial ist sehr gering, weil ein eigener Spielraum der Beteiligten für die Kostenverteilung nicht besteht. Jede Abweichung von dem Vorschlag des Gerichts würde die Schutzwirkung der vorgeschlagenen Vorschrift für die VKH-Partei entfallen lassen.“ (BR-Drucks. 517/12, S. 234 [ für VKH], mit ähnlichem Wortlaut auch S. 371 [PKH] sowie BT-Drucks. 17/11471, S. 244)
38Im Ergebnis hat der Gesetzgeber also mit der getroffenen Regelung, die er in der Vergangenheit in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht für verfassungsrechtlich geboten gehalten hat, ausschließlich im Interesse der erleichterten Erledigung von Rechtsstreitigkeiten den Parteien eine kostenrechtliche Vergünstigung bieten wollen, allerdings nur in einem streng limitierten, vom Gericht kontrollierten Rahmen. Dies spricht dafür, die gesetzten Grenzen auch strikt auszulegen.
39dd)
40Entsprechendes gilt im Hinblick auf den Gesetzeszweck. Der Gesetzgeber wollte den Abschluss von Vergleichen fördern, allerdings nicht um jeden Preis. Wie schon das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2000, sah er die Gefahr, dass durch eine entsprechende Regelung die Möglichkeit von Vergleichen zu Lasten der Staatskasse geschaffen wurde. Dem wollte er durch die gestellten Anforderungen entgegenwirken, die sicherstellen sollten, dass die kostenrechtlichen Wirkungen des Vergleichs denjenigen entsprechen, die ansonsten, wenn es nicht zum Vergleichsabschluss kommen würde, durch die gerichtliche Entscheidung hergestellt würden. Damit hat der Gesetzgeber in kostenrechtlicher Hinsicht einen Gleichlauf von Vergleich und zu erwartender Entscheidung postuliert. Die Kostenquote sollte nicht verhandelbar sein, sondern vom Gericht im Ergebnis vorgegeben werden; Abweichungen der Parteien vom gerichtlichen Vorschlag sollten mit dem Verlust der kostenrechtlichen Begünstigung sanktioniert werden. Dieser gesetzgeberischen Zielsetzung entspricht es am ehesten, wenn bereits im Vorfeld des Vergleichsabschusses die zu erwartende Kostenentscheidung gegenüber den Parteien kommuniziert wird. Dies schließt es nicht aus, dass diese einmal ausgesprochene ausdrückliche Feststellung vom Gericht abgeändert wird, allerdings dürfte dies faktisch nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommen. Auf diese Weise wird bereits im Ausgangspunkt verhindert, dass die Kostenquote des Vergleiches noch in nennenswerten Umfang zum Gegenstand der Vergleichsverhandlungen wird. Dies wäre hingegen zu erwarten, wenn die Kostenquote im Unklaren bliebe, und es würde das Risiko bestehen, dass die Parteien diese Situation ausnutzen, um die Erklärung bezüglich der zu erwartenden Kostenentscheidung in ihrem Sinne zu beeinflussen, was im Ergebnis einen Missbrauch dieser kostenrechtlichen Vergünstigung darstellen würde, den der Gesetzgeber durch die getroffene Regelung gerade verhindern wollte. Im Übrigen wäre auch für die Parteien bei Abschluss des Vergleichs ungewiss, ob sie in den Genuss der Vergünstigung des § 31 Abs. 4 GKG kommen, weil sie die nachträgliche Erklärung des Gerichts nicht prognostizieren können, was im Hinblick auf den das gesamte gerichtliche Verfahren beherrschenden Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs bedenklich wäre (vgl. zu diesem Aspekt auch OLG Bamberg FamRZ 2015, 525, 526).
41III.
42Die zulässige und begründete weitere Beschwerde führt im Hinblick auf die eingeschränkten Prüfungskompetenzen im rechtsbeschwerdeähnlichen Verfahren der weiteren Beschwerde lediglich zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache zur neuen Entscheidung an das Beschwerdegericht (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.07.2010, BeckRS 2010, 17442).
43IV.
44Die Kostenentscheidung beruht auf § 66 Abs. 8 GKG.
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Tenor
Auf die weitere Beschwerde des Beteiligten zu 2. wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 23.06.2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Münster zurückverwiesen.
Diese Entscheidung ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
1Gründe:
2I.
3Das vorliegende Verfahren betreffend den Gerichtskostenansatz hat die Erstattung von Gerichtskosten nach Vergleichsabschluss im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 31 Abs. 4 GKG zum Gegenstand.
4Zugrunde liegt ein Mietrechtsstreit, in dem der Kläger vom Beklagten die Zahlung rückständiger Miete sowie die Räumung der Wohnung nach auf Verzug gestützter Kündigung begehrte. Den Beklagten, die Mängel der Wohnung einwandten, wurde Prozesskostenhilfe, auch für eine auf Rückzahlung überzahlter Miete gerichtete Hilfswiderklage, bewilligt. Nach Zeugeneinvernahme und Einholung eines Sachverständigengutachtens sowie Rücknahme der Widerklage schlossen die Parteien in der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2019 einen Vergleich (Bl. 449), der eine Kostenübernahme bezüglich der Kosten des Rechtsstreits im Verhältnis 80:20 zulasten der Beklagten vorsah. Der Vergleichsschluss erfolgte nach dem Vorspann zum protokollierten Vergleich ausdrücklich auf Vorschlag des Gerichts. Den Beklagten wurde im Anschluss an den Vergleichsschluss durch Beschluss der Einzelrichterin Prozesskostenhilfe auch für den Abschluss des Vergleichs bewilligt; weiter heißt es im Beschluss: "Die Kostenquote für den Rechtsstreit ist im Hinblick auf die weit überwiegenden Erfolgsaussichten der Klage sachgerecht".
5Gemäß Schlusskostenrechnung vom 06.01.2020 (Bl. III) beliefen sich die Gerichtskosten insgesamt auf 3.494,00 EUR, wovon nach Abzug von klägerseits geleisteten Vorschüssen i.H.v. 1.185,00 EUR noch 2.309,40 EUR offen standen. Diese wurden mit 1. Rechnung vom 07.01.2020 vom Kläger als Zweitschuldner nach § 31 Abs. 3 und 4 GKG i.V.m. §§ 22 Abs. 1, 29 GKG angefordert unter gleichzeitigem Hinweis darauf, dass er sich ggf. die Kosten gegen die Beklagten nach §§ 103 ff. ZPO titulieren lassen könne.
6Den hiergegen gerichteten Rechtsbehelf des Klägers vom 16.01.2020 (Bl. 466) wies das Amtsgericht durch Beschluss vom 12.02.2020 (Bl. 475) zurück. Der Inanspruchnahme des Klägers stehe die Regelung des § 31 Abs. 4 GKG nicht entgegen. Es sei weder im Vergleichsvorschlag noch im eigentlichen Vergleichstext niedergelegt worden, dass die Kostenfolge der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspreche. Der nachträgliche Zusatz führe zu keiner anderen Beurteilung. Eine analoge Anwendung komme nicht in Betracht, da die Vorschrift allein auf die Erfüllung objektiver Kriterien abstelle.
7Gegen diesen Beschluss legte der Kläger mit Schreiben vom 19.02.2020 (Bl. 481) Beschwerde ein. Diese wurde nach Nichtabhilfe am 30.03.2020 dem Landgericht als Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt. Die dortige Einzelrichterin hat mit Beschluss vom 07.05.2020 den amtsgerichtlichen Beschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer an das Amtsgericht zurückgegeben. Die Einzelrichterin hat die Voraussetzungen des § 31 Abs. 4 GKG als gegeben angesehen. Das Amtsgericht verkenne, dass im Protokoll kein ausführlicher ausformulierter Vergleichsvorschlag festgehalten sei, sondern der Vergleichsabschluss auf einen entsprechend mündlich unterbreiteten Vorschlag des Gerichts erfolgt sei. Der im Protokoll enthaltene Text sei der Vergleich selbst. Allenfalls im Vorschlag verlange § 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG aber die genannte Feststellung. Eine Aufnahme in den Vergleich selber, der eine Parteivereinbarung darstelle, wäre nicht denkbar. Die erforderliche Feststellung werde durch den Protokollzusatz nach Sinn und Zweck der Vorschrift in ausreichendem Maße getroffen. Auch wenn das Wort „sachgerecht“ zunächst eine mildere Wirkung habe, werde damit unmittelbar an die Erfolgsaussichten der Klage angeknüpft. Angesichts des Umstands, dass es nicht um einen bezifferten Antrag gegangen sei, reiche die gewählte Formulierung noch aus. Unschädlich sei auch, dass der Zusatz nur eine Aussage hinsichtlich der Kosten des Rechtsstreits und nicht hinsichtlich der Kosten des Vergleichs treffe, denn hierüber wäre eine Entscheidung nicht erfolgt.
8Mit Beschluss vom 26.05.2020 (Bl. 510) hat das Amtsgericht die Kostenrechnung vom 07.01.2020 aufgehoben und die Sache an den Kostenbeamten zur erneuten Erstellung einer Kostenrechnung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts zurückgegeben.
9Hiergegen hat der Beteiligte zu 2. mit Schreiben vom 08.06.2020 (Bl. 516) Beschwerde eingelegt und Feststellung beantragt, dass es bei der ursprünglichen Kostenrechnung verbleibt, hilfsweise die Zulassung der weiteren Beschwerde begehrt. Die ursprüngliche Bewertung stehe mit der bisherigen Anwendungspraxis im Einklang. Eine abweichende und am Einzelfall orientierte Auslegung des § 31 Abs. 4 GKG würde hingegen dazu führen, dass der Kostenbeamte bei jedem Vergleichsabschluss die halb oder ggf. gar nicht erfüllten Voraussetzungen bewerte und damit Protokollinhalte und Feststellungen des Richters nachträglich interpretiere. Diese Konsequenz stehe mit der Vorschrift des § 31 Abs. 4 GKG nicht im Einklang.
10Die Amtsrichterin hat der Beschwerde am 10.06.2020 nicht abgeholfen und die Sache dem Landgericht als Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt (Bl. 517).
11Nach Übertragung des Verfahrens von der Einzelrichterin auf die Kammer (Bl. 520) hat diese die Beschwerde durch Beschluss vom 23.06.2020 (Bl. 522) zurückgewiesen und die weitere Beschwerde zugelassen. In Ergänzung der Begründung des Beschlusses vom 07.05.2020 hat die Kammer zunächst darauf verwiesen, dass eine wörtliche Protokollierung des gerichtlichen Vergleichsvorschlages nicht erforderlich sei, sondern der Zusatz, dass der Vergleich auf Vorschlag des Gerichts geschlossen sei, gemäß § 31 Abs. 4 Nr. 2 GKG genüge. Die in § 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG geforderte Feststellung müsse nicht zwingend in einer dem Wortlaut der Norm exakt entsprechenden Formulierung getroffen werden. Es reiche aus, wenn sich die notwendigen Feststellungen bei verständigem Lesen ohne weiteres aus dem Protokoll entnehmen ließen. Die Feststellung müsse aus sich heraus so deutlich getroffen sein, dass der Kostenbeamte nicht selbst die Erfolgsaussichten in der Sache bewerten und/oder zunächst Rückfragen an den Richter stellen müsse. Dies sei der Fall, denn die gewählte Erklärung bringe ausreichend klar zum Ausdruck, dass die vom Gericht vorgeschlagene und im Vergleich vereinbarte Kostenfolge einer sonst zu erwartenden Kostenfolge entspreche. Auch der Umstand, dass die Feststellung erst nach dem Vergleich protokolliert worden sei, führe zu keiner anderen Beurteilung. Die Vorschrift verlange eine frühzeitige Feststellung, damit das Kostenansatzverfahren praktikabel sei. Dem stehe die zeitlich nachfolgende Feststellung nicht entgegen, sofern sie unmittelbar nach dem Vergleichsschluss zu Protokoll getroffen werde. Die Auffassung der Beteiligten zu 2., dass die Anwendung der Vorschrift nur streng nach dem Wortlaut überhaupt umsetzbar sei, teile die Kammer nicht, vielmehr sei sie wie jede andere Vorschrift auch der Auslegung zugänglich, um eine einzelfallgerechte Entscheidung herbeizuführen.
12Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Beteiligten zu 2. (Bl. 529). Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 4 GKG müssten nach Wortlaut und Gesetzesbegründung kumulativ und insbesondere unzweifelhaft ohne weitere Auslegungen erfüllt sein. Anderenfalls könne dem Ausnahmecharakter und dem Sicherheitserfordernis, dass der Vergleichsinhalt der ansonsten zu treffenden Streitentscheidung des Gerichts entspreche, nicht Rechnung getragen werden. Im vorliegenden Fall enthalte das Protokoll schon keine Anhaltspunkte dafür, dass der Vergleich einschließlich der Verteilung der Kosten vom Gericht vorgeschlagen worden sei. Insbesondere fehle die ausdrückliche Feststellung des Gerichts, dass die Kostenregelung der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspreche. Im Passus am Ende des Protokolls werde lediglich festgehalten, dass die Regelung im Hinblick auf die Erfolgsaussichten vertretbar sei; es werde aber nicht festgestellt, dass das Gericht im Entscheidungsfall exakt diese Kostentragung ausgesprochen hätte. Auf eine Billigung der Parteiregelung komme es nicht an, sondern auf eine den Parteien vor einer Einigung vorgeschlagene Kostenhaftung, die die Parteien genau in dem Umfang übernähmen. Sowohl für den Kostenbeamten als auch im sich anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren solle es nicht zu Auslegungen oder materiellrechtlichen Auswertungen kommen. Dies zeige sich etwa auch an der Handhabung des § 15a Abs. 2 RVG. Entsprechend habe auch das OLG Oldenburg (Beschluss vom 04.05.2016, 12 W 50/16, juris) bestätigt, dass das Gericht Ausführungen zu der zu erwartenden Kostenentscheidung treffen müsse.
13Die Kammer hat der weiteren Beschwerde im Beschluss vom 03.07.2020 (Bl. 532) nicht abgeholfen, da die Einwände gegen den angefochtenen Beschluss nicht durchgreifend seien, und die Sache dem Oberlandesgericht als Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt.
14II.
15Die weitere Beschwerde des Beteiligten zu 2., an deren Zulassung durch das Landgericht der Senat gemäß §§ 66 Abs. 4 S. 4, Abs. 3 S. 4 GKG gebunden ist, erweist sich als zulässig und begründet.
16Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf einer Rechtsverletzung, weil die Rechtsnorm des § 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG nicht richtig angewendet worden ist, §§ 546 ZPO, 66 Abs. 4 S. 2 GKG. Zur Erfüllung dieses Tatbestandes reicht eine im Anschluss an den Vergleich protokollierte richterliche Bewertung der vereinbarten Kostenquote nicht aus. Dass schon mit dem vorgeschlagenen Vergleich die zu erwartende Kostenentscheidung mitgeteilt worden wäre, ist nicht feststellbar.
171.
18§ 31 Abs. 4 GKG erklärt unter bestimmten Voraussetzungen die Vorschrift des § 31 Abs. 3 GKG bei Abschluss eines Vergleichs für entsprechend anwendbar. Jener Absatz bestimmt, dass bei Entscheidungsschuldnerschaft der Partei, der Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, die Haftung eines anderen Kostenschuldners, namentlich des Antragstellers gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 GKG, nicht geltend gemacht werden darf und von diesem bereits erhobene Kosten grundsätzlich zurückzuzahlen sind. § 31 Abs. 4 GKG betrifft den Fall der Übernahmeschuldnerschaft der Prozesskostenhilfepartei. Dann soll ebenfalls die Haftung des anderen Kostenschuldners nicht mehr geltend gemacht werden dürfen und er bereits erhobene Kosten zurückerhalten, allerdings nur, wenn die Prozesskostenhilfepartei die Kosten in einem vor Gericht abgeschlossenen oder gegenüber dem Gericht angenommenen Vergleich übernommen hat (Nr. 1), der Vergleich einschließlich der Verteilung der Kosten von dem Gericht vorgeschlagen worden ist (Nr. 2) und das Gericht in seinem Vergleichsvorschlag ausdrücklich festgestellt hat, dass die Kostenregelung der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspricht (Nr. 3).
192.
20Jedenfalls die Voraussetzung des § 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG ist im vorgelegten Fall nicht erfüllt.
21Der Senat hält es bereits für sehr zweifelhaft, ob die Bewertung der vereinbarten Kostenquote als sachgerecht mit der ausdrücklichen Feststellung gleichzusetzen ist, dass die vereinbarte Kostenquote der potentiellen Kostenentscheidung entspricht, zumal die Kostenentscheidung sich nicht stets nach der Sach- und Rechtslage richtet, sondern auch weitere Aspekte einfließen, wie insbesondere bei Kostenentscheidungen nach § 91a ZPO die Billigkeit. Das OLG Oldenburg (Beschluss vom 04.05.2016, 12 W 50/16, juris Rn. 2) hat eine vergleichbare Formulierung, die in einem gerichtlichen Vergleichsvorschlag enthalten war, nicht ausreichen lassen (ebenso Jungbauer, Jungbauer, Das familienrechtliche Mandat-Abrechnung in Familiensachen, 4. Aufl. 2017, § 2 Rn. 54).
22Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben. Nach dem aktenkundigen Sachverhalt fehlt es an dem Erfordernis, dass die erforderliche Feststellung bereits im Vergleichsvorschlag enthalten sein muss. Hierfür gibt es insbesondere im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2019 keine Anhaltspunkte. Danach ist der Vergleich „auf Vorschlag des Gerichts“ zustande kommen. Hieraus mag geschlossen werden können, dass der Vorschlag den nachstehenden Vergleichstext beinhaltete. Die Annahme, dass die vorgeschlagene Kostenquote auch der mutmaßlichen Kostenentscheidung entspricht, ist allerdings vom Bedeutungsgehalt dieser Erklärung nicht mehr gedeckt. Auch der im Anschluss an den Vergleich protokollierten Erklärung kann schon rein sprachlich nicht entnommen werden, dass die Feststellung, dass die vereinbarte Kostenquote der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspricht, schon Bestandteil des gerichtlichen Vergleichsvorschlags war. Nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck ist insofern aber eine enge Gesetzesauslegung geboten.
23a)
24Unter Berufung auf den Wortlaut fordert die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ausdrücklich, dass die Feststellung bereits Teil des gerichtlichen Vergleichsvorschlags sein muss (OLG Bamberg, Beschluss vom 22.08.2014, 2 UF 77/14, FamRZ 2015, 525, 526; OLG Frankfurt, Beschluss vom 02.08.2017, 5 UF 310/15, juris Rn. 5; Schneider/Thiel AnwBl Online 2013, 298, 299; dies. AGS 2013, 159, 161; Hansens RVGreport 2018, 35, 36; Volpert, in: Schneider/Volpert/Fölsch, FamGKG, 3. Aufl. 2019, § 26 Rn. 106; Schneider, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 2. Aufl. 2017, § 26 FamGKG, Rn. 54; Hellstab, in: Oestreich/Hellstab/Trenkle, GKG/FamGKG, Aktualisierungslieferung 131, Juni 2020, § 31 Rn. 27, § 26 FamGKG Rn. 21; Semmelbeck, in: BeckOK-Kostenrecht, Stand: 30. Ed. 01.06.2020, § 31 GKG Rn. 38); eine Nachholung der Feststellung soll nach einhelliger Auffassung nicht möglich sein (OLG Bamberg a. a. O.; OLG Frankfurt a. a. O.; Schneider a. a. O.; ders. FamRB 2018, 452, 453; Nickel MDR 2016, 438, 440; 2018, 369, 370; Schneider/Thiel a. a. O.en sowie NJW 2013, 3222, 3223; dies. AnwBl Online 2013, 298, 299; Jungbauer a. a. O. § 2 Rn. 51 f.; Semmelbeck a. a. O.; Volpert a. a. O.; Dörndorfer, in: Binz/Dörndorfer/Zimmermann, GKG, FamGKG, JVEG, 4. Aufl. 2019, § 31 Rn. 6; Dürbeck, in: Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 9. Aufl. 2020, Rn. 768; Hellstab a. a. O. § 31 GKG Rn. 27, § 27 FamGKG Rn. 21; Toussaint, in: Hartmann, Kostenrecht, 50. Aufl. 2020, § 31 Rn. 33). Die Feststellung, dass die Kostenregelung der sonst zu erwartenden Kostenentscheidung entspricht, muss sich den Gerichtsakten entnehmen lassen (OLG Frankfurt a. a. O.; Schneider FamRB 2018, 452, 453; Hansens ZfSch 2015, 45f.; Hellstab a. a. O.en), nach weitergehender Auffassung bei Vergleichsprotokollierung in der mündlichen Verhandlung dem Sitzungsprotokoll (Schneider, in: Schneider/Volpert/Fölsch § 26 FamGKG Rn. 54; Meyer, GKG/FamGKG 2016, § 31 GKG Rn. 31; Hansens ZfSch 2015, 45 f.). Nach einer Entscheidung des OLG Jena (Beschluss vom 11.10.2017, 1 UF 42/15, ihm folgend Dürbeck a. a. O) soll eine ausdrückliche Formulierung im vorgeschlagenen Vergleich ausnahmsweise nicht erforderlich sein, sofern die ausdrückliche Feststellung dem Verfahrensverlauf und der Gerichtsakte entnommen werden kann (juris Rn. 12), was jedoch mit den Besonderheiten des Falles begründet wurde (juris Rn. 22). Auch diese Auffassung geht jedoch davon aus, dass die gerichtliche Feststellung selbst vor Vergleichsschluss getroffen sein muss (vgl. OLG Jena a. a. O. juris Rn. 11).
25b)
26Auch der Senat erachtet es für die kostenrechtliche Vergünstigung nach § 34 Abs. 4 GKG als notwendig, dass das Gericht feststellbar bereits in seinem Vergleichsvorschlag auf die sonst zu erwartende Kostenentscheidung hingewiesen hat.
27aa)
28§ 31 Abs. 4 Nr. 3 GKG verlangt dies schon nach seiner unmissverständlichen Formulierung. Das Wort „Vorschlag“ impliziert etwas Vorheriges in dem Sinne, dass der Vergleichsabschluss in zeitlicher Hinsicht danach liegen muss.
29bb)
30Auch der systematische Zusammenhang der Vorschrift spricht für ein strenges Verständnis.
31Die Vorschrift des § 31 GKG behandelt die Situation, dass mehrere Kostenschuldner existieren. Ausgehend vom Grundsatz der Gesamtschuldnerschaft aller Kostenschuldner gemäß § 31 Abs. 1 GKG, regelt § 31 Abs. 2 GKG die Reihenfolge ihrer Inanspruchnahme: Vorrangig haftet der Kostenschuldner, der aufgrund von § 29 Nr. 1 oder 2 GKG, also als Entscheidungs- oder Übernahmeschuldner, haftet (Erstschuldner); lediglich bei erfolgloser oder aussichtsloser Zwangsvollstreckung in dessen bewegliches Vermögen kommt die Haftung anderer Kostenschuldner zum Tragen (Zweitschuldner). § 31 Abs. 3 und Abs. 4 GKG befassen sich mit dem Sonderfall, dass dem Erstschuldner Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, und zwar Abs. 3 bezüglich des Entscheidungsschuldners und Abs. 4 bezüglich des Übernahmeschuldners. Dabei wird die Rechtsfolge, die Abs. 3 für den Entscheidungsschuldner anordnet, für den Übernahmeschuldner vom Vorliegen eng gefasster Voraussetzungen abhängig gemacht, für die dem Gericht und dem von ihm unterbreiteten Vergleichsvorschlag insgesamt eine entscheidende Bedeutung zukommt, und zwar sowohl hinsichtlich Vergleichsinhalt und Kostenverteilung (Nr. 2) als auch bezüglich der zu erwartenden Kostenentscheidung (Nr. 3). Der dem gerichtlichen Vergleichsvorschlag in Nrn. 2 und 3 zugewiesenen Bedeutung würde es widersprechen, wenn im Zusammenhang mit dem Aspekt der zu erwartenden Kostenentscheidung abweichende, insbesondere geringere Anforderungen an den Inhalt des Vergleichsvorschlags gestellt würden. Hinzu kommt, dass gerade durch die Bezugnahme auf die potentielle Kostenentscheidung des Gerichts die Gewähr für einen Gleichlauf mit der von Abs. 3 behandelten gerichtlichen Entscheidung hergestellt wird.
32cc)
33Die Entstehungsgeschichte von § 31 Abs. 4 GKG lässt ebenfalls darauf schließen, dass eine streng am Wortlaut orientierte Auslegung geboten ist.
34§ 58 Abs. 2 S. 2 GKG a. F. bestimmte bis zum Inkrafttreten des neuen GKG zum 30.06.2004 lediglich, dass im Umfang der Prozesskostenhilfebewilligung für einen Entscheidungsschuldner die Haftung eines anderen Kostenschuldners nicht geltend gemacht werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat es in einem Beschluss vom 28.06.2000 – 1 BvR 741/00 – (NJW 2000, 3271) nicht für verfassungsrechtlich geboten gehalten, die Schutzvorschrift des § 58 Abs. 2 S. 2 GKG a. F. auch auf den Kostenschuldner aus einem Vergleich zu erstrecken. Begründet hat es dies damit, dass ein Vergleich von anderen Erwägungen als denen der Anspruchsberechtigten getragen werden könne und damit die Gefahr einer Manipulation der Prozessparteien hinsichtlich der Gerichtskosten zu Lasten der Staatskasse in sich berge; ferner beruhe die Haftung der Prozesskostenhilfepartei im Falle der Vergleichsschuldnerschaft auf der privatautonomen Entscheidung zum Abschluss eines Prozessvergleichs und sei damit - auch wenn sich die Kostenregelung möglicherweise an dem verhältnismäßigen Obsiegen und Unterliegen nach dem Erkenntnisstand des Gerichts zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses orientiere – etwas qualitativ Anderes als eine gerichtliche Kostenentscheidung, die der Bedürftige nicht beeinflussen könne.
35Unter Bezugnahme auf den letztgenannten Aspekt dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber es bei Schaffung des neuen GKG unterlassen, eine Verpflichtung der Staatskasse zur Rückzahlung von Kosten auch an den zweitschuldnerisch haftenden Gegner einer als Übernahmeschuldner haftenden Prozesskostenhilfepartei zu regeln (BT-Drucks. 15/1971). Bezüglich der als Entscheidungsschuldner haftenden Prozesskostenhilfepartei hat er hingegen in den an die Stelle von § 58 Abs. 2 GKG a. F. tretenden § 31 Abs. 3 GKG n. F. eine klarstellende gesetzliche Regelung im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23.06.1999 – 1 BvR 984/89 – (NJW 1999, 3186) aufgenommen. Dieses hatte für den unterliegenden Beklagten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, durch die über § 123 ZPO eingeräumte Möglichkeit des Klägers, wegen von ihm gezahlter Gerichtskosten im Rahmen der Kostenfestsetzung Rückgriff zu nehmen, eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber dem Kläger gesehen, der sich bei Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klage keinem vergleichbaren Anspruch ausgesetzt sah, und eine verfassungsgemäße Auslegung dahingehend vorgenommen, dass ein Kläger, der in einem Rechtsstreit gegen eine Prozesskostenhilfepartei obsiege, die Rückzahlung verauslagter Kosten verlangen könne.
36Die Regelung des § 31 Abs. 4 GKG sowie die Parallelregelungen in § 26 Abs. 4 FamGKG und § 33 Abs. 3 GNotKG wurden schließlich durch das 2. KostRModG mit Wirkung vom 01.08.2013 eingefügt mit der Intention, die Vergleichsbereitschaft bei bewilligter Prozesskostenhilfe zu stärken. Zu Grunde lag die Erkenntnis, dass die bisherige Regelung der bedürftigen Partei den Abschuss eines Vergleichs erschwerte, weil sich diese entweder bei einer Kostenübernahme im Vergleich einem Rückgriff des Zweitschuldners im Rahmen der Kostenfestsetzung ausgesetzt sah oder bei gerichtlicher Kostenentscheidung gemäß § 91a ZPO für alle Parteien, also auch die Nicht-PKH-Partei, die Gebührenermäßigung entfiel. Damit ging einher, dass es auch dem Gericht Probleme bereitete, einen Rechtsstreit durch einen Vergleich zum Abschluss zu bringen, wenn Prozesskostenhilfe bewilligt worden war. Zur Gesetzesbegründung heißt es weiter auszugsweise wörtlich:
37„Die Belastung der Staatskasse dürfte sich in Grenzen halten, weil die Wirkungen denjenigen entsprechen, die im Fall einer gerichtlichen Entscheidung ohnehin eintreten würden. Im Übrigen würden mögliche Mindereinnahmen durch eine Entlastung der Gerichte ausgeglichen. Ein mögliches Missbrauchspotenzial ist sehr gering, weil ein eigener Spielraum der Beteiligten für die Kostenverteilung nicht besteht. Jede Abweichung von dem Vorschlag des Gerichts würde die Schutzwirkung der vorgeschlagenen Vorschrift für die VKH-Partei entfallen lassen.“ (BR-Drucks. 517/12, S. 234 [ für VKH], mit ähnlichem Wortlaut auch S. 371 [PKH] sowie BT-Drucks. 17/11471, S. 244)
38Im Ergebnis hat der Gesetzgeber also mit der getroffenen Regelung, die er in der Vergangenheit in Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht für verfassungsrechtlich geboten gehalten hat, ausschließlich im Interesse der erleichterten Erledigung von Rechtsstreitigkeiten den Parteien eine kostenrechtliche Vergünstigung bieten wollen, allerdings nur in einem streng limitierten, vom Gericht kontrollierten Rahmen. Dies spricht dafür, die gesetzten Grenzen auch strikt auszulegen.
39dd)
40Entsprechendes gilt im Hinblick auf den Gesetzeszweck. Der Gesetzgeber wollte den Abschluss von Vergleichen fördern, allerdings nicht um jeden Preis. Wie schon das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2000, sah er die Gefahr, dass durch eine entsprechende Regelung die Möglichkeit von Vergleichen zu Lasten der Staatskasse geschaffen wurde. Dem wollte er durch die gestellten Anforderungen entgegenwirken, die sicherstellen sollten, dass die kostenrechtlichen Wirkungen des Vergleichs denjenigen entsprechen, die ansonsten, wenn es nicht zum Vergleichsabschluss kommen würde, durch die gerichtliche Entscheidung hergestellt würden. Damit hat der Gesetzgeber in kostenrechtlicher Hinsicht einen Gleichlauf von Vergleich und zu erwartender Entscheidung postuliert. Die Kostenquote sollte nicht verhandelbar sein, sondern vom Gericht im Ergebnis vorgegeben werden; Abweichungen der Parteien vom gerichtlichen Vorschlag sollten mit dem Verlust der kostenrechtlichen Begünstigung sanktioniert werden. Dieser gesetzgeberischen Zielsetzung entspricht es am ehesten, wenn bereits im Vorfeld des Vergleichsabschusses die zu erwartende Kostenentscheidung gegenüber den Parteien kommuniziert wird. Dies schließt es nicht aus, dass diese einmal ausgesprochene ausdrückliche Feststellung vom Gericht abgeändert wird, allerdings dürfte dies faktisch nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommen. Auf diese Weise wird bereits im Ausgangspunkt verhindert, dass die Kostenquote des Vergleiches noch in nennenswerten Umfang zum Gegenstand der Vergleichsverhandlungen wird. Dies wäre hingegen zu erwarten, wenn die Kostenquote im Unklaren bliebe, und es würde das Risiko bestehen, dass die Parteien diese Situation ausnutzen, um die Erklärung bezüglich der zu erwartenden Kostenentscheidung in ihrem Sinne zu beeinflussen, was im Ergebnis einen Missbrauch dieser kostenrechtlichen Vergünstigung darstellen würde, den der Gesetzgeber durch die getroffene Regelung gerade verhindern wollte. Im Übrigen wäre auch für die Parteien bei Abschluss des Vergleichs ungewiss, ob sie in den Genuss der Vergünstigung des § 31 Abs. 4 GKG kommen, weil sie die nachträgliche Erklärung des Gerichts nicht prognostizieren können, was im Hinblick auf den das gesamte gerichtliche Verfahren beherrschenden Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs bedenklich wäre (vgl. zu diesem Aspekt auch OLG Bamberg FamRZ 2015, 525, 526).
41III.
42Die zulässige und begründete weitere Beschwerde führt im Hinblick auf die eingeschränkten Prüfungskompetenzen im rechtsbeschwerdeähnlichen Verfahren der weiteren Beschwerde lediglich zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache zur neuen Entscheidung an das Beschwerdegericht (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.07.2010, BeckRS 2010, 17442).
43IV.
44Die Kostenentscheidung beruht auf § 66 Abs. 8 GKG.
| {
"jurisdiction": "Germany",
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"language": "de"
} |
Tenor
Die Berufung wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Freistellung von weiteren Rechtsanwaltsgebühren für ein erfolgreiches Vorverfahren.
2
Mit Bescheid vom 24. August 2018 mahnte die Beklagte gegenüber dem Kläger die Zahlung von 320,10 € in Wahrnehmung eines Forderungseinzuges für das Jobcenter V. an und setzte eine Mahngebühr von 5 € fest.
3
Dem dagegen von der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 27. September 2018 eingelegten Widerspruch half die Beklagte mit Bescheid vom 6. November 2018 ab und verpflichtete sich zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen für das Widerspruchsverfahren, wobei die Zuziehung eines Bevollmächtigten als notwendig anerkannt wurde.
4
Mit Kostenrechnung vom 8. November 2018 beantragte die Prozessbevollmächtigte des Klägers einen Gesamtbetrag in Höhe von 380,80 € wie folgt:
5
- 300,00 € Geschäftsgebühr (Nr. 2302 VV RVG)
- 20,00 € Pauschale für Entgelte für Post und Telekommunikationsdienstleistungen (Nr. 7002 VV RVG)
- 60,80 € Umsatzsteuer (Nr. 7008 VV RVG).
6
Die Beklagte setzte mit Bescheid vom 15. November 2018 lediglich Kosten in Höhe von 202,30 € fest und schlüsselte sie wie folgt auf:
7
- 150,00 € Geschäftsgebühr (VV 2302)
- 20,00 € Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen (VV 7002)
- 32,30 € Umsatzsteuer (VV 7008).
8
Es sei nur eine Geschäftsgebühr in Höhe der dreifachen Mindestgebühr festzusetzen gewesen, weil die Tätigkeit des Rechtsanwaltes hinsichtlich des Umfangs und der Schwierigkeit allenfalls durchschnittlich gewesen sei.
9
Den hiergegen am 16. Dezember 2018 erhobenen und nicht begründeten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 2019 zurück und führte zur Begründung aus, nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X habe, soweit der Widerspruch erfolgreich sei, der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen habe, demjenigen, der Widerspruch erhoben habe, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Nach § 63 Abs. 2 SGB X seien die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts im Vorverfahren erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig gewesen sei. Gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 SGB X setze die Behörde, die die Kostenentscheidung getroffen habe, auf Antrag den Betrag der zu erstattenden Aufwendungen fest. Gebühren und Auslagen i. S. von § 63 Abs. 2 SGB X seien die gesetzlichen Gebühren. Aufwendungen der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung seien grundsätzlich auch die Gebühren und Auslagen, die ein Rechtsanwalt seinem Mandanten - hier dem Kläger - in Rechnung stelle.
10
Die Geschäftsgebühr umfasse nach Nr. 2302 VV RVG i.V.m. § 14 RVG einen Betragsrahmen von 50,00 € bis 640,00 €. Eine Gebühr von mehr als 300,00 € (sog. Schwellengebühr) könne aber nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig gewesen sei. Die Geschäftsgebühr nach Nr. 2302 VV RVG decke grundsätzlich die gesamte außergerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts in sozialrechtlichen Angelegenheiten, in denen Betragsrahmengebühren entstünden, ab. Innerhalb dieses Gebührenrahmens bestimme der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Sei die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, sei die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig sei (§ 14 Abs. 1 Satz 4 RVG). Darüber hinaus sei nach § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG bei Verfahren, auf die Betragsrahmengebühren anzuwenden seien, ein besonderes Haftungsrisiko zu berücksichtigen.
11
Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit sei unterdurchschnittlich gewesen. Hierbei sei der zeitliche Aufwand zu berücksichtigen, den der Rechtsanwalt tatsächlich in der Sache betrieben habe und den er davon objektiv auch auf die Sache habe verwenden müssen. Eine Einarbeitung in einen komplexen Sachverhalt sei nicht erforderlich gewesen. Im dem Widerspruchschreiben sei nur vorgetragen worden, dass gegen den Bescheid ein Widerspruchsverfahren anhängig sei. Um die Aussage zu treffen, sei kein Aktenstudium erforderlich gewesen, sondern sei auf einen Blick in die Mahnung zu erfassen gewesen. Insoweit sei eine umfassende rechtliche Würdigung nicht erforderlich gewesen und sei durch den Bevollmächtigten auch nicht vorgenommen worden.
12
Auch die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sei vorliegend als unterdurchschnittlich zu bewerten. Gemeint sei damit die Intensität der Arbeit. Der Sachverhalt sei einfach gewesen. Es sei ausschließlich um die Erhebung von Mahngebühren durch die Beklagte in einer Rückzahlungsangelegenheit nach dem SGB II gegangen. Ein Blick in die Mahnung habe genügt, um den Sachverhalt zu erfassen, insbesondere weil vorliegend die Bevollmächtigte von dem Kläger bereits für das Verfahren gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mandatiert gewesen sei, so dass die Frage der Fälligkeit im Rahmen der Bearbeitung dieses früheren Mandats geklärt gewesen sei und im Hinblick auf das weitere Mandat, gegen die Mahngebühr vorzugehen, von vornherein festgestanden habe.
13
Die Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger sei nicht besonders hoch anzusetzen. Bei ihr komme es auf die unmittelbare tatsächliche, ideelle, gesellschaftliche, wirtschaftliche oder rechtliche Bedeutung, nicht aber auf die Bedeutung für die Allgemeinheit an (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 21/09 R -). In dem Verfahren sei es um die Erhebung von Mahngebühren in Höhe von 5,00 € aus der angefochtenen Mahnung gegangen. Die Mahnung selbst sei kein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X. Vielmehr handele es sich bei der Mahnung um eine Erinnerung an die bereits bestehende Zahlungspflicht. Verwaltungsakt sei hier allein die Festsetzung der Mahngebühr, die Gegenstand des Verfahrens sein könne. Da es in diesem Zusammenhang allein auf das Begehren, also um die Abwehr der Mahngebühr in Höhe von 5,00 € ankomme, sei die Höhe der angemahnten Hauptforderungen irrelevant. Zu berücksichtigen sei aber, dass mit der Mahnung im Falle des Ausbleibens der Zahlung der Gesamtforderungen eine zwangsweise Einziehung der Forderung in Aussicht gestellt worden sei. Dies führe dazu, dass bei dem Kläger aufgrund des engen Zeitraums von zehn Tagen für die Zahlung der Forderungen ein kurzfristiger Beratungsbedarf entstanden sei und faktisch die Monatsfrist für die Erhebung des Widerspruchs auf wenige Tage verkürzt habe. Dieser Zeitdruck und eine mit 5,00 Euro nicht ganz unerhebliche Mahngebühr rechtfertigten eine Geschäftsgebühr in Höhe der Hälfte der Schwellengebühr. Bei einem derart geringen Beschwerdewert müsse auch bei Beziehern von SGB II-Leistungen von einer nur geringen Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber ausgegangen werden.
14
Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers als Empfänger von SGB II-Leistungen seien weit unterdurchschnittlich, weshalb auch hierfür ein angemessener Abschlag vorzunehmen sei.
15
Anhaltspunkte für ein besonderes Haftungsrisiko, das die Gebühr erhöhen könnte, seien nicht ersichtlich.
16
Unter Würdigung aller Kriterien könne daher nur eine Geschäftsgebühr in Höhe der Hälfte der Schwellengebühr und damit in Höhe von 150 € anerkannt werden. Besonderheiten, welche eine höhere Gebühr rechtfertigen würden, habe das Verfahren nicht aufgewiesen. Demgegenüber sei die anwaltliche Gebührenbestimmung für die Geschäftsgebühr in Höhe von 300,00 € unbillig und daher nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG nicht verbindlich. Auch die Toleranzgrenze von 20 Prozent für die eigenverantwortliche Festsetzung durch den Rechtsanwalt sei weit überschritten.
17
Hiergegen hat der Kläger am 5. Februar 2019 beim Sozialgericht Neubrandenburg Klage erhoben, ohne sie zu begründen. In der mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2020 hat die Prozessbevollmächtigte schließlich vorgetragen, dass höchstrichterliche Rechtsprechung zum Problem der Mahngebühren zu beachten und die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers zu prüfen gewesen seien. Die Berufung sei zulässig, weil es um einen Freistellungsanspruch und nicht um einen Zahlungsanspruch gehe.
18
Der Kläger hat beantragt,
19
den Bescheid der Beklagten vom 15. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2019 abzuändern und den Kläger von der Zahlung weiterer Rechtsanwaltskosten in Höhe von 150,00 € nebst Umsatzsteuer von 19% freizustellen.
20
Der Beklagte hat beantragt,
21
die Klage abzuweisen.
22
Sie hat auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen.
23
Mit Urteil vom 16. Januar 2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die angegriffenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Das Gericht schließe sich der Begründung des angegriffenen Bescheides an und verzichte gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf eine weitere Darstellung der Entscheidungsgründe. Insbesondere habe das Vorliegen höchstrichterlicher Rechtsprechung zum Thema der Mahngebühren die Beurteilung der Rechtslage eher vereinfacht. Der Prozessbevollmächtigten müssten die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers aus der Vielzahl vorheriger oder parallel für ihn betriebener Verfahren, die gerade auch solche Verhältnisse zum Gegenstand gehabt hätten, hinreichend bekannt oder leicht zu prüfen gewesen sein.
24
Die Berufung bedürfe vorliegend gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG der Zulassung, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 € nicht übersteige. Begehre der erfolgreiche Widerspruchsführer - wie hier - eine höhere Festsetzung der ihm zu erstattenden Widerspruchsaufwendungen, handele es sich um einen Anspruch auf eine einmalige Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt (von Wulffen/Schütze/Roos, 8. Aufl. 2014, SGB X § 63 Rn. 47 m.w.N.; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 144 Rn 9, 49).
25
Gegen das am 27. Februar 2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 27. März 2020 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, dass die Berufung zulässig sei, weil er keine der in § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG genannten Leistungen und auch keinen auf diese Leistungen gerichteten Verwaltungsakt geltend mache. Vielmehr stritten die Beteiligten um einen Freistellungsanspruch, der gerade keinen Zahlungsanspruch darstelle.
26
Mit Schreiben vom 15. Juni 2020 hat der Senat darauf hingewiesen, dass die Berufung nicht statthaft sei und der Zulassung bedürfe, was im Einzelnen begründet wird. Es sei daher beabsichtigt, die Berufung gemäß § 158 SGG durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen.
27
Hierauf hat die Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 15. Juni 2020 ihre Rechtsauffassung beibehalten. Es möge einleuchten, dass es bei der Freistellung von Kosten der häuslichen Krankenpflege durch den Sozialleistungsträger auf den Beschwerdewert für die Zulässigkeit der Berufung ankomme (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 2005 – B 3 KR 35/04). Denn solche Kosten seien Geldleistungen i.S.d. § 144 SGG, die auf Sozialleistungen beschränkt und die nach § 11 SGB I in Geld-, Dienst- und Sachleistungen zu unterteilen und auch genau so in § 144 SGG wiedergegeben seien. Anwaltskosten seien gerade keine Sozialleistungen. Das Gericht wolle letztlich jeden Streitgegenstand mit weitläufigem Geldwert trotz des ausdrücklichen gegenteiligen Wortlauts von § 144 SGG unterwerfen. Dagegen spreche, dass § 144 SGG nicht jede Leistung von wirtschaftlichem Wert der Zulassung der Berufung unterwerfe, wie dies bei laufenden wirtschaftlichen Leistungen für mehr als ein Jahr der Fall sei.
28
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen, die dem Senat bei seiner Entscheidung vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe
29
Über die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 16. Januar 2020 kann der Senat gemäß § 158 SGG nach vorheriger Anhörung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden.
30
Die Berufung ist als unzulässig zu verwerfen, da sie nicht statthaft ist und das Sozialgericht die Berufung auch nicht zugelassen hat.
31
Die Berufung bedarf nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 € nicht übersteigt, und die Berufung – wie hier – weder wiederkehrende noch laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
32
Gegenstand der Berufung ist eine Klage, die eine Geldleistung betrifft, die 750 € nicht übersteigt.
33
Der Begriff der Geldleistung i.S. des § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG ist nicht auf Sozialleistungen gemäß § 11 S. 1 SGB I beschränkt (vgl. BSG, Urteil vom 10. Oktober 2017 – B 12 KR 3/16 R –, Rn. 11, juris). Er umfasst auch die Kosten eines isolierten Vorverfahrens (BSG, wie vor). Nach allgemeiner Auffassung kommt es für die Anwendbarkeit der Wertgrenze des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG nicht auf die Klageart an (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/A., SGG, 12. Aufl., § 144 Rn. 8, mit weiteren Nachweisen). Eine Geldleistung ist von einer Klage i.S.v. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG nicht nur dann betroffen, wenn sie unmittelbar zwischen den Beteiligten streitig ist, sondern auch in dem Fall, wenn der eine Beteiligte von dem anderen – wie hier – die Befreiung von einer Geldforderung eines Dritten begehrt und damit einen Freistellungsanspruch geltend macht (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 2005 – B 3 KR 35/04 R – juris, Rn. 15).
34
Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Im vorliegenden Klag- und Berufungsverfahren macht der Kläger im Wege einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage gegen die Beklagte einen Anspruch auf Freistellung vom Vergütungsanspruch seiner Prozessbevollmächtigten für ein Widerspruchsverfahren in Höhe von weiteren 178,50 € geltend, sodass die Berufung nicht statthaft ist.
35
Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Berufung aber auch nicht begründet ist.
36
Der Kostenfestsetzungsbescheid der Beklagten vom 15. November 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der streitbefangene Anspruch des Klägers gegen die Beklagte gem. § 63 SGB X auf Freistellung von der Gebührenforderung seiner Bevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren, das gegen die Festsetzung einer Mahngebühr von 5 € erfolgreich durchgeführt wurde, ist – wie von der Beklagten zutreffend festgesetzt – auf eine Gebührenforderung in Höhe von 202,30 € beschränkt. Das Sozialgericht hat sich zu Recht der überzeugenden Begründung der Beklagten im angegriffenen Bescheid angeschlossen und das Vorbringen des Klägers im Klagverfahren mit zutreffenden Ausführungen zurückgewiesen. Zur Vermeidung von Wiederholungen macht sich der Senat diese Ausführungen nach Überprüfung zu eigen und nimmt auf sie analog § 153 Abs. 2 SGG Bezug.
37
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
38
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
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Tenor
Auf die Berufung der Parteien wird das Urteil der 13. Zivilkammer - Einzelrichterin - des Landgerichts Bonn vom 18.10.2019 (13 O 94/19) teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 19.021,37 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag von 19.576,00 € ab dem 03.07.2019 bis zum 30.09.2019 sowie aus 19.021,37 € ab dem 01.10.2019 zu zahlen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs PKW Seat A Style 2,0 TDI, FIN: B.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Beklagten wird ebenso wie die weitergehende Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 35 % und die Beklagte zu 65 %.
Dieses Urteil und die angefochtene Entscheidung sind vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können jeweils die Vollstreckung der Gegenseite abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Gegenseite Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1G r ü n d e :
2I.
3Der Kläger kaufte im März 2013 bei dem Autozentrum C e.K., D den im Tenor bezeichneten, damals neuen PKW Seat A Style 2.0 TDI (Anlagenheft, K 1) zu einem Preis von 24.076,56 €, in welchem ein Motor mit der Typenbezeichnung EA 189 verbaut war. Nach Durchführung eines Software-Update im Nachgang zum Anschreiben der Beklagten vom 02.06.2016 (K 13, Bl. 362 GA) forderte der Kläger die Beklagte vorgerichtlich mit Anwaltsschreiben vom 27.02.2019 (K11, Bl. 189 GA, Datum „31.05.2019“ wohl drucktechnisch bedingt) unter Fristsetzung bis zum 13.03.2019 zur Zahlung von 32.220,00 € auf. Mit undatiertem Schreiben (K 12, Bl. 191 GA), beim anwaltlichen Vertreter des Klägers am 15.03.2019 eingegangen, lehnte die Beklagte Ansprüche ab.
4Der Kläger, der sich nicht der Musterfeststellungsklage angeschlossen hat (s. Bl. 267 GA), hat mit Schriftsatz vom 31.05.2019 Klage erhoben, die der Beklagten am 02.07.2019 (Bl. 199 GA) zugestellt wurde.
5Im Termin zur mündlichen Verhandlung erster Instanz am 30.09.2019 (Bl. 356 GA) haben die Parteien den im angefochtenen Urteil zugrunde gelegten km-Stand von 56.084 unstreitig gestellt.
6Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sachvortrages und wegen der erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
7Das Landgericht hat den auf Zahlung des Kaufpreises und Rückübereignung des Fahrzeugs gerichteten Schadenersatzanspruch gemäß §§ 826 BGB, 31 BGB als nicht verjährt angesehen und der Klage unter Anrechnung eines Vorteilsausgleichs auf der Basis von 300.000 km Gesamtlaufleistung im Wesentlichen (19.576,00 €) und in Bezug auf die klägerseits begehrten Deliktszinsen nach § 849 BGB stattgegeben. Im Übrigen, also in Höhe des Restkaufpreises, in Bezug auf das Vorliegen des Annahmeverzugs der Beklagten, einen Teils der begehrten Zinsen und in Bezug auf die Geltendmachung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten hat es die Klage abgewiesen, weil der Kläger vorgerichtlich keine Nutzungsentschädigung angeboten habe und daher die von ihm geschuldete Leistung nicht angeboten habe, so dass die Beklagte nicht in Verzug geraten sei. Gleiches gelte für das gerichtliche Verfahren, weshalb auch keine Prozesszinsen ab Klagezustellung gewährt werden könnten. Hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten habe der Kläger schon nicht dargetan, dass sie überhaupt angefallen und bezahlt worden seien, insbesondere auch, weil die Gerichtskosten von einer Rechtsschutzversicherung gezahlt worden seien und der Kläger nicht ausgeführt habe, dass und warum er berechtigt wäre, Freistellung der einem Dritten entstandenen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten im hiesigen Verfahren geltend zu machen.
81. Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seine erstinstanzlichen Klageanträge im Umfang der Abweisung weiter. Er ist der Ansicht, generell keine Nutzungsentschädigung zahlen zu müssen; dies ergebe der Vergleich zum Versicherungsvertragsrecht; im Übrigen sei deren Berechnung auf Basis von 300.000 km verfahrensfehlerhaft, insoweit habe es der Beweiserhebung durch Sachverständigengutachten bedurft. Weiter scheide eine Anrechnung der Nutzungsentschädigung ab dem Annahmeverzug der Beklagten aus. Der Annahmeverzug sei gegeben, weil die Beklagte gerichtsbekannt alle außergerichtlich geltend gemachten Ansprüche zurückweise, insoweit habe bereits vor dem Angebot der Rückübereignung eine Annahmeverweigerung der Beklagten vorgelegen, spätestens sei diese jedoch in der Antragsstellung auf Klageabweisung zu sehen. Nicht notwendig deshalb, aber gleichwohl aufgrund des Verzuges der Beklagten seien von ihr auch die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers zu erstatten.
9Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil
10- dahin teilweise abzuändern, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger 24.076,56 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 4 % p.a. seit 10.05.2013 bis zum 14.03.2019 und in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.03.2019 zu bezahlen, Zug-um-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des PKW Seat A Style 2.0 TDI, FIN: B;
11- weiter dahin abzuändern, dass festgestellt wird, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des vorgenannten Fahrzeugs im Annahmeverzug befindet;
12- weiter dahin abzuändern, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.430,38 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.03.2019 zu zahlen.
13Die Beklagte beantragt,
14die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
152. Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte ihren erstinstanzlichen Klageabweisungsantrag weiter. Sie wendet sich gegen die Verurteilung zu Schadenersatz dem Grunde nach, insbesondere weil es an einem Schaden fehle, gegen die lineare Berechnung des Nutzungsvorteils und die Zuerkennung von Deliktszinsen. Die erstinstanzlich erhobene Verjährungseinrede, die das Landgericht für nicht durchgreifend erachtet hat, hat sie nicht erneut geltend gemacht.
16Die Beklagte beantragt,
17das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass die Klage vollumfänglich abgewiesen wird.
18Der Kläger beantragt,
19die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
20Die Parteien haben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 14.08.2020 (Bl. 544 GA) einen km-Stand des PKW mit 62.989 unstreitig gestellt.
21II.
22Die wechselseitigen Berufungen sind zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt; in der Sache ist nur die Berufung der Beklagten in Bezug auf die dem Kläger erstinstanzlich zugesprochenen Deliktszinsen gemäß § 849 BGB sowie in der aufgrund fortdauernder Benutzung des PKW neu zu berechnenden Nutzungsentschädigung begründet; im Übrigen ist sie ebenso unbegründet wie diejenige Berufung des Klägers, dessen zulässige Klage nur im hier zugesprochenen Umfang des Schadenersatzanspruchs in der Hauptsache und in Bezug auf einen Teil der geltend gemachten Rechtshängigkeitszinsen begründet und im Übrigen unbegründet ist.
231. Dem Kläger steht gegen die Beklagte aus den §§ 826, 31 BGB ein Anspruch auf Schadenersatz nebst Zinsen wegen des Inverkehrbringens des von ihm gekauften PKW Seat A in Höhe des gezahlten Kaufpreises abzüglich Nutzungsersatzes und Zug-um-Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeuges zu. Weitergehende Ansprüche bestehen nicht.
24a) Die vom Landgericht angenommene Wertung, dass das Inverkehrbringen eines Fahrzeuges bzw. Motors mit manipulierter Motorsteuerungssoftware grundsätzlich geeignet ist, den Käufer konkludent zu täuschen, entspricht gefestigter Rechtsprechung des Senates (u.a. Senatsurteile vom, vom 05.07.2019 – 19 U 50/19, vom 06.09.2019 – 19 U 51/19, vom 04.10.2019 – 19 U 98/19, vom 06.03.2020 – 19 U 155/19, vom 13.03.2020 – 19 U 193/19, vom 29.05.2020 – 19 U 184/19, vom 29.05.2020 – 19 U 247/19, vom 05.06.2019 – 19 U 222/19 und vom 19.06.2020 – 19 U 273/19 sowie Senatsbeschlüsse vom 27.09.2019 – 19 U 150/19 und 06.03.2020 – 19 U 214/19, jeweils juris). Diese hat zwischenzeitlich höchstrichterliche Bestätigung gefunden (BGH, Urteil vom 25.05.2020, - VI ZR 252/19, juris; BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 367/19, juris). Die Voraussetzungen für eine Haftung der Beklagten liegen auch im vorliegend zur Entscheidung anstehenden Fall vor.
25Hinsichtlich des Vorliegens einer Täuschungshandlung der Beklagten, eines Schadens des Klägers und eines dazwischen bestehenden Kausalzusammenhangs sowie der weiteren Voraussetzungen für eine Haftung der Beklagten gemäß den §§ 826, 31 BGB wegen des Inverkehrbringens von Fahrzeugen, die vom sogenannten Abgasskandal betroffen sind, kann zunächst auf die Ausführungen in den vorgenannten Entscheidungen verwiesen werden, an denen der Senat auch in der für die vorliegende Entscheidung zuständigen Besetzung und unter Berücksichtigung der mit der Berufungsbegründung der Beklagten in Bezug genommenen anderweitigen Rechtsprechung weiterhin festhält.
26b) Die Grundsätze gelten auch für den hier streitgegenständlichen von dem Kläger erworbenen PKW Seat A Style 2,0 TDI, der mit einem Motor des Typs EA 189 ausgestattet ist.
27Es bedurfte und bedarf auch keiner Beweisaufnahme zur Frage des Kausalzusammenhangs zwischen dem Verschweigen der Umschaltlogik bei Kaufvertragsschluss und der Kaufentscheidung. Denn bei täuschendem oder manipulativem Verhalten ist es für die Darlegung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Täuschung und Abgabe der Willenserklärung ausreichend, dass der Getäuschte Umstände dartut, die für seinen Entschluss von Bedeutung sein konnten und nach der Lebenserfahrung bei der Art des zu beurteilenden Rechtsgeschäfts Einfluss auf die Entschließung gehabt haben können (vgl. etwa Senatsurteil vom 29.05.2020 – 19 U 184/19, juris). Davon ist vorliegend auszugehen. Denn es entspricht der Lebenserfahrung, dass der Kläger das Fahrzeug nicht gekauft hätte, wenn er gewusst hätte, dass es für die erforderliche Prüfung der Abgaswerte auf dem Prüfstand in einem anderen Modus betrieben wird als im Realbetrieb. Die Einhaltung von Emissionswerten ist für einen Käufer in mehrfacher Hinsicht bedeutsam, z.B. in Bezug auf Betriebserlaubnis, Kfz-Steuer, etwaige Fahrverbote bei Nichteinhaltung der Grenzwerte sowie Umweltfragen. Vor diesem Hintergrund widerspricht es der Lebenswirklichkeit, dass ein Käufer sich auf einen solchen Kauf und das damit verbundene unkalkulierbare Risiko einlässt. Unabhängig davon, in welchen Einzelheiten er sich über die Umweltfreundlichkeit seines Fahrzeugs beim Kauf Gedanken macht, hat der Käufer zumindest die berechtigte Erwartung, dass das gekaufte Fahrzeug die mit den Abgasnormen im Zusammenhang stehenden erforderlichen Prüfungen gemäß den gesetzlichen Bestimmungen bestanden hat und keine Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Typengenehmigung und der Betriebszulassung aufgrund einer verheimlichten Manipulation bestehen. Hierüber muss er sich auch keine ausdrücklichen Gedanken machen, weil dies jeder Kaufentscheidung immanent ist, sofern nicht auf den – nicht gesetzeskonformen – Aspekt hingewiesen wird, was auch die Beklagte nicht vorträgt.
28Hinsichtlich des Schadens des Klägers (in Gestalt des Abschlusses eines mit besonderen Nachteilen bzw. Risiken verbundenen Kaufvertrages), der Ursächlichkeit der Täuschungshandlung der Beklagten (in Gestalt des Inverkehrbringens des mit einer Manipulation der Motorsteuerung versehenen Fahrzeuges bzw. Motors) und der Zurechnung nach § 31BGB (unter Berücksichtigung einer sekundären Darlegungs- und Beweislast der Beklagten) bestehen vorliegend keine Besonderheiten gegenüber den eingangs genannten, vom Senat bereits entschiedenen Fällen. Entgegen dem von der Beklagten verfochtenen Standpunkt lässt auch die Durchführung des Software-Updates einen Schaden des Klägers nicht entfallen. Dies entspricht ebenfalls gefestigter Rechtsprechung des Senats. Insoweit kann uneingeschränkt auf den Hinweisbeschluss des Senates vom 27.09.2019 (Az.: 19 U 150/19, juris) verwiesen werden (siehe im Übrigen auch Senatsurteil vom 13.03.2020 – 19 U 193/19, juris; Senatsurteil vom 05.06.2020 – 19 U 261/19, n.v.; Senatsurteil vom 05.06.2019 – 19 U 222/19, juris; Senatsurteil vom 19.06.2020 – 273/19, juris).
29c) Im Hinblick auf die Benutzung des Fahrzeuges durch den Kläger ist der von der Beklagten geschuldete Zahlbetrag auf 19.021,37€ zu reduzieren. Die Berücksichtigung des Nutzungsersatzes erfolgt im Rahmen der Bemessung des Schadens, also im Wege der von Amts wegen zu berücksichtigenden und nicht von der Geltendmachung eines Gestaltungsrechtes abhängigen Anrechnung (vgl. Palandt/Grüneberg, Vorbem. vor § 249 BGB Rn. 71; § 387 BGB Rn. 2, jeweils m.w.N.).
30Was den Umfang der Reduzierung angeht, wendet der Senat im Rahmen des ihm nach § 287 ZPO zustehenden Schätzermessens die Methode der linearen Teilwertabschreibung an. Hierbei handelt es sich um eine anerkannte Methode zur Berechnung des Nutzungsersatzes (vgl. BGH, Urteil vom 30.06.2017 – V ZR 134/16, BGHZ 215, 157-170, juris, Rn. 26; Urteil vom 31.03.2006 – V ZR 51/05, BGHZ 167, 108-118, juris, Rn. 12 f.; OLG Schleswig, Urteil vom 31.01.2020 – 17 U 95/19, juris, Rn. 42; Kaiser in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2012, § 346 BGB, Rn. 256;), deren Anwendung der Senat - wie in vergleichbaren Fällen (Senatsurteil vom 05.06.2020 – 19 U 222/19, juris; Senatsurteil vom 05.06.2020 – 19 U 261/19, n.v.; Senatsurteil vom 19.06.2020 – 19 U 273/19, juris; zuletzt im Zusammenhang mit sog. „Abgasskandalfällen“ auch BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, juris; BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 354/19, juris) - auch unter Würdigung der Einwendungen der Parteien in der vorliegenden Konstellation als angemessen erachtet.
31Die zu erwartende Gesamtlaufleistung schätzt der Senat gem. § 287 BGB auf die vom Landgericht zugrunde gelegten 300.000 km, die von der Beklagten – ungeachtet ihrer grundsätzlichen Kritik an der linearen Betrachtungsweise – für sich genommen auch nicht in Abrede gestellt wird. Die Richtigkeit der Schätzung wird auch nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass einzelne Fahrzeuge aus dem Haus der Beklagten auch mit Laufleistungen über 300.000 km gehandelt werden. Da nicht bekannt ist, welche Laufleistung der konkrete Seat A erzielen wird, kann im Rahmen der Schätzung nach § 287 ZPO nur abstrakt darauf abgestellt werden, welche Laufleistungen vergleichbare, von der Beklagten hergestellte Fahrzeuge bzw. deren Motoren erzielen, es sei denn, es wären besondere Merkmale des vorliegenden Fahrzeuges bekannt oder vorgetragen, die eine Abweichung rechtfertigen würden. Daran fehlt es aber. Auch der Kläger trägt derartige konkrete Anhaltspunkte für die von ihm geforderte hilfsweise angenommene Laufleistung von mindestens 500.000 km nicht vor.
32Zugrunde zu legen ist der Berechnung der von den Parteien am Tag der mündlichen Verhandlung vom 14.08.2020 vor dem Senat unstreitig gestellte km-Stand von 62.989. Bei einer anzunehmenden Laufleistung von 300.000 km ergibt sich so ein in Abzug zu bringender Nutzungsersatz von 5.055,19 € (24.076,56 € x 62.989 gefahrener km / 300.000 km = 5.055,19), so dass aufgrund des Vorteilsausgleichs ein dem Kläger von der Beklagten zu ersetzender Schaden von 19.021,37 € verbleibt.
33d) Die Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf die Einrede der Verjährung nach § 214 Abs. 1 BGB berufen. Die Einrede ist zwar wirksam in erster Instanz erhoben worden; einer ausdrücklichen Wiederholung in der zweiten Instanz bedurfte es nicht (BGH, Urteil vom 15. Dezember 1988 - IX ZR 33/88; OLG Stuttgart, Urteil vom 14. April 2020 – 10 U 466/19, juris Rn. 37). Indes liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verjährung, für welche die Beklagte darlegungs- und beweispflichtig ist (Palandt/Ellenberger, 79. Aufl., Überbl. v. § 194 Rn. 24 m.w.N.), hier nicht vor.
34aa) Für Schadensersatzansprüche nach §§ 826, 31 BGB und nach § 831 BGB in Verbindung mit § 826 BGB gilt die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist nach § 195 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 24.07.2012 - II ZR 177/11, juris Rn. 14). Die Verjährungsfrist beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Anspruchsteller Kenntnis der den Anspruch begründenden Umständen sowie der Person des Schuldners hat oder die Kenntnis infolge grober Fahrlässigkeit nicht hat.
35bb) Hier hat die Verjährungsfrist frühestens mit Ablauf des 31.12.2016 zu laufen begonnen.
36(1) Einen Beweis dafür, dass der Kläger bereits im Jahr 2015 Kenntnis von der Betroffenheit des seines Fahrzeugs vom Dieselabgasskandal hatte, hat die Beklagte nicht angetreten. Eine solche Kenntnis kann erst aufgrund des Schreibens der Beklagten zur Notwendigkeit des Software-Updates von Juni 2016 angenommen werden.
37(2) Weiter kann anhand des Vortrags der Beklagten zu den bis Ende des Jahres 2015 bekannt gewordenen Informationen der allgemeinen Öffentlichkeit wie auch der Information der Vertragshändler und Servicepartner der Beklagten über den Umstand, dass Fahrzeuge mit dem Motortyp EA 189 über eine von der Beklagten „Umschaltlogik“ genannte Software zur Abgassteuerung verfügten, nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bereits im Jahre 2015 grob fahrlässig nicht wusste, dass sein Fahrzeug vom Dieselabgasskandal betroffen war und mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen war.
38Schon zu § 852 BGB a.F. hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass es der Kenntnis gleichsteht, wenn sich der Gläubiger diese in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen kann, so dass in diesem Fall die maßgebenden Umstände in dem Augenblick als bekannt gelten, in dem der Geschädigte auf die entsprechende Erkundigung hin die Kenntnis erhalten hätte (BGH, Urteil vom 14.10.2003 – VI ZR 379/02; BGH, Urteil vom 05.04.1976 – III ZR 69/74; BGH, Urteil vom 23.09.1975 – VI ZR 62/73; alle abrufbar unter juris). Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es der Gläubiger nicht in der Hand haben soll, einseitig die Verjährungsfrist dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer sich ihm aufdrängenden Kenntnis verschließt (BGH VersR 1985, 367), was aber nur dann der Fall sein soll, wenn es versäumt wurde, eine gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, so dass jeder andere unter denselben konkreten Umständen die Kenntnis gehabt hätte (BGH, Urteil vom 14.10.2003 – VI ZR 379/02; BGH, Urteil vom 08.10.2002 – VI ZR 182/01; BGH, Urteil vom 18.01.2000 – VI ZR 375/98; BGH, Urteil vom 16.12.1997 – VI ZR 408/96, alle abrufbar unter juris). Der Gläubiger muss dabei fahrlässige Nichtkenntnis hinsichtlich sämtlicher Tatsachen haben, derer er bedarf, um erfolgversprechend, wenn auch nicht risikolos, Klage gegen den Schuldner erheben zu können (BGH, Urteil vom 27.05.2008 – XI ZR 132/07; BGH, Urteil vom 14.10.2003 – VI ZR 379/02, beide abrufbar unter juris).
39Dem Senat sind aus einer Vielzahl von abgeschlossenen und anhängigen Verfahren gegen die Beklagte im Zusammenhang mit dem Abgasskandal die Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten vom 22.09.2015, die Pressemitteilung der Beklagten vom 28.09.2015, die Bereitstellung einer Internetrecherchemöglichkeit der Beklagten am 02.10.2015, der erste Rückruf von Dieselfahrzeugen der Beklagten auf Veranlassung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 15.10.2015 und die weitere Pressemitteilung der Beklagten vom 16.12.2015 bekannt. Die genannte Ad-hoc-Mitteilung beschränkte sich jedoch darauf, dass Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA 189 mit einem Gesamtvolumen von weltweit rund 11 Millionen Fahrzeugen "auffällig" seien. Welche Fahrzeugtypen konkret von welchen Unregelmäßigkeiten betroffen sein sollten, ließ die Ad-hoc-Mitteilung nicht erkennen. Überdies gibt es keinen Anlass zur Annahme, ein durchschnittlicher Kunde besitze Kenntnis über die vom Hersteller seines Kraftfahrzeuges verwendeten Motorenbezeichnungen. Daher war es den (potentiellen) Kunden in dem genannten Zeitraum kaum möglich, aufgrund der Informationen in der genannten Mitteilung Rückschlüsse auf ein konkretes Fahrzeug zu ziehen. Ebenso ließ sich der Ad-hoc-Mitteilung nicht entnehmen, welche technischen bzw. rechtlichen Konsequenzen sich aus den Manipulationen ergaben bzw. noch ergeben könnten (vgl. Senatsurteil vom 01.10.2019 – 19 U 98/19, abrufbar unter www.NRWE.de). Auch die Pressemitteilung der Beklagten vom 16.12.2015 lieferte den Eigentümern betroffener Fahrzeuge bzw. potentiellen Fahrzeugerwerbern noch keine hinreichenden konkreten Erkenntnisse. Vielmehr wurde weiter nur über eine im Motorentyp EA 189 eingebaute Software mit Berührung zur „NOx-Abgasthematik“ berichtet und eine Information betroffener Kunden angekündigt. Die Funktionsweise der Abgasrückführung und deren sich daraus ergebender sittenwidriger Charakter waren nicht ersichtlich. Vor allem jedoch war für die betroffenen Fahrzeugeigentümer und potentielle Fahrzeugerwerber im Jahr 2015 nicht vorhersehbar, ob die Beklagte verantwortliche Personen benennen würde, deren Handeln ihr weder nach § 31 BGB (analog) noch nach einer anderen Norm zugerechnet werden könnte. Weil dann die Darlegung bzw. der Nachweis eines Vorsatzes seitens eines Repräsentanten der Beklagten nicht möglich gewesen wäre, war eine Klagerhebung im Jahr 2015 – mangels hinreichend prognostizierbarer Erfolgsaussichten – noch nicht zumutbar.
402. Zutreffend hat das Landgericht auch die Begründetheit des Klageantrags auf Feststellung des Annahmeverzuges verneint, denn der Kläger hat weder vorgerichtlich noch im gerichtlichen Verfahren seine Leistung so angeboten, wie sie zu erbringen war. Der Kläger hat die Beklagte vorgerichtlich mit anwaltlichem Schreiben (K 11, Bl. 189 GA; ggf. drucktechnisch datiert auf „31.05.2019“, gemeint: 27.02.2019) ohne ausdrückliches Angebot zur Rückgabe des Fahrzeugs zur Zahlung eines Betrages von 32.200,00 € aufgefordert, obwohl der Kaufpreis des PKW lediglich 24.076,56 € betrug. Die von ihm zu leistende Nutzungsentschädigung hat er weder vorprozessual angeboten noch sich im gerichtlichen Verfahren zur Anrechnung bereit erklärt. Dadurch hat er die Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nicht zu den Bedingungen angeboten, von denen er sie im Hinblick auf den im Wege der Vorteilsausgleichung geschuldeten und vom Kaufpreis in Abzug zu bringenden Nutzungsersatz hätte abhängig machen dürfen. Er hat damit durchgängig die Zahlung eines deutlich höheren Betrags verlangt, als er hätte beanspruchen können. Ein zur Begründung von Annahmeverzug auf Seiten der Beklagten geeignetes Angebot ist unter diesen Umständen nicht gegeben (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, juris, Rn. 85 mwN).
413. Die Berufung der Beklagten ist auch insoweit begründet, als das Landgericht dem Kläger Deliktszinsen in Höhe von 4 % p.a. auf Zahlungsanspruch zugesprochen hat.
42An seiner bisherigen entgegenstehenden Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von § 849 BGB (vgl. OLG Köln, Urteil vom 06.03.2020 – 19 U 155/19, juris, Rn. 29-36) hält der Senat im Lichte der jüngsten höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 354/19, juris, Rn. 17-20) nicht mehr fest.
43Nach § 849 BGB kann der Verletzte, sofern wegen der Entziehung einer Sache der Wert oder wegen der Beschädigung einer Sache die Wertminderung zu ersetzen ist, Zinsen des zu ersetzenden Betrages von dem Zeitpunkt an verlangen, welcher der Bestimmung des Wertes zugrunde gelegt wird. § 849 BGB erfasst dabei jeden Sachverlust durch ein Delikt.
44§ 849 BGB ist auch auf den Fall der Entziehung eines nicht in Gestalt von Bargeld verkörperten Geldbetrages anwendbar (so für den Fall der Veranlassung einer Überweisung: BGH, Versäumnisurteil vom 26.11.2007 – II ZR 167/06, Rn. 4, juris). Ferner ist auch dann eine Entziehung anzunehmen, wenn der Schädiger den Geschädigten durch eine unerlaubte Handlung wie beim Betrug oder der Erpressung dazu bestimmt, eine Sache wegzugeben oder darüber zu verfügen (BGH, a. a. O. sowie: Urteil vom 24.01.2017 – KZR 47/14, juris, Rn. 54; Urteil vom 12.06.2018 – KZR 56/16, juris, Rn. 45).
45Vorliegend steht der Anwendung von § 849 BGB allerdings entgegen, dass der Kläger als Gegenleistung für die Hingabe des Kaufpreises ein in tatsächlicher Hinsicht voll nutzbares Fahrzeug erhielt. In dieser Konstellation entspräche eine Verzinsung gemäß § 849 BGB nicht dem Normzweck, sondern würde zu einer Überkompensation führen (BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 354/19, juris, Rn. 19 - 20). Die Situation ist insoweit anders als in Kapitalanlagefällen, da hier die Weggabe des Geldes zur Erzielung einer Rendite erfolgt (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 26.11.2007 - II ZR 167/06, juris, Rn. 4; Urteil vom 15.11.2011 - XI ZR 54/09, juris, Rn. 65).
464. Auch ein Anspruch auf Zinsen aus Gründen des Schuldnerverzugs hinsichtlich der Kaufpreiserstattung (§ 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB) besteht nicht, weil der Schuldner nur in Verzug geraten kann, wenn der Gläubiger die ihm obliegende Gegenleistung ordnungsgemäß anbietet (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, juris, Rn. 86 mwN), woran es hier fehlt. Insbesondere war das Aufforderungsschreiben vom 27.02.2019 nicht verzugsauslösend, weil es ein ordnungsgemäßes Angebot der Gegenleistung nicht enthielt; insoweit wird auf die Ausführungen zum Annahmeverzug Bezug genommen.
475. Allerdings war das Urteil des Landgerichts zugunsten des Klägers insoweit abzuändern, als dass Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (hier: Zustellung der Klage am 02.07.2019, Zinspflicht beginnt gemäß § 187 Abs. 1 BGB am 03.07.2019) gemäß §§ 291, 288 BGB zu zahlen sind.
48a) Entgegen der Annahme des Landgerichts hindert der Umstand, dass der Kläger den Ersatz des vollen Kaufpreises ohne Anrechnung der Vorteilsgewährung begehrt, nicht zugleich auch die Fälligkeit des ihm zustehenden Schadenersatzanspruchs und damit die Gewährung von Rechtshängigkeitszinsen nach § 291 BGB. Anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Landgericht zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs mit Urteil vom 14.01.1971 (VII ZR 3/69, NJW 1971, 615), denn dort beruhte die fehlende Fälligkeit des Zinsanspruches (§ 291 S. 1 Halbs. 2 BGB) auf einem wirksam vom Schuldner geltend gemachten Zurückbehaltungsrecht. In Konstellationen wie der hier vorliegenden ist die Schadensersatzforderung jedoch bereits bei Klageerhebung fällig und durchsetzbar gewesen. Dem Schuldner steht ein den Anspruch auf Prozesszinsen nach § 291 Satz 1 BGB ausschließendes Leistungsverweigerungsrecht nämlich nicht zu, wenn die Zug-um-Zug-Verurteilung nicht auf einem Gegenanspruch des Schuldners, sondern allein darauf beruht, dass der Schadensersatzanspruch des Gläubigers in seinem Umfang beschränkt ist, weil der Geschädigte nicht zugleich Schadensersatz verlangen und die mit dem schädigenden Ereignis im inneren Zusammenhang stehenden Vorteile behalten darf. Ist die Pflicht zur Herausgabe einer Sache an den Schädiger lediglich Folge des im Vorteilsausgleich zum Ausdruck kommenden schadensersatzrechtlichen Bereicherungsverbots, ist der Schadensersatzanspruch des Gläubigers in seinem Umfang zwar von vorneherein beschränkt, insoweit aber fällig, durchsetzbar und daher auch nach § 291 BGB zu verzinsen (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 21.10.2004 - III ZR 323/03, juris Rn. 6 f.; BGH, Urteil vom 25.01.2013 - V ZR 118/11, juris Rn. 11). Dem Anspruch auf Prozesszinsen steht auch nicht entgegen, dass der Kläger den Abzug von der Klageforderung für gezogene Nutzungen nicht beziffert oder die für die Bezifferung maßgeblichen Tatsachen in der Klageschrift nicht angegeben oder nicht zutreffend berücksichtigt hat, denn dem grundsätzlichen Erfordernis des bezifferten Anspruchs wird dadurch genügt, dass die Maximalforderung beziffert wurde und lediglich die Abzugsposition unbeziffert geblieben ist. Auch sonst findet bei einer Zuvielforderung im Klageantrag § 291 BGB auf den tatsächlich geschuldeten Betrag uneingeschränkt Anwendung (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 24.07.2020 – 13 U 999/19, Rn. 86 mwN).
49b) Hinsichtlich des Zeitraums bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht ist der Schadensersatzbetrag für die Verzinsung maßgebend, der zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht (30.09.2019) begründet war. Die Laufleistung betrug zum damaligen Zeitpunkt unstreitig 56.084 km, so dass zunächst Rechtshängigkeitszinsen auf den sich damals ergebenden Schadenersatzbetrag von 19.576,00 € zu zahlen sind. Für den Zeitraum danach (ab 01.10.2019) ist die weitere Nutzung des Fahrzeugs und die im Hinblick auf die Vorteilsausgleichung damit einhergehende Reduzierung der zu verzinsenden Schadensersatzforderung zu berücksichtigen, so dass der auf der Basis des in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Senat unstreitigen km-Standes berechnete Schadensersatzbetrag in Höhe von 19.021,37 € in Bezug auf die Rechtshängigkeitszinsen zugrunde zu legen ist.
50c) Weitergehende Prozesszinsen konnten nicht zugesprochen werden, weil es an Klägervortrag dazu fehlt, ob und in welcher Höhe unter Berücksichtigung der anzurechnenden Nutzungsvorteile bei Eintritt der Rechtshängigkeit eine verzinsliche Hauptforderung bestand und wie sich diese im Laufe des Verfahrens angesichts der fortlaufenden Nutzung des Fahrzeugs gegebenenfalls entwickelte (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 354/19, juris, Rn. 23).
516. Zutreffend hat das Landgericht den weiteren vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.430,38 € nebst Zinsen verneint. Hinsichtlich dieser grundsätzlich gemäß §§ 826, 249 ff. BGB ersatzfähigen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten - deren Gegenstandswert der Höhe nach anhand der letztlich berechtigten Schadenersatzforderung zu bemessen ist (vgl. BGH, Urteil vom 18.07.2017 - VI ZR 465/16) - verbleibt es bei der Abweisung gemäß dem angefochtenen Urteil, denn es fehlte es schon in erster Instanz an jedweden Ausführungen zum Vorliegen und zur Berechnung des behaupteten Schadens, so dass ein etwaiger Anspruch bereits nicht schlüssig dargelegt ist. Dies gilt erst recht im Hinblick auf das Bestreiten der Beklagten auch in Bezug auf die die Schwelle von 1,3 Geschäftsgebühr überschreitende Höhe (Bl. 264 GA). Trotz entsprechender Ausführungen im angefochtenen Urteil hat der Kläger auch in der Berufung (Bl. 480 GA) nichts zu einer Kostenberechnung und deren Ausgleich durch den Kläger vorgetragen. Dahin stehen kann deshalb, ob die weiteren Erwägungen des Landgerichts, die geltend gemachten Rechtsanwalts-Kosten seien mutmaßlich ohnehin solche der Rechtsschutzversicherung, ohne weitere Anhaltspunkte tragfähig sind.
52III.
531. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1 Alt. 2, 97 Abs. 1 ZPO. Die Berufung des Klägers ist im Sinne des § 97 Abs. 1 ZPO insgesamt erfolglos geblieben; die zugesprochenen Rechtshängigkeitszinsen als Nebenforderung führen nicht zu einem Teilerfolg im Rechtssinne. Bei der Kostenquotelung im Übrigen war im Hinblick darauf, dass der Kläger erst- und zweitinstanzlich auch (Delikts-) Zinsen in Höhe 4 % auf den Kaufpreis und Rechtsanwaltskosten geltend gemacht hat, ihm indes nur Rechtshängigkeitszinsen zuzusprechen waren, ein fiktiver Streitwert von rund 29.206,00 € (bestehend aus geltend gemachter Hauptforderung in Höhe von 24.076,56 €, Deliktszinsen von rund 3.700,00 € und Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.430,38 €) zu bilden und dies bei der Bildung der Kostenquote zu berücksichtigen, denn der Anteil der erfolglos gebliebenen Nebenforderungen betrug mit etwa 5.130,00 € mehr als 10 % des fiktiven Streitwerts (zum Teilunterliegen mit Nebenforderungen vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 30.06.2020 – 3 U 123/20, juris; Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl., § 92 Rn. 11).
542. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 711, 709 S. 2 ZPO.
55IV.
56Die Revision wird gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 ZPO zugelassen. In der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte wird die Frage des Verjährung von Schadenersatzansprüchen im Zusammenhang mit den sogenannten „Abgaskandalfällen“ mit Ablauf des 31.12.2018 unter dem Aspekt der Zumutbarkeit der Klageerhebung aufgrund der bis zum Ende des Jahres 2015 bekanntgewordenen Informationen kontrovers beurteilt (verneinend etwa OLG Karlsruhe, Urteil 24.07.2020 – 13 U 999/19, juris; OLG Köln, (Senats-)Urteil vom 19.06.2020 – 19 U 273/19, juris; bejahend OLG Stuttgart, Urteil vom 14.04.2020 – 10 U 466/19, juris), wobei teils weiter danach differenziert wird, ob die Motoren- und Fahrzeughersteller identisch sind (vgl. OLG Koblenz Urteile vom 30.06.2020 – 3 U 1785/19; - 3 U 1869/19; - 3 U 123/20 - alle in juris - ). Die Rechtsfrage ist für zahlreiche andere rechtshängige Verfahren relevant und hat grundsätzliche Bedeutung.
57V.
58Der Gebührenstreitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 47 Abs. 1 S. 1, 45 Abs. 2 iVm Abs. 1 S. 3 GKG auf bis 24.076,56 € festgesetzt (entsprechend dem Berufungsantrag des Klägers, der in der Hauptsache durch das angefochtene Urteil mit 4.500,56 € beschwert ist, während die Beschwer der Beklagten 19.576,00 € beträgt. Durch dieses Berufungsurteil ist der Kläger mit rund 10.200,00 €, die Beklagte mit 19.021,37 € beschwert).
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Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 7.500,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 25.05.2019 sowie weitere 729,23 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 11.07.2019 zu zahlen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 7.500,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung, wonach die Beklagte eine Sofortleistung in Höhe von 7.500 € bei schweren Erkrankungen zahlt.
2
Der Zeuge ..., als Vertreter der Beklagten, beriet den Kläger am 04.05.2018 in dessen privaten Wohnräumen über den Abschluss einer privaten Unfallversicherung. Er erläuterte unter Vorlage eines elfseitigen Prospekts (K1) unter anderem das Versicherungspaket EXTRA-PLUS, das er dem Kläger anbot. Seite 9 unten des Prospekts war versehen mit einem Hinweis, dass für den Leistungsumfang die allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUB) in der zum Zeitpunkt des Versicherungsbeginns neuesten Fassung maßgeblich seien. Bei diesem Gespräch erhielt der Kläger die AUB nicht. Zum Zeitpunkt des Beratungsgespräches litt der Kläger nicht unter einer schweren Erkrankung.
3
Mit Schreiben vom 08.05.2018 übersandte die Beklagte dem Kläger ein Beratungsprotokoll über das Gespräch vom 04.05.2018 (K2) und teilte diesem mit, dass darin Hinweise zum Gesprächsinhalt enthalten seien und der Kläger vorbehaltlich des Ergebnisses einer noch vorzunehmenden Prüfung in den nächsten Tagen bzw. rechtzeitig zum Versicherungsbeginn seinen Versicherungsschein erhalten werde. Dem Beratungsprotokoll ist zu entnehmen, dass sich der Kläger unter anderem für das EXTRA-PLUS-Paket entschieden habe.
4
Mit einem zweiten Schreiben vom 08.05.2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass dieser ab dem 14.07.2018 Versicherungsschutz habe und wies darauf hin, dass der Umfang des Versicherungsschutzes sowie Rechte und Pflichten in den Verbraucherinformationen und dem Versicherungsschein beschrieben seien, den sie rechtzeitig ausstellen und an den Kläger zuschicken werde.
5
Einige Tage nach dem 08.05.2018 erhielt der Kläger ein drittes Schreiben der Beklagten vom 08.05.2018, mit dem diese dem Kläger die für den Vertrag gültigen Verbraucherinformationen U 500 Ausgabe 08/2017 übersandte. Sie wies darauf hin, dass darin neben den Vertragsbedingungen Hinweise zum Vertrag und vieles mehr zu finden seien.
6
Unter dem 25.06.2018 erstellte die Beklagte den Versicherungsschein (K4) und übersandte diesen an den Kläger. Dem Versicherungsschein ist zu entnehmen, dass die Beklagte bei schweren Erkrankungen eine Sofortleistung in Höhe von 7.500 € zahlt.
7
Nach A.3.1.1 der besonderen Bedingungen für die Unfallversicherung mit EXTRA-PLUS-Leistungen für Erwachsene zahlt die Beklagte eine Sofortleistung allerdings nur bei Eintritt der folgenden Erkrankungen:„a) Akuter Myokardinfarkt (Herzinfarkt)b) Krankheiten des zerobrovaskulären Systems (Schlaganfälle)c) Bösartige Neubildung der weiblichen Brustdrüse (bei weiblichen versicherten Personen)d) Bösartige Neubildung des Hodens (bei männlichen versicherten Personen)e) Organtransplantation.“
8
Im Januar 2019 erlitt der Kläger zwei Hörstürze, im Anschluss traten ein Tinnitus und Schwindel auf. Auf Veranlassung eines HNO-Arztes wurde am 18.02.2019 in der Radiologischen Gemeinschaftspraxis ... ein MRT erstellt, wobei im rechten Bereich eine Raumforderung im inneren Gehörgang rechts erkannt wurde.
9
Am 26.02.2019 fragte der Klägerin den Zeugen ... über Whattsapp, ob er eine Unfallversicherung habe und ob sich der Baustein schwere Erkrankung „alles auf Unfall“ beziehe. Der Zeuge ... schrieb per Whattsapp an demselben Tag zurück und teilte dem Kläger mit, dass Erkrankungen „on top“ seien, allerdings nur bestimmte. Daraufhin warf der Kläger einen Blick in die Versicherungsbedingungen.
10
Am 10.04.2019 wurde bei dem Kläger ein Vestibularischwannom T2 rechts diagnostiziert. Dabei handelt es sich um einen langsam wachsenden gutartigen Tumor des 8. Hirnnervs, in der Regel vom Gleichgewichtsnerv ausgehend, umgangssprachlich als Hirntumor zu bezeichnen.
11
Am 29.04.2019 meldete sich der Kläger telefonisch in der Schadensabteilung der Beklagten und berichtete über seine aktuelle schwere Erkrankung. Ein Mitarbeiter der Beklagten teilte dem Kläger mit, dass ein Hirntumor nicht als schwere Erkrankung anzusehen sei.
12
Mit anwaltlichem Schreiben vom 10.05.2019 forderte der Kläger die Beklagte zur Zahlung von 7.500 € sowie vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 729,23 € bis zum 24.05.2019 auf (K5). Mit Schreiben vom 17.05.2019 wies die Beklagte den Anspruch des Klägers zurück (K6).
13
Der Kläger behauptet, er habe während des Gespräches mit dem Zeugen ... diesen ausdrücklich gefragt, ob hier wirklich alle schweren Erkrankungen vom Leistungsumfang umfasst seien, was der Zeuge ... ausdrücklich bestätigt habe. Dieser habe das Spektrum der schweren Erkrankungen in keiner Form eingegrenzt. Aufgrund der Aussage des Zeugen habe er sich dazu entschlossen, den Baustein abzuschließen. Der Zeuge habe für das EXTRA-PLUS Paket damit geworben, dass keine andere Versicherung in Deutschland diesen Schutz so anbiete. Er habe betont, dass die Beklagte sofort zahlen würde, wenn man schwer erkranke oder verletzt sei. Er habe noch einmal ausdrücklich nachgefragt, ob alle schweren Erkrankungen oder Verletzungen versichert seien, woraufhin der Zeuge erklärt habe, ja, die ... zahle bei allen schweren Erkrankungen und schweren Verletzungen anstandslos. Auf ausdrückliche Nachfrage hin habe der Zeuge erklärt, dass es insoweit keinerlei Einschränkungen gebe. Seine Erkenntnis darüber, dass nur bestimmte Erkrankungen vereinbart worden seien, habe sich erst Monate nach Vertragsschluss ergeben.
14
Der Kläger beantragt,
15
1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.500 € zuzüglich Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25.05.2019 zu zahlen,
16
2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn außergerichtliche Rechtsanwaltskosten i.H.v. 729,23 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
17
Die Beklagte beantragt,
18
die Klage abzuweisen.
19
Die Beklagte behauptet, sie habe dem Kläger mit ihrem dritten Schreiben vom 08.05.2018 die AUB übersandt. Der Zeuge ... habe bei dem Beratungsgespräch ausdrücklich erklärt, dass nur bestimmte in den Versicherungsbedingungen bezeichnete Erkrankungen im Zuge der Erbringung einer Sofortleistung versichert seien. Der Kläger habe dem Zeugen per Whattsapp-Nachricht mitgeteilt, dass ihm bekannt sei, dass seine Erkrankung nicht unter den Versicherungsschutz falle.
20
Die Klage ist der Beklagten am 10.07.2019 zugestellt worden. Das Gericht hat im Termin vom 03.07.2020 den Kläger persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen .... Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf das Sitzungsprotokoll vom 03.07.2020.
21
Mit Zustimmung der Parteien hat das Gericht am 20.08.2020 beschlossen, dass ohne mündliche Verhandlung entschieden wird und als Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht und bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, den 11.09.2020 bestimmt.
22
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
23
Die zulässige Klage ist begründet.
24
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung von 7.500 € gegen die Beklagte aus dem mit dieser geschlossenen privaten Unfallversicherung.
25
Nach dem Vertrag hat die Beklagte sich verpflichtet, bei schweren Erkrankungen eine Sofortleistung in Höhe von 7.500 € zu erbringen. Dies folgt aus dem Versicherungsschein der Beklagten vom 25.06.2018. Danach leistet diese eine Sofortzahlung in Höhe von 7.500 € bei schwere Erkrankungen. Der Hirntumor des Klägers ist eine schwere Erkrankung.
26
Ob die AUB nach § 305 BGB Vertragsbestandteil geworden sind, kann dahinstehen. Denn die darin für den vorliegenden Fall relevante Klausel unter A.3.1.1 der besonderen Bedingungen für die Unfallversicherung mit EXTRA-PLUS-Leistungen für Erwachsene, auf die sich die Beklagte beruft und wonach schwere Erkrankungen lediglich ein Herzinfarkt, Schlaganfall, bösartige Neubildungen an der Brustdrüse oder des Hodens und eine Organtransplantation sind, ist überraschend i.S.d. § 305c Abs. 1 BGB und damit - eine wirksame Einbeziehung der AUB der Beklagten einmal unterstellt - nicht Vertragsbestandteil geworden.
27
Nach § 305c Abs. 1 BGB werden Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, die nach den Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags, so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht, nicht Vertragsbestandteil. Der Kunde muss darauf vertrauen dürfen, dass sich AGB im Rahmen dessen halten, was bei Würdigung aller Umstände bei Verträgen dieser Art zu erwarten ist (Köln NJW 06, 3358). Gehen AGB über diese Grenze hinaus, werden sie als überraschende Klauseln von der Einbeziehung nicht erfasst und nicht Vertragsinhalt (Grüneberg, in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, § 305c Rn. 2). Es muss sich um eine objektiv ungewöhnliche Klausel handeln. Ob das der Fall ist, ist nach den Gesamtumständen zu beurteilen. Die Ungewöhnlichkeit kann sich aus der Unvereinbarkeit mit dem Leitbild des Vertrages, der Höhe des Entgelts, einem Widerspruch zum Verlauf der Vertragsverhandlungen oder von den üblichen Vertragsbedingungen, aber auch aus der Unvereinbarkeit mit dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrages ergeben (a. a. O. Rn. 3).
28
Zu dem empirischen Tatbestandsmerkmal „ungewöhnlich“ muss als zweite normative Voraussetzung hinzukommen, dass der andere Teil mit der Klausel nicht zu rechnen braucht (BGH NJW 13, 1803). Die Erwartungen des Vertragspartners werden dabei von allgemeinen und von individuellen Begleitumständen des Vertragsschlusses bestimmt. Zu den Erwartungen des Kunden und dem Klauselinhalt muss eine Diskrepanz bestehen (BGH 84, 113; 130, 19/25; NJW-RR 14, 937); der Klausel muss ein Überrumpelungs- oder Übertölpelungseffekt innewohnen (BGH 100, 85; NJW 90, 577; NJW-RR 17, 501). Ob die Klausel überraschend ist, beurteilt sich in der Regel nach den Erkenntnismöglichkeiten des typischerweise zu erwartenden Durchschnittskunden (BGH 101, 33; NJW-RR 12, 1261).
29
Die Prüfung nach § 305c Abs. 1 BGB erfolgt in drei Schritten. Zunächst ist festzustellen, welche Vorstellungen und Erwartungen der Kunde vom Inhalt des abgeschlossenen Vertrages nach den Umständen hatte und haben durfte. Sodann ist der Inhalt der streitigen AGB-Klausel zu ermitteln. Schließlich ist zu fragen, ob die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen des Kunden und dem Inhalt der AGB-Klausel so groß ist, dass sich die Annahme rechtfertigt, es handele sich um eine „überraschende“ Klausel i.S.d. § 305c Abs. 1 BGB (Basedwo, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 305c Rn. 6).
30
Für die Frage, welche Vorstellungen und Erwartungen der Kunde vom Inhalt des Vertrages hatte und haben durfte, kommt es auf die gesamten, bei Vertragsschluss obwaltenden Umstände an. Maßgeblich ist also nicht nur der Inhalt des ausdrücklich Vereinbarten und der vorausgegangenen Verhandlungen, sondern auch der Eindruck, den der Kunde nach der (z. B. im Internetauftritt oder in Prospekten enthaltenen) Werbung des Verwenders, nach seinem äußeren Auftreten sowie nach dem „äußeren Erscheinungsbild des Vertrages“, d. h. auf Grund der Aufmachung, der drucktechnischen Anordnung und des Schriftbildes der von dem Verwender vorgelegten Urkunden von dem zu erwartenden Vertragsinhalt gewinnen konnte. Dabei kommt es grundsätzlich auf die Vorstellungen und Erwartungen an, die ein redlicher Kunde von durchschnittlicher Geschäftserfahrung, Aufmerksamkeit und Umsicht sich vom Inhalt des Vertrages auf Grund der genannten Umstände gebildet hätte; ungewöhnliche Erwartungen, die gerade nur der in Rede stehende Kunde auf Grund besonderer persönlicher Erfahrungen oder Vorstellungen mit dem Vertragsinhalt verknüpft, verdienen nicht den Vertrauensschutz, der durch § 305c Abs. 1 BGB gewährleistet werden soll (a. a. O. Rn. 7).
31
Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, ist die Klausel in A.3.1.1. der besonderen Bedingungen für die Unfallversicherung mit EXTRA-PLUS-Leistungen für Erwachsene überraschend. Dem Kläger wurde unter Vorlage des elfseitigen Prospekts der Beklagten dargelegt, dass bei dem Auftreten einer schweren Erkrankung eine Leistung in Höhe von 7.500,00 € sofort gezahlt werden würde. Dies ergab sich aus Seite 9 des Prospekts. Hiernach bestand das EXTRA-PLUS-Paket aus einer Sofortleistung bei schweren Erkrankungen. Darin ist kein Hinweis enthalten, dass lediglich bestimmte schwere Erkrankungen vom Vertragsschutz umfasst sind. Eine Einschränkung, dass davon ein Hirntumor nicht umfasst sein würde, ist darin nicht zu finden. Auch sind dort nicht etwa exemplarisch bestimmte schwere Erkrankungen aufgeführt, was den Eindruck vermittelt hätte, es seien nicht alle schweren Erkrankungen vom Leistungsumfang erfasst. An dem Eindruck, dass eine Sofortleistung bei schweren Erkrankungen ohne Einschränkung gezahlt wird, ändert auch der Hinweis auf Seite 9 ganz unten des Prospekts nichts, dass für den Leistungsumfang die allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUB) maßgeblich seien. Zum einen geht dieser Hinweis im Vergleich zum übrigen Textinhalt auf Seite 9 aufgrund des Umstandes, dass der Hinweistext eine kleinere Textgröße aufweist und sich ganz unten auf der Seite befindet, neben den übrigen Angaben unter. Zum anderen ergibt sich aus diesem Hinweis unmittelbar auch keine Beschränkung in Bezug auf schwere Erkrankungen, sondern es hätte einen Blick in die besonderen Bedingungen bedurft, die dem Kläger vorliegend zum Zeitpunkt des Beratungsgespräches mit dem Zeugen ... nicht vorlagen und von dem Zeugen nicht an den Kläger überreicht worden waren. Hinzu kommt, dass unter Berücksichtigung des weiteren Inhalts der Seite 9 zu erwarten gewesen wäre, dass eine Einschränkung hinsichtlich der schweren Erkrankungen - so sie denn gewollt war - unter dem Baustein der EXTRA-PLUS-Leistungen mit aufgenommen worden wäre. Denn bei den weiteren von dem Baustein EXTRA-PLUS umfassten Leistungen sind jeweils die vom Versicherungsschutz umfassten Erkrankungen genau bezeichnet. So leistet die Beklagte laut des EXTRA-PLUS-Bausteins neben der Sofortleistung bei Schwerstverletzungen und schweren Erkrankungen unter anderem 250 € Schmerzensgeld bei Knochenfraktur. Ferner ist danach ein Unfall durch Herzinfarkt oder Schlaganfall und ein Zeckenbiss (FSME und Borreliose) vom Versicherungsschutz umfasst. Ein durchschnittlicher Kunde durfte vor diesem Hintergrund erwarten, dass bei der Sofortleistung von 7.500 € etwaige Einschränkungen ebenfalls genau bezeichnet und aufgeführt worden wären. Da es an einer Einschränkung in Bezug auf die Sofortleistung bei schweren Erkrankungen gänzlich fehlt, muss ein durchschnittlicher Kunde mit einer sich aus A.3.1.1 der besonderen Bedingungen für die Unfallversicherung mit EXTRA-PLUS-Leistungen für Erwachsene ergebenden Einschränkung dahingehend, dass lediglich Herzinfarkt, Schlaganfall, bösartige Neubildungen der Brustdrüse oder des Hodens und eine Organtransplantation, vom Versicherungsschutz umfasst sind, nicht rechnen. Aus dem weiteren Umstand, dass der Zeuge ..., einmal als bewiesen unterstellt, den Kläger im Zuge des Beratungsgespräches vom 04.05.2018 mitgeteilt hat, dass nur bestimmte schwere Erkrankungen vom Leistungsumfang umfasst seien, ergibt sich unter Würdigung aller Umstände für den vorliegenden Fall nichts anderes. Denn auch bei einem solchen Hinweis durfte der Kläger erwarten, dass jedenfalls die streitgegenständliche Tumorerkrankung im Gehirn eine schwere Erkrankung im Sinne des Versicherungsvertrages darstellt. Der Kläger hatte auch keine Veranlassung, nach dem vom Zeugen ... als wahr unterstellten, erteilten Hinweis nachzufragen, welche bestimmten schweren Erkrankungen denn dann abgesichert sind. Denn jedenfalls mit einer Einbeziehung einer Tumorerkrankung im Gehirn durfte der Kläger rechnen. Auch unter Berücksichtigung des an den Kläger vor Zustandekommen des Vertrages übersandten Beratungsprotokolls zum Unfall-Antrag des Klägers vom 04.05.2018 musste bei diesem kein anderer Eindruck entstehen. Denn darin sind ebenfalls keinerlei Einschränkungen in Bezug auf die Sofortleistung bei schweren Erkrankungen enthalten. Daraus ergibt sich noch nicht einmal, welchen Inhalt das EXTRA-PLUS-Paket hat. Aus dem Beratungsprotokoll folgt schlicht, dass sich der Kläger unter anderem für das EXTRA-PLUS-Paket entschieden habe.
32
Der Zinsanspruch auf die Hauptforderung folgt aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 Abs. 1 BGB. Mit Ablauf der mit Schreiben vom 10.05.2019 gesetzten Zahlungsfrist (24.05.2019) ist die Beklagte in Verzug geraten. Denn die Leistung der Beklagten war nach dem hier maßgeblichen Versicherungsschein vom 25.06.2018 sofort fällig, d. h. mit Auftreten der schweren Erkrankung.
33
Der Anspruch auf vorgerichtliche Anwaltskosten i.H.v. 729,23 € folgt aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 281 Abs. 1 BGB, der Zinsanspruch hieraus aus § 291 BGB.
34
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO.
35
Die Streitwertentscheidung folgt aus §§ 40, GKG, 3, 4, ZPO.
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Tenor
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe
2Der sinngemäße Antrag der Antragstellerin,
3den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Korrektur der Klausur vom 01.09.2020 frühzeitig vorzunehmen,
4hat keinen Erfolg.
5Der Antrag im Sinne von § 123 VwGO ist – ungeachtet der Zulässigkeit – nicht begründet. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Antragstellerin muss zum einen als Anordnungsanspruch glaubhaft machen, dass das behauptete subjektive Recht besteht; zum anderen muss sie als Anordnungsgrund die Dringlichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes wegen einer drohenden Gefahr für die Rechtsausübung glaubhaft machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Eine endgültige Entscheidung, die die Hauptsache vorwegnimmt, ist im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn der Erfolg der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist und das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte. Dabei ist dem jeweils betroffenen Grundrecht und den Erfordernissen eines effektiven Rechts-schutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) Rechnung zu tragen.
6Die Antragstellerin hat jedenfalls einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Sie erstrebt mit ihrem Begehren auf Bewertung der Klausur vom 01.09.2020 eine Vorwegnahme der Hauptsache.
7Vgl. zur Vorwegnahme der Hauptsache im Falle der „vorläufigen“ Neubewertung etwa OVG NRW, Beschluss vom 31.08.2000 – 14 B 634/00 –, juris, Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2010 – 10 M 13/09 –, juris, Rn. 3, jeweils m. w. N.
8Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache kommt nur dann in Betracht, wenn besondere Gründe gegeben sind, die es als unzumutbar erscheinen lassen, die Antragstellerin zur Durchsetzung ihres Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Diese muss glaubhaft machen, dass ihr ohne die Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht (mehr) in der Lage wäre. Das ist dann nicht der Fall, wenn weder mit der Gefahr des Verlustes speziellen Prüfungswissens noch mit einem Hinausschieben der späteren Berufstätigkeit auf „ungewisse Zeit“ zu rechnen ist. Das zu vermeiden dient der einstweilige Rechtsschutz im Prüfungswesen.
9Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.01.2008 – 14 B 1888/07 –, juris, Rn. 6.
10Anders als bei mündlichen Prüfungen, bei denen bereits vor Durchführung des grundsätzlich notwendigen Widerspruchs- und Überdenkungsverfahrens aufgrund der drohenden Gefahr des Untergangs eines etwaigen Neubewertungsanspruchs wegen Unmöglichkeit der Neubewertung in Folge der sich durch den Zeitablauf verflüchtigenden Erinnerungen der Prüfer ein erhöhtes Bedürfnis an einer im Wege der einstweiligen Anordnung durchzusetzenden, raschen Neubewertung besteht,
11vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.04.1996 – 6 B 13.96 –, juris, Rn. 14; OVG NRW, Urteil vom 27.10.1995 – 19 A 4947/94 –, juris; OVG Schleswig, Urteil vom 03.09.1992 – 3 L 380/91 –, juris,
12ist die Neubewertung schriftlicher Prüfungsleistungen regelmäßig nach Durchführung eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens möglich. Einem Antragsteller drohen hierdurch regelmäßig auch keine unzumutbaren Nachteile, da seine rechtlichen Interessen im Falle des Vorliegens der dafür erforderlichen Voraussetzungen grundsätzlich durch eine einstweilige Zulassung zu weiteren Lehrveranstaltungen oder Studien- und Prüfungsleistungen gesichert werden können.
13Vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 20.03.1990 – 9 S 601/90 –, und vom 28.12.1992 – 9 S 2520/92 –, juris.
14Die Notwendigkeit, sich einer Wiederholungsprüfung zu unterziehen, bedeutet in der Regel keinen wesentlichen Nachteil.
15Vgl. Fischer, in: Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 908.
16So liegt der Fall hier. Der Antragstellerin steht unstreitig die Möglichkeit zur Wiederholung der Klausur am 28.09.2020 zur Verfügung. Ihr drohen deshalb keine Nachteile von solchem Gewicht, dass eine vorläufige Bewertung der Klausur vom 01.09.2020 geboten ist. Denn mit der begehrten (vorläufigen) Bewertung verfolgt die Antragstellerin das Ziel, sich wegen der bereits absolvierten Prüfungsleistung nicht erneut der Klausurvorbereitung aussetzen zu müssen. Dies kann einem Verweis auf die Wiederholungsprüfung aber selbst dann nicht entgegen gehalten werden, wenn das Ziel der im Wege des Eilrechtsschutzes erstrebten (Neu)Bewertung der streitgegenständlichen Leistung nicht (bloß) die Vermeidung einer weiteren Prüfungsvorbereitung bzw. Prüfung, sondern die Fortführung des Studiums wäre.
17Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.03.1989 – 1 BvR 1308/82 –, NVwZ 1989, 854, 855; OVG NRW, Beschluss vom 31.08.2000 – 14 B 634/00 –, juris, Rn. 2 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2010 – 10 M 13/09 –, juris, Rn. 4.
18Die Antragstellerin trägt selbst nicht vor, dass sich durch die Inanspruchnahme der Wiederholungsklausur der Abschluss ihres Studiums nennenswert verzögern würde. Sie beschreibt allein die Nachteile, die sich aus der Vorbereitung auf eine weitere Prüfung ergeben würden. Der Verweis der Antragstellerin auf die anstehende Wiederholungsprüfung ist vorliegend insbesondere schon deswegen nicht unzumutbar, weil diese Prüfung weniger als einen Monat nach der streitgegenständlichen Klausur stattfindet und deswegen ein nennenswerter Verlust von Prüfungswissen gerade nicht droht. Hinzu kommt, dass die Antragstellerin schon wenige Tage nach der streitgegenständlichen Klausur über die Nichtbewertung und die anstehende Wiederholungsprüfung informiert worden ist. Die bis zum neuen Klausurtermin verbleibende Zeit hätte neben der Arbeit in der Einstellungsbehörde und den familiären Verpflichtungen, wenn nicht zur Vertiefung, so doch zum Erhalt des Wissens im fraglichen Fachgebiet genutzt werden können. Eine gezielte Prüfungsvorbereitung gestaltet sich in diesem Falle wesentlich einfacher als im Falle der erstmaligen Prüfung oder einer mit großem Abstand zum vorangegangenen Versuch zu absolvierenden Wiederholungsprüfung. Der Antragstellerin drohen durch die Prüfungsteilnahme am 28.09.2020 auch keine Nachteile für das Hauptsacheverfahren. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass auch bei Bestehen der Wiederholungsprüfung das Rechtsschutzbedürfnis für die Hauptsache nicht entfällt.
19Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.04.1991 – 7 C 36.90 –, NVwZ 1992, 56.
20Im Falle des Misserfolgs in der Wiederholungsprüfung bleiben ihre Rechte – sofern eine weitere Wiederholungsmöglichkeit nicht besteht – durch das Hauptsacheverfahren gewahrt. Besteht die Antragstellerin die Wiederholungsprüfung, liegt es in ihrer Hand, das dort erzielte Ergebnis gegen sich gelten zu lassen oder ihr Hauptsachebegehren weiter zu verfolgen.
21Auch wenn es für das vorliegende Verfahren nicht darauf ankommt, fehlt es auch an dem erforderlichen Anordnungsanspruch. Die Antragstellerin hat einen solchen nicht glaubhaft gemacht. Sie hat keinen Anspruch darauf, eine fehlerbehaftete Leistung bewerten zu lassen. Die Prüfungsleistung der Antragstellerin leidet an einem sog. Ermittlungsfehler, der immer dann vorliegt, wenn das Verfahren zum Zwecke der Ermittlung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings fehlerhaft durchgeführt worden ist.
22Vgl. Jeremias, in: Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 499.
23Im Falle eines „Ermittlungsfehlers“ scheidet die Bewertung von Prüfungsleistungen von vornherein aus, wenn wegen des gestörten Prüfungsverlaufs dafür eine zuverlässige Grundlage fehlt und/oder die Chancengleichheit aller Prüflinge verletzt würde. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Prüfungsaufgabe ungeeignet ist, die wahren Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings festzustellen. Solche Fehler im Verfahren zur Ermittlung der Prüfungsleistungen dürfen nicht unbeachtet bleiben. Die Prüfungsbehörde darf bei erheblichen und offensichtlichen Mängeln der vorgenannten Art nicht abwarten, ob der Prüfling eine neue Prüfung beantragt, sondern hat, sobald sie den Mangel erkennt, von Amts wegen entsprechend zu reagieren und die misslungene Prüfung durch eine sachgerechte Abhilfe, in der Regel durch eine Wiederholung der Prüfung, zu einem ordnungsgemäßen Abschluss zu bringen. Das gilt selbst dann, wenn der Prüfling durch den Fehler begünstigt worden ist. Der einzelne Prüfling kann sich demgegenüber nicht darauf berufen, dass der Verfahrensverstoß im Verantwortungsbereich der Prüfungsbehörde liegt, denn es geht darum, objektiv die Chancengleichheit der Prüflinge insgesamt zu wahren. Dabei ist jedenfalls bei berufsbezogenen Prüfungen nicht nur auf die Prüflinge einer einzelnen Prüfungsgruppe, sondern auf den gesamten Kreis der Prüflinge abzustellen, die mit dem Abschluss die Berechtigung für den Eingang in einen bestimmten Beruf anstreben.
24Vgl. zum Ganzen: Jeremias, in: Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 500 f. m. w. N.
25Ein solcher Ermittlungsfehler liegt hier vor. Die zur Bearbeitung herausgegebene Prüfungsaufgabe (hier: Sachverhalt und dazugehörige Bearbeitungsaufgabe) war unstreitig bereits im Hauptlauf des betreffenden Moduls gestellt worden. Sie war damit für Wiederholungsprüfungen desselben Moduls „verbraucht“, weil sie – jedenfalls bei einigen – Teilnehmern der Wiederholungsprüfung – wie auch der Antragstellerin – als bekannt vorausgesetzt werden muss. Eine solche Prüfungsaufgabe, die den Teilnehmern der Wiederholungsprüfung bereits im Vorhinein bekannt ist, bietet nicht mehr die Gewähr für ein ordnungsgemäßes, das Gebot der Chancengleichheit wahrendes Prüfungsverfahren. Denn anders in den Fällen, in denen ein Prüfungsteilnehmer das „Glück“ hat, eine Aufgabe zur Bearbeitung zu erhalten, auf die er sich besonders gut vorbereitet hat,
26vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 23.03.1994 – 6 B 72.93 –, juris, Rn. 4,
27würden im vorliegenden Fall jedenfalls diejenigen Prüfungsteilnehmer bewusst bevorzugt, die die Prüfungsaufgabe bereits im Hauptlauf zu bearbeiten hatten. Selbst wenn die Prüfungsaufgabe allen Teilnehmern der Wiederholungsklausur bekannt gewesen wäre, stellte dies jedenfalls eine chancengleichheitswidrige Bevorzugung gegenüber denjenigen Prüflingen dar, die die Prüfungsaufgabe im Hauptlauf bestanden haben und deswegen an der Wiederholungsprüfung nicht teilgenommen haben.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
29Die Streitwertfestsetzung beruht auf den § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Wegen der Vorwegnahme der Hauptsache hat das Gericht davon abgesehen, den Streitwert zu reduzieren.
30Rechtsmittelbelehrung
31Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
32Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
33Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
34Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
35Die Beteiligten müssen sich bei der Einlegung und der Begründung der Beschwerde durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
36Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
37Die Beschwerde ist schriftlich, zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.
38Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
39Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 40.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über den Antrag auf Zulassung der Berufung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§§ 87a Abs. 2 und 3, 125 Abs. 1 VwGO).
3Der Berufungszulassungsantrag hat keinen Erfolg.
4Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Die Klägerin stützt ihren Antrag auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO. Keiner der beiden Gründe liegt vor.
5I. Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils liegen vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
6Vgl. statt vieler BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 -, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 28 ff. m. w. N.; VerfGH NRW, Beschluss vom 17. Dezember 2019 - 56/19.VB-3 -, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.
7Nach diesem Maßstab liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, mit welchem das Verwaltungsgericht einen Anspruch der Klägerin, das Prüfungsamt zu verpflichten, über ihre Zulassung zu den weiteren Prüfungsleistungen für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen und den entsprechenden Jahrgangsstufen der Gesamtschulen erneut zu entscheiden, verneint hat, nicht vor.
81. Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass sie keine ordnungsgemäße Ausbildung erhalten habe und daher die Feststellung ihres Nichtbestehens der Zweiten Staatsprüfung auf Verfahrensfehlern beruhe. Der Grundsatz der Chancengleichheit gebiete zunächst, allen Anwärtern gleiche Ausbildungszeiten zu gewähren. Die Klägerin habe aber Anspruch auf Gewährung zusätzlicher Ausbildungstage zur Kompensation von krankheitsbedingten Fehltagen und wegen eines Wechsels des Ausbilders gehabt. Durch zusätzliche Ausbildungstage hätte sie die Möglichkeit gehabt, vor dem avisierten Prüfungstermin einen weiteren Unterrichtsbesuch mit der neuen Fachseminarleiterin zu absolvieren. Ebenfalls verfahrensfehlerhaft sei es gewesen, der Klägerin keine hinreichenden Hospitationsmöglichkeiten bei ihren Seminarausbilderinnen und Seminarausbildern einzuräumen. Dies verstoße gegen § 11 Abs. 3 Satz 5 OVP, wonach die Ausbildung auch Unterrichtshospitationen bei Seminarausbilderinnen und Seminarausbildern umfasse. Diese Verfahrensmängel habe die Klägerin auch gerügt. Sie habe ausdrücklich und mehrfach versucht darauf hinzuwirken, zusätzliche Ausbildungszeiten zu erhalten. Ferner habe sie ihre Mitwirkungspflichten bezüglich der unzureichenden Hospitationen erfüllt. Sie sei mehrfach auf die Ausbilder zugegangen und habe ihre Situation dargelegt. Weitere Rügen seien ihr nicht möglich gewesen.
9Mit diesem Vorbringen ist jedenfalls die Richtigkeit der selbstständig tragenden Feststellung des Verwaltungsgerichts, eine ausdrückliche und eindeutige Rüge der Klägerin in Bezug auf die genannten Verfahrensmängel im Rahmen der Ausbildung sei nicht erkennbar (S. 6 des Urteils), nicht in Frage gestellt. Dass die Klägerin gegenüber den für sie zuständigen Prüfungs- und Ausbildungsstellen unverzüglich die behaupteten Mängel geltend gemacht hätte, ist nicht ersichtlich. Es entspricht der Rechtsprechung des beschließenden Senats, dass sich ein Prüfling auf Verfahrens- und Ausbildungsmängel grundsätzlich nur dann mit Erfolg berufen kann, wenn er sie unverzüglich geltend gemacht hat. Insoweit obliegt ihm eine Mitwirkungspflicht. Die Rügepflicht bezweckt nicht nur, der Prüfungsbehörde Gelegenheit zur Überprüfung und Abhilfe zu geben. Sie dient auch der Wahrung der Chancengleichheit aller Prüflinge (Art. 3 Abs. 1 GG). Es verletzt den Grundsatz der Chancengleichheit, wenn sich der Prüfling in Kenntnis eines Verfahrensfehlers der Prüfung unterzieht und sich vorbehält, diesen Verfahrensfehler im Falle eines seinen Vorstellungen nicht entsprechenden Prüfungsergebnisses geltend zu machen. Grenze und Inhalt dieser Rügepflicht werden unter anderem vom Grundsatz der Zumutbarkeit bestimmt.
10Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. August 2010 - 6 B 24.10 -, juris, Rn. 3, Urteil vom 22. Juni 1994 - 6 C 37.92 -, BVerwGE 96, 126, juris, Rn. 17 ff., Beschluss vom 12. November 1992 - 6 B 36.92 -, NVwZ-RR 1993, 188, juris, Rn. 2; OVG NRW, Beschlüsse vom 9. April 2018 - 19 A 519/17 -, juris, Rn. 5 f., vom 22. Januar 2015 - 19 B 1257/14 -, juris, Rn. 36, und vom 3. Juli 2014 - 19 B 1243/13 -, juris, Rn. 10 ff.
11Die Klägerin hat es hingegen schon nach ihrem Zulassungsvorbringen dabei bewenden lassen, im September 2016 einen Antrag auf Erstattung ausgefallener Ausbildungstage zu stellen. Nach Gesprächen mit dem Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung „beugte (sie) sich diesem Druck“ (S. 5 der Zulassungsbegründung) und verzichtete augenscheinlich auf ein weiteres Beharren auf ihrem Begehren. Eine Rüge von Ausbildungsmängeln hat sie damit nicht vorgebracht. Nichts anderes gilt hinsichtlich der von der Klägerin gerügten fehlenden Hospitationsmöglichkeiten. Soweit sie sich darauf beruft, mehrfach auf die Ausbilder zugegangen zu sein, ersetzt dies nicht eine ausdrückliche Rüge, welche Ausbildungs- oder Prüfungsbehörde in die Lage setzen würde, hierauf angemessen zu reagieren. Die erforderlichen Rügen waren der Klägerin auch nicht unzumutbar. Anhaltspunkte dafür ergeben sich weder aus den jeweiligen zeitlichen Abläufen noch dem kurzfristigen Ausbilderwechsel.
122. Die durch die Klägerin geltend gemachten materiellen Defizite der Langzeitbeurteilung des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung führen nicht auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Entgegen dem Zulassungsvorbringen ist zunächst nicht ersichtlich, dass die früheren Beurteilungsbeiträge aus dem Jahr 2012 tatsächlich in die Langzeitbeurteilung eingeflossen sind. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr festgestellt, dass die Beurteilungsbeiträge aus dem Jahr 2012 in der neu erstellten Langzeitbeurteilung vom 27. März 2017 – anders als noch in der Langzeitbeurteilung vom 2. November 2016 – nicht mehr erwähnt seien. Dies geht zurück auf die entsprechende Bitte des Landesprüfungsamts gegenüber der Leiterin des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung, im Rahmen des Widerspruchsverfahrens und in Reaktion auf zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts eine überarbeitete Langzeitbeurteilung zu erstellen, welche die früheren Beurteilungsbeiträge bzw. Langzeitbeurteilungen außer Betracht lassen sollte. Dem hält die Klägerin lediglich entgegen, es sei „fernliegend“ (S. 11 der Zulassungsbegründung), dass die früheren Beurteilungen keinen Einfluss auf die neue Langzeitbeurteilung gehabt hätten. Für diese Annahme gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Hierauf hat bereits das Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 3. Juli 2017 (14 B 560/17, juris, Rn. 20) hingewiesen.
13Die Klägerin hält es für materiell rechtswidrig, dass sich die Fachleiterin im Fach Deutsch, Frau X. , mit der früher zuständigen Fachleiterin, Frau N. , ausgetauscht habe. Dieser Austausch habe zu einer für die Klägerin negativen Bewertung geführt. Dies zeigten schon konkrete Äußerungen der Fachleiterin Frau X. gegenüber der Klägerin. Den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zufolge sei jedoch nicht ersichtlich, inwiefern ein etwaiger Austausch mit der früheren Fachleiterin zu einer für die Klägerin nachteiligen Beeinflussung und daraus folgenden Voreingenommenheit der beurteilenden Fachleiterin geführt haben soll (S. 6 des Urteils). Auch mit dem Zulassungsvorbringen sind für eine solche Unterstellung keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte dargetan. Zu der Unergiebigkeit der fraglichen Zitate hat das Landesprüfungsamt bereits im erstinstanzlichen Klageverfahren Stellung (Schriftsatz vom 12. Januar 2018) genommen, hierauf kann verwiesen werden. Im Übrigen hat das Prüfungsamt im Zulassungsverfahren zutreffend darauf hingewiesen, dass etwaige Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Fachleiterin Frau X. zeitnah hätten geltend gemacht werden müssen und nicht erstmals im Berufungszulassungsverfahren.
14Die Klägerin rügt ferner, es habe im Verlängerungszeitraum ihres Vorbereitungsdienstes nur zwei Unterrichtsbesuche durch die Fachleiterin Frau X. gegeben. Nach § 11 Abs. 3 Satz 7 OVP seien vielmehr zehn Unterrichtsbesuche anzusetzen. Das Verwaltungsgericht hält es demgegenüber für unschädlich, dass es im Verlängerungszeitraum nur zu zwei Unterrichtsbesuchen gekommen sei (S. 6 des Urteils). Dies ist vor dem Hintergrund der Vorgabe des § 11 Abs. 3 Satz 7 OVP nicht zu beanstanden. Danach finden in den beiden Fächern, auch im Rahmen des selbstständigen Unterrichts, in der Regel insgesamt zehn Unterrichtsbesuche statt, zu denen die Lehramtsanwärterin oder der Lehramtsanwärter eine kurzgefasste Planung vorzulegen hat. Der Einwand der Klägerin, es hätte „10 Unterrichtsbesuche im Fach Deutsch“ geben müssen, findet in § 11 Abs. 3 Satz 7 OVP schon keine Grundlage („insgesamt“). Auch im Übrigen sind Rechtsfehler nicht erkennbar. Die Regelung bezieht sich auf den Zeitraum des Vorbereitungsdienstes, der nach § 7 Abs. 1 OVP grundsätzlich 18 Monate dauert. Der Vorbereitungsdienst ist für die Ablegung der Wiederholungsprüfung in Fällen des Nichtbestehens nach § 34 Abs. 2 OVP um sechs Monate zu verlängern (§ 38 Abs. 2 OVP). Die Regelung des § 11 Abs. 3 Satz 7 OVP lässt es damit zu, dass Unterrichtsbesuche auch im Verlängerungszeitraum stattfinden. Hinsichtlich der Frage, wann wieviele Unterrichtsbesuche stattfinden, enthält die OVP jedoch keine weitergehenden Bestimmungen. Sind im „Regelfall“ daher pro Unterrichtsfach fünf Besuche vorgesehen, ist es nicht fehlerhaft, hiervon zwei im sechsmonatigen Verlängerungszeitraum anzusetzen. Im Übrigen sind ausweislich der Stellungnahme des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung vom 28. März 2017 im Fach Deutsch im Zeitraum vom 1. Mai 2015 bis 12. April 2016 vier Unterrichtsbesuche durchgeführt worden. Hinzu kommen die zwei zusätzlichen Unterrichtsbesuche im Verlängerungszeitraum.
15Ohne Erfolg rügt die Klägerin ferner inhaltliche Plausibilitätsdefizite der Langzeitbeurteilung. Das Verwaltungsgericht hat bezogen auf die Kritik der Klägerin, der Vorwurf von fehlender Transparenz und mangelndem Durchdenken der Unterrichtsstunden sei nicht sachangemessen, zutreffend festgestellt, dass sie sich hiermit gegen Einschätzungen im Kernbereich des gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Bewertungsspielraums richtet (S. 7 des Urteils). Im Beurteilungsbeitrag der Fachleiterin für das Fach Deutsch vom 30. September 2016 ist ausgeführt, dass sich die Klägerin auch in der Verlängerungsphase noch nicht hinreichend genug in das jeweilige Themengebiet eingearbeitet habe, sodass die Lerninhalte nicht ausreichend durchdacht und konkretisiert worden seien (wird ausgeführt). Hinzu komme, dass es der Klägerin nicht durchgehend gelungen sei, den Einstieg der Stunde zielführend und transparent zu gestalten (wird ausgeführt). Diese wertenden Beobachtungen betreffen die Würdigung der Qualität des Unterrichts sowie der Stärken und Schwächen der Lehramtsanwärterin und sind der gerichtlichen Kontrolle grundsätzlich weitestgehend entzogen.
16OVG NRW, Beschluss vom 29. April 2020 - 19 A 110/19 -, juris, Rn. 32 ff., Urteil vom 20. Dezember 2017 - 19 A 811/16 -, juris, Rn. 63, jeweils m. w. N.
17Auch ist hinreichend klar, woraus die Mängel an Transparenz und Durchdenken resultieren, eine ausführlichere Begründung war hier nicht erforderlich.
18Vgl. zu Begründungsanforderungen von Langzeitbeurteilungen OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 65 f. m. w. N.
19Irrelevant ist für diese eigenen Bewertungen der beurteilenden Fachleiterin, ob die Klägerin in früheren Abschnitten eines vorhergehenden Vorbereitungsdienstes in einem Unterrichtsbesuch für Transparenz, Struktur und das Durchdenken gelobt worden sei.
203. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils liegen auch nicht hinsichtlich der gerügten materiellen Defizite der Langzeitbeurteilung der Ausbildungsschule vor.
21Soweit die Klägerin die Feststellung des Verwaltungsgerichts angreift, wonach ein etwaiger Mangel der früheren Langzeitbeurteilung vom 27. Oktober 2016 dadurch geheilt worden sei, dass in der aktuellen Langzeitbeurteilung der Schule vom 20. Februar 2017 die Beurteilung der früheren Schulleiterin nun nicht mehr aufgeführt sei (S. 8 des Urteils), gilt das oben zur Langzeitbeurteilung des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung Gesagte in gleicher Weise. Mehr als die Behauptung des Gegenteils enthält das Zulassungsvorbringen hierzu nicht. Dies gilt entsprechend für den gerügten Austausch der Schulleiter miteinander. Auch sind die verwaltungsgerichtlichen Bewertungen sowohl der Mitwirkung des Konrektors an der Langzeitbeurteilung als auch der Gelegenheit zur Stellungnahme der Ausbildungsbeauftragten nicht zu beanstanden. Das Zulassungsvorbringen der Klägerin erschöpft sich in einer Wiederholung der bisherigen Vorwürfe, der Konrektor habe an der Langzeitbeurteilung entgegen § 16 Abs. 3 Satz 1 OVP inhaltlich mitgewirkt und aufgrund der zeitlichen Abläufe sei „davon auszugehen, dass eine vorherige Anhörung (der Ausbildungsbeauftragten) nicht erfolgte“. Hierzu hat bereits das Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 3. Juli 2017 (14 B 560/17, juris, Rn. 23) Stellung genommen. Vor allem blendet die Klägerin die vom Verwaltungsgericht zur Untermauerung seiner Feststellungen herangezogenen Stellungnahmen sowohl des Konrektors als auch der Ausbildungsbeauftragten gänzlich aus.
22Nicht zu beanstanden ist auch die Feststellung des Verwaltungsgerichts, die Langzeitbeurteilung der Ausbildungsschule sei plausibel und nachvollziehbar, der beurteilungsspezifische Bewertungsspielraum sei nicht überschritten (S. 8 des Urteils). Die Klägerin hält dem lediglich entgegen, die „durchaus hervorragenden Leistungen im Fach Französisch“ seien nicht adäquat gewürdigt und in die Gesamtabwägung eingestellt worden. Bei einem Beurteilungsschwerpunkt auf dem Verlängerungszeitraum hätte sich die unstreitige Leistungssteigerung in diesem Fach positiv niederschlagen müssen. Dieses Vorbringen ist eine wörtliche Wiederholung der Widerspruchsbegründung vom 19. Januar 2017. Das Verwaltungsgericht hat hierzu – wenn auch in knapper Form – zutreffend auf den Bewertungsspielraum verwiesen. Gesichtspunkte, die dessen Überschreitung nahelegen würden, sind nicht vorgebracht. Angesichts der Tatsache, dass das Verwaltungsgericht damit in nicht zu beanstandender Weise ausdrücklich keine inhaltlichen Bewertungsmängel der Langzeitbeurteilung festgestellt hat, kommt es auf die „unabhängig davon“ (S. 9 des Urteils) angestellten Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Notengewichtung bezogen auf das Fach Französisch und die diesbezügliche Kritik der Klägerin nicht an.
23Soweit die Klägerin schließlich die schulische Langzeitbeurteilung wegen einer angeblich unzureichenden Differenzierung zwischen den unterschiedlich bewerteten Fächern Deutsch und Französisch für rechtswidrig hält, verweist sie zwar zutreffend auf die Anforderungen des Senats, wonach eine nachvollziehbare Begründung der Langzeitbeurteilung auch erfordert, dass sie hinreichend zwischen den fachbezogenen Leistungen des Lehramtsanwärters in den beiden Fächern differenziert, wenn die Noten in den Fächern der Ausbildung voneinander abweichen.
24Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 69, und Beschluss vom 30. November 2016 - 14 B 1309/16 -, juris, Rn. 20.
25Das Zulassungsvorbringen zeigt aber nicht im Ansatz auf, dass die Langzeitbeurteilung der Ausbildungsschule vom 20. Februar 2017 diesen Anforderungen nicht genügt. Sie erschöpft sich in dem Hinweis, dass „eine hinreichende Differenzierung (…) allenfalls marginal hervortritt.“ Eine ordnungsgemäße Darlegung von ernstlichen Zweifeln nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist dies nicht.
264. Die Klägerin sieht zuletzt ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils darin begründet, weil dieses unter Bezugnahme auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 3. Juli 2017 der Klägerin eine Darlegungspflicht dafür auferlege, „dass sich aufgrund einer Neubeurteilung der beiden Langzeitbeurteilungen die durch zwei geteilte Summe der Bewertungen mit mindestens ‚ausreichend‘ ergäbe“ (S. 24 der Zulassungsbegründung). Vielmehr müsse der Klägerin entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ein „Anspruch auf Verlängerung ihres Vorbereitungsdienstes (…) bereits zugestanden werden, wenn die vorgenommene Benotung mit ‚mangelhaft‘ in der entscheidenden Langzeitbeurteilung – wie hier – mit Bewertungsfehlern behaftet“ sei, „von denen zumindest nicht ausgeschlossen werden“ könne, „dass die geschuldete Neubewertung zu einer Besserbewertung führt“ (S. 26 der Zulassungsbegründung).
27Dieses Vorbringen führt nicht auf Richtigkeitszweifel am Urteil. Nach der eindeutigen und nach den obigen Ausführungen nicht zu beanstandenden Würdigung des Verwaltungsgerichts sind die Langzeitbeurteilungen rechtlich nicht zu beanstanden und weisen weder formelle noch materielle Fehler auf. Ein Anspruch auf Verlängerung des Vorbereitungsdienstes und Zulassung zu den weiteren Prüfungsleistungen der Staatsprüfung für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen und den entsprechenden Jahrgangsstufen der Gesamtschulen ist demnach auch bei Zugrundelegung des von der Klägerin formulierten Maßstabs ausgeschlossen.
28II. Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor, weil die Rechtssache aus den vorgenannten Gründen keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist, die einer Klärung in einem Berufungsverfahren bedürfen.
29Vgl. allgemein zum Maßstab: BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juni 2000 ‑ 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163, juris, Rn. 17; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 108; Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 124 Rn. 28 (Okt. 2015).
30Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
31Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 36.2 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
32Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Die Berufung der Beigeladenen gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 28.5.2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene und die Beklagte tragen die Kosten des Berufungsverfahrens jeweils zur Hälfte mit der Maßgabe, dass eine Kostenerstattung zwischen ihnen nicht stattfindet.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis für den Betrieb der unter der postalischen Adresse „I. . 00, 00000 X. “ betriebenen Spielhalle der Klägerin. Für diese war ihr am 1.7.2015 unter Hinweis auf die Freistellung von bestimmten Vorgaben des Glücksspielstaatsvertrags eine Erlaubnis nach § 33i GewO für eine Übergangsfrist bis zum 30.11.2017 erteilt worden. Die Beigeladene betreibt in 272 m Luftlinie Entfernung eine Spielhalle unter der postalischen Adresse „L. 00, 00000 X. “. Dafür war ihr am 15.9.2009 eine unbefristete Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden.
3Nach entsprechender Aufforderung durch die Beklagte beantragte die Klägerin die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, gegebenenfalls unter Abweichung nach § 16 Abs. 3 Satz 3 AG GlüStV NRW vom Mindestabstandsgebot gemäß § 16 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 AG GlüStV NRW oder hilfsweise unter Befreiung nach § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV vom Mindestabstandsgebot.
4Nach den Feststellungen der Beklagten stand die Spielhalle der Klägerin in Konflikt mit der von der Beigeladenen betriebenen Spielhalle an der L. 00 (272 m Luftlinie, 300 m Fußweg) sowie mit weiteren Spielhallen unter den Anschriften I. . 00 (53 m Luftlinie, 59 m Fußweg), I. . 00 (110 m Luftlinie, 110 m Fußweg), H. . 0 ‒ 0 (301 m Luftlinie, 450 m Fußweg) und O.--str . 00 (327 m Luftlinie, 500 m Fußweg). Mit Bescheiden vom 24.7.2017 bzw. 31.1.2018 erhielten die Klägerin für ihre Spielhalle in der I. . 00 und die Beigeladene für ihre Spielhalle an der L. 00 jeweils eine bis zum 30.6.2021 befristete Erlaubnis gemäß § 16 Abs. 2 AG GlüStV NRW i. V. m. § 24 Abs. 1 GlüStV unter Befreiung der Einhaltung des Mindestabstandsgebotes gemäß § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV.
5Nach Anhörung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29.11.2017 den Antrag der Klägerin für die hier streitgegenständliche Spielhalle I. . 00 ab. Zur Begründung führte sie aus, zu den Spielhallen in der H. . 0 ‒ 0 und O.--str . 00 könnte zwar auf Grund der topographischen Besonderheiten und der damit verbundenen fußläufigen Entfernung von 450 bzw. 500 m eine Ausnahme vom Mindestabstand gewährt werden. Die Spielhalle der Klägerin in der I. . 00 unterschreite jedoch deutlich den Mindestabstand von 350 m zu den Spielhallen in der I. . 00 und 00 sowie an der L. 00, so dass insoweit keine Ausnahme vom Mindestabstandsgebot in Betracht komme. Die Klägerin könne auch keine zu berücksichtigenden Härtefallgründe geltend machen. Es liege kein schützenswertes Vertrauen vor, weil sie in Kenntnis der neuen Rechtslage den Betrieb der Spielhalle aufgenommen und einen Mietvertrag bis zum 31.12.2024 abgeschlossen habe. Sie könne sich nicht auf Vorgänge berufen, die vor der Übernahme des Standortes gelegen hätten. Die wirtschaftliche Existenz der Klägerin dürfte unter Berücksichtigung der Stellungnahme ihres Steuerberaters N. auch bei Schließung ihrer Spielhalle in der I. . 00 gesichert sein, weil ihr für ihre weiteren Spielhallenstandorte in der I. . 00, der X1. Str. 00 und der S. . 000 zwischenzeitlich glücksspielrechtliche Erlaubnisse erteilt worden seien. Die Auswahlentscheidung sei zu Gunsten der Spielhallen in der I. . 00 und der L. 00 und zu Lasten der Spielhallen in der I. . 00 und 00 ausgefallen, weil den Betreibern der erstgenannten Spielhallen die Erlaubnis nach § 33i GewO bereits im Jahr 2005 bzw. 2009 erteilt worden sei.
6Die Klägerin hat gegen die Ablehnung ihres Antrags Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen unter Wiederholung ihres Vorbringens aus dem Verwaltungsverfahren geltend gemacht, eine Ausnahme vom Mindestabstandsgebot sei unter Berücksichtigung der Vollzugshinweise des Innenministeriums vom 10.5.2016 und 6.11.2017 gerechtfertigt, weil die Klägerin stets zuverlässig gewesen sei und den Spielerschutz immer in den Vordergrund gestellt habe. Im Übrigen könne sie sich auf eine unbillige Härte berufen. Sie habe die Spielhalle nur unter der Bedingung übernehmen können, in den am 1.7.2010 bis zum 31.12.2024 geschlossenen Mietvertrag der vorherigen Betreiberin einzutreten. Dieser sei bereits vor dem maßgeblichen Stichtag des 28.10.2011 eine unbefristete Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden. Weil nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Bestandsschutz objekt- und nicht personenbezogen gelte, genieße die Klägerin schutzwürdiges Vertrauen.
7Die Klägerin hat beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 29.11.2017 zu verpflichten, der Klägerin für die Spielhalle I1.---straße 00 in X. die beantragte glücksspielrechtliche Erlaubnis gemäß § 24 Abs. 1 GlüStV i. V. m. § 16 Abs. 2 AG GlüStV NRW zu erteilen.
9Die Beklagte und die Beigeladene haben jeweils beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29.11.2017 verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Behörde unter Spielhallen, die den Mindestabstand zueinander unterschritten, eine Auswahlentscheidung treffen müsse, sofern vom Mindestabstandsgebot nicht im Einzelfall abgewichen werde. Die Beklagte habe die für die Auswahlentscheidung notwendige Abwägung nicht in ausreichendem Umfang vorgenommen. Zwar sei es grundsätzlich nicht zu beanstanden, auf den Zeitpunkt der Beantragung bzw. der Erteilung der Erlaubnis nach § 33i GewO abzustellen. Die Beklagte habe aber andere in Betracht kommende Auswahlkriterien nicht berücksichtigt, sondern allein darauf abgestellt, dass bei den konkurrierenden Spielhallen Gründe für die Annahme einer unbilligen Härte im Sinne des § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV vorlägen.
12Zur Begründung ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung macht die Beigeladene geltend, dass andere Auswahlkriterien als das Alter der Erlaubnis nach § 33i GewO nur dann zu Gunsten der Klägerin berücksichtigungsfähig wären, wenn sie sich aufgedrängt hätten. Besondere Gründe, die zu Gunsten der Spielhalle der Klägerin und zu Lasten der bestehenden Spielhalle der Beigeladenen in die Auswahlentscheidung einzubringen gewesen wären, seien aber nicht ersichtlich.
13Die Beigeladene beantragt,
14das auf die mündliche Verhandlung vom 28.5.2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf zu ändern und die Klage auch insoweit abzuweisen, als die Neubescheidung des Antrags der Klägerin auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis streitgegenständlich ist.
15Die Beklagte hat ihre zunächst eingelegte Anschlussberufung schriftsätzlich zurückgenommen. In der Sache unterstützt sie, ohne einen Antrag zu stellen, weiterhin das Vorbringen der Beigeladenen und trägt ergänzend vor: Sie habe in Konkurrenzsituationen zwischen Spielhallenbetreibern zunächst geprüft, ob eine Abweichung vom Mindestabstandsgebot erteilt werden könne. Daran angeschlossen habe sie die Prüfung eines Härtefalls gemäß § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV. Sofern auch nach der Erteilung von Härtefallerlaubnissen weiter Bestandsspielhallen konkurrierten, sei im Sinne einer Störerauswahl ordnungsrechtlich gegen diese vorzugehen. Die vom Verwaltungsgericht und von der Klägerin vertretene Auffassung, dass erst im Wege der Auswahlentscheidung Erlaubnisse erteilt werden müssten und dann unterlegene Antragsteller gegebenenfalls im Wege der Härtefallerlaubnis berücksichtigt werden könnten, widerspreche den Zielen des Glücksspielstaatsvertrags und dem landesrechtlichen Ausführungsgesetz. Die getroffene Entscheidung begegne auch dann keinen Bedenken, wenn man annehme, ein Auswahlverfahren sei durchzuführen. Sie habe zunächst festgestellt, dass abgesehen von der Einhaltung des Mindestabstandsgebots für alle konkurrierenden Spielhallen keine Versagungsgründe vorlägen. Daher seien die konkurrierenden Spielhallen als gleichrangig zu bewerten. Als einzig verwertbares Differenzierungskriterium sei die Feststellung verblieben, wann die Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden sei.
16Die Klägerin beantragt,
17die Berufung zurückzuweisen.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte (ein Band) und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten über die streitgegenständlichen Spielhallenbetriebe der Klägerin und der Beigeladenen (drei Hefter) Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe:
20Soweit die Beklagte ihre Anschlussberufung zurückgenommen hat, war das Berufungsverfahren gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO in entsprechender Anwendung einzustellen.
21Die Berufung der Beigeladenen ist zulässig. Insbesondere ist diese rechtsmittelbefugt. Der Beigeladene ist, soweit er sich gegen die Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung des Erlaubnisantrags der Klägerin wendet, wegen der möglichen Auswirkung der Neubescheidung auf den Bestand seiner eigenen Erlaubnis durch das angegriffene Urteil in seinen rechtlichen Interessen nachteilig betroffen und mithin materiell beschwert.
22Vgl. BVerwG, Urteile vom 28.10.1999 – 7 C 32.98 –, BVerwGE 110, 17 = juris, Rn. 11, und vom 15.2.1990 – 4 C 39.86 –, NVwZ 1990, 857 = juris, Rn. 15.
23Die Berufung ist aber unbegründet.
24Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht und ohne die Beigeladene in subjektiven Rechten zu verletzen teilweise stattgegeben, indem sie die Beklagte verpflichtet hat, den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO.
25Die Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis durch den Bescheid der Beklagten vom 29.11.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil die Beklagte ermessensfehlerhaft die zur Auflösung der Konkurrenz zwischen der Klägerin und der Beigeladenen erforderlichen Maßstäbe nicht hinreichend beachtet hat.
261. Die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis setzt grundsätzlich voraus, dass das Mindestabstandsgebot aus § 25 Abs. 1 GlüStV i. V. m. § 16 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 AG GlüStV NRW eingehalten wird. Nach diesen Vorschriften soll ein Mindestabstand von 350 Metern Luftlinie zu einer anderen Spielhalle nicht unterschritten werden. Die Behörde darf aber unter bestimmten Voraussetzungen von dem Mindestabstandsgebot abweichen, § 16 Abs. 3 Satz 3 AG GlüStV NRW. Zudem kann sie gemäß § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV zu Gunsten eines Betreibers eine Befreiung von der Einhaltung des Mindestabstandsgebots für einen angemessen Zeitraum zulassen, wenn dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich ist; hierbei sind der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33 i GewO sowie die Ziele des § 1 GlüStV zu berücksichtigen.
27Begehren nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV mehrere Betreiber von Spielhallen, die zueinander das Mindestabstandsgebot nicht einhalten, die Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, bedarf es zur Auflösung der Konkurrenzsituation einer Auswahlentscheidung. Diese von der Behörde zu treffende Auswahlentscheidung ist eine Ermessensentscheidung, die nach Maßgabe des § 114 VwGO der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle (nur) daraufhin unterliegt, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 40 VwVfG NRW).
28Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 43, und Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, ZfWG 2019, 516 = juris, Rn. 23 f., m. w. N.
29Die in die Auswahlentscheidung einzustellenden Kriterien (Auswahlparameter) lassen sich dem Gesetz entnehmen und wurden durch die die Behörde bindenden Erlasse des Ministeriums für Inneres (und Kommunales) näher konturiert. Insbesondere kann im Rahmen der Auswahl zunächst auf die Regelung zur Härtefallbefreiung nach § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV zurückgegriffen werden. Die ohnehin geforderte Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Positionen der Spielhallenbetreiber gebietet auch ohne ausdrückliche gesetzliche Präzisierung, dass die zuständigen Behörden sich eines Verteilmechanismus bedienen, der die bestmögliche Ausschöpfung der bei Beachtung der Mindestabstände verbleibenden Standortkapazität in dem relevanten Gebiet ermöglicht. Das gilt auch, sofern bei der erforderlichen Auswahlentscheidung zusätzlich Erlaubnisanträge neu in den Markt eintretender (und erst vor kurzem eingetretener) Bewerber einzubeziehen sind, wobei grundrechtsrelevante Positionen der Betreiber von Bestandsspielhallen zu berücksichtigen bleiben. Dazu zählt etwa die Amortisierbarkeit von Investitionen. Zudem ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung in § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV, dass bereits bei der Auswahlentscheidung die mit der Neuregelung verfolgten Ziele des § 1 GlüStV zu beachten sind und bei Bestandsspielhallen überdies der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33i GewO zu berücksichtigen ist. Diese gesetzlichen Vorgaben sind ergänzend durch die über das Internet allgemein zugänglichen Ministerialerlasse vom 10.5.2016 und 6.11.2017 näher konturiert worden, die weitere Hinweise zu den heranzuziehenden Kriterien enthalten und der Ausübung des Ermessens durch die hieran gebundenen Behörden zusätzliche Grenzen setzen.
30Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 45 f., Beschluss vom 14.6.2019 ‒ 4 B 1488/18 ‒, juris, Rn. 14 ff., jeweils m. w. N. und unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 7.3.2017 ‒ 1 BvR 1314/12 u. a. ‒, BVerfGE 145, 20 = juris, Rn. 179 ff., 182 ff.
31Die in der Auswahlentscheidung auch zu berücksichtigenden Ziele des § 1 GlüStV erfordern einen Vergleich der konkurrierenden Spielhallen daraufhin, welche besser geeignet ist, die Ziele des Staatsvertrags zu erreichen. Solche Unterschiede können sich unter anderem aus Besonderheiten des Umfeldes des jeweiligen Standorts oder aus der Art der zu erwartenden Betriebsführung der einzelnen Betreiber ergeben. Hierbei ist etwa maßgeblich, inwieweit prognostisch von einem rechtstreuen Verhalten des Spielhallenbetreibers auszugehen ist, also von der Einhaltung von Vorschriften, die gerade die Erreichung der Ziele des § 1 GlüStV sicherstellen sollen.
32Vgl. ausführlich OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 47 bis 54.
33Ergibt der Vergleich der konkurrierenden Spielhallen, dass eine von ihnen besser Gewähr für die Förderung der Ziele des Staatsvertrags als die Konkurrenten bietet, ist die Auswahl eines dieser Konkurrenten allein wegen seiner Bestandsschutz- und Vertrauensschutzinteressen sachwidrig. Bei der Auswahlentscheidung sind nach dem Zweck der Ermächtigung die (dauerhaft anzustrebenden) Ziele des § 1 GlüStV gegenüber Bestandsschutz- und Vertrauensschutzinteressen, denen im Rahmen von Härtefallentscheidungen (nur vorübergehend) Rechnung getragen werden kann, jedenfalls nicht nachrangig. Dies ergibt sich schon aus den Regelungen des Glücksspielstaatsvertrags selbst. Bestandsschutz- und Vertrauensschutzgesichtspunkte können bei unzumutbaren Belastungen eine Erlaubniserteilung nur für einen angemessenen (begrenzten) Zeitraum rechtfertigen, § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV. Würde aber ein im Hinblick auf die Erfüllung der Ziele des § 1 GlüStV vorzuziehender Bewerber zu Gunsten eines anderen Bewerbers abgelehnt, nur weil Bestandsschutz- und Vertrauensschutzgesichtspunkte für diesen sprechen, würde der ausgewählte Betreiber aller Voraussicht nach den unterlegenen Konkurrenten nicht nur für einen angemessenen Zeitraum, sondern dauerhaft verdrängen. Denn der unterlegene Bewerber muss sein Geschäft wegen des Mindestabstandsgebots aufgeben.
34Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 55 f., Beschluss vom 26.9.2019 – 4 B 255/18 –, ZfWG 2019, 516 = juris, Rn. 44 ff., m. w. N.
35Ein Mindestabstandsgebot zum Schutz von Spielhallenbetreibern vor Konkurrenz wäre unionsrechtlich auch unzulässig.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 16.2.2012 – C-72/10 u. a. –, EU:C:2012:80, Marcello Costa u. a., EuZW 2012, 275 = juris, Rn. 50, 59 ff.
37Von der Notwendigkeit, nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV eine Auswahlentscheidung zu treffen, wird die Behörde nicht dadurch entbunden, dass sie Härtefallerlaubnisse nach § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV unter Befreiung von der Einhaltung des Mindestabstandsgebots erteilt. Denn der erforderliche Vergleich der Konkurrenten im Hinblick auf die Erfüllung der Ziele des § 1 GlüStV würde dann nicht stattfinden. Dass dieses nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV aber notwendig ist, ist schon höchstrichterlich und obergerichtlich für Nordrhein-Westfalen geklärt.
38Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.3.2017 ‒ 1 BvR 1314/12 u. a. ‒, BVerfGE 145, 20 = juris, Rn. 183 f.; OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 57.
392. Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis ermessensfehlerhaft abgelehnt.
40Die Klägerin hat aufgrund ihres Antrags auf Erteilung einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis nach den §§ 24 Abs. 1 GlüStV, 16 Abs. 2 AG GlüStV NRW einen Anspruch auf Beteiligung an dem in Folge der Nichteinhaltung des Mindestabstandsgebots nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV notwendigen und noch durchzuführenden Auswahlverfahren. Ein Auswahlverfahren ist hier erforderlich, weil die Spielhalle der Klägerin den erforderlichen Abstand von 350 m Luftlinie unter anderem zur Spielhalle der Beigeladenen nicht einhält. In dem noch durchzuführenden Auswahlverfahren sind auch die Betreiber einzubeziehen, die – wie die Beigeladene – bereits eine Härtefallerlaubnis gemäß § 29 Abs. 4 Satz 4 GlüStV unter Befreiung von der Einhaltung des Mindestabstandsgebots erhalten haben.
41Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 75.
42Konkurrieren demnach mehrere Betreiber um den Erhalt einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis, darf der Senat die von der Beklagten zu treffende Auswahlentscheidung nicht ersetzen. Angesichts der verschiedenen Auswahlkriterien, deren Erfüllung bislang noch nicht ermessensfehlerfrei abgewogen worden ist, besteht kein Anhalt dafür, dass die Auswahl zwingend zu Gunsten der Beigeladenen ausfallen müsste. Umgekehrt sind Gründe, aus denen der Antrag der Klägerin nach §§ 24 Abs. 2 Satz 1 GlüStV, 16 Abs. 2 Satz 3 AG GlüStV NRW zwingend abzulehnen und deshalb von vornherein kein Auswahlverfahren gegenüber der Beigeladenen durchzuführen wäre, nicht ersichtlich. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Berücksichtigung anderer Auswahlkriterien zu Gunsten der Klägerin aufdrängt. Entscheidend ist, dass die Beklagte ihre Auswahlentscheidung schon nicht – wie geboten – an den dargelegten Auswahlkriterien ausgerichtet hat.
43Die Beklagte darf bei der von ihr noch vorzunehmenden Auswahlentscheidung zumindest nicht allein darauf abstellen, wann den betroffenen Betreibern eine Erlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden ist. Lediglich wenn die Beklagte bei der Prüfung der Ziele des § 1 GlüStV und der weiteren in die Auswahlentscheidung einzustellenden Kriterien nachvollziehbar keine entscheidungserheblichen Unterschiede zwischen den Spielhallen feststellen kann, wäre es vertretbar, auf den Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis nach § 33i GewO abzustellen.
44Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 76 f., m. w. N.
45Dabei kommt es auf den Zeitpunkt der Erlaubniserteilung gegenüber dem antragstellenden Betreiber an, auch wenn dem früheren Betreiber des Standorts bereits zuvor eine Erlaubnis erteilt worden war. Dem steht nicht entgegen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
46vgl. BVerwG, Urteil vom 5.4.2017 – 8 C 16.16 –, ZfWG 2017, 394 = juris, Rn. 42 ff.,
47die fünfjährige Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV spielhallen- und nicht betreiberbezogen ist. Diese Rechtsprechung bezieht sich allein auf die Frage des Anwendungsbereichs der Übergangsvorschrift. Daraus lassen sich jedoch keine Rückschlüsse auf die Beantwortung der Frage ziehen, welcher in den Anwendungsbereich der Vorschrift fallenden Spielhalle im Rahmen der nach Ablauf der Übergangsfrist zu treffenden Auswahlentscheidung der Vorzug zu geben ist.
48Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4.12.2019 ‒ 4 B 1037/18 ‒, GewArch 2020, 193 = juris, Rn. 23 ff.
49Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3 Halbsatz 1, § 155 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1 ZPO. Die Beigeladene ist nicht verpflichtet, die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu tragen. Diese hat im Berufungsverfahren nicht obsiegt und ist deshalb nicht erstattungsberechtigt.
50Vgl. BVerwG, Urteile vom 25.10.2018 – 3 C 22.16 –, BVerwGE 163, 283 = juris, Rn. 33, m. w. N., und vom 26.3.2015 – 4 C 1.14 –, NVwZ-RR 2015, 685 = juris, Rn. 18.
51Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen, die nunmehr alleinige Rechtsmittelführerin und unterlegen ist, sind nicht erstattungsfähig, § 162 Abs. 3 VwGO.
52Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
53Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht erfüllt sind. Zwar sind die Regelungen des Glücksspielstaatsvertrags nach § 33 GlüStV revisibel. Es ist aber bereits durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7.3.2017 ‒ 1 BvR 1314/12 u. a. ‒ geklärt, dass nach Ablauf der Übergangsfrist des § 29 Abs. 4 Satz 2 GlüStV ein Auswahlverfahren stattfinden und an welchen Kriterien sich die Auswahlentscheidung grundsätzlich ausrichten muss.
54Soweit die Gewichtung und der Inhalt der Auswahlkriterien nicht bereits durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geklärt wurden, beruhen alle weiteren Vorgaben auf nicht revisiblen landesrechtlichen Regelungen. Insoweit erhalten die Auswahlkriterien ihren in Nordrhein-Westfalen maßgeblichen Inhalt erst durch die Konturierung im Landesrecht, die außer durch das Ausführungsgesetz zum Glücksspielstaatsvertrag durch die die Behörden bindenden spielhallenrechtlichen Erlasse erfolgt ist.
55Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10.10.2019 – 4 A 1826/19 –, GewArch 2020, 29 = juris, Rn. 88 f., m. w. N.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v. H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
1Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Kostenbescheides nach einem durchgeführten Feuerwehreinsatz. Der Klage liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
3Am Nachmittag des 00.0.2019 gegen 16:30 Uhr säuberte der Kläger gemeinsam mit seinem zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alten Sohn den Vorgarten seines Wohnhauses. Zur Unkrautbeseitigung auf vorhandenen Pflasterflächen kam ein gasbetriebenes Abflammgerät zum Einsatz. Mit dieser Arbeit betraute der Kläger seinen Sohn. Von dem Gerät erfasst wurden auch auf dem Boden liegende Laubblätter, die in eine ca. einen Meter entfernt angepflanzte Hecke flogen und diese in Brand setzte. Ein eigener Löschversuch des Klägers scheitere. Beim Eintreffen der alarmierten Feuerwehr brannte die Hecke auf einer Länge von etwa 20 Metern. Drei in davor liegenden Parkbuchten abgestellte Pkw standen ebenfalls in Flammen. Das Feuer drohte auf den Anbau eines nebenstehenden Hauses überzugreifen. Mehreren Kräften der hauptamtlichen und freiwilligen Feuerwehr der Beklagten gelang es, den Brand unter Kontrolle zu bringen.
4Für den 1 Stunde 45 Minuten dauernden Einsatz wandte sich die Beklagte an den Kläger zwecks beabsichtigter Kostenerstattung. Im Rahmen seiner Anhörung räumte der Kläger das äußere Geschehen ein, vertrat jedoch die Auffassung, es handele sich um einen Unfall (kein Vorsatz), der keine Kostenpflicht auslöse. Mit Bescheid vom 27. August 2019 bezifferte die Beklagte den Kostenersatz für 14 Einsatzkräfte und 4 Einsatzfahrzeuge auf 1.349 Euro und fordert den Kläger auf, diesen Betrag binnen einer Frist von 14 Tagen nach Bekanntgabe einzuzahlen. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Kläger habe grob fahrlässig gehandelt, weil er zum einen seinen Sohn unbeaufsichtigt gelassen habe und zum anderen trotz langanhaltender Trockenheit ein Gasbrenner zum Einsatz gekommen sei. Auf Anraten seiner Versicherung legte der Kläger gegen den Kostenbescheid entsprechend der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung Widerspruch ein. Dabei machte er sich die Rechtsauffassung der Versicherung zu eigen, wonach das konkrete Abflammen zwar fahrlässig gewesen sei, jedoch nicht die hohe Schwelle zur groben Fahrlässigkeit überschritten habe. Unter dem 13. September 2019 erließ die Beklagte einen Widerspruchsbescheid und wies den Widerspruch als unbegründet zurück. Zusätzlich zu ihren bisherigen Ausführungen machte sie geltend, zum Zeitpunkt des Brandgeschehens habe seit Wochen eine außergewöhnliche Trockenperiode geherrscht. In den Medien sei regelmäßig auf die besondere Brandgefahr hingewiesen worden. Die Technischen Betriebe der Beklagten hätten besondere Brandschutzverbote auf öffentlichen Flächen ausgesprochen.
5Gegen den am 20. September 2019 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 21. Oktober 2019, einem Montag, Klage erhoben.
6Zur Begründung vertieft der Kläger seinen bisherigen Vortrag. Ein grob fahrlässiges Verhalten zu seinem Nachteil sei nicht feststellbar. Er habe seinen Sohn im Umgang mit dem Gasbrenner sorgfältig eingewiesen und diesen während der konkreten Abflammarbeit stets beaufsichtigt. Die Wetterlage am Schadenstag habe keine Veranlassung gegeben, von einer Unkrautbeseitigung mittels eines Gasbrenners abzusehen. Unabhängig davon leide der Kostenbescheid an einem Fehler, weil die Beklagte das ihr zustehende Ermessen bei der Kostenerhebung gar nicht erkannt habe (Ermessensausfall).
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid der Beklagten vom 27. August 2019 in Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 13. September 2019 aufzuheben,
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie fasst ihre vorprozessualen Ausführungen noch einmal zusammen und vertieft diese zugleich.
12Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges der Beklagten verwiesen.
13Entscheidungsgründe:
14Das Gericht konnte durch den Einzelrichter mündlich verhandeln und entscheiden, weil ihm zuvor der Rechtsstreit mit Beschluss vom 5. August 2020 zur Entscheidung übertragen worden war, § 6 VwGO.
15Die Klage hat keinen Erfolg.
16Sie ist trotz unstatthaften Vorverfahrens – der Kostenersatz erfüllt nicht den Begriff der Abgabe im Sinne des KAG; vgl. auch § 110 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 JustG und die gerichtliche Verfügung vom 13. Februar 2020, Bl. 64 der Gerichtsakte - zulässig, aber unbegründet.
17Die Kostenanforderung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
18In formeller Hinsicht ist der Kläger vor Erlass des angefochtenen Kostenbescheides gemäß § 28 VwVfG NRW angehört worden.
19Der Einzelrichter sieht – mit Ausnahme der nachfolgenden Ausführungen - von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil er zunächst der Begründung des Verwaltungsaktes und des Widerspruchsbescheides unter Berücksichtigung der Klageerwiderung folgt, vgl. § 117 Abs. 5 VwGO.
20Das nach der für das Kostenverlangen einschlägigen Rechtsgrundlage von § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 4 BHKG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 Nr. 1 Feuerwehrsatzung der Beklagten erforderliche grob fahrlässige Herbeiführen einer Gefahr durch den Verursacher liegt hier zweifelsfrei zu Lasten des Klägers vor. Dabei spielt es keine Rolle, dass er die Abflammarbeit nicht persönlich durchgeführt, sondern durch seinen minderjährigen Sohn hat ausführen lassen. Denn bereits in der Heranziehung seines Sohnes selbst liegt ein grob fahrlässiges Verhalten, ohne dass es darauf ankommt, ob darüber hinaus auch der ausführenden Person ein entsprechender Vorwurf zu machen ist (vgl. § 17 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 OBG NRW). Der Umgang mit einer offenen Flamme war am Schadenstag per se ein derart sozialinadäquates Verhalten, das in seiner Dimension ohne weiteres den Begriff der groben Fahrlässigkeit erfüllt. Ausgehend von der Legaldefinition in § 276 Abs. 2 BGB für die Fahrlässigkeit bedarf es einer Steigerung, die in objektiver Hinsicht einen schweren und in subjektiver Hinsicht einen nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erfordert. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Es muss eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegen, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet.
21BGH, Urteil vom 10. Oktober 2013 – III ZR 345/12 -, juris, Rn. 26.
22Ausgehend von der allgemein bekannten und für jedermann wahrnehmbaren Trockenperiode mit hohen Tagestemperaturen hat sich am Schadenstag gerade eine Gefahr realisiert, die nicht als atypisch und unvorhersehbar im Sinne von fernliegend, sondern als immanent im Umgang mit einem Unkrautbrenner zu bewerten ist. Unter Anlegung des erforderlichen Sorgfaltsmaßstabes war am Schadenstag das Abflammen von Unkraut mittels eines Gasbrenners im Abstand von einem Meter zu einer Hecke in jedem Fall zu unterlassen. Es gehört zum Allgemeingut, dass ausgetrocknetes Laub unkontrolliert durch einen Gasbrenner entzündet und in unmittelbarer Umgebung ebenfalls extrem trockene Vegetation in Brand setzen kann, der sich binnen kürzester Zeit ausbreitet. In subjektiver Hinsicht kann auch nicht damit gerechnet werden, einen solchen Brand unter Kontrolle zu bekommen.
23Der Kläger kann auch nicht damit gehört werden, die Beklagte habe ihr Ermessen nicht erkannt. § 52 Abs. 2 Satz 1 BHKG ermächtigt die Gemeinden im Zusammenspiel mit Abs. 4, den Kostenersatz nach Abs. 2 durch Satzung zu regeln. In diesem Sinne ist das „können“ in § 52 Abs. 2 Satz 1 BHKG zu verstehen. Der Hinweis des Klägers auf das Urteil des BayVGH vom 9. November 2009 – 4 B 09.594 -, juris, ist im vorliegenden Fall nicht zielführend. Abweichend von der Regelung in § 28 Abs. 4 Satz 1 BayFwG bezieht sich die Satzungsermächtigung des BHKG nicht nur auf die Festlegung von Pauschalsätzen für den Kostenersatz und damit lediglich auf die Höhe der zu fordernden Geldbeträge. Vielmehr ist ein Ermessen bei der Kostenanforderung durch Leistungsbescheid nur dann eröffnet, wenn der Ersatz von Kosten oder die Erhebung von Entgelten nach Lage des Einzelfalles eine unbillige Härte oder aufgrund gemeindlichen Interesses gerechtfertigt ist. Insoweit zeichnet die Feuerwehrsatzung der Beklagten in § 3 Abs. 6 die gesetzliche Regelung in § 52 Abs. 7 BHKG nach. Die Beklagte hatte mangels greifbarer Anhaltspunkte keine Veranlassung, einen das Ermessen erstmals eröffnenden Fall der unbilligen Härte oder des gemeindlichen Interesses zu prüfen.
24Selbst wenn man den Standpunkt des Klägers einnimmt, und das Wort „können“ in § 52 Abs. 2 Satz 1 BHKG als Ermessen bei der Kostenerhebung auffasst, spricht vieles dafür, in dieser Konstellation einen Fall der „intendierten Entscheidung“ anzunehmen.
25Vgl. dazu allgemein: Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 25. Auflage 2019, § 114 Rn. 21b.
26Denn bei Auslegung des formellen Gesetzes wäre für den Regelfall eine bestimmte Entscheidung vorgegeben, von der nur in besonders begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden soll. Die allgemeinen haushaltsrechtlichen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (vgl. § 7 Abs. 1 LHO NRW, § 75 Abs. 1 Satz 2 GO NRW) erfordern grundsätzlich eine zwingende Kostenerhebung. Ausnahmefälle davon regelt § 52 Abs. 7 BHKG.
27Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Da der Kläger nicht Kostengläubiger geworden ist, bleibt für eine ihn nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO begünstigende Entscheidung kein Raum.
28Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
29Rechtsmittelbelehrung:
30Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
31Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
32Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.
33Die Berufung ist nur zuzulassen,
341. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
352. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
363. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
374. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
385. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
39Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen.
40Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.
41Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
42Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
43Beschluss
44Der Streitwert wird auf die Wertstufe bis 1.500 Euro festgesetzt.
45Gründe:
46Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG erfolgt.
47Rechtsmittelbelehrung:
48Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
49Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
50Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
51Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
52Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
53War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 6.866,82 € nebst Zinsen hierauf in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.01.2016 sowie weitere 337,07 € nebst Zinsen hierauf in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.01.2016 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 42 % und die Beklagte zu 58 % zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar,
für den Kläger aber nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt Schadensersatz wegen der Beschädigung seines Fahrzeugs bei dem Transport auf dem Autozug nach Sylt.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Pkw Range Rover Typ Sport SDV 6 / TDV 6 FAP, eines Geländewagens / SUV. Zur serienmäßigen Ausstattung des Fahrzeugs gehört ein Heckspoiler.
3
Die Beklagte betreibt den „Sylt-Shuttle“ Autozug zwischen Niebüll und Westerland (Sylt). Bei dem Transport werden Fahrzeuge auf den Doppelstockeinheiten in Fahrtrichtung des Zuges vorwärts, auf den Einstockeinheiten in Fahrtrichtung des Zuges rückwärts transportiert. An den Zufahrten des Terminals wiesen Schilder am 25.10.2015 u.a. auf Folgendes hin:
4
„... Eine Beförderung Ihres Fahrzeuges ist auf der gesamten Strecke rückwärts möglich (Beförderung auf Einstockeinheiten), hierauf sind von Ihnen alle Sicherheitsvorkehrungen einzurichten. ...Es gelten die Bedingungen und Preise des Sylt-Shuttle-Tarifs.Die Tarifbestimmungen können Sie hier im Terminal oder im Internet unter www.bahn.de/syltshuttle einsehen.“
5
In den Tarifbestimmungen „Sylt Shuttle-Tarif“ Nr. 635 des Tarifverzeichnisses, Fassung vom 01.01.2014, heißt es u.a.:
6
„...A 17 Haftung und Schadensabwicklung ansonsten ...17.1 Für die Haftung aus er Beförderung von Kraftfahrzeugen ansonsten gelten die Bestimmungen der CIV in der Fassung des Anhangs I zur Verordnung (EG) 1371/2007 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr. ...17.5 Aus anderen Rechtsgründen haftet die DB Fernverkehr AG grundsätzlich nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit ... Außer in Fällen von Vorsatz, grober Fahrlässigkeit oder der Verletzung wesentlicher Vertragspflichten ist die Haftung für Sachschäden gegenüber jedem Reisenden auf einen Höchstbetrag von 1.000 € beschränkt. ...“
7
In der Vergangenheit wurde der Kläger mit seinem Fahrzeug auf dem Autozug mehrfach auf den Doppelstockeinheiten in Fahrtrichtung vorwärts befördert. Am 25.10.2015 wurde der Kläger von Mitarbeitern der Beklagten erstmals auf eine Mitfahrt auf einer Einstockeinheit verwiesen. Das Fahrzeug des Klägers wurde dementsprechend in Fahrtrichtung des Zuges rückwärts transportiert. Während der Fahrt riss der Heckspoiler vom Fahrzeug des Klägers und rutschte über das Dach des Fahrzeugs hin- und her. Hierdurch wurde das Fahrzeug des Klägers beschädigt. Ursache und Umfang des Schadens sind zwischen den Parteien streitig. Mit Schreiben vom 28.10.2015 (Anlage K3, Blatt 19 der Akte) lehnte die Beklagte eine Regulierung des Schadens ab. Daraufhin beauftragte der Kläger die XXX Ingenieurbüro XXX mbH mit der Erstellung eines Schadengutachtens, hierfür zahlte er 757,44 €.
8
Der Kläger behauptet, der Autozug sei mit einer deutlich über 100 km/h liegenden Geschwindigkeit gefahren. Dies und der Umstand, dass sein Fahrzeug rückwärts gegen die Fahrtrichtung des Zuges transportiert worden sei, hätten den Abriss des werksseitig ordnungsgemäß angebrachten und mangelfreien Heckspoilers verursacht. Hierdurch sei ihm ein Schaden in Höhe von 7.052,75 € entstanden. Diesen beziffert der Kläger wie folgt: Ausweislich eines vorgerichtlich eingeholten privaten Sachverständigengutachtens belaufe sich der Reparaturschaden auf 5.819,31 € brutto. Hinzuzurechnen seien die Sachverständigenkosten in Höhe von 757,44 € und eine Entschädigung für einen Nutzungsausfall für vier Reparaturtage in Höhe von 476,00 €. Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte hafte für den eingetretenen Schaden wegen einer schuldhaften Verletzung des Beförderungsvertrags, wegen der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht nach § 823 Abs. 1 BGB und wegen der Betriebsgefahr nach Anhang I Art. 36 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (Fahrgastrechte-VO).
9
Nachdem der Kläger eine zwischenzeitliche Erhöhung der Klage auf 11.806,44 € im Übrigen zurückgenommen hat, beantragt er zuletzt
10
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 7.052,75 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.01.2016 zu zahlen;
11
2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger als anteilige Erstattung seiner vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten weitere 376,52 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.01.2016 zu zahlen.
12
Die Beklagte beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Die Beklagte bestreitet, dass der Autozug mit einer deutlich über 100 km/h liegenden Geschwindigkeit gefahren sei - tatsächlich betrage die maximale Geschwindigkeit der Züge 100 km/h, darüber hinaus würden sie abgeregelt. Sie meint, eine Haftung für die Beschädigung des Fahrzeugs des Klägers sei gemäß Anhang I Art. 36 Abs. 3 der Fahrgastrechte-VO, welche auch über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten in den zwischen den Parteien geschlossenen Beförderungsvertrag einbezogen seien, ausgeschlossen. Hierzu trägt die Beklagte vor, sämtliche Pkw und SUV seien in der Weise ausgelegt, dass sie schadenfrei mit einer Geschwindigkeit bis zu 100 km/h rückwärts befördert werden könnten. Dies gelte auch für das Fahrzeug des Klägers. Dass sich der Heckspoiler des klägerischen Fahrzeugs bei der Fahrt gelöst habe, könne deshalb nur auf einem technischen Defekt der Spoilerbefestigung beruhen. Dann aber sei die Beschädigung des Fahrzeugs auf einen „Mangel der Verpackung“ zurückzuführen, wofür sie nicht hafte. Wenn demgegenüber der Heckspoiler mangelfrei befestigt gewesen sein sollte, sei die Beschädigung auf die „natürliche Beschaffenheit des Reisegepäcks“ zurückzuführen - auch hierfür hafte die Beklagte nicht.
15
Darüber hinaus ist die Beklagte der Ansicht, im Falle einer Haftung dem Grunde sei sie allenfalls zu einer Entschädigung in Höhe der Wertminderung des Reisegepäcks verpflichtet, nicht aber zum Ersatz weiterer Schäden. Die Beklagte bestreitet eine Wertminderung des klägerischen Fahrzeugs in Höhe der vom Kläger vorgetragenen Reparaturkosten.
16
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
17
Das Gericht hat aufgrund des Beweisbeschluss vom 23.11.2016 (Blatt 153 der Akte), abgeändert durch Beschluss vom 06.10.2017 (Blatt 227 der Akte), Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing.B 24.06.2019 Bezug genommen. Der Sachverständige hat sein Gutachten in der mündlichen Verhandlung am 14.09.2020 erläutert und ergänzt; insoweit wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung (Blatt 409 der Akte) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
18
I. Die Klage ist in dem erkannten Umfang begründet.
19
1. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von 6.109,38 € gemäß Art. 11, Anhang I Artt. 36, 42 und 47 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (Fahrgastrechte-VO).
20
a) Auf den Transport des Klägers und seines Fahrzeugs am 25.10.2015 finden die Regelungen der Fahrgastrechte-VO Anwendung (Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Fahrgastrechte-VO), die zuungunsten des Fahrgastes auch nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden können (Art. 6 Abs. 1 Fahrgastrechte-VO). Die Haftung der Beklagten als Eisenbahnunternehmen für die Beschädigung das Fahrzeugs des Klägers als Fahrgast richtet sich dabei nach den Bestimmungen über die Haftung für Reisegepäck (Anhang I Art. 47 Fahrgastrechte-VO).
21
b) Gemäß Anhang I Art. 36 Abs. 1 Fahrgastrechte-VO haftet der Beförderer grundsätzlich u.a. für den Schaden, der durch Beschädigung des Reisegepäcks in der Zeit von der Übernahme durch den Beförderer bis zur Auslieferung entsteht. Die Voraussetzungen dieser verschuldensunabhängigen Haftung liegen hier vor: Das Fahrzeug des Klägers wurde während der Beförderung auf dem Autozug dadurch beschädigt, dass der Heckspoiler abriss und über das Dach des Fahrzeugs hin- und herrutschte.
22
c) Diese Haftung ist entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht nach Anhang I Art. 36 Abs. 3 Buchst. a und b Fahrgastrechte-VO ausgeschlossen:
23
aa) Ein solcher Haftungsausschluss folgt zunächst nicht aus Anhang I Art. 36 Abs. 3 Buchst. a Fahrgastrechte-VO. Danach ist der Beförderer von der Haftung befreit, soweit die Beschädigung aus der mit einem Mangel der Verpackung oder deren Fehlen verbundenen besonderen Gefahr entstanden ist.
24
(1) Ein Mangel der Verpackung, hier des Fahrzeugs, liegt nicht vor. Dies wäre der Fall, wenn der Heckspoiler mangelhaft, etwa vorgeschädigt, am Fahrzeug des Klägers befestigt gewesen wäre. Für ihre dahingehende Behauptung ist die Beklagte darlegungs- und beweisbelastet. Dieser Beweis ist der Beklagten nicht gelungen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts iSd. § 286 Abs. 1 ZPO fest, dass der Heckspoiler der Fahrzeugs unmittelbar vor dem Abriss serienmäßig mangelfrei und ohne Vorschädigungen am Fahrzeug befestigt war. Der Sachverständige Dipl.-Ing. B, an dessen Qualifikation das Gericht aufgrund langjähriger Zusammenarbeit keine Zweifel hat, hat nachvollziehbar und überzeugend sowohl schriftlich ausgeführt als auch mündlich erläutert, dass Ursache des Abrisses des Heckspoilers allein die durch die Rückwärtsbewegung entstandene Windbelastung gewesen sei und keine Vorschädigung der Befestigung des Heckspoilers. Entgegen des Vortrags der Beklagten werde eine Luftanströmung rückwärts mit Geschwindigkeiten im Bereich von 100 km/h und höher bei der Fahrzeugentwicklung nicht geprüft. Als Folge des Rückwärtstransports von Kraftfahrzeugen auf den Einstockwagen des Autozugs und der dadurch erzeugten Strömungsbelastung seien im Fall einer ungünstigen Witterung unter Verstärkung der Fahrtwindbelastung Beschädigungen zwangsläufig. So sei es bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug gewesen: Art, Umfang, Verlauf und Verteilung der Beschädigungen an den begutachteten Befestigungspunkten des Heckspoilers, insbesondere die Bruchausbildungen über die Dicke des Kunststoffmaterials, wiesen auf eine Überlastung des Heckspoilers von hinten unten hin - dieses Schadensbild und das Ausweichen des Bauteils durch Drehung seien nur durch Windbelastung erklärlich. Die genaue Untersuchung des Schadensbildes der Befestigungspunkte lasse zudem erkennen, dass der Heckspoiler zum Zeitpunkt des Schadenseintritts vollständig und ordnungsgemäß befestigt gewesen sei; zudem seien ansonsten charakteristische Anzeichen von Dauerbrüchen und damit für Vorschädigungen nicht vorhanden, weshalb ein Mangel der Befestigung als Schadensursache auszuschließen sei. Damit ist ein Mangel der Verpackung, hier des Fahrzeugs, iSd. Anhangs I Art. 36 Abs. 3 Buchst. a Fahrgastrechte-VO als Schadensursache nicht festzustellen.
25
(2) Die Beschädigung des Fahrzeugs des Klägers ist auch nicht aus der mit dem Fehlen einer Verpackung verbundenen besonderen Gefahr entstanden. Bei einem wie hier vereinbarungsgemäß erfolgten Transport von Fahrzeugen auf offenen Eisenbahnwagen fehlt es zwar naturgemäß an einer Verpackung des Fahrzeugs. Dies wird von der Regelung in Anhang I Art. 36 Abs. 3 Buchst. a Fahrgastrechte-VO aber nicht umfasst. Diese Vorschrift regelt den Fall, dass eine an sich vorgesehene Verpackung des Gutes entweder vollständig fehlt oder mangelhaft ist. Der hier vorliegende Fall, dass das Gut üblicherweise nicht verpackt wird und von einer fehlenden Verpackung deshalb keine besondere Gefahr ausgeht, fällt dagegen nicht in ihren Anwendungsbereich (BGH, Urteil vom 12.12.2013 - I ZR 65/13, juris Rn. 19 zu Art. 36 CIV).
26
bb) Ein solcher Haftungsausschluss folgt aber auch nicht aus Anhang I Art. 36 Abs. 3 Buchst. b Fahrgastrechte-VO. Danach ist der Beförderer von der Haftung befreit, soweit die Beschädigung aus der mit der natürlichen Beschaffenheit des Reisegepäcks verbundenen besonderen Gefahr entstanden ist. Dies war hier ebenfalls nicht der Fall.
27
Der Bundesgerichtshof hat zu dem gleichlautenden Haftungsausschluss des Art. 36 § 3 Buchst. b CIV ausgeführt, dass Kraftfahrzeuge, die auf einem Autoreisezug befördert werden, regelmäßig keine Verpackung haben müssen, weil das Gefährdungspotential bei einem derartigen Transport nicht höher sei als bei einer Benutzung des Fahrzeugs im Straßenverkehr, weshalb dann auch keine besondere Gefahr aus der natürlichen Beschaffenheit des Kraftfahrzeugs im Sinne von Art. 36 § 3 Buchst. b CIV gegeben sein könne (BGH aaO Rn. 20). Ähnlich liegt der Fall hier. Zwar wurde vorliegend, worauf die Beklagte im Ausgangspunkt zutreffend auch hinweist, das Fahrzeug rückwärts transportiert. Damit wurde das Fahrzeug gerade nicht so benutzt wie im Straßenverkehr - der Sachverständige hat nachvollziehbar ausgeführt, dass die rückwärtige Windanströmung bei Transportgeschwindigkeiten von bis zu 100 km/h und bei entsprechenden Witterungsverhältnissen 150-190 km/h betragen könne, worauf Pkw mit einer Serienausstattung üblicherweise nicht geprüft würden. Gerade die werksseitige konstruktive Ausgestaltung des Heckspoilers an dem Fahrzeug des Klägers sei für eine Rückwärtsanströmung ungünstig, weil dieser beim Rückwärtstransport eine tiefe „Tasche“ bilde und keine Luftspalte aufweise, so dass Beschädigungen beim Rückwärtstransport und ungünstigen Witterungsverhältnissen zwangsläufig zu erwarten seien. Die serienmäßige konstruktive Ausführung und damit die „natürliche Beschaffenheit“ des Fahrzeugs sind deshalb für einen solchen Transport bei ungünstigen Witterungsverhältnissen nicht geeignet. Entgegen der Auffassung der Beklagten genügt dies aber nicht, um die Voraussetzungen des Haftungsausschlusses zu bejahen. Dieser setzt zudem voraus, dass die Beschädigung gerade aus der mit der natürlichen Beschaffenheit verbundenen besonderen Gefahr entstanden ist. Dies war hier nicht der Fall. Die besondere Gefahr der Beschädigung folgt nämlich nicht aus der konstruktiven Beschaffenheit des Fahrzeugs des Klägers als solche, sondern aus der von den Mitarbeitern der Beklagten getroffenen Entscheidung, dieses Fahrzeug nicht vorwärts, sondern rückwärts zu transportieren. Erst diese Entscheidung hat die besondere Gefahr der Beschädigung bei einem Rückwärtstransport geschaffen. Die in Anhang I Art. 36 Abs. 3 Buchst. b Fahrgastrechte-VO vorausgesetzte Besonderheit der Schädigungsgefahr liegt deshalb nicht im Fahrzeug, sondern in der genannten Entscheidung der Mitarbeiter der Beklagten begründet. Dieser Fall wird von dem Haftungsausschluss aber nicht umfasst.
28
d) Gemäß Anhang I Artt. 47, 42 Abs. 1 Fahrgastrechte-VO hat die Beklagte dem Kläger ohne weiteren Schadenersatz eine Entschädigung zu zahlen, die der Wertminderung des Fahrzeugs entspricht. Die Wertminderung ist dabei mangels anderweitiger Anhaltspunkte unter Berücksichtigung erforderlicher Reparaturkosten gemäß § 287 ZPO zu schätzen. Dies bedeutet, dass die vom Sachverständigen in seinem Gutachten ermittelten Reparaturkosten und übrigen Schäden den maßgeblichen Betrag ausmachen, da in diesem Umfang das Fahrzeug als wertmäßig gemindert anzusehen ist (so AG Dortmund, Urteil vom 30.03.2011 - 427 C 9900/07, juris Rn. 23 zu § 42 CIV, nicht beanstandet von BGH aaO). Der Kläger begehrt hier den Ersatz fiktiver Reparaturkosten auf Gutachtenbasis, weil die Reparatur bislang jedenfalls nicht vollständig durchgeführt worden ist. Diese Reparaturkosten, gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB ohne Umsatzsteuer, beziffert der Sachverständige auf 4.683,38 €. Zudem verbleibe auch im Fall einer Reparatur ein merkantiler Minderwert des Fahrzeugs in Höhe von 950,00 €. Das Gericht folgt dieser sachverständigen Beurteilung. Unter Berücksichtigung einer Reparaturdauer von vier Tagen errechnet sich zudem ein Nutzungsausfall von 476,00 €. Insgesamt ist die Wertminderung somit auf 6.109,38 € zu schätzen. Soweit in Nr. 17.5 der Tarifbedingungen der Beklagten die Haftung für Sachschäden gegenüber jedem Reisenden auf einen Höchstbetrag von 1.000 € beschränkt ist, ist diese Beschränkung im Anwendungsbereich der Fahrgastrechte-VO gemäß Art. 6 Fahrgastrechte-VO unwirksam.
29
2. Der Kläger hat gegen die Beklagte zudem einen Anspruch auf Erstattung der Kosten des außergerichtlichen Schadengutachtens der XXX Ingenieurbüro XXX GmbH iHv. 757,44 € gemäß § 280 Abs. 2, § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB sowie auf Erstattung seiner vorgerichtlichen, nicht auf die Kosten des Rechtsstreits anrechenbaren Rechtsanwaltskosten in Höhe von 337,07 €.
30
a) Der Anspruch auf Ersatz eines Verzugsschadens ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Entschädigung gemäß Anhang I Artt. 47, 42 Abs. 1 Fahrgastrechte-VO „ohne weiteren Schadenersatz“ zu zahlen ist. Der Ersatzanspruch nach Anhang I Artt. 47, 36, 42 Abs. 1 Fahrgastrechte-VO schließt nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 11 Fahrgastrechte-VO weitergehende Ersatzansprüche aus nationalem Recht nicht aus.
31
b) Die Kosten des außergerichtlichen Schadengutachtens der XXX Ingenieurbüro XXX GmbH stellen einen Verzögerungsschaden des Klägers dar. Mit Schreiben vom 28.10.2015 (Anlage K3, Blatt 19 der Akte) lehnte die Beklagte eine Regulierung des Schadens ernsthaft und endgültig ab, sie befand sich seitdem gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB in Verzug. Daraufhin durfte der Kläger davon ausgehen, dass er seinen Schadensersatzanspruch streitig werde durchsetzen müssen, und hierzu ein Schadengutachten beauftragen. Gleiches gilt für die Beauftragung eines Rechtsanwalts zur Durchsetzung seines Schadensersatzanspruchs, weshalb auch die vorgerichtlichen, nicht auf die Kosten des Rechtsstreits anrechenbaren Rechtsanwaltskosten als Verzugsschaden zu ersetzen sind. Aufgrund des Umstands, dass der Kläger aber nur einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 6.109,38 € hat, errechnen sich diese ausgehend von einem entsprechenden Gegenstandswert auf 337,07 €.
32
3. Ob der Kläger gegen die Beklagte auch vertragliche oder deliktische Ansprüche hat, bedarf keiner Entscheidung. In diesem Zusammenhang ist auch unerheblich, ob die Tarifbestimmungen „Sylt Shuttle-Tarif“ wirksamer Vertragsbestandteil des zwischen den Parteien geschlossenen Beförderungsvertrags geworden sind. Rechtsfolge sämtlicher in Betracht kommenden Ansprüche wäre nach § 249 BGB nämlich der Ersatz des Schadens, den der Kläger bereits gemäß Art. 11, Anhang I Artt. 36, 42 und 47 Fahrgastrechte-VO beanspruchen kann.
33
4. Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB.
34
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1, § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
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Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen die Besteuerung einer Abfindungszahlung bei der Umsatzsteuer 2015.
2
Die Klägerin ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Gesellschafter sind zu gleichen Teilen die A GmbH (...) und die B UG (...). Geschäftsführer beider Gesellschafterinnen ist Herr C. Zweck der Klägerin war laut Gründungsvertrag vom ... Juni 2015 der Erwerb, die Verwaltung und die wirtschaftliche Ausnutzung und Verwertung des Grundstücks X-Straße in D.
3
Am Gründungstag kaufte die Klägerin das Grundstück X-Straße, ... D mitsamt einem darauf stehenden Bürokomplex von der E GmbH (...) für ... Euro.
4
Dieses Grundstück verkaufte die E GmbH am ... September 2015 an die F GmbH (...).
5
Am ... Oktober 2015 schlossen die E GmbH und die Klägerin einen Aufhebungsvertrag zu dem zuvor abgeschlossenen Kaufvertrag. Des Weiteren war Vertragspartner die F GmbH, die die Rückzahlungsverpflichtung der bereits geleisteten Anzahlung in Höhe von ... Euro im Wege der befreienden Schuldübernahme übernahm.
6
Am gleichen Tage schloss Herr C mit der F GmbH einen Abfindungsvertrag, in welchem sich die F GmbH nach § 2 Abs. 1 des Vertrages verpflichtete, an Herrn C eine Abfindungssumme in Höhe von ... Euro zu zahlen. Dieser Abfindungsvertrag stand nach § 1 Abs. 2 des Vertrages unter der auflösenden Bedingung, dass der Grundstückaufhebungsvertrag vom gleichen Tage nicht vollzogen wurde.
7
Danach übte die Klägerin keine Tätigkeiten mehr aus.
8
Mit Bescheid vom 10. Juli 2019 setzte der Beklagte die Umsatzsteuer nach Schätzung - da keine Umsatzsteuererklärung abgegeben worden war - für das Jahr 2015 auf ... Euro fest. Die Schätzung beruhte darauf, dass der Beklagte die Abfindungszahlung als steuerpflichtig einstufte. Da die Klägerin Vertragspartei im Aufhebungsvertrag zum Grundstückskaufvertrag sei, sei sie Schuldnerin der Umsatzsteuer.
9
Die Klägerin legte am 15. Juli 2019 Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Der Vorgang sei umsatzsteuerfrei, da er der Grunderwerbsteuer unterlegen habe. Zudem habe es sich um eine Geschäftsveräußerung im Ganzen gehandelt.
10
Der Beklagte lehnte die Aussetzung der Vollziehung mit Bescheid vom 10. September 2019 ab, weil nach summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestünden. Eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 9a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) komme nicht in Betracht.
11
Mit Einspruchsentscheidung vom 29. November 2019 wies der Beklagte den Einspruch gegen die Festsetzung der Umsatzsteuer 2015 zurück. Der Bescheid verstoße nicht gesetzliche Bestimmungen.
12
Die Klägerin hat am 9. Dezember 2019 Klage erhoben und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (6 V 299/19). Zur Begründung führt sie aus: Ursprünglich habe sie das Grundstück erworben, um es an die ... D weiterzuvermieten. Sodann habe aber doch die F GmbH das Grundstück übernehmen sollen. Weder sie, die Klägerin, noch die F GmbH hätte ein Interesse daran gehabt, der E GmbH offenzulegen, wie hoch die Abfindungszahlung (der "Veräußerungsgewinn") ausgefallen sei. Daher sei das ganze Vertragswerk entstanden. Sie, die Klägerin, sei nicht Erwerber des Grundstücks. Dies seien nur die E-GmbH und die F GmbH. Der Vorgang sei von der Umsatzsteuer befreit, weil er unter das Grunderwerbssteuergesetz falle. Dies ergebe sich aus dem dem Beklagten übermittelten Grunderwerbsteuerbescheid. Im Übrigen habe es sich um eine Betriebsveräußerung gehandelt.
13
Die Klägerin beantragt,den Bescheid über die Umsatzsteuer 2015 vom 10. Juli 2019 und die Einspruchsentscheidung vom 29. November 2019 aufzuheben.
14
Der Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.
15
Zur Begründung führt er aus: Die vereinbarte Abfindung sei eine sonstige Leistung im Sinne des Umsatzsteuerregimes. Eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen liege nicht vor, weil mit dem Abfindungsvertrag kein gesondert geführter Betrieb im Ganzen übereignet oder in eine Gesellschaft eingebracht werde. Der Steuerbefreiungstatbestand des § 4 Nr. 9a UStG greife nicht, weil die Abfindung nicht der Grunderwerbsteuer unterliege. Nach dem Gesetzeszweck solle die steuerliche Doppelbelastung eines Sachverhalts vermieden werden. Die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass tatsächlich eine steuerliche Doppelbelastung vorgelegen habe. Der im Verfahren eingereichte Grunderwerbsteuerbescheid betreffe nicht die Abfindung, sondern den Kaufvertrag.
16
Die Abfindung sei nicht an Herrn C persönlich, sondern an die Klägerin gezahlt worden. Dies ergebe sich aus einer Gesamtschau der zivilrechtlichen Verträge und der steuerrechtlich relevanten Durchführung der Verträge. So sei nach § 1 Abs. 2 des Grundstücksaufhebungsvertrages die geleistete Anzahlung an die Klägerin und nicht an Herrn C zurückzuzahlen. Im Abfindungsvertrag werde nicht festgehalten, für wen Herr C handele. Dies lasse sich nur damit erklären, dass die Parteien gewusst hätten, dass der Abfindungsvertrag in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kaufvertrag und dem Aufhebungsvertrag stehe. Wegen der Verknüpfung durch die auflösende Bedingung seien Aufhebungs- und Abfindungsvertrag als einheitliches Ganzes zu sehen. Auch sei die Abfindung zur Hälfte im Jahresabschluss bei der Gesellschafterin der Klägerin der A GmbH berücksichtigt worden und in voller Höhe im Jahresabschluss der Klägerin. Herr C habe im Einspruchsverfahren vorgetragen, dass die Klägerin nur ein einziges Mal eine Einnahme erzielt habe, nämlich für den Verzicht auf ein Grundstück/Geschäftsaufgabe. Auch aus dem weiteren Vorbringen ergebe sich, dass Herr C die Abfindung der Klägerin zugerechnet habe. Umsatzsteuerlich sei der Vorgang wie folgt zu werten: Die Klägerin habe als Leistung die Zustimmung zum Grundstücksaufhebungsvertrag erbracht. Dieser Leistung stehe die Gegenleistung - Abfindung - gegenüber. Leistungsempfängerin der Abfindung sei die Klägerin. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) sei die Bestimmung der Leistungsbeziehungen im Rahmen der zugrundeliegenden Rechtsverhältnisse nach dem Gesamtbild des Einzelfalls zu treffen. Danach sei die Klägerin Leistungsempfängerin der Abfindung gewesen.
17
Das Eilverfahren haben die Beteiligten nach einem Hinweis des Gerichts übereinstimmend für erledigt erklärt.
18
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 21. August 2020 verwiesen. Ergänzend wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie die Umsatzsteuerakten, die Rechtsbehelfsakten des Beklagten und die Akten des Eilverfahrens 6 V 299/19 Bezug genommen, die dem Gericht bei seiner Entscheidung vorgelegen haben.
19
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis ohne mündliche Verhandlung erklärt. Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 14. September 2020 auf die Einzelrichterin übertragen.
Entscheidungsgründe
20
I. Die Entscheidung konnte durch die Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung ergehen, da der Senat das Verfahren auf die Einzelrichterin übertragen hat, vgl. § 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt haben, vgl. § 90 Abs. 2 FGO.
21
II. Die Klage ist zulässig (1.) und begründet (2.).
22
1. Die nach § 40 Abs. 1 FGO statthafte Anfechtungsklage ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Klägerin beteiligtenfähig, auch wenn sie keinerlei Tätigkeiten mehr entfaltet, denn sie besteht trotz jeglicher Aufgabe von Tätigkeiten solange fort, bis alle Ansprüche und Verpflichtungen das Gesellschaftsvermögen betreffend abgewickelt sind. Dazu zählen auch Verpflichtungen aus den Steuerrechtsverhältnissen (BFH, Urteil vom 1. Oktober 1992, IV R 60/91, juris, Rn. 12 ff.; Hartman, in: Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Stand: Februar 2020, § 57 FGO Rn. 26). Aus diesem Grunde konnten auch der Umsatzsteuerbescheid 2015 und die Einspruchsentscheidung an die Klägerin ergehen.
23
2. Die Klage ist auch begründet. Der Umsatzsteuerbescheid 2015 vom 10. Juli 2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. November 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Zwar ist die Klägerin als Unternehmerin im Sinne des Umsatzsteuerrechts einzustufen (a)), es fehlt aber an der erforderlichen sonstigen Leistung (b)).
24
a) Die Klägerin ist als Unternehmerin einzustufen.
25
Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen der Umsatzsteuer Lieferungen und sonstige Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG ist Unternehmer, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Nach Satz 2 der Vorschrift umfasst das Unternehmen die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmers. Eine Tätigkeit ist nach der Rechtsprechung nachhaltig, wenn sie - ohne Rücksicht auf ihr Motiv - auf Wiederholung angelegt ist und im Sinne einer geschäftsmäßigen Tätigkeit auf den Erwerb von Einnahmen ausgerichtet ist (vgl. BFH, Urteil vom 13. Dezember 1984, V R 32/74, juris, Rn. 19; Korn in: Bunjes, Umsatzsteuergesetz, Kommentar, 19. Auflage 2020, § 2 Rn. 65 m.w.N.). Ob dies der Fall ist, ist in erster Linie nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen (BFH, Urteil vom 7. September 1995, V R 25/94, juris, Rn. 11; Korn in: Bunjes, Umsatzsteuergesetz, Kommentar, 19. Auflage 2020, § 2 Rn. 65). Im Hinblick auf Veräußerungsgeschäfte ist zu beachten, dass der bloße Erwerb und der bloße Verkauf eines Gegenstands keine Nutzung eines Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen i.S.v. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem darstellt (EuGH, Urteil vom 15. September 2011, C-180/10 - Slaby -, juris, Rn. 37ff.; Korn in: Bunjes, Umsatzsteuergesetz, Kommentar, 19. Auflage 2020, § 2 Rn. 67).
26
Nach diesen Grundsätzen ist von einer Nachhaltigkeit auszugehen. Denn die Klägerin hat das Grundstück nicht nur erworben, sondern wollte dies auch vermieten. Geschäftszweck war die Herrichtung des Grundstücks und dessen Vermietung. Damit handelte es sich nicht nur um einen bloßen Erwerb eines Grundstücks. Vielmehr handelte die Klägerin nach dem Gesamtbild der Verhältnisse geschäftsmäßig. Dass der Kaufvertrag am ... Oktober 2015 wieder aufgehoben und im Ergebnis keine steuerbaren Umsätze aus der Vermietungstätigkeit erzielt werden konnten, ist nicht relevant, weil es für das Kriterium der Nachhaltigkeit darauf ankommt, ob die Tätigkeit auf eine Wiederholung angelegt ist, nicht aber, ob sich diese im Nachhinein auch realisieren lässt.
27
b) Es fehlt aber an dem des Weiteren erforderlichen Leistungsaustausch zwischen der F GmbH und der Klägerin.
28
Bei nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG steuerbaren Leistungen bestimmt sich die Person des Leistenden nach dem der Leistung zugrundeliegenden Rechtsverhältnis (BFH, Urteil vom 12. Mai 2011, V R 25/10, juris, Rn. 15). Für die Bestimmung der Leistungen und der Leistungsbeziehungen folgt das Umsatzsteuerrecht grundsätzlich dem Zivilrecht (BFH, Urteil vom 22. August 2019, V R 12/19, juris, Rn. 25; BFH, Urteil vom 12. Mai 2011, V R 25/10, juris, Rn. 16). Zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger muss ein Rechtsverhältnis bestehen, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte bestimmbare Dienstleistung bildet (BFH, Beschluss vom 22. Mai 2019, XI R 20/17, juris, Rn. 15 m.w.N.).
29
Nach diesen Maßstäben ist die Abfindungszahlung nicht an die Klägerin geleistet worden, sondern an Herrn C persönlich. Dies ergibt sich aus Folgendem:
30
Es wurde nicht nur ein Grundstücksaufhebungsvertrag notariell beurkundet, sondern zudem ein davon getrennter Abfindungsvertrag. Der notariell beurkundete Abfindungsvertrag wurde zwischen Herrn C und der F GmbH geschlossen, nicht aber zwischen der Klägerin und der F GmbH. Dort ist in § 2 Abs. 1 des Vertrages festgehalten, dass die Abfindungssumme an Herrn C persönlich und nicht an die Klägerin fließen sollte. Hinzu kommt, dass die Abfindungszahlung nach den unwidersprochenen Angaben von Herrn C im Erörterungstermin auch an ihn persönlich und nicht an die Klägerin geflossen ist.
31
Dass die beiden Verträge über die auflösende Bedingung miteinander verknüpft sind, sie am gleichen Tag vor dem gleichen Notar geschlossen wurden und Herr C Geschäftsführer der beiden Gesellschafterinnen der Klägerin ist, ändert nichts an dem Inhalt der beiden Verträge, auf den es für die Beurteilung der Leistungsbeziehungen ankommt. Dort sind explizit verschiedene Vertragsparteien aufgeführt, an die Leistungen erbracht werden. Hierbei fällt auch ins Gewicht, dass die beiden Verträge vor einem Notar abgeschlossen wurden.
32
Die Feststellungslast dafür, dass die zivilrechtlichen Leistungsbeziehungen im vorliegenden Fall von der tatsächlichen Durchführung überlagert werden, trägt das Finanzamt. Der Beklagte hat nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass die zivilrechtlichen Leistungsbeziehungen hier in den Hintergrund treten müssten und bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise eine Leistung an die Klägerin vorliegt.
33
Selbst wenn das Grundstück durch die Klägerin damals hergerichtet und damit wohl aufgewertet worden ist, so dass es in Betracht kommen könnte, dass die Abfindung für die Aufwertung fließen sollte, ist nicht ausreichend nachgewiesen, dass dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Genauso kommt in Betracht, dass Herr C selbst Leistungen für das Grundstück erbracht hat, die mit der Abfindung abgegolten werden sollten. Da der Beklagte die Feststellungslast trägt, geht dies zu seinen Lasten.
34
Wo die Abfindungszahlung gebucht worden ist, ist nicht entscheidend, weil der Buchung bei der Klägerin weitere Leistungsbeziehungen zugrunde liegen können und nicht klar ist, ob nicht falsch gebucht worden ist. Die Buchung selbst kann die Frage, wo sich der Leistungsaustausch befindet, daher nicht allein bestimmen.
35
Im Abfindungsvertrag musste die Frage, für wen Herr C handelte, nicht geregelt werden, weil er für sich selbst handelte. In einem solchen Fall ist eine Regelung überflüssig.
36
Unerheblich ist, dass die Frage der Leistungsbeziehung im Einspruchsverfahren nicht erörtert worden ist. Insoweit ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Klägerin nicht anwaltlich vertreten ist. Des Weiteren ist die Frage, wo die Leistungsbeziehung liegt, nach den tatsächlichen Verhältnissen zu beurteilen.
37
Das vom Beklagten vorgebrachte Argument, die Frage nach dem Leistungsaustausch richte sich nicht nach zivilrechtlichen, sondern ausschließlich nach den vom Unionsrecht geprägten umsatzsteuerrechtlichen Maßstäben, betrifft nicht die Frage zwischen welchen Parteien die Leistungsbeziehung besteht, sondern betrifft die Frage der Qualifikation des geflossenen Vorteils, nämlich ob es sich um eine Leistung oder nur um Schadensersatz handelt.
38
Da danach schon kein steuerbarer Umsatz zwischen der Klägerin und der F GmbH vorliegt, kommt es auf die Frage der Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 9a) UStG bzw. die Frage, ob eine Geschäftsveräußerung im Ganze im Sinne von § 1 Abs. 1a UStG vorliegt, nicht mehr an.
39
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1, 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 2 der Zivilprozessordnung.
40
IV. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 115 Abs. 2 FGO).
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Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Streitig ist, ob von einem kirchenrechtlichen Verein erbrachte Vermietungs-, Beherbergungs- und Verpflegungsleistungen als von einem sog. Zweckbetrieb erzielt dem ermäßigten Steuersatz unterliegen. Zudem ist der Umfang der abziehbaren Vorsteuerbeträge streitig.
2
Der Kläger ist Rechtsnachfolger des S e.V..
3
Der S e.V. war ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Religion. Er verfolgte gemäß § 2 seiner Satzung vom 24.02.2015 folgenden Zweck (Bl. 2 ff der Vertragsakte):
§ 2 Zweck des Vereins
(1)
Der Verein nimmt am Verkündigungsauftrag des Gründers der internationalen …-Bewegung Pater X teil. Er unterstützt die Zielsetzungen des internationalen …-Werkes, insbesondere die weltweite priesterliche Mitarbeit im internationalen …-Werk, dies insbesondere durch- berufliche Aus- und Fortbildung von Priestern,- Berufsbegleitung im seelsorgerischen Einsatz und sozial-caritativen Dienst im In- und Ausland (z. B. durch wissenschaftliche und religiöse Kurse, Bereitstellung von Fachliteratur und –material, Gewährung von Studienaufenthalten und Unterstützung entsprechender Aktionsprogramme),- Wahrnehmung der Interessen des priesterlichen Berufsstandes- soziale Bildungsmaßnahmen die Berufsbegleitung im seelsorgerischen Einsatz und sozial-caritativen Dienst im In- und Ausland.
(2)
Hierfür schafft er die materiellen und organisatorischen Voraussetzungen.
(3)
Dafür kann er Grundbesitz erwerben, verwalten und für eine Nutzung im Sinne des Vereinszwecks sorgen. Er kann auch als deren Rechtsträger unselbständige Stiftungen verwalten.
(4)
Darüber hinaus fördert der Verein Bildung und Erziehung auch im Zusammenwirken mit anderen gemeinnützig tätigen Vereinen und Institutionen im In- und Ausland.
(5)
Der Verein ist berechtigt, alle Nebenzwecke zu betreiben, die dem Hauptzweck dienen.
4
Mit Feststellungsbescheid für die Jahre 2015 bis 2017 vom 29.11.2018 wurde der S e.V. nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG von der Körperschaftsteuer und nach § 3 Nr. 6 GewStG von der Gewerbesteuer befreit, weil er ausschließlich und unmittelbar steuerbegünstigten gemeinnützigen Zwecken im Sinne der §§ 51 ff AO diene. Er fördere als gemeinnützigen Zweck die Religion. Die Satzungszwecke entsprächen § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO.
5
Mit Verschmelzungsvertrag vom 24.09.2019 wurde der S e.V. zum 31.01.2019 auf den Kläger verschmolzen.
6
Der S e.V. betrieb in den Streitjahren das Priester- und Gästehaus M. Das Haus verfügt über Gästezimmer, Seminar- und Tagungsräume, einer Hauskapelle, Cafeteria, „Klause“ im Schankstubenstil und Fernsehzimmer. Das Priester- und Gästehaus ist umgeben von einem weiträumigen parkähnlichen Garten mit Quelle, Bächen, Bäumen und einer Außenkapelle, … genannt. In einem weiteren Gebäude auf dem Gelände befinden sich Wohnungen für Ordensangehörige und vermietete Garagen. Wenn die Priester das Priester- und Gästehaus M nicht selbst nutzen, wird es für Gäste zur Verfügung gestellt. Hierfür warb der S e.V. auch in seinem Internetauftritt. Danach war das Gästehaus offen für Einzelpersonen, Urlauber und alle, die Erholung suchen, für Priester und kirchliche Gruppen, für Arbeitsteams und Teilnehmer an unterschiedlichen Seminaren, für Menschen, die die …-Bewegung näher kennenlernen wollen, und für jeden, der gerne kommt. Nach dem Internetauftritt verfügte das Gästehaus über Einzel- und Doppelzimmer mit Dusche und WC, über einfache Einzel- und Doppelzimmer mit Etagenbad und über Appartements. Die Mahlzeiten (Frühstück, Mittagessen und Abendessen) wurden den Gästen in Buffetform angeboten. Zudem bot der S e.V. auf seiner Homepage vier Tagungsräume für Seminare, Tagungen, Fortbildungen, Lernberatung, Exerzitien, Workshops, Teamtreffen, Familienfeiern und mehr an. Für alle angebotenen Leistungen (Übernachtung mit Frühstück, Mahlzeiten [Mittagessen, Abendessen, Kaffee und Kuchen, Stehkaffee, Lunchpaket] für Übernachtungsgäste, Mahlzeiten [Frühstück, Mittagessen, Abendessen, Kaffee und Kuchen, Stehkaffee, Lunchpaket] für Tagungsgäste, Überlassung von Veranstaltungsräumen) enthielt der Internetauftritt des S e.V. eine entsprechende Preisliste (Bl.167 der Prüferhandakte).
7
Das Priester- und Gästehaus M war in den Streitjahren auch in dem Unterkunftsverzeichnis der Stadt neben anderen Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen und zwei weiteren Gästehäusern aufgeführt.
8
In der Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr 2015 erklärte der S e.V. regelbesteuerte Leistungen in Höhe von 851 €, ermäßigt besteuerte Leistungen in Höhe von 271.319 € sowie steuerfreie Vermietungsleistungen in Höhe von 6.741 €. Die Umsätze aus der Beherbergung, aus der Verpflegung, aus der Vermietung der Tagungsräume sowie aus der Überlassung von Kopien und Telefon behandelte der S e.V. dabei als steuerpflichtig zum ermäßigten Steuersatz. Zudem machte er Vorsteuern in Höhe von insgesamt 50.274,74 € geltend. Hierin enthalten waren Vorsteuern aus Eingangsrechnungen für die Instandhaltungs- und Renovierungsarbeiten für beide Gebäude auf dem Gelände des S e.V. sowie für die Haus- und Außenkapelle. Es ergab sich eine verbleibende Umsatzsteuer in Höhe von – 31.120,72 € und nach Anrechnung des Vorauszahlungssolls eine Abschlusszahlung in Höhe von 569,29 €. Die Erklärung stand aufgrund allgemein erteilter Zustimmung einer Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich.
9
Im Rahmen einer Außenprüfung gelangte der Prüfer zu der Auffassung, dass die Verpflegungsleistungen (Konto # 8300 „Übernachtung/Verpflegung“: 259.153,46 €, Konto # 8304 „Getränkeverkauf“: 4.775,39 €, Konto # 8305 „Kaffeeverkauf“: 698,52 €), die Vermietung der Tagungsräume (Konto # 8303 „Raum/Medien“: 701,13 €), das Anfertigen von Kopien (Konto # 8308 „Kopien“: 22,60 €) sowie die Telefonleistungen (Konto # 8307 „Telefongebühren“: 1.250,38 €) dem Regelsteuersatz unterliegen, weil die diesbezüglichen Leistungen des S e.V. keinem Zweckbetrieb zuzuordnen seien. Diese Einnahmen seien vielmehr einem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb des S e.V. zuzuordnen. Da dem Prüfer keine getrennten Aufzeichnungen bezüglich der Beherbergungsleistungen und der Verpflegungsleistungen an Übernachtungsgäste (Konto # 8300) vorlagen, schätzte der Prüfer die Umsätze aus der Verpflegung an Übernachtungsgäste anhand der Verhältnisse der Vorjahre auf 23 v. H., mithin auf 59.605 €. Der Prüfer erhöhte die Umsätze zum Regelsteuersatz um insgesamt 67.053 € (= Konto # 8300: 59.605 € zzgl. Konten # 8303, 8304, 8305, 8307 und 8308 in Höhe von insgesamt 7.448 €) und minderte dementsprechend die Umsätze zum ermäßigten Steuersatz.
10
Zum Vorsteuerabzug führte der Prüfer im Prüfungsbericht vom 27.03.2017 aus, dass die Vorsteuern nur insoweit abzugsfähig seien, soweit sie den unternehmerischen Bereich betreffen würden. Vorsteuern aus Aufwendungen für die Renovierung der Kapellen und alles, was nicht den Beherbergungsbetrieb „M“ betreffe, seien dem Vereinsbereich zuzuordnen. Diese Vorsteuern seien nicht abzugsfähig. Insoweit müsse eine Vorsteueraufteilung nach § 15 Abs. 4 UStG vorgenommen werden. Hierzu seien jedoch keine Unterlagen vorgelegt worden.
11
Der Prüfer ermittelte steuerpflichtige Umsätze in Höhe von 269.594 € und nicht steuerbare/steuerfreie Umsätze in Höhe von 149.574 €, was zu einem Verhältnis der steuerpflichtigen Umsätze zu den Gesamtumsätzen von 64,32 v. H. führte. Anhand dieses Verhältnisses der Umsätze sowie durch direkte Zuordnung der Vorsteuerbeträge zu den jeweiligen Ausgangsleistungen bzw. zum ideellen Bereich des S e.V. gelangte der Prüfer zu der Auffassung, dass die erklärten Vorsteuerbeträge um 25.656,38 € zu kürzen seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Prüfungsbericht vom 27.03.2017 verwiesen (Bl. 4f der USt-Akte).
12
Der Beklagte erließ am 18.05.2017 einen entsprechend geänderten Umsatzsteuerbescheid für das Streitjahr 2015.
13
Hiergegen legte der S e.V. Einspruch ein. Er war der Ansicht, dass die streitigen Umsätze dem ermäßigten Steuersatz zu unterwerfen seien. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, es handle sich insgesamt um einen Zweckbetrieb mit der Zielrichtung des kirchlichen Verkündigungsauftrags. Die Beherbergung selbst sei als kirchlicher Zweck einzustufen, weil eine Beherbergung wie im Klosterbereich mit entsprechendem Angebot vorliege. Die Beherbergung im Kloster unterscheide sich deutlich von der in einem Hotel. Dies ergebe sich bereits daraus, dass die Mahlzeiten im Rahmen des Klosterablaufs eingenommen würden. Die Gäste seien eingeladen, am Tagesablauf des Klosters teilzunehmen. Zur Einladung gehöre auch die Bewirtung der Klostergäste, welche lediglich eine Nebenleistung darstelle. Es sei den Gästen nicht zuzumuten, für die Einnahme der Mahlzeiten Restaurants aufzusuchen. Eine andere Art der Zweckerreichung erscheine daher nicht möglich, zumal ein wesentlicher Bestandteil der klösterlichen Gemeinschaft in den gemeinsamen Mahlzeiten liege. Die Erbringung einer Gegenleistung führe zu keiner anderen Beurteilung, weil der Zweck der Beherbergung immer bestanden habe. Zudem hätten die Gäste nicht unbedingt eine Gegenleistung erbracht, sondern meist entsprechend ihrer Möglichkeiten eine Spende zur Kostendeckung hinterlassen. Wenn dies nun vorab als moderate Gegenleistung gefordert werde, könne dies den Grundgedanken, nämlich die Beherbergung als Einladung zu Gebeten, Exerzitien, Wallfahrten, Glaubens- und Seelsorgegesprächen und zur Beichte anzubieten, nicht beeinträchtigen, zumal auch denjenigen, die die Mittel hierfür nicht aufbringen könnten, immer Erleichterungen gewährt würden. Ein Wettbewerb in größerem Umfang gemäß § 65 Nr. 3 AO mit nicht begünstigten Betrieben sei nicht gegeben, weil diese nicht den kirchlichen Rahmen – insbesondere mit den Kapellen - bieten würden. Auch die Beköstigung könne keine Wettbewerbssituation begründen, weil sie lediglich den Kreis der Gäste umfasse. Bezüglich des Vorsteuerabzugs führte der S e.V. aus, dass die Kapellen untrennbar zum Gästehaus gehörten und nicht in erster Linie den Mitgliedern der Gemeinschaft vorbehalten seien, so dass insoweit der Vorsteuerabzug zu gewähren sei.
14
Mit Einspruchsentscheidung vom 18.10.2017 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Er führte aus, der Grund für die Unterscheidung eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs und eines Zweckbetriebs sei die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen durch einen Finanzierungsvorteil durch Steuerbefreiungen bzw. Steuerermäßigungen, wenn - wie im Streitfall - ein Verein in Konkurrenz zu privaten und gewerblichen Anbietern trete. In seinem Internetauftritt werbe der S e.V. mit den – auch teilweise neu eingerichteten und behindertengerechten - Zimmern seines Gästehauses. Es werde auch damit geworben, dass den Gästen eine gemütliche Cafeteria sowie eine Klause im Schankstubenstil zur Verfügung stünden. Das Gästehaus sei nach dem Internetauftritt für jeden offen. So werde auf der Homepage auch Fotos präsentiert, die beispielsweise den Sektempfang einer Goldenen Hochzeit zeigten. Auf Wandermöglichkeiten, die Nähe zu den Hochschulen und zur Stadt K sowie auf die vielfältigen Freizeitangebote der Region werde hingewiesen. Daneben werde auch die Möglichkeit aufgezeigt, die heiligen Orte … aufzusuchen. Die Mahlzeiten würden den Gästen in Buffetform angeboten. Der S e.V. trete somit in Wettbewerb mit nicht begünstigten Betrieben, was auch dadurch deutlich werde, dass das Gästehaus in dem Unterkunftsverzeichnis der Stadt gelistet sei. Auch der Umstand, dass die Zimmer nach dem vorliegenden Belegungsplan häufig von Studenten und Besuchern der nahegelegenen Hochschule genutzt würden, zeige, dass das Angebot des Gästehauses sich an einen breiten Kundenkreis richte. Der Vortrag des S e.V., wonach die Gäste nicht unbedingt eine Gegenleistung erbringen würden und dass das Speiseangebot nur den Kreis der Gäste einschließe, sei aus den vorliegenden Unterlagen und der Homepage nicht ersichtlich. Dort würden zu den angebotenen Übernachtungen und Speisen entsprechende Preise aufgelistet und auch Speisen und Getränke im Rahmen von Feierlichkeiten angeboten. Nach alledem liege im Streitfall ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb vor. Die Vermietung der Wohn- und Schlafräume unterliege nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG dem ermäßigten Steuersatz. Die weitergehenden Leistungen seien mit dem Regelsteuersatz zu versteuern. Die Bewirtung stelle keine Nebenleistung zur Hauptleistung dar, weil die Gestellung von Mahlzeiten nicht unmittelbar der Vermietung diene (BFH, Urteil vom 24.04.2013 XI R 3/11, in juris). Da der S e.V. zu den Umsätzen „Übernachtung und Verpflegung“ keine getrennten Aufzeichnungen vorgelegt habe, seien die Verpflegungsumsätze im Wege der Schätzung anhand der Vorjahreswerte mit 23 v. H. der Regelbesteuerung zu unterwerfen.
15
Nach der Rechtsprechung des EuGH und des BFH sei der Verein nur hinsichtlich seines wirtschaftlichen Tätigkeitsbereichs zum Vorsteuerabzug berechtigt. Mangels substantiierten Sachvortrags sei die Zuordnung der Beträge anhand der während der Prüfung gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf die Nutzung der Gebäude erfolgt. Die Vorsteuern aus Aufwendungen für die Renovierung der Kapellen, die zur Glaubensausübung frei zugänglich seien, seien dem ideellen Bereich zuzuordnen. Bezüglich des Beherbergungsbetriebs seien die Vorsteuern nach dem Verhältnis der Umsätze aufgeteilt worden.
16
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung der Klage wurde auf die Ausführungen im Einspruchsverfahren verwiesen. Ergänzend trägt der Kläger vor, der kirchliche Zweck sei nur dann nicht mehr als förderungswürdig anzuerkennen, wenn er gemäß § 65 AO in größerem Umfang zu nicht begünstigten Betrieben derselben oder ähnlicher Art in Wettbewerb trete. Dies sei hier nicht der Fall. Es gebe keine Gästehäuser mit dem Angebot einer priesterlichen Betreuung, die als nicht begünstigte Betriebe mit der Klägerin im Wettbewerb stünden. Allein die Beschreibung der Zimmer etc. führe nicht dazu, dass eine Wettbewerbssituation zu anderen Einrichtungen in größerem Umfang vorliege. Es sei nicht relevant, wer das Gästehaus nutze. Es solle gerade wegen des kirchlichen Zwecks und des Verkündungsauftrags allen offenstehen. Die Kirche und ihre Institutionen, die Gäste beherbergten, würden nicht unterscheiden, aus welchen Gründen – ob wegen des Glaubens oder aus Kostengründen - ein Gast komme. Genau hier liege auch der Unterschied zum BFH-Urteil vom 08.03.2012 – V R 14/11 -. Der Verein in jener Entscheidung habe ganz andere Zwecke verfolgt, nämlich die Förderung der Weiterbildung. Die Beherbergung sei – anders als im Streitfall – nicht Teil dieses Zweckes gewesen. Auch die Entscheidung des BFH vom 24.04.2013 – V R 3/11 – (in juris) komme zu keiner anderen Auslegung. Denn auch dort sei es nicht darum gegangen, den hier streitgegenständlichen Zweck der Beherbergung und Beköstigung als Teile des verfassungsrechtlich geschützten kirchlichen Selbstverständnisses zu betrachten. Es sei dort lediglich um die Frage der Haupt- und Nebenleistung gegangen.
17
Für den Vorsteuerabzug gelte dasselbe. Die Kapellen im Gästehaus und im Garten sollten in erster Linie den Gästen offenstehen. Denn es lebe keine priesterliche oder klösterliche Gemeinschaft vor Ort, denen diese Räume vorbehalten seien, sondern die Nutzung durch die Gäste sei Sinn und Zweck dieser Räumlichkeiten. Lediglich als Ansprechpartner zur Beichte und zum Seelsorgegespräch für die Gäste seien durchgehend ein bis zwei Geistliche vor Ort. Ein Gottesdienstangebot in den Kapellen richte sich daher nicht an die Mitglieder einer Gemeinschaft oder des Vereins, sondern an die Gäste. Selbstverständlich könne man bei einem solchen Gottesdienst andere Interessierte nicht ausschließen. Dies führe jedoch nicht dazu, dass die Kapellen nicht dem Zweckbetrieb zuzurechnen seien. Keine Rolle spiele ebenfalls, ob betreuende Priester im Nebenhaus wohnten. Denn nach dem kirchlichen Verständnis seien Gottesdienste keine priesterlichen Privatveranstaltungen unter Ausschluss anderer Beteiligter.
18
Der Kläger beantragt sinngemäß,den geänderten Umsatzsteuerbescheid vom 18.05.2017 dahingehend zu ändern, dass die Umsätze zum Regelsteuersatz um 67.053 € gemindert und die Umsätze zum ermäßigten Steuersatz um 67.053 € erhöht werden und dass weitere Vorsteuern in Höhe von 25.656,38 € abgezogen werden.
19
Der Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.
20
Er verweist auf die Ausführungen in der angefochtenen Einspruchsentscheidung.
21
Auf die Aufklärungsverfügung vom 14.04.2020 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit, dass im Streitjahr die Seminar- und Tagungsräume (Konto # 8303) zu 84 v. H. an Gäste, zu 7 v. H. an Priester und zu 9 v. H. an …er (der Kirche nahe stehende Personen, Anm. d. Neutralisierenden) vermietet worden seien. Zudem reichte der Prozessbevollmächtigte des Klägers einen Ausdruck des Erlöskontos # 8300 „Übernachtung/Verpflegung“ ein, aus dem sich folgende Aufteilung der Erlöse ergibt:
22
Übernachtung
Frühstück
Mittagessen
Abendessen
175.577,43 €
20.643,64 €
24.363,45 €
38.344,37 €
23
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (Bl. 26 und 59 der Prozessakte).
Entscheidungsgründe
24
Die Klage, über die das Gericht gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist unbegründet.
25
Der angefochtene Umsatzsteuerbescheid für 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
1.
26
Die Beherbergungsleistungen sowie die Umsätze aus der Vermietung der Tagungs- und Seminarräume an Mitglieder des Klägers unterliegen dem ermäßigten Steuersatz. Die übrigen streitigen Leistungen (Verpflegungsleistungen, Überlassung von Seminar- und Tagungsräume an Nichtmitglieder des Klägers) sind mit dem Regelsteuersatz zu versteuern.
27
a) Die Übernachtungsleistungen unterliegen gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz. Nach dieser Vorschrift ermäßigt sich die Steuer auf 7 v. H. für die Vermietung von Wohn- und Schlafräumen, die ein Unternehmer zur kurzfristigen Beherbergung von Fremden bereithält, sowie die kurzfristige Vermietung von Campingflächen.
28
b) Die vom Kläger an die Übernachtungsgäste erbrachten Verpflegungsleistungen fallen nicht unter die Steuerermäßigungsvorschrift des § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG. Nach der Rechtsprechung des BFH und EuGH handelt es sich bei der Verpflegung von Hotelgästen zwar um eine Nebenleistung zur Übernachtung (vgl. BFH, Urteile vom 15.01.2009 V R 9/06, BStBl II 2010, 433; vom 20.03.2014 V R 25/11, BFH/NV 2014, 1173; vgl. auch FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.11.2018 7 K 7314/16, EFG 2019, 294 zur Einordnung von Frühstücksleistungen als Nebenleistungen zu der Beherbergung). Die Verpflegungsleistungen in einem Beherbergungsbetrieb gehören jedoch zu den Leistungen, die i. S. v. § 12 Abs. 2 Nr.11 Satz 2 UStG nicht unmittelbar der Vermietung dienen, auch wenn diese Leistungen mit dem Entgelt für die Vermietung abgegolten sind, und sind daher nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG von der Steuerermäßigung ausgenommen. Insoweit normiert § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG nach Auffassung des BFH ein Aufteilungsgebot (BFH, Urteil vom 24.04.2013 XI R 3/11, BStBl II 2014, 86).
29
Ob an dem Aufteilungsgebot bei Einordnung der Verpflegungsleistungen als Nebenleistungen zu den Übernachtungsleistungen auch noch nach Ergehen des Urteils des EuGH vom 18.01.2018 (C-463/16, Rs. Stadion Amsterdam, DStR 2018, 246) festzuhalten ist, ist zweifelhaft. Im jenem Urteil hat der EuGH entschieden, dass eine einheitliche Leistung wie die im dortigen Ausgangsverfahren fragliche, die aus zwei separaten Bestandteilen, einem Haupt- und einem Nebenbestandteil, besteht, für die bei getrennter Erbringung unterschiedliche Mehrwertsteuersätze gälten, nur zu dem für diese einheitliche Leistung geltenden Mehrwertsteuersatz zu besteuern ist, der sich nach dem Hauptbestandteil richtet, und zwar auch dann, wenn der Preis jedes Bestandteils, der in den vom Verbraucher für die Inanspruchnahme dieser Leistung gezahlten Gesamtpreis einfließt, bestimmt werden kann.
30
Die Auffassungen in der steuerlichen Literatur zur Frage, ob das Aufteilungsgebot gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG nach Ergehen dieses EuGH-Urteils mit dem Unionsrecht vereinbar ist, sind unterschiedlich. Das FG Berlin-Brandenburg hat in seinem Urteil vom 28.11.2018 - 7 K 7314/16 – (EFG 2019, 294) den Meinungsstreit in der steuerlichen Literatur ausführlich dargestellt. Danach wird teilweise die Auffassung vertreten, dass auch Nebenleistungen zu Übernachtungsleistungen im Hotelgewerbe an der Steuerermäßigung nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG teilhaben müssten (Möser, MwStR 2018, 505; Janzen in Lippross/Seibel, Basiskommentar Steuerrecht, Dokumentenstand 86.02. Lfg. 05/2018, § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG; Nieskens, Umsatzsteuer-Rundschau – UR – 2018, 181; Oldiges, DB 2018, 541; von Streit, UStB 2018, 106; Masuch, NWB 2018, 457 (457); Prätzler, jurisPR-SteuerR 6/2018 Anm. 1; wohl auch Nacke, NWB 2018, 2314 (2316)). Die Gegenauffassung (Gieseler, BB 2018, 734; Treiber, DStR 2018, 1922; Korf, MwStR 2018, 266; wohl auch Gieseler, NWB 2018, 1514 (517ff.)) geht allerdings davon aus, dass gesetzlichen Aufteilungsgeboten auch nach dem oben aufgeführten Urteil des EuGH im Verfahren „Stadion Amsterdam“ Vorrang gegenüber den aus dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung resultierenden Rechtsfolgen einzuräumen sei, weil damit zum allgemeinen Grundsatz der gesonderten Betrachtung jeder einzelnen Leistung zurückgekehrt werde (Gieseler, BB 2018, 734). Für eine europarechtliche Zulässigkeit des Aufteilungsgebots spreche auch, dass den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum verbleibe, wie der EuGH in dem Urteil „Stadion Amsterdam“ (Rdnr. 34f) auch anerkannt habe. Überdies diene das Aufteilungsgebot auch der Gleichbehandlung von Unternehmern, welche Frühstücksleistungen zusammen mit Übernachtungsleistungen anböten, mit solchen Unternehmern, welche gleichartige Frühstücksleistungen ohne Übernachtung anböten (Treiber, DStR 2018, 1922). Teilweise wird die Auffassung, nationale Aufteilungsgebote seien auch nach dem EuGH-Urteil „Stadion Amsterdam“ anzuerkennen, dahingehend eingeschränkt, es sei zu prüfen, ob die nach Aufteilung nicht der Besteuerung mit dem Steuersatz der Hauptleistung unterworfenen Teile „konkrete und spezifische Aspekte“ der Leistung darstellten und damit einer abweichenden Besteuerung zugänglich seien (Korf, MwStR 2018, 266).
31
Der Senat schließt sich der Auffassung an, dass das Aufteilungsgebot nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG mit den europarechtlichen Vorgaben vereinbar ist. Insoweit folgt er auch der Ansicht des FG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 28.11.2018 7 K 7314/16, EFG 2019, 294) und macht sich dessen Begründung zu eigen. Danach normiert Art. 98 MwStSystRL ein Wahlrecht, aber keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes. Die Steuerermäßigung kann von den einzelnen Mitgliedstaaten auf alle, einige oder auch auf gar keine Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien angewendet werden. Ausweislich der Rdnr. 34f. des Urteils „Stadion Amsterdam“ hat der EuGH dort ausdrücklich nicht von seinem Urteil in Sachen „Kommission/Frankreich“ (Urteil vom 06.05.2010 – C-94/09, DStR 2010, 977) abweichen wollen, wo er entschieden hatte, dass eine selektive Anwendung eines ermäßigten Satzes nicht ausgeschlossen ist, sofern sie keine Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung nach sich zieht (Rdnr. 25), dass die Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegt, die Möglichkeit haben, konkrete und spezifische Aspekte einer Kategorie von Dienstleistungen im Sinne des Anhangs H der Sechsten Richtlinie mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu belegen (Rdnr. 26), und dass dies sogar dann gilt, wenn es sich um Teile einer nach allgemeinen Grundsätzen einheitlichen Leistung handelt (Rdnr. 31ff.). Dass das Aufteilungsgebot im Falle des § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG Wettbewerbsverzerrungen sogar entgegenwirkt, belegt das o. g. Argument von Treiber. Außerdem benennt Anhang III Beherbergungsleistungen (Nr. 12) und Restaurationsdienstleistungen (Nr. 12a) als unterschiedliche Kategorien, was dafür spricht, dass aus Sicht des Richtliniengebers Restaurationsleistungen gegenüber Beherbergungsleistungen von anderen konkreten und spezifischen Leistungsaspekten geprägt sind.
2.
32
Die Verpflegungsleistungen sowie die Vermietungsleistungen bezüglich der Tagungsräume inklusive ihrer technischen Ausstattung an Nichtmitglieder des Klägers unterliegen nicht dem ermäßigten Steuersatz gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG.
33
a) Nach § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 UStG ermäßigt sich die Steuer für die Leistungen der Körperschaften, die ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke i.S. der §§ 51 bis 68 AO verfolgen. Das gilt nicht für Leistungen, die im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs ausgeführt werden (§ 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 2 UStG). In § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 3 UStG ist eine Rückausnahme (also die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes) für Zweckbetriebe geregelt, wenn der Zweckbetrieb nicht in erster Linie der Erzielung zusätzlicher Einnahmen durch die Ausführung von Umsätzen dient, die in unmittelbarem Wettbewerb mit dem allgemeinen Steuersatz unterliegenden Leistungen anderer Unternehmer ausgeführt werden (1. Alternative), oder wenn die Körperschaft mit diesen Leistungen ihrer in den §§ 66 bis 68 AO bezeichneten Zweckbetriebe die steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke selbst verwirklicht (2. Alternative).
34
Der Gesetzeswortlaut der 1. Alternative entspricht der Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 16/2712, 75), nach der eine z.B. gemeinnützige Körperschaft den ermäßigten Steuersatz nicht für die Leistungen eines Zweckbetriebs in Anspruch nehmen kann, die in erster Linie dazu bestimmt sind, der Körperschaft zusätzliche Einnahmen durch solche Leistungen zu verschaffen, die auch andere (nicht steuerbegünstigte) Unternehmer ausführen können.
35
Bei der Auslegung von § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG ist seit 1993 auch das dieser Steuersatzermäßigung zugrunde liegende Unionsrecht zu beachten. Beim Inkrafttreten des UStG 1980 war das Unionsrecht für die Anordnung ermäßigter Steuersätze durch das nationale Recht weitgehend bedeutungslos. Denn Art. 12 Abs. 4 Satz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) regelte bei seinem Inkrafttreten lediglich, dass bestimmte Lieferungen und bestimmte Dienstleistungen erhöhten oder ermäßigten Sätzen unterworfen werden konnten (BFH, Urteil vom 23.07.2019 XI R 2/17, BFH/NV 2020, 69).
36
Zu einer Einschränkung der für die Mitgliedstaaten bestehenden Regelungsbefugnisse kam es aber durch Art. 12 Abs. 3 Buchst. a i.V.m. Anhang H der Richtlinie 77/388/EWG i.d.F. der Richtlinie 92/77/EWG des Rates vom 19.10.1992 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG - Annäherung der Mehrwertsteuer-Sätze - (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 316, S. 1) mit Wirkung zum 01.01.1993. Diese Einschränkungen gelten nach dem im Streitjahr zu beachtenden Art. 98 i.V.m. Anhang III der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) fort (BFH, Urteil vom 23.07.2019 XI R 2/17, BFH/NV 2020, 69).
37
Danach können die Mitgliedstaaten zwar einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden (Art. 98 Abs. 1 MwStSystRL). Die ermäßigten Steuersätze sind aber „nur" auf die Lieferungen und Dienstleistungen der im Anhang III MwStSystRL genannten Kategorien anwendbar (Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL). Dabei besteht für die Mitgliedstaaten nach Anhang III Nr. 15 MwStSystRL die Befugnis, für die steuerpflichtigen Leistungen der „von den Mitgliedstaaten anerkannte[n] gemeinnützige[n] Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden (BFH, Urteil vom 23.07.2019 XI R 2/17, BFH/NV 2020, 69).
38
Auf dieser Grundlage dürfen die Mitgliedstaaten insbesondere „nicht auf alle gemeinnützigen Leistungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden ..., sondern nur auf diejenigen, die von Einrichtungen erbracht werden, die sowohl gemeinnützig als auch für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit tätig sind" (EuGH, Urteil vom 17.06.2010 C-492/08, Rs. Kommission/Frankreich, UR 2010, 662, Rz 43; BFH, Urteil vom 10.08.2016 V R 11/15, BStBl II 2018, 113). Daraus folgt, dass zumindest andere als gemeinnützige Leistungen unionsrechtlich vom Anwendungsbereich der Steuersatzermäßigung für gemeinnützige Körperschaften von vornherein ausgeschlossen sind (BFH, Urteil vom 10.08.2016 V R 11/15, BStBl II 2018, 113; BFH, Urteil vom 23.07.2019 XI R 2/17, BFH/NV 2020, 69 m.w.N.). Für nicht originär gemeinnützige Leistungen sieht das EU-Recht keine Steuersatzermäßigung vor (BFH, Urteil vom 23.07.2019 XI R 2/17, BFH/NV 2020, 69).
39
Dies führt einerseits dazu, dass § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 UStG nicht mit Unionsrecht vereinbar ist, weil einer unionsrechtskonformen Auslegung des Satzes 1 der Wortlaut der Vorschrift entgegen steht (vgl. BFH, Urteile vom 08.03.2012 V R 14/11, BStBl II 2012, 630; vom 24.09.2014 V R 11/14, BFH/NV 2015, 528; vom 23.07.2019 XI R 2/17, BFH/NV 2020, 69), und andererseits dazu, dass § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 und 3 UStG, soweit sie zur Anwendung des Regelsteuersatzes führen, weit auszulegen sind (vgl. BFH, Urteile vom 08.03.2012 V R 14/11, BStBl II 2012, 630; vom 23.07.2019 XI R 2/17, BFH/NV 2020, 69).
40
b) Bei Anwendung dieser Grundsätze unterliegen im Streitfall die streitigen Verpflegungsleistungen sowie die Umsätze aus der Vermietung der Tagungs- und Seminarräume inklusive Technik an Nichtmitglieder des Klägers nicht dem ermäßigten Steuersatz des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 UStG.
41
Zwar erfüllen diese Leistungen des Klägers die im Hinblick auf den leistenden Unternehmer bestehenden Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 UStG. Es kann dahin gestellt bleiben, ob die Leistungen an Nichtmitglieder des Klägers bzw. an nicht der …-Bewegung zuzurechnenden Gäste in einem selbständigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb erbracht werden, der nicht Zweckbetrieb nach § 65 AO ist, so dass die streitigen Verköstigungsumsätze und Vermietungsumsätze an diesen Personenkreis bereits aus diesem Grund der Besteuerung nach dem Regelsteuersatz unterliegen. Jedenfalls liegen für die streitigen Verpflegungsleistungen an alle Gäste sowie für die streitigen Vermietungsleistungen bezüglich der Seminar- und Tagungsräume an Nichtmitglieder des Klägers die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 3 UStG nicht vor.
42
Die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 3 1. Alternative UStG sind - bei der nach den vorgenannten Ausführungen gebotenen weiten Auslegung - nicht erfüllt. Mit den streitigen Leistungen erzielte der Kläger in erster Linie zusätzliche Einnahmen. Außerdem tritt der Kläger mit den streitigen Leistungen in Wettbewerb mit anderen Unternehmern, die vergleichbare Leistungen anbieten und deren Leistungen – mit Ausnahme der Beherbergungsleistungen - dem Regelsteuersatz unterliegen. Hierfür spricht bereits der Internetauftritt des Klägers bzw. des S e.V. in den Streitjahren. Danach bietet der Kläger bzw. bot der S e.V. seine Leistungen nicht ausschließlich für kirchliche Zwecke an, sondern wirbt bzw. warb für seine Leistungen wie nicht begünstigte Unternehmer. Die Tagungsräume einschließlich der hierin vorhandenen Technik werden nicht ausschließlich für Ausbildungs- oder Fortbildungsmaßnahmen von Priestern genutzt, sondern können gegen ein entsprechendes Entgelt auch für andere Veranstaltungen wie z. B. für private Feiern oder auch geschäftliche Veranstaltungen gemietet werden. Die Mahlzeiten für Übernachtungs- und Tagungsgäste werden als Buffet ähnlich wie in Hotels, Veranstaltungsorten oder auch Restaurants angeboten.
43
Ohne Erfolg beruft sich der Kläger insoweit auf seine Satzung und dem hierin festgelegten kirchlichen Zweck des Verkündigungsauftrags, wozu auch Gastfreundschaft gehöre. Denn die oben dargelegte unionsrechtliche Harmonisierung der Steuersatzermäßigungen ist auch bei der Auslegung der abgabenrechtlichen Begriffe und somit auch bei der Auslegung der Zweckbetriebsdefinitionen der §§ 65 ff AO und damit insbesondere bei der Bestimmung der Reichweite der Steuersatzermäßigungen nach § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG zu berücksichtigen (vgl. BFH, Urteil vom 10.08.2016 V R 11/15, BStBl II 2018, 113). Dabei ist zu beachten, dass sich die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes unionsrechtlich auf die Leistungen der von den Mitgliedstaaten anerkannten gemeinnützigen Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit beschränkt.
44
Entscheidend ist im Streitfall, dass der Kläger die streitgegenständlichen Leistungen auf dem Markt anbietet, hierfür ein Entgelt verlangt und er daher mit diesen Leistungen in Wettbewerb zu anderen Unternehmern (z.B. Hotels, Restaurants, Tagungsstätten) tritt, die vergleichbare Verpflegungsleistungen und Vermietungsleistungen bezüglich der Tagungsräume ohne Anspruch auf Ermäßigung am Markt anbieten. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen des Beklagten in der angefochtenen Einspruchsentscheidung verwiesen.
45
Die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 3 2. Alternative UStG liegen ebenfalls nicht vor. Zum einen unterhält der Kläger bzw. unterhielt der S e.V. keinen in den §§ 66 bis 68 AO bezeichneten Zweckbetrieb, sondern der Kläger bzw. der S e.V. könnte lediglich einen Zweckbetrieb nach den allgemeinen Merkmalen des § 65 AO unterhalten bzw. in den Streitjahren unterhalten haben. Zudem war der satzungsmäßige Zweck des S e.V. im Streitfall die Unterstützung der Zielsetzungen des internationalen …-Werkes, insbesondere der weltweiten priesterlichen Mitarbeit im internationalen …-Werk durch die berufliche Aus- und Fortbildung von Priestern, durch die Wahrnehmung der Interessen des priesterlichen Berufsstandes sowie durch soziale Bildungsmaßnahmen und Berufsbegleitung im seelsorgerischen Einsatz und durch sozial-caritativen Dienst. Die Vermietung von Seminar- bzw. Tagungsräumen an Nichtmitglieder sowie der Verkauf von Gastronomieleistungen mögen zwar der Verwirklichung dieser Zwecke gedient haben; diese streitigen Leistungen sind jedoch bei der gebotenen engen Auslegung dieser Vorschrift nicht als „Selbstverwirklichung“ der satzungsmäßigen Zwecke anzusehen.
46
c) Mangels getrennter Aufzeichnungen der Umsätze aus der Beherbergung und der Verpflegung der Übernachtungsgäste (Konto # 8300) hat der Beklagte die Umsätze, die auf die Verpflegung der Gäste entfallen, auf 59.605 € geschätzt. Nach der im Klageverfahren vorgelegten Aufstellung entfällt jedoch von dem auf dem Konto # 8300 gebuchten Gesamterlös in Höhe von 258.928,88 € ein Teilbetrag in Höhe von 83.351,45 € auf die Verpflegungsleistungen.
47
Einer Änderung des angefochtenen Bescheides zum Nachteil des Klägers steht jedoch das im Klageverfahren aus § 96 FGO und aus Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Verböserungsverbot entgegensteht (BFH, Beschluss vom 10.03.2016 X B 198/15, BFH/NV 2016, 1042).
3.
48
Die Umsätze aus der Überlassung der Tagungs- und Seminarräume an Mitglieder des Klägers sind mit dem ermäßigten Steuersatz gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG zu versteuern.
49
Insoweit liegen die Voraussetzungen einer Steuersatzermäßigung vor. Diese Leistungen entsprechen den satzungsmäßig steuerbegünstigten Zwecken des Klägers, nämlich der beruflichen Aus- und Fortbildung von Priestern sowie der sozialen Bildungsmaßnahmen im seelsorgerischen Einsatz und sozial-caritativen Dienst.
50
Die Steuersatzermäßigung für diese Leistungen in Höhe von rund 589 € (= 84 v. H. von 701,13 €, Konto # 8303) führt im Streitfall jedoch nicht zu einer Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung für das Streitjahr. Denn dieser Änderung zugunsten des Klägers (Erhöhung der Umsätze zum ermäßigten Steuersatz und gleichzeitig Minderung der Umsätze zum Regelsteuersatz in Höhe von 589 €) steht die unter Ziffer 2 Buchstabe c der Entscheidungsgründe dargelegte Änderung zum Nachteil des Klägers (Erhöhung der Umsätze zum Regelsteuersatz und gleichzeitig Minderung der Umsätze zum ermäßigten Steuersatz in Höhe von 23.746 €), die wegen des Verböserungsverbots im Klageverfahren nicht möglich ist, entgegen.
4.
51
Die vom Finanzamt vorgenommene Kürzung des Vorsteuerabzugs ist nicht zu beanstanden. Der Kläger kann die beantragten Vorsteuerbeträge nur abziehen, soweit sie für Leistungen angefallen sind, die seinem unternehmerischen Bereich zuzuordnen sind. Nicht abziehbar sind Vorsteuerbeträge für den ideellen Bereich. Soweit die Zuordnung nicht möglich ist, sind die nicht abziehbaren Teilbeträge im Wege der Schätzung zu ermitteln (§ 96 Abs. 1 FGO, § 162 AO).
52
a) Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuerbetrag abziehen; dabei setzt die Ausübung des Vorsteuerabzugs voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt.
53
Diese Vorschrift beruht auf Art. 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL), wonach der Steuerpflichtige, der Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet, befugt ist, die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht werden, von der von ihm geschuldeten Steuer abzuziehen. Das Recht auf Abzug der gesamten Vorsteuer, die die Aufwendungen eines Steuerpflichtigen für seine Ausgangsleistungen belastet, besteht nach der MwStSystRL, sofern es sich bei sämtlichen Umsätzen, die dieser Steuerpflichtige im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit vornimmt, um besteuerte Umsätze handelt. Die Vorsteuer auf Aufwendungen eines Steuerpflichtigen kann jedoch nicht zum Abzug berechtigen, soweit sie sich auf Tätigkeiten bezieht, die aufgrund ihres nichtwirtschaftlichen Charakters nicht in den Anwendungsbereich der MwStSystRL fallen (vgl. zur Vorgängerregelung des Artikel 17 der Richtlinie 77/388/EWG: EuGH, Urteil vom 13.03.2008 C-437/06, Rs. Securenta, DStR 2008, 615, Rn. 28 ff).
54
Soweit die von einem Steuerpflichtigen bezogenen Gegenstände oder Dienstleistungen für die Zwecke steuerbefreiter Umsätze oder solcher Umsätze verwendet werden, die nicht vom Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer erfasst werden, kann es weder zur Erhebung der Steuer auf der folgenden Stufe noch zum Abzug der Vorsteuer kommen (vgl. EuGH, Urteile vom 30.03.2006 C-184/04, Rs Uudenkaupungin kaupunki, DStRE 2006, 619, Rn. 24; vom 14.09.2006 C-72/05, Rs Wollny, BStBl II 2007, 32, Rn. 20; vom 12.02.2009 C-515/07, Rs VNLTO, DStR 2009, 369, Rn. 28). Dementsprechend berechtigen Aufwendungen eines Steuerpflichtigen nicht zum Vorsteuerabzug, wenn sich diese auf Tätigkeiten beziehen, die aufgrund ihres nichtwirtschaftlichen Charakters nicht in den Anwendungsbereich der MwStSystRL fallen (vgl. EuGH, Urteil vom 13.03.2008 C-437/06, Rs. Securenta, DStR 2008, 615, Rn. 30).
55
Für den Fall, dass ein Steuerpflichtiger zugleich steuerpflichtige wirtschaftliche Tätigkeiten und nichtwirtschaftliche - also nicht in den Anwendungsbereich der MwStSystRL fallende - Tätigkeiten ausübt, ist der Abzug der Vorsteuer auf Aufwendungen nur insoweit zulässig, als diese Aufwendungen der wirtschaftlichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen zuzurechnen sind (EuGH, Urteil vom 13.03.2008 C-437/06, Rs. Securenta, DStR 2008, 615, Rn. 28 ff).
56
Dieser Abgrenzung nach der Umsatztätigkeit des Unternehmers (Steuerpflichtigen) entspricht die Rechtsprechung des BFH, nach der ein Unternehmer wie z.B. ein Verein, der einerseits in einem wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich steuerbare Leistungen erbringt und andererseits in nichtwirtschaftlicher Weise seinen ideellen Vereinszweck verfolgt, ohne dabei steuerbare Leistungen zu erbringen, nur hinsichtlich seines wirtschaftlichen Tätigkeitsbereichs zum Vorsteuerabzug berechtigt ist (BFH, Urteil vom 06.05.2010 V R 29/09, BStBl II 885).
57
b) Für den Streitfall sind nach diesen Grundsätzen von den insgesamt angefallenen und verbuchten Vorsteuerbeträgen in Höhe von 50.274,74 € zunächst die Beträge abzugsfähig, die der unternehmerischen Sphäre des Klägers bzw. des S e.V. eindeutig zuzuordnen sind. Dies sind Vorsteuerbeträge, die bei den Ausgaben für den Beherbergungsbetrieb „M“, für die Gastronomie der Gäste und für die Vermietung der Veranstaltungsräume an Nichtmitglieder des Klägers als dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb angefallen sind. In diesem Zusammenhang hat der Umsatzsteuersonderprüfer direkt dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zuordenbare Vorsteuerbeträge in Höhe von 4.691,92 € ermittelt.
58
Nicht abzugsfähig sind die Vorsteuerbeträge, die eindeutig dem ideellen Bereich des Klägers bzw. des S e.V. zuordenbar sind. Dies sind die im Zusammenhang mit der Instandhaltung und der Renovierung der beiden Kapellen angefallenen Vorsteuern in Höhe von 13.673,97 € sowie weitere Beträge von 554.55 €, weil diese Kosten die nichtunternehmerische Sphäre des S e.V. betreffen.
59
Soweit der Kläger vorträgt, die Kapellen stünden insbesondere den Gästen zur Verfügung, rechtfertigt dies keine andere rechtliche Beurteilung. Wie oben ausgeführt, ist die ideelle Tätigkeit, also die Tätigkeit, die nach dem kirchlichen Verständnis dazu dient, den Verkündigungsauftrag der Kirche wahrzunehmen, der nichtunternehmerischen Sphäre zuzuordnen. Zu den spezifisch kirchlichen Zwecken gehören nach § 54 Abs. 2 AO u. a. insbesondere die Errichtung, Ausschmückung und Unterhaltung von Gotteshäusern und die Abhaltung von Gottesdiensten. Es kommt also für den Instandhaltungsaufwand der Kapellen als Gotteshäuser weder nach dem deutschen Umsatzsteuergesetz noch nach der MwStSystRL ein Vorsteuerabzug in Betracht.
60
Ferner sind die Teilbeträge der nicht eindeutig zuordenbaren Vorsteuern abzugsfähig, soweit sie den Umsätzen aus dem unternehmerischen Bereich des Klägers bzw. des S e.V. zuzurechnen sind (§ 15 Abs. 4 UStG). Hierbei handelt es sich insbesondere um die Kosten für die Pflege der Außenanlagen, für die Reinigung, für die Wartung der technischen Anlagen, für Reparaturen und Instandhaltungen sowie um Energiekosten und um weitere sonstige Aufwendungen (z. B. Bürokosten, Buchführungskosten, Telefonkosten etc.), die zu Vorsteuerbeträgen von insgesamt 31.124 € führen. Der Prüfer hat eine Aufteilung nach dem Umsatzschlüssel (Verhältnis der steuerpflichtigen Umsätze zu den Gesamtumsätzen [steuerpflichtige, steuerfreie und nicht steuerbare Umsätze]) vorgenommen. Die Aufteilung nach dem Umsatzschlüssel führt zu einem sachgerechten Ergebnis. Danach sind die Vorsteuerbeträge von 31.124 € mit einem Anteil von 64,29 v.H. (insgesamt steuerpflichtige Umsätze von 269.369,80 € - anstatt wie vom Beklagten angenommen in Höhe von 269.594 €, was darauf zurückzuführen ist, dass im Umsatzsteuersonderprüfungsbericht die Umsätze aus Übernachtung/Verpflegung, Konto # 8300 mit 259.153,46 € anstatt mit 258.928,88 € angesetzt wurden - zu den Gesamtumsätzen von 418.944,55 €) dem Zweckbetrieb des Klägers bzw. des S e.V. zuzuordnen, was zu einer Anerkennung weiterer Vorsteuerbeträge in Höhe von 20.009,62 € führt.
61
Soweit der Beklagte im angefochtenen Umsatzsteuerbescheid abziehbare Vorsteuerbeträge in Höhe von 24.618,36 € - anstatt in Höhe von 24.701,54 € (direkt zuordenbare Vorsteuern in Höhe von 4.691,92 € zzgl. Vorsteuern in Höhe von 20.009,62 €) – angesetzt hat, führt dies nicht zu einer teilweisen Klagestattgabe. Denn dieser Änderung zu Gunsten des Klägers steht die unter Ziffer 2 Buchstabe c der Entscheidungsgründe dargelegte Änderung zum Nachteil des Klägers (Erhöhung der Umsätze zum Regelsteuersatz und gleichzeitig Minderung der Umsätze zum ermäßigten Steuersatz in Höhe von 23.746 €) entgegen.
5.
62
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
63
Das Gericht hat gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, weil die Frage, ob das Aufteilungsgebot nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache „Stadion Amsterdam“ noch anzuwenden ist, höchstrichterlich – soweit ersichtlich – noch nicht geklärt ist.
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Tenor
Es werden die Ziffer 2 hinsichtlich der Anordnung des Abbaus von Kamera 1 sowie die Ziffern 4 und 9 des Bescheids vom 23. November 2018 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen eine datenschutzrechtliche Verwarnung und weitere Anordnungen des Landesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Rheinland-Pfalz – LfDI –, mit denen er dazu aufgefordert wird, die Kameraüberwachung seiner Werbetafel teilweise einzustellen oder zu modifizieren.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks A. in B. Das Grundstück liegt an der Auffahrt zur Bundesstraße XXX in einem Gewerbegebiet außerhalb der Ortslage von B. Auf dem Grundstück befinden sich ein Einkaufszentrum (…), ein Parkplatz sowie eine großflächige, zweiseitige Werbetafel mit LED-Anzeige. Die Tafel hatte einen Anschaffungswert von ca. 200.000 €. Der Kläger hat zum Schutz seiner Reklametafel auf jeder Seite zwei statische Videokameras installiert (vgl. Anlagen 1 bis 5 zum Schriftsatz des Klägers vom 19. Dezember 2018). Zwei Kameras erfassen jeweils im Wesentlichen die Tafel (Kameras 3 und 4); die anderen Kameras sind auf den Bereich vor der Reklametafel ausgerichtet, sodass eine der Kameras den Parkplatz und das anliegende Einkaufszentrum (Kamera 2) und die andere Kamera den Einmündungsbereich der Straße A. in die Bundesstraße XXX aufnimmt (Kamera 1). Alle vier Kameras sind rund um die Uhr in Betrieb und erfassen ihr jeweiliges Blickfeld in kennzeichen- und personengenauer Auflösung. Die Aufnahmen werden in einem Aufzeichnungsgerät, das sich zwischen den beiden Reklametafeln befindet, für 48 Stunden gespeichert und sodann automatisch gelöscht. Zugang zu dem verschlossenen Aufzeichnungsgerät und den Aufnahmen hat allein der Kläger. Auf die Videoüberwachung wird mit einem Piktogramm auf dem Parkplatz hingewiesen.
3
Nachdem zwischen den Beteiligten verschiedene Korrespondenz erfolgt ist und der Kläger zu den vom Beklagten beabsichtigten Maßnahmen angehört wurde, ordnete der Beklagte mit Bescheid vom 23. November 2018 (zugestellt am 26. November 2018) Maßnahmen auf Grundlage der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) – DSGVO – an. Hinsichtlich Kamera 1 sprach der Beklagte eine Verwarnung aus (Ziffer 1 des Bescheids) und forderte den Kläger dazu auf, die Datenverarbeitung durch diese Kamera einzustellen und sie abzubauen (Ziffer 2 des Bescheids) sowie den Abbau durch Vorlage eines Lichtbildes nachzuweisen (Ziffer 4 des Bescheids). Gemäß Ziffer 3 des Bescheids soll Kamera 2 so eingestellt werden, dass sie während der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums keine Aufnahmen fertigt. Dies soll durch Vorlage eines Ausdrucks bzw. eines Lichtbildes der entsprechenden Einstellungen nachgewiesen werden (Ziffer 5). Die Kameras 3 und 4 sollen so ausgerichtet werden, dass die bisher darauf ersichtliche Straße, der Parkplatz und ein benachbartes Wohnhaus nicht mehr in den Erfassungswinkel der Kamera fallen (Ziffer 6). Auch dies muss durch einen Bildschirmausdruck nachgewiesen werden (Ziffer 7). Für die Umsetzung der Anordnungen wurde eine Frist bis zum 15. Dezember 2018 gesetzt (Ziffer 8); diese Frist wurde auf Bitte des Klägers bis zum 4. Januar 2019 verlängert. Außerdem wurden Zwangsgelder in Höhe von 1.000 €, 2.500 € und 5.000 € bei Missachtung der Anordnungen angedroht (Ziffer 9).
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Der Kläger hat am 26. Juni 2019 Klage erhoben. Der Bescheid vom 23. November 2018 sei rechtswidrig, weil die Videoüberwachung an seiner Reklametafel rechtmäßig sei. Sie diene der Wahrnehmung seines Hausrechts und dem Schutz seiner berechtigten Interessen, da er seine Werbetafel vor Beschädigungen schützen wolle. Er habe ein berechtigtes Interesse daran, sein Eigentum zu schützen und unberechtigte Personen vom Betreten seines Areals fernzuhalten sowie Straftaten an seinem Eigentum zu verhindern oder jedenfalls verfolgen zu können. In der Vergangenheit sei es immer wieder zu Straftaten auf dem Gelände gekommen, so sei mehrmals und auch im Jahr 2020 in den Lebensmitteldiscounter, den …. und das … (Einkaufszentrum) eingebrochen worden, es habe Graffiti und Fälle von Fahrerflucht gegeben und es sei Altöl auf dem Gelände entsorgt worden. Es sei auch in Zukunft zu erwarten, dass hier Straftaten begangen würden. Die Videoüberwachung sei auch erforderlich, da das Ziel – Abschreckung von Störern und Straftätern sowie ihre Identifizierung – mit dieser Maßnahme erreicht werden könne. Die Überwachung der LED-Werbeanlage sei erfolgreich, da die Anlage bisher nicht angegriffen bzw. beschädigt worden sei. Es gebe kein anderes, gleich wirksames, aber weniger in das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung der Betroffenen einschneidendes Mittel. Bei Einkaufszentren handele es sich grundsätzlich um einen potentiell gefährdeten Bereich, der als typischer Gefährdungspunkt kameraüberwacht werden solle. Insbesondere sei der Einsatz von Wachpersonal nicht zumutbar. Auch ein Zaun sei ungeeignet, weil über den Zaun Steine auf die Werbetafel geworfen werden könnten. Die Kameras müssten den Bereich vor den Tafeln erfassen, da die LED-Tafeln durch Steinwürfe oder den Einsatz von Drohnen beschädigt werden könnten. Der Einmündungsbereich an der Bundesstraße XXX müsse zur Kennzeichenerfassung und damit Identifizierung von Tätern überwacht werden. Nur eine vollumfängliche, zeitlich uneingeschränkte Überwachung sei effektiv, da tagsüber bereits Fälle von Fahrerflucht aufgetreten seien und Straftaten auch tagsüber vorbereitet werden könnten. Zugleich könne nur das Zusammenspiel aller vier Kameras einen effektiven Schutz der Werbetafeln sicherstellen. Bei der Interessenabwägung müsse schließlich auch berücksichtigt werden, dass Videoüberwachung heute allgegenwärtig sei und die Aufnahmen vorliegend nur dann gesichtet würden, wenn ein Schadensereignis eingetreten sei; im Übrigen würden die Aufnahmen ungesehen automatisch gelöscht. Die Abbauverfügung hinsichtlich Kamera 1 sei rechtswidrig, weil schon eine Abschaltung ausreiche, um weitere Datenverarbeitungen zu verhindern. Gegen eine abgeschaltete Kamera könne nicht auf der Grundlage der Datenschutzgrundverordnung vorgegangen werden. Die Verwarnung in Bezug auf Kamera 1 sei rechtswidrig, weil sie zeitgleich mit der Verfügung, den Betrieb der Kamera einzustellen und diese abzubauen, ergangen sei. Erst, wenn eine Verwarnung missachtet worden sei, könne darauf mit einer schärferen Abhilfebefugnis reagiert werden. Außerdem fehle es hinsichtlich der Verwarnung an einer Anhörung.
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Der Kläger beantragt,
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die in dem Bescheid des Beklagten vom 23. November 2018 unter Ziffern 1 bis 7 verfügten Anordnungen bzw. Maßnahmen sowie die unter Ziffer 9 des Bescheids verfügten Zwangsmittelandrohungen aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die vom Kläger veranlasste Datenverarbeitung verstoße gegen Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f DSGVO. Die Verwarnung und die Abbauverfügung hinsichtlich Kamera 1 seien rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die Verwarnung sei Art. 58 Abs. 2 Buchst. b DSGVO. Die Kamera erfasse öffentlichen Verkehrsraum, nämlich die Bundesstraße XXX und die Straße A. sowie den angrenzenden Rad- und Fußgängerweg und eine Bahntrasse. Die Überwachung des öffentlichen Straßenverkehrs sei eine staatliche Aufgabe und müsse nicht vom Kläger wahrgenommen werden. Außerdem beeinträchtige sie die Rechte der Verkehrsteilnehmer in erheblichem Umfang und sei ohne Bezug zu konkretem deliktischen Verhalten rechtswidrig. Dem vom Kläger entworfenen, nicht hinreichend substantiierten Bedrohungsszenario könne auch nicht wirksam durch eine Videoüberwachung begegnet werden. Jedenfalls überwögen die Rechte der Betroffenen: Es werde eine Vielzahl von Passanten gefilmt, obwohl sie nicht auf den Parkplatz führen und sich zudem einwandfrei verhielten. Die Verwarnung sei auszusprechen gewesen, weil Kamera 1 offensichtlich rechtswidrig und deshalb im Sinne einer effektiven Rechtsdurchsetzung zu sanktionieren sei. Da eine erhebliche Anzahl rechtswidriger Verarbeitungsvorgänge stattfinde, sei es zudem erforderlich gewesen, die Einstellung und den Abbau der Videokamera 1 anzuordnen. Weiterhin sei zu beachten, dass bei einer bloßen Abschaltung von Kamera 1 diese dann als faktische Attrappe einen unzulässigen Überwachungsdruck generiere. Nur durch eine Entfernung der Kamera könne darüber hinaus sichergestellt werden, dass die unzulässige Videoüberwachung nicht wiederaufgenommen werde. In Bezug auf Kamera 2 müssten die Aufnahmezeiten auf den Zeitraum außerhalb der Öffnungszeiten der anliegenden Einzelhandelsbetriebe beschränkt werden. Zwar seien die vom Kläger berichteten strafrechtsrelevanten Vorfälle auf dem Gelände nicht hinreichend schwer, häufig und substantiiert vorgetragen. Eine Überwachung des Parkplatzes außerhalb der Öffnungszeiten könne jedoch noch als verhältnismäßig gewertet werden. Insofern sei auch zu beachten, dass sich während der Öffnungszeiten eine Vielzahl von Menschen, darunter auch Kinder, auf dem Parkplatz befänden und deren Grundrechte und Grundfreiheiten die Interessen des Klägers als Verantwortlichem überwögen. Die Kameras 3 und 4 müssten so ausgerichtet werden, dass sie nur noch die Werbetafel erfassen, da diese Kameras nach den Angaben des Klägers nur der Überwachung der LED-Reklametafel dienten. Zur Erfüllung dieses Zwecks sei es nicht erforderlich, Teile des öffentlichen Verkehrsraums und eines anliegenden Wohnhauses sowie des Parkplatzes zu überwachen. Die Informationsersuchen über die Erfüllung der angeordneten Maßnahmen seien gemäß Art. 58 Abs. 1 Buchst. a DSGVO notwendig, um eine Kontrolle der zukünftigen Datenverarbeitung zu gewährleisten.
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Mit Beschluss vom 24. Juni 2019 wurde das Verfahren vom Verwaltungsgericht Koblenz zum Verwaltungsgericht Mainz verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (2 Bände) und die Verwaltungsakte (1 Heft) des Beklagten Bezug genommen; diese lagen der Kammer vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige (I.) Klage hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang in der Sache Erfolg (II.).
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I. Die Klage ist zulässig.
14
Statthaft ist gemäß § 42 Abs. 1 Var. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – die Anfechtungsklage, da es sich bei der angefochtenen Verwarnung um einen – zumindest feststellenden – Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG – i.V.m. § 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz – LVwVfG – handelt. Schließlich wird mit der Verwarnung festgestellt, dass der Adressat gegen die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) – DSGVO – verstoßen hat. Zwar wird durch die Verwarnung keine konkrete, unmittelbare Rechtspflicht ausgelöst. Gleichwohl wird mit der Verwarnung implizit ausgedrückt, dass sich der Adressat künftig datenschutzkonform verhalten soll. Darüber hinaus handelt es sich bei der Verwarnung um eine Abhilfemaßnahme der Datenschutzbehörde, mit der ein – wenn auch regelmäßig eher geringfügiger – Datenschutzverstoß geahndet wird (vgl. Körffer, in: Paal/Pauly, DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 18; Selmayr, in: Ehmann/Selmayr, 2. Aufl. 2018, Datenschutz-Grundverordnung, Art. 58, Rn. 20). Auch bei den übrigen Verfügungen, die dem Kläger bestimmte Handlungspflichten auferlegen, handelt es sich um Verwaltungsakte.
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Der Kläger ist Adressat belastender Verwaltungsakte und damit klagebefugt im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO.
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Ein Vorverfahren war gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO sowie § 20 Abs. 6 Bundesdatenschutzgesetz – BDSG – entbehrlich.
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Die Monatsfrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO wurde gewahrt.
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Richtiger Klagegegner ist gemäß § 20 Abs. 5 Nr. 2 BDSG der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Rheinland-Pfalz – LfDI –. Gemäß § 20 Abs. 4 BDSG ist der LfDI beteiligungsfähig, wenn es – wie hier – um Streitigkeiten zwischen einer natürlichen oder einer juristischen Person und einer Aufsichtsbehörde des Bundes oder eines Landes über Rechte gemäß Art. 78 Abs. 1 und 2 DSGVO sowie § 61 BDSG geht. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 BDSG ist das Bundesdatenschutzgesetz hier auch anwendbar, da der Kläger die Verarbeitung von personenbezogenen Daten Dritter vornimmt und eine nicht-öffentliche Stelle ist. Der Kläger hatte zwar zunächst das Land Rheinland-Pfalz als Klagegegner angeführt; allerdings war hier durch Auslegung unzweifelhaft zu ermitteln, dass der Kläger die Klage gegen den LfDI, der den angefochtenen Bescheid erlassen hat, richten wollte. Unter entsprechender Anwendung des § 78 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 VwGO ergibt sich, dass die fehlerhafte Bezeichnung des Beklagten unerheblich ist, wenn erkennbar ist, gegen wen sich die Klage richtigerweise richten sollte. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn – wie hier – die Klage zunächst gegen den Rechtsträger gerichtet ist, auch wenn (ausnahmsweise) die Behörde Klagegegnerin ist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 13. März 1991 – 22 A 871/90 –, juris, Rn. 5 ff.; Kintz, in: BeckOK VwGO, 54. Ed. 1. Juli 2020, § 78, Rn. 43). Die Kammer hat daher das Rubrum dahingehend von Amts wegen geändert, dass Klagegegner der LfDI ist. Die Beteiligten, die in der mündlichen Verhandlung am 24. September 2020 hierauf hingewiesen worden sind, haben gegen die Rubrumsänderung keine Einwände erhoben.
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Das Verwaltungsgericht Mainz ist gemäß § 20 Abs. 1 und Abs. 3 BDSG – i.V.m. Art. 78 Abs. 1 DSGVO örtlich zuständig. Darüber hinaus ist das Verwaltungsgericht Mainz an den Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 24. Juni 2019 gemäß § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG gebunden.
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II. Die Klage hat in der Sache nur teilweise Erfolg. Die vom Kläger angegriffenen Verfügungen unter den Ziffern 1, 3, 5, 6 und 7 des Bescheids vom 23. November 2018 des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Verfügungen unter den Ziffern 4 und Ziffer 9 sowie teilweise die Verfügung unter Ziffer 2 des Bescheids des Beklagten sind hingegen rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, sodass sie aufzuheben gewesen sind.
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1. Die in Bezug auf Kamera 1 ausgesprochene Verwarnung (Ziffer 1 des Bescheids vom 23. November 2018) ist rechtmäßig. Kamera 1 filmt den Einmündungsbereich der Straße „A.“ in die Bundesstraße XXX sowie einen Fahrrad- und Fußweg und eine Bahntrasse.
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Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Verwarnung ist Art. 58 Abs. 2 Buchst. b DSGVO. Danach ist es der Aufsichtsbehörde gestattet, einen Verantwortlichen oder einen Auftragsverarbeiter zu verwarnen, wenn er mit Verarbeitungsvorgängen gegen die Datenschutzgrundverordnung verstoßen hat. Dass der Beklagte in seinem Bescheid als Rechtsgrundlage Art. 58 Abs. 1 Buchst. b DSGVO genannt hat, ist offensichtlich einem redaktionellen Versehen geschuldet. Der Beklagte hat im Laufe des Verfahrens klargestellt, dass die Verwarnung auf Art. 58 Abs. 2 Buchst. b DSGVO gestützt werden sollte.
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Die vorliegende Verwarnung ist formell rechtmäßig; insbesondere war der beklagte LfDI für den Erlass der Verfügung gemäß Art. 51 Abs. 1, 55 Abs. 1 DSGVO, § 40 Abs. 1 BDSG, § 15 Abs. 2 LDSG zuständig. Sofern ein Anhörungsfehler darin zu erkennen wäre, dass der Kläger in der Anhörung vom 10. August 2018 nicht auf den möglichen Ausspruch einer Verwarnung hingewiesen wurde – sondern nur Maßnahmen nach Art. 58 Abs. 2 Buchst. d DSGVO angekündigt wurden –, wäre dieser Fehler jedenfalls dadurch gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG geheilt, dass die Anhörung nachgeholt wurde. Schließlich hat sich der Beklagte im Rahmen des Klageverfahrens intensiv mit dem Vorbringen des Klägers auseinandergesetzt und insbesondere auch zu dessen Vortrag hinsichtlich der Verwarnung inhaltlich Stellung genommen.
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Ob eine Datenverarbeitung gegen die Datenschutzgrundverordnung verstößt, richtet sich nach Art. 5 ff. DSGVO. Gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. a DSGVO müssen personenbezogene Daten auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden. Die Verwarnung ist auch materiell rechtmäßig, da die Überwachung durch die Kamera 1 hier rechtswidrig erfolgt ist. Die Videoüberwachung stellt eine Datenverarbeitung dar (a), bei der auch personenbezogene Daten verarbeitet werden (b). Auch wenn es sich nach Auffassung der Kammer bei den verarbeiteten Daten nicht um besonders sensible Daten handelt und damit vorliegend kein Verarbeitungsverbot gemäß Art. 9 DSGVO besteht (c), verstößt die Videoüberwachung durch Kamera 1 gegen die Datenschutzgrundverordnung, da sie nicht nach Art. 6 DSGVO gerechtfertigt ist (d).
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a) Der Kläger ist eine datenverarbeitende Stelle, indem er mit seiner Kamera Videoaufnahmen von Dritten anfertigt. Bei der Kameraüberwachung handelt es sich um die Verarbeitung von Daten i.S.v. Art. 4 Nr. 2 DSGVO. Eine Datenverarbeitung ist danach jeder Vorgang, der mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten ausgeführt wird. Von dem Begriff der Verarbeitung ist jeglicher Umgang mit personenbezogenen Daten erfasst (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2019 – 6 C 2/18 –, juris, Rn. 43; SaarlOVG, Urteil vom 14. Dezember 2017 – 2 A 662/17 – juris, Rn. 38; Schild, in: BeckOK Datenschutzrecht, 33. Ed. 1. August 2020, DS-GVO, Art. 4, Rn. 34).
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b) Bei der Kameraüberwachung werden auch personenbezogene Daten verarbeitet. Das von einer Kamera aufgezeichnete Bild einer Person fällt unter den Begriff „personenbezogene Daten“, sofern es die Identifikation der betroffenen Person ermöglicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2019 a.a.O., juris, Rn. 43; SaarlOVG, Urteil vom 14. Dezember 2017 a.a.O., juris, Rn. 38; OVG Nds, Urteil vom 29. September 2014 – 11 LC 114/13 – juris, Rn. 28 f.; Schild, in: BeckOK Datenschutzrecht, 33. Ed. 1. August 2020, DS-GVO, Art. 4, Rn. 14b). Die hier verwendete Kamera erfasst Personen und Fahrzeuge in kennzeichen- und personengenauer Auflösung.
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c) Die gesteigerten Anforderungen, die gemäß Art. 9 DSGVO an die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten gestellt werden, mussten im vorliegenden Fall nicht eingehalten werden. Gemäß Art. 9 Abs. 1 DSGVO ist die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person grundsätzlich untersagt.
28
Zwar ist es bei einer personengenauen Auflösung der Kameraaufnahmen grundsätzlich möglich, dass besondere Kategorien personenbezogener Daten erfasst werden. Schließlich lassen sich durch das äußere Erscheinungsbild der gefilmten Personen möglicherweise ihre rassische und ethnische Herkunft (Hautfarbe, Haare), ihre politische Meinung (z.B. „Palästinensertuch“), ihre religiöse oder weltanschauliche Überzeugung (z.B. religiöse Kleidungsstücke wie Kopftuch oder Kippa), Gesundheitsdaten (z.B. Brille, Rollstuhl) oder die sexuelle Orientierung (z.B. homosexuelles Paar) erkennen.
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Allerdings geht es dem Kläger nicht darum, genau diese personenbezogenen Daten besonderer Kategorien zu erfassen. Der Kläger beabsichtigt mit der Videoüberwachung Strafprävention und Strafverfolgung. Bei der Überwachung erhält er einen Mischdatensatz aus besonders sensiblen und nicht-sensiblen Daten, wobei er keine Auswertungsabsicht in Bezug auf die sensiblen Daten hat. Ohne das Vorliegen einer solchen Auswertungsabsicht bestehen für die betroffenen Personen keine besonderen Risiken, sodass der Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 1 DSGVO nicht eröffnet ist (vgl. Schulz, in: Gola, DS-GVO, 2. Aufl. 2018, DS-GVO, Art. 9, Rn. 13; Schneider/Schindler, Videoüberwachung als Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten, ZD 2018, 463, beck-online).
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d) Die Videoüberwachung durch Kamera 1 ist aber gemäß Art. 6 DSGVO rechtswidrig. Danach ist eine Datenverarbeitung nur dann rechtmäßig, wenn mindestens eine der unter Art. 6 Abs. 1 Unterabsatz 1 Buchst. a bis Buchst. f DSGVO genannten Bedingungen erfüllt ist. Hier liegt jedoch weder eine Einwilligung der betroffenen Personen i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Unterabsatz 1 Buchst. a DSGVO vor (aa), noch erfolgte die Videoüberwachung gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabsatz 1 Buchst. f DSGVO im überwiegenden Interesse des Klägers oder eines Dritten (bb).
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aa) Eine Datenverarbeitung ist gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabsatz 1 Satz 1 Buchst. a DSGVO rechtmäßig, wenn die betroffene Person ihre Einwilligung zu der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten für einen oder mehrere bestimmte Zwecke gegeben hat. Gemäß der Legaldefinition in Art. 4 Nr. 11 DSGVO ist eine Einwilligung jede freiwillig für den bestimmten Fall, in informierter Weise und unmissverständlich abgegebene Willensbekundung in Form einer Erklärung oder einer sonstigen eindeutigen bestätigenden Handlung, mit der die betroffene Person zu verstehen gibt, dass sie mit der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten einverstanden ist.
32
Die von der Videoüberwachung betroffenen Personen haben weder schriftlich noch mündlich in die Datenverarbeitung eingewilligt, wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen haben, dass eine Kameraüberwachung stattfindet. Eine (konkludente) Willenserklärung ist auch nicht in dem Lesen des Hinweisschildes (Piktogramm) an der Werbetafel zu erkennen. Auch bei deutlich sichtbar angebrachten Hinweisen ist nicht von einem Einverständnis mit der Überwachung auszugehen, wenn die betroffenen Personen den überwachten Bereich betreten (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2019 a.a.O., juris, Rn. 23; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23. Februar 2007 – 1 BvR 2368/06 –, juris, Rn. 40). Darüber hinaus kann es bei Betroffenen an der erforderlichen Einwilligungsfähigkeit fehlen, etwa bei Kindern bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (vgl. OVG Nds, Urteil vom 29. September 2014 a.a.O., juris, Rn. 33).
33
bb) Die Videoüberwachung ist auch nicht gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabsatz 1 Buchst. f DSGVO gerechtfertigt. Danach ist eine Datenverarbeitung rechtmäßig, wenn sie zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich ist, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, insbesondere dann, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt. In einem zweistufigen Prüfprogramm ist zunächst die Erforderlichkeit der Datenverarbeitung festzustellen (1) und sodann eine Abwägung der Interessen des verantwortlichen Datenverarbeiters bzw. eines Dritten mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen vorzunehmen (2).
34
(1) Die hier vom Kläger veranlasste Kameraüberwachung ist schon nicht erforderlich, sofern sie während der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums in Betrieb ist und Aufnahmen anfertigt.
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Eine Datenverarbeitung ist erforderlich, wenn der Verantwortliche zur Wahrung berechtigter, d.h. schutzwürdiger und objektiv begründbarer Interessen darauf angewiesen ist. Hierfür ist nach Erwägungsgrund 47 zur Datenschutz-Grundverordnung unter anderem bedeutsam, ob die Datenverarbeitung für die Verhinderung von Straftaten unbedingt erforderlich ist, ob sie absehbar, d.h. branchenüblich ist, oder ob die Betroffenen in der konkreten Situation vernünftigerweise damit rechnen müssen, dass ihre Daten verarbeitet werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2019 a.a.O., juris, Rn. 47).
36
Dabei ist es Sache des Verantwortlichen darzulegen, aus welchen Gründen er eine Videoüberwachung seiner Räume für angezeigt hält. Anhand seiner Angaben ist zu beurteilen, ob und in welchem Umfang die Maßnahme erforderlich ist. Behörden und Gerichte müssen im Rahmen ihrer Pflicht zur Sachaufklärung darauf hinwirken, dass der Verantwortliche die angeführten Gründe erläutert oder ergänzt. Nach dem allgemein anerkannten Begriffsverständnis ist Erforderlichkeit anzunehmen, wenn ein Grund, etwa eine Gefährdungslage, hinreichend durch Tatsachen oder die allgemeine Lebenserfahrung belegt ist, und ihm nicht ebenso gut durch eine andere gleich wirksame, aber schonendere Maßnahme Rechnung getragen werden kann. Schonender als die Videoüberwachung sind insbesondere Maßnahmen, die das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Besucher der öffentlich zugänglichen Räume nicht berühren (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2019 a.a.O., juris, Rn. 26; SaarlOVG, Urteil vom 14. Dezember 2017 a.a.O., juris, Rn. 46).
37
Es stellt somit zwar grundsätzlich ein berechtigtes Interesse des Verantwortlichen dar, eine Kameraüberwachung zur Verhinderung und Aufklärung von Straftaten einzusetzen. Allerdings ist eine solche Überwachungsmaßnahme nur dann erforderlich, wenn eine Gefährdungslage besteht, die über das allgemeine Lebensrisiko hinausgeht. Eine solche Gefährdung kann sich nur aus tatsächlichen Erkenntnissen ergeben; subjektive Befürchtungen oder ein Gefühl der Unsicherheit reichen nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2019 a.a.O., juris, Rn. 28; SaarlOVG, Urteil vom 14. Dezember 2017 a.a.O., juris, Rn. 45);
38
Unter Anwendung des dargestellten Rechtsmaßstabs ist eine besondere Gefährdungslage für die Werbetafel, deren Schutz der Kläger mit der Videoüberwachung bezweckt, vorliegend nur außerhalb der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums anzuerkennen. Im Übrigen ist eine besondere Gefährdungslage, die sich auf das zu schützende Objekt – hier: die Werbetafeln – beziehen muss, um dessen Videoüberwachung zu rechtfertigen, nicht ersichtlich.
39
Bei der Bewertung, ob eine besondere Gefährdungslage für die Werbeanlage besteht, ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Anlage bisher nicht von Dritten beschädigt worden ist. Die streitgegenständliche Werbeanlage ist durch ihre Höhe und den abgeschlossenen Zugang zu dem Betriebsraum zwischen den beiden Werbetafeln bereits dadurch überdurchschnittlich gut gegen Vandalismus geschützt, als weder die Tafeln noch der Betriebsraum für Dritte zugänglich sind. Der Kläger geht daher selbst davon aus, dass Beschädigungen der Werbeanlage allein von außen bzw. vom Boden aus – zum Beispiel durch den Wurf von Gegenständen oder den Einsatz von Drohnen – erfolgen könnten. Der Kläger hat auch nicht überzeugend vorgetragen, dass Werbeanlagen generell einem erhöhten Sachbeschädigungsrisiko ausgesetzt sind. Sofern er angibt, dass er von Geschehnissen Kenntnis erlangt habe, bei denen Werbeanlagen beschossen worden seien, lässt sich aus diesen – im Übrigen nicht weiter substantiierten oder belegten – Vorfällen jedenfalls kein allgemein erhöhtes Gefährdungsrisiko für Werbeanlagen ableiten. Ob die vom Kläger an der Werbeanlage angebrachten Überwachungskameras einen derartigen Abschreckungseffekt bewirken, dass potentielle Täter von einer Sachbeschädigung absehen und sich nur deshalb das besondere Gefährdungsrisiko bisher nicht realisiert hat, kann nicht mit hinreichender Sicherheit angenommen werden. Schließlich wird auch das anliegende Einkaufszentrum jedenfalls durch Kamera 2 und – wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat – weitere Kameras am Einkaufszentrum überwacht und es sind gleichwohl Einbruchsdelikte begangen worden.
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Sofern der Kläger weiter – allerdings unsubstantiiert und ohne entsprechende Nachweise – vorträgt, dass es auf dem Parkplatz bereits mehrere Fälle von Fahrerflucht gab, ist hierin ebenfalls kein Umstand zu erkennen, der eine besondere Gefährdungslage begründen würde, sondern es realisiert sich allenfalls ein allgemeines Lebensrisiko. Auch seine Befürchtung, dass Lastwagen die Werbetafel streifen und beschädigen könnten, begründet nur ein allgemeines Risiko, aber keine besondere Gefährdungslage, die eine Videoüberwachung rechtfertigt. Zudem ist auf dem mit Anlage 2 mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2018 vom Kläger vorgelegten Foto erkennbar, dass unterhalb der Werbeanlage am Rand bzw. am Übergang zur Straße „A.“ größere Steine liegen, die ein Überfahren des Bordsteins und ein Streifen der Werbetafel durch Lastwagen verhindern dürften. Sofern am Rand zur Bundesstraße XXX bislang noch keine entsprechenden „Poller“ installiert wurden, ist kein Grund ersichtlich, warum nicht auch hier ein solcher Schutz eingesetzt werden könnte, der die Werbetafel schützt und zugleich eine Videoüberwachung entbehrlich macht.
41
Die Kammer erkennt aber an, dass sich angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls die Gefährdung des Umfelds jedenfalls teilweise auf die Gefährdungslage der Werbeanlage auswirkt. Es kann dahinstehen, ob bei Einkaufszentren – möglicherweise auch in ihrer Umgebung – generell eine besondere Gefährdungslage angenommen werden kann, wie der Kläger offenbar meint. Schließlich sind im vorliegenden Fall Straftaten im Bereich des Einkaufszentrums tatsächlich begangen worden. Der Kläger hat von verschiedenen kriminellen Vorfällen in der näheren Umgebung der Werbeanlage berichtet: Es habe Einbrüche, Graffitis und beleidigende Schmierereien im Bereich des Einkaufszentrums und an einer benachbarten Lagerhalle gegeben, was er teilweise durch Vorlage entsprechender Fotos belegt hat, was aber im Übrigen auch nicht vom Beklagten substantiiert bestritten worden ist. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Diebstahlsdelikte aus Täterperspektive einen gewissen unmittelbaren Nutzen versprechen (Diebesgut) und Wandschmierereien mit Sprühfarben zum einen mit einer Meinungsäußerung verbunden sein und zum anderen grundsätzlich sehr einfach und schnell und ohne besonders großes Entdeckungsrisiko begangen werden können, sodass nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass die gleichen Tätergruppen auch die Werbeanlage des Klägers beschädigen würden. Der Kläger hat aber glaubhaft und nachvollziehbar erläutert, dass er in B. ein bekannter Unternehmer sei und die begangenen Straftaten jedenfalls teilweise mit einem Angriff auf seine Person verbunden seien. Er verweist insofern insbesondere auf Schmierereien an einer benachbarten Lagerhalle, mit denen er persönlich beleidigt und bedroht wurde, von denen er Fotos zur Akte gereicht hat. Er müsse daher befürchten, dass man ihm schaden wolle, sodass sein Eigentum gefährdet sei und er es berechtigterweise schütze. Aufgrund der verschiedenen Straftaten, die im Umfeld der Werbeanlage auf dem Grundstück des Klägers begangen wurden und die teilweise einen unmittelbaren Angriff auf die Person des Klägers darstellten, handelt es sich bei der nachvollziehbaren Sorge des Klägers vor Beschädigungen auch seiner hochpreisigen Werbeanlage grundsätzlich nicht nur um subjektive Befürchtungen, sondern kann eine besondere Gefährdungslage hier aus tatsächlichen Erkenntnissen abgeleitet werden.
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Allerdings ist die Kammer der Auffassung, dass die Werbeanlage des Klägers nur außerhalb der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums besonders gefährdet ist. Insofern ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass sich die Anlage in exponierter Lage an der – wie die Beteiligten mitgeteilt haben – vielbefahrenen Bundesstraße XXX sowie an der Zufahrtsstraße zum Gewerbegebiet unmittelbar am Parkplatz des Einkaufszentrums befindet. Es ist daher davon auszugehen, dass Sachbeschädigungen an der Werbetafel – um deren Schutz es dem Kläger mit der Videoüberwachung geht – während der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums nicht wahrscheinlich sind, weil in dieser Zeit mit einigem Durchgangsverkehr sowie einparkenden und Waren einpackenden Kunden des Einkaufszentrums zu rechnen ist. Etwaige Täter, die die Werbeanlage beschädigen wollten, würden während der Öffnungszeiten ein hohes Entdeckungsrisiko eingehen.
43
Die Videoüberwachung ist auch grundsätzlich geeignet, um den Überwachungszweck – hier: den Schutz des klägerischen Eigentums – zu erfüllen. Denn es entspricht allgemeiner Lebenserfahrung, dass die Wahrscheinlichkeit, dass derartige Taten begangen werden, umso geringer ist, je höher das Risiko ist, entdeckt und zur Verantwortung gezogen zu werden. Dieses Risiko ist aber nach der Installation von Videokameras aus Sicht von potentiellen Tätern größer geworden, denn sie können nicht wissen, wann sie von der Kamera erfasst werden, und nicht ausschließen, bei der Begehung eventueller Verstöße von einem Mitarbeiter des Klägers am Bildschirm beobachtet zu werden (vgl. SaarlOVG, Urteil vom 14. Dezember 2017 a.a.O., juris, Rn. 46). Außerdem ist es möglich, dass die Kamera Aufnahmen von einem etwaigen Tatgeschehen anfertigt, sodass insbesondere der Täter identifizierbar und eine Strafverfolgung erleichtert werden kann. Für etwaige Bedrohungen der Kameras durch Drohnen ist die Videoüberwachung nach Überzeugung der Kammer allerdings nicht geeignet, da diese ohne weiteres aus Bereichen gesteuert werden können, die außerhalb des Erfassungswinkels der Kamera liegen.
44
Auf mildere Mittel, also Maßnahmen, die in gleich effektiver Weise dem Schutz der Werbetafeln dienen, dabei aber weniger Rechte Dritter berühren, kann der Kläger nach Auffassung der Kammer nicht verwiesen werden. Der Kläger hat mitgeteilt, dass die Versicherung der streitgegenständlichen Werbeanlage jährlich 10.000 € kosten würde, was nach Auffassung der Kammer dem Kläger nicht wirtschaftlich zumutbar ist. Auch der Einsatz von Wachpersonal wäre mit hohen, unzumutbaren Kosten verbunden (vgl. SaarlOVG, Urteil vom 14. Dezember 2017 a.a.O., juris, Rn. 47; OVG Nds, Urteil vom 29. September 2014 a.a.O., juris, Rn. 57). Da sich die Werbetafel unmittelbar an der Straße befindet, würde auch eine Einfriedung des Geländes keinen hinreichenden Schutz versprechen, weil Gegenstände auch von außerhalb des Zaunes auf die Anlage geworfen werden könnten. Auch ein physischer Schutz, zum Beispiel eine Plexiglasscheibe vor der Werbetafel, scheidet aus, da sich die Werbetafel nach den – nachvollziehbaren – Angaben des Klägers während des Betriebs erwärmt und die Hitze abgeleitet werden muss. Darüber hinaus könnten durch Sonnenspiegelungen Autofahrer geblendet oder die Anzeige der Werbung gestört werden.
45
(2) Allerdings überwiegen die schutzwürdigen Interessen der von der Videoüberwachung mit Kamera 1 betroffenen Personen das Interesse des Klägers am Schutz seines Eigentums.
46
Die Interessenabwägung erfolgt situations- und kontextbezogen. Die Intensität des aus der Überwachung resultierenden Grundrechtseingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen. Das Gewicht des Eingriffs wird maßgeblich durch Art und Umfang der erfassten Informationen, durch Anlass und Umstände der Erhebung, den betroffenen Personenkreis, das Vorhandensein von Ausweichmöglichkeiten und die Art und den Umfang der Verwertung der erhobenen Daten bestimmt. Bei der Abwägung sind alle in Frage stehenden (Grund-)Rechtspositionen in Betracht zu nehmen und zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen. Dies sind das durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht der von den Kameras erfassten Personen auf informationelle Selbstbestimmung und Schutz ihrer personenbezogenen Daten, während sich der Kläger in erster Linie auf sein Eigentumsrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG berufen kann, welches durch Beschädigungen seiner Werbeanlage beeinträchtigt würde und welches er durch die Überwachungsmaßnahme präventiv schützen sowie im Falle einer Sachbeschädigung den Verantwortlichen aufdecken möchte (vgl. SaarlOVG, Urteil vom 14. Dezember 2017 a.a.O., juris, Rn. 48 f.; OVG Nds, Urteil vom 29. September 2014 a.a.O., juris, Rn. 63).
47
Vorliegend ist zwar im Rahmen der Interessenabwägung zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass die Kameras statisch aufnehmen und nicht etwa über eine Zoom- oder Schwenkmöglichkeit verfügen. Außerdem werden die Videoaufnahmen nach Angaben des Klägers allein im Schadensfall und nur vom Kläger eingesehen und automatisch nach 48 Stunden gelöscht. Darüber hinaus dienen die von Kamera 1 überwachten Verkehrsflächen nicht einem längeren Verweilen und es erfolgen insbesondere keine Einblicke in höchstpersönliche Bereiche der Intim- oder Privatsphäre.
48
Es überwiegen jedoch die Interessen der von der Überwachung betroffenen Personen. Schließlich ist die gezielte, heimliche Überwachung von Personen, die sich auf öffentlichen Straßen, Wegen oder Plätzen aufhalten, grundsätzlich unzulässig. Es ist die öffentliche Aufgabe der Straßenverkehrsbehörden und der Polizei, einen gesetzeskonformen Straßenverkehr zu gewährleisten und Ordnungswidrigkeiten und Straftaten zu verfolgen (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 31. Mai 2017 – 1 A 170/16 –, juris, Rn. 46 f.; LG München I, Urteil vom 21. Oktober 2011 – 20 O 19879/10 –, juris, Rn. 26). Hier erfolgt die personen- und kennzeichengenaue Überwachung der Verkehrsbereiche durch Kamera 1 regelmäßig und anlasslos und ist für die Betroffenen – im Wesentlichen Autofahrer – im Vorbeifahren nicht ohne weiteres erkennbar. Von der Überwachung sind damit eine Vielzahl von ganz überwiegend unbeteiligten Personen, die das Eigentum des Klägers offensichtlich nicht beeinträchtigen wollen, betroffen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, juris, Rn. 26). Insbesondere kann das Piktogramm, das auf die Videoüberwachung hinweist, von Passanten nicht wahrgenommen werden. Heimliche Überwachungsmaßnahmen greifen jedoch besonders schwerwiegend in die Rechte der betroffenen Personen ein (vgl. OVG Nds, Urteil vom 29. September 2014 a.a.O., juris, Rn. 64). Dies ist auch ein wichtiger Unterschied zu Kamera 2 (dazu noch unten), die im Wesentlichen den Parkplatz filmt: Zum einen ist die Videoüberwachung für Betroffene, die sich auf dem Parkplatz aufhalten, eher erkennbar als für vorbeifahrende Autofahrer. Zum anderen sind Personen, die sich außerhalb der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums auf dem Parkplatzgelände aufhalten – und nur in dieser Zeit besteht nach Überzeugung der Kammer überhaupt eine besondere Gefährdungslage, die eine Videoüberwachung erforderlich macht – eher „verdächtig“ eine Straftat zu begehen als Personen, die auf der Bundesstraße oder Zufahrtsstraße fahren und die Werbetafel ganz überwiegend bloß zufällig passieren.
49
e) Die Verwarnung begegnet daher auch auf der Rechtsfolgenseite keinen durchgreifenden Bedenken. Der Beklagte hat die Verwarnung in ermessensfehlerfreier Weise ausgesprochen. Gemäß Art. 58 Abs. 2 DSGVO steht der Aufsichtsbehörde ein Entschließungs- und Auswahlermessen hinsichtlich der Ausübung ihrer aufsichtsrechtlichen Befugnisse zu.
50
Der Beklagte ist in nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass er aufgrund des von ihm festgestellten Verstoßes gegen die Datenschutzgrundverordnung berechtigt ist, eine Verwarnung auszusprechen. Die Aufsichtsbehörde kann gemäß Art. 58 Abs. 2 DSGVO von einer Abhilfebefugnis Gebrauch machen, wenn sie einen Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen festgestellt hat oder einen solchen zumindest erwartet. Wenn ein solcher Fall vorliegt, ist der Behörde auf der Rechtsfolgenseite Ermessen eingeräumt. Bei dessen Ausübung hat sie insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (vgl. VGH BW, Beschluss vom 22. Januar 2020 – VGH 1 S 3001/19 –, BA S. 18 m.w.N.). Bei festgestellten Verstößen ist die Aufsichtsbehörde in der Regel gehalten, dagegen mit dem Ziel der Abstellung des Verstoßes vorzugehen (vgl. VGH BW, Beschluss vom 22. Januar 2020 a.a.O., BA S. 15 m.w.N.). Hinsichtlich des Entschließungsermessens ist daher von einem intendierten Ermessen auszugehen, wenn die Aufsichtsbehörde – wie hier – einen Rechtsverstoß festgestellt hat (vgl. Mundil, in: BeckOK Datenschutzrecht, 33. Ed. 1. Februar 2020, DSGVO Art. 77, Rn. 15; von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgehend VG Ansbach, Urteil vom 8. August 2019 – AN 14 K 19.00272 –, juris, Rn. 46).
51
Es ist auch kein Fehler bei der Ausübung des Auswahlermessens zu erkennen. Bei der Auswahl der geeigneten Abhilfemaßnahme nach Art. 58 Abs. 2 DSGVO muss die Aufsichtsbehörde den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten und insofern auch die Eingriffsintensität berücksichtigen (vgl. VGH BW, Beschluss vom 22. Januar 2020 – VGH 1 S 3001/19 – BA S. 18 m.w.N.). Die hier vom Beklagten ausgesprochene Verwarnung ist ein eher „mildes“ Abhilfeinstrument und kann bereits bei einem erstmaligem Datenschutzverstoß angewendet werden (vgl. Selmayr, in: Ehmann/Selmayr, DSGVO, 2. Aufl. 2018, DS-GVO Art. 58, Rn. 18; 20).
52
Die Verwarnung konnte auch neben einer weiteren Anordnung ausgesprochen werden. Der Beklagte hat vorliegend den Kläger nicht nur gemäß Art. 58 Abs. 2 Buchst. b DSGVO verwarnt, sondern darüber hinaus gemäß Art. 58 Abs. 2 Buchst. d DSGVO angeordnet, dass der Betrieb von Kamera 1 einzustellen und die Kamera abzubauen ist (Ziffer 2 des Bescheids). Entgegen der Auffassung des Klägers ist nicht etwa von einem gestuften System der – unterschiedlich weitreichenden – Abhilfebefugnisse dahingehend auszugehen, dass nach einer Verwarnung zunächst abgewartet werden müsste, ob sich der Verantwortliche zukünftig datenschutzkonform verhält, um weitere Maßnahmen – zum Beispiel auf Grundlage von Art. 58 Abs. 2 Buchst. d DSGVO – anzuordnen. Vielmehr stellt die Verwarnung eine Sanktion dar, mit der rechtswidriges Verhalten in der Vergangenheit nachträglich festgestellt wird. Als „kleine Schwester der Geldbuße“ kommt eine Verwarnung in der Regel dann in Betracht, wenn es sich um eine eher einfache Verletzung datenschutzrechtlicher Vorschriften handelt und die Schwelle zur Verhängung einer Geldbuße noch nicht überschritten ist (vgl. Selmayr, in: Ehmann/Selmayr, DSGVO, 2. Aufl. 2018, DS-GVO Art. 58, Rn. 20). Entsprechend erläutert Erwägungsgrund 148, dass im Falle eines geringfügigeren Verstoßes oder falls eine zu verhängende Geldbuße eine unverhältnismäßige Belastung darstellen würde, anstelle einer Geldbuße eine Verwarnung erteilt werden kann. Daraus ergibt sich, dass Verwarnung und Geldbuße nur alternativ angeordnet werden dürfen. Die Verwarnung kann daher die Vorstufe zur Geldbuße sein. Da Maßnahmen nach Art. 58 Abs. 2 Buchst. d DSGVO, wie die hier angeordnete Einstellung und der Abbau der Kamera, jedoch einen bestehenden rechtswidrigen Zustand für die Zukunft beseitigen sollen und damit der Gefahrenabwehr dienen, können sie auch kumulativ zu einer Verwarnung angeordnet werden.
53
2. Die Verfügung unter Ziffer 2 des Bescheids vom 23. November 2018 ist teilweise rechtswidrig (a)). Daher ist auch die Verfügung unter Ziffer 4 des Bescheids rechtswidrig (b)).
54
a) Die unter Ziffer 2 des Bescheids verfügte Einstellung der Datenverarbeitung durch Kamera 1 ist rechtmäßig (aa)). Hingegen ist die Anordnung, Kamera 1 abzubauen, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) (bb)).
55
Als Ermächtigungsgrundlage für diese Anordnungen ist Art. 58 Abs. 2 Buchst. f DSGVO heranzuziehen. Soweit der Beklagte im Bescheid Art. 58 Abs. 1 Buchst. f DSGVO als Rechtsgrundlage benannt hat, handelte es sich offensichtlich um einen redaktionellen Fehler, den der Beklagte im Laufe des Verfahrens richtiggestellt hat (siehe bereits oben bezüglich der Rechtsgrundlage für die Verwarnung). Gemäß Art. 58 Abs. 2 Buchst. f DSGVO kann die Aufsichtsbehörde eine vorübergehende oder endgültige Beschränkung der Verarbeitung, einschließlich eines Verbots, verhängen.
56
aa) Da die Videoüberwachung durch Kamera 1 eine rechtswidrige Datenverarbeitung darstellt (dazu bereits oben), konnte der Beklagte auf Grundlage von Art. 58 Abs. 2 Buchst. f DSGVO anordnen, dass die Datenverarbeitung durch Kamera 1 eingestellt wird. Hierdurch wird sichergestellt, dass künftig keine rechtswidrigen Datenverarbeitungen mehr erfolgen. Insofern ist auch kein Ermessensfehler ersichtlich, insbesondere konnte diese Anweisung neben einer Verwarnung angeordnet werden (siehe oben). Es ist auch keine mildere, gleich effektive Maßnahme ersichtlich, da auch eine Neuausrichtung von Kamera 1 an der aktuellen Position kaum möglich ist, ohne weiterhin eine Vielzahl unbeteiligter Autofahrer zu überwachen.
57
bb) Allerdings ist die Anweisung des Beklagten, dass Kamera 1 abgebaut werden muss, rechtswidrig. Insofern fehlt es bereits an einer Ermächtigungsgrundlage. Art. 58 Abs. 2 Buchst. f DSGVO erlaubt der Aufsichtsbehörde, eine Datenverarbeitung vorübergehend oder endgültig zu beschränken oder sogar zu verbieten. Von dieser Rechtsgrundlage ist jedoch die Anordnung der Demontage der Verarbeitungsanlage nicht mitumfasst. Das Verbot der Datenverarbeitung bezieht sich auf eine bestimmte Handlung, nicht aber das Vorhandensein einer – ausgeschalteten – Datenverarbeitungsanlage (vgl. noch zur früheren Rechtslage VG Oldenburg, Urteil vom 12. März 2013 – 1 A 3850/12 –, juris, Rn. 21 f.; Selmayr, in: Ehmann/Selmayr, DSGVO, 2. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 20).
58
Zwar ist es für die Kammer nachvollziehbar, dass der Beklagte ohne einen Abbau von Kamera 1 nur in beschränktem Maße überprüfen kann, ob die Kamera tatsächlich ausgeschaltet ist, und dadurch Schwierigkeiten für eine effektive Rechtsdurchsetzung entstehen können. Insofern ist es jedoch Aufgabe des (deutschen) Gesetzgebers, die Aufsichtsbehörde gemäß Art. 58 Abs. 6 Satz 1 DSGVO durch Rechtsvorschriften mit zusätzlichen Befugnissen auszustatten (vgl. Selmayr, in: Ehmann/Selmayr, DSGVO, 2. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 20).
59
Unabhängig davon werden von einer ausgeschalteten Kamera keine personenbezogenen Daten verarbeitet, sodass der Anwendungsbereich der Datenschutzgrundverordnung nicht eröffnet ist und auch keine Verstöße gegen Datenschutzrecht beanstandet werden können. Sofern eine vorhandene, aber ausgeschaltete Kamera auf Dritte einen Überwachungsdruck bewirkt, sind sie zur Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte auf den Zivilrechtsweg zu verweisen (vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 12. März 2013 – 1 A 3850/12 –, juris, Rn. 24 f.).
60
b) Damit ist auch die Verfügung unter Ziffer 4 des Bescheids vom 23. November 2018, mit der der Kläger den Abbau von Kamera 1 nachweisen soll, rechtswidrig.
61
Ermächtigungsgrundlage für diese Anweisung ist Art. 58 Abs. 1 Buchst. a DSGVO. Danach verfügt jede Aufsichtsbehörde über sämtliche Untersuchungsbefugnisse, die es ihr gestatten, den Verantwortlichen, den Auftragsverarbeiter und gegebenenfalls den Vertreter des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters anzuweisen, alle Informationen bereitzustellen, die für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind. Da die Abbauverfügung (Ziffer 2 des Bescheids) jedoch rechtswidrig ist, ist auch die – dazu akzessorische – Anordnung, einen Nachweis über den Abbau zu erbringen, rechtswidrig.
62
3. Die Anordnung des Beklagten unter Ziffer 3 des Bescheids vom 23. November 2018, wonach der Kläger die Datenverarbeitung durch Kamera 2 auf den Zeitraum außerhalb der Öffnungszeiten der anliegenden Einzelhandelsbetriebe beschränken muss, ist rechtmäßig (a)). Auch hinsichtlich der Verfügung unter Ziffer 5 des Bescheids vom 23. November 2018, womit dem Beklagten die beschränkten Aufnahmezeiten nachgewiesen werden sollen, bestehen nach Auffassung der Kammer keine Bedenken (b)). Kamera 2 erfasst einen Teil des Parkplatzes und der Außenfassade des ….
63
a) Die Anordnung, Kamera 2 nur außerhalb der Öffnungszeiten des anliegenden Einkaufszentrums in Betrieb zu nehmen (Ziffer 3 des Bescheids) ist rechtmäßig.
64
Die Anweisung kann der Abhilfebefugnis nach Art. 58 Abs. 2 Buchst. d DSGVO zugeordnet werden. Danach kann die Aufsichtsbehörde den Verantwortlichen anweisen, Verarbeitungsvorgänge auf bestimmte Weise und innerhalb eines bestimmten Zeitraums in Einklang mit der Verordnung zu bringen. Diese Befugnis soll als Auffangtatbestand grundsätzlich jeden Verstoß gegen die Datenschutzgrundverordnung, d.h. jede unionsrechtswidrige Verarbeitung von personenbezogenen Daten erfassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2019 a.a.O., juris, Rn. 42 m.w.N.).
65
Die Videoüberwachung durch Kamera 2 stellt eine rechtswidrige Datenverarbeitung dar, soweit sie Aufnahmen während der Öffnungszeiten der anliegenden Einzelhandelsbetriebe anfertigt. Insofern handelt es sich nicht um eine rechtmäßige Datenverarbeitung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f DSGVO. Während der Öffnungszeiten dieser Geschäfte ist eine Videoüberwachung durch Kamera 2 schon nicht erforderlich. In diesem Zeitraum ist eine besondere Gefährdungslage für die Werbetafel, deren Schutz der Kläger mit der Videoüberwachung bezweckt, nicht anzuerkennen. Insofern gelten die obigen Ausführungen zu Kamera 1 zur Gefährdungslage für die Werbetafeln entsprechend. Während der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums überwiegen zudem die schutzwürdigen Interessen der von der Videoüberwachung mit Kamera 2 betroffenen Personen das Interesse des Klägers am Schutz seines Eigentums. Insofern ist zu beachten, dass eine Vielzahl von ganz überwiegend unbeteiligten Personen, die das Eigentum des Klägers nicht beeinträchtigen wollen, betroffen ist.
66
Soweit außerhalb der Öffnungszeiten eine besondere Gefahrenlage für die Werbetafeln anzuerkennen ist, überwiegen allerdings die Interessen des Klägers am Schutz seines Eigentums, sodass dann eine Kameraüberwachung als rechtmäßig zu erachten ist. Bei Personen, die sich außerhalb der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums auf dem Parkplatzgelände aufhalten, sind berechtigte Interessen, wie beispielsweise das Erledigen von Einkäufen, nicht offensichtlich zu erkennen. Es sind daher keine zwingenden, den Eigentumsschutz des Klägers überwiegenden Gründe erkennbar, sich in dieser Zeit auf dem Gelände des Klägers aufzuhalten. Gleichzeitig kommt jemand, der sich außerhalb der Geschäftszeiten – und damit vor allem in den Nachtstunden – auf dem Parkplatz aufhält, eher in Betracht Straftaten zu begehen, als jemand, der den Parkplatz zu den Öffnungszeiten nutzt.
67
Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Beklagte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet, indem er mit der zeitlichen Beschränkung der Kameraüberwachung dem Umstand Rechnung trägt, dass eine besondere Gefährdungslage hier nur außerhalb der Öffnungszeiten der Einzelhandelsbetriebe anzuerkennen ist.
68
b) Die Verfügung unter Ziffer 5 des Bescheids vom 23. November 2018, wonach der Kläger die beschränkten Aufnahmezeiten nachzuweisen hat, ist rechtmäßig.
69
Auf Grundlage von Art. 58 Abs. 1 Buchst. a DSGVO kann die Aufsichtsbehörde zur effektiven Kontrolle ihrer – rechtmäßigen (siehe oben) – Grundverfügung (Ziffer 3 des Bescheids) verlangen, dass der Kläger die beschränkten Betriebs- und Aufnahmezeiten von Kamera 2 nachweist.
70
4. Die Verfügungen in Bezug auf die Kameras 3 und 4, wonach diese neu auszurichten sind (Ziffer 6 des Bescheids vom 23. November 2018) (a)) und dies dem Beklagten nachzuweisen ist (Ziffer 7 des Bescheids) (b)), sind rechtmäßig. Kamera 3 erfasst im Wesentlichen die Werbetafel und einen kleinen Ausschnitt von der Bundesstraße XXX, der Bahntrasse und eines Wohnhauses. Kamera 4 filmt maßgeblich die andere Seite der Werbetafel sowie einen kleinen Ausschnitt des Parkplatzes.
71
a) Die Verfügung unter Ziffer 6, wonach die Kameras 3 und 4 so auszurichten sind, dass die bisher teilweise mitgefilmte Straße, der Parkplatz und das Wohnhaus nicht mehr in den Erfassungswinkel der Videokameras fallen, ist rechtmäßig.
72
Die Anordnung, die Kamera so auszurichten, dass sie die Straße, den Parkplatz und das Wohnhaus nicht mehr erfasst, kann der Abhilfebefugnis nach Art. 58 Abs. 2 Buchst. d DSGVO zugeordnet werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2019 a.a.O., juris, Rn. 42).
73
Eine rechtswidrige Datenverarbeitung liegt vor, soweit vom Erfassungswinkel der Kameras 3 und 4 nicht nur die Werbetafel erfasst wird. Soweit nur die Werbetafel gefilmt wird, werden keine personenbezogenen Daten verarbeitet, sodass es sich um eine datenschutzrechtlich unproblematische Datenverarbeitung handelt. Sofern am Rand des Bildausschnitts der beiden Kameras jedoch die Straße, der Parkplatz und das Wohnhaus erfasst werden, können personenbezogene Daten verarbeitet werden. Diese Datenverarbeitung ist nicht gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f DSGVO gerechtfertigt.
74
Auch insofern fehlt es bereits an der Erforderlichkeit der Videoüberwachung zum Schutz des klägerischen Eigentums an der Werbetafel. Eine besondere Gefährdungslage kann auch hier allenfalls außerhalb der Öffnungszeiten des Einkaufszentrums angenommen werden. Angesichts des nur sehr kleinen Bildausschnitts, mit dem personenbezogene Daten erfasst werden können, ist darüber hinaus zweifelhaft, inwieweit die Kameraaufnahmen überhaupt geeignet sind, dem vom Kläger beabsichtigten Schutz seiner Werbeanlage zu dienen. Vor allem aber hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung selbst erklärt, dass er diese Randbereiche gar nicht mit seiner Kameraüberwachung aufzeichnen möchte. Eine Ausrichtung der beiden Kameras allein auf die Werbetafeln sei bisher nur aus technischen Gründen nicht gelungen. Der Kläger bezweckt mit den Kameras 3 und 4 damit also weder die Verarbeitung von personenbezogenen Daten noch den Schutz seiner Werbeanlage. Er hält damit die Videoüberwachung durch die Kameras 3 und 4 selbst nicht für erforderlich, um seine Werbeanlagen zu schützen.
75
Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Beklagte sein Auswahlermessen unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgeübt. In Bezug auf Kamera 3 wäre auch eine zeitliche Beschränkung der Aufnahmezeiten auf die Öffnungszeiten der Einzelhandelsbetriebe – entsprechend der Verfügung unter Ziffer 3 in Bezug auf Kamera 2, die ebenfalls den Parkplatz filmt – nicht als milderes Mittel anzusehen, da es dem Kläger mit Kamera 3 maßgeblich darum geht, die Werbeanlage – zeitlich unbeschränkt – zu erfassen.
76
b) Die Verfügung unter Ziffer 7 des Bescheids vom 23. November 2018, wonach der Kläger die Neuausrichtung von Kamera 3 und Kamera 4 nachzuweisen hat, ist rechtmäßig.
77
Auf Grundlage von Art. 58 Abs. 1 Buchst. a DSGVO kann die Aufsichtsbehörde zur effektiven Kontrolle ihrer – rechtmäßigen (siehe oben) – Grundverfügung (Ziffer 6 des Bescheids) verlangen, dass der Kläger die Neuausrichtung der beiden Kameras nachweist.
78
5. Die Androhung von Zwangsgeldern für den Fall, dass der Kläger die verschiedenen Verfügungen nicht bis zum 15. Dezember 2018 umsetzt (Ziffer 9 des Bescheids vom 23. November 2018) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
79
In der Zwangsmittelandrohung muss gemäß § 66 Abs. 1 Satz 3 Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz – LVwVG – zur Erfüllung der Verpflichtung eine angemessene Frist bestimmt werden. Da die Grundverwaltungsakte unter den Ziffern 1 bis 7 des Bescheids nicht für sofort vollziehbar erklärt worden sind, entfaltet eine Klage aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt auch nicht aus anderen (gesetzlichen) Gründen. In diesem Fall muss die Fristsetzung an den Eintritt der Bestandskraft oder der Vollziehbarkeit der Grundverfügung anknüpfen; es ist hingegen nicht zulässig auf kalendermäßig bestimmte, feste Zeitpunkte abzustellen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. April 2010 – OVG 11 B 9.09 –, juris, Rn. 16 f.).
80
Die hier erfolgte Zwangsmittelandrohung ist rechtswidrig, weil dem Kläger in dem Bescheid vom 23. November 2018 unter Ziffer 8 eine Frist bis zum 15. Dezember 2018 gesetzt wurde, um die verschiedenen angeordnete Maßnahmen umzusetzen. Diese kalendermäßig bestimmte Frist stellt nicht auf den Eintritt der Bestandskraft ab. Im Übrigen war am 15. Dezember 2018 noch nicht einmal die Rechtsmittelfrist abgelaufen. Auch durch die Verlängerung der Frist auf den 4. Januar 2019 durch den Beklagten, wird dieser Fehler nicht geheilt. Denn bei dieser Fristsetzung wurde ebenfalls nicht auf den Eintritt der Bestandskraft abgestellt.
81
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.
82
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO –.
B e s c h l u s s
83
der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Mainz
84
vom 24. September 2020
85
Der Wert des Streitgegenstands wird auf 25.000,00 € festgesetzt (§ 52 Abs. 1 und 2 Gerichtskostengesetz – GKG –).
Gründe
86
Für die Verwarnung (Ziffer 1 des Bescheids vom 23. November 2018) und die Anordnung der Einstellung sowie des Abbaus (Ziffer 2) in Bezug auf Kamera 1 war jeweils ein Streitwert in Höhe von 5.000 € (insgesamt 10.000 €) anzusetzen. Dabei ist die Kammer in Bezug auf die Verfügungen unter Ziffer 2 davon ausgegangen, dass für die Einstellung des Kamerabetriebs 3.750 € (d.h. ¾ des Streitwerts in Höhe von 5.000 € für Ziffer 2) und für den Abbau 1.250 € (d.h. ¼ von 5.000 €) anzusetzen waren. Für die Kameras 2, 3 und 4 und die damit verbunden weiteren Verfügungen war je Kamera ein Streitwert in Höhe von 5.000 € (insgesamt 15.000 €) anzusetzen. Die Zwangsmittelandrohung hat sich nicht streitwerterhöhend ausgewirkt (vgl. Ziffer 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
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Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 04.01.2019 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Detmold wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.
Dieses und das angefochtene Urteil sowie das Versäumnisurteil vom 12.06.2018 sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Gründe
2I.
3Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung von Maklerlohn in Anspruch; die Beklagte rechnet mit Schadensersatzansprüchen wegen Pflichtverletzung auf und beruft sich auf Verwirkung.
4Die Klägerin war im Sommer 2017 mit der Vermarktung des Objektes Tstrasse 00 in M beauftragt. Nach einem Kontakt zwischen dem für die Klägerin tätigen Zeugen C und dem Ehemann der Beklagten, dem Zeugen S, bezüglich eines anderen Objektes wies der Zeuge C seitens der Klägerin den Ehemann der Beklagten auf das Objekt Tstrasse 00 hin.
5Am 07.07.2017 erfolgte eine Besichtigung, bei der neben der Beklagten und ihrem Ehemann sowie dem Zeugen C auch die damalige Eigentümerin, die Zeugin I, anwesend war.
6Am 10.07.2017 unterschrieb die Beklagte einen „Objektnachweis mit Courtagevereinbarung und Auftrag für Notartermin“.
7In dem der Beklagten von der Klägerin zur Verfügung gestellten Exposé wurde das Objekt unter „Eckdaten“ damit beworben, dass „5 Wohneinheiten“ vorhanden seien. Des Weiteren enthielt das Exposé stilisierte Grundrisspläne des Erdgeschosses, des 1. Obergeschosses und des Dachgeschosses.
8Daneben existiert noch ein (ungenehmigt) ausgebauter Spitzboden. Dass dieser zu Wohnzwecken nicht genehmigt sei, erklärte der Zeuge C anlässlich der Besichtigung.
9Im Erdgeschoss befand sich früher, wie dem Zeugen C und dem Ehemann der Beklagten bekannt war, ein Gewerbe. Zwischenzeitlich war das Erdgeschoss zur Wohnung umgebaut worden.
10Am 27.07.2017 erfolgte der Abschluss eines notariellen Kaufvertrages zwischen der Beklagten und der Eigentümerin des Objektes Tstrasse 00 zum Preis von 207.000 €, den die Beklagte im Folgenden zahlte.
11Ebenfalls am 27.07.2017 unterschrieben die Beklagte und die Eigentümerin eine Erklärung, wonach ihnen bekannt sei, dass der Ausbau des Dachgeschosses seinerzeit ohne Genehmigung des Bauamtes erfolgt sei.
12In dem Kaufvertrag ist der Kaufgegenstand als Sondereigentum (nebst Miteigentum) an zwei Einheiten, nämlich zum einem Sondereigentum an den gewerblichen Räumen im Erdgeschoss und der Wohnung im 1. Obergeschoss und zum anderen Sondereigentum an der Wohnung im 1. Obergeschoss und im Dachgeschoss, bezeichnet und es wird auf zwei Grundbuchblätter Bezug genommen.
13Unter dem 13.10.2017 stellte die Klägerin der Beklagten für ihre Tätigkeit 7.389,90 € in Rechnung. Die Beklagte zahlte den Betrag nicht und machte geltend, es seien seitens der Klägerin falsche Angaben im Hinblick auf das Kaufobjekt gemacht worden.
14Die Klägerin hat behauptet, der Zeuge C habe Informationen der Eigentümerin übernommen. Sie ist der Ansicht gewesen, er habe diese auch nicht weiter überprüfen müssen.
15Nach Erlass eines antragsgemäßen Versäumnisurteils, mit dem die Beklagte verurteilt worden ist, an die Klägerin 7.389,90 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23.11.2017 zu zahlen, und fristgemäßem Einspruch, hat die Klägerin beantragt,
16 das Versäumnisurteil vom 12.06.2018 aufrechtzuerhalten.
17Die Beklagte hat beantragt,
18 das Versäumnisurteil vom 12.06.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
19Die Beklagte hat behauptet, der Mitarbeiter der Klägerin, der Zeuge C, habe falsche Angaben gemacht. Er habe behauptet, dass das Haus über 5 räumlich getrennte und bauordnungsrechtlich genehmigte Wohneinheiten verfüge und auch das Erdgeschoss zu Wohnzwecken geeignet und genehmigt sei. Diese falschen Informationen habe der Zeuge C nicht von der Eigentümerin erhalten, sondern eigenständig erstellt. Er habe weiter erklärt, dass im Spitzboden eine weitere Wohnung genehmigungsfähig sei. Sie habe nach Abschluss des Kaufvertrages davon Kenntnis erlangt, dass eine Nutzung des Erdgeschosses zu Wohnzwecken nicht bauordnungsrechtlich genehmigt sei. Ebenso habe sie davon Kenntnis erlangt, dass lediglich zwei Wohneinheiten bauordnungsrechtlich genehmigt seien.
20Die Beklagte ist der Ansicht gewesen, die Voraussetzungen eines Makleranspruchs lägen im Übrigen nicht vor, weil die Immobilie zunächst besichtigt und der schriftliche Maklervertrag erst im Nachhinein geschlossen worden sei.
21Hilfsweise hat die Beklagte die Aufrechnung erklärt mit Schadensersatzansprüchen. Dazu hat sie behauptet, im Hinblick auf die Erdgeschossetage, die nur als Gewerbe nutzbar sei, liege ein Minderwert in Höhe der Klageforderung vor. Darüber hinaus bestehe im Hinblick auf die fehlende Genehmigungsfähigkeit des Spitzbodens ein Schaden in Form von nicht zu realisierenden Mieteinnahmen, die die Klageforderung bei weitem überstiegen, sowie einem Minderwert in Höhe von mindestens 15.000 €. Insgesamt sei das Haus nur 150.000 € wert. Die Umbaukosten zwecks Herstellung eines bauordnungsrechtlich genehmigungsfähigen Zustandes hinsichtlich der angepriesenen 5 Wohneinheiten beliefen sich auf einen 6-stelligen Betrag.
22Das Landgericht hat nach Vernehmung der Zeugen S, C und I mit am 04.01.2019 verkündetem Urteil das Versäumnisurteil aufrechterhalten und zur Begründung im Kern ausgeführt, ein Maklervertag sei zwischen den Parteien geschlossen worden, denn dies könne auch konkludent erfolgen. Der Anspruch der Klägerin sei auch nicht gem. § 654 BGB erloschen; es lasse sich nicht feststellen, dass die Klägerin bzw. der Zeuge C vorsätzlich, leichtfertig oder ins Blaue hinein falsche Angaben gemacht habe; eine Pflichtverletzung liege nicht vor. Das Exposé sei bereits nicht objektiv unrichtig, denn es werde darauf hingewiesen, dass – erst – „nach Aufarbeitung und Verbesserung“ fünf Wohneinheiten zur Verfügung stünden. Es liege auch keine Vertragspflichtverletzung durch falsche mündliche Zusicherung vor. Zum Dachboden habe der Zeuge unstreitig offengelegt, dass dieser nicht genehmigt sei. Im Hinblick auf die Genehmigungsfähigkeit sei der Ehemann der Beklagten selbst davon ausgegangen, dass für eine „eventuelle Nachgenehmigung“ noch Maßnahmen erforderlich seien. Zum Erdgeschoss habe der Zeuge C zwar angegeben, dass die Gewerberäume in eine Wohnung umgewandelt worden seien, insofern habe er sich aber auf Angaben der Eigentümerin verlassen. Darauf habe er sich auch verlassen dürfen. Es sei nicht ersichtlich, dass sich ihm Zweifel hätten aufdrängen müssen. Im Übrigen sei der Anspruch der Klägerin nicht durch Aufrechnung erloschen. Es fehle bereits an dem erforderlichen Gegenseitigkeitsverhältnis, soweit die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen nicht realisierbarer Mieteinnahmen oder Kosten für Umbaumaßnahmen geltend mache.
23Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Begehren auf Klageabweisung unter Aufrechterhaltung ihres bisherigen Vorbringens weiterverfolgt. Insbesondere rügt sie, das Landgericht sei zu Unrecht von dem Vorliegen der Voraussetzungen für eine Maklerprovision ausgegangen. Aufgrund der Kenntnis vom Objekt vor Unterzeichnung der Vereinbarung fehle es an der erforderlichen Kausalität; im Übrigen habe es an einem eindeutigen Provisionsverlangen bei Kontaktaufnahme bzw. Vertragsanbahnung gefehlt. Das Landgericht habe auch zu Unrecht eine Aufklärungspflichtverletzung verneint. Das Exposé sei unrichtig. Der Zeuge C habe bestätigt, dass die Bezeichnung im Exposé als Haus mit 5 Wohneinheiten von ihm stamme und er die Pläne für das Exposé erstellt habe bzw. habe erstellen lassen. Es lägen auch Vertragspflichtverletzungen durch mündliche Zusicherungen vor. Der Zeuge C habe auch bestätigt, dass ihm Bedenken hinsichtlich der Abgeschlossenheit der 5. Wohneinheit gekommen seien. Auch habe das Landgericht zu Unrecht eine Aufrechnung abgelehnt. Der Makler hafte bei fahrlässig oder vorsätzlich falschen Informationen neben dem Veräußerer.
24Sie beantragt,
25unter Abänderung des am 04.01.2019 verkündeten Urteils des Landgerichts Detmold zum Az. 04 O 159/18 das Versäumnisurteil vom 12.06.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
26Die Klägerin beantragt,
27 die Berufung zurückzuweisen.
28Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil unter Aufrechterhaltung ihres erstinstanzlichen Vorbringens. Insbesondere könne sich die Beklagte nach Treu und Glauben nicht darauf berufen, dass sie die Kenntnis vom Objekt durch die Klägerin bereits vor Abschluss des Maklervertrages erhalten habe. Gegebenenfalls liege in der Vereinbarung vom 10.07.2017 ansonsten auch ein nachträgliches Provisionsversprechen. Die Voraussetzungen einer Verwirkung iS des § 654 BGB lägen nicht vor. Der Zeuge C habe sich auf die Angaben der Eigentümerin verlassen dürfen. Dass es sich um 5 genehmigte Wohneinheiten handele, habe der Zeuge bereits nicht erklärt. Auf seine Zweifel hinsichtlich der Abgeschlossenheit einer Wohneinheit habe er den Ehemann der Beklagten hingewiesen. Die Aufrechnung gehe ins Leere; es fehle an einer Pflichtverletzung; im Übrigen wäre eine solche auch nicht kausal für die Kaufentscheidung gewesen.
29Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen, die Protokolle der mündlichen Verhandlungen sowie den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
30II.
31Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
32Das Landgericht hat das Versäumnisurteil vom 12.06.2018 zu Recht aufrechterhalten.
331.
34Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 7.389,90 € gem. § 652 Abs. 1 BGB. Dem steht weder eine Verwirkung des Anspruchs entgegen noch kann die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen Pflichtverletzung entgegenhalten.
35a)
36Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zahlung von 7.389,90 € gem. § 652 Abs. 1 BGB zu, denn zwischen den Parteien ist ein Maklervertrag mit einem Provisionsversprechen i.S. des § 652 BGB zustande gekommen.
37aa)
38Der Maklervertrag ist durch die Unterschrift der Beklagten auf dem Formular „Objektnachweis mit Courtagevereinbarung und Auftrag für Notartermin“ am 10.07.2017 geschlossen worden. Dass bereits zuvor ein Maklervertrag mit Provisionsversprechen zustande gekommen ist, lässt sich – auch unter Berücksichtigung des § 653 BGB, wonach ein Maklerlohn u.U. als stillschweigend vereinbart gilt – nicht feststellen. Denn dass die Klägerin, ggf. durch Überreichen des Exposés, ihre Dienste vor dem Hintergrund eines deutlichen Provisionsverlangens angeboten hätte, welches die Beklagte durch Entgegennahme entsprechender Dienste angenommen haben könnte, lässt sich nicht feststellen. Nach den Umständen wäre es auch möglich gewesen, dass die Klägerin allein als Verkäufermakler auftrat und von der Beklagten als Käuferin keine weitere Provision verlangte.
39In der Übersendung des „Objektnachweis mit Courtagevereinbarung und Auftrag für Notartermin“ lag dann aber das Angebot der Klägerin auf Abschluss eines entsprechenden Vertrages, welches die Beklagte durch ihre Unterschrift und das Zurücksenden angenommen hat.
40Dass die Courtageregelung in dem Formular in kleiner Schrift angeführt ist und dieses Formular der Beklagten – nach ihrem Vortrag – „untergeschoben“ worden ist, ändert daran nichts. Denn aus der Überschrift ergibt sich hinreichend deutlich, dass es u.a. um eine Courtagevereinbarung geht.
41Unschädlich ist auch, dass die Beklagte das Formular am 10.07.2017 und damit nach Nachweis und Besichtigung des Objektes unterzeichnet hat (vgl. BGH, Urteil vom 03.07.2014, III ZR 530/13, NJW-RR 2014, 1272). Denn ein Maklervertrag kann auch noch nach erfolgter Maklerleistung abgeschlossen werden, wenn ein hinreichend deutliches Provisionsverlagen gestellt wird (vgl. BGH a.a.O.). Ein solches war in dem o.g. Formular enthalten. In dem Fall ist es dann Sache des Kunden, den anschließenden Abschluss des ihm angetragenen Maklervertrages zu verweigern (vgl. BGH a.a.O.). Dies hat die Beklagte nicht getan. Dass sie möglicherweise das Formular vor der Unterschrift nicht sorgsam gelesen hat, ändert – wie bereits dargelegt – daran nichts.
42bb)
43Der Maklervertrag ist auch wirksam.
44Insbesondere kann dahinstehen, ob gegen die Wirksamkeit der „Courtagevereinbarung“ Bedenken bestehen, weil darin eine Erwerbsverpflichtung festgehalten sein bzw. der Eindruck einer solchen Verpflichtung entstehen könnte („Ich/wir […] erkläre(n) mich/uns [...] bereit […] zum Kaufpreis von 207.000 EUR zu kaufen.“) und aufgrund dessen auch der Maklervertrag formbedürftig sein könnte. Denn ein etwaiger Formmangel wäre durch den formgerechten Abschluss des Hauptvertrages geheilt (vgl. BGH, Urteil vom 28.01.1987, IVa ZR 45/85, NJW 1987, 1628).
45cc)
46Die Klägerin hat die von ihr geschuldete Leistung erbracht, der beabsichtigte (Haupt-)Vertrag mit einem Dritten, hier der Eigentümerin des streitgegenständlichen Objekts, ist zustande gekommen und die Tätigkeit der Klägerin war dafür auch kausal.
47Die Klägerin hat der Beklagten das streitgegenständliche Objekt (durch ihren Mitarbeiter) jedenfalls nachgewiesen.
48Der mit der Eigentümerin abgeschlossene Vertrag ist auch zum beabsichtigen Vertrag, also demjenigen, dessen Abschluss nachgewiesen werden sollte, wirtschaftlich kongruent. Dabei ist es unerheblich, dass im Ergebnis nicht ein Haus, sondern zweimal Teil- & Wohnungseigentum erworben worden ist (vgl. auch BGH, Urteil vom 13.12.2007, III ZR 163/07, NJW 2008, 651).
49dd)
50Mit dem Abschluss des (Haupt-)Vertrages ist der Provisionsanspruch auch fällig. Der Höhe nach beläuft er sich gem. der „Courtagevereinbarung“ unstreitig auf 3,57% von 207.000 € = 7.389,90 €.
51b)
52Der Anspruch ist auch weder verwirkt noch wegen einer Pflichtverletzung nicht geschuldet oder durch Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen untergegangen.
53aa)
54Die Klägerin hat zwar ihre Pflichten aus dem mit der Beklagten geschlossenen Vertrag verletzt, § 280 Abs. 1 S. 1 BGB, dies führt aber nicht dazu, dass die Beklagte die Provision gem. § 242 BGB oder wegen einer Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen gem. §§ 387, 389 BGB nicht zahlen muss.
55(1)
56Der Makler steht zu seinem Auftraggeber als dessen Interessenvertreter in einem besonderen Treueverhältnis, aus dem sich für ihn bei der Erfüllung seiner Aufgaben bestimmte Nebenpflichten ergeben. Eine sachgemäße Interessenwahrung gebietet regelmäßig, den Auftraggeber über alle dem Maler bekannten Umstände aufzuklären, die für die Entschließung des Auftraggebers von Bedeutung sein können (BGH, Urteil vom 18.01.2007, III ZR 146/06, NJW-RR 2007, 711). Dabei darf der Makler Informationen, die er von dem Veräußerer erhalten hat, grundsätzlich ungeprüft weitergeben. Das setzt allerdings voraus, dass der Makler die betreffenden Informationen – insbesondere, wenn er diese in einem eigenen Exposé über das Objekt herausstellt – mit der erforderlichen Sorgfalt eingeholt und sondiert hat; dazu gehört, dass der Makler keine Angaben der Verkäuferseite in sein Exposé aufnimmt, die nach den in seinem Berufsstand vorauszusetzenden Kenntnissen ersichtlich als unrichtig, nicht plausibel oder sonst als bedenklich einzustufen sind (BGH a.a.O.).
57Vorliegend hat die Klägerin, vertreten durch den Zeugen C, jedenfalls die erhaltenen Informationen nicht hinreichend sondiert. Denn, dass das Objekt „5 Wohneinheiten“ enthielt, war nach den bei dem Zeugen C vorauszusetzenden Kenntnissen ersichtlich nicht plausibel bzw. bedenklich. Er hat selbst in seiner Vernehmung in erster Instanz angegeben, Bedenken (gehabt) zu haben, denn er hat angegeben, es handele sich „im Prinzip“ nicht um ein Fünffamilienhaus, weil eine Wohnung nicht abgeschlossen gewesen sei. Dabei beinhaltet die Erklärung „5 Wohneinheiten“ die Aussage, es handele sich um fünf Wohnungen. Denn nach dem Verständnis eines verständigen Durchschnittsbürgers besteht insoweit kein Unterschied. Darüber hinaus versteht der verständige Durchschnittsbürger – unabhängig davon, dass er davon ausgeht, dass auch eine eventuelle erforderliche Genehmigung bei Herstellung eingeholt worden ist, also eine „Nutzbarkeit“ in rechtlicher Hinsicht vorliegt – darin die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen, die in ihrer Gesamtheit so beschaffen sein müssen, dass die Führung eines selbständigen Haushalts möglich ist, und die eine von anderen Wohnungen oder Räumen, insbesondere Wohnräumen, baulich getrennte, in sich abgeschlossene Wohneinheit bilden sowie einen selbständigen Zugang haben müssen. Außerdem ist es nach allgemeinem Verständnis erforderlich, dass die für die Führung eines selbständigen Haushalts notwendigen Nebenräume (Küche, Bad oder Dusche, Toilette) vorhanden sind (vgl. bspw. § 42a Abs. 2 S. 2 SGB XII). Nach den örtlichen Gegebenheiten – so wie der Zeuge C sie auf den Plänen zum Exposé wiedergegeben hat – war aber auch für ihn erkennbar, dass die „Wohnung“ im Erdgeschoss durchquert werden musste, um in die zur Straße gelegene Wohnung im 1. Obergeschoss zu gelangen und die „Wohnung“ im 1. Obergeschoss hinten durchquert werden musste, um zu den beiden „Wohnungen“ im 2. Obergeschoss zu gelangen, wobei nur die hintere der beiden dortigen Wohnungen in sich abgeschlossen war. Die insofern fehlende Abgeschlossenheit hat der Zeuge C auch nicht dadurch relativiert, dass es im Text des Exposés, nachdem eingangs unter „Eckdaten“ lediglich von „5 Wohneinheiten“ die Rede ist, heißt:
58„[…] steht hier ein Mehrfamilienhaus mit schlummerndem Potential zum Verkauf, das nur geweckt und herausgearbeitet werden muss. Insgesamt würden nach einer Aufarbeitung und Verbesserung 5 Wohneinheiten mit einer Gesamtwohnfläche von über 400 m² zur Verfügung stehen“.
59Denn die Aufarbeitung und Verbesserung bezieht sich nicht auf die Erstellung der angegebenen Anzahl von Wohneinheiten, sondern lediglich auf deren Qualität, also das „wie“ und nicht das „ob“. Es lässt sich auch nicht feststellen, dass der Zeuge C die insoweit getroffene Aussage zur Anzahl der Wohneinheiten anlässlich der Besichtigung relativiert hätte. Er hat zwar in seiner Vernehmung in erster Instanz angegeben, er habe darauf hingewiesen, dass zumindest eine der Wohnungen oben nicht wirklich abgeschlossen gewesen sei. Aber der ebenfalls in erster Instanz vernommene Zeuge S hat demgegenüber angegeben, dass auf seine eigenen geäußerten Bedenken hinsichtlich der Abgeschlossenheit der Wohnungen die von ihm darauf angesprochenen Anwesenden – also die Eigentümerin und der Zeuge C – bestätigt hätten, dass dies so seine Richtigkeit habe. Damit lässt sich nicht feststellen, dass der Zeuge C die Angabe „5 Wohneinheiten“ anlässlich der Besichtigung richtiggestellt hat.
60Darüber hinaus hat der Zeuge C auch die nicht hinreichend geprüfte – bereits in der obigen Aussage enthaltene – Information übernommen, bei dem Erdgeschoss handele es sich ebenfalls um eine Wohnung. Auch hier mussten sich ihm Bedenken aufdrängen und zwar unabhängig von der früheren Nutzung als Gewerbe, weil auch hier – wie bereits geschildert – die Abgeschlossenheit offensichtlich fraglich war. Denn die Wohnung lag „zu beiden Seiten“ des gemeinschaftlichen Flures, der zum Erreichen der darüber straßenseitig gelegenen Wohnung im 1. Obergeschoss genutzt werden musste. Dabei reichte seine Nachfrage bei der Eigentümerin, ob es „in Ordnung“ sei, dass sie dort im Erdgeschoss wohne, nicht aus, um sich der Richtigkeit dieser Information zu versichern. Denn diese Frage musste von der Eigentümerin nicht ohne weiteres so verstanden werden, dass er nach einer baurechtlichen Genehmigung im Hinblick auf die Nutzungsänderung von Gewerbe zu Wohnraum fragte, so dass auch ihre bejahende Antwort insofern ersichtlich nicht ausreichte.
61Vor dem Hintergrund, dass der Zeuge C diese Informationen schon nicht ungeprüft übernehmen konnte, ohne seine Pflichten zu verletzen, kann im Übrigen dahinstehen, ob er die fraglichen Informationen (komplett) von der Eigentümerin erhalten oder er sie sich – gegebenenfalls aus den vorhanden Unterlagen – selbst besorgt und damit eigenständig falsche Angaben getätigt hat.
62Dass der Zeuge C darüber hinaus seine Pflichten durch die ungeprüfte Übernahme von (falschen) Informationen und deren Weitergabe oder sonstige Angaben verletzt hat, lässt sich nicht feststellen. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass er die Genehmigungsfähigkeit des ausgebauten Spitzbodens ausdrücklich bestätigt hat. Dies hat schon der in erster Instanz vernommene Zeuge S, der Ehemann der Beklagten, so nicht bestätigt. Er hat lediglich angegeben, der Zeuge C habe erklärt, dass diese (weitere bzw. sechste) „Wohnung“ aus ihm, dem Zeugen S, nicht mehr genau erinnerlichen Gründen nicht im Exposé enthalten sei. Es sei jedenfalls darum gegangen, dass die Genehmigungsfähigkeit „in Frage“ gestanden habe. Nach seiner Erinnerung habe es an einem zweiten Rettungsweg gemangelt. Sie hätten dann die Wohnung dahingehend besichtigt, wo man einen solchen zweiten Rettungsweg möglicherweise installieren könne. In dem geschilderten Geschehen, insbesondere auch demjenigen zu einem zweiten Rettungsweg, liegt aber keine Zusicherung einer Genehmigungsfähigkeit etwa dann, wenn der zweite Rettungsweg installiert wäre. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Zeugin I nach ihren Angaben anlässlich ihrer Vernehmung in erster Instanz erklärt hat, sie habe mitgeteilt, dass aus ihre Sicht eine Genehmigung schwierig werden könne, weil nicht genug Fluchtwege vorhanden gewesen seien. Im Übrigen war der Zeuge C zu Aussagen über die Genehmigungsfähigkeit als angestellter Immobilienmakler bei der Klägerin, die Teil der öffentlich-rechtlichen U-Finanzgruppe ist, grundsätzlich ersichtlich nicht hinreichend qualifiziert.
63(2)
64Soweit der Beklagten durch die Pflichtverletzung ein Schaden entstanden ist, muss sie sich jedoch aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falles ein Mitverschulden ihres Ehemannes, des Zeugen S, als Erfüllungsgehilfe gem. §§ 254 Abs. 2 S. 2, 278 S. 1 BGB anrechnen lassen, § 254 Abs. 1 BGB, welches Schadensersatzansprüche gegen die Klägerin ausschließt.
65Soweit die Beklagte geltend macht, ihr sei ein Schaden entstanden, kann dieser nur in Form eines Minderwertes gegeben sein (vgl. dazu BGH, Urteil vom 28.09.2000, III ZR 43/99, NJW 2000, 3642). Denn ein Schaden in Form der Belastung mit einer (unnützen) Verbindlichkeit, hier dem Provisionsanspruch, liegt schon nicht vor, da die Beklagte nicht vorgetragen hat, ohne die Pflichtverletzung den Vertrag gar nicht geschlossen zu haben (vgl. BGH, Urteil vom 18.12.1981, V ZR 207/80, NJW 1982, 1145; Palandt/Sprau, BGB, 79. Auflage, § 652 Rn. 18). Auch ein Schaden in Form von Umbaukosten kommt, abgesehen davon, dass diese nicht konkret beziffert worden sind, nicht in Betracht, weil diese – für das Erd- und die beiden Obergeschosse – auch angefallen wären, wenn der Zeuge C zutreffende Angaben zur Anzahl der Wohnungen und zum Erdgeschoss gemacht hätte. Entsprechendes gilt für einen Schaden in Form von entgangenen Mieteinnahmen bezüglich des Erd- und Obergeschosses.
66Die Beklagte trifft aber – vermittelt über ihren Ehemann – ein Mitverschulden, welches etwaige Schadensersatzansprüche gänzlich ausschließt.
67Auch bei einem Verstoß gegen Aufklärungs- und Beratungspflichten des Maklers ist Raum für ein die Schadenersatzpflicht minderndes Mitverschulden (Fischer, Maklerrecht, 5. Auflage, Kap. IX Rn. 35; vgl. auch BGH, Urteil vom 08.07.1981, IVa ZR 244/80, NJW 1981, 2685). Zwar wird bei einem Beratungsvertrag und bei Beratungspflichtverletzungen des Versicherungsmaklers angenommen, der zu beratenden Person könne regelmäßig nicht vorgehalten werden, dass sie dasjenige, worüber der Berater hätte aufklären oder unterrichten sollen, bei entsprechenden Bemühungen ohne fremde Hilfe selbst hätte erkennen können (vgl. BGH, Urteil vom 30.11.2017, I ZR 143/16, NJW 2018, 1160 Rn. 20; vgl. auch BGH, Urteil vom 13.01.2004, XI ZR 355/02, NJW 2004, 1868; zum Immobilienmakler BGH, Urteil vom 18.01.2007, III ZR 146/06; NJW-RR 2007, 711; Senat, Beschluss vom 27.06.2011, 18 W 11/11, BeckRS 2011, 24528; für ein Mitverschulden vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 09.09.2016, 7 U 82/15, BeckRS 2016, 21373). Vorliegend ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Zeuge C als Makler hier lediglich den Nachweis der Gelegenheit zum Abschluss eines Kaufvertrages und grundsätzlich keine weitere Beratungsleistung bzw. -pflicht schuldete (vgl. auch Fischer, a.a.O., Kap. IX Rn. 18; für eine Übertragung der Rspr. zum Mitverschulden beim Versicherungsmakler auf Immobilienmakler aber wohl Fischer, NZM 2019, 201 (204 f.)). Darüber hinaus kann ein Mitverschulden jedenfalls unter besonderen Umständen in Betracht kommen, nämlich dann, wenn ohne weiteres erkennbare Umstände, die gegen die Richtigkeit des vom Berater eingenommenen Standpunkts sprechen, nicht genügend beachtet werden (vgl. BGH a.a.O. Rn. 21; Fischer, a.a.O., Kap. IX Rn. 39; vgl. auch BGH, Urteil vom 26.09.1997, V ZR 65/96, NJW-RR 1998, 16).
68Vorliegend musste sich dem Ehemann der Beklagten, dem Zeugen S, der sich um die im Besitz der Beklagten befindlichen, mehreren Immobilien kümmert, die fehlende Abgeschlossenheit der Wohnungen und damit die Zweifel an der vorhandenen Anzahl sowie der baurechtlichen Genehmigung der Nutzungsänderung bezüglich des Erdgeschosses ebenso aufdrängen wie dem Zeugen C und hat es auch getan, wie er in seiner Vernehmung in erster Instanz angegeben hat. Dass diese Bedenken u.a. durch den Zeugen C auf entsprechende Nachfrage entkräftet worden wären, so dass der Zeuge S sich keine weiteren Gedanken machen musste, lässt sich nicht feststellen. Denn auch wenn er, der Zeuge S, bei seiner Vernehmung in erster Instanz angegeben hat, u.a. der Zeuge C habe ihm bestätigt, dass das alles „so seine Richtigkeit habe“, hat dies der Zeuge C nicht bestätigt, sondern vielmehr im Gegenteil angegeben, er habe auf die fehlende Abgeschlossenheit zumindest einer Wohnung anlässlich der Besichtigung hingewiesen.
69Darüber hinaus mussten dem Zeugen S insbesondere Bedenken kommen, als der notarielle Kaufvertrag mit den darin enthaltenen grundbuchrechtlichen Angaben vorlag (vgl. auch OLG Stuttgart, Urteil vom 02.02.2011, 3 U 154/10, BeckRS 2012, 1236). Denn aus diesem ergab sich offensichtlich, dass die (ehemalige) Gewerbeeinheit im Erdgeschoss zusammen mit der Wohnung im 1. Obergeschoss straßenseitig als ein Wohnungseigentum im grundbuchrechtlichen Sinne und die hintere Wohnung im 1. Obergeschoss mit dem darüber liegenden Geschoß als ein weiteres Wohnungseigentum im grundbuchrechtlichen Sinne angesehen wurde. Auch wenn die grundbuchrechtliche Situation nicht notwendigerweise mit der baurechtlichen oder tatsächlichen Situation übereinstimmen muss, sprach dies jedoch deutlich gegen das Vorhandensein von fünf „Wohnungen“ und entsprach im Übrigen der Situation, wie sie auch bei der Besichtigung wahrnehmbar und im Übrigen auch in den dem Exposé beigefügten stilisierten Plänen wiedergegeben war.
70Selbst wenn der Zeuge C anlässlich des Notartermins noch einmal bestätigt haben sollte, dass es sich um ein Mehrfamilienhaus mit fünf Wohneinheiten handele, konnte eine solche Angabe ohne Mitteilung einer Begründung oder sonstigen Erklärung im Hinblick auf den offensichtlich dagegensprechenden Inhalt des Kaufvertrages die sich aufdrängenden Bedenken nicht hinreichend entkräften. Denn dabei ist zu berücksichtigen, dass der Zeuge C bei einer solchen Erklärung „aus dem Stand“ ersichtlich keine weiteren Erkundigungen eingeholt haben konnte und im Übrigen auch eine besondere Qualifikation seinerseits, die eine solche Einschätzung ohne weiteres gerechtfertigt hätte, nicht erkennbar war.
71Im Rahmen der Abwägung der Verursachung und des Verschuldens der Beteiligten gem. § 254 Abs. 1 BGB ist neben dem bereits Ausgeführten zu berücksichtigen, dass das Gewicht, das den Angaben im Kaufvertrag zukommt, deutlich überwiegt gegenüber demjenigen, das den Angaben, die der Zeuge C insbesondere im Rahmen des Exposés getätigt hat, zukommt. Darüber hinaus ist im Hinblick auf die Entstehung des Schadens in Form eines etwaigen Minderwertes zu berücksichtigen, dass die Beklagte das Objekt – wie der Zeuge S als Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben hat – seit dem Erwerb vor ca. drei Jahren ohne größere Umbauarbeiten in Form von fünf Einheiten nutzt und vermietet (vgl. auch OLG Stuttgart, Urteil vom 02.02.2011, 3 U 154/10, BeckRS 2012, 1236). Damit überwiegt der Anteil der Beklagten so deutlich, dass die Einstandspflicht der Klägerin vollständig zurücktritt.
72Demzufolge kann die Beklagte weder mit einem Schadensersatzanspruch im Hinblick auf fehlerhafte Angaben bezüglich der Anzahl der Wohnungen, noch hinsichtlich der Nutzbarkeit des Erdgeschosses als Wohnung oder der Genehmigungsfähigkeit des Spitzbodens aufrechnen.
73bb)
74Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht durch Verwirkung gem. § 654 BGB analog erloschen.
75Zwar kann der Makler seinen Lohnanspruch verwirken, wenn er – über den in § 654 BGB geregelten Fall hinaus – durch vorsätzliche oder grob leichtfertige Verletzung wesentlicher Vertragspflichten den Interessen seines Auftraggebers in erheblicher Weise zuwider handelt (BGH, Urteil vom 13.03.1985, IVa ZR 222/83, MDR 1985, 741) und damit seines Lohnes unwürdig erscheint bzw. die Provision bereits nach allgemeinem Rechts- und Billigkeitsempfinden nicht verdient hat (Senat, Urteil vom 01.03.1999, 18 U 149/98, NJW-RR 2000, 59; Urteil vom 05.07.1993, 18 U 258/92, NJW-RR 1994, 125, jeweils m.w.N.). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Fälle von schuldhaften Falschinformationen, soweit sie nicht durch ein treuwidriges Verhalten gekennzeichnet sind, in der Regel zufriedenstellend unter dem Gesichtspunkt der Nebenpflichtverletzung beurteilt werden können (BGH, Urteil vom 24.06.1981, IVa ZR 225/80, NJW 1981, 2297; Fischer, a.a.O., Kap. VIII Rn. 53 jew. m.w.N.).
76Der der Klägerin zuzurechnenden Pflichtverletzung durch den Zeugen C fehlt insoweit das für eine Anwendung des Verwirkungsgedankens außergewöhnliche Gewicht; es stellt kein solch treuwidriges Verhalten dar. Dass die Klägerin bzw. der Zeuge C nicht irgendeine, sondern die bestehende Treuepflicht vorsätzlich, mindestens aber in einer dem Vorsatz nahekommenden grob leichtfertigen Weise verletzt hat (vgl. BGH, Urteil vom 24.06.1981, IVa ZR 225/80, NJW 1981, 2297), lässt sich nicht feststellen. Dies gilt zunächst insoweit, als sich nicht feststellen lässt, dass der Zeuge C vorsätzlich falsche Angaben gemacht hat. Aber auch, dass er in einer dem nahekommenden Weise grob leichtfertig falsche Angaben gemacht hat, lässt sich – auch unter Berücksichtigung seiner Angaben in der Vernehmung in erster Instanz – nicht feststellen. Dagegen spricht bereits, dass er sich u.a. anhand der vorhandenen Pläne und vor Ort ein Bild von den Gegebenheiten gemacht und diese umgesetzt hat. Soweit er im Weiteren von „5 Wohneinheiten“ ausging, entsprach dies unstreitig der tatsächlichen Nutzung und wurde auch von der Eigentümerin, der Zeugin I, wie sie in ihrer Vernehmung in erster Instanz angegeben hat, als zutreffend angesehen. Auch aktuell werden – ohne größere Umbauarbeiten – 5 Einheiten genutzt. Auch wenn dem Zeugen C bekannt gewesen wäre, dass es der Beklagten, wie der Zeuge S nach seiner Vernehmung in erster Instanz bei der Besichtigung bekundet haben will, die Nutzung als Wohnraum im Erdgeschoss wichtig war (vgl. BGH, Urteil vom 24.06.1981, IVa ZR 225/80, NJW 1981, 2297), reichen auch die insoweit erfolgten Angaben des Zeugen C nicht aus zur Annahme einer entsprechenden Treuepflichtverletzung. Denn der Zeuge C hat sich insoweit – wenn auch nicht ausreichend –, nach seinen Angaben im Rahmen der Vernehmung in erster Instanz, nach der Nutzung als Wohnung im Erdgeschoss bei der Eigentümerin erkundigt. Darüber hinaus war der Beklagten die – jedenfalls noch grundbuchrechtlich – weiterhin als Gewerbe erfolgende Bezeichnung des Erdgeschosses bei Kaufvertragsabschluss bekannt. Hat aber der Kunde Kenntnis von der Unrichtigkeit einer Exposé-Angabe, kann dies dagegensprechen, von einem lohnunwürdigen Fehlverhalten auszugehen (vgl. Fischer a.a.O. Kap. VIII Rn. 55; anders im Ergebnis Urteil des Senats vom 01.03.1999, 18 U 149/98, NJW-RR 2000, 59). Nach alledem begründen die Angaben des Zeugen C bezüglich des streitgegenständlichen Hauses keine solch gravierende (Treue-)Pflichtverletzung, dass von einer Verwirkung des Lohnanspruchs der Klägerin auszugehen ist.
77Auch eine Verwirkung des Lohnanspruchs wegen einer Veranlassung zur Unterzeichnung einer formnichtigen „Kaufverpflichtungserklärung“ ist nicht anzunehmen. Zwar kann es in einem solchen Fall zu einer Verwirkung des Anspruchs gem. § 654 BGB kommen, nämlich dann, wenn dem Maklerkunden die Notwendigkeit der notariellen Beurkundung nicht bekannt war und auf der anderen Seite der Makler diese Unkenntnis kannte oder erkennen konnte und der Makler die Unkenntnis ausnutzt (vgl. BGH, Urteil vom 04.10.1989, IVa ZR 250/88, NJW-RR 1990, 57; Urteil vom 15.03.1989, IVa ZR 2/88, NJW-RR 1989, 760). Allerdings liegen bereits die objektiven Voraussetzungen hier nicht vor. Auch wenn grundsätzlich angenommen werden kann, dass der Auftraggeber eines Maklers in der Regel rechtsunkundig ist (vgl. BGH a.a.O.), ist jedenfalls der Ehemann der Beklagten unstreitig in Immobiliengeschäften bewandert. Seine Kenntnis als Wissensvertreter ist der Beklagten zuzurechnen, § 166 BGB, so dass es bereits daran fehlt, dass dem Maklerkunden die Notwendigkeit der notariellen Beurkundung nicht bekannt ist.
78Auch der übrige Vortrag der Beklagten gibt keine Anhaltspunkte für eine sonstige schwerwiegende Treuepflichtverletzung der Klägerin i.S. des § 654 BGB analog.
792.
80Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286 Abs. 3 S. 1, 288 Abs. 1 S. 2 BGB und ist im Übrigen mit der Berufung nicht weiter angegriffen worden.
81III.
82Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
83Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, die Fortbildung des Rechts verlangt nicht nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs und der Senat weicht im vorliegenden Einzelfall mit seiner Entscheidung nicht von höchstrichterlichen oder anderen obergerichtlichen Urteilen ab, § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO.
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 23.04.2020 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die Klägerin begehrt die Erstattung ihr durch Liposuktionsbehandlungen entstandener Kosten i.H.v. 18.510,00 EUR.
3Die 1996 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (Beklagte) gesetzlich krankenversicherte Klägerin beantragte mit Schreiben vom 30.04.2019 die Kostenübernahme für Liposuktionen bei bestehendem Lipödem. Ihr Gesundheitszustand habe sich physisch und psychisch innerhalb eines Jahres immens verschlechtert. Sie leide täglich unter Schmerzen, Spannungsgefühlen und Wassereinlagerungen in den Beinen. Die Arme hätten ebenfalls begonnen zu schmerzen. Die Schmerzen verursachten Konzentrationsschwierigkeiten am Arbeitsplatz. Sie sei aktuell nicht in der Lage, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Daher sei sie in psychotherapeutischer Behandlung aufgrund einer mittelgradigen depressiven Episode bei chronischer Schmerzstörung. Sie müsse Hormone einnehmen aufgrund einer Endometriose. Durch die Einnahme dieser Hormone würden die Symptome der Lipödemerkrankung verstärkt. Sie fügte ein fachärztliches Gutachten des Facharztes für Chirurgie, Plastische und Ästhetische Chirurgie Dr. X der M Dr. I vom 15.10.2018 bei. Darin wird u.a. ausgeführt, im Jahr 2018 sei fachärztlicherseits die Diagnose eines Lipödems beider Beine und Arme (Stadium I) gestellt worden. Die stetige Verschlechterung des körperlichen Befundes habe zu einer Vorstellung in der Klinik geführt. Aus medizinischer Sicht sei eine Therapie durch Lipo-Dekompression im Bereich der Hüften, des Gesäßes, der Oberschenkel, der Knie, der Unterschenkel und der Arme indiziert. Alternative Behandlungsmaßnahmen wie lebenslange Kompressionen und manuelle Lymphdrainage wirkten nur symptomatisch und seien nicht geeignet, die Grunderkrankung zu beeinflussen und der Entstehung von Folgeerkrankungen vorzubeugen. Es werde die Kostenübernahme als Einzelfallentscheidung für ambulante Operationen beantragt. Die Rechnungstellung müsse sich bei weiterem Fehlen von Abrechnungsziffern nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) an der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) orientieren.
4Mit Bescheid vom 14.05.2019 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab. Bei der begehrten Behandlung handle es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, für die bisher eine positive Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses fehle.
5Zur Begründung ihres dagegen gerichteten Widerspruchs führte die Klägerin aus, der therapeutische Nutzen von Liposuktionen sei durchaus bekannt. Ab dem 01.01.2020 gewährten Krankenkassen Liposuktionen bei Lipödemen Stadium III. Der Gemeinsame Bundesausschuss habe in einer Publikation vom 20.07.2017 vom bestehenden Potenzial der operativen Methode berichtet. Die Erkrankung nehme bei ihr einen schnellen Verlauf. Zur Begründung der medizinischen Notwendigkeit fügte sie eine amtsärztliche Bescheinigung des Gesundheitsamtes der Stadt F vom 23.05.2019 bei, wonach konservative Methoden nicht erfolgreich seien. Der Facharzt für Chirurgie Dr. E führt in einem ebenfalls vorgelegten Schreiben vom 09.05.2019 aus, die begehrte Therapie werde bei einem Lipödem Stadium II ausdrücklich empfohlen und sei auch medizinisch zielführend. Die Internistin und Angiologin Dr. S führte aus, ihres Erachtens seien die Kriterien für die Gewährung der Kostenübernahme für eine ambulante Liposuktion als Einzelfallentscheidung erfüllt. Medizinische Gründe sprächen für eine zeitnahe Operation.
6Mit Widerspruchsbescheid vom 19.09.2019 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.
7Zur Begründung ihrer am 18.10.2019 beim Sozialgericht Köln anhängig gemachten Klage, mit der die Klägerin nach (ambulanter) Durchführung von drei Liposuktionen am 11.06.2019, 07.08.2019 und 18.10.2019 in der M Dr. I die Erstattung von insgesamt 18.510,00 EUR begehrte, hat sich die Klägerin auf einen Anspruch aus § 137c Abs. 3 SGB V berufen. Die entgegenstehende Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts im Urteil vom 24.04.2018 sei einfachgesetzlich falsch und begründe einen Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot. Zudem erscheine die Entscheidung des Bundessozialgerichts auch rechtsfehlerhaft, weil es die alleinige Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts für formelle Bundesgesetze missachte. Die Entscheidung sei unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt nachvollziehbar und mithin zumindest objektiv willkürlich. Es habe den aus den Gesetzesmaterialien hervorgehenden Willen des Gesetzgebers bewusst missachtet. Zudem sei die Entscheidung unter Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter zustande gekommen. Der Anspruch der Klägerin ergebe sich darüber hinaus auch unter dem Gesichtspunkt des Systemversagens. Der ursprüngliche Antrag der Patientenvertretung, die Liposuktion zur Behandlung des Lipödems in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen, datiere aus Mai 2014. Die in § 137c Abs. 1 Satz 6 SGB V normierte Frist von 3 Jahren, innerhalb derer ein Erprobungsverfahren vor dem Gemeinsamen Bundesausschuss abzuschließen sei, sei damit bereits im Jahre 2017 abgelaufen, ohne dass sich bis zu diesem Zeitpunkt im Verfahren Nennenswertes getan hätte. Es sei nicht ansatzweise ersichtlich, inwiefern das Verfahren nach der Antragstellung bis ins Jahr 2018 gefördert worden wäre. Es sei auch nicht ersichtlich, dass bei Straffung des Verfahrens eine fristgerechte Entscheidung nicht möglich gewesen wäre. Im Übrigen habe der Gesetzgeber § 137c Abs. 3 SGB V im Dezember 2019 geändert und nunmehr ausdrücklich im Wortlaut der Norm herausgestellt, dass es sich um eine Anspruchsgrundlage der Versicherten gegen die gesetzlichen Krankenkassen handele. Demnach könne es keinem Zweifel mehr unterliegen, dass sich der Anspruch der Klägerin aus dieser Vorschrift ergebe. In der Gesetzesbegründung sei ausdrücklich betont worden, dass die Regelung auch zuvor bereits nach dem Willen des Gesetzgebers als Anspruchsgrundlage der Versicherten zu verstehen gewesen sei
8Die Klägerin hat Rechnungen der M Dr. I vom 25.06.2019, 16.08.2019 und 05.11.2019 über jeweils 5.995,00 EUR, abgerechnet nach den Vorschriften der GOÄ, sowie Rechnungen des Facharztes für Anästhesie Dr. D vom 12.06.2019 über 743,70 EUR, 07.08.2019 über 468,70 EUR und 18.10.2019 über 468,70 EUR sowie "Pro-forma"-Rechnungen der M1 GmbH an Dr. I vom 22.05.2019 über 91,04 EUR sowie vom 22.05.2019 über 74,97 EUR vorgelegt. Zudem sind die Vergütungsvereinbarungen mit der M Dr. I vom 11.06.2019 (über 5.995,00 EUR), 07.08.2019 (5.245,50 EUR) und 18.10.2019 (6.744,50 EUR) vorgelegt worden.
9Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 23.04.2020, der Klägerin zugestellt am 30.04.2020, abgewiesen. Die Behandlung habe im maßgeblichen Zeitpunkt nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Es habe eine positive Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses für diese Methode gefehlt. Es fehlten Anhaltspunkte dafür, dass die im Behandlungszeitpunkt fehlende Anerkennung der Liposuktion bei Lipödem als Behandlungsmethode darauf zurückzuführen sei, dass das Verfahren vor dem Gemeinsamen Bundesausschuss trotz Erfüllung der für die Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht zeitgerecht durchgeführt worden sei. Es fehlten weiterhin Belege für den hinreichenden Nutzen der Methode zur Behandlung von Lipödemen. Dies ergebe sich aus den tragenden Gründen zu dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 18.01.2018 über eine Richtlinie zur Erprobung der Methode. Der Anspruch könne auch nicht aus einer grundrechtsorientierten Leistungsauslegung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V abgeleitet werden. Ein Anspruch aus § 137c Abs. 3 SGB V scheide schon aus, weil die Behandlungen durch die Klägerin ambulant durchgeführt worden seien.
10Zur Begründung ihrer Berufung vom 02.06.2020 (Pfingstdienstag), mit der die Klägerin an ihrem Begehren festhält, hat sie unter Verweis auf ihr bisheriges Vorbringen ergänzend ausgeführt, der ursprüngliche Antrag sei nicht auf eine ambulante Behandlung bei einem Privatarzt gerichtet gewesen. Sie habe gegenüber der Beklagten auch nicht geäußert, dass sie nicht bereit wäre, die Operationen auch stationär in einem Vertragskrankenhaus durchführen zu lassen. Der Antrag habe auch diese Form der Leistungserbringung umfasst.
11Die Klägerin beantragt schriftsätzlich (sinngemäß),
12den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 23.04.2020 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.05.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.09.2019 zu verurteilen, ihr die Kosten für die Durchführung einer mehrschrittigen Liposuktion zur Behandlung des Lipödems i.H.v. 18.510,00 EUR zu erstatten.
13Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
14die Berufung zurückzuweisen.
15Sie hält die Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und macht sie sich zu eigen.
16Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt (Erklärungen vom 09.09.2020).
17Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt des Verwaltungsvorgangs der Beklagten sowie der Prozessakte Bezug genommen, der der Entscheidung des Senats zugrundeliegt.
18Entscheidungsgründe:
19Der Senat entscheidet aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 124 Abs. 2 SGG.
20Die statthafte Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie fristgerecht erhoben (§§ 151 Abs. 1, 64 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 SGG). Sie ist jedoch unbegründet.
21Das Sozialgericht hat die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) statthafte Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist durch den (Ablehnungs-) Bescheid vom 14.05.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.09.2019 (§ 95 SGG) nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Ihr steht kein Anspruch auf Erstattung von 18.510,00 EUR aufgrund dreier (ambulanter) Liposuktionsbehandlungen in der M Dr. I zu. Die Voraussetzungen der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage aus § 13 Abs. 3 SGB V liegen nicht vor. Der Senat verweist insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Gerichtsbescheid und macht sich diese zu eigen (§ 153 Abs. 2 SGG).
22Die Berufungsbegründung rechtfertigt eine abweichende rechtliche Beurteilung nicht. Insbesondere kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, der ihrem Erstattungsbegehren zu Grunde liegende Naturalleistungsanspruch ergebe sich aus § 137c Abs. 3 SGB V. Unabhängig davon, dass der Antrag der Klägerin entsprechend dem "fachärztlichen Gutachten" des Dr. X vom 15.10.2018 von vornherein auf ambulant durchzuführende Liposuktionen in der M Dr. I gerichtet war, wurden diese auch ambulant durchgeführt und - ausweislich der aktenkundigen Rechnungen - auch entsprechend abgerechnet. Darüber hinaus fehlt es an der Erforderlichkeit der stationären Durchführung. Dies ergibt sich nicht zuletzt ebenfalls auch aus Ausführungen des behandelnden Arztes Dr. X.
23Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte (jedoch nur) Anspruch auf vollstationäre oder stationsäquivalente Behandlung durch ein nach § 108 zugelassenes Krankenhaus, wenn die Aufnahme oder die Behandlung im häuslichen Umfeld nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Eine vollstationäre Behandlung war vorliegend gerade nicht erforderlich.
24Selbst wenn also der Antrag der Klägerin auch die Durchführung einer stationären Behandlung umfasst hätte, wäre die (sodann als umfassend zu verstehende) Leistungsablehnung durch die Beklagte nicht zu beanstanden.
25Zutreffend hat das Sozialgericht einen Anspruch unter dem Gesichtspunkt eines Systemversagens verneint, weil ein solches nicht vorliegt. Ein Systemversagen kommt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dann in Betracht, wenn das Verfahren vor dem Gemeinsamen Bundesausschuss trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (vgl. etwa BSG, Urteil vom 07. Mai 2013 - B 1 KR 44/12 R -, Rn. 18, juris m.w.N). Es liegen jedoch weder Anhaltspunkte dafür vor, dass die antragsberechtigten Stellen aus willkürlichen oder sachfremden Erwägungen nicht früher einen Antrag im Hinblick auf die Behandlung von Lipödem mittels Liposuktion gestellt haben, noch für eine willkürlich oder durch sachfremde Erwägungen begründete verzögerte Bewertungsverfahrensführung durch den Gemeinsamen Bundesausschusses. Die Behauptung der Klägerin, es habe sich nichts Nennenswertes getan im Zeitraum März 2014 und dem Jahr 2018, ignoriert den tatsächlichen Geschehensablauf und die Komplexität des bzw. der Prüfverfahren. Auf Antrag der Patientenvertreter vom 20.03.2014 hat der Gemeinsame Bundesausschuss in nicht zu beanstandender Weise am 22.05.2014 beschlossen, ein Bewertungsverfahren nach §§ 135 Abs. 1 und 137c SGB V zur Liposuktion bei Lipödem einzuleiten und den Unterausschuss "Methodenbewertung" mit der Durchführung der Bewertung beauftragt. Mit Beschlüssen vom 20.07.2017 (Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung: Liposuktion bei Lipödem; Richtlinie Methoden Krankenhausbehandlung: Liposuktion bei Lipödem) (abrufbar unter www.g-ba.de) hat er sodann auf Grundlage des § 137e SGB V die Aussetzung des Bewertungsverfahrens beschlossen, um eine Erprobungsstudie durchzuführen. Die entsprechende sektorübergreifende Erprobungsrichtlinie hat der Gemeinsame Bundesausschuss am 18.01.2018 in ebenfalls nicht zu beanstandender Weise beschlossen (vgl. auch BSG, Urteil vom 24. April 2018 - B 1 KR 13/16 R -, Rn. 28 ff., juris). Mit zum Wirksamwerden noch durch das Bundesministerium für Gesundheit zu prüfenden und im Bundesanzeiger zu veröffentlichenden Beschlüssen vom 19.09.2019 hat der Gemeinsame Bundesausschluss schließlich Richtlinien zur befristeten Erforderlichkeit der Liposuktion für die Versorgung mit Krankenhausbehandlung, zur Anerkennung der Liposuktion als Untersuchungs- und Behandlungsmethode in der vertragsärztlichen Versorgung und über Maßnahmen zur Qualitätssicherung nach § 136 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V bei Verfahren der Liposuktion bei Lipödem im Stadium III beschlossen. In den Prüfverfahren waren zahlreiche umfangreiche (insbesondere) medizinische Stellungnahmen, Gutachten, Leitlinien und Studien einzuholen und auszuwerten (vgl. die ins Einzelne gehende Darstellung der Chronologie des SG Aachen (Urteil vom 05. November 2019 - S 14 KR 297/19 -, Rn. 41 ff., juris).
26Der Senat weist hinsichtlich der medizinischen Erkenntnisse beispielhaft auf das Gutachten "Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen" der Sozialmedizinischen Expertengruppe 7 des MDK vom 06.10.2011 nebst Gutachtensaktualisierung (15.01.2015; abrufbar unter www.mds-ev.de/richtlinien-publikationen/gutachten-nutzenbewertungen.html dort Gutachten Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen) hin, deren Übereinstimmung im Ergebnis mit der Beurteilung des Gemeinsamen Bundesausschusses in den "Tragenden Gründen zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Richtlinie Methoden Krankenhausbehandlung: Liposuktion bei Lipödem vom 20.07.2017" auch das Bundessozialgericht zu Recht betont (vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2018 - B 1 KR 10/17 R -, Rn. 27, juris). Auch weiterhin kann ein Systemversagen schon deshalb nicht vorliegen, weil jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, dass (jedenfalls) vor Abschluss der Erprobung die Voraussetzungen für eine positive Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses gegeben sein könnten.
27Auch die Voraussetzungen einer grundrechtsorientierten Leistungsauslegung im Sinne des § 2 Abs. 1a SGB V hat das Sozialgericht mit zutreffender Begründung verneint. Ein Lipödem ist weder eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche noch eine hiermit wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung (BSG, Urteil vom 24. April 2018 - B 1 KR 10/17 R - juris; BSG, Urteil vom 28. Mai 2019 - B 1 KR 32/18 R -, juris; vgl. zur ständigen Rechtsprechung des LSG NRW zuletzt Urteil vom 27. November 2019 - L 11 KR 830/17 -, Rn. 63, juris).
28Nach alledem kann dahinstehen, ob und in welchem Umfang die Klägerin aufgrund der Rechnungen der M Dr. I, die abweichend von den Kostenvoranschlägen den Eindruck von Pauschalhonoraren erwecken könnten, einem fälligen Anspruch nach Maßgabe der GOÄ ausgesetzt war (vgl. zu diesem Gesichtspunkt zuletzt etwa LSG NRW, Urteil vom 29. Januar 2020 - L 11 KR 465/18 -, Rn. 26, juris unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 - B 1 KR 1/17 R - juris; Urteil vom 02. September 2014 - B 1 KR 11/13 R -, juris).
29Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
30Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.
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Tatbestand
1
Streitig ist, ob die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Hamburgischen Zweitwohnungsteuer vorliegen.
2
Der Kläger hat seit 2015 seinen Hauptwohnsitz in A, wo er mit seiner Lebensgefährtin, Frau ... (L), und dem gemeinsamen, am ... 2018 geborenen Sohn ... (S) in einer Wohnung in der X-Straße wohnt. L arbeitet als angestellte ... in A. Der Kläger und L haben die gemeinsame elterliche Sorge für S.
3
Seit dem 1. November 2015 ist der Kläger in einer Wohnung in der Y-Straße in Hamburg mit Nebenwohnung gemeldet. Die Wohnfläche dieser Wohnung beträgt 55 qm und die Nettokaltmiete 615 € monatlich. Der Kläger ist selbständiger ... und nutzt die Wohnung, wenn er Termine auf Baustellen oder mit in Hamburg ansässigen Auftraggebern wahrnehmen muss. Er hält sich in der Regel von Dienstagmorgen bis Donnerstagabend in Hamburg auf und übernachtet in der Hamburger Wohnung. Montags und freitags arbeitet er von der ... Wohnung aus.
4
Am 2. Mai 2018 reichte der Kläger beim Beklagten eine Zweitwohnungsteuererklärung betreffend die Wohnung in der Y-Straße ein und beantragte gleichzeitig die Befreiung von der Zweitwohnungsteuer, weil die Zweitwohnung für die Ausübung der selbständigen Arbeit zwingend erforderlich und die Verlegung des Hauptwohnsitzes von A nach Hamburg wegen privater Verpflichtungen (Partnerschaft und Kinderbetreuung) nicht möglich sei.
5
Der Beklagte erließ am 8. März 2019 einen Bescheid für 2018, 2019 und 2020 über Zweitwohnungsteuer betreffend die Wohnung Y-Straße, in der er die Zweitwohnungsteuer auf jeweils 588 € festsetzte. Zur Begründung führte er aus, dass die Befreiung nach § 2 Abs. 5 Buchst. c des Hamburgischen Zweitwohnungsteuergesetzes (HmbZWStG) nur für verheiratete oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, nicht aber für in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebende Personen gelte.
6
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 19. März 2019 unter Hinweis auf den gestellten Befreiungsantrag Einspruch ein. Die Steuerbefreiung nur verheirateter Personen stelle eine nicht hinnehmbare Benachteiligung unverheirateter Eltern dar, die ihr leibliches Kind betreuten. Es sei nicht nachvollziehbar, die Verpflichtung gegenüber dem Ehepartner höher zu bewerten als die Betreuungspflicht gegenüber dem leiblichen Kind; diese wiege mindestens ebenso schwer.
7
Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 9. Mai 2019 als unbegründet zurück. Die Vorschrift des § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG solle der Rechtsprechung des BVerfG Rechnung tragen, wonach die Regelung verfassungsrechtlich geboten sei, um eine Schlechterstellung Verheirateter gegenüber ledigen Bürgern zu vermeiden. Denn für Verheiratete bestehe eine gesetzliche Verpflichtung zur Unterhaltung eines gemeinsamen Hauptwohnsitzes. Aufgrund dieser melderechtlichen Zwangslage sei es für Verheiratete ausgeschlossen, die Wohnung am Beschäftigungsort trotz einer vorwiegenden Nutzung zum Hauptwohnsitz zu bestimmen und so der Heranziehung zur Zweitwohnungsteuer zu entgehen, wie es für Nichtverheiratete möglich sei. Die analoge Anwendung der Bestimmung auf einen anderen Personenkreis sei ausgeschlossen (vgl. BFH, Urteil vom 13. April 2011, II R 67/08). Die Unterhaltsverpflichtung des Klägers gegenüber S habe keine steuerliche Auswirkung. Die Gründe für die Wahl eines Hauptwohnsitzes außerhalb Hamburgs habe er, der Beklagte, nicht zu überprüfen.
8
Der Kläger hat Klage erhoben. Er hat die Klagschrift am 6. Juni 2019 beim Beklagten eingereicht, der sie am 12. Juni 2019 dem Gericht übermittelt hat.
9
Der Kläger trägt vor, dass der Ausschluss unverheirateter, in einer Hauptwohnung zusammenlebender Paare, insbesondere mit einem minderjährigen Kleinkind, das von beiden Elternteilen gemeinsam betreut werde, gegen Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) verstoße.
10
Für die ungleiche Behandlung Verheirateter und Unverheirateter durch § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG gebe es keinen hinreichend gewichtigen Grund. Die melderechtliche Zwangslage Verheirateter, die einen derartigen Grund darstelle, bestehe nur bei einer überwiegenden Nutzung der Zweitwohnung. Dieses Tatbestandsmerkmal finde sich aber weder in den Gesetzesmaterialien noch im Gesetzestext der hier streitgegenständlichen Befreiungsnorm. Der Hamburger Gesetzgeber habe die Rechtsprechung des BVerfG zur Befreiungspflicht für Verheiratete wegen der melderechtlichen Zwangslage somit - versehentlich - überschießend umgesetzt. In diesem überschießenden Bereich werde kein Nachteil Verheirateter gegenüber Unverheirateten ausgeglichen, sondern Verheiratete würden bessergestellt.
11
Auch wenn dies grundsätzlich zulässig sei, sei in Fällen wie dem vorliegenden der grundgesetzlich ebenfalls gebotene Schutz der Familie zu beachten, Art. 6 Abs. 1 und 2 GG. Zwar nehme die Schutzintensität der Bindung zwischen Eltern und Kind mit zunehmendem Alter des Kindes ab, je mehr sich die familiäre Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zu einer Haus- und Begegnungsgemeinschaft wandele. Bei Kleinkindern wie S sei die Schutzintensität aber noch besonders hoch. Wenn es charakteristisch für die Ehe sei, dass ein Ehepartner von der Verlegung seines Hauptwohnsitzes an den Beschäftigungsort wegen der ehelichen Bindung abgehalten werde, treffe dies nicht weniger auf Vater und Mutter im Hinblick auf die Bindung durch die Elternschaft an ihr am Familienwohnsitz lebendes Kind zu.
12
In der Gesamtperspektive des Bindungsgefüges sei kein überzeugender Sachgrund dafür ersichtlich, gerade die eheliche Bindung höher zu gewichten. Es habe sich ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen, weil immer mehr Kinder aus nichtehelichen Lebensgemeinschaften hervorgingen. Die Bedeutung der nichtehelichen Familie habe statistisch erheblich zugenommen. Gegenüber dieser Lebenswirklichkeit dürfe sich das Steuerrecht nicht verschließen. § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG benachteilige aber Steuerpflichtige, die in nichtehelichen Familiengemeinschaften mit Kindern lebten, ohne dass dafür - gemessen an Regelungsgegenstand und Regelungsziel - ein hinreichend gewichtiger Sachgrund bestehe. Der Familienstand des Steuerpflichtigen sei kein derartiger, hinreichend gewichtiger Differenzierungsgrund (vgl. BVerfG, Urteil vom 26. März 2019, 1 BvR 673/17, zur Stiefkindadoption).
13
Der Kläger beantragt,den Zweitwohnungsteuerbescheid für 2018 für die Zweitwohnung Y-Straße in Hamburg in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. Mai 2019 dahingehend zu ändern, dass die Zweitwohnungsteuer auf 245 € herabgesetzt wird;die Zweitwohnungsteuerbescheide für 2019 und 2020 für die Zweitwohnung Y-Straße in Hamburg, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. Mai 2019, aufzuheben.
14
Der Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.
15
Der Beklagte nimmt zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung Bezug und trägt ergänzend vor, dass die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG nicht vorlägen, weil der Kläger und seine Partnerin nicht verheiratet seien.
16
Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sei ebenso wenig gegeben. Es sei bereits fraglich, ob die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft und die Verbrauchsgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern als etwas wesentlich Gleiches angesehen werden könnten. Dies könne jedoch dahinstehen, wenn die gleichen und ungleichen Elemente der betroffenen Sachverhaltskonstellationen eine daraus folgende Ungleichbehandlung rechtfertigten.
17
Wegen des verfassungsrechtlichen Schutz- und Fördererauftrages sei der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt, die Ehe als rechtlich verbindliche und in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten ausgestattete dauerhafte Paarbeziehung gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen. Im Bereich der Zweitwohnungsteuer habe das BVerfG festgestellt, dass sich Ehegatten, die an verschiedenen Orten berufstätig seien, unabhängig davon, ob sie kinderlos seien oder nicht, bei der Wahl des Familienwohnsitzes in besonderer Weise abstimmen und aufeinander Rücksicht nehmen müssten.
18
Demgegenüber werde die Beziehung zwischen Eltern und Kindern durch die elterliche Fürsorge und Erziehung geprägt. Aufgrund dieses Abhängigkeitsverhältnisses zwischen minderjährigen Kindern und ihren Eltern bestehe zwischen Eltern und Kindern in der Regel eine Verbrauchs- und keine Erwerbsgemeinschaft. Aus diesem Grunde seien die Gründe, die den Splittingtarif für Eheleute rechtfertigten, auf Alleinerziehende nicht übertragbar.
19
Ebenso komme für Alleinerziehende mit Kindern ein durch Art. 6 Abs. 1 GG zu schützendes Recht, über die Aufgabenverteilung in der Ehe partnerschaftlich zu entscheiden, von vornherein nicht in Betracht. Insbesondere bei der Wahl des eigenen Wohnortes und gegebenenfalls des abweichenden Wohnortes des Kindes berücksichtigten Eltern zwar regelmäßig die Interessen der Kinder. Dennoch liege die Entscheidung und Verantwortung insoweit allein bei den Eltern. Dies gelte gleichermaßen, wenn ein Elternteil beschließe, aus beruflichen Gründen eine Nebenwohnung zu nehmen. Zwar habe die emotionale Bindung an ein Kind sicherlich Auswirkung auf diese Entscheidung, doch obliege die Verantwortung für die Lebensplanung und die finanzielle Absicherung der Familie allein den Eltern.
20
Zudem gelte der Gleichbehandlungsgrundsatz umso strikter, je mehr der Einzelne als Person betroffen sei, und sei für gesetzgeberische Gestaltungen offener, wenn allgemeine, für rechtliche Gestaltungen zugängliche Lebensverhältnisse betroffen seien. Je stärker sich eine Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken könne, desto enger seien die Grenzen für den Gesetzgeber. Die Befreiung der Zweitwohnungsteuer knüpfe an das Merkmal des Familienstandes der Personen und damit nicht an eine persönlichkeitsbedingte Eigenheit an; die Person werde nicht im geschützten Kern ihrer Individualität betroffen. Den erforderlichen rechtlichen Status könne eine erwachsene Person durch eine Eheschließung erlangen. Das Merkmal sei für den Einzelnen folglich verfügbar. Auch sei eine nachteilige Auswirkung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nicht erkennbar. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG greife die Zweitwohnungsteuer nicht in den grundrechtlich geschützten Bereich der Familie ein; sie entfalte keinen direkten Einfluss auf die Entscheidung der Familie über die Gestaltung und insbesondere den Ort ihres Zusammenlebens, sondern nehme lediglich mittelbar durch die zusätzliche finanzielle Belastung für das Innehaben eines auswärtigen Wohnsitzes auf die Entscheidung Einfluss. Da die Höhe der Hamburgischen Zweitwohnungsteuer keine erhebliche Belastung begründe, entfalte sie keine eingriffsgleiche Wirkung in Art. 6 Abs. 1 GG.
21
Schließlich dürfe der Charakter der Zweitwohnungsteuer als Aufwandsteuer nicht außer Acht bleiben. Das wesentliche Merkmal einer Aufwandsteuer bestehe darin, die in der Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu treffen. Ausschlaggebendes Merkmal sei der Konsum in Form eines äußerlich erkennbaren Zustandes, für den finanzielle Mittel verwendet würden. Während im Bereich des Einkommensteuerrechtes die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch das Gebot der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit begrenzt werde, gelte dies bei der Zweitwohnungsteuer nicht. Denn im Halten einer Zweitwohnung zeige sich gerade die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen. Auch vor diesem Hintergrund sei die Anwendung eines weniger strengen Maßstabs bei der Rechtfertigungsprüfung angezeigt.
22
Nach der bei Ungleichbehandlungen geringerer Intensität anwendbaren Willkürformel des BVerfG sei Art. 3 Abs. 1 GG vorliegend nicht verletzt. Die Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG bilde einen sachlichen Differenzierungsgrund, der in erster Linie zur Rechtfertigung einer Besserstellung der Ehe gegenüber anderen, durch ein geringeres Maß an wechselseitiger Pflichtbindung geprägten Lebensgemeinschaften geeignet sei. Die tatsächlichen Unterschiede zwischen der ehelichen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft auf der einen und der Verbrauchsgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern auf der anderen Seite erforderten zudem keine Ausdehnung einer Begünstigung auch auf Eltern-Kind-Konstellationen (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 23. Januar 2020, 2 K 1700/15, juris).
23
Eine andere Beurteilung sei auch nach der Entscheidung des BVerfG zur Stiefkindadoption (BVerfG, Beschluss vom 26. März 2019, 1 BvR 673/17) nicht geboten. Ferner sei vorliegend allein ein Eingriff in die Grundrechte der Eltern zu prüfen und nicht in die Grundrechte des Kindes. Das Differenzierungskriterium der Ehe sei durch die Eltern jedoch selbst beeinflussbar. Das Kind sei allenfalls mittelbar im Hinblick auf die zusätzliche finanzielle Belastung der Eltern beschwert. Dass die Aufwandsteuer aber die in der Einkommensverwendung zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit treffen solle und dürfe, sei zulässig.
24
Für den Fall, dass das Gericht eine andere Rechtsauffassung vertreten und einen Verstoß des § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG gegen Grundrechte bejahen sollte, wäre eine Vorlage an das BVerfG erforderlich. Denn eine verfassungskonforme Auslegung der fraglichen Bestimmung sei im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut nicht möglich. Der Hamburgische Gesetzgeber habe nach der Gesetzesbegründung das HmbZWStG an die Entscheidung des BVerfG vom 11. Oktober 2005 (1 BvR 1232/00 u.a.) anpassen, nicht jedoch weitere Fallgruppen wie z.B. unverheiratete Paare mit Kindern ebenfalls befreien wollen. Diesem erkennbaren Willen des Gesetzgebers widerspreche eine Ausdehnung der Vorschrift im Wege der Analogie auf weitere Fallgruppen.
25
Auf die Sitzungsniederschriften des Erörterungstermins vom 3. September 2019 und der mündlichen Verhandlung vom 23. September 2020 wird Bezug genommen.
26
Dem Gericht hat ein Band Zweitwohnungsteuer-Akten vorgelegen.
Entscheidungsgründe
27
Die zulässige Klage ist unbegründet.
I.
28
Die angefochtenen Zweitwohnungsteuerbescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung -FGO-). Der Beklagte hat die Zweitwohnungsteuer gegenüber dem Kläger auch ab dem Monat der Geburt von S zu Recht festgesetzt.
29
1. Die gesetzlich normierten Voraussetzungen für die Festsetzung der Zweitwohnungsteuer liegen vor.
30
a) aa) Nach § 1 HmbZWStG unterliegt das Innehaben einer Zweitwohnung in der Freien und Hansestadt Hamburg der Zweitwohnungsteuer. Zweitwohnung ist jede Wohnung, die dem Eigentümer oder Hauptmieter als Nebenwohnung i.S. des Bundesmeldegesetzes (BMG) dient (§ 2 Abs. 1 Satz 1 HmbZWStG), d.h. wenn sie von einer dort mit Nebenwohnung gemeldeten Person bewohnt wird (§ 2 Abs. 4 Satz 1 HmbZWStG). § 2 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 HmbZWStG knüpfen damit unmittelbar an die Anmeldung einer Nebenwohnung und an die tatsächliche Nutzung dieser Wohnung durch die gemeldete Person an (BFH, Urteil vom 13. April 2011, II R 67/08, BStBl II 2012, 389).
31
bb) Hat ein Einwohner mehrere Wohnungen im Inland, so ist nach den melderechtlichen Vorschriften Hauptwohnung die vorwiegend benutzte Wohnung des Einwohners und Nebenwohnung jede weitere Wohnung des Einwohners im Inland (§ 21 Abs. 1 bis 2 BMG). Nach § 22 Abs. 1 BMG ist Hauptwohnung eines verheirateten oder eine Lebenspartnerschaft führenden Einwohners, der nicht dauernd getrennt von seiner Familie oder seinem Lebenspartner lebt, die vorwiegend benutzte Wohnung der Familie oder der Lebenspartner. Hauptwohnung eines minderjährigen Einwohners ist nach Abs. 2 der Vorschrift die vorwiegend benutzte Wohnung der Personensorgeberechtigten. In Zweifelsfällen ist die vorwiegend benutzte Wohnung dort, wo der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen des Einwohners liegt (§ 22 Abs. 3 BMG).
32
cc) Nach § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG gilt § 2 Abs. 1 HmbZWStG nicht für Wohnungen, die eine verheiratete oder in Lebenspartnerschaft lebende Person, die nicht dauernd getrennt von ihrem Ehe- oder Lebenspartner lebt, aus überwiegend beruflichen Gründen innehat, wenn die gemeinsame Wohnung die Hauptwohnung und außerhalb des Gebietes der Freien und Hansestadt Hamburg belegen ist. Erfüllt eine Wohnung in Hamburg diese Voraussetzungen, gilt sie nicht als Zweitwohnung, mit der Folge, dass Zweitwohnungsteuer nicht anfällt.
33
b) Die Voraussetzungen für die Steuerbarkeit nach diesen Regelungen sind vorliegend erfüllt. Der Kläger hat die Wohnung in der Y-Straße in Hamburg als Nebenwohnung angemeldet und in den Streitjahren bewohnt. Da er weder verheiratet ist noch in Lebenspartnerschaft lebt, ist die Ausnahmevorschrift des § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG ihrem Wortlaut nach nicht einschlägig.
34
2. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass die Befreiung des Klägers von der Zweitwohnungsteuer aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten wäre. Daher kann offenbleiben, ob § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Nichtbegünstigung analog auf Fälle wie den vorliegenden angewandt werden könnte oder ob das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG einzuholen wäre (Art. 100 Abs. 1 GG; gegen eine Analogie BFH, Urteil vom 13. April 2011, II R 67/08, BStBl II 2012, 389; VG Aachen, Urteil vom 8. Mai 2019, 9 K 795/18, juris). Der Hamburgische Gesetzgeber hat Eheleute und Lebenspartner zwar über das verfassungsrechtlich gebotene Maß hinaus begünstigt (a.). Diese Privilegierung von Eheleuten und Lebenspartnern ist verfassungsrechtlich jedoch gerechtfertigt (b.) und führt nicht zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit minderjährigen Kindern (c.). Die Besteuerung des Unterhaltens einer Zweitwohnung aus beruflichen Gründen ist verfassungsrechtlich ebenso wenig zu beanstanden (d.).
35
a) aa) Der Hamburgische Gesetzgeber hat die Regelung des § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG geschaffen, um eine verfassungswidrige Benachteiligung von Ehen und Lebenspartnerschaften zu vermeiden. Das BVerfG hat entschieden, dass wenn melderechtliche Regelungen zwingend die vorwiegend genutzte Wohnung der Familie zum Hauptwohnsitz bestimmen und es deshalb für Verheiratete ausgeschlossen ist, die Wohnung am Beschäftigungsort trotz deren vorwiegender Nutzung zum Hauptwohnsitz zu bestimmen und damit der Heranziehung zur Zweitwohnungsteuer zu entgehen (sog. melderechtliche Zwangslage), die Erhebung zur Zweitwohnungsteuer auf das Innehaben von Erwerbszweitwohnungen durch Verheiratete eine gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßende Diskriminierung der Ehe darstelle (Beschluss vom 11. Oktober 2005, 1 BvR 1232/00, 1 BvR 2627/03, BVerfGE 114, 316, BGBl I 2005, 3387). Für Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft entsteht bei überwiegender Nutzung der Wohnung am Beschäftigungsort demgegenüber keine melderechtliche Zwangslage, weil diese Wohnung nach § 21 Abs. 1 BMG die Hauptwohnung ist. Auf den Schwerpunkt der Lebensbeziehungen des Einwohners kommt es nach § 22 Abs. 3 BMG nur in Zweifelsfällen an (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 23. Januar 2020, 2 K 1700/15, juris).
36
bb) § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG wurde durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Zweitwohnungsteuergesetzes vom 11. April 2006 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt 2006, 168) eingefügt. Das HmbZWStG sollte mit der Gesetzesänderung an die genannte Entscheidung des BVerfG angepasst werden (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg -BüHmb-, Drucks 18/3627, S. 2). In der Gesetzesbegründung (BüHmbDrucks 18/3627, S. 2) wird weiter ausgeführt, dass in Fällen, in denen zwingend die außerhalb Hamburgs belegene Ehe- bzw. Familienwohnung melderechtlich die Hauptwohnung sei, der Inhaber der Nebenwohnung seiner Berufstätigkeit von der Hauptwohnung aus aber nicht nachgehen könne und deshalb am Ort der Beschäftigung eine in Hamburg belegene Nebenwohnung innehabe, die beruflichen Gründe für das Innehaben der Zweitwohnung überwögen und dazu führten, dass eine Zweitwohnungsteuer nicht mehr erhoben werde. Zudem ergebe sich aus der Formulierung, dass die von der Zweitwohnungsteuer auszunehmende Wohnung nicht von beiden Ehegatten gehalten werden dürfe. Der durch die Entscheidung des BVerfG angesprochene Personenkreis sei in Hamburg bislang zweitwohnungsteuerpflichtig gewesen (BüHmbDrucks 18/3627, S. 1; BFH, Urteil vom 30. September 2015, II R 13/14, BFH/NV 2016, 362).
37
cc) Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG hängt die Steuerbegünstigung nicht davon ab, dass die Nebenwohnung in Hamburg von dem dort gemeldeten Ehepartner überwiegend genutzt wird. Weder nach dem Sinn und Zweck der Norm noch nach ihrer Entstehungsgeschichte ist eine einschränkende Auslegung dahingehend geboten, dass die Steuerbegünstigung von einer vorwiegenden Nutzung der Nebenwohnung durch den dort gemeldeten Ehepartner abhängig wäre (BFH, Urteil vom 30. September 2015, II R 13/14, BFH/NV 2016, 362). Eine entsprechend einschränkende Auslegung überschritte den Spielraum richterlicher Rechtsfortbildung (BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13 u.a., HFR 2017, 172).
38
dd) § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG geht damit über die vom BVerfG geforderte Freistellung Verheirateter von der Zweitwohnungsteuer hinaus, indem die Befreiung auch dann gewährt wird, wenn die Nebenwohnung nicht vorwiegend genutzt wird und deshalb keine melderechtliche Zwangslage und damit auch keine verfassungswidrige Schlechterstellung Verheirateter gegenüber Unverheirateten vorliegt. Denn wenn die Nebenwohnung nicht vorwiegend genutzt wird, könnte auch ein Unverheirateter sie nicht zur Hauptwohnung bestimmen und so der Zweitwohnungsteuer entgehen.
39
b) Die Steuerbefreiung für Eheleute unabhängig vom Vorliegen einer melderechtlichen Zwangslage ist verfassungsrechtlich zwar nicht geboten; die Besteuerung einer nicht vorwiegend genutzten Nebenwohnung durch einen Verheirateten stellt in Ermangelung einer melderechtlichen Zwangslage keinen verfassungswidrigen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG dar (BVerfG, Beschluss vom 14. März 2014, 1 BvR 1159/11, HFR 2014, 845). Sieht das Gesetz aber auch für diesen Fall eine Befreiung vor, ist dies verfassungsgemäß. Die Begünstigung nicht vorwiegend genutzter Erwerbszweitwohnungen verheirateter Personen durch § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG führt nicht zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung gegenüber unverheirateten Personen.
40
aa) Das Grundgesetz stellt Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Damit garantiert die Verfassung nicht nur das Institut der Ehe, sondern gebietet als verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung (BVerfG, Beschlüsse vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; vom 7. Mai 2013, 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377, BGBl I 2013, 1647). Wegen des verfassungsrechtlichen Schutz- und Förderauftrages ist der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt, die besonderen, auch gesamtgesellschaftlich dienlichen Lasten, die jeder Ehegatte mit dem Eingehen der Ehe übernimmt, durch die Gewährung einfachgesetzlicher Privilegierungen etwa bei Unterhalt, Versorgung, im Pflichtteils- oder im Steuerrecht zumindest teilweise auszugleichen und damit die Ehe besser zu stellen als weniger verbindliche Paarbeziehungen (BVerfG, Beschlüsse vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; vom 7. Mai 2013, 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377, BGBl I 2013, 1647).
41
bb) Der besondere Schutz, unter den Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe als besondere Verantwortungsbeziehung stellt, erlaubt es einem Satzungsgeber, bei der Zweitwohnungsteuererhebung - vorbehaltlich der Vermeidung anderweitiger Verstöße gegen höherrangiges Recht - verheiratete, nicht dauernd getrennt lebende Ehegatten im Verhältnis zu ungebundenen Partnerbeziehungen besserzustellen, indem er sie von der Steuerpflicht ausnimmt (BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; BFH, Urteil vom 30. September 2015, II R 13/14, BFH/NV 2016, 362). Denn zur Ehe als einer auf Dauer angelegten Gemeinschaft gehört die Entscheidung zur gemeinsamen Wohnung, die auch bei einer beruflichen Veränderung eines Ehegatten, die mit einem Ortswechsel verbunden ist, aufrechterhalten bleibt. Entweder werden die Ehegatten ihre Wohnung an den neuen Arbeitsort verlegen oder der von der beruflichen Veränderung betroffene Ehegatte wird einen zusätzlichen Wohnsitz begründen, ohne den gemeinsamen Ehewohnsitz aufzugeben. Das Innehaben einer Zweitwohnung ist sonach die notwendige Konsequenz der Entscheidung zu einer gemeinsamen Ehewohnung an einem anderen Ort. Gerade in der aus beruflichen Gründen gehaltenen Zweitwohnung manifestiert sich der Wunsch der Ehegatten nach gemeinsamem Zusammenleben (BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; BFH, Urteil vom 30. September 2015, II R 13/14, BFH/NV 2016, 362). Von der steuerlichen Belastung durch die Zweitwohnungsteuer werden solche Personen nicht erfasst, die nicht infolge einer ehelichen Bindung von der Verlegung ihres Hauptwohnsitzes an ihren Beschäftigungsort abgehalten werden. Die Zweitwohnungsteuer stellt daher eine besondere finanzielle Belastung einer von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ausprägung des ehelichen Zusammenlebens dar. Bei den finanziellen Aufwendungen für die Innehabung einer Zweitwohnung handelt es sich um einen zwangsläufigen Aufwand für die Vereinbarkeit von Ehe und Beruf unter Bedingungen hoher Mobilität. Die Besteuerung führt zu einer ökonomischen Entwertung der Berufstätigkeit an einem anderen Ort als dem der Ehewohnung, die sich erschwerend auf die Vereinbarkeit von Ehe und Berufsausübung an unterschiedlichen Orten auswirkt (BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; BFH, Urteil vom 30. September 2015, II R 13/14, BFH/NV 2016, 362). Es steht dem Gesetzgeber frei, verheiratete und nicht dauernd getrenntlebende Inhaber von Nebenwohnungen von diesen finanziellen Belastungen auszunehmen. Familiäre Bindungen am Ort der gemeinsamen Wohnung der Eheleute werden verheiratete Personen regelmäßig daran hindern, ihren vorwiegenden Aufenthalt an den Ort der Beschäftigung zu verlegen, da Ehe und Familie auf Zusammenleben ausgerichtet sind. Der Gesetzgeber darf in typisierender Betrachtung davon ausgehen, dass Verheirateten im Unterschied zu ungebundenen Personen nicht ohne Weiteres die Möglichkeit offensteht, durch schlichte Verlagerung des Lebensmittelpunkts an den Ort der Beschäftigung der Zweitwohnungsteuerpflicht zu entgehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn minderjährige Kinder vorhanden sind. Aber auch kinderlose Ehegatten, die an verschiedenen Orten berufstätig sind, müssen sich im Unterschied zu Ledigen bei der Wahl des Familienwohnsitzes in besonderer Weise abstimmen und aufeinander Rücksicht nehmen (BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; BFH, Urteil vom 30. September 2015, II R 13/14, BFH/NV 2016, 362).
42
c) Die Nichtbegünstigung nicht verheirateter, in einer gemeinsamen Hauptwohnung lebender Paare mit minderjährigen Kindern, die sie in der Hauptwohnung gemeinsam betreuen und für die sie das gemeinsame Sorgerecht haben, mit einer aus beruflichen Gründen unterhaltenen, nicht überwiegend genutzten Nebenwohnung in Hamburg ist nicht wegen Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig.
43
aa) (1) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sowie wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird (BVerfG, Beschlüsse vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172; vom 7. Mai 2013, 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377, BGBl I 2013, 1647).
44
(2) Eine Norm verletzt danach den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, wenn durch sie eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten verschieden behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (BVerfG, Beschlüsse vom 7. Mai 2013, 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377, BGBl I 2013, 1647; vom 21. Juli 2010, 1 BvR 611/07, BVerfGE 126, 400).
45
(3) Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Normgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Normgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Normgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind (BVerfG, Beschlüsse vom 26. März 2019, 1 BvR 673/17, BGBl I 2019, 737, NJW 2019, 1793; vom 31. Oktober 2016, 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, HFR 2017, 172).
46
(4) Art. 3 Abs. 1 GG ist jedenfalls verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt. Willkür des Gesetzgebers kann nicht schon dann bejaht werden, wenn er unter mehreren Lösungen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste gewählt hat, vielmehr nur dann, wenn sich ein sachgerechter Grund für eine gesetzliche Bestimmung nicht finden lässt. Dabei genügt Willkür im objektiven Sinn, das heißt die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der Regelung in Bezug auf den zu ordnenden Gesetzgebungsgegenstand. Der Spielraum des Gesetzgebers endet dort, wo die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt. Willkür in diesem Sinne kann erst festgestellt werden, wenn die Unsachlichkeit der Differenzierung evident ist (BVerfG, Beschluss vom 29. März 2017, 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082).
47
bb) Im Streitfall ist kein strenger, sondern nur ein geringfügig über dem reinen Willkürverbot liegender Prüfungsmaßstab anzuwenden. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass das Merkmal, an das die gesetzliche Differenzierung anknüpft, nämlich die Ehe bzw. die Lebenspartnerschaft, für den Normadressaten, hier den Kläger, verfügbar ist, weil er mit L die Ehe eingehen und die Zweitwohnungsteuer auf diese Weise vermeiden könnte. Dennoch liegt der Prüfungsmaßstab etwas oberhalb einer reinen Willkürprüfung, da der Schutzbereich der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG zumindest berührt ist.
48
(1) Das in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Grundrecht garantiert den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht. Ihnen steht ein verfassungsrechtlich geschützter Einfluss auf sämtliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen der Kinder zu, auch außerhalb der Familie. Das Familiengrundrecht garantiert insbesondere das Zusammenleben der Familienmitglieder und die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 26. März 2019, 1 BvR 673/17, BGBl I 2019, 737, NJW 2019, 1793). Zur Pflege und Erziehung gehören auch Entscheidungen darüber, wem Einfluss auf die Erziehung des Kindes zugestanden wird und in welchem Ausmaß und mit welcher Intensität die Eltern sich selbst der Pflege und Erziehung widmen oder Dritten die Pflege und Erziehung teilweise überlassen (BVerfG, Beschluss vom 14. März 2014, 1 BvR 1159/11, HFR 2014, 845). Für den Schutz durch das Familiengrundrecht kommt es nicht darauf an, ob die Eltern miteinander verheiratet sind oder nicht; der Familienschutz schließt auch die nichteheliche Familie ein (BVerfG, Beschluss vom 26. März 2019, 1 BvR 673/17, BGBl I 2019, 737, NJW 2019, 1793).
49
(2) Neben der Pflicht, die von den Eltern im Dienst des Kindeswohls getroffenen Entscheidungen anzuerkennen und daran keine benachteiligenden Rechtsfolgen zu knüpfen, ergibt sich aus der Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 GG auch die Aufgabe des Staates, die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern (BVerfG, Beschluss vom 10. November 1998, 2 BvR 1057/91, BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182). Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG begründet des Weiteren ein auf die tatsächliche Pflichtenwahrnehmung durch Eltern gerichtetes subjektives Gewährleistungsrecht des Kindes gegenüber dem Staat (BVerfG, Beschluss vom 26. März 2019, 1 BvR 673/17, BGBl I 2019, 737, NJW 2019, 1793).
50
(3) Art. 6 Abs. 1 GG enthält zudem einen besonderen Gleichheitssatz, der es untersagt, Eltern oder alleinerziehende Elternteile gegenüber Kinderlosen schlechter zu stellen (BFH, Beschluss vom 29. September 2016, III R 62/13, BStBl II 2017, 259).
51
(4) Einen Eingriff in den Schutzbereich der Familie stellen alle staatlichen Maßnahmen dar, die Ehe und Familie schädigen, stören oder sonst beeinträchtigen. Benachteiligungen, die nur in bestimmten Fällen als unbeabsichtigte Nebenfolge einer im Übrigen verfassungsgemäßen Regelung vorkommen, kann der Eingriffscharakter fehlen, solange sich die Maßnahmen nicht als wirtschaftlich einschneidend darstellen (BVerfG, Beschluss vom 3. Dezember 1991, 1 BvR 1477/90, NJW 1992, 1093).
52
(5) Danach greift das HmbZWStG nicht in den grundrechtlich geschützten Bereich der Familie ein. Die Zweitwohnungsteuer belastet zwar den Aufwand für das Innehaben einer nicht vorwiegend benutzten Wohnung eines erwerbsbedingt auswärts tätigen Elternteils. Diese Besteuerung des für die Zweitwohnung getätigten Aufwands trifft aber weder typischerweise noch sonst in besonderer Weise Familien, sondern in grundsätzlich gleicher Weise alle Personen, die mehrere Wohnsitze innehaben, gleich aus welchem Grund sie den Zweitwohnsitz wählen. Die Zweitwohnungsteuer entfaltet auch keinen direkten Einfluss auf die Entscheidung der Familie über die Gestaltung ihres Zusammenlebens, sondern vermag lediglich mittelbar durch die zusätzliche finanzielle Belastung für das Innehaben eines auswärtigen Wohnsitzes auf die Entscheidung der Familienmitglieder über ihr Wohnverhalten Einfluss zu nehmen. Jedenfalls solange die Höhe der Zweitwohnungsteuer keine so erhebliche Belastung begründet, dass sie unabhängig vom Einzelfall einen wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung über den vorwiegenden Aufenthalt erwarten lässt, entfaltet sie auch keine eingriffsgleiche Wirkung in Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. März 2014, 1 BvR 1159/11, HFR 2014, 845; vom 17. Februar 2010, 1 BvR 2664/09, HFR 2010, 651; vom 19. Mai 2008, 1 BvR 3269/07, NVwZ-RR 2008, 723; BFH, Urteil vom 13. April 2011, II R 67/08, BStBl II 2012, 389; VG Aachen, Urteil vom 8. Mai 2019, 9 K 795/18, juris). Eine eingriffsgleiche Wirkung ist bei der vorliegenden Besteuerung mit 8 % der Nettokaltmiete nicht anzunehmen (BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2010, 1 BvR 2664/09, HFR 2010, 651; VG Cottbus, Urteil vom 23. Januar 2020, 2 K 1700/15, juris).
53
Ein Eingriff in Art. 6 Abs. 5 GG scheidet aus, weil diese Vorschrift nur nichteheliche Kinder begünstigt, nicht aber deren Eltern (BVerfG, Beschluss vom 17. November 2010, 1 BvR 1883/10, NJW 2011, 1663).
54
(6) Nichtsdestotrotz ist der Schutzbereich des Familiengrundrechts in Fällen wie dem vorliegenden berührt, weil die Entscheidung eines Elternteils, den Lebensmittelpunkt nicht an den Ort der Beschäftigung zu verlegen, um in der Familienwohnung ein minderjähriges Kind betreuen zu können, durch die Zweitwohnungsteuer belastet und die Vereinbarung von Beruf und Kindererziehung erschwert wird.
55
cc) Bei Anwendung dieses Maßstabes ist die unterschiedliche Behandlung von nicht verheirateten Eltern minderjähriger Kinder mit gemeinsamer Hauptwohnung und (ggf. kinderlosen) Ehepaaren oder Lebenspartnern im Rahmen des HmbZWStG wenn nicht schon durch die in Art. 6 Abs. 1 GG zugunsten der Ehe enthaltene Wertentscheidung ((1)), so doch jedenfalls durch die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers gerechtfertigt ((2)).
56
(1) Es könnte zweifelhaft sein, ob die vorliegende Ungleichbehandlung nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit minderjährigen Kindern allein durch den besonderen Schutz der Ehe gerechtfertigt werden kann. Denn als Vergleichsgruppe für die Familie des Klägers kommen auch kinderlose Ehepaare bzw. Lebenspartnerschaften in Betracht, die von der Zweitwohnungsteuer freigestellt werden. Wie dargelegt, ist die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der zweitwohnungsteuerrechtlichen Begünstigung von Ehen und Lebenspartnerschaften darin zu sehen, dass die familiären Bindungen am Ort der gemeinsamen Wohnung der Eheleute verheiratete Personen regelmäßig daran hindern, ihren vorwiegenden Aufenthalt an den Ort der Beschäftigung zu verlegen. Sind bei einer nichtehelichen Partnerschaft aber minderjährige Kinder vorhanden, die in einer gemeinsamen Familienwohnung betreut werden, besteht aufgrund der familiären Bindung ebenfalls nicht ohne Weiteres die Möglichkeit, durch Verlagerung des Lebensmittelpunkts an den Ort der Beschäftigung der Zweitwohnungsteuerpflicht zu entgegen. Die Bindung an die Familienwohnung könnte jedenfalls ebenso groß sein wie bei kinderlosen Ehepaaren bzw. Lebenspartnern.
57
Das BVerfG hat jedoch bereits entschieden, dass die zweitwohnungsteuerrechtliche Begünstigung von Eheleuten und Lebenspartnern auch bei nicht vorwiegender Nutzung der Nebenwohnung, d.h. unabhängig von einer melderechtlichen Zwangslage, keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Verhältnis zu ungebundenen Paarbeziehungen begründet (s. oben b. bb.).
58
(2) Die Ungleichbehandlung ist nach Auffassung des erkennenden Senats darüber hinaus jedenfalls durch die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers und dadurch gerechtfertigt, dass es sich bei der Zweitwohnungsteuer um eine Aufwandsteuer handelt.
59
(a) Im Bereich des Steuerrechts steht dem Gesetzgeber grundsätzlich die Befugnis zur Vereinfachung und Typisierung zu. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist er berechtigt, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt. Auf dieser Grundlage darf der Gesetzgeber grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen (BVerfG, Beschlüsse vom 29. März 2017, 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082; vom 7. Mai 2013, 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377, BGBl I 2013, 1647).
60
(b) Typisierung bedeutet, bestimmte in wesentlichen Elementen gleich geartete Lebenssachverhalte normativ zusammenzufassen. Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt sind, können generalisierend vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. Begünstigungen oder Belastungen können in einer gewissen Bandbreite zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung nach oben und unten pauschalierend bestimmt werden. Die gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen allerdings von einer möglichst breiten, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung ausgehen. Insbesondere darf der Gesetzgeber keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen. Eine typisierende Gruppenbildung liegt zudem nur vor, wenn die tatsächlichen Anknüpfungspunkte im Normzweck angelegt sind (BVerfG, Beschlüsse vom 29. März 2017, 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082; vom 7. Mai 2013, 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377, BGBl I 2013, 1647).
61
(c) Die Vorteile der Typisierung müssen im rechten Verhältnis zu der mit ihr notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen. Die Typisierung setzt voraus, dass die durch sie eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären und lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist. Der gesetzgeberische Spielraum für Typisierungen ist umso enger, je dichter die verfassungsrechtlichen Vorgaben außerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG sind (BVerfG, Beschlüsse vom 29. März 2017, 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082; vom 7. Mai 2013, 2 BvR 909/06, BVerfGE 133, 377, BGBl I 2013, 1647).
62
(d) Die Zweitwohnungsteuer ist eine örtliche Aufwandsteuer i.S. des § 105 Abs. 2a GG. Das Wesen der Zweitwohnungsteuer als Aufwandsteuer setzt der Ausübung des Ermessens des Normgebers für die gleichheitsgerechte Ausgestaltung der Steuerpflicht Grenzen. So dürfen die Gründe für den Aufenthalt am Ort des Zweitwohnsitzes grundsätzlich nicht zur Begründung der Steuerpflicht herangezogen werden, da die Aufwandsteuer eine wertende Berücksichtigung der mit dem getätigten Aufwand verfolgten Absichten und Zwecke ausschließt. Allein der isolierte Vorgang des Konsums als Ausdruck und Indikator der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist für die Aufwandsteuer maßgeblich (BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2010, 1 BvR 529/09, HFR 2010, 648; VG Aachen, Urteil vom 8. Mai 2019, 9 K 795/18, juris).
63
(e) Der Hamburger Gesetzgeber hat zulässigerweise nicht nur die Fälle einer melderechtlichen Zwangslage von der Zweitwohnungsteuer befreit, sondern pauschalierend auch die Fälle einer von einem Ehe- oder Lebenspartner nicht überwiegend genutzten Nebenwohnung (s. oben a. dd. und b. bb.). Das Merkmal der überwiegenden Nutzung wäre, soweit es sich nicht in der entsprechenden Meldung mit Haupt- bzw. Nebenwohnung niederschlägt, nur schwer und mit erheblichem Aufwand überprüfbar.
64
Dass der Hamburger Gesetzgeber die Fälle, in denen ein Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein minderjähriges Kind in einer gemeinsamen Familienwohnung betreut und aus beruflichen Gründen in Hamburg eine nicht überwiegend genutzte Nebenwohnung unterhält, nicht auch von der Besteuerung ausgenommen hat, ist durch seine Typisierungsbefugnis gedeckt.
65
Indem das Gesetz Verheiratete und Lebenspartner begünstigt, bildet es realitätsgerecht den typischen Fall einer Familie mit Kindern ab. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die tatsächliche Bedeutung der nichtehelichen Familie als weitere Familienform neben der ehelichen Familie erheblich zugenommen hat. Nach wie vor wächst jedoch die weit überwiegende Mehrheit der Kinder in ehelichen Familien auf. So gab es in 2019 5,7 Mio. Ehepaare und 942.000 nichteheliche Lebensgemeinschaften mit minderjährigen Kindern. Der Anteil an Kindern, die in nichtehelichen Lebensgemeinschaften (und nicht in ehelichen Familien oder bei Alleinerziehenden) aufwuchs, belief sich in 2019 auf 11,5 % (vgl. Statistisches Bundesamt, www.destatis.de). Diese Zahlen rechtfertigen eine Ungleichbehandlung zwar nicht bei Anlegung eines strengen Prüfungsmaßstabes (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. März 2019, 1 BvR 673/17, BStBl I 2019, 737, NJW 2019, 1793, zur Stiefkindadoption), genügen aber für die Annahme, dass die gesetzliche Typisierung im Rahmen der Zweitwohnungsteuer bei dem hier anzulegenden, nur geringfügig über dem Willkürverbot liegenden Prüfungsmaßstab zulässig ist, weil sie den typischen Fall (noch) realitätsgerecht abbildet.
66
Auf dem Gebiet der Zweitwohnungsteuer ist grundsätzlich eine grobe Typisierung zulässig. Da die finanzielle Belastung für die Steuerpflichtigen eher gering und die Leistungsfähigkeit der Betroffenen durch das Innehaben einer Zweitwohnung gewährleistet ist, kann die Steuerbarkeit, um den Verwaltungsaufwand gering zu halten, in zulässiger Weise an die melderechtlichen Verhältnisse geknüpft werden. Auch die Voraussetzungen der in § 2 Abs. 5 Buchst. c HmbZWStG geregelten Befreiung von der Steuerpflicht, insbesondere die Ehe bzw. Lebenspartnerschaft, sind relativ leicht überprüfbar, zumal das Gesetz nicht an eine überwiegende Nutzung der Nebenwohnung anknüpft. Demgegenüber wären das Bestehen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft und die gemeinsame Betreuung eines minderjährigen Kindes in einer Familienwohnung in einem anderen Bundesland für die Hamburger Finanzämter nur schwer und mit einem außer Verhältnis zum Steueraufkommen stehenden Aufwand zu prüfen.
67
Hinzu kommt, dass eine Vielzahl von Fallkonstellationen mit vergleichbar engen familiären Bindungen zu einer andernorts belegenen Hauptwohnung denkbar sind, etwa die Betreuung minderjähriger Kinder durch Alleinerziehende oder die Betreuung behinderter oder pflegebedürftiger Angehöriger, sodass durch die Erstreckung der Steuerbefreiung auf Fälle wie den vorliegenden zur Vermeidung weiterer Ungleichbehandlungen der Tatbestand möglicherweise noch deutlich ausgeweitet werden müsste, was gesetzestechnisch schwierig, mit dem Charakter der Zweitwohnungsteuer als Aufwandsteuer kaum noch vereinbar und erst recht nicht mehr mit einem vertretbaren Aufwand administrierbar wäre.
68
Im Ergebnis ist daher die Beschränkung der Ausnahme von der Steuerbarkeit auf Ehen und Lebenspartnerschaften von der Pauschalierungsbefugnis des Gesetzgebers gedeckt, weil die in Fällen wie dem vorliegenden betroffenen Grundrechte nur marginal tangiert sind, das Merkmal der Ehe für den Kläger verfügbar ist und Bindungen zu minderjährigen Kindern in einer Hauptwohnung (noch) realitätsgerecht erfasst werden und weil wegen der geringen Steuerbelastung für den Steuerpflichtigen und dessen durch das Unterhalten einer Nebenwohnung dokumentierten Leistungsfähigkeit ein grober Maßstab anzulegen ist. Zudem widerspräche eine Anknüpfung der Steuerbarkeit an familiäre Beziehungen und Gründe dem Charakter der Zweitwohnungsteuer als Aufwandsteuer.
69
d) Der Charakter der Zweitwohnungsteuer als örtliche Aufwandsteuer i.S. des § 105 Abs. 2a GG steht ihrer Erhebung für eine aus beruflichen Gründen gehaltenen Nebenwohnung nicht entgegen. Zwar soll eine Aufwandsteuer die in der Einkommensverwendung zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit treffen und deshalb grundsätzlich nicht für einen Aufwand erhoben werden, der im Bereich der Einkommenserzielung entsteht (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 1983, 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325, BStBl II 1984, 72). Dass die aus Erwerbsgründen angemietete Zweitwohnung der Sphäre des privaten Konsums zugerechnet wird, findet seine Rechtfertigung aber darin, dass der Steuerpflichtige einen Aufwand für den persönlichen Lebensbedarf dadurch betreibt, dass er, statt eine Hauptwohnung am Ort der Berufstätigkeit zu nehmen, die bisherige Hauptwohnung beibehält und zusätzlich am Arbeitsort eine Zweitwohnung anmietet (BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2010, 1 BvR 529/09, HFR 2010, 648; BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2012, 9 CN 1/11, BVerwGE 143, 301; VG Aachen, Urteil vom 8. Mai 2019, 9 K 795/18, juris; offen gelassen durch BFH, Urteil vom 30. September 2015, II R 13/14, BFH/NV 2016, 362).
70
3. Der Beklagte hat die Zweitwohnungsteuer (unstreitig) auch der Höhe nach richtig festgesetzt.
71
a) Die Zweitwohnungsteuer beträgt 8 % der nach dem Mietvertrag im Besteuerungszeitraum geschuldeten Nettokaltmiete (§ 6 i.V.m. § 5 Abs. 1 HmbZWStG) und ist auf einen vollen, durch 12 teilbaren Betrag abzurunden (§ 9 Abs. 2 HmbZWStG).
72
b) Danach beträgt die Zweitwohnungsteuer entsprechend der Festsetzung durch den Beklagten 588 € pro Jahr (615 € monatliche Nettokaltmiete x 12 Monate x 0,08 = 590,40 €, auf den nächstniedrigeren vollen und durch 12 teilbaren Betrag abgerundet).
II.
73
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
74
2. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
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"language": "de"
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Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 3. April 2020 wird aufgehoben.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit vom 24. März 2020 bis 30. September 2020 Arbeitslosengeld II unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 370 € zu gewähren.
Dem Antragsteller wird ratenfreie Prozesskostenhilfe für beide Instanzen unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. bewilligt.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners, die ihm nach einem Umzug entstandenen höheren Kosten der Unterkunft zu übernehmen.
2
Der Antragsteller bewohnte über vier Jahre eine 25 m² großen 1-Zimmerwohnung in der O.-Straße in A-Stadt für eine Gesamtmiete von zuletzt 215 €. In der Wohnung übernachtete er auf einer Couch mit Bettfunktion. Der Antragsteller bezieht laufend SGB II-Leistungen. Zuletzt bewilligte ihm der Antragsgegner mit Bescheid vom 27. September 2019 Arbeitslosengeld II für die Zeit von Oktober 2019 bis September 2020 in Höhe von monatlich 639 € (424 € Regelbedarf + 215 € Kosten der Unterkunft und Heizung).
3
Zuvor legte der Antragsteller beim Antragsgegner am 10. September 2019 einen Kostenvoranschlag für eine mit Fernwärme beheizte Zweizimmerwohnung mit zentraler Warmwasserversorgung in der A-Straße in A-Stadt mit einer Wohnfläche von 50,52 m² und einer monatlichen Gesamtmiete in Höhe von 370 € (255,13 € Nettomiete + 49,75 € Betriebskosten + 65,12 € Heizkosten) vor. Gleichzeitig beantragte er die Zusicherung zur Übernahme der Kosten für diese Wohnung. Zur Begründung dafür, dass sein Verbleib in der bisherigen Wohnung nicht möglich sei, gab der Antragsteller an, dass seine jetzige Wohnung so klein sei, dass in dieser kein Platz für ein Bett sei. Er schlafe seit ca. vier Jahren auf einer Couch. Der Platz in der Wohnung sei so gering, dass man dort Depressionen bekomme.
4
Auf mehrere Rückfragen des Antragstellers nach dem Bearbeitungsstand lehnte der Antragsgegner den Antrag mit Bescheid vom 30. September 2019 mit der Begründung ab, der Antragsteller habe als Grund für die Erforderlichkeit des Umzugs angegeben, dass der jetzige Wohnraum zu klein sei. Nach den dem Antragsgegner vorliegenden Unterlagen sei ersichtlich, dass der Antragsteller eine angemessene 1-Zimmer-Wohnung für eine Person bewohne. Dem Antrag auf Erteilung einer Zusicherung für die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II könne daher nicht entsprochen werden.
5
Am 22. Oktober 2019 teilte der Antragsteller dem Antragsgegner mit, dass er zum 1. Oktober 2019 umgezogen sei. Die Gesamtmiete für die neue Wohnung betrage 370 € (255,13 € Grundmiete + 49,75 € Nebenkosten + 65,12 € Heizkosten). Der Antragsteller legte dem Antragsgegner den entsprechenden Mietvertrag für eine Wohnung in der A-Straße in A-Stadt vor, der am 8. Oktober 2019 unterzeichnet wurde.
6
Mit Schreiben vom 29. Oktober 2019 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, dass durch den Umzug zum 1. Oktober 2019 keine Änderung in der Anspruchshöhe eingetreten sei und der Bewilligungsbescheid vom 27. September 2019 seine Gültigkeit behalte. Der Umzug sei ohne Zusicherung erfolgt, sodass die Miete nur in Höhe der bisherigen Mietkosten bei der Berechnung berücksichtigt werden könne. Hiergegen legte der Antragsteller am 12. November 2019 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2019 als unzulässig verworfen wurde.
7
Wegen der Neufestsetzung der Regelbedarfe zum 1. Januar 2020 wurden dem Antragsteller mit Änderungsbescheid vom 23. November 2019 für Januar bis September 2020 Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 647 € (432 € Regelbedarf + 215 € Kosten Unterkunft und Heizung) bewilligt. Hiergegen legte der Kläger am 18. Dezember 2019 Widerspruch ein, welcher mit Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2020 als unbegründet zurückgewiesen wurde.
8
Am 24. März 2020 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Neubrandenburg hiergegen Klage – S 3 AS 143/20 – erhoben sowie ebenfalls den vorliegend streitigen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt und zur Begründung ausgeführt, dass er in der früheren Wohnung aufgrund der beengten Platzverhältnisse lediglich eine Couch gehabt habe, welche er jeden Abend zum Schlafen habe ausziehen und dafür alles wegräumen müssen. In Anbetracht dieser Umstände habe er dort keinen Besuch empfangen können und wollen. Im Laufe der Zeit habe sich bei ihm wegen zunehmender sozialer Isolierung eine Depression, welche er jedoch nicht ärztlich habe behandeln lassen, entwickelt. Dadurch habe er verstärkt Drogen konsumiert. Wegen der Drogenabhängigkeit sei er bei der Caritas in Betreuung gewesen, welche auf eine Entgiftung gedrängt habe. Er habe zunächst einen kalten Entzug zu Hause versucht, was jedoch nicht erfolgreich gewesen sei. Vom 26. August 2019 bis 6. September 2019 habe er sich zur stationären Entgiftung im Klinikum A-Stadt befunden. Dort habe er u.a. erkannt, dass seine häusliche Situation mit der sozialen Isolierung ein wichtiger zu ändernder Punkt sei, um künftig abstinent zu leben und seinem Arbeitswunsch nachkommen zu können.
9
Nach Erhalt des bis zum 1. Oktober 2019 befristeten Mietangebotes für die Wohnung in der A-Straße am 10. September 2019 sei ihm am selben Tage beim Antragsgegner bei der Abgabe des Antrags auf Zusicherung zur Übernahme der Mietkosten für diese Wohnung am Empfang gesagt worden, dass das klappen müsste, da die Miete im Rahmen sei. Mangels Antwort habe er bei dem Antragsgegner mehrmals telefonisch nachgefragt und immer die Auskunft erhalten, dass sein Antrag noch in Bearbeitung sei. Letztmalig habe er am 1. Oktober 2019 im Wohnungsmanagement nachgefragt, da er sich an diesem Tag habe entscheiden müssen. Die Mitarbeiterin des Antragsgegners habe ihm gesagt, dass eine Entscheidung noch nicht vorliege, es jedoch gut aussehe und sie sich wundern würde, wenn der Antrag abgelehnt werden würde. Der Antragsteller habe daraufhin den Vermieter informiert, dass er die Wohnung nehmen würde. Der Bescheid vom 30. September 2019, mit dem der Antragsgegner die Zusicherung abgelehnt habe, sei ihm erst zugegangen, nachdem er den Mietvertrag unterschrieben habe.
10
Da ihm weiterhin nur Kosten der Unterkunft in Höhe der alten Miete bewilligt worden seien, müsse er 155 € seiner Miete aus der Regelleistung bestreiten. Dadurch sei sein Existenzminimum nicht gedeckt. Der Antragsgegner sei zur Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten verpflichtet, da der Umzug für ihn – den Antragsteller – in seiner persönlichen Situation und unter Beachtung seiner gesundheitlichen Lage erforderlich gewesen sei. Er habe durch die beengten Wohnverhältnisse eine Depression entwickelt, sich sozial isoliert und dadurch den bereits vorhandenen Drogenkonsum verstärkt. Er habe dadurch auch seine letzte Erwerbstätigkeit verloren. Mit dem Vollzug der Entgiftung, der Aussicht auf eine neue Wohnung und deren Bezug hätten sich diese Probleme gebessert und er lebe seitdem abstinent. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass die bisherige Wohnung mit 25 m² lediglich halb so groß wie eine angemessene Wohnung gewesen sei. Dass er nach seinem kalten Entzug bei Verbleib in seiner häuslichen Isolation rückfällig geworden sei und jetzt jedoch bei Umzug weiter abstinent lebe, spreche dafür, dass die Entscheidung zum Umzug richtig und notwendig gewesen sei. Zum Nachweis des stationären Aufenthalts hat der Antragsteller einen Entlassungsbericht vom 6. September 2019 mit der Diagnose „Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide: Abhängigkeitssyndrom“ vorgelegt.
11
Der Antragsteller hat beantragt,
12
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ab Antragseingang vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe des Regelbedarfs von 432 € zuzüglich der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 370 € zu bewilligen.
13
Der Antragsgegner hat beantragt,
14
den Antrag zurückzuweisen.
15
Die Wohnungsgröße allein indiziere keine Erforderlichkeit des Umzugs. Aus dem Entlassungsbericht des Klinikums gehe nicht hervor, dass der Antragsteller nicht in der zuvor bewohnten Wohnung hätte verbleiben können. Es sei davon auszugehen, dass Nichthilfeempfänger in einer entsprechenden Lebenssituation bei vergleichbaren Einkommensverhältnissen aus Gründen der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit die mit einem Umzug verbundenen Kosten vermieden hätten. Eine Rechtsprechung, wonach einem Erwachsenen zwingend ein Wohn- und ein Schlafzimmer zur Verfügung stehen müssten, existiere nicht. Die zuvor bewohnte Wohnung werde als ausreichend und angemessen erachtet. Der Antragsteller befinde sich in keiner fachärztlichen Behandlung. Ein Wechsel des Wohnumfeldes sei mit dem Umzug ebenfalls nicht erfolgt, da er lediglich eine Querstraße weitergezogen sei.
16
Mit Beschluss vom 3. April 2020 hat das Sozialgericht die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei zulässig, aber unbegründet.
17
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) könne eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn eine solche Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheine, wenn also dem Antragsteller das Abwarten des Hauptsacheverfahrens nicht zugemutet werden könne. Dabei habe der Antragsteller gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 und § 294 Zivilprozessordnung (ZPO) den Anspruch auf die begehrte Leistung (Anordnungsanspruch) sowie die Dringlichkeit der Entscheidung des Gerichts (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen.
18
Es bestehe kein Anordnungsanspruch.
19
Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II würden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen seien. Erhöhten sich nach einem nicht erforderlichen Umzug die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, werde nur der bisherige Bedarf anerkannt (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II).
20
Der Umzug sei nicht erforderlich gewesen. Insofern teile die Kammer uneingeschränkt die Auffassung des Antragsgegners, dass allein der Umstand, dass für eine Person maximal 50 m² angemessen seien, nicht dazu führe, dass diese Obergrenze durch einen Umzug auszuschöpfen sei. Dies gelte auch dann nicht, wenn, wie vorliegend, die angemessene Wohnfläche deutlich unterschritten werde. Die Kammer halte ein Wohnen auf einer Wohnfläche von 25 m² für eine Person nicht für menschenunwürdig oder gesundheitsgefährdend. Die Kammer sehe es auch nicht als ausgeschlossen an, dass man in einer Wohnung von dieser Größe Besuch empfangen könne. Dass der Antragsteller seine Couch jeden Abend zu einem Bett umbauen und am nächsten Tag wieder zurückbauen müsse, möge zwar lästig sein, begründe jedoch nicht die Erforderlichkeit eines Umzugs. Ebenso sei nicht ersichtlich, warum dieser Umstand dazu führen solle, dass der Antragsteller keinen Besuch empfangen könne.
21
Einzig denkbarer Grund für die Erforderlichkeit des Umzugs könnten vorliegend die gesundheitlichen Probleme und die Drogensucht des Antragstellers sein. Der Antragsteller habe angegeben, dass das beengte Wohnen zu Depressionen geführt habe. Eine ärztliche Bestätigung für diesen Vortrag gebe es jedoch nicht. Es bestehe kein genereller Zusammenhang zwischen kleinem Wohnraum und der Entwicklung einer Depression. Ob hier ausnahmsweise ein solcher Zusammenhang bestehen könnte, habe der Antragsteller nicht nachgewiesen.
22
Soweit der Antragsteller vortrage, dass er am 30. September 2019 dem Vermieter habe zusagen müssen, da die Wohnung sonst anderweitig vergeben worden wäre, sei anzumerken, dass der Mietvertrag erst am 8. Oktober 2019 unterzeichnet worden sei. Zu diesem Zeitpunkt sei dem Antragsteller die Ablehnung der Zusicherung vom 30. September 2019 bekannt gewesen. Der Antragsteller hätte demnach unter Berücksichtigung der Entscheidung des Antragsgegners den Mietvertrag nicht unterzeichnen müssen.
23
Gegen den am 8. April 2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 7. Mai 2020 Beschwerde erhoben und zur Begründung ausgeführt, das Sozialgericht habe zu Unrecht die Erforderlichkeit seines Umzuges zum 1. Oktober 2019 und damit einen Anordnungsanspruch verneint. Zwar werde in dem vorgelegten Entlassungsbericht vom 6. September 2019 nicht bestätigt, dass das beengte Wohnen zu Depressionen geführt habe. Neben der Diagnose ergebe sich jedoch daraus, dass er – der Antragsteller – sich dort zum wiederholten Male in stationärer Behandlung befunden und bereits einen kalten Entzug zu Hause versucht habe und dass er in der Klinik gelernt habe, seine eigene Situation zu reflektieren und gewillt gewesen sei, fortan ein abstinentes Leben zu führen. Damit würden seine Einschränkungen und sein Wille nach Veränderung ausreichend glaubhaft gemacht. Für ihn sei daher von einem vernünftigen Grund im Sinne der Rechtsprechung auszugehen, wonach sich jeder andere in dieser Situation mit dem Willen nach einer Veränderung ebenso entschieden hätte. Da er bis heute abstinent sei, wisse er auch, dass er die richtige Entscheidung getroffen habe.
24
Unabhängig davon sei die Kappung der Mietkosten auf die Kosten der alten Wohnung rechtswidrig, da eine solche nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 17. Februar 2016 – B 4 AS 12/15 R – nur zulässig und beizubehalten sei, wenn rechtmäßig Angemessenheitswerte festgestellt worden seien, d. h. eine schlüssige KdU-Richtlinie vorliege. Ob die derzeit gültige KdU-Richtlinie des Landkreises M. eine solche schlüssige Richtlinie darstelle, sei bisher nicht festgestellt worden. Vielmehr habe das Beschwerdegericht bereits in verschiedenen Verfahren grundsätzlich Zweifel hieran geäußert. Daher sei bereits aus diesem Grunde die Kappung rechtswidrig.
25
Der Antragsteller beantragt,
26
den Beschluss des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 3. April 2020 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab 24. März 2020 vorläufig monatlich Leistungen nach dem SGB II zur Sicherung seines Lebensunterhalts in Höhe des Regelbedarfs von 432 € zuzüglich der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 370 € zu bewilligen sowie ihm Prozesskostenhilfe für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.
27
Der Antragsgegner beantragt,
28
die Beschwerde zurückzuweisen.
29
Er hat u.a. ausgeführt, die zitierte BSG-Rechtsprechung sei nicht einschlägig, da sie sich auf eine alte Gesetzesfassung bezogen habe. Mit der Gesetzesänderung vom 26. Juli 2016 sei das Wort „angemessen“ aus § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II gestrichen worden.
II.
30
Die Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist zulässig und begründet.
31
Der Antragsteller hat nach summarischer Prüfung einen Anspruch auf Übernahme der Bedarfe der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II für seine neue Wohnung in voller Höhe von monatlich 370 € im vorliegend streitbefangenen Zeitraum vom 24. März 2020 bis 30. September 2020 und damit einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
32
Der Antragsteller, bei dem im Übrigen unstreitig die weiteren Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II vorliegen, hat gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II einen Anspruch auf Übernahme seiner Wohnungskosten. Diese überschreiten nicht die Angemessenheitsobergrenze der seit 1. Januar 2018 gültigen KdU-Richtlinie des Landkreises M. für Einpersonenhaushalte in A-Stadt (Region D) bei Beheizung mit Warmwassererwärmung durch Fernwärme von mindestens 418,71 € (342 € Bruttokaltmiete + mindestens 76,71 € Heizkosten) und sind daher (auch) aus der Sicht des Antragsgegners angemessen.
33
Auch ist der Anspruch entgegen der Auffassung des Antragsgegners und des Sozialgerichts nicht gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf die Aufwendungen für die bisherige Wohnung in Höhe von 215 € begrenzt. Nach dieser Norm wird nur der bisherige Bedarf anerkannt, wenn sich nach einem nicht erforderlichen Umzug die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erhöhen.
34
Unabhängig von der vorliegend streitigen Frage nach der Erforderlichkeit des Umzugs des Antragstellers ist die Deckelung im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II dann ausgeschlossen, wenn für den örtlichen Vergleichsraum keine zutreffenden abstrakten Angemessenheitsgrenzen bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 2016 – B 4 AS 12/15 R –, Rn. 18). Der insoweit erhobene Einwand des Antragsgegners, dass sich die vorgenannte Rechtsprechung des BSG zum Ausschluss der Kappung nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II lediglich auf dessen bis zum 31. Juli 2016 gültige Fassung bezieht, greift nicht durch. Denn das BSG hat seine Rechtsauffassung nicht allein auf den damaligen Wortlaut des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II, sondern vor allem auf die Systematik des § 22 Abs. 1 SGB II gestützt und hieraus abgeleitet, dass die gedeckelten Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach einem nicht erforderlichen Umzug innerhalb eines Vergleichsraums entsprechend den Veränderungen der durch ein schlüssiges Konzept bestimmten Angemessenheitsgrenze ab dem Umzugszeitpunkt zu dynamisieren sind (vgl. BSG, wie vor).
35
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren geht der Senat zwar grundsätzlich von der Angemessenheit der in den Richtlinien der zuständigen kommunalen Träger festgesetzten abstrakten Angemessenheitsgrenzen aus, wenn sich nicht eine offensichtliche Rechtswidrigkeit aufdrängt (vgl. Beschluss vom 11. Januar 2018 – L 8 AS 48/17 B ER).
36
Letzteres ist vorliegend jedoch der Fall.
37
Die vorliegende KdU-Richtlinie kann im streitigen Eilrechtschutzverfahren nicht zur Bestimmung der Mietobergrenze herangezogen werden, weil bei der Bestimmung der Mietobergrenzen auf der Grundlage der Datensätze im Rahmen der Erhebung zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts jedenfalls bei der Datenauswertung offensichtliche Fehler aufgetreten sind.
38
Nach dem zugrunde liegenden Konzept (vgl. die Darstellung ab Seite 13 in der Zusammenfassung der Projektergebnisse durch die Fa. R. & P.) sollten zur Ermittlung der Mietobergrenze nur Daten von Wohnungen einfachen Standards berücksichtigt werden, dies einerseits durch Heranziehung von Daten von SGB II- und XII-Leistungsempfängern und andererseits durch Mieter- und Vermieterbefragungen. Zur Vermeidung von Zirkelschlüssen ist nach der Rechtsprechung des BSG bei einer Dateneinbeziehung von Wohnungen nur einfachen Standards als Angemessenheitsgrenze die obere Preisgrenze (sog. Spannoberwert) dieses Segments zu wählen (BSG, Urteil vom 16. Juni 2015 – B 4 AS 44/14 R –, juris m.w.N.).
39
Entgegen der Darstellung auf Seite 21 des der KdU-Richtlinie zugrunde liegenden Konzepts ist vorliegend jedoch ersichtlich nicht der Spannoberwert (jeweils bezogen auf den Vergleichsraum und die Haushaltsgröße) des hier zugrunde gelegten unteren Segments, d.h. der Wohnungen einfachen Standards ermittelt worden. So ergibt eine Auswertung der Rohdaten für die hier maßgebliche Region D für Wohnungen bis 50 m², dass der laut Konzept ermittelte „Spannoberwert“ für die Nettokaltmiete von 5,11 € pro m² offenkundig unzutreffend ist und stattdessen im Bereich des Mittelwertes der jeweiligen Mietenspanne liegt. Damit handelt es sich bei den als Angemessenheitsgrenze ermittelten Werten ersichtlich nicht um den Spannoberwert im Sinn der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. So folgen aus den von den Wohnungsunternehmen zur Verfügung gestellten Rohdaten eine Mietpreisspanne (netto kalt) von 2,69 € bis 7,48 € und ein durchschnittlicher Quadratmeterpreis für diese Wohnungen von 5,17 €, sodass 51,6 % dieser Wohnungen eine höhere Nettokaltmiete als 5,11 €/m² aufweisen. Aus den entsprechenden Rohdaten für SGB XII-Leistungsempfänger ergibt sich eine Spanne von 0,04 € bis 19,28 € pro m² mit einer Nettokaltmiete von durchschnittlich 4,93 €. Ein Anteil von 41,7 % dieser Wohnungen sind danach teurer als 5,11 €/m². Entsprechend ist auch bereits der 14. Senat in seinem Beschluss vom 13. Mai 2019 – L 14 AS 85/19 B ER –, juris, bei summarischer Prüfung der aktuellen KdU-Richtlinie des Antragsgegners bezogen auf Einpersonenhaushalte im Vergleichsraum G zu der Einschätzung gelangte, die dort ermittelte Angemessenheitsgrenze entspreche offenkundig nicht dem Spannoberwert im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, sondern stattdessen demMittelwert der jeweiligen Mietenspanne.
40
Aus den vorgenannten Gründen folgt zugleich die hinreichende Erfolgsaussicht des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens i.S.v. § 114 ZPO i.V.m. § 73a SGG, sodass aufgrund der ebenfalls bestehenden Bedürftigkeit des Antragstellers die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Eilverfahren in erster Instanz und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren begründet sind.
41
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.
42
Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
1T a t b e s t a n d
2Die Klägerin wendet sich gegen einen Haftungsbescheid, mit dem sie für Steuerschulden der B. UG & Co. KG in Anspruch genommen wird.
3Laut der in den Akten des Beklagten befindlichen Postzustellungsurkunde wurde der Haftungsbescheid vom 06.06.2016 der Klägerin ausweislich der handschriftlichen Eintragung des Zustellers am 07.06.2016 zugestellt, und zwar durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten, da eine Übergabe des Schriftstücks laut Postzustellungsurkunde nicht möglich war.
4Auf der Postzustellungsurkunde waren als Aktenzeichen die Bezeichnung „xxxx/xxx/xxxx(Steuernummer der B. UG & Co. KG) ZHSt HB vom 06.06.2016“, der Name und die – damalige – Anschrift der Klägerin sowie als Absender die Bezeichnung und die Anschrift des Beklagten vermerkt. Die Postzustellungsurkunde war vom – namentlich mit Vor- und Nachname bezeichneten – Zusteller unterschrieben und enthielt den Hinweis, dass dieser den Tag der Zustellung auf dem Umschlag des Schriftstücks vermerkt habe. Als beauftragtes Unternehmen war die Deutsche Post AG angegeben.
5Gegen den Haftungsbescheid legte die Klägerin am 06.04.2019 Einspruch ein, mit der Begründung, dass sie den Bescheid seinerzeit nicht erhalten habe. Sie gehe davon aus, dass die Post, wie schon in der Vergangenheit, nicht ordnungsgemäß zugestellt worden sei.
6Mit Beschluss des Amtsgerichts R-Stadt vom 16.04.2019 (Az. xxx) wurde über das Vermögen der Klägerin das – zwischenzeitlich, soweit ersichtlich, noch nicht beendete – Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter ernannt.
7Den gegen den Haftungsbescheid gerichteten Einspruch verwarf der Beklagte mit an die Klägerin adressierter Einspruchsentscheidung vom 09.07.2019 wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig.
8Hiergegen hat die Klägerin am 26.07.2019 Klage erhoben. Sie bestreitet weiterhin den Zugang des Haftungsbescheides. Sie weist insoweit darauf hin, dass es unglaubwürdig sei, dass der Haftungsbescheid das Datum des 06.06.2016 trage, laut Postzustellungsurkunde aber bereits am Folgetag, dem 07.06.2020, zugestellt worden sein soll. Denn es sei bekannt, dass der Postweg, selbst behördenintern, teilweise bis zu einer Woche dauern könne. Zudem sei fraglich, ob der Erhalt des Haftungsbescheides durch die Postzustellungsurkunde nachgewiesen werden könne. Es sei auch unklar, welches Schreiben dort zugestellt worden sei. Zudem zeige der Umstand, dass ein an einen anderen Adressaten gerichtetes Schreiben, versandt als Einschreiben mit Rückschein, fälschlicherweise in den Briefkasten ihres Prozessbevollmächtigten eingeworfen worden sei, dass Postsendungen in der Praxis oftmals nicht bzw. an den falschen Adressaten zugestellt würden.
9Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,
10den Haftungsbescheid vom 06.06.2016 und die Einspruchsentscheidung vom 09.07.2019 aufzuheben.
11Der Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Der Beklagte ist der Auffassung, dass die Klage teilweise unzulässig und teilweise unbegründet sei.
14In der Sache hat am 23.09.2020 eine mündliche Verhandlung vor dem Senat stattgefunden. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
15Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.
16E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
17A. Die Klage ist unzulässig, soweit sie auf Aufhebung des Haftungsbescheides vom 06.06.2016 gerichtet ist (hierzu I.). Im Übrigen ist die Klage, soweit sie auf isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 09.07.2019 gerichtet ist, zulässig, aber unbegründet (hierzu II.).
18I. Die Klage ist unzulässig, soweit sie auf Aufhebung des Haftungsbescheides vom 06.06.2016 gerichtet ist. Die Klägerin als Insolvenzschuldnerin ist insoweit nicht prozessführungsbefugt.
19Nach § 80 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) geht mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Befugnis des Insolvenzschuldners, sein zur Insolvenzmasse gehörendes Vermögen zu verwalten und über dasselbe zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über. Mit dem Verwaltungs- und Verfügungsrecht erhält der Insolvenzverwalter die Befugnis, die Insolvenzmasse betreffende Prozesse zu führen. Im Prozess hat der Insolvenzverwalter kraft gesetzlicher Prozessstandschaft die uneingeschränkte Prozessführungsbefugnis unter Ausschluss des Insolvenzschuldners (vgl. Bundesfinanzhof – BFH – Urteil vom 25.07.2012 I R 74/11, BFH/NV 2013, 82, m.w.N.).
20Im Streitfall war die Klägerin als Insolvenzschuldnerin nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 16.04.2019 somit im Hinblick auf den zuvor erlassenen Haftungsbescheid nicht mehr prozessführungsbefugt.
21II. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, soweit sie auf isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 09.07.2019 gerichtet ist.
221. Die auf isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung gerichtete Klage ist zulässig. Zwar geht mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 80 InsO die Prozessführungsbefugnis grundsätzlich auf den Insolvenzverwalter über (s.o.). Ein Insolvenzschuldner ist jedoch weiterhin selbst insoweit prozessführungsbefugt, wie er sich gegen die Missachtung der Verfahrensunterbrechung (§§ 240, 249 Zivilprozessordnung - ZPO -) wendet. D.h. er kann im eigenen Namen geltend machen, dass er im Zeitpunkt des Ergehens des streitgegenständlichen Bescheides im Hinblick auf die vorher erfolgte Eröffnung des Insolvenzverfahrens kein Verwaltungs- und Verfügungsrecht mehr besitzt. Denn der Insolvenzschuldner greift insoweit nicht in die Verwaltung der Insolvenzmasse und in die Verfügung über die Insolvenzmasse ein, da dieser Rechtsbereich von einer solchen Inanspruchnahme nicht berührt wird. Der Kläger verfolgt nur sein verfahrensrechtliches Recht, dass vor der Insolvenzeröffnung begründete Ansprüche nicht mehr gegen ihn persönlich, sondern nur noch als Insolvenzforderung (§ 251 Abs. 2 Satz 1 Abgabenordnung - AO - i.V.m. § 38 InsO) gegenüber dem Insolvenzverwalter geltend gemacht werden dürfen (vgl. BFH-Urteil vom 25.07.2012 I R 74/11, a.a.O.).
23So liegt es im Streitfall. Der Beklagte hat nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und damit nach Unterbrechung des Einspruchsverfahrens (§ 155 Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 240 ZPO) die an die Insolvenzschuldnerin gerichtete Einspruchsentscheidung erlassen. Als Adressatin der Einspruchsentscheidung kann die Klägerin somit zulässigerweise im eigenen Namen geltend machen, dass der durch Erlass der Einspruchsentscheidung eingetretene Rechtsschein einer rechtswirksamen Haftungsinanspruchnahme beseitigt werden soll.
242. Die Klage ist insoweit jedoch unbegründet. Der Beklagte hat den Einspruch der Klägerin zu Recht mit an die Klägerin adressierter Einspruchsentscheidung als unzulässig verworfen. Denn ein unzulässiger Rechtsbehelf, der bereits vor der Unterbrechung des Verfahrens eingelegt wurde, kann in entsprechender Anwendung des § 249 Abs. 3 ZPO auch während der Unterbrechung des Verfahrens als unzulässig verworfen werden (vgl. BFH-Urteil vom 30.07.2019 VIII R 21/16, BFHE 266, 97, BFH/NV 2020, 330; BFH-Beschluss vom 29.03.2017 VI R 83/14, BFH/NV 2017, 917; BFH-Beschluss vom 09.05.2007 IV B 10/07, BFH/NV 2007, 2118).
25Im Streitfall hat die Klägerin am 06.04.2019 gegen den streitgegenständlichen Haftungsbescheid Einspruch eingelegt. Am 16.04.2019 ist das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Klägerin eröffnet worden, womit nach § 155 FGO i.V.m. § 240 ZPO die Unterbrechung des Rechtsbehelfsverfahrens eingetreten ist. Der Einspruch der Klägerin war schon vor Eintritt der Verfahrensunterbrechung unzulässig, da die Klägerin die Einspruchsfrist versäumt hat.
26Der Haftungsbescheid ist am 07.06.2016 wirksam zugestellt und bekannt gegeben worden (hierzu a.) und wurde seitens der Klägerin nicht rechtzeitig mit dem Einspruch angefochten (hierzu b.)
27a. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der streitgegenständliche Haftungsbescheid der Klägerin am 07.06.2016 durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt, da eine Übergabe des Schriftstücks nicht möglich war.
28Die Zustellung ist wirksam vorgenommen worden.
29Es obliegt gemäß § 122 Abs. 5 AO dem Beklagten, ob er - wie im Streitfall - die Zustellung des Haftungsbescheides anordnet. Die Zustellung richtet sich nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG - (§ 122 Abs. 5 Satz 2 AO). Bei einer Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde übergibt die Behörde der Post den Zustellungsauftrag, das zuzustellende Dokument in einem verschlossenen Umschlag und einen vorbereiteten Vordruck einer Zustellungsurkunde (§ 3 Abs. 1 VwZG). Für die Ausführung der Zustellung gelten nach § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG die §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend. Nach § 180 Satz 1 ZPO kann die Zustellung unter anderem durch Einlegung in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten erfolgen, wenn eine Übergabe des Schriftstücks nicht möglich ist. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück nach § 180 Satz 2 ZPO als zugestellt. Der Zusteller vermerkt auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung (§ 180 Satz 3 ZPO).
30Zum Nachweis der Zustellung ist gemäß § 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO eine Urkunde auf dem hierfür vorgesehenen Formular anzufertigen. Für die Postzustellungsurkunde gilt die Vorschrift des § 418 ZPO (§ 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Die Postzustellungsurkunde muss gemäß § 182 Abs. 2 ZPO die – im Streitfall relevanten – folgenden Angaben enthalten: Die Bezeichnung der Person, der zugestellt werden soll (Nr. 1). Die Angabe des Grundes, der eine Zustellung nach § 180 ZPO rechtfertigt (Nr. 4). Die Bemerkung, dass der Tag der Zustellung auf dem Umschlag, der das zuzustellende Schriftstück enthält, vermerkt ist (Nr. 6). Den Ort und das Datum der Zustellung (Nr. 7). Name, Vorname und Unterschrift des Zustellers sowie die Angabe des ersuchten Unternehmens (Nr. 8).
31Die vorliegende Postzustellungsurkunde genügt diesen Anforderungen. Im Adressaten-Feld sind der Name und die – damalige – Anschrift der Klägerin vermerkt. Weiter war laut Postzustellungsurkunde eine Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks nicht möglich und ist deshalb der Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten erfolgt. Die Urkunde enthält ferner den Hinweis, dass der Tag der Zustellung vom Zusteller auf dem Umschlag des Schriftstücks vermerkt worden ist. Als Tag der Zustellung ist handschriftlich der 07.06.2016 angegeben. Die Postzustellungsurkunde enthält ferner den Namen und Vornamen des Zustellers sowie dessen Unterschrift und auch die Benennung der Deutschen Post AG als beauftragtes Unternehmen.
32Der Sendungsinhalt war – entgegen der Auffassung der Klägerin – auf der Postzustellungsurkunde mit dem Aktenzeichen „xxxx/xxxx/xxxx ZHSt HB vom 06.06.2016“ auch hinreichend deutlich bezeichnet. Denn dieses enthält die Steuernummer der B. UG & Co. KG und das Datum des Bescheides. Die Abkürzung „HB“ weist zudem auf einen Haftungsbescheid hin. Dass für einen Laien aus der Abkürzung "HB" nicht ohne weiteres die Art des zugestellten Bescheides zu entnehmen ist, ist insoweit unerheblich; denn das Erfordernis der Kennzeichnung dient nur der eindeutigen Identifizierung des zugestellten Schriftstückes, nicht aber der Mitteilung von dessen Erklärungsinhalt ( vgl. BFH-Urteil vom 18.03.2004 V R 11/02, BFHE 205, 501, BStBl II 2004, 540).
33Dem Einwand der Klägerin, sie habe den streitgegenständlichen Haftungsbescheid nicht erhalten, kann nicht gefolgt werden.
34Gemäß § 418 ZPO i.V.m. § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO erbringt die Postzustellungsurkunde als öffentliche Urkunde den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen. Die Beweiskraft erstreckt sich nicht nur auf das Einlegen des Schriftstücks in den zur Wohnung bzw. zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung, sondern insbesondere auch darauf, dass der Postbedienstete unter der ihm angegebenen Anschrift weder den Adressaten persönlich noch eine zur Entgegennahme einer Ersatzzustellung in Betracht kommende Person angetroffen hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 04.07.2008 IV R 78/05, BFH/NV 2008, 1860; vom 24.04.2007 VIII B 249/05, BFH/NV 2007, 1465).
35Ein Gegenbeweis kann nach § 418 Abs. 2 ZPO nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt werden. Dieser Gegenbeweis erfordert den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs, der damit ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt. Gefordert wird der volle Gegenbeweis, d.h. der Beweis der Unrichtigkeit der Postzustellungsurkunde in der Weise, dass ihre Beweiswirkung vollständig entkräftet wird (vgl. BFH-Beschluss vom 04.07.2008 IV R 78/05, a.a.O., m.w.N.).
36Diesen Gegenbeweis hat die Klägerin nicht erbracht. Die Klägerin hätte hierfür substantiiert Umstände darlegen müssen, die – im konkreten Fall – ein Fehlverhalten des Postzustellers bei der Zustellung und damit eine Falschbeurkundung in der Postzustellungsurkunde zu belegen geeignet sind. Derartige Umstände wurden von der Klägerin jedoch nicht vorgetragen. Die Klägerin beschränkt sich vielmehr darauf, pauschal unter Hinweis auf übliche Postlaufzeiten sowie auf in anderen Fällen nicht ordnungsgemäß zugestellte Sendungen den Zugang des Haftungsbescheides zu bestreiten. Hiermit kann nach den vorgenannten Rechtsgrundsätzen jedoch kein Gegenbeweis erbracht werden.
37b. Die Klägerin hat die sich aus § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ergebende Einspruchsfrist versäumt. Nach dieser Vorschrift ist ein Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen.
38Vorliegend wurde der Haftungsbescheid ausweislich der Postzustellungsurkunde am 07.06.2016, einem Dienstag, zugestellt und damit auch der Klägerin bekanntgegeben (§ 122 Abs. 5 AO i.V.m. § 3 VwZG). Die Einspruchsfrist begann somit am Folgetag, dem 08.06.2016, zu laufen (§ 108 Abs. 2 AO). Die Einspruchsfrist lief ab am 07.07.2016, einem Donnerstag (§ 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 188 ZPO). Der Einspruch wurde jedoch erst am 06.04.2019 und damit verspätet eingelegt.
39c. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO) sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
40B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
41C. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.
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Tenor
Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016 vom 16.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2018 wird nach Maßgabe der Urteilsgründe geändert. Die Berechnung der Steuer wird dem Beklagten übertragen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger zu 60 % und der Beklagte zu 40 %.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leisten.
1T a t b e s t a n d
2Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob und in welcher Höhe vom Ehemann (nachfolgend: Kläger) erzielte Einnahmen aus einer Unterverpachtung von landwirtschaftlichen Flächen bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft im Rahmen der Ermittlung des Durchschnittssatzgewinns (§§ 13, 13a des Einkommensteuergesetzes - EStG -) oder bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) zu berücksichtigen sind.
3Die Kläger wurden im Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt (§§ 26, 26b EStG).
4Die Eltern der Ehefrau (nachfolgend: Klägerin) übertrugen dieser im Jahr 1999 einen Hof. Zu diesem Hof gehörten nach dem Übertragungsvertrag vom 23.12.1999 folgende, sämtlich in der Gemarkung S-Stadt Flur 1 gelegene, Grundstücke:
5Nr.
Größe seinerzeit (in ha)
1
Ackerland, Grünland
Wiese
2,4394
2
Gebäude- und Freifläche, Ackerland, Grünland
Weg 1
2,6195
3
Ackerland
Wiese
0,8010
4
Ackerland
Wiese
1,7142
Summe
7,5741
6Zum Zeitpunkt der Übertragung war der Hof mit den o.g. Grundstücken an den Kläger verpachtet, der hiermit einen landwirtschaftlichen Betrieb führte. Mit der Übertragung des Hofs auf die Klägerin trat diese in die bestehenden Pachtverhältnisse ein.
7Ab dem Monat Oktober 2009 verpachtete der Kläger einen Teil der von ihm gepachteten Grundstücke, namentlich die Grundstücke mit den Nrn. 1 (nunmehr 2,3873 ha), 3 (wie bisher 0,8010 ha) und 4 (nunmehr 1,7140 ha) an einen Dritten zur landwirtschaftlichen Bewirtschaftung (Gesamtfläche ausweislich des Pachtvertrages vom 07.12.2009: 4,9023 ha). Als Pachtpreis wurde ein Betrag in Höhe von 2.451,00 € jährlich (Fälligkeit jeweils 01.04.) festgelegt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Pachtvertrag vom 07.12.2009 Bezug genommen. Auf den übrigen Flächen (Nr. 2) führte der Kläger seinen landwirtschaftlichen Betrieb fort.
8Im September 2011 vereinbarten die Klägerin und der Kläger, die zwischen ihnen bestehenden Pachtverhältnisse bis zum 30.09.2022 zu verlängern. Sie legten den Pachtpreis auf insgesamt 2.323,00 € jährlich fest. Wegen der Einzelheiten wird auf die Vereinbarung vom 30.09.2011 Bezug genommen.
9Der Kläger erklärte den Gewinn aus seinem landwirtschaftlichen Betrieb als Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft (§ 13 EStG) und ermittelte den Gewinn nach Durchschnittssätzen (§ 13a EStG) sowie nach einem abweichenden Wirtschaftsjahr vom 01.07. bis 30.06. Dabei berücksichtigte er zunächst auch die von ihm vereinnahmten Pachtzinsen (§ 13a Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 EStG a.F.), wobei er die an die Klägerin gezahlten Pachtzinsen gewinnmindernd ansetzte (§ 13a Abs. 3 Satz 2 EStG a.F.).
10Für das Wirtschaftsjahr 2015/2016 unterblieb ein gewinnmindernder Ansatz der verausgabten Pachtzinsen. D.h. der Kläger setzte – neben dem Gewinn aus seinem landwirtschaftlichen Betrieb – lediglich die vereinnahmten Pachtzinsen in Höhe von 2.451,00 € im Rahmen der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft an. Der Beklagte legte diese Angaben der Steuerfestsetzung für 2015 zugrunde (Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015 vom 08.02.2017).
11Für das Streitjahr 2016 erklärten die Kläger die vom Kläger vereinnahmten Pachtzinsen als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 668,00 € (Überschuss der vereinnahmten Pachtzinsen über die anteiligen verausgabten Pachtzinsen). Im Rahmen der erklärten Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft blieben die Pachtzinsen für das Wirtschaftsjahr 2016/2017 unberücksichtigt.
12Der Beklagte folgte diesen Angaben nicht. Er berücksichtigte keine Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, sondern erhöhte den Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft für das Wirtschaftsjahr 2016/2017 um die vereinnahmten Pachtzinsen in Höhe von 2.451,00 €. Dies führte zu einer Erhöhung der Einkünfte des Klägers aus Land- und Forstwirtschaft für 2016 um einen Betrag von 1.225,00 € (Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016 vom 16.04.2018).
13Hiergegen legten die Kläger Einspruch ein. Zur Begründung trugen sie im Wesentlichen vor, dass die Pachteinnahmen des Klägers nicht bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft zu berücksichtigen seien. § 13a Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 EStG setze Einnahmen aus der Verpachtung von land- und forstwirtschaftlichem Betriebsvermögen voraus. Die weiterverpachteten Flächen befänden sich nicht im Betriebsvermögen des Klägers, da er diese Flächen lediglich gepachtet habe. Gepachtete Flächen seien nach § 39 der Abgabenordnung (AO) nicht dem Pächter, sondern dem Eigentümer zuzurechnen. Außerdem erziele der Kläger aus den unterverpachteten Grundstücken keine originären Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Er bewirtschafte diese nicht selbst. Die grundsätzlich vorliegenden Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung seien somit nicht nach § 21 Abs. 3 EStG den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft zuzurechnen.
14Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 23.11.2018 als unbegründet zurück. Er vertrat die Auffassung, dass die vereinnahmten Pachtzinsen bei der Ermittlung des Durchschnittssatzgewinns zu berücksichtigen seien. Es sei im Rahmen des § 13a Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 EStG ohne Bedeutung, dass die verpachteten Wirtschaftsgüter nicht zum Betriebsvermögen des Klägers gehörten. Es reiche insoweit aus, dass sie zu einem land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen – vorliegend zum Betriebsvermögen der Klägerin – gehörten. Die Vorschrift setze kein eigenes Betriebsvermögen voraus.
15Hiergegen haben die Kläger am 20.12.2018 Klage erhoben. Sie sind nunmehr der Auffassung, dass die Einnahmen aus der Unterverpachtung grundsätzlich im Rahmen der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft zu erfassen, dabei aber bereits durch den Ansatz des Grundbetrags abgegolten seien. Denn die vom Kläger gepachteten landwirtschaftlichen Flächen stellten bei diesem weder notwendiges noch gewillkürtes Betriebsvermögen im Sinne des § 13a Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 EStG n.F. dar. Allenfalls hilfsweise komme eine Erfassung dieser Einkünfte im Rahmen des § 21 EStG in Betracht. Diese würden sich in diesem Fall wie folgt berechnen: Einkünfte in Höhe von 2.451,00 € abzgl. der anteiligen Pachtausgaben in Höhe von 1.503,00 € (= 2.323,00 € / 7,5741 ha * 4,9023 ha).
16Die Kläger beantragen sinngemäß,
17den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016 vom 16.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2018 dahingehend zu ändern, dass bei dem Kläger die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft um einen Betrag von 2.451,00 € gekürzt werden,
18hilfsweise, den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016 vom 16.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2018 dahingehend zu ändern, dass bei dem Kläger die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft um einen Betrag von 2.451,00 € gekürzt und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 948,00 € berücksichtigt werden,
19hilfsweise, für den Fall des Unterliegens oder Teilunterliegens, die Revision zuzulassen.
20Der Beklagte beantragt,
21die Klage abzuweisen.
22Zur Begründung verweist er vollumfänglich auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.
23In der Sache hat am 27.03.2019 ein Erörterungstermin vor dem seinerzeit zuständigen Berichterstatter stattgefunden, im Rahmen dessen die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer gerichtlichen Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben. Auf das Protokoll wird Bezug genommen.
24Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.
25E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
26A. Der Senat konnte vorliegend ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
27B. Die zulässige Klage ist teilweise begründet, soweit der Beklagte die Einnahmen aus der Unterverpachtung landwirtschaftlicher Flächen im Rahmen der Durchschnittssatzgewinnermittlung (§§ 13, 13a EStG) und nicht bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) berücksichtigt hat. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
28I. Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016 vom 16.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2018 ist teilweise rechtswidrig und verletzt die Kläger insoweit in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Beklagte hat die Einnahmen des Klägers aus der Unterverpachtung der landwirtschaftlichen Flächen zu Unrecht in die Berechnung des Durchschnittssatzgewinns einbezogen (§§ 13, 13a Abs. 3 Satz 1 EStG) und nicht bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) berücksichtigt.
29II. Die Einnahmen aus der Unterverpachtung landwirtschaftlicher Flächen sind beim Kläger (Pächter) als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung im Sinne der §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, 21 EStG und nicht als Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft im Sinne der §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 13 EStG zu qualifizieren.
30Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sind gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG u.a. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung von unbeweglichem Vermögen, insbesondere von Grundstücken und Gebäuden. Nach § 21 Abs. 3 EStG sind Einkünfte der in Absatz 1 bezeichneten Art Einkünften aus anderen Einkunftsarten zuzurechnen, soweit sie zu diesen gehören.
31Die nach dieser Subsidiaritätsklausel vorzunehmende Abgrenzung zu den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft richtet sich im Wesentlichen danach, ob die vermietete bzw. verpachtete Sache zu einem land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen gehört (vgl. etwa Pfirrmann in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, Stand 09.2020, § 21 EStG Rn. 252; Paul in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, Stand 09.2020, § 13 Rn. 22; Drüen in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, Stand 08.2020, § 21 Rn. D 3; Schallmoser in: Blümich, EStG, Stand 05.2020, § 21 Rn. 591). Teilweise wird zur Abgrenzung auch darauf abgestellt, ob die Vermietung und Verpachtung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und nach der Verkehrsauffassung in einem engen wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Betrieb steht, diesen zu fördern bestimmt und geeignet ist (vgl. Bauer, in: Altehoefer u.a., Besteuerung der Land- und Forstwirtschaft, 6. Aufl. 2010, Rn. 134; Billermann in: Leingärtner, Besteuerung der Landwirte, Stand 06.2020, Kapitel 13 Rn. 8).
32Unter Zugrundelegung dieser Abgrenzungskriterien gehören die streitgegenständlichen Einnahmen aus der Unterverpachtung der landwirtschaftlichen Flächen nach Überzeugung des erkennenden Senates nicht zu den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft gemäß § 13 EStG. Die unterverpachteten Flächen gehören weder zum land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen (hierzu 1.) noch weist die Unterverpachtung einen hinreichend engen wirtschaftlichen Zusammenhang zum landwirtschaftlichen Betrieb des Klägers auf (hierzu 2.).
331. Die durch den Kläger unterverpachteten landwirtschaftlichen Flächen gehören nicht zu dessen Betriebsvermögen. Denn Voraussetzung hierfür wäre, dass der Kläger (zivilrechtlicher oder wirtschaftlicher) Eigentümer der entsprechenden Grundstücke wäre (vgl. Kanzler in: Leingärtner, Besteuerung der Landwirte, Stand 06.2020, Kapitel 24 Rn. 7). Der Kläger ist selbst aber nur Pächter der Grundstücke und ist somit weder deren zivilrechtlicher noch deren wirtschaftlicher Eigentümer. Denn ein wirtschaftlicher Eigentümer im Sinne des § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 AO übt die tatsächliche Herrschaft über das Wirtschaftsgut dergestalt aus, dass dadurch der nach bürgerlichem Recht Berechtigte von einer Einwirkung darauf ausgeschlossen ist. Der Pächter ist jedoch nur Fremdbesitzer. Er besitzt das Wirtschaftsgut als dem Verpächter gehörig, der Inhaber der vollen wirtschaftlichen Macht bleibt. Dies gilt auch bei einem auf längere Dauer abgeschlossenen Pachtverhältnis. Denn dem Pächter steht rechtlich und wirtschaftlich grundsätzlich nur ein Nutzungsrecht an den Pachtgegenständen zu. Soweit der Pächter das Recht hat, über die einzelnen gepachteten Inventarstücke zu verfügen, entspricht dieses Verfügungsrecht nur einem sich aus dem Nutzungsrecht des Pächters ergebenden wirtschaftlichen Bedürfnis, da er sonst vielfach an der wirtschaftlichen Nutzung des gepachteten Inventars gehindert wäre (vgl. Bundesfinanzhof - BFH - Urteile vom 02.11.1965 I 51/61 S, BFHE 84, 171, BStBl III 1966, 61 und vom 20.10.2011 IV R 35/08, BFH/NV 2012, 377; AEAO zu § 39 Nr. 1 Satz 3). Diesen Grundsätzen schließt sich der erkennende Senat an. Das Vorliegen besonderer Umstände, die ggf. ausnahmsweise eine hiervon abweichende Würdigung zulassen könnten, ist im Streitfall nicht ersichtlich.
34Darauf, dass die streitgegenständlichen Grundstücke, worauf der Beklagte hinweist, zum land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen der Klägerin (Verpächterin) gehören, kann es nach Überzeugung des erkennenden Senates insoweit nicht ankommen. Denn die Abgrenzung der Einkunftsarten ist jeweils betriebsbezogen vorzunehmen. Dementsprechend kann es nicht darauf ankommen, ob die Betriebsvermögenseigenschaft bei (irgend-)einem Dritten gegeben ist. Entscheidend kann nur sein, ob die verpachteten Flächen zum land- und forstwirtschaftlichen Betriebsvermögen des Klägers gehören, was nach den vorgenannten Ausführungen nicht der Fall ist.
352. Auch ein hinreichend enger wirtschaftlicher Zusammenhang der Unterverpachtung zum landwirtschaftlichen Betrieb des Klägers ist nach Überzeugung des erkennenden Senates nicht gegeben.
36Zwar hat der Kläger die streitgegenständlichen Flächen im Zeitraum vor der Unterverpachtung selbst landwirtschaftlich bewirtschaftet. Die unterverpachteten Flächen werden auch von dem (Unter-)Pächter landwirtschaftlich genutzt. Somit ist ein gewisser wirtschaftlicher Zusammenhang zum landwirtschaftlichen Betrieb des Klägers vorhanden.
37Dieser wirtschaftliche Zusammenhang ist im Streitfall jedoch nicht hinreichend eng. Denn auch im Rahmen dieser Würdigung ist zu beachten, dass der Kläger nicht Eigentümer, sondern (nur) Pächter der streitgegenständlichen Flächen ist. Selbst bei Eigentumsbetrieben stellen für landwirtschaftliche Zwecke verpachtete Teilflächen nicht notwendiges, sondern nur gewillkürtes Betriebsvermögen dar (vgl. BFH-Beschluss vom 03.05.2007 IV B 79/06, BFH/NV 2007, 2084; Billermann in: Leingärtner, Besteuerung der Landwirte, Stand 06.2020, Kapitel 13 Rn. 6). D.h. die Einkunftsart (Land- und Forstwirtschaft nach § 13 EStG oder Vermietung und Verpachtung nach § 21 EStG) hängt davon ab, ob der Verpächter (Eigentümer) die verpachteten Grundstücke weiterhin in seinem (gewillkürten) Betriebsvermögen hält oder eine Entnahme der jeweiligen Flächen erklärt (vgl. BFH-Beschluss vom 03.05.2007 IV B 79/06, a.a.O.). Ein hinreichender Bezug zum betrieblichen Bereich ist mithin nur gegeben, wenn neben den objektiven Förderzusammenhang eine Willensäußerung des Steuerpflichtigen tritt. Ein Pächter, der seinerseits landwirtschaftliche Flächen unterverpachtet, hat diese Möglichkeit nicht. Die unterverpachteten Flächen stellen bei ihm von vornherein mangels zivilrechtlichen oder wirtschaftlichen Eigentums kein (gewillkürtes) Betriebsvermögen dar. D.h. der Pächter kann weder eine Entnahme der Flächen erklären noch eine Zugehörigkeit zum gewillkürten Betriebsvermögen erreichen. Aus diesem Grund kann ein hinreichend enger Zusammenhang der Unterverpachtung zum Betrieb des Klägers nicht bejaht werden.
38III. Da es sich bei den Einnahmen aus der Unterverpachtung der landwirtschaftlichen Flächen nicht um Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft im Sinne des § 13 EStG handelt, sind diese auch nicht im Rahmen der Ermittlung des Gewinns aus Land- und Fortwirtschaft nach Durchschnittssätzen nach § 13a EStG zu berücksichtigen.
39IV. Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016 vom 16.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.2018 ist nach den vorgenannten Ausführungen dahingehend zu ändern, dass die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft um einen Betrag in Höhe von 2.451,00 € gekürzt werden und stattdessen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 937,00 € berücksichtigt werden. Die zu berücksichtigenden Einkünfte aus Vermietung aus Verpachtung ergeben sich aus den Pachteinnahmen in Höhe von 2.451,00 € abzgl. der anteiligen Pachtausgaben in Höhe von 1.514,00 € (= 2.323,00 € / 7,5218 ha * 4,9023 ha), wobei insoweit die sich aus dem (Unter-)Pachtvertrag vom 07.12.2009 ergebenden geringfügig geänderten Flächenangaben zugrunde zu legen sind.
40C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
41D. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, da die Frage, ob Einnahmen aus der Unterverpachtung landwirtschaftlicher Flächen zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) oder zu den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft (§ 13 EStG) gehören und als solche bei der Ermittlung des Durchschnittssatzgewinns nach § 13a EStG zu berücksichtigen sind – soweit ersichtlich – höchstrichterlich noch nicht entschieden ist.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1T a t b e s t a n d
2Streitig ist die Höhe der gegen das insolvenzfreie Vermögen festgesetzten Einkommensteuer für das Jahr 2012.
3Der Kläger wurde im Streitjahr zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt (§§ 26, 26b des Einkommensteuergesetzes - EStG -).
4Mit Beschluss des Amtsgerichts R-Stadt (Az. XXX) vom 02.08.2012 wurde über das Vermögen des Klägers das Insolvenzverfahren eröffnet und die Beigeladene zur Insolvenzverwalterin bestellt.
5Mit Bescheid über die Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen für das Jahr 2012 zur Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag, zuletzt geändert am 13.10.2017, setzte der Beklagte gegenüber dem Kläger die Einkommensteuer auf 11.194,02 €, die Kirchensteuer auf 955,34 € und den Solidaritätszuschlag auf 583,82 € fest. Nach Anrechnung der einbehaltenen Lohnsteuer des Klägers und seiner Ehefrau ergab sich hieraus eine Zahlungsverpflichtung in Höhe von insgesamt 3.261,12 €.
6Ausweislich der Begründung lag der Steuerfestsetzung für das Kalenderjahr 2012 insgesamt ein festgesetzter Jahresbeitrag an Einkommensteuer in Höhe von 42.681,00 €, an Kirchensteuer in Höhe von 3.642,57 € sowie an Solidaritätszuschlag in Höhe von 2.226,01 € zugrunde, basierend auf den folgenden Einkünften des Klägers und seiner Ehefrau im Kalenderjahr 2012:
7
Einkünfte aus …
Höhe der Einkünfte in €
Kläger
Beteiligung an der T.- Immobilien GmbH & Co. KG (§ 15 EStG)
41.885,00
Kläger
unselbständiger Arbeit (§ 19 EStG)
71.782,00
Ehefrau
unselbständiger Arbeit (§ 19 EStG)
42.150,00
Ehefrau
Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG)
2.219,00
Gesamt
158.036,00
8Diese Einkünfte teilte der Beklagte ausweislich des beigefügten Berechnungsblattes, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, wie folgt auf:
9Höhe der Einkünfte in € (s.o.)
Insolvenzforderungen in €
Masseverbindlichkeiten in €
Insolvenzfreies Vermögen in €
41.885,00
24.490,00
17.395,00
-
71.782,00
41.971,00
-
29.811,00
42.150,00
24.645,00
6.450,00
11.055,00
2.219,00
1.297,00
340,00
582,00
158.036,00 (100%)
92.403,00 (58,5%)
24.185,00 (15,3%)
41.448,00 (26,2%)
10Die für das Kalenderjahr 2012 einheitlich ermittelte Einkommensteuer, Kirchensteuer sowie den Solidaritätszuschlag teilte der Beklagte entsprechend diesem Verhältnis der Teileinkünfte anteilig den verschiedenen insolvenzrechtlichen Vermögensbereichen zu, woraus sich für das insolvenzfreie Vermögen die im Bescheid aufgeführten Einkommensteuerfestsetzung in Höhe von 11.194,02 € ergab.
11Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Einspruch ein. Zudem beantragte er (hilfsweise) eine abweichende Festsetzung der Einkommensteuer 2012 aus Billigkeitsgründen nach § 163 Abgabenordnung (AO), soweit diese auf dem Progressionseffekt durch Zurechnung der Beteiligungseinkünfte aus der T.- Immobilien GmbH & Co. KG beruhte. Zur Begründung trug der Kläger zum einen vor, dass er für seinen gesamten Arbeitslohn bereits Lohnsteuer entrichtet habe; daher sei nicht nachvollziehbar, warum die gesamte Steuer im Verhältnis des Arbeitslohns aufgeteilt werde. Zum anderen seien zwar die Beteiligungseinkünfte zutreffend der Insolvenzmasse zugeordnet worden, durch die Steuerprogression ergebe sich jedoch auch eine Mehrsteuer für den insolvenzfreien Bereich. Dies müsse in der Weise korrigiert werden, dass die gesamte auf die Einkünfte aus der Mitunternehmerschaft entfallende Mehrsteuer als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren und festzusetzen sei. Denn ihm, dem Kläger, seien Erträge aus der Beteiligung nicht zugeflossen. Die vom Beklagten vorgenommene Festsetzung verstoße daher gegen das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit.
12Mit Ablehnungsbescheid vom 06.04.2017 lehnte der Beklagte den Antrag auf abweichende Festsetzung der Einkommensteuer aus Billigkeitsgründen ab. Zur Begründung führte er insbesondere aus, dass Nachteile, welche schon im Besteuerungszweck enthalten seien und welche der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes bewusst in Kauf genommen habe, eine abweichende Steuerfestsetzung aus sachlichen Billigkeitsgründen nicht rechtfertigen könnten. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen komme nur in Betracht, wenn angenommen werden könne, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage, hätte er sie geregelt, im Sinne eines Erlasses entschieden hätte. Diese Voraussetzungen lägen im Streitfall jedoch nicht vor. Insbesondere stelle es nur einen scheinbaren Widerspruch dar, dass der pfändbare Teil des Arbeitseinkommens an die Insolvenzmasse abzuführen sei, die infolge der Einkünfte entstandene Steuer hingegen aus dem insolvenzfreien Vermögen zu entrichten sei. Denn dieses Ergebnis entspreche dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, der in § 301 der Insolvenzordnung (InsO) eine Restschuldbefreiung ausdrücklich nur für Insolvenzforderungen vorgesehen habe. Auch könne nur durch die Trennung der Vermögensmassen sichergestellt werden, dass den Altgläubigern die Insolvenzmasse als Haftungsmasse erhalten bleibe und auf der anderen Seite die Neugläubiger, im Streitfall das beklagte Finanzamt, auf eine hiervon getrennte Haftungsmasse, nämlich das insolvenzfreie Vermögen, zugreifen können. Zudem ergebe sich auch aus dem Wortlaut des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, dass aus der Zugehörigkeit einer Forderung zur Masse nicht gefolgert werden könne, dass die mit dieser Forderung zusammenhängenden Verbindlichkeiten stets Masseverbindlichkeiten darstellen. Damit werde zugleich bewusst in Kauf genommen, dass sich der Anspruch des Neugläubigers ausschließlich gegen das – regelmäßig unzulängliche – insolvenzfreie Vermögen richte. Auch Gründe für einen Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen lägen beim Kläger nicht vor. So führe dieser nach eigenen Angaben den gesamten pfändbaren Betrag seiner Einkünfte an die Insolvenzverwalterin ab. Eine Beitreibung der streitgegenständlichen Steuerschulden sei daher bis zum Ende der Abtretungsfrist ausgeschlossen. Dies bedeute, dass eine abweichende Steuerfestsetzung für den Kläger jedenfalls derzeit keinen wirtschaftlichen Vorteil bringe.
13Am 27.10.2016 zeigte die Beigeladene die Masseunzulänglichkeit an.
14Mit – inzwischen bestandskräftigem – Beschluss vom 20.06.2017 (Az. XXX), auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, wies das Amtsgericht R-Stadt den Antrag des Klägers nach § 765a ZPO, sein pfandfreies Einkommen – vor dem Hintergrund der durch die Steuerfestsetzung neu entstandenen und nicht von der Restschuldbefreiung erfassten Schulden – anzuheben, zurück. Die dagegen gerichteten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg. Der Bundesgerichtshof entschied mit Beschluss vom xx.yy.2019 (xxx), dass die Entstehung einer Steuerschuld im Bereich des insolvenzfreien Vermögens in der Regel kein ausreichender Grund für die Erhöhung des unpfändbaren Betrages ist.
15Den gegen den Ablehnungsbescheid vom 06.04.2017 gerichteten Einspruch des Klägers wies der Beklagte – ebenso wie den gegen den (Teileinkommensteuer-)Bescheid über die Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen für das Jahr 2012 gerichteten Einspruch – mit Einspruchsentscheidungen vom 21.03.2018 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass die Verteilung der einheitlich ermittelten Einkommensteuer auf die insolvenzrechtlichen Vermögensbereiche nach dem Verhältnis der Teileinkünfte der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhof (BFH) entspreche. Da Lohneinkünfte wie alle anderen Einkunftsarten gleichermaßen zur Erhöhung des Einkommensteuertarifs beitrugen, sei es im Rahmen der insolvenzrechtlichen Verteilung der Einkommensteuer nicht geboten, eine entstandene Steuernachzahlung ausschließlich der Insolvenzmasse zuzuordnen. Denn anderenfalls würde die Insolvenzverwalterin berechtigterweise einwenden können, dass die Insolvenzmasse anteilige Steuernachforderungen zu tragen hätte, die nicht nur durch die Beteiligungseinkünfte, sondern auch durch Lohneinkünfte (mit-)verursacht worden seien und die insoweit nicht den Tatbestand des § 55 Abs. 1 Nr. InsO erfüllten. Der insolvenzrechtlichen Verteilung der Einkommensteuer anhand der Teileinkünfte könne auch nicht entgegengehalten werden, dass dem Kläger tatsächlich keine Mittel zugeflossen seien. Denn die Abgrenzung zwischen den insolvenzrechtlichen Vermögensbereichen richte sich allein nach Maßgabe der §§ 38, 55 InsO. Dabei spiele es keine Rolle, ob bzw. in welchem Umfang in dem einzelnen Vermögensbereich eine Vermögensmehrung eingetreten sei.
16Zur Begründung der Ablehnung einer abweichenden Steuerfestsetzung nach § 163 AO wies der Beklagte in der Einspruchsentscheidung ergänzend insbesondere darauf hin, dass zwar die in Rede stehenden Einkommensteuernachforderungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden seien, dass aber die Rechtshandlungen, die die Zurechnung der erzielten Einkünfte zum Kläger rechtfertigen, vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den Kläger und nicht durch die Insolvenzverwalterin vorgenommen worden seien. Denn die Einkünfte aus der KG beruhten darauf, dass der Kläger vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein Gesellschaftsverhältnis eingegangen sei. Die Insolvenzverwalterin verwalte lediglich den zur Insolvenzmasse gehörenden Gesellschaftsanteil. Daher sei es sachlich auch nicht unbillig, die durch die Beteiligungseinkünfte im Zusammenspiel mit der Progression eintretende und anteilig auf die nichtselbständigen Einkünfte entfallende Steuerlast vom Kläger einzufordern. Zudem komme es unter Wirtschaftlichkeitserwägungen auf die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob und in welchem Umfang sich die Einkommensteuerforderungen 2012 gegen das insolvenzfreie Vermögen richten, nicht an. Denn da die Insolvenzverwalterin die Masseunzulänglichkeit angezeigt habe, sei mit einem (vollständigen) Ausgleich der ihr gegenüber festgesetzten Einkommensteuerforderungen 2012, sog. Altmasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO, ohnehin mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu rechnen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidungen vom 21.03.2018 Bezug genommen.
17Mit den am 23.04.2018 unter den Aktenzeichen 7 K 1232/18 E und 7 K 1242/18 E erhobenen Klagen, die mit Beschluss vom 04.07.2018 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem vorliegenden Aktenzeichen 7 K 1232/18 E verbunden worden sind, verfolgt der Kläger seine Begehren weiter. Ergänzend zu seinem Vorbringen im Einspruchsverfahren trägt er zur Begründung im Wesentlichen vor, dass seiner Auffassung nach eine Aufteilung der einheitlich ermittelten Einkommensteuer nach dem Verhältnis der Teileinkünfte nicht zwingend sei, nur weil der BFH diese Form der Aufteilung in anderen Fällen als sachgerecht erachtet habe. Denn dieser Aufteilungsmaßstab stoße dann an seine Grenzen, wenn hohe Gewinne einer Personengesellschaft nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Gesellschafters erzielt würden und überdies der Gesellschafter selbst hohe Einkünfte (aus unselbständiger Arbeit) erziele. Im konkreten Streitfall führe diese vom Beklagten im Streitjahr vorgenommene Aufteilung dann nämlich im Ergebnis zu einer die Leistungsfähigkeit des Klägers übersteigenden Übermaßbesteuerung. Dies gelte auch für die Folgejahre 2013 und 2014 sowie insbesondere für das Jahr 2015, in welchem aufgrund der Kündigung der Beteiligung an der T.- Immobilien GmbH & Co. KG durch die Beigeladene zum 31.12.2015 ein nicht unerheblicher Abfindungsanspruch entstehen werde. Er, der Kläger, müsse so nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens voraussichtlich bis ins hohe Rentenalter diese Einkommensteuer abzahlen. Die vom Beklagten vorgenommene Aufteilung sei daher auch unbillig. Zudem, darauf weist er im Rahmen der mündlichen Verhandlung erstmals hin, sei sein Beschäftigungsverhältnis zum 31.03.2020 beendet worden, sodass er nunmehr arbeitslos sei und wohl in ca. 1,5 Jahren eine Rente von rund 1.000,00 € monatlich beziehen werde.
18Der Kläger beantragt,
19den Bescheid vom 13.10.2017 über die Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen für das Jahr 2012 zur Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.03.2018 dahingehend zu ändern, dass bei der Steuerfestsetzung der Progressionseffekt durch Zurechnung der Beteiligungseinkünfte aus der T.- Immobilien GmbH & Co. KG unberücksichtigt bleibt (vgl. zur Berechnung den Schriftsatz vom 26.07.2019 samt Anlage),
20hilfsweise, für den Fall des Unterliegens oder Teilunterliegens, den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 06.04.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.03.2018 zu verpflichten, die Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen für das Jahr 2012 zur Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO insoweit abweichend festzusetzen, dass bei der Festsetzung der Progressionseffekt durch Zurechnung der Beteiligungseinkünfte aus der T.- Immobilien GmbH & Co. KG unberücksichtigt bleibt,
21hilfsweise, für den Fall des Unterliegens oder Teilunterliegens, die Revision zuzulassen.
22Der Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen,
24hilfsweise, für den Fall des Unterliegens oder Teilunterliegens, die Revision zuzulassen.
25Er trägt, ergänzend zu seinen Ausführungen im Einspruchsverfahren, insbesondere vor, dass der vom Kläger bemängelte Progressionseffekt nicht nur durch die der Insolvenzmasse zuzurechnenden Beteiligungseinkünfte ausgelöst worden sei. Vielmehr hätten alle berücksichtigten Einkünfte gleichermaßen zur Steuerlast und zur Erhöhung des Durchschnittssteuersatzes beigetragen, sodass z. B. auch die Beigeladene als Insolvenzverwalterin infolge des vom Kläger erzielten Arbeitseinkommens für die Masseeinkünfte eine höhere Steuerlast zu entrichten habe, als auf die Beteiligungseinkünfte bei isolierter Steuerermittlung entfallen wären. Die mangelnde Abstimmung von Insolvenz- und Steuerrecht könne auch keinen Billigkeitserlass rechtfertigen, da der Gesetzgeber für Insolvenzfälle bewusst keine besonderen Vorschriften im Rahmen der Ermittlung der Einkommensteuerschuld vorgesehen, sondern an der einheitlichen Steuerermittlung unter Einschluss der Progressionseffekte ohne Einschränkung festgehalten habe. Die vorliegende Fallkonstellation stelle insoweit auch keinen atypischen Fall dar. Sachliche Gründe für eine Billigkeitsentscheidung seien darüber hinaus unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des jeweiligen Steuerpflichtigen zu beurteilen. Im Übrigen stehe dem Kläger nach Ablauf der sechsjährigen Abtretungsfrist (§ 287 Abs. 2 InsO) im August 2018 sein Arbeitseinkommen in Höhe von mehr als 80.000,00 € wieder vollumfänglich zu und unterliege dann nicht länger dem Insolvenzbeschlag. Gerade in Anbetracht dieses – im Vergleich zum Durchschnittseinkommen – relativ hohen Arbeitseinkommens sei es fernliegend, in der streitgegenständlichen Steuerbelastung des insolvenzfreien Vermögens ein unbilliges Ergebnis zu sehen.
26Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
27Das Amtsgericht R-Stadt hat dem Kläger mit Beschluss vom 25.10.2018 (Az. XXX) gemäß § 300 Abs. 1 Satz 1 InsO Restschuldbefreiung erteilt.
28In der Sache hat am 23.09.2020 eine mündliche Verhandlung vor dem Senat stattgefunden. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
29Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.
30E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
31A. Die Klage ist unbegründet.
32Der Bescheid über die Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen für das Jahr 2012 zur Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag, zuletzt geändert am 13.10.2017, sowie der Ablehnungsbescheid vom 06.04.2017, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.03.2018, sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§§ 100 Abs. 1 Satz 1, 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der Beklagte hat zu Recht die für das Jahr 2012 einheitlich ermittelte Einkommensteuer entsprechend dem Verhältnis der Teileinkünfte den verschiedenen insolvenzrechtlichen Vermögensbereichen zugeordnet (hierzu I.) und es auch ermessensfehlerfrei abgelehnt, die Steuer aus Billigkeitsgründen abweichend festzusetzen (hierzu II.). Der Kläger hat weder einen Anspruch auf die begehrte Änderung des Bescheides über die Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen für das Jahr 2012 noch auf eine abweichende Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO.
33I. Im Falle der Insolvenz ist die Einkommensteuer verschiedenen insolvenzrechtlichen Forderungskategorien zuzuordnen. Zu unterscheiden ist insoweit zwischen Insolvenzforderungen, Masseverbindlichkeiten als Forderungen gegen die Insolvenzmasse sowie Forderungen gegen das insolvenzfreie Vermögen. Insolvenzforderungen sind Vermögensansprüche gegen den Schuldner, die im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits begründet sind (§ 38 InsO). Masseverbindlichkeiten sind hingegen u.a. Verbindlichkeiten, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Für die Abgrenzungsfrage, ob eine Forderung als Insolvenzforderung oder als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren ist, ist ausschließlich auf den Zeitpunkt der insolvenzrechtlichen Begründung und nicht auf die steuerliche Entstehung oder Fälligkeit der Forderung abzustellen (vgl. BFH-Urteil vom 16.05.2013 IV R 23/11, BFHE 241, 233, BStBl II 2013, 759; Finanzgericht Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 19.08.2011 11 K 4201/10 E, EFG 2012, 544).
34Sind in einem Veranlagungszeitraum mehrere insolvenzrechtliche Forderungskategorien betroffen, so ist die einheitlich ermittelte Einkommensteuerschuld aufzuteilen. Die Aufteilung der Jahressteuerschuld erfolgt dabei nach ständiger Rechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, entsprechend dem Verhältnis der auf die jeweiligen Vermögensbereiche entfallenden Einkünfte zueinander (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 10.07.2019 X R 31/16, BFHE 265, 300, BFH/NV 2020, 152, m.w.N.).
35Unter Zugrundelegung der vorgenannten Rechtsgrundsätze hat der Beklagte die auf den insolvenzfreien Bereich entfallende Einkommensteuer in nicht zu beanstandender Weise auf einen Betrag von 11.194,02 € beziffert.
361. Die auf die Beteiligung an der T.- Immobilien GmbH & Co. KG entfallenden Einkünfte fielen für den Zeitraum ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 02.08.2012 in die Insolvenzmasse. Hierzu zählt gemäß § 35 Abs. 1 InsO das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt. Der Beklagte hat dementsprechend in nicht zu beanstandender Weise die dem Kläger aus seiner Beteiligung an der T.- Immobilien GmbH & Co KG im Streitjahr – unstreitig – zustehenden Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 EStG) in Höhe insgesamt 41.885,00 € nach Zeitanteilen auf der Grundlage des Kalenderjahres (Schaltjahr) 2012 mit 366 Tagen wie folgt aufgeteilt: Insolvenzforderungen ab dem 01.01.2012 bis zum 02.08.2012: 214/366 = 24.490,00 €; Einkünfte Massebereich ab dem 03.08.2012 bis zum 31.12.2012: 152/366 = 17.395,00 €.
372. Weiter hat der Beklagte die für das Streitjahr einheitlich ermittelte Einkommensteuer in Höhe von insgesamt 42.681,00 € (Summe der Einkünfte: 158.036,00 € = 100 %) in Einklang mit der Rechtsprechung des BFH nach dem Verhältnis der auf die Insolvenzforderungen entfallenden Einkünfte (92.403,00 € = ca. 58,5 %), der auf die Insolvenzmasse entfallenden Einkünfte (24.185,00 € = ca. 15,3 %) und der auf das insolvenzfreie Vermögen entfallenden Einkünfte (41.448,00 € = ca. 26,2 %) aufgeteilt. Hiernach ergibt sich für das insolvenzfreie Vermögen die vom Beklagten bezifferte Einkommensteuer in Höhe von 11.194,02 € (ca. 26,2 % von 42.681,00 €).
383. Soweit der Kläger vorträgt, dass die vom Beklagten vorgenommene Berechnung zu einem Verstoß gegen das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit führe, da sich trotz der Zuordnung der Beteiligungseinkünfte zur Insolvenzmasse durch die Steuerprogression auch eine Mehrsteuer für den insolvenzfreien Bereich ergebe, kann dem nicht gefolgt werden.
39Zwar trifft es zu, dass die Aufteilung der für das Jahr 2012 einheitlich ermittelten Einkommensteuer entsprechend dem Verhältnis der Teileinkünfte im Ergebnis dazu führt, dass sich über den Progressionseffekt auch eine aus den Beteiligungseinkünften resultierende Mehrsteuer für den Bereich des insolvenzfreien Vermögens ergibt. Dieser Effekt ist dem vom Beklagten angewandten Aufteilungsmaßstab jedoch immanent und ergibt sich, worauf der Beklagte zutreffend hinweist, wechselseitig genauso auch für die anderen insolvenzrechtlichen Vermögensbereiche. Der BFH führt insoweit ausdrücklich aus, dass die – im Streitfall zur Anwendung gekommene – Aufteilung entsprechend dem Verhältnis der Teileinkünfte aber gerade in Ansehung der progressiven Steuerbelastung sachgerecht ist, weil zur Jahressteuerschuld ununterscheidbar alle Einkommensteile beitragen (vgl. BFH-Urteil vom 10.07.2019 X R 31/16, a.a.O.). Dem schließt sich der erkennende Senat an. Insoweit ist auch zu bedenken, dass sich für den Kläger umgekehrt – im hypothetischen Fall einer verlustbringenden Gesellschaftsbeteiligung – durch die Progressionswirkung eine Steuerminderung für den Bereich des insolvenzfreien Vermögens ergeben würde. D.h. je nach Fallkonstellation kann sich aus dem Progressionseffekt für den Bereich des insolvenzfreien Vermögens auch ein Steuervorteil ergeben. Zudem ist zu beachten, dass die Aufteilung der einheitlich ermittelten Einkommensteuer nach dem Verhältnis der Teileinkünfte auch aus Praktikabilitätsgründen vorzugswürdig ist; denn auch bei der Wahl jedes anderen Aufteilungsschlüssels würde es ebenso zu gewissen Ungenauigkeiten kommen, da es sich bei jeder Art von Aufteilung letztlich nur um eine Schätzung handelt (ebenso Finanzgericht Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 19.08.2011 11 K 4201/10 E, a.a.O.). Aus diesem Grund erachtet der erkennende Senat auch die Durchführung von Teil- bzw. Schattenveranlagungen entsprechend §§ 268 ff. AO, wie sie von Teilen der Literatur befürwortet werden, nicht als vorzugswürdig (so etwa Uhländer in: Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, 11. Auflage 2015, Rn. 1461).
40Einen Verstoß gegen das Prinzip der Leistungsfähigkeit, resultierend aus dem im Streitfall angewandten Aufteilungsmaßstab, vermag der erkennende Senat im Übrigen auch deshalb nicht erkennen, da sich der Kläger für das Streitjahr einer Einkommensteuerschuld in Höhe von 11.194,02 € (verbliebene Zahlungsverpflichtung nach Anrechnung der einbehaltenen Lohnsteuer: 3.261,12 €) gegenübersieht, gleichzeitig seit dem Jahr 2012 aber zunächst Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von jährlich mehr als 70.000,00 € bezog. Insoweit ist der vorliegende Sachverhalt – jedenfalls, was das insoweit allein zu überprüfende Streitjahr 2012 angeht – auch nicht vergleichbar mit dem vom Sächsischen Finanzgericht mit Urteil vom 05.02.2020 (5 K 1387/19, EFG 2020, 729) entschiedenen Fall, in dem der dortige Kläger sich einer Steuerschuld in Höhe von 5.996,13 € gegenübersah, während er Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von (nur) 17.840,00 € vorweisen konnte.
41Soweit der Kläger darüber hinaus vorträgt, dass ihm Einkünfte aus der Beteiligung an der T.- Immobilien GmbH & Co. KG gar nicht zugeflossen seien, führt auch dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn auf einen tatsächlichen Zufluss von Einnahmen aus der Beteiligung kommt es insoweit gerade nicht an (vgl. BFH-Urteil vom 10.07.2019 X R 31/16, a.a.O.).
42Ein Verstoß gegen das Prinzip der Leistungsfähigkeit kann sich auch nicht daraus ergeben, dass die Insolvenzverwalterin die Beteiligung des Klägers an der T.- Immobilien GmbH & Co. KG zum 31.12.2015 gekündigt hat und der Kläger daher für das Jahr 2015 einen nicht unerheblichen Abfindungsanspruch mit entsprechender Progressionswirkung erwartet. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist lediglich die Steuerfestsetzung für das Jahr 2012.
43II. Der Beklagte hat auch den Antrag des Klägers auf abweichende Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen ermessensfehlerfrei abgelehnt.
441. Nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre.
45Die nach § 163 AO zu treffende Billigkeitsentscheidung ist eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde im Sinne des § 5 AO, die grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliegt (§§ 102, 121 FGO). Sie kann im finanzgerichtlichen Verfahren nur dahin geprüft werden, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Dabei muss das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abstellen (vgl. BFH-Urteil vom 17.07.2019 III R 64/18, BFH/NV 2020, 7). Stellt das Gericht eine Ermessensüberschreitung oder einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur in den Fällen der sog. Ermessensreduzierung auf Null ist es befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen (vgl. BFH-Urteil vom 27.09.2018 V R 32/16, BFHE 262, 492, BFH/NV 2019, 367).
462. Im Ablehnungsbescheid vom 06.04.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.03.2018 können Ermessensfehler des Beklagten nicht festgestellt werden.
47Eine Unbilligkeit kann in der Sache liegen (sog. sachliche Unbilligkeit) oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen haben (sog. persönliche Unbilligkeit). Die Festsetzung einer Steuer ist aus sachlichen Gründen unbillig, wenn sie zwar dem Wortlaut des Gesetzes entspricht, aber den Wertungen des Gesetzes zuwiderläuft. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber die Grundlagen für die Steuerfestsetzung anders als tatsächlich geschehen geregelt hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt hätte. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt dagegen keine Billigkeitsmaßnahme (vgl. BFH-Urteil vom 27.09.2018, V R 32/16, a.a.O., m.w.N.).
48Unter Anwendung der vorgenannten Rechtsgrundsätze hat der Beklagte das Vorliegen einer sachlichen Unbilligkeit ermessensfehlerfrei im Wesentlichen mit der Begründung verneint, dass Nachteile, welche schon im Besteuerungszweck enthalten seien und welche der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes bewusst in Kauf genommen habe, eine abweichende Steuerfestsetzung aus sachlichen Billigkeitsgründen nicht rechtfertigen könnten. Der Beklagte verweist zutreffend darauf, dass das im Streitfall vom Kläger als unbillig empfundene Ergebnis gerade darauf beruhe, dass der Gesetzgeber für Insolvenzfälle bewusst keine besonderen Vorschriften im Rahmen der Ermittlung der Einkommensteuerschuld vorgesehen, sondern an der einheitlichen Steuerermittlung unter Einschluss der Progressionseffekte ohne Einschränkung festgehalten habe. Die insoweit fehlende Abstimmung zwischen Insolvenzrecht und Steuerrecht und die hieraus resultierenden Besteuerungsfolgen seien vom Gesetzgeber folglich bewusst in Kauf genommen worden und könnten daher, da im Streitfall auch kein atypischer Sachverhalt gegeben sei, nicht zur Annahme einer sachlichen Unbilligkeit führen. Ermessensfehler sind insoweit nicht ersichtlich.
49Auch das Vorliegen einer persönlichen Unbilligkeit hat der Beklagte – unter Berücksichtigung der im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vorliegenden Sach- und Rechtslage – ermessenfehlerfrei abgelehnt. Insbesondere hat er insoweit darauf hingewiesen, dass sich durch die begehrte Billigkeitsmaßnahme an der wirtschaftlichen Situation des Klägers (seinerzeit) nichts ändern würde, da dieser (seinerzeit) nach eigenen Angaben den gesamten pfändbaren Betrag seiner Einkünfte an die Insolvenzverwalterin abgeführt habe. Eine Beitreibung der streitgegenständlichen Steuerschulden sei daher bis zum Ende der Abtretungsfrist (August 2018) ohnehin ausgeschlossen. Im Übrigen stehe dem Kläger, was der Beklagte ermessensfehlerfrei gewürdigt hat, nach Ablauf der sechsjährigen Abtretungsfrist im August 2018 sein Arbeitseinkommen in Höhe von mehr als 80.000,00 € wieder vollumfänglich zu und unterliege dann nicht länger dem Insolvenzbeschlag. Gerade in Anbetracht dieses – im Vergleich zum Durchschnittseinkommen – relativ hohen Arbeitseinkommens könne in der streitgegenständlichen Steuerbelastung des insolvenzfreien Vermögens ein im Einzelfall unbilliges Ergebnis nicht gesehen werden. Einen Ermessensfehler vermag der erkennende Senat in dieser Würdigung nicht zu erkennen. Dass das Beschäftigungsverhältnis des Klägers, wie dieser erstmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, zum 31.03.2020 beendet worden ist, er nunmehr arbeitslos ist und in ca. 1,5 Jahren eine Rente von rund 1.000,00 € monatlich beziehen wird, konnte der Beklagte im Rahmen der hier zu überprüfenden Ermessensentscheidung nicht berücksichtigen, da diese Sachlage seinerzeit noch nicht eingetreten war bzw. – jedenfalls beim Beklagten – noch nicht bekannt war.
50Da in dem vorliegenden Verfahren lediglich die Steuerfestsetzung für das Jahr 2012 zu überprüfen ist, kann sich ein Ermessensfehler auch nicht daraus ergeben, dass der Kläger für das Jahr 2015 einen nicht unerheblichen Abfindungsanspruch gegenüber der T.- Immobilien GmbH & Co. KG erwartet.
51B. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1 u. 3, 139 Abs. 4 FGO.
52C. Die Revision war nicht zuzulassen. Es handelt sich um die Anwendung feststehender Rechtsgrundsätze auf den Einzelfall. Die Revision war auch nicht nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO im Hinblick auf das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 05.02.2020 (5 K 1387/19, a.a.O.) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, da die vom erkennenden Senat getroffene Entscheidung der ständigen Rechtsprechung des BFH entspricht (vgl. BFH-Beschluss vom 12.05.2009 VII B 210/08, juris).
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 14.08.2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob es sich bei dem Ereignis vom 24.11.2016 um einen Arbeitsunfall handelt.
2 Der 1946 geborene Kläger ist pensionierter Postbeamter und bezieht eine Altersrente. Er ist Eigentümer eines Waldgrundstücks und verkauft aus seinem Wald stammendes Brennholz.
3 Im Herbst 2016 fragte ihn sein damals 85-jähriger Nachbar F., der am 02.07.2020 verstorben ist, ob der Kläger ihm bei der Fällung von drei auf seinem Waldgrundstück stehenden Bäumen helfen könne. Daraufhin fuhr der Kläger am Unfalltag, dem 24.11.2016, mit seinem Traktor auf das Waldgrundstück seines Nachbarn, um dort die Bäume zu fällen und diese anschließend zu Holz zu verarbeiten. Der Nachbar, der mit seinem Pkw ebenfalls auf das Waldgrundstück gefahren war, zeigte ihm die zu fällenden Bäume und blieb während der Arbeiten anwesend. Zur Fällung der Bäume schnitt der Kläger zunächst mit seiner Motorsäge Fällkeile in die Bäume und setzte je einen Fällschnitt auf der Gegenseite. Sodann zog er die Bäume mit der an seinem Traktor befestigten Winde heraus. Die gefällten Bäume band er zusammen und befestigte sie mit einer Kette an seinem Traktor. Er zog die Bäume auf eine mit Gras bewachsene freie Fläche. Auf dem Gras lösten sich die Bäume. Der Kläger stellte daraufhin den Traktor mit laufendem Motor ab und versuchte, die gefällten Bäume wieder an den Traktor anzuketten. Hierbei kam der Traktor ins Rollen. Der Kläger versuchte sodann, den Traktor wieder zu besteigen, um ihn anzuhalten. Hierbei rutschte er vom Trittbrett des Traktors ab und wurde auf der rechten Körperseite vom linken Hinterrad des Traktors teilweise überrollt.
4 Bei diesem Unfall erlitt der Kläger u.a. ein schweres Thoraxtrauma, eine Rippenserienfraktur rechts, einen Pneumothorax rechts, ein Emphysem rechts, eine vordere und hintere Beckenringfraktur rechts und ein leichtes Schädelhirntrauma (Abschlussbericht der Klinik für Orthopädie des H.-Klinikums vom 19.01.2017 über die stationäre Behandlung vom 24.11.2016 bis zum 20.01.2017 und der B.-Klinik Ü. vom 10.02.2017 über die stationäre Behandlung vom 20.01.2017 bis zum 10.02.2017).
5 In einem von der Beklagten zugesandten „Fragebogen Umfang der Mithilfe“ verneinte der Nachbar unter dem 07.03.2017 die Fragen, ob der Kläger schon früher in dem landwirtschaftlichen Betrieb des Nachbarn mitgeholfen habe und ob der Kläger eine Tätigkeit in landwirtschaftlichen Betrieben an mehr als 21 Tagen im Jahr vor dem Unfall ausgeübt habe. Die Frage, ob die Hilfeleistung am Unfalltag nur ausnahmsweise geschehen sei, bejahte er. Auf die Frage, wie lange der Kläger bis zum Unfallzeitpunkt tätig gewesen sei, antwortete er: „2 Stunden“. Auf die Frage, wie lange die Tätigkeit insgesamt gedauert hätte, wenn der Unfall nicht eingetreten wäre, gab er an: „4 Stunden“. Weiter gab er an, der Kläger habe die Hilfeleistung nicht von einer Entschädigung oder Bezahlung abhängig gemacht. Es habe sich um eine Tätigkeit im Rahmen der Nachbarschaftshilfe auf Gegenseitigkeit gehandelt. Auf die Frage, ob er mit dem Kläger befreundet sei, kreuzte er „nein“ an und ergänzte „Nachbar“. Im „Fragebogen Mithilfe im Auftrag“ gab der Nachbar an, es habe zu der beabsichtigten bzw. ausgeführten Tätigkeit weder einen Auftrag noch eine Weisung gegeben. Der „Betriebsunternehmer“ habe an der beabsichtigten bzw. ausgeführten Tätigkeit kein Interesse gehabt. Die zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Tätigkeit des Klägers habe nicht seinem tatsächlichen bzw. mutmaßlichen Willen entsprochen. Ohne die Tätigkeit des Klägers hätte auch niemand anderes zeitnah die Tätigkeit ausführen müssen. Eine Entlohnung sei nicht vereinbart worden. Der Kläger sei nicht schon vorher im Unfallbetrieb tätig gewesen. Auf die Frage „Welche Arbeitsgeräte oder anderen für die Tätigkeit nützlichen Geräte wurden mitgeführt?“ antwortete der Nachbar „Traktor und Winde“.
6 Mit Bescheid vom 10.03.2017, der mit „Ablehnung eines Versicherungsfalls“ überschrieben war, lehnte die Beklagte die „Entschädigung des Unfalls (...)“ ab, „weil es sich nicht um einen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall gehandelt“ habe.
7 Zur Begründung seines hiergegen erhobenen Widerspruchs führte der Kläger unter Vorlage eines entsprechenden Schreibens seiner Krankenkasse aus, diese habe eine Kostenübernahme abgelehnt, weil für den Unfall Versicherungsschutz nach dem SGB VII bestehe.
8 Im Zuge weiterer Ermittlungen zum Unfallgeschehen hörte die Beklagte den Kläger und den Nachbarn nochmals an. Beide legten ihre Aussagen in einem auf den 13.12.2017 datierten Schreiben zusammengefasst vor. Hierin erklärten sie, sie hätten die Fragebögen zum Unfall aus Unwissenheit teilweise falsch ausgefüllt. Tatsächlich habe der Kläger seinem Nachbarn bereits im Jahr zuvor bei Waldarbeiten geholfen. Der Nachbar habe den Kläger auf einer Beerdigung gefragt, ob er für ihn einige Bäume fällen könne. Der Nachbar sei zu diesem Zeitpunkt bereits 85 Jahre alt gewesen und habe die Arbeiten nicht mehr selbst verrichten können. Die Bäume hätten gefällt werden müssen, weil sie bereits dürr gewesen seien. Bei weiterem Zuwarten wäre das Holz wertlos geworden. Hätte der Kläger nicht geholfen, hätte der Nachbar eine andere Person fragen müssen. Der Kläger habe einen eigenen Wald und verfüge deshalb über die notwendigen Maschinen und Geräte. Der Nachbar habe zunächst ein Lohnunternehmen fragen wollen, habe angesichts des geringen Umfangs der auszuführenden Arbeiten aber wieder hiervon Abstand genommen. Wenn der Unfall sich nicht ereignet hätte, hätte der Kläger die Stämme zum Wegrand gezogen. Dort hätten sie entastet, in Meterstücke zerschnitten und abtransportiert werden sollen. Die Aushilfe des Klägers sei „absolut“ im Interesse des Nachbarn gewesen.
9 In einem am 17.01.2018 ausgefüllten „Fragebogen Gesamtunternehmen“ antwortete der Kläger auf die Frage, ob er einmalig für seinen Nachbarn Forstarbeiten ausgeübt habe oder ob er regelmäßig Forstarbeiten für weitere Personen/Unternehmen ausführe: „einmalig nur Herr F.“. Weiter erklärte er, nicht über eine Gewerbeanmeldung für Forstarbeiten zu verfügen.
10 Mit Widerspruchsbescheid vom 15.05.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger sei im Unfallzeitpunkt nicht als „Wie-Beschäftigter“ in der gesetzlichen Unfallversicherung gem. § 2 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versichert gewesen. Er sei nicht arbeitnehmerähnlich, sondern unternehmerähnlich tätig geworden. Er habe sich nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Betriebsunternehmer befunden. Aufgrund seiner besonderen Fachkenntnisse und den mitgebrachten eigenen Geräten, die für das Fällen der Bäume notwendig gewesen seien, sei er selbstbestimmt wie ein Unternehmer tätig geworden. Eine untergeordnete Einordnung (wie bei einem Arbeitnehmer) in den Betrieb des Nachbarn habe deshalb nicht vorgelegen.
11 Zur Begründung seiner hiergegen am 18.06.2018 zum Sozialgericht (SG) Konstanz erhobenen Klage hat der Kläger im Wesentlichen vortragen, das Unfallereignis vom 24.11.2016 sei als Arbeitsunfall zu qualifizieren. Die Voraussetzungen einer Wie-Beschäftigung hätten vorgelegen. Es habe sich um eine unentgeltliche, uneigennützige Tätigkeit zu Gunsten seines langjährigen Nachbarn ohne vertragliche Verpflichtung gehandelt. Die Häufigkeit seiner Mithilfe im Betrieb des Nachbarn spiele keine Rolle. Es habe sich um eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit gehandelt. Die Tätigkeit habe dem Unternehmen des Nachbarn gedient. Sie habe einen wirtschaftlichen Wert gehabt. Es habe sich um eine deutlich mehr als nur geringfügige, unter Nachbarn übliche Hilfe gehandelt. Die Tätigkeit habe dem wirklichen Willen des Nachbarn entsprochen und hätte ihrer Art nach auch von Arbeitnehmern verrichtet werden können. Er habe keine unternehmerähnliche Tätigkeit ausgeübt. Der Nachbar habe selbst entschieden, welche Bäume zu fällen und abzutransportieren gewesen seien. Der Nachbar habe auch selbst über das entsprechende Fachwissen verfügt und habe die Tätigkeit nur wegen seines Alters und Gesundheitszustandes nicht mehr ausführen können. Der Nachbar hätte die Arbeiten deshalb ohne weiteres einem Arbeitnehmer übertragen können. Ein Lohnunternehmen hätte einen derart geringen Auftrag gar nicht angenommen. Die verrichtete Tätigkeit sei auch im konkreten Einzelfall arbeitnehmerähnlich gewesen. Familiäre Beziehungen zu seinem Nachbarn hätten nicht bestanden. Im Übrigen sei die Tätigkeit schon wegen ihrer Gefährlichkeit deutlich weitgehender gewesen, als dies üblicherweise im Rahmen eines Nachbarschaftsverhältnisses unentgeltlich erwartet werden könne.
12 Mit Urteil vom 14.08.2019 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.05.2018 verpflichtet, das Ereignis vom 24.11.2016 als Arbeitsunfall nach dem SGB VII anzuerkennen. Gemessen an der Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 27.11.1986 (2 RU 13/86) sei der Kläger unter arbeitnehmerähnlichen und nicht unter unternehmerähnlichen Umständen tätig geworden. Der Kläger übe die Tätigkeit nicht mit einer gewissen Regelmäßigkeit aus. Das Argument, dass es sich um eine Tätigkeit gehandelt habe, die von einem Lohnunternehmen hätte ausgeführt werden können, sei untauglich, um eine unternehmerähnliche Tätigkeit zu begründen, da der Nachbar für diese Tätigkeit ebenso einen Arbeitnehmer hätte anstellen können und ein Lohnunternehmen den Auftrag wegen seiner Bedeutungslosigkeit ohnehin nicht angenommen hätte. Nicht von Bedeutung sei auch, ob der Verletzte allein über die für die Durchführung der erbrachten oder beabsichtigten Tätigkeit erforderlichen Fachkenntnisse verfüge und/oder hierfür benötigtes Werkzeug oder Maschinen zur Verfügung stelle. Ebenso reiche der Umstand nicht aus, dass der Verletzte im Wesentlichen den technischen Ablauf der Arbeit bestimmt habe.
13 Die Beklagte hat gegen das ihr am 25.11.2019 zugestellte Urteil am 17.12.2019 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, der Kläger habe unternehmerähnlich gehandelt. Es sei nachweislich lediglich die Vollendung eines Werks (Fällung von drei Bäumen) vereinbart worden. Hinweise, dass der Kläger dem Waldbesitzer seine Arbeitskraft zur Verfügung gestellt habe, fehlten. Ein Weisungsabhängigkeitsverhältnis habe nicht bestanden. Ein Auftraggeber könne dem Unternehmer den Umfang des Auftrages bis ins Detail vorgeben. Er müsse regelmäßig Bestimmungen darüber treffen, welche Tätigkeiten verrichtet werden sollten. Gewichtiges Indiz für eine unternehmerähnliche Tätigkeit sei, dass der Kläger Eigentümer der im Unfallzeitpunkt benutzten Arbeitsmittel gewesen sei. Einem Arbeitnehmer in abhängiger Beschäftigung werde in der Regel das notwendige Werkzeug gestellt. Zudem handele es sich bei den benutzten Arbeitsmitteln nicht um geringwertige Arbeitsmittel, die auch ein Handwerker üblicherweise in seinem Eigentum habe. Ein Traktor sei ein spezielles und hochwertiges Arbeitsgerät, welches ein Beschäftigter in der Regel nicht in eine abhängige Beschäftigung einbringe und ohne die erforderliche Sachkunde auch nicht bedienen könne. Dass der Kläger für seine Tätigkeit kein Entgelt erhalten habe, spreche ebenfalls für eine unternehmerische Tätigkeit. Während in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis die Entlohnung die Hauptleistung des Arbeitgebers sei, auf die freiwillig grundsätzlich nicht verzichtet werde, sei es für einen Unternehmer weniger atypisch, dass er seine Leistung im Einzelfall auch mal ohne konkrete Gegenleistung in Geld erbringe, wenn er sich hiervon andere Vorteile, wie z.B. den Aufbau einer dauerhaften Geschäftsbeziehung verspreche. Im Übrigen spreche gegen eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit, dass die Verrichtung wegen und im Rahmen einer Sonderbeziehung zum Nachbarn erfolgt sei. Der Kläger habe erklärt, zur Mithilfe „aus nachbarschaftlicher Verbundenheit“ bereit gewesen zu sein. Bei wesentlich durch Nachbarschaftshilfe geprägten Arbeiten würden die Tätigkeiten nicht allein durch ihre Gefährlichkeit und Dauer zu einer versicherten arbeitnehmerähnlichen Tätigkeit. Aus Sicht der Beklagten stehe fest, dass der Kläger den wesentlich lebensälteren Nachbarn gefälligkeitshalber von den Baumfällarbeiten habe freistellen wollen. Dass diese Arbeiten nach Ansicht des Klägers risikobehaftet gewesen seien, sei ein Umstand, der gerade für eine Verrichtung im Rahmen einer Sonderbeziehung spreche. Zudem schlössen es sozialpolitische und rechtssystematische Gründe aus, Personen, die wie Selbständige und zusätzlich ausschließlich aufgrund freundschaftlicher Nähe handelten, in den Versicherungsschutz der Wie-Beschäftigung einzubeziehen.
14 Die Beklagte beantragt,
15 das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 14.08.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
16 Der Kläger beantragt,
17 die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
18 Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend. Das SG habe zutreffend darauf abgestellt, dass eine unternehmerische Tätigkeit eine gewisse Regelmäßigkeit der Tätigkeitsausübung voraussetze. Außer der Hilfe für den Nachbarn im Jahr 2016 habe er nur im Jahr 2015 einmalig für wenige Stunden Tätigkeiten in diese Richtung entfaltet, als er Bäume aus dem Wald gezogen habe. Eine unternehmerische Tätigkeit liege nicht vor. Der Einsatz eigener Fahrzeuge und Werkzeuge sei ohne Bedeutung. Der Nachbar habe ihn angewiesen, welche Bäume in seinem Wald zu fällen seien. Die Mithilfe beim Fällen und Herausziehen der Bäume sei eine Tätigkeit von nicht unerheblichem wirtschaftlichen Wert gewesen, für die sonst ein Arbeiter hätte beschäftigt werden müssen. Die Tätigkeit habe ausschließlich dem Interesse des Nachbarn gedient. Er habe auch subjektiv ausschließlich das Geschäft des Nachbarn besorgen wollen. Der von der Beklagten angeführte Vergleich mit einem Werkvertrag sei nicht zielführend, weil er weder zur Herstellung eines Werks verpflichtet gewesen sei, noch einen Erfolg geschuldet habe und auch keine Vergütung vereinbart gewesen sei. Verrichtungen aufgrund freundschaftlicher oder nachbarschaftlicher Beziehungen schlössen eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit nicht von vornherein aus, sondern nur dann, wenn es sich um einen aufgrund der konkreten sozialen Beziehung geradezu selbstverständlichen Hilfsdienst handele. Dies treffe auf die vorliegend vereinbarte Tätigkeit nicht zu.
19 Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 23.09.2020 zu der Ausgestaltung seiner zum Unfallzeitpunkt ausgeübten Tätigkeit persönlich angehört. Hinsichtlich des Inhalts der Äußerungen des Klägers wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
20 Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte sowie nach § 151 SGG form- und fristgerechte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässige Klage ist unbegründet. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, das Unfallereignis vom 24.11.2016 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Der Kläger hat keinen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden Arbeitsunfall erlitten.21 Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Kläger hat den Unfall nicht infolge einer versicherten Tätigkeit erlitten. Er stand im Unfallzeitpunkt weder als Beschäftigter nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII (dazu 1.) noch als Wie-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 SGB VII unter Versicherungsschutz (dazu 2.).22 1. Der Kläger war nicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Beschäftigter des Unternehmens seines Nachbarn unfallversichert. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist eine Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisung und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Vorliegend bestand zwischen dem Kläger und seinem Nachbarn weder ein Arbeitsverhältnis, noch war er in die Arbeitsorganisation seines Nachbarn eingegliedert.23 2. Der Kläger stand auch nicht als Wie-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII unter Versicherungsschutz. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII sind Personen in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, die wie nach Absatz 1 Nr. 1 Versicherte tätig werden.Voraussetzung einer Wie-Beschäftigung nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ist, dass eine einem fremden Unternehmen dienende, dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechende Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert erbracht wird, die ihrer Art nach von Personen verrichtet werden könnte, die in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 20; BSG, Urteil vom 27.10.2009 – B 2 U 26/08 R –, juris Rn. 25; BSG, Urteil vom 13.09.2005 – B 2 U 6/05 R –, juris Rn. 7 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Zwar handelte es sich um eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert (dazu a), die einem fremden Unternehmen diente (dazu b). Die Tätigkeit war aber nicht arbeitnehmerähnlich (dazu c).24 a) Die Tätigkeit, bei der der Kläger den Unfall erlitt, hatte einen wirtschaftlichen Wert. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung genügt hierfür ein noch so geringer wirtschaftlicher Wert. Auch steht eine Unentgeltlichkeit nicht entgegen, weil auch eine Beschäftigung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII nicht zwingend entgeltlich sein muss (BSG, Urteil vom 19.06.2018 – B 2 U 32/17 R –, juris Rn. 18). Der wirtschaftliche Wert besteht vorliegend in den ersparten Aufwendungen für die vom Kläger durchgeführten Baumarbeiten.25 b) Die unfallbringende Tätigkeit diente einem fremden Unternehmen – nämlich dem forstwirtschaftlichen Unternehmen (vgl. § 123 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) des Nachbarn. Zudem entsprach sie seinem wirklichen Willen, was der Nachbar im Schreiben vom 13.12.2017 ausdrücklich bestätigt hat. Seine zunächst in dem Fragebogen „Mithilfe im Auftrag“ vom 07.03.2017 geäußerte gegenteilige Aussage, die Tätigkeit habe weder seinem tatsächlichen noch mutmaßlichen Willen entsprochen, hat er in dem Schreiben vom 13.12.2017 zurückgenommen und erklärt, den Fragebogen aus Unwissenheit falsch ausgefüllt zu haben. Diese Aussage ist jedenfalls insoweit glaubhaft, als der Nachbar hiermit bestätigt, ein Interesse an den unfallbringenden Tätigkeiten gehabt zu haben. Die ursprünglichen Angaben waren schon angesichts der wegen des Alters tatsächlich benötigen Unterstützung nicht nachvollziehbar.26 c) Der Kläger erbrachte die unfallbringende Verrichtung nicht unter arbeitnehmerähnlichen Bedingungen.27 aa) Arbeitnehmerähnlichkeit im Sinne einer Wie-Beschäftigung verlangt nicht, dass alle Voraussetzungen eines Beschäftigungsverhältnisses erfüllt sein müssen. Insbesondere braucht keine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit vom unterstützten Unternehmen vorzuliegen (BSG, Urteil vom 17.03.1992 – 2 RU 22/91 –, juris Rn. 15), ebenso wenig ist die Eingliederung in das unterstützte Unternehmen zwingend erforderlich. Dahinstehen kann, ob eine Wie-Beschäftigung i.S. des § 2 Abs. 2 SGB VII voraussetzt, dass die Verrichtung typisierend betrachtet üblicherweise von abhängig Beschäftigten erbracht wird und es insofern für die ausgeübte Tätigkeit einen Arbeitsmarkt gibt (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 23). Die Arbeitnehmerähnlichkeit einer Tätigkeit hängt vielmehr entscheidend davon ab, ob das Gesamtbild des Vorhabens in einem größeren zeitlichen Zusammenhang eine beschäftigungsähnliche Tätigkeit ergibt (vgl. BSG, Urteil vom 13.08.2002 – B 2 U 33/01 R –, juris Rn. 24). Ausschlaggebend ist, ob nach der erforderlichen Gesamtbetrachtung die Tätigkeit wie von einem Beschäftigten oder wie von einem Unternehmer erbracht wurde. Je mehr Gesichtspunkte der bestimmenden tatsächlichen Verhältnisse für die Arbeitnehmerähnlichkeit sprechen, umso eher ist eine Wie-Beschäftigung i.S. des § 2 Abs. 2 SGB VII zu bejahen (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 24; BSG, Urteil vom 19.06.2018 – B 2 U 32/17 R –, juris Rn. 23).28 Für die Arbeitnehmerähnlichkeit einer Tätigkeit spricht, wenn die in Betracht kommende Person nach Art der Tätigkeit auch als Arbeitnehmer hätte beschäftigt werden können (BSG, Urteil vom 05.07.1994 – 2 RU 24/93 –, juris Rn. 23). Des Weiteren spricht für das Vorliegen einer Wie-Beschäftigung i.S. des § 2 Abs. 2 SGB VII die Fremdbestimmtheit der Tätigkeit im Hinblick auf Zeitpunkt und Art ihrer Ausführung in Anlehnung an für Beschäftigungsverhältnisse typische Weisungsrechte i.S. des § 106 GewO und damit eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts i.S. des § 315 BGB, ohne dass es einer eine Beschäftigung charakterisierenden Eingliederung in einen Betrieb bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2015 – B 2 U 1/14 R –, juris Rn. 23 zur Eingliederung). Unschädlich ist, wenn es sich um eine geringfügige Tätigkeit handelt oder dass der unterstützte Unternehmer eine solche Arbeitskraft nicht tatsächlich beschäftigt hätte. Auch ist unerheblich, ob die in Betracht kommenden Personen von dem Unternehmen üblicherweise beschäftigt werden, sondern es genügt, dass sie nach Art der Tätigkeit beschäftigt werden könnten (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 25 mwN).29 bb) Eine Unternehmertätigkeit oder unternehmerähnliche Tätigkeit wird hingegen verrichtet, wenn die Handlungstendenz nicht auf die Belange eines fremden Unternehmens gerichtet ist, sondern der Verletzte in Wirklichkeit wesentlich allein eigenen Angelegenheiten dienen wollte und es somit an der fremdwirtschaftlichen Zweckbestimmung fehlt (vgl. BSG, Urteil vom 05.07.2005 – B 2 U 22/04 R –, juris Rn. 13). Unternehmer ist nach der gesetzlichen Definition in § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII derjenige, dem das Ergebnis seines Unternehmens unmittelbar zum Vor- und Nachteil gereicht. Für eine Unternehmerähnlichkeit ist hingegen kein Geschäftsbetrieb oder eine auf Erwerb gerichtete Tätigkeit erforderlich (vgl. BSG, Urteil vom 10.03.1994 – 2 RU 20/93 – juris ). Für eine Unternehmerähnlichkeit spricht auch, wenn der Verletzte Tätigkeiten erbringt, die mit einem anderen Vertragstyp vergleichbar sind, z.B. mit einem Werkvertrag nach § 631 BGB oder bei Fehlen einer Vergütungsvereinbarung mit einem Auftrag mit Werksvertragscharakter (§ 662 BGB). Hier wird dann dem Auftraggeber nicht die eigene Arbeitskraft zur Verfügung gestellt, sondern ein Werk eigenverantwortlich hergestellt bzw. ein konkreter Auftrag erledigt (BSG, Urteil vom 27.10.1987 – 2 RU 9/87 –, juris Rn. 14 f.). Dasselbe gilt, wenn der Verletzte die Ausführung des von ihm übernommenen Werkes im Wesentlichen frei planerisch gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen konnte (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 26).30 Für die Beurteilung der Arbeitnehmerähnlichkeit i.S.d. § 2 Abs. 2 SGB VII ist weiter von Bedeutung, wer sich an der Hilfeleistung beteiligt. Wenn der Verletzte nicht allein tätig wird, sondern zusammen mit demjenigen, dem die Hilfe geleistet wird, oder mit anderen Personen, kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, dass es um die Erbringung eines Arbeitserfolges geht, weil der Tätigwerdende bei einer solchen Sachlage nicht selbst für einen solchen geradestehen kann. In derartigen Fällen wird regelmäßig eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit vorliegen, weil bei entgeltlicher Betätigung mit Rechtsbindungswillen ein Dienstvertrag vorliegen würde. Dies gilt auch, wenn der Tätigwerdende über größere fachspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt als derjenige, dem die Hilfeleistung zugutekommt. Trotz Zusammenarbeit mit anderen kann eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit allerdings zu verneinen sein, wenn der Tätigwerdende die Leitung innehat und federführend mitarbeitet und deshalb bei Gesamtwürdigung aller Umstände des Sachverhaltes wie ein Werkunternehmer oder eine Person, die einen Auftrag mit Werkvertragscharakter ausführt, tätig wird (LSG Thüringen, Urteil vom 05.09.2019 – L 1 U 165/18 –, juris Rn. 25; Bieresborn, in: juris-PK, SGB VII, 2. Aufl. 2014, Bearbeitungsstand 05.05.2020, § 2 Rn. 403; Keller, in: NZS 2001, S. 188, 193).31 Ein weiteres Indiz für eine unternehmerähnliche Tätigkeit ist das Tragen eines wirtschaftlichen Risikos, das sich z.B. in einer Haftung für zumindest grob fahrlässige Schlechtleistung manifestieren kann (vgl. BSG, Urteil vom 17.03.1992 – 2 RU 22/91 –, juris Rn. 19; LSG Thüringen, Urteil vom 05.09.2019 – L 1 U 165/18 –, juris Rn. 25). Ebenso kann die Verwendung eigenen Werkzeugs ein Indiz für eine unternehmerähnliche Tätigkeit sein (vgl. BSG, Urteil vom 05.03.2002 – B 2 U 9/01 R –, juris Rn. 17). Allerdings bedarf es auch insoweit einer Gesamtbetrachtung, so dass die Verwendung eigener Werkzeuge nicht ohne weiteres zu einer Unternehmerähnlichkeit führt (BSG, Urteil vom 30.01.2007 – B 2 U 6/06 R –, juris Rn. 23).32 cc) In Anwendung dieser Maßstäbe hat der Kläger vorliegend nicht arbeitnehmerähnlich, sondern unternehmerähnlich gehandelt. Die gegen eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit sprechenden Indizien (dazu (5) und (6) überwiegen in der Gesamtbetrachtung (dazu (7) die für eine Arbeitnehmerähnlichkeit sprechenden Gesichtspunkte (dazu (1) bis (4).33 (1) Für eine Arbeitnehmerähnlichkeit spricht zwar, dass die Baumfäll-, Entastungs- und Zerkleinerungsarbeiten nicht nur durch ein Lohnunternehmen, sondern auch im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung hätten erfolgen können. Eine andere Bewertung legt auch nicht der Umstand nahe, dass der Nachbar von der Beauftragung eines Lohnunternehmens nur deshalb Abstand genommen hatte, weil er den Auftragsumfang für zu gering gehalten hatte. Denn vor dem Hintergrund einer typisierenden Betrachtungsweise ist es unschädlich, wenn es sich lediglich um eine geringfügige Tätigkeit handelt (vgl. BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 25).34 (2) Auch lässt sich für eine Arbeitnehmerähnlichkeit anführen, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kläger ein wirtschaftliches Risiko trug, wie beispielsweise eine Haftung für eine grob fahrlässige Schlechtleistung.35 (3) Wie ein Arbeitnehmer hatte der Kläger auch kein eigenes Interesse an der Baumfällung und -verwertung. Vielmehr handelte er ausschließlich im fremdwirtschaftlichen Interesse des Unternehmens seines Nachbarn, der seinerseits die zu fällenden Bäume verwerten wollte.36 (4) Eine für eine Arbeitnehmerähnlichkeit sprechende Fremdbestimmtheit der Tätigkeit hinsichtlich des Zeitpunktes und der Art der Ausführung lässt sich indes nur in Ansätzen feststellen. So hat der Nachbar zwar aus Eigeninitiative, ohne dass etwaige Weisungen des Forstamtes bestanden hätten, vorgegeben, welche Bäume gefällt werden sollten – nämlich die drei abgestorbenen Bäume. Auch hat er vorgegeben, dass die Bäume nach der Fällung an den Wegrand gezogen und dort entastet und zerkleinert werden sollten. Weitere Weisungen insbesondere hinsichtlich des konkreten Zeitpunktes und der konkreten Ausführung lassen sich jedoch nicht feststellen. Nach den glaubhaften Angaben, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, an deren Richtigkeit keine Zweifel bestehen, weshalb der Senat sie seinem Urteil zugrunde legt, hat vielmehr umgekehrt der Kläger selbst seinem Nachbarn zu dessen Schutz Anweisungen gegeben. So hat er ihn angewiesen, an welche Stelle dieser sich stellen konnte, ohne durch die Fällarbeiten gefährdet zu werden. Letzterer Umstand legt weniger eine Fremdbestimmtheit und vielmehr eine Leitungsfunktion des Klägers nahe.37 (5) Für eine Unternehmerähnlichkeit spricht, dass die Unterstützungshandlung des Klägers werkvertragsähnlich war. Ob eine Tätigkeit als werkvertragsähnlich oder als dienstvertragsähnlich zu qualifizieren ist, hängt davon ab, was nach der Zweckbestimmung Gegenstand der Vertragsverpflichtung ist (vgl. zur Abgrenzung zwischen Werk- und Dienstvertrag: Keller, in: NZS 2001, S. 188, 193). Wäre deren Gegenstand die Erbringung eines Werkes – nämlich Baumfällung, Entastung und Zerkleinerung – gewesen, hätte die Unterstützungshandlung werkvertraglichen Charakter. Wäre vertraglich lediglich das Tätigwerden vereinbart worden, läge ein dienstvertraglicher Charakter vor. Zur Überzeugung des Senats überwiegen vorliegend die Gesichtspunkte, die eine Werkvertragsähnlichkeit nahelegen. Vereinbart war die Fällung der Bäume, deren Herausziehen, Entastung und Zerkleinerung, mithin die Erstellung eines Werks. Eine Dienstvertragsähnlichkeit lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt des Zusammenwirkens nicht begründen, obwohl der Kläger zusammen mit seinem Nachbarn in den Wald gefahren ist. Denn allein aus der Anwesenheit des Nachbarn im Wald ergibt sich nicht, dass dieser und der Kläger bei den Baumarbeiten zusammengearbeitet hätten. Vielmehr entnimmt der Senat den übereinstimmenden und in der Sache unstreitigen Angaben des Klägers und seines Nachbarn, dass der Nachbar angesichts seines fortgeschrittenen Lebensalters die Arbeiten nicht mehr ausführen konnte und folglich auch nicht tätig geworden ist. Dies hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch nochmal bestätigt: Der Nachbar hat nicht in die Baumarbeiten persönlich eingegriffen, sondern er hat nur danebengestanden. Die dem Nachbarn gegebenen Anweisungen des Klägers betrafen nicht die Arbeitsausführung, sondern sie dienten nur der Sicherheit des Nachbarn, damit dieser nicht verletzt wurde. Der Nachbar war nur deswegen im Wald anwesend, damit im Fall eines Unfalls jemand Hilfe holen konnte - wie vorliegend auch geschehen. Der Kläger hat die Fällarbeiten alleine durchgeführt. Angesichts der Erfahrungen mit seinem eigenen Waldstück verfügte er auch über die für die Baumarbeiten erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten. Dies hat er in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll bestätigt, indem er ausführlich und detailliert beschrieben hat, welche Arbeitsschritte für die Fällung der Bäume erforderlich waren. Wäre es nicht zu dem Unfall gekommen, hätte der Kläger zudem alleine die Bäume unter Verwendung seines Traktors auch aus dem Wald gezogen und hätte sie entastet und zerkleinert. Er hielt damit insgesamt die Leitungsfunktion inne.38 (6) Für eine Unternehmerähnlichkeit spricht zudem, dass der Kläger für die Baumarbeiten seinen eigenen Traktor, seine Winde und seine Säge mitgebracht und verwendet hat und die Werkzeuge nicht von seinem Nachbarn gestellt wurden. Aus der gemeinsamen schriftlichen Einlassung des inzwischen verstorbenen Nachbarn und des Klägers vom 13.12.2017 entnimmt der Senat, dass es sich dabei um einen wesentlichen Punkt der getroffenen Vereinbarung gehandelt hat, wenn es dort heißt: „Wenn Herr ... [der Kläger] nicht geholfen hätte, hätte ich eine andere Person gefragt. Er hat einen eigenen Wald und daher auch die notwendigen Geräte.“ Dass die vom Kläger vorgehaltenen Geräte wesentlich für den Nachbarn gewesen sind, entnimmt der Senat auch den in der mündlichen Verhandlung durch den Kläger gemachten Angaben. So hat er angegeben, dass für die Baumfällung eine Winde, mit der sein Traktor ausgestattet ist, zwingend erforderlich war. Der Nachbar benötigte damit jemanden, der die erforderlichen Geräte vorgehalten hat und sie auch bedienen konnte. Dem entspricht es, dass er ausweislich der Angaben des Klägers auch in der Vergangenheit Dritte für die Ausführung der Baumarbeiten gefragt hatte und sie seit vielen Jahren nicht mehr selbst ausgeführt hatte.39 (7) In der Gesamtabwägung überwiegen die Gesichtspunkte, die für eine unternehmerähnliche Tätigkeit sprechen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Werkvertragsähnlichkeit der zwischen dem Kläger und seinem Nachbarn getroffenen Vereinbarung zu. Im Fall einer Werkvertragsähnlichkeit liegt nämlich eine Wie-Beschäftigung fern, weil dem Vertragstypus des Werkvertrags grundsätzlich die das Beschäftigungsverhältnis prägende Weisungsgebundenheit (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV) fremd ist (vgl. Sprau, in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, Einf. v. § 631 Rn. 10). Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Vorgaben, die der Nachbar dem Kläger hinsichtlich der Art der Tätigkeitsausführung gemacht hat, durchaus auch im Rahmen eines Werkvertrags gegenüber einem Unternehmer hätten erfolgen können. Die Benennung der zu fällenden Bäume und der gewünschten Weiterverarbeitung des Holzes ist im vorliegenden Fall zur Konkretisierung des verabredeten Werkes erfolgt. Die Tatsache, dass der Nachbar derartige Vorgaben gemacht hat, führt damit nicht zur Qualifizierung der Tätigkeit des Klägers als arbeitnehmerähnlich. Schließlich fällt auch die Leitungsfunktion des Klägers in Gewicht, die in seinem Fachwissen als Waldbesitzer, der alleinigen Tätigkeitsausführung und der Verwendung eigener Arbeitsmittel zum Ausdruck kommt.40 dd) Der Senat weicht hiermit auch nicht von aktueller höchstrichterlicher Rechtsprechung ab. Das vom SG angeführte Urteil des BSG vom 27.11.1986 (2 RU 13/86) entspricht nicht dem Stand der aktuellen Rechtsprechung des BSG zur Abgrenzung von Arbeitnehmer- und Unternehmerähnlichkeit. Das BSG hatte in dem erwähnten Urteil über einen Fall zu entscheiden, in dem der dortige Verletzte seinem Nachbarn unter Einsatz eigener Geräte beim Transport von Holz aus einem Wald geholfen hatte. Das BSG bejahte einen Versicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt einer Wie-Beschäftigung (BSG, a.a.O., juris Rn. 17). Eine unternehmerische Tätigkeit habe mangels Planmäßigkeit der Tätigkeit nicht vorgelegen (BSG, a.a.O., juris Rn. 18). Die Benutzung eigener Arbeitsmittel durch den Helfenden hielt das BSG für unbeachtlich, weil es auch bei Einsatz eines betriebsfremden Fachmanns häufig anzutreffen sei, dass dieser seine eigenen Arbeitsmittel mitnehme (BSG, a.a.O., juris Rn. 18). Tragend für die Ablehnung einer Unternehmerähnlichkeit war damit die Verneinung des Merkmals der Planmäßigkeit als Bestandteil des Unternehmerbegriffs. Bei einem nicht planmäßig Handelnden hielt das BSG den Einsatz eigener Arbeitsmittel für unbeachtlich. Demgegenüber betont das BSG in seiner aktuellen Rechtsprechung – wie oben dargestellt – die Erforderlichkeit einer Gesamtbetrachtung aller für und gegen eine Arbeitnehmerähnlichkeit bzw. Unternehmerähnlichkeit sprechenden Indizien. Die fehlende Planmäßigkeit ist dabei nur ein Gesichtspunkt unter vielen. Im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung misst das BSG nunmehr der Vergleichbarkeit mit dem Vertragstypus des Dienst- oder Werkvertrags besondere Bedeutung bei.41 Da der Kläger wie ein Unternehmer tätig war, als er von seinem Trecker teilweise überrollt wurde, stand er während der zum Unfallzeitpunkt verrichteten Tätigkeit nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, so dass die Ablehnung der Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall in den angefochtenen Bescheiden der Beklagten rechtlich nicht zu beanstanden ist. Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des SG deshalb aufzuheben und die Klage abzuweisen.42 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.43 4. Gründe, im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG die Revision zuzulassen, bestehen nicht.
Gründe
20 Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte sowie nach § 151 SGG form- und fristgerechte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässige Klage ist unbegründet. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, das Unfallereignis vom 24.11.2016 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Der Kläger hat keinen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden Arbeitsunfall erlitten.21 Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Kläger hat den Unfall nicht infolge einer versicherten Tätigkeit erlitten. Er stand im Unfallzeitpunkt weder als Beschäftigter nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII (dazu 1.) noch als Wie-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 SGB VII unter Versicherungsschutz (dazu 2.).22 1. Der Kläger war nicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Beschäftigter des Unternehmens seines Nachbarn unfallversichert. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist eine Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisung und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Vorliegend bestand zwischen dem Kläger und seinem Nachbarn weder ein Arbeitsverhältnis, noch war er in die Arbeitsorganisation seines Nachbarn eingegliedert.23 2. Der Kläger stand auch nicht als Wie-Beschäftigter nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII unter Versicherungsschutz. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII sind Personen in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, die wie nach Absatz 1 Nr. 1 Versicherte tätig werden.Voraussetzung einer Wie-Beschäftigung nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ist, dass eine einem fremden Unternehmen dienende, dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechende Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert erbracht wird, die ihrer Art nach von Personen verrichtet werden könnte, die in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 20; BSG, Urteil vom 27.10.2009 – B 2 U 26/08 R –, juris Rn. 25; BSG, Urteil vom 13.09.2005 – B 2 U 6/05 R –, juris Rn. 7 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Zwar handelte es sich um eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert (dazu a), die einem fremden Unternehmen diente (dazu b). Die Tätigkeit war aber nicht arbeitnehmerähnlich (dazu c).24 a) Die Tätigkeit, bei der der Kläger den Unfall erlitt, hatte einen wirtschaftlichen Wert. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung genügt hierfür ein noch so geringer wirtschaftlicher Wert. Auch steht eine Unentgeltlichkeit nicht entgegen, weil auch eine Beschäftigung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII nicht zwingend entgeltlich sein muss (BSG, Urteil vom 19.06.2018 – B 2 U 32/17 R –, juris Rn. 18). Der wirtschaftliche Wert besteht vorliegend in den ersparten Aufwendungen für die vom Kläger durchgeführten Baumarbeiten.25 b) Die unfallbringende Tätigkeit diente einem fremden Unternehmen – nämlich dem forstwirtschaftlichen Unternehmen (vgl. § 123 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) des Nachbarn. Zudem entsprach sie seinem wirklichen Willen, was der Nachbar im Schreiben vom 13.12.2017 ausdrücklich bestätigt hat. Seine zunächst in dem Fragebogen „Mithilfe im Auftrag“ vom 07.03.2017 geäußerte gegenteilige Aussage, die Tätigkeit habe weder seinem tatsächlichen noch mutmaßlichen Willen entsprochen, hat er in dem Schreiben vom 13.12.2017 zurückgenommen und erklärt, den Fragebogen aus Unwissenheit falsch ausgefüllt zu haben. Diese Aussage ist jedenfalls insoweit glaubhaft, als der Nachbar hiermit bestätigt, ein Interesse an den unfallbringenden Tätigkeiten gehabt zu haben. Die ursprünglichen Angaben waren schon angesichts der wegen des Alters tatsächlich benötigen Unterstützung nicht nachvollziehbar.26 c) Der Kläger erbrachte die unfallbringende Verrichtung nicht unter arbeitnehmerähnlichen Bedingungen.27 aa) Arbeitnehmerähnlichkeit im Sinne einer Wie-Beschäftigung verlangt nicht, dass alle Voraussetzungen eines Beschäftigungsverhältnisses erfüllt sein müssen. Insbesondere braucht keine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit vom unterstützten Unternehmen vorzuliegen (BSG, Urteil vom 17.03.1992 – 2 RU 22/91 –, juris Rn. 15), ebenso wenig ist die Eingliederung in das unterstützte Unternehmen zwingend erforderlich. Dahinstehen kann, ob eine Wie-Beschäftigung i.S. des § 2 Abs. 2 SGB VII voraussetzt, dass die Verrichtung typisierend betrachtet üblicherweise von abhängig Beschäftigten erbracht wird und es insofern für die ausgeübte Tätigkeit einen Arbeitsmarkt gibt (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 23). Die Arbeitnehmerähnlichkeit einer Tätigkeit hängt vielmehr entscheidend davon ab, ob das Gesamtbild des Vorhabens in einem größeren zeitlichen Zusammenhang eine beschäftigungsähnliche Tätigkeit ergibt (vgl. BSG, Urteil vom 13.08.2002 – B 2 U 33/01 R –, juris Rn. 24). Ausschlaggebend ist, ob nach der erforderlichen Gesamtbetrachtung die Tätigkeit wie von einem Beschäftigten oder wie von einem Unternehmer erbracht wurde. Je mehr Gesichtspunkte der bestimmenden tatsächlichen Verhältnisse für die Arbeitnehmerähnlichkeit sprechen, umso eher ist eine Wie-Beschäftigung i.S. des § 2 Abs. 2 SGB VII zu bejahen (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 24; BSG, Urteil vom 19.06.2018 – B 2 U 32/17 R –, juris Rn. 23).28 Für die Arbeitnehmerähnlichkeit einer Tätigkeit spricht, wenn die in Betracht kommende Person nach Art der Tätigkeit auch als Arbeitnehmer hätte beschäftigt werden können (BSG, Urteil vom 05.07.1994 – 2 RU 24/93 –, juris Rn. 23). Des Weiteren spricht für das Vorliegen einer Wie-Beschäftigung i.S. des § 2 Abs. 2 SGB VII die Fremdbestimmtheit der Tätigkeit im Hinblick auf Zeitpunkt und Art ihrer Ausführung in Anlehnung an für Beschäftigungsverhältnisse typische Weisungsrechte i.S. des § 106 GewO und damit eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts i.S. des § 315 BGB, ohne dass es einer eine Beschäftigung charakterisierenden Eingliederung in einen Betrieb bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2015 – B 2 U 1/14 R –, juris Rn. 23 zur Eingliederung). Unschädlich ist, wenn es sich um eine geringfügige Tätigkeit handelt oder dass der unterstützte Unternehmer eine solche Arbeitskraft nicht tatsächlich beschäftigt hätte. Auch ist unerheblich, ob die in Betracht kommenden Personen von dem Unternehmen üblicherweise beschäftigt werden, sondern es genügt, dass sie nach Art der Tätigkeit beschäftigt werden könnten (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 25 mwN).29 bb) Eine Unternehmertätigkeit oder unternehmerähnliche Tätigkeit wird hingegen verrichtet, wenn die Handlungstendenz nicht auf die Belange eines fremden Unternehmens gerichtet ist, sondern der Verletzte in Wirklichkeit wesentlich allein eigenen Angelegenheiten dienen wollte und es somit an der fremdwirtschaftlichen Zweckbestimmung fehlt (vgl. BSG, Urteil vom 05.07.2005 – B 2 U 22/04 R –, juris Rn. 13). Unternehmer ist nach der gesetzlichen Definition in § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII derjenige, dem das Ergebnis seines Unternehmens unmittelbar zum Vor- und Nachteil gereicht. Für eine Unternehmerähnlichkeit ist hingegen kein Geschäftsbetrieb oder eine auf Erwerb gerichtete Tätigkeit erforderlich (vgl. BSG, Urteil vom 10.03.1994 – 2 RU 20/93 – juris ). Für eine Unternehmerähnlichkeit spricht auch, wenn der Verletzte Tätigkeiten erbringt, die mit einem anderen Vertragstyp vergleichbar sind, z.B. mit einem Werkvertrag nach § 631 BGB oder bei Fehlen einer Vergütungsvereinbarung mit einem Auftrag mit Werksvertragscharakter (§ 662 BGB). Hier wird dann dem Auftraggeber nicht die eigene Arbeitskraft zur Verfügung gestellt, sondern ein Werk eigenverantwortlich hergestellt bzw. ein konkreter Auftrag erledigt (BSG, Urteil vom 27.10.1987 – 2 RU 9/87 –, juris Rn. 14 f.). Dasselbe gilt, wenn der Verletzte die Ausführung des von ihm übernommenen Werkes im Wesentlichen frei planerisch gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen konnte (BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 26).30 Für die Beurteilung der Arbeitnehmerähnlichkeit i.S.d. § 2 Abs. 2 SGB VII ist weiter von Bedeutung, wer sich an der Hilfeleistung beteiligt. Wenn der Verletzte nicht allein tätig wird, sondern zusammen mit demjenigen, dem die Hilfe geleistet wird, oder mit anderen Personen, kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, dass es um die Erbringung eines Arbeitserfolges geht, weil der Tätigwerdende bei einer solchen Sachlage nicht selbst für einen solchen geradestehen kann. In derartigen Fällen wird regelmäßig eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit vorliegen, weil bei entgeltlicher Betätigung mit Rechtsbindungswillen ein Dienstvertrag vorliegen würde. Dies gilt auch, wenn der Tätigwerdende über größere fachspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt als derjenige, dem die Hilfeleistung zugutekommt. Trotz Zusammenarbeit mit anderen kann eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit allerdings zu verneinen sein, wenn der Tätigwerdende die Leitung innehat und federführend mitarbeitet und deshalb bei Gesamtwürdigung aller Umstände des Sachverhaltes wie ein Werkunternehmer oder eine Person, die einen Auftrag mit Werkvertragscharakter ausführt, tätig wird (LSG Thüringen, Urteil vom 05.09.2019 – L 1 U 165/18 –, juris Rn. 25; Bieresborn, in: juris-PK, SGB VII, 2. Aufl. 2014, Bearbeitungsstand 05.05.2020, § 2 Rn. 403; Keller, in: NZS 2001, S. 188, 193).31 Ein weiteres Indiz für eine unternehmerähnliche Tätigkeit ist das Tragen eines wirtschaftlichen Risikos, das sich z.B. in einer Haftung für zumindest grob fahrlässige Schlechtleistung manifestieren kann (vgl. BSG, Urteil vom 17.03.1992 – 2 RU 22/91 –, juris Rn. 19; LSG Thüringen, Urteil vom 05.09.2019 – L 1 U 165/18 –, juris Rn. 25). Ebenso kann die Verwendung eigenen Werkzeugs ein Indiz für eine unternehmerähnliche Tätigkeit sein (vgl. BSG, Urteil vom 05.03.2002 – B 2 U 9/01 R –, juris Rn. 17). Allerdings bedarf es auch insoweit einer Gesamtbetrachtung, so dass die Verwendung eigener Werkzeuge nicht ohne weiteres zu einer Unternehmerähnlichkeit führt (BSG, Urteil vom 30.01.2007 – B 2 U 6/06 R –, juris Rn. 23).32 cc) In Anwendung dieser Maßstäbe hat der Kläger vorliegend nicht arbeitnehmerähnlich, sondern unternehmerähnlich gehandelt. Die gegen eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit sprechenden Indizien (dazu (5) und (6) überwiegen in der Gesamtbetrachtung (dazu (7) die für eine Arbeitnehmerähnlichkeit sprechenden Gesichtspunkte (dazu (1) bis (4).33 (1) Für eine Arbeitnehmerähnlichkeit spricht zwar, dass die Baumfäll-, Entastungs- und Zerkleinerungsarbeiten nicht nur durch ein Lohnunternehmen, sondern auch im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung hätten erfolgen können. Eine andere Bewertung legt auch nicht der Umstand nahe, dass der Nachbar von der Beauftragung eines Lohnunternehmens nur deshalb Abstand genommen hatte, weil er den Auftragsumfang für zu gering gehalten hatte. Denn vor dem Hintergrund einer typisierenden Betrachtungsweise ist es unschädlich, wenn es sich lediglich um eine geringfügige Tätigkeit handelt (vgl. BSG, Urteil vom 20.03.2018 – B 2 U 16/16 R –, juris Rn. 25).34 (2) Auch lässt sich für eine Arbeitnehmerähnlichkeit anführen, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kläger ein wirtschaftliches Risiko trug, wie beispielsweise eine Haftung für eine grob fahrlässige Schlechtleistung.35 (3) Wie ein Arbeitnehmer hatte der Kläger auch kein eigenes Interesse an der Baumfällung und -verwertung. Vielmehr handelte er ausschließlich im fremdwirtschaftlichen Interesse des Unternehmens seines Nachbarn, der seinerseits die zu fällenden Bäume verwerten wollte.36 (4) Eine für eine Arbeitnehmerähnlichkeit sprechende Fremdbestimmtheit der Tätigkeit hinsichtlich des Zeitpunktes und der Art der Ausführung lässt sich indes nur in Ansätzen feststellen. So hat der Nachbar zwar aus Eigeninitiative, ohne dass etwaige Weisungen des Forstamtes bestanden hätten, vorgegeben, welche Bäume gefällt werden sollten – nämlich die drei abgestorbenen Bäume. Auch hat er vorgegeben, dass die Bäume nach der Fällung an den Wegrand gezogen und dort entastet und zerkleinert werden sollten. Weitere Weisungen insbesondere hinsichtlich des konkreten Zeitpunktes und der konkreten Ausführung lassen sich jedoch nicht feststellen. Nach den glaubhaften Angaben, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, an deren Richtigkeit keine Zweifel bestehen, weshalb der Senat sie seinem Urteil zugrunde legt, hat vielmehr umgekehrt der Kläger selbst seinem Nachbarn zu dessen Schutz Anweisungen gegeben. So hat er ihn angewiesen, an welche Stelle dieser sich stellen konnte, ohne durch die Fällarbeiten gefährdet zu werden. Letzterer Umstand legt weniger eine Fremdbestimmtheit und vielmehr eine Leitungsfunktion des Klägers nahe.37 (5) Für eine Unternehmerähnlichkeit spricht, dass die Unterstützungshandlung des Klägers werkvertragsähnlich war. Ob eine Tätigkeit als werkvertragsähnlich oder als dienstvertragsähnlich zu qualifizieren ist, hängt davon ab, was nach der Zweckbestimmung Gegenstand der Vertragsverpflichtung ist (vgl. zur Abgrenzung zwischen Werk- und Dienstvertrag: Keller, in: NZS 2001, S. 188, 193). Wäre deren Gegenstand die Erbringung eines Werkes – nämlich Baumfällung, Entastung und Zerkleinerung – gewesen, hätte die Unterstützungshandlung werkvertraglichen Charakter. Wäre vertraglich lediglich das Tätigwerden vereinbart worden, läge ein dienstvertraglicher Charakter vor. Zur Überzeugung des Senats überwiegen vorliegend die Gesichtspunkte, die eine Werkvertragsähnlichkeit nahelegen. Vereinbart war die Fällung der Bäume, deren Herausziehen, Entastung und Zerkleinerung, mithin die Erstellung eines Werks. Eine Dienstvertragsähnlichkeit lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt des Zusammenwirkens nicht begründen, obwohl der Kläger zusammen mit seinem Nachbarn in den Wald gefahren ist. Denn allein aus der Anwesenheit des Nachbarn im Wald ergibt sich nicht, dass dieser und der Kläger bei den Baumarbeiten zusammengearbeitet hätten. Vielmehr entnimmt der Senat den übereinstimmenden und in der Sache unstreitigen Angaben des Klägers und seines Nachbarn, dass der Nachbar angesichts seines fortgeschrittenen Lebensalters die Arbeiten nicht mehr ausführen konnte und folglich auch nicht tätig geworden ist. Dies hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch nochmal bestätigt: Der Nachbar hat nicht in die Baumarbeiten persönlich eingegriffen, sondern er hat nur danebengestanden. Die dem Nachbarn gegebenen Anweisungen des Klägers betrafen nicht die Arbeitsausführung, sondern sie dienten nur der Sicherheit des Nachbarn, damit dieser nicht verletzt wurde. Der Nachbar war nur deswegen im Wald anwesend, damit im Fall eines Unfalls jemand Hilfe holen konnte - wie vorliegend auch geschehen. Der Kläger hat die Fällarbeiten alleine durchgeführt. Angesichts der Erfahrungen mit seinem eigenen Waldstück verfügte er auch über die für die Baumarbeiten erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten. Dies hat er in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll bestätigt, indem er ausführlich und detailliert beschrieben hat, welche Arbeitsschritte für die Fällung der Bäume erforderlich waren. Wäre es nicht zu dem Unfall gekommen, hätte der Kläger zudem alleine die Bäume unter Verwendung seines Traktors auch aus dem Wald gezogen und hätte sie entastet und zerkleinert. Er hielt damit insgesamt die Leitungsfunktion inne.38 (6) Für eine Unternehmerähnlichkeit spricht zudem, dass der Kläger für die Baumarbeiten seinen eigenen Traktor, seine Winde und seine Säge mitgebracht und verwendet hat und die Werkzeuge nicht von seinem Nachbarn gestellt wurden. Aus der gemeinsamen schriftlichen Einlassung des inzwischen verstorbenen Nachbarn und des Klägers vom 13.12.2017 entnimmt der Senat, dass es sich dabei um einen wesentlichen Punkt der getroffenen Vereinbarung gehandelt hat, wenn es dort heißt: „Wenn Herr ... [der Kläger] nicht geholfen hätte, hätte ich eine andere Person gefragt. Er hat einen eigenen Wald und daher auch die notwendigen Geräte.“ Dass die vom Kläger vorgehaltenen Geräte wesentlich für den Nachbarn gewesen sind, entnimmt der Senat auch den in der mündlichen Verhandlung durch den Kläger gemachten Angaben. So hat er angegeben, dass für die Baumfällung eine Winde, mit der sein Traktor ausgestattet ist, zwingend erforderlich war. Der Nachbar benötigte damit jemanden, der die erforderlichen Geräte vorgehalten hat und sie auch bedienen konnte. Dem entspricht es, dass er ausweislich der Angaben des Klägers auch in der Vergangenheit Dritte für die Ausführung der Baumarbeiten gefragt hatte und sie seit vielen Jahren nicht mehr selbst ausgeführt hatte.39 (7) In der Gesamtabwägung überwiegen die Gesichtspunkte, die für eine unternehmerähnliche Tätigkeit sprechen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Werkvertragsähnlichkeit der zwischen dem Kläger und seinem Nachbarn getroffenen Vereinbarung zu. Im Fall einer Werkvertragsähnlichkeit liegt nämlich eine Wie-Beschäftigung fern, weil dem Vertragstypus des Werkvertrags grundsätzlich die das Beschäftigungsverhältnis prägende Weisungsgebundenheit (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV) fremd ist (vgl. Sprau, in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, Einf. v. § 631 Rn. 10). Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Vorgaben, die der Nachbar dem Kläger hinsichtlich der Art der Tätigkeitsausführung gemacht hat, durchaus auch im Rahmen eines Werkvertrags gegenüber einem Unternehmer hätten erfolgen können. Die Benennung der zu fällenden Bäume und der gewünschten Weiterverarbeitung des Holzes ist im vorliegenden Fall zur Konkretisierung des verabredeten Werkes erfolgt. Die Tatsache, dass der Nachbar derartige Vorgaben gemacht hat, führt damit nicht zur Qualifizierung der Tätigkeit des Klägers als arbeitnehmerähnlich. Schließlich fällt auch die Leitungsfunktion des Klägers in Gewicht, die in seinem Fachwissen als Waldbesitzer, der alleinigen Tätigkeitsausführung und der Verwendung eigener Arbeitsmittel zum Ausdruck kommt.40 dd) Der Senat weicht hiermit auch nicht von aktueller höchstrichterlicher Rechtsprechung ab. Das vom SG angeführte Urteil des BSG vom 27.11.1986 (2 RU 13/86) entspricht nicht dem Stand der aktuellen Rechtsprechung des BSG zur Abgrenzung von Arbeitnehmer- und Unternehmerähnlichkeit. Das BSG hatte in dem erwähnten Urteil über einen Fall zu entscheiden, in dem der dortige Verletzte seinem Nachbarn unter Einsatz eigener Geräte beim Transport von Holz aus einem Wald geholfen hatte. Das BSG bejahte einen Versicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt einer Wie-Beschäftigung (BSG, a.a.O., juris Rn. 17). Eine unternehmerische Tätigkeit habe mangels Planmäßigkeit der Tätigkeit nicht vorgelegen (BSG, a.a.O., juris Rn. 18). Die Benutzung eigener Arbeitsmittel durch den Helfenden hielt das BSG für unbeachtlich, weil es auch bei Einsatz eines betriebsfremden Fachmanns häufig anzutreffen sei, dass dieser seine eigenen Arbeitsmittel mitnehme (BSG, a.a.O., juris Rn. 18). Tragend für die Ablehnung einer Unternehmerähnlichkeit war damit die Verneinung des Merkmals der Planmäßigkeit als Bestandteil des Unternehmerbegriffs. Bei einem nicht planmäßig Handelnden hielt das BSG den Einsatz eigener Arbeitsmittel für unbeachtlich. Demgegenüber betont das BSG in seiner aktuellen Rechtsprechung – wie oben dargestellt – die Erforderlichkeit einer Gesamtbetrachtung aller für und gegen eine Arbeitnehmerähnlichkeit bzw. Unternehmerähnlichkeit sprechenden Indizien. Die fehlende Planmäßigkeit ist dabei nur ein Gesichtspunkt unter vielen. Im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung misst das BSG nunmehr der Vergleichbarkeit mit dem Vertragstypus des Dienst- oder Werkvertrags besondere Bedeutung bei.41 Da der Kläger wie ein Unternehmer tätig war, als er von seinem Trecker teilweise überrollt wurde, stand er während der zum Unfallzeitpunkt verrichteten Tätigkeit nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, so dass die Ablehnung der Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall in den angefochtenen Bescheiden der Beklagten rechtlich nicht zu beanstanden ist. Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des SG deshalb aufzuheben und die Klage abzuweisen.42 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.43 4. Gründe, im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG die Revision zuzulassen, bestehen nicht. | {
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 03.12.2018 wird zurückgewiesen.Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung der Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin als Berufskrankheiten Nr. 2108 und Nr. 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) streitig.
2 Die im Jahr 1957 geborene Klägerin war von Februar 1981 bis März 2013 als Arbeiterin in einer Metallfabrik versicherungspflichtig beschäftigt. Seit März 2013 ist sie arbeitsunfähig erkrankt. Zu ihrer beruflichen Tätigkeit gehörte ausweislich des von der Klägerin am 07.11.2016 ausgefüllten Fragebogens das Stanzen, Elektroschweißen, Montieren und Gewindeschneiden von Metallteilen sowie die Bedienung von Pressmaschinen. Sie gab an, diese Tätigkeiten überwiegend im Sitzen und Stehen ausgeführt zu haben. Sie habe hierbei von Hand Gegenstände mit einem Gewicht von bis zu 10 kg heben müssen. Diese Gegenstände habe sie nicht über eine größere Entfernung von mehr als 5 m tragen müssen. Sie habe Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (90° oder mehr) verrichten müssen. Ganzkörperschwingungen hätten nicht vorgelegen.
3 Am 22.09.2016 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten das Vorliegen einer Berufskrankheit geltend. Sie führte aus, an Hüftschmerzen, ausstrahlend bis zur rechten Ferse, mit Taubheitsgefühlen zu leiden. Sie habe einen Bandscheibenvorfall erlitten. Im Jahr 2006 sei eine operative Versorgung mittels einer dorsolateralen Spondylodese L5/S1 erfolgt. Danach habe sie starke Schmerzen gehabt. Im Fragebogen zu Wirbelsäulenerkrankungen gab sie am 07.11.2016 weiter an, die Beschwerden bestünden in allen Wirbelsäulenabschnitten. Sie führe sie auf ihre sehr schwere Arbeitstätigkeit zurück.
4 Die Beklagte zog verschiedene Behandlungsunterlagen bei.
5 Aus dem Entlassungsbericht über eine im Jahr 2013 im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung durchgeführten medizinischen Rehabilitationsmaßnahme ergaben sich folgende Diagnosen: „Chronifiziertes multifokales Schmerzsyndrom mit somatischen und somatoformen Anteilen; belastungsabhängige Rückenschmerzen mit Beineinstrahlung links und Hinweisen für eine sensible Wurzelreizung L5 links; Spondylodese L5/S1 (2006), Anschlussdekompensation LWK4/5 bei NPP, multisegement. deg. LWS-Veränderungen; Angststörung; Fußbelastungsbeschwerden links mit neuropathischer Komponente (DD Tarsaltunnelsyndrom li.)“.
6 Nach dem Bericht des Klinikums K. vom 02.11.2016 litt die Klägerin an einer linksischialgieformen Schmerzsymptomatik mit Hypästhesien und Kribbelparästhesien des linken Fußes. Die Klägerin habe in den letzten Jahren eine zunehmende Rückenschmerzsymptomatik beschrieben. Wegen einer diagnostizierten Anschlussdekompensation L4/5 wurde im Oktober 2016 eine dorsolaterale Spondylodese L4/S1 durchgeführt.
7 Die Beklagte holte eine beratungsärztliche Stellungnahme des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. G. ein. Dr. G. gab in seiner Stellungnahme vom 16.12.2016 an, Hinweise für ein belastungskonformes Schadensbild im Sinne der Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BVK) bestünden nicht. Nach Auffassung des Beratungsarztes handele es sich um einen schicksalhaften Verlauf bei einem angeborenen Wirbelgleiten L5/S1 und gleichzeitig bestehender Hyperlordose der Lendenwirbelsäule. Anhaltspunkte für ein vom typischen Lebensalter deutlich abweichendes Krankheitsbild, welches für eine berufliche (Mit-)Verursachung im Sinne einer Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV (Erkrankung der Halswirbelsäule) sprechen könnte, lägen nicht vor.
8 Durch Bescheid vom 06.02.2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit Nr. 2108 (bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule) oder Nr. 2109 (bandscheibenbedingte Erkrankung der Halswirbelsäule) der Anlage 1 zur BKV ab. Ein für die Anerkennung der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV erforderliches belastungskonformes Schadensbild bestehe nicht. Die Klägerin leide im Bewegungssegment L5/S1 unter einem angeborenen Wirbelgleiten. Für die Anerkennung der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV fehlten die arbeitstechnischen Voraussetzungen. Nach den Angaben der Klägerin hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, dass sie während ihres bisherigen Berufslebens regelmäßig schwere Lasten von mindestens 50 kg einseitig auf der Schulter getragen habe.
9 Zur Begründung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs führte die Klägerin aus, ihre Wirbelsäulenerkrankung sei beruflich verursacht. Zu Beginn des Beschäftigungsverhältnisses im Jahr 1981 sei sie gesund gewesen. Beschwerden seien erst im Jahr 1990 aufgetreten. Im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit habe sie relativ schwere Lasten tragen müssen. Sie habe Metallplatten aus einem Container nehmen, diese in die Stanzmaschine einlegen und nach dem Stanzvorgang in einen anderen Container legen müssen.
10 Mit Widerspruchsbescheid vom 04.07.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
11 Mit der am 28.07.2017 zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren, die Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung ihrer Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit weiterverfolgt. Zur Klagebegründung hat sie unter Vertiefung ihrer Ausführungen aus dem Widerspruchsverfahren vorgebracht, die von ihr zur Bearbeitung aus Gitterboxen herauszunehmenden Metallteile hätten ein Gewicht von 5 bis 6 kg gehabt. Zur Herausnahme der Teile und dem Hineinlegen der Teile nach deren Bearbeitung in eine andere Gitterbox habe sie ihren Rumpf stark beugen müssen. Diese Tätigkeit habe für die Wirbelsäule eine erhebliche Belastung bedeutet. Die Ansicht der Beklagten, dass bei ihr im Segment L5/S1 ein angeborenes Wirbelgleiten vorliege, sei unzutreffend. Denn vor ihrer beruflichen Tätigkeit sei sie völlig beschwerdefrei gewesen. Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt. Allein der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Wirbelsäulenerkrankung und dem Ausüben der beruflichen Tätigkeit sei nicht ausreichend. Gegen eine berufliche Verursachung spreche im Weiteren das Bestehen von Wirbelsäulenbeschwerden in allen Wirbelsäulenabschnitten.
12 Das SG hat den behandelnden Orthopäden Dr. W., die behandelnde Internistin Dr. Y. und die behandelnde Neurologin und Psychiaterin Dr. N. schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen und im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 14.09.2018 die Klägerin persönlich angehört. Die Klägerin hat in diesem Termin angegeben, im Zeitraum von 1981 bis 2013 durchgängig in der Stanzerei beschäftigt gewesen zu sein. Ihre Aufgabe sei gewesen, Werkstücke mit einem Gewicht von 2 bis 3 kg von rechts aus einer Gitterbox zu nehmen und diese in die Stanzmaschine einzulegen. Danach habe sie die Werkstücke in eine andere Gitterbox gelegt. Eine weitere von ihr ausgeübte Tätigkeit sei die Vornahme von Schweißarbeiten gewesen. Auch hierbei habe sie die Werkstücke aus einer Gitterbox genommen und nach der Bearbeitung in eine andere Gitterbox gelegt. Diese Werkstücke seien mindestens 1 kg, vielleicht auch 2 bis 3 kg schwer gewesen. An die geschweißten Werkstücke habe sie, nachdem diese lackiert worden seien, Gummiteile montiert. Zur Herausnahme der Werkteile aus den Gitterboxen habe sie sich bücken müssen. Pro Arbeitstag habe sie etwa 450 Metallteile bearbeitet. Die Tätigkeit sei von ihr bis zum Beginn der Beschwerden an der Wirbelsäule im Stehen ausgeübt worden. Danach habe sie die Schweißarbeiten halb im Sitzen, die Stanzarbeiten im Sitzen und die Montagearbeiten im Stehen vorgenommen. Die zu bearbeitenden Werkteile habe sie nicht selbst durch die Arbeitshalle tragen müssen. Manchmal habe sie jedoch die Gitterkisten selbst heben müssen, wenn kein Arbeitskollege geholfen habe. Diese Kisten seien dann über 20 kg schwer gewesen. Im Erörterungstermin hat das SG darauf hingewiesen, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV wohl nicht vorlägen, da es am langjährigen Heben „schwerer Lasten“ im Sinne der gesetzlichen Vorgaben gefehlt haben dürfte. Im Nachgang zum Erörterungstermin hat die Klägerin erklärt, aufgrund der Häufigkeit des Hebens der Metallteile pro Arbeitstag und der hierbei einzunehmenden ungünstigen Körperhaltung sei ihre Erkrankung der Lendenwirbelsäule trotz des geringen Gewichts der Metallteile durch ihre berufliche Tätigkeit verursacht worden.
13 Durch Gerichtsbescheid vom 03.12.2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV lägen nicht vor, weil die Klägerin keine schweren Lasten auf der Schulter getragen habe. Auch die Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV seien nicht gegeben, da die Klägerin bei ihrer beruflichen Tätigkeit keine „schweren Lasten“ gehoben oder getragen habe. Nach dem Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV werde für Frauen für beidhändiges Heben ein Lastengewicht von 10 kg, für einhändiges Heben ein Lastengewicht von 5 kg genannt. Die Klägerin habe im Termin zur Erörterung des Sachverhalts entgegen der Klagebegründung, die als Gewicht der zu bearbeitenden Metallteile 5 bis 6 kg genannt habe, ausgeführt, die Metallteile hätten mindestens 1 kg, vielleicht auch 2 bis 3 kg gewogen. Die Gitterboxen, in denen sich die Metallteile befunden hätten, seien von der Klägerin nur höchst ausnahmsweise bewegt worden. Auch die Voraussetzung einer „Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung“ sei nicht erfüllt, da hierfür ein regelmäßiges Bücken und Wiederaufrichten nicht ausreichend sei. Es müsse zusätzlich nach der unfallversicherungsrechtlichen Literatur ein zeitliches Moment, eine Haltung in extremer Rumpfbeuge für mindestens 2 bis 3 Minuten, vorliegen.
14 Gegen den ihr am 10.12.2018 zugestellten Gerichtsbescheid des SG hat die Klägerin am 09.01.2019 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben.
15 Zur Berufungsbegründung trägt die Klägerin vor, pro Arbeitstag 450 Metallteile von erheblichem Gewicht aus einer Gitterbox entnommen und wieder in eine Gitterbox gelegt zu haben. Damit habe sie sich im Verlauf eines Arbeitstages 900mal bücken und wieder aufrichten müssen. Das Zusammenspiel von Heben und Tragen schwerer Lasten und die infolge des Bückens ständig ungünstige Körperhaltung in langjähriger Tätigkeit erfüllten die Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV.
16 Die Klägerin beantragt wörtlich,
17 „in Abänderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Karlsruhe vom 03.12.2018 – Aktenzeichen S 15 U 2598/17 wird der Bescheid der Beklagten vom 06.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.07.2017 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin als Folge einer Berufskrankheit anzuerkennen.“
18 Die Beklagte beantragt,
19 die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
20 Sie verweist auf ihren Bescheid, ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren und den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheiten Nr. 2108 und Nr. 2109 seien nicht erfüllt. Im Weiteren seien auch die medizinischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV nicht gegeben.
21 Auf Verfügung des Berichterstatters vom 19.05.2020 hat die Beklagte den Präventionsdienst mit der Ermittlung des Gewichts der von der Klägerin arbeitstäglich zu hebenden Teile beauftragt. Ausweislich des Berichts des Präventionsdienstes vom 03.08.2020 lag das Einzelgewicht der typischen von der Klägerin zu bearbeitenden Werkstücke bei ca. 100g. Schwere Werkstücke wogen 2 kg. Eine gefüllte Gitterbox hat der Präventionsdienst mit einem Gewicht von 25 kg angesetzt. In der angestellten Dosisberechnung nach dem Mainz-Dortmunder Dosismodell (MDD) ist der Präventionsdienst davon ausgegangen, dass die Klägerin an 50 Schichten im Jahr eine 25 kg schwere Box fünfmal alleine heben musste. Auf dieser Basis hat er eine Gesamtdosis von 1 x 106 Nh (1 MNh) errechnet. Dies entspreche einem prozentualen Anteil von 6 % des Orientierungswertes von 17 x 106 Nh, weshalb der hälftige Orientierungswert von 8,5 x 106 Nh unterschritten sei.
22 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
23 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe
24 Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte sowie nach § 151 SGG form- und fristgerechte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet. Das SG hat die auf Anerkennung der Berufskrankheiten Nr. 2108 und Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV gerichtete, als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 3 SGG zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung ihrer Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheiten Nr. 2108 und Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV, weshalb der Bescheid der Beklagten vom 06.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.07.2017 rechtmäßig ist.25 1. Streitgegenstand sind die Berufskrankheiten sowohl Nr. 2108 als auch Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV. Denn der dem Rechtsstreit zugrundeliegende Bescheid vom 06.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.07.2017 enthält in Bezug auf beide Berufskrankheiten eine ablehnende Entscheidung. Die Klägerin hat allein dadurch, dass sich ihr Berufungsvortrag ausschließlich auf die Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV bezieht, eine Beschränkung ihres Klagebegehrens auf diese Berufskrankheit nicht vorgenommen. Ihr weit formulierter Antrag, der auf Anerkennung „einer Berufskrankheit“ wegen ihrer Wirbelsäulenerkrankung gerichtet ist, erfasst beide Berufskrankheiten. Angesichts des Bezugs zu dem Ablehnungsbescheid ist der Inhalt des Antrags durch Auslegung ermittelbar und noch hinreichend bestimmt.26 2. Rechtsgrundlage für die Feststellung einer Berufskrankheit ist § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Nach dieser Vorschrift sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII wird die Bundesregierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.27 a) Die Anlage 1 zur BKV bezeichnet in Nr. 2108 als Berufskrankheit bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.28 b) In Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV werden als Berufskrankheit bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter bezeichnet, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.29 c) Nach der Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-Berufskrankheit erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung, die Einwirkungen und die Krankheit im Sinne des Vollbeweises – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 04.07.2013 – B 2 U 11/12 R – juris, Rn. 12 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 25/10 R – juris; BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 22/10 R – juris; BSG, Urteil vom 02.04.2009 – B 2 U 30/07 R – juris; BSG, Urteil vom 02.04.2009 – B 2 U 9/08 R – juris).30 3. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.31 a) Zwar gehört die Klägerin zu dem versicherten Personenkreis. Sie war in der Zeit vom 01.02.1981 bis zum 31.03.2013 als Produktionsmitarbeiterin eines metallverarbeitenden Unternehmens beschäftigt. Sie ist damit Versicherte im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII.32 b) Allerdings liegen die arbeitstechnischen Voraussetzungen weder in Bezug auf die Berufskrankheit Nr. 2108 (dazu aa) noch in Bezug auf die Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV (dazu bb) vor.33 aa) Die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV liegen nicht vor. Teilweise waren die Lasten nicht „schwer“ im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV (dazu 1). Im Übrigen beruhen die bei der Klägerin bestehenden Lendenwirbelsäulenerkrankungen nicht ursächlich auf dem langjährigen Heben und Tragen von Lasten (dazu (2).34 (1) Die Klägerin war in ihrer versicherten Tätigkeit langjährig, nämlich 32 Jahre, folgenden Lasten ausgesetzt: Ausweislich des Ermittlungsergebnisses des Präventionsdienstes der Beklagten hatten die kleineren Werkteile überwiegend ein Gewicht von 100 g, einige wogen maximal 2 kg. Diese Teile hat die Klägerin in einer Arbeitsschicht 900mal gehoben. Die gefüllten Gitterboxen hatten ein Gewicht von 25 kg. Unter Berücksichtigung des Vortrags der Klägerin und der Angaben ihres früheren Arbeitgebers ist der Präventionsdienst davon ausgegangen, dass sie die 25 kg schweren Kisten in jährlich 50 Schichten und je Schicht fünfmal gehoben hat. Anhaltspunkte, dass diese Annahmen unzutreffend sein könnten, bestehen nicht. Insbesondere hat auch die Klägerin hiergegen keine Einwände erhoben.35 Diese Lasten sind nur in Bezug auf die 25 kg schweren Gitterboxen „schwer“ im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV. Die kleineren Werkteile mit einem Gewicht von maximal 2 kg sind nicht „schwer“ in diesem Sinne. Zur Beantwortung der Frage, wann Lasten „schwer“ sind und demnach mit einem erhöhten Risiko für die Verursachung von Lendenwirbelsäulenerkrankungen einhergehen, enthält das Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Berufskrankheit Nr. 2108 vom 01.09.2006 (Bundesarbeitsblatt 10-2006, S. 30 ff.), das jedenfalls als Interpretationshilfe herangezogen werden kann (BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 20/14 R – juris Rn. 15), folgende Richtwerte: Für Frauen liegt der Wert für beidhändiges Tragen bei 10 kg, für einhändiges Tragen bei 5 kg. Hiernach sind nur die gefüllten Gitterboxen „schwer“, die Werkteile – selbst die mit einem Gewicht von 2 kg – unterschreiten diese Werte sogar bei einhändigem Tragen deutlich.36 (2) Das durch die versicherte Tätigkeit veranlasste Heben und Tragen der schweren Lasten ist nicht ursächlich für die bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen der Lendenwirbelsäule.37 (a) Die Klägerin leidet an folgenden Lendenwirbelsäulenerkrankungen: Zustand nach Wirbelsäulenversteifung LWK 3 – SWK 1 (2016), Zustand nach Spondylodese L5/S1 (2006), Anschlussdekompensation LWK 4/5 bei Bandscheibenvorfall und multisegmentalen degenerativen Veränderungen der LWS. Dies entnimmt der Senat den sachverständigen Zeugenauskünften von Dr. W., Dr. Y. und Dr. N. sowie dem Entlassungsbericht der Fachklinik W. vom 26.01.2017, dem Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik K. vom 12.08.2013 und den Befundberichten des Klinikums K. vom 02.11.2016, 21.07.2016 sowie 15.06.2016. Hierbei handelt es sich nach der überzeugenden Einschätzung des behandelnden Orthopäden Dr. W. um einen altersuntypischen Befund.38 (b) Diese Bandscheibenerkrankungen beruhen nicht ursächlich auf der beruflichen Einwirkungsbelastung durch die schweren Lasten.39 (aa) Die Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV verlangt, dass die Lendenwirbelsäulenerkrankung durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten bzw. Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht sein muss. Die Bestimmung der für die Verursachung der Erkrankung erforderlichen Belastungsdosis kann anhand des Mainz-Dortmunder Dosismodells (MDD) erfolgen. Nach der Rechtsprechung des BSG handelt es sich hierbei um eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BK 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen „langjähriges“ Heben und Tragen „schwerer“ Lasten oder „langjährige“ Tätigkeit in „extremer Rumpfbeugehaltung“ nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen zu konkretisieren (st. Rspr. zuletzt BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 13/17 R –, juris Rn. 16; BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 10/17 R – juris Rn. 19, jeweils m.w.N.). Allerdings legt das MDD selbst für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder - so der Titel der Veröffentlichung in ASUMed 1999, S. 101 ff. - ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis, werden von seinen Verfassern nicht als Grenz-, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge bezeichnet (ASUMed 1999, S. 101, 109). Auch das aktuelle Merkblatt des BMAS zur Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist, geht von bloßen Orientierungswerten aus (BArbBl 2006, Heft 10, S. 30 ff). Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Berufskrankheit Nr. 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden; umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht von vornherein aus. Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das durch sie beschriebene Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (BSG, Urteil vom 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R –, juris Rn. 18 f.). In diesem Sinne hat der für das Unfallversicherungsrecht zuständige 2. Senat des BSG in seiner Rechtsprechung seit 2007 als unteren Grenzwert bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis zugrunde gelegt (grundlegend BSG, Urteil vom 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R –, juris Rn. 25; siehe zudem BSG Urteil vom 23.4.2015 – B 2 U 6/13 R –, juris Rn. 17; BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 20/14 R –, juris Rn. 27; BSG, Urteil vom 18.11.2008 – B 2 U 14/07 R – juris Rn. 31; BSG, Urteil vom 23.4.2015 – B 2 U 6/13 R –, juris Rn. 17; BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 13/17 R –, juris Rn. 17; BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 10/17 R –, juris Rn. 20). Für Frauen legt das MDD als Gesamtbelastungsdosis 17 MNh fest (BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 6/13 R –, juris Rn. 17). Der hälftige Orientierungswert beläuft sich damit auf 8,5 MNh.40 (bb) Ob eine weitere Absenkung dieser Schwellenwerte im Hinblick auf die Ergebnisse der DWS-Richtwertestudie („Erweiterte Auswertung der Deutschen Richtwerteableitung mit dem Ziel der Ableitung geeigneter Richtwerte – DWS-Richtwerteableitung ; veröffentlicht unter: https://www.dguv.de/ifa/forschung/projektverzeichnis/ff-fb_0155a.jsp) angezeigt ist, hat das BSG bislang offengelassen (siehe BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 13/17 R –, juris Rn. 18; BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 10/17 R –, juris Rn. 21; BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 6/13 R –, juris Rn. 17). Nach dieser Studie liege für Frauen die Verdopplungsdosis des Bandscheiben-Erkrankungsrisikos bei etwa 3 MNh.41 (cc) Im Ergebnis kann es im vorliegenden Fall dahinstehen, ob der herkömmliche hälftige Orientierungswert von 8,5 MNh oder der abgesenkte Wert von 3 MNh zugrunde zu legen ist. Denn nach den in sich stimmigen Berechnungen des Präventionsdienstes unterlag die Klägerin einer Gesamtbelastungsdosis von 1 MNh. Diese Gesamtbelastungsdosis unterschreitet beide Werte deutlich und ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand nicht geeignet, bandscheibenbedingte Erkrankungen auszulösen. Vor diesem Hintergrund bedurfte es keiner weiteren medizinischen Sachverhaltsermittlungen.42 (3) Der Tatbestand der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der „langjährigen Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung“ verwirklicht. Die Klägerin hat ihre berufliche Tätigkeit als Arbeiterin in einer Metallfabrik nicht in „extremer Rumpfbeugehaltung“ ausgeübt.43 (a) Unter Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung sind Arbeiten in Bodenhöhe oder unter der Standfläche zu verstehen, bei denen es zu einer Beugung des Oberkörpers aus der aufrechten Körperhaltung um ca. 90° oder mehr kommt. Ferner zählen Arbeiten in Arbeitsräumen dazu, die niedriger als ca. 100 cm sind und somit andauernde Zwangshaltungen mit Arbeiten im Knien, Hocken, im Fersensitz oder gebeugter beziehungsweiser verdrehter Köperhaltung bedingen (vgl. Merkblatt des BMAS zur Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV). Die hier fokussierten Tätigkeiten sind typisch bei Stahlbetonarbeitern und Verbundsteinlegern, die ohne wirksame Unterbrechung über mehrere Minuten (mindestens 2 bis 3 Minuten) eine so starke Rumpfneigung einnehmen. Dagegen werden die zuvor genannten Voraussetzungen weder bei Tätigkeiten in vorgebeugter Haltung im Sitzen noch bei der Tätigkeit von Friseuren noch bei der zahnärztlichen Tätigkeit erfüllt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 523).44 (b) Die Klägerin hat sich nach ihren Ausführungen im erstinstanzlichen Termin zur Erörterung des Sachverhalts, die sich auch mit dem Ermittlungsergebnis des Präventionsdienstes der Beklagten decken, im Verlauf eines Arbeitstages zwar häufig, ca. 900mal, bücken müssen, um die von ihr zu bearbeitenden Metallteile aus den Gitterboxen zu nehmen und wieder hineinzulegen. Die von ihr hierbei eingenommene Rumpfbeugehaltung hat jedoch nicht ohne wirksame Unterbrechung mindestens 2 bis 3 Minuten angedauert. Sie hat die Rumpfbeugehaltung jeweils nur sehr kurzfristig zum Heben und Zurücklegen eingenommen. Eine andauernde Zwangshaltung hat sie nicht eingenommen.45 bb) Auch die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV liegen nicht vor. Diese Listen-Berufskrankheit verlangt Halswirbelsäulenerkrankungen durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter. Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die Klägerin derartige Arbeiten – das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter – im Rahmen ihrer seit 1981 ausgeübten beruflichen Tätigkeit nicht ausgeführt hat. Dies entnimmt der Senat dem Bericht des Präventionsdienstes, der nach einer Besichtigung des früheren Arbeitsplatzes der Klägerin angegeben hat, dass die Klägerin keine schweren Lasten auf der Schulter tragen musste. Dem entspricht es, dass auch unter Zugrundelegung des Vortrags der Klägerin keine derartigen Tätigkeiten ersichtlich sind.46 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.47 5. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.
Gründe
24 Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte sowie nach § 151 SGG form- und fristgerechte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet. Das SG hat die auf Anerkennung der Berufskrankheiten Nr. 2108 und Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV gerichtete, als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 3 SGG zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung ihrer Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheiten Nr. 2108 und Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV, weshalb der Bescheid der Beklagten vom 06.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.07.2017 rechtmäßig ist.25 1. Streitgegenstand sind die Berufskrankheiten sowohl Nr. 2108 als auch Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV. Denn der dem Rechtsstreit zugrundeliegende Bescheid vom 06.02.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.07.2017 enthält in Bezug auf beide Berufskrankheiten eine ablehnende Entscheidung. Die Klägerin hat allein dadurch, dass sich ihr Berufungsvortrag ausschließlich auf die Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV bezieht, eine Beschränkung ihres Klagebegehrens auf diese Berufskrankheit nicht vorgenommen. Ihr weit formulierter Antrag, der auf Anerkennung „einer Berufskrankheit“ wegen ihrer Wirbelsäulenerkrankung gerichtet ist, erfasst beide Berufskrankheiten. Angesichts des Bezugs zu dem Ablehnungsbescheid ist der Inhalt des Antrags durch Auslegung ermittelbar und noch hinreichend bestimmt.26 2. Rechtsgrundlage für die Feststellung einer Berufskrankheit ist § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Nach dieser Vorschrift sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII wird die Bundesregierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.27 a) Die Anlage 1 zur BKV bezeichnet in Nr. 2108 als Berufskrankheit bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.28 b) In Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV werden als Berufskrankheit bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter bezeichnet, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.29 c) Nach der Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-Berufskrankheit erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung, die Einwirkungen und die Krankheit im Sinne des Vollbeweises – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 04.07.2013 – B 2 U 11/12 R – juris, Rn. 12 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 25/10 R – juris; BSG, Urteil vom 15.09.2011 – B 2 U 22/10 R – juris; BSG, Urteil vom 02.04.2009 – B 2 U 30/07 R – juris; BSG, Urteil vom 02.04.2009 – B 2 U 9/08 R – juris).30 3. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.31 a) Zwar gehört die Klägerin zu dem versicherten Personenkreis. Sie war in der Zeit vom 01.02.1981 bis zum 31.03.2013 als Produktionsmitarbeiterin eines metallverarbeitenden Unternehmens beschäftigt. Sie ist damit Versicherte im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII.32 b) Allerdings liegen die arbeitstechnischen Voraussetzungen weder in Bezug auf die Berufskrankheit Nr. 2108 (dazu aa) noch in Bezug auf die Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV (dazu bb) vor.33 aa) Die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV liegen nicht vor. Teilweise waren die Lasten nicht „schwer“ im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV (dazu 1). Im Übrigen beruhen die bei der Klägerin bestehenden Lendenwirbelsäulenerkrankungen nicht ursächlich auf dem langjährigen Heben und Tragen von Lasten (dazu (2).34 (1) Die Klägerin war in ihrer versicherten Tätigkeit langjährig, nämlich 32 Jahre, folgenden Lasten ausgesetzt: Ausweislich des Ermittlungsergebnisses des Präventionsdienstes der Beklagten hatten die kleineren Werkteile überwiegend ein Gewicht von 100 g, einige wogen maximal 2 kg. Diese Teile hat die Klägerin in einer Arbeitsschicht 900mal gehoben. Die gefüllten Gitterboxen hatten ein Gewicht von 25 kg. Unter Berücksichtigung des Vortrags der Klägerin und der Angaben ihres früheren Arbeitgebers ist der Präventionsdienst davon ausgegangen, dass sie die 25 kg schweren Kisten in jährlich 50 Schichten und je Schicht fünfmal gehoben hat. Anhaltspunkte, dass diese Annahmen unzutreffend sein könnten, bestehen nicht. Insbesondere hat auch die Klägerin hiergegen keine Einwände erhoben.35 Diese Lasten sind nur in Bezug auf die 25 kg schweren Gitterboxen „schwer“ im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV. Die kleineren Werkteile mit einem Gewicht von maximal 2 kg sind nicht „schwer“ in diesem Sinne. Zur Beantwortung der Frage, wann Lasten „schwer“ sind und demnach mit einem erhöhten Risiko für die Verursachung von Lendenwirbelsäulenerkrankungen einhergehen, enthält das Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Berufskrankheit Nr. 2108 vom 01.09.2006 (Bundesarbeitsblatt 10-2006, S. 30 ff.), das jedenfalls als Interpretationshilfe herangezogen werden kann (BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 20/14 R – juris Rn. 15), folgende Richtwerte: Für Frauen liegt der Wert für beidhändiges Tragen bei 10 kg, für einhändiges Tragen bei 5 kg. Hiernach sind nur die gefüllten Gitterboxen „schwer“, die Werkteile – selbst die mit einem Gewicht von 2 kg – unterschreiten diese Werte sogar bei einhändigem Tragen deutlich.36 (2) Das durch die versicherte Tätigkeit veranlasste Heben und Tragen der schweren Lasten ist nicht ursächlich für die bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen der Lendenwirbelsäule.37 (a) Die Klägerin leidet an folgenden Lendenwirbelsäulenerkrankungen: Zustand nach Wirbelsäulenversteifung LWK 3 – SWK 1 (2016), Zustand nach Spondylodese L5/S1 (2006), Anschlussdekompensation LWK 4/5 bei Bandscheibenvorfall und multisegmentalen degenerativen Veränderungen der LWS. Dies entnimmt der Senat den sachverständigen Zeugenauskünften von Dr. W., Dr. Y. und Dr. N. sowie dem Entlassungsbericht der Fachklinik W. vom 26.01.2017, dem Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik K. vom 12.08.2013 und den Befundberichten des Klinikums K. vom 02.11.2016, 21.07.2016 sowie 15.06.2016. Hierbei handelt es sich nach der überzeugenden Einschätzung des behandelnden Orthopäden Dr. W. um einen altersuntypischen Befund.38 (b) Diese Bandscheibenerkrankungen beruhen nicht ursächlich auf der beruflichen Einwirkungsbelastung durch die schweren Lasten.39 (aa) Die Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV verlangt, dass die Lendenwirbelsäulenerkrankung durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten bzw. Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht sein muss. Die Bestimmung der für die Verursachung der Erkrankung erforderlichen Belastungsdosis kann anhand des Mainz-Dortmunder Dosismodells (MDD) erfolgen. Nach der Rechtsprechung des BSG handelt es sich hierbei um eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BK 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen „langjähriges“ Heben und Tragen „schwerer“ Lasten oder „langjährige“ Tätigkeit in „extremer Rumpfbeugehaltung“ nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen zu konkretisieren (st. Rspr. zuletzt BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 13/17 R –, juris Rn. 16; BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 10/17 R – juris Rn. 19, jeweils m.w.N.). Allerdings legt das MDD selbst für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder - so der Titel der Veröffentlichung in ASUMed 1999, S. 101 ff. - ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis, werden von seinen Verfassern nicht als Grenz-, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge bezeichnet (ASUMed 1999, S. 101, 109). Auch das aktuelle Merkblatt des BMAS zur Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist, geht von bloßen Orientierungswerten aus (BArbBl 2006, Heft 10, S. 30 ff). Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Berufskrankheit Nr. 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden; umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht von vornherein aus. Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das durch sie beschriebene Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (BSG, Urteil vom 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R –, juris Rn. 18 f.). In diesem Sinne hat der für das Unfallversicherungsrecht zuständige 2. Senat des BSG in seiner Rechtsprechung seit 2007 als unteren Grenzwert bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis zugrunde gelegt (grundlegend BSG, Urteil vom 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R –, juris Rn. 25; siehe zudem BSG Urteil vom 23.4.2015 – B 2 U 6/13 R –, juris Rn. 17; BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 20/14 R –, juris Rn. 27; BSG, Urteil vom 18.11.2008 – B 2 U 14/07 R – juris Rn. 31; BSG, Urteil vom 23.4.2015 – B 2 U 6/13 R –, juris Rn. 17; BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 13/17 R –, juris Rn. 17; BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 10/17 R –, juris Rn. 20). Für Frauen legt das MDD als Gesamtbelastungsdosis 17 MNh fest (BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 6/13 R –, juris Rn. 17). Der hälftige Orientierungswert beläuft sich damit auf 8,5 MNh.40 (bb) Ob eine weitere Absenkung dieser Schwellenwerte im Hinblick auf die Ergebnisse der DWS-Richtwertestudie („Erweiterte Auswertung der Deutschen Richtwerteableitung mit dem Ziel der Ableitung geeigneter Richtwerte – DWS-Richtwerteableitung ; veröffentlicht unter: https://www.dguv.de/ifa/forschung/projektverzeichnis/ff-fb_0155a.jsp) angezeigt ist, hat das BSG bislang offengelassen (siehe BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 13/17 R –, juris Rn. 18; BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 10/17 R –, juris Rn. 21; BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 6/13 R –, juris Rn. 17). Nach dieser Studie liege für Frauen die Verdopplungsdosis des Bandscheiben-Erkrankungsrisikos bei etwa 3 MNh.41 (cc) Im Ergebnis kann es im vorliegenden Fall dahinstehen, ob der herkömmliche hälftige Orientierungswert von 8,5 MNh oder der abgesenkte Wert von 3 MNh zugrunde zu legen ist. Denn nach den in sich stimmigen Berechnungen des Präventionsdienstes unterlag die Klägerin einer Gesamtbelastungsdosis von 1 MNh. Diese Gesamtbelastungsdosis unterschreitet beide Werte deutlich und ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand nicht geeignet, bandscheibenbedingte Erkrankungen auszulösen. Vor diesem Hintergrund bedurfte es keiner weiteren medizinischen Sachverhaltsermittlungen.42 (3) Der Tatbestand der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der „langjährigen Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung“ verwirklicht. Die Klägerin hat ihre berufliche Tätigkeit als Arbeiterin in einer Metallfabrik nicht in „extremer Rumpfbeugehaltung“ ausgeübt.43 (a) Unter Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung sind Arbeiten in Bodenhöhe oder unter der Standfläche zu verstehen, bei denen es zu einer Beugung des Oberkörpers aus der aufrechten Körperhaltung um ca. 90° oder mehr kommt. Ferner zählen Arbeiten in Arbeitsräumen dazu, die niedriger als ca. 100 cm sind und somit andauernde Zwangshaltungen mit Arbeiten im Knien, Hocken, im Fersensitz oder gebeugter beziehungsweiser verdrehter Köperhaltung bedingen (vgl. Merkblatt des BMAS zur Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV). Die hier fokussierten Tätigkeiten sind typisch bei Stahlbetonarbeitern und Verbundsteinlegern, die ohne wirksame Unterbrechung über mehrere Minuten (mindestens 2 bis 3 Minuten) eine so starke Rumpfneigung einnehmen. Dagegen werden die zuvor genannten Voraussetzungen weder bei Tätigkeiten in vorgebeugter Haltung im Sitzen noch bei der Tätigkeit von Friseuren noch bei der zahnärztlichen Tätigkeit erfüllt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 523).44 (b) Die Klägerin hat sich nach ihren Ausführungen im erstinstanzlichen Termin zur Erörterung des Sachverhalts, die sich auch mit dem Ermittlungsergebnis des Präventionsdienstes der Beklagten decken, im Verlauf eines Arbeitstages zwar häufig, ca. 900mal, bücken müssen, um die von ihr zu bearbeitenden Metallteile aus den Gitterboxen zu nehmen und wieder hineinzulegen. Die von ihr hierbei eingenommene Rumpfbeugehaltung hat jedoch nicht ohne wirksame Unterbrechung mindestens 2 bis 3 Minuten angedauert. Sie hat die Rumpfbeugehaltung jeweils nur sehr kurzfristig zum Heben und Zurücklegen eingenommen. Eine andauernde Zwangshaltung hat sie nicht eingenommen.45 bb) Auch die arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV liegen nicht vor. Diese Listen-Berufskrankheit verlangt Halswirbelsäulenerkrankungen durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter. Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die Klägerin derartige Arbeiten – das Tragen schwerer Lasten auf der Schulter – im Rahmen ihrer seit 1981 ausgeübten beruflichen Tätigkeit nicht ausgeführt hat. Dies entnimmt der Senat dem Bericht des Präventionsdienstes, der nach einer Besichtigung des früheren Arbeitsplatzes der Klägerin angegeben hat, dass die Klägerin keine schweren Lasten auf der Schulter tragen musste. Dem entspricht es, dass auch unter Zugrundelegung des Vortrags der Klägerin keine derartigen Tätigkeiten ersichtlich sind.46 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.47 5. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist. | {
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Tenor
Die einstweilige Verfügung der 4. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Köln vom 09.06.2020 (84 O 96/20) in Form des Berichtigungsbeschlusses vom 16.06.2020 wird aufgehoben und der auf ihn gerichtete Antrag vom 05.06.2020 zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Antragstellerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des nach dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Antragsgegnerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1T a t b e s t a n d :
2Die Antragstellerin ist ein Krankenversicherungsunternehmen.
3Die Antragsgegnerin ist Versicherungsmakler.
4Die Antragsgegnerin hat am 21.04.2020 die in der einstweiligen Verfügung der Kammer eingeblendete E-Mail an den Versicherungsnehmer der Antragstellerin, Herrn S , versandt.
5Die Antragstellerin behauptet, Herr S habe keinerlei Einwilligung in den Erhalt von E-Mail-Werbung gegenüber der Antragsgegnerin erteilt. Herr S könne auch ausschließen, irgendwo im Internet ein Formular ausgefüllt oder ein Häkchen gesetzt zu haben, das eine Einwilligung in den Erhalt von E-Mail-Werbung beinhaltet habe. Zur Glaubhaftmachung bezieht sie sich auf die eidesstattliche Versicherung des Herrn S vom 02.06.2020 (Anlage ASt 2).
6Die Antragstellerin die nachstehend wiedergegebene einstweilige Verfügung der Kammer vom 09.06.2020 erwirkt, die durch Beschluss der Kammer vom 16.06.2020 berichtigt worden ist:
7Abschrift
84 O 96/20
8Landgericht Köln
9Beschluss
10In dem einstweiligen VerfügungsverfahrenXXX gegen XXX
11wird das Rubrum des Beschlusses der 4. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Köln vom 09.06.2020 gemäß § 319 ZPO wegen offenbarer Unrichtigkeit dahingehend berichtigt, dass dieses wie folgt lautet:
12In dem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung
13XXXX
14 Antragstellerin,
15- Verfahrensbevollmächtigte: XXXX
16gegen
17die XXXX
18 Antragsgegnerin,
19- Verfahrensbevollmächtigte: XXXX -
20Köln, 16.06.20204. Kammer für Handelssachen
21Der Vorsitzende
22
23Landgericht Köln
24BESCHLUSS
2584 O 96/20
26In dem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung
27XXXX
28 Antragstellerin,
29- Verfahrensbevollmächtigte: XXX
30gegen
31die XXXX
32 Antragsgegnerin,
33- Verfahrensbevollmächtigte: XXX
34hat die Antragstellerin die Voraussetzungen für die nachstehende einstweilige Verfügung glaubhaft gemacht durch Vorlage einer E-Mail der Antragsgegnerin, eidesstattlicher Versicherungen sowie sonstiger Unterlagen.
35Die vorgerichtliche Korrespondenz hat vorgelegen.
36Auf Antrag der Antragstellerin wird gemäߠ §§ 3, 7 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3, 8, 12, 14 UWG sowie §§ 91, 890, 936 ff., 944 ZPO im Wege der einstweiligen Verfügung und zwar wegen der Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung und durch den Vorsitzenden anstelle des Prozessgerichts Folgendes angeordnet:
37381. Die Antragsgegnerin hat es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu € 250.000,-, und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, oder von Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Wiederholungsfall Ordnungshaft bis zu 2 Jahren, zu vollstrecken an der Geschäftsführerin der Antragsgegnerin, zu unterlassen,
39Verbraucher zu Werbezwecken per E-Mail zu kontaktieren, ohne dass eine vorherige ausdrückliche Einwilligung des kontaktierten Verbrauchers vorliegt, insbesondere wenn der Verbraucher Versicherungsnehmer der Antragstellerin ist, insbesondere wenn dies geschieht wie nachstehend wiedergegeben mit der an Herrn S gerichteten E-Mail vom 21.04.2020:
40Inhalt wurde für die Veröffentlichung entfernt.
41Inhalt wurde für die Veröffentlichung entfernt.
42432. Die Kosten des Verfahrens werden der Antragsgegnerin auferlegt.
443. Streitwert: € 20.000,- (§ 51 Abs. 4 GKG).
45Rechtsbehelfsbelehrung:
46Gegen diesen Beschluss kann Widerspruch eingelegt werden. Dieser ist beim Landgericht Köln, Luxemburger Straße 101, 50939 Köln, schriftlich durch einen zugelassenen Rechtsanwalt einzulegen und soll begründet werden.
47Landgericht Köln, den 29.10.2020
484. Kammer für Handelssachen
49Der Vorsitzende
50Nach Widerspruch beantragt die Antragstellerin,
51die einstweilige Verfügung der Kammer vom 09.06.2020 (84 O 96/20) in Form des Berichtigungsbeschlusses vom 16.06.2020 zu bestätigen.
52Die Antragsgegnerin beantragt,
53wie erkannt.
54Sie meint, zwischen den Parteien bestehe bereits kein Wettbewerbsverhältnis; bei der E-Mail vom 21.04.2020 handele es sich nicht um Werbung. Insbesondere behauptet sie, Herr S sei am 21.07.2018 über das Kontaktformular auf der Webseite der Antragsgegnerin mit selbiger in Kontakt getreten und zwar eigeninitiativ und freiwillig. Dieser habe sich zu einem Blogartikel gemeldet und dabei die Datenschutzinformationen bestätigt, seinen vollständigen Namen, seine Handynummer, seine E-Mail-Adresse [email protected] sowie seine Krankenversicherungsnummer angegeben und eine konkrete Frage („Habe Karte verloren. Wie komme ich a Ersatz?“) formuliert. Da Herr S telefonisch nicht zu erreichen gewesen sei, habe ein Mitarbeiter der Antragsgegnerin an Herrn S am 23.07.2028 ein E-Mail versandt mit der Frage „Leider erreichen wir Sie nicht. Wie können wir Ihnen weiterhelfen?“. Am 06.08.2018 habe ein Mitarbeiter der Antragsgegnerin vergeblich versucht, Herrn S über die angegebene Mobilfunknummer zu erreichen. Am 23.08.2018 habe Herr S die Antragsgegnerin persönlich angerufen und mitgeteilt, es sei jetzt 88 Jahre und überlege nun von der privaten Krankenversicherung in die gesetzliche Krankenversicherung zu wechseln.
55Zur Glaubhaftmachung bezieht sich die Antragsgegnerin insbesondere auf das Kontaktformular (Anlage AG 2) sowie die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen (Anlage AG 3, AG 4).
56Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.
57E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
58Die einstweilige Verfügung der Kammer vom 09.06.2020 in Form des Berichtigungsbeschlusses vom 16.06.2020 war aufzuheben und der auf ihren Erlass gerichtete Antrag von 05.06.2020 zurückzuweisen, weil nach dem weiteren Vortrag der Parteien ein Verfügungsanspruch aus §§ 3, 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, §§ 7 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 UWG nicht mehr glaubhaft gemacht ist.
59Die Antragsgegnerin hat vorgetragen und glaubhaft gemacht, dass Herr S sehr wohl vor Erhalt der streitgegenständlichen E-Mail vom 21.04.2020 seine ausdrückliche Einwilligung gegenüber der Antragsgegnerin erklärt hat, von dieser bezüglich seiner privaten Krankenversicherung per E-Mail kontaktiert werden zu dürfen.
60Ob eine Erklärung eine Einwilligung darstellt und wie weit sie inhaltlich und zeitlich reicht, ist durch Auslegung anhand der Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Dabei sind die allgemeinen Auslegungsgrundsätze heranzuziehen. Es kommt darauf an, ob aus Sicht des werbenden Unternehmens bei verständiger Würdigung eine Einwilligung des Verbrauchers in den Erhalt von E-Mails (auch) zu Werbezwecken anzunehmen ist. Er darf von einem normal informierten und angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher ausgehen. Dabei muss die Einwilligung nicht schriftlich in Worten dahingehend ausformuliert werden, dass Einverständnis in den Erhalt von E-Mails an die E-Mail-Adresse „xy“ zu diesem oder jenem Zweck besteht. Vielmehr kann die Einwilligung auch dadurch erklärt werden, dass der Verbraucher seine E-Mail-Adresse auf einem Bestellformular, Vertragsformular oder – wie vorliegend – in ein Kontaktformular auf einer Webseite des Werbenden einträgt (Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 38. Auflage, § 7 Rn. 146, 146b). Dies reicht für eine „sonstige eindeutige bestätigende Handlung“ im Sinne des § 4 Nr. 11 DS-GVO aus.
61Dass Herr S es war, der auf dem Kontaktformular auf der Webseite der Antragsgegnerin (Anlage AG 2) seinen vollständigen Namen, seine Handynummer, seine E-Mail-Adresse [email protected] sowie seine Krankenversicherungsnummer angegeben hat, hält die Kammer durch Vorlage der Anlage AG 2 und der zu den Akten gereichten eidesstattlichen Versicherungen (Anlagen AG 3 und AG 4) als glaubhaft gemacht an. Die Kammer fragt sich, vom wem die Antragsgegnerin die Handynummer, die E-Mail-Adresse [email protected] sowie insbesondere die Krankenversicherungsnummer des Herrn S erhalten haben soll oder woher sie sonst Kenntnis von diesen Daten haben soll, wenn nicht von Herrn S persönlich. Zwar hat Herr S in seiner eidesstattlichen Versicherung (Anlage ASt 2) ausgeführt, keinen Kontakt mit der Antragsgegnerin gehabt zu haben und im Internet auch nicht versehentlich irgendeine Maske ausgefüllt oder ein Häkchen etc. gesetzt zu haben. Herr S hatte aber zum Zeitpunkt der Abgabe seiner eidesstattlichen Versicherung keine Kenntnis von dem detaillierten Sachvortrag der Antragsgegnerin in der Widerspruchsbegründung. Die Antragstellerin hat es offenbar verabsäumt, Herrn S zu dem Sachvortrag der Antragsgegnerin zu befragen und ihn um eine Stellungnahme und ggf. zur Abgabe einer ergänzenden eidesstattlichen Versicherung zu dem Sachvortrag der Antragsgegnerin zu bitten. Die Kammer kann mithin nicht ausschließen, dass Herrn S die Kontaktaufnahme mit der Antragsgegnerin im Jahre 2018 nicht mehr erinnerlich war, was insbesondere aufgrund dessen Alter nicht verwunderlich wäre. Jedenfalls fehlt es an einer weiteren Glaubhaftmachung seitens der Antragstellerin, die geeignet wäre, den Vortrag der Antragsgegnerin zur Einwilligung des Herrn S zu entkräften oder zumindest zu einem non liquet zu kommen.
62Selbst wenn man die Eintragungen und die Anfrage des Herrn S auf dem Kontaktformular der Antragsgegnerin als anlassbezogene Einwilligung in den Erhalt von E-Mails beschränkt auf die konkrete Anfrage des Herrn S („Habe Karte verloren. Wie komme ich a Ersatz?“) auslegen würde (Einwilligung für den konkreten Fall), ergäbe sich keine andere Beurteilung. Es ist glaubhaft gemacht, dass Herr S den Erhalt von E-Mails der Antragsgegnerin nie widersprochen hat und sich darüber hinaus am 23.08.2018 selbst telefonisch an die Antragsgegnerin mit dem Wunsch des Wechsels von der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung gewandt hat. Dies zeigt (ex post), dass sich die Einwilligung des Herrn S vom 21.07.2018 generell auf die Kontaktaufnahme per Telefon und per E-Mail seitens der Antragsgegnerin „rund“ um seine private Krankenversicherung, deren Versicherungsnummer er mitgeteilt hat, erstreckt.
63Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 708 Nr. 6, 711 ZPO.
64Streitwert: 20.000,00 € (§ 51 Abs. 4 GKG)
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 1. Februar 2018 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen - unter Einbeziehung des rechtskräftig gewordenen Teils der erstinstanzlichen Kostenentscheidung - die Kläger als Gesamtschuldner und die Beklagte jeweils zur Hälfte. Die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens tragen die Kläger als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind in beiden Instanzen nicht erstattungsfähig.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig voll-streckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die Kläger wenden sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte immissionsschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung für die Benutzung eines Lautsprechers zur Durchführung des Gebetsrufs des Muezzins anlässlich des Freitagsgebets.
3Die Kläger sind Eigentümer des mit einem selbstgenutzten Wohngebäude bebauten Grundstücks Gemarkung P. -F. , Flur , Flurstück mit der Anschrift M. Straße in P. -F. . Das Grundstück liegt nicht innerhalb des Geltungsbereichs eines Bebauungsplans. Es grenzt im Osten und Süden an weitere mit Wohngebäuden bebaute Grundstücke an. Im Westen bzw. Nordwesten schließt sich jenseits eines Baumbestandes eine Sportanlage mit zwei Fußballplätzen an. Nördlich des Grundstücks befindet sich ein landwirtschaftlich genutztes Feld. Östlich des klägerischen Grundstücks beginnt jenseits der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Lohhäuser Straße das Gebiet des Bebauungsplans Nr. 52 „Lohhäuser Berg“, der in diesem Bereich ein reines Wohngebiet festsetzt.
4Südöstlich des Grundstücks der Kläger liegt in circa 890 m Entfernung jenseits von Wohnbebauung und eines Wäldchens das Grundstück Gemarkung P. -F. , Flur , Flurstück mit der Anschrift Klein-F1. -Straße . Die dort aufstehenden Gebäude nutzt der Beigeladene für die Zwecke seiner türkisch-islamischen Gemeinde. Insbesondere befindet sich hier auch eine Moschee. Das von dem Beigeladenen genutzte Grundstück liegt nicht innerhalb des Geltungsbereichs eines Bebauungsplans. Allein in östlicher Richtung grenzen entlang der Klein-F1. -Straße mehrere Wohngebäude ‑ unmittelbar östlich das Wohngebäude mit der Anschrift Klein-F1. -Str. - daran an. Im Übrigen befinden sich im näheren Umfeld des Grundstücks überwiegend freie Flächen.
5Auf dessen Antrag vom 15. Juli 2014 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen mit Bescheid vom 15. September 2014 eine Ausnahme nach dem Landes-Immissionsschutzgesetz zur Benutzung von Geräten, die der Schallerzeugung oder der Schallwiedergabe dienen, zur Durchführung des Gebetsrufes für das Freitagsgebet ausgehend von dem durch den Beigeladenen genutzten Gelände mit der Anschrift Klein-F1. -Straße jeweils freitags in der Zeit von 12.00 Uhr bis 14.00 Uhr für maximal 15 Minuten. Unter „2. Nebenbestimmungen“ sah die Ausnahmegenehmigung Folgendes vor:
6a) Die Unterschreitung folgender Lärmpegel als Mittelungspegel ist an dem von mir festgelegten Messpunkt, das ist das Wohngebäude Klein-F1. -Str. sicherzustellen.
7Folgende Messwerte dürfen nicht überschritten werden: jeweils freitags im Zeitraum von 12:00 - 14.00 Uhr für max. 15 Minuten, 55 dB(A), kurzfristige Geräuschspitzen 85 dB(A).
8b) Die Lautsprecheranlage ist mit Schallrichtung Nordwest auszurichten.
9Die Genehmigung war bis zum 31. Dezember 2015 befristet und erging unter dem Vorbehalt des Widerrufs. Zur Begründung des Bescheides führte die Beklagte im Wesentlichen aus: Gemäß § 10 Abs. 1 LImSchG NRW dürften Geräte, die der Schallerzeugung oder Schallwiedergabe dienen, nur in einer solchen Lautstärke betrieben werden, dass unbeteiligte Personen nicht erheblich belästigt würden. Sowohl die Erteilung einer Ausnahme als auch der Erlass von Nebenbestimmungen stünden im Ermessen der Behörde. Bei der Durchführung des Gebetsrufs handele es sich um eine Immission im Sinne der TA Lärm in einem allgemeinen Wohngebiet. Dafür seien die oben genannten Richtwerte festgelegt worden. Der Aufruf zum Freitagsgebet sei durch das Grundgesetz geschützt. Da dieser Aufruf zum Gebet ähnlich dem christlichen Glockengeläut der Religionsausübung diene und vor allem die muslimischen Bewohner der Ortsteile S. und Klein-F. erreichen solle, könne eine Ausnahme zugelassen werden. Die Ausnahme sei unter Berücksichtigung der nachbarschaftlichen Interessen erteilt worden. Im Rahmen der Erlaubniserteilung seien unter anderem die Lage des Platzes, die Schallrichtung, die Entfernung zu den Wohnungen der Nachbarn, die Zahl der Betroffenen und die Dauer der Veranstaltung (einmal in der Woche für 15 Minuten) berücksichtigt worden.
10Ihre gegen den Bescheid vom 15. September 2014 vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erhobene Klage - 8 K 5351/14 - nahmen die Kläger nach einem rechtlichen Hinweis darauf, dass es vor Klageerhebung eines Widerspruchsverfahrens bedurft hätte, zurück.
11Sie erhoben daraufhin mit Schriftsatz vom 6. März 2015 Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten.
12Die Kläger haben am 3. Juli 2015 Klage erhoben.
13Mit Widerspruchsbescheid vom 27. November 2015 hat die Beklagte den Widerspruch der Kläger gegen den Bescheid vom 15. September 2014 zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt: Die Ausnahmegenehmigung erweise sich auch nach nochmaliger Prüfung als rechtmäßig. Aufgrund der Nebenbestimmungen sei davon auszugehen, dass die umliegenden Wohnbereiche nicht in unzumutbarer Weise gestört würden. Diese Nebenbestimmungen dürften nicht nur dem gegenseitigen Rücksichtnahmegedanken des nachbarlichen Immissionsschutzes, sondern auch der von den Klägern geltend gemachten negativen Religionsfreiheit Rechnung tragen. Der lautsprecherverstärkte Gebetsruf sei von der Religionsfreiheit geschützt. Die negative genieße keinen Vorrang gegenüber der positiven Religionsfreiheit. Sie schütze nicht vor der Konfrontation mit anderen religiösen Überzeugungen und gebe kein Recht, anderen ihre positive Religionsausübung zu untersagen.
14Auf dessen Antrag vom 12. Januar 2017 hat die Beklagte dem Beigeladenen nach Ablauf der Geltungsdauer der mit Bescheid vom 15. September 2014 erteilten Ausnahmegenehmigung mit Bescheid vom 25. Januar 2017 eine weitere Ausnahme nach dem Landes-Immissionsschutzgesetz zur Durchführung des Gebetsrufes für das Freitagsgebet ausgehend von dem Gelände mit der Anschrift Klein-F1. -Straße jeweils freitags in der Zeit von 12.00 Uhr bis 14.00 Uhr für maximal 15 Minuten erteilt. Die Nebenbestimmungen unter Ziffer 2 sind dabei mit denjenigen des Bescheides vom 15. September 2014 identisch gewesen. Nach Ziffer 3 ist die Genehmigung rückwirkend ab dem 1. Januar 2016 erteilt worden, bis zum 31. Dezember 2018 befristet gewesen und unter dem Vorbehalt des Widerrufs ergangen. Auch die Begründung des Bescheides hat im Wesentlichen derjenigen des Bescheides vom 15. September 2014 entsprochen.
15Die Kläger haben den Bescheid vom 25. Januar 2017 entsprechend einem richterlichen Hinweis in das laufende Klageverfahren einbezogen.
16Hinsichtlich des Bescheides vom 15. September 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 2015 sowie - nach entsprechender Aufhebung durch die Beklagte - hinsichtlich des von dem Bescheid vom 25. Januar 2017 erfassten Zeitraums vom 1. Januar 2016 bis zum 15. Januar 2017 haben die Kläger und die Beklagte den Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung am 1. Februar 2018 für erledigt erklärt.
17Zur Begründung ihrer im Übrigen aufrechterhaltenen Klage haben die Kläger im Wesentlichen vorgetragen, dass die dem Beigeladenen erteilte Ausnahmegenehmigung sie in ihrer grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit verletze. Der Ruf des Muezzins bestehe nicht nur in einem Aufruf zum Gebet und zum Besuch eines Gotteshauses wie zum Beispiel beim liturgischen Läuten christlicher Kirchen. Er sei vielmehr Bestandteil des Gebetes selbst. Die sogenannten Ungläubigen würden per Lautsprecheranlage zur Teilhabe daran gezwungen. Mit dem Gebetsruf sei ein gegen alle Anhänger anderer Religionen sowie Atheisten und Agnostiker gerichteter Alleinvertretungsanspruch der islamischen Weltreligion verbunden. Ausreichend für eine Grundrechtsbetroffenheit sei im Übrigen das bloße Hören bzw. Hörenkönnen und das Wissen um den Inhalt dieses Rufs. Demgegenüber habe die positive Religionsfreiheit der Mitglieder des Beigeladenen sowie der Angehörigen des Islams zurückzutreten.
18Die Kläger haben beantragt,
191. die dem Beigeladenen erteilte Genehmigung der Beklagten vom 25. Januar 2017 in der heutigen Form aufzuheben,
20hilfsweise,
212. festzustellen, dass der mit der Ausnahmegenehmigung der Beklagten vom 25. Januar 2017 in der heutigen Form genehmigte Gebetsruf für das Freitagsgebet („Ruf des Muezzin“) das aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 140 Grundgesetz i. V. m. Art. 136 Abs. 4 der Weimarer Reichsverfassung geschützte Grundrecht der Kläger auf negative Religionsfreiheit verletzt.
22Die Beklagte hat beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Sie hat ausgeführt, dass die Ausnahme zu erteilen gewesen sei, nachdem auch mit Hilfe der Festsetzung von Nebenbestimmungen ein Ausgleich zwischen den Interessen des Beigeladenen und der betroffenen Nachbarn habe erreicht werden können. Die weiteren Gründe ergäben sich auch aus der verwaltungseigenen gutachtlichen Stellungnahme. Ferner habe sie sich die Begründung zum Ausgangsbescheid vom 15. September 2014 und zu dem dazugehörigen Widerspruchsbescheid vom 27. November 2015 bei der Verlängerung der Ausnahme zu eigen gemacht.
25Der Beigeladene hat im erstinstanzlichen Verfahren keinen Antrag gestellt.
26Durch das angefochtene, u. a. bei juris veröffentlichte Urteil, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit die Hauptbeteiligten es in der Hauptsache für erledigt erklärt haben; im Übrigen hat es dem Hauptantrag stattgegeben und den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2017 im noch streitbefangenen Umfang aufgehoben.
27Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung trägt die Beklagte vor: Das Verwaltungsgericht habe die rechtliche Struktur des Ausnahmetatbestands und den Umfang des gerichtlichen Prüfprogramms bei einer Nachbarklage, in deren Rahmen keine objektive Rechtsprüfung stattfinde, verkannt. Die Kläger seien durch die angefochtene Genehmigung nicht in ihren Rechten verletzt. Wäre eine Ausnahme nach § 10 Abs. 4 LImSchG NRW, was das Verwaltungsgericht offen gelassen habe, schon nicht erforderlich, weil die Benutzung der Lautsprecheranlage durch den Beigeladenen keine erhebliche Belästigung unbeteiligter Personen im Sinne des § 10 Abs. 1 LImSchG NRW erwarten ließe, läge schon deshalb keine Rechtsverletzung der Kläger vor. Im Übrigen sei § 10 Abs. 4 LImSchG NRW eine spezifisch immissionsschutzrechtliche Vorschrift und vermittle Drittschutz nur im Rahmen der Lärmbekämpfung. Bereits die Entfernung des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks der Kläger von circa 900 m zum Emissionsort lasse die Möglichkeit der Beeinträchtigung unwahrscheinlich erscheinen. Eine von ihr, der Beklagten, zwischenzeitlich in Auftrag gegebene Schallmessung habe ergeben, dass der Gebetsruf trotz nachgewiesener Benutzung der Lautsprecheranlage am Grundstück der Kläger nicht wahrnehmbar gewesen sei und gegenüber den Umgebungsgeräuschen keine Pegelerhöhung bewirkt habe. Nach der Ausbreitungsrechnung des Schallgutachters betrage der Wirkpegel für den Gebetsruf am Grundstück der Kläger ohne Berücksichtigung von Abschirmungen rechnerisch 33 dB(A). Unter Berücksichtigung der Einwirkzeit und eines etwaigen Zuschlags für Ton- und Informationshaltigkeit liege der Beurteilungspegel deutlich unterhalb des Immissionsrichtwerts für ein allgemeines Wohngebiet. Das Grundstück der Kläger befinde sich schon nicht im Einwirkungsbereich des Vorhabens.
28Auch sei der Beklagten kein Ermessensfehler zu Lasten der Kläger unterlaufen. Bei dem Einsatz der Lautsprecher zum Gebetsruf am Freitag handele es sich um ein von der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschütztes Verhalten des Beigeladenen. Der Einzelne habe demgegenüber in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gebe, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen generell verschont zu bleiben. Gefordert gewesen sei allein die Berücksichtigung der Schallschutzbelange sowie der negativen Religionsfreiheit der Nachbarschaft. Hierfür liefere die TA Lärm eine geeignete und unter Ermessensgesichtspunkten nicht zu beanstandende Methode.
29Die Beklagte beantragt,
30das Urteil des Verwaltungsgericht Gelsenkirchen vom 1. Februar 2018 zu ändern und die Klage mit dem im Berufungsverfahren geänderten Antrag abzuweisen.
31Nach Ablauf der Geltungsdauer der mit Bescheid vom 25. Januar 2017 erteilten Ausnahmegenehmigung beantragen die Kläger nunmehr,
321. unter Zurückweisung der Berufung festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2017 in der Fassung vom 1. Februar 2018 rechtswidrig war,
33sowie
342. festzustellen, dass der mit der Ausnahmegenehmigung der Beklagten vom 25. Januar 2017 in der Fassung vom 1. Februar 2018 genehmigte Gebetsruf für das Freitagsgebet („Ruf des Muezzin“) das aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 4 WRV geschützte Grundrecht der Kläger auf negative Religionsfreiheit verletzt.
35Sie tragen vor: Die Fortsetzungsfeststellungsklage sei wegen bestehender Wiederholungsgefahr zulässig. Die Beklagte habe nach eigenen Angaben die Bescheidung eines neuen Antrags des Beigeladenen vom 14. Mai 2019 im Hinblick auf das hiesige Verfahren lediglich zurückgestellt und von dessen Ausgang abhängig gemacht. In jedem Fall sei die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigung erforderlich gewesen, weil die Verbreitung des Muezzinrufes mittels einer Lautsprecheranlage grundsätzlich geeignet sei, erhebliche Belästigungen mit sich zu bringen. Das von der Beklagten eingeholte Schallgutachten vom 29. März 2018 sei unter mehreren Gesichtspunkten nicht verwertbar. So seien die Kläger nicht einbezogen worden. Die Mischung zwischen Mess- und Prognosegutachten sei nicht systemgerecht. Zudem sei die zugehörige Messung nicht bei einer Mitwindlage erfolgt und es sei diesig gewesen, was zu verfälschten Messergebnissen geführt habe. Auch die möglichen Zuschläge für Ton- und Informationshaltigkeit bzw. Impulshaltigkeit seien nicht nachvollziehbar vorgenommen worden. Fälschlicherweise sei im Übrigen der Immissionsrichtwert eines allgemeinen Wohngebiets und nicht der eines reinen Wohngebiets angesetzt worden. Weiterhin spreche die negative Religionsfreiheit für die Kläger, weil der Gebetsruf auf ihrem Grundstück wahrnehmbar sei. Bei diesem handele es sich nicht um ein rein tonales Geräusch, sondern er zwinge sie zur Teilnahme an einer religiösen Übung. Eine gewisse Kontrolle des Verbreitungsinhalts müsse schon im Genehmigungsverfahren stattfinden. Auch nach dem islamischen Glauben sei ein lautsprecherverstärkter Gebetsruf nicht erforderlich. Der Ruf des Muezzins sei ferner weder herkömmlich noch sozial adäquat oder allgemein akzeptiert. Der bereits erstinstanzlich gestellte Hilfsantrag werde mit Blick darauf, dass das Verwaltungsgericht in seinem Urteil auf die negative Religionsfreiheit nicht mehr eingegangen sei, vorsorglich als weiterer Hauptantrag gestellt.
36Der Beigeladene stellt auch im Berufungsverfahren keinen Antrag.
37Auf Anregung des Senats hat das Büro V. und Partner, Sachverständige für Immissionsschutz GmbH (im Folgenden: V. und Partner GmbH) eine Ausbreitungsrechnung vom 17. September 2020 erstellt, die nicht den im März 2018 gemessenen, sondern den durch die streitbefangene Genehmigung maximal zugelassenen Schallpegel des Lautsprechers zugrunde legt.
38Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens und die Gerichtsakte 8 K 5351/14 (VG Gelsenkirchen) sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
39Entscheidungsgründe:
40Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die von den Klägern in der nunmehrigen Form fortgeführte Klage hat weder mit dem Antrag zu 1. (dazu I.) noch mit dem Antrag zu 2. (dazu II.) Erfolg.
41I. Der Klageantrag zu 1. ist zwar zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (dazu 2.).
421. Die mit dem Klageantrag zu 1. nunmehr verfolgte Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist zulässig. Die Kläger konnten ihre Klage auf diese Klageart umstellen (dazu a)). Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist statthaft (dazu b)). Die Kläger sind klagebefugt (dazu c)) und sie haben auch ein berechtigtes Interesse an der beantragten Feststellung (dazu d)). Zudem war die ursprünglich erhobene Drittanfechtungsklage der Kläger nicht bereits unzulässig - insbesondere nicht wegen der ausgebliebenen Durchführung eines Vorverfahrens (dazu e)).
43a) Die Kläger durften ihre ursprünglich erhobene Anfechtungsklage noch im Berufungsverfahren auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO umstellen. Hierin liegt keine Klageänderung im Sinne des § 91 VwGO, sondern eine bloße Einschränkung des Klagebegehrens im Sinne von § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 264 Nr. 2 ZPO. Denn der Streitgegenstand bleibt unverändert, wenn ein Kläger - wie hier - von der Anfechtung eines Verwaltungsakts zu einem Fortsetzungsfeststellungsantrag übergeht, ohne dass ein geänderter Prozessstoff in das Verfahren eingeführt wird.
44Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 29. November 2017 - 6 C 57.16 -, juris Rn. 13.
45Der Umstellung auf die Fortsetzungsfeststellungsklage steht hier nicht entgegen, dass das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils unter anderem auf § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO abgestellt hat (juris Rn. 88). Aus der Erwähnung dieser Vorschrift, die im Übrigen auf den hier vorliegenden Fall einer behördlichen Ermessensentscheidung nicht anwendbar sein dürfte,
46vgl. Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 113 Rn. 369, m. w. N.; Riese, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Jan. 2020, § 113 Rn. 173,
47folgt insbesondere nicht, dass das Verwaltungsgericht bislang noch gar keine abschließende Entscheidung in der Hauptsache getroffen hätte. Zwar heißt es in § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO, dass das Gericht, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, „ohne in der Sache selbst zu entscheiden“, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben kann, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Bei der in Anwendung dieser Vorschrift ergehenden Entscheidung handelt es sich aber trotz dieses Wortlauts weder um eine bloße Prozess- oder Teilentscheidung noch um eine echte Zurückverweisung, sondern um eine Sachentscheidung, durch die der angefochtene Verwaltungsakt, ebenso wie bei der hier von den Klägern ursprünglich erhobenen Anfechtungsklage, vollständig aufgehoben wird.
48Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 - 9 C 45.97 -, BVerwGE 107, 128, juris Rn. 11; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 113 Rn. 377.
49b) Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist statthaft. Die Ausnahmegenehmigung der Beklagten vom 25. Januar 2017, gegen die die Kläger eine Drittanfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 1. Fall VwGO erhoben hatten, hat sich im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nach Klageerhebung erledigt. Die genannte Genehmigung ist nach deren Ziffer 3 am 31. Dezember 2018 durch Zeitablauf unwirksam geworden (vgl. § 43 Abs. 2 i. V. m. § 36 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW).
50c) Die Kläger sind auch klagebefugt entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO.
51Nach dieser Vorschrift ist eine Anfechtungsklage, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur zulässig, wenn der Kläger geltend machen kann, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein.
52Die Verletzung eigener Rechte muss auf der Grundlage des Klagevorbringens möglich erscheinen. Diese Möglichkeit ist dann auszuschließen, wenn offensichtlich und nach keiner Betrachtungsweise subjektive Rechte des Klägers verletzt sein können. Da die Kläger nicht Adressaten des von ihnen angefochtenen immissionsrechtlichen Genehmigungsbescheides sind, kommt es darauf an, ob sie sich für ihr Begehren auf eine öffentlich-rechtliche Norm stützen können, die nach dem in ihr enthaltenen Entscheidungsprogramm auch sie als Dritte schützt.
53Vgl. OVG NRW, Urteil vom 11. Dezember 2017 ‑ 8 A 926/16 -, juris Rn. 40 ff., m. w. N.
54Derartige subjektive Abwehrrechte können sich hier aus § 10 Abs. 1 LImSchG NRW ergeben, wonach Tongeräte im Sinne dieser Vorschrift nur in solcher Lautstärke benutzt werden dürfen, dass unbeteiligte Personen nicht erheblich belästigt werden. Diese Regelung dient dem Schutz von Nachbarbelangen, die bei Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 10 Abs. 4 LImSchG NRW zu berücksichtigen sind.
55Die Vorschrift vermittelt Drittschutz allerdings nur im Bereich der Lärmbekämpfung. Dies verdeutlicht auch die Überschrift des Zweiten Abschnitts im Zweiten Teil dieses Gesetzes. Es geht damit insoweit allein um die aus Lärmeinwirkungen herrührenden Fragen und die Würdigung der Lärmsituation.
56Vgl. OVG NRW, Urteil vom 25. Juni 1987 - 21 A 1136/87 -, NVwZ 1988, 178 (179); Boisserée/ Oels/Hansmann/Denkhaus, Immissionsschutzrecht, Stand: Mai 2020, § 9 LImSchG NRW Rn. 1 und § 10 LImSchG NRW Rn. 2.
57Der Umstand, dass die allein durch den Lautsprecher verursachte Geräuschbelastung am Wohnhaus der Kläger bei dem durch die angefochtene Genehmigung erlaubten Schallpegel (Mittelungspegel von 55 dB(A) am nächstgelegenen Nachbarhaus) recht gering ist, steht der Annahme einer Klagebefugnis der Kläger im vorliegenden Einzelfall nicht entgegen. Der lautsprecherverstärkte Gebetsruf ist am Wohnhaus der Kläger grundsätzlich wahrnehmbar, abhängig von der Lautstärke der Hintergrundgeräusche. Der in der schalltechnischen Stellungnahme der V. und Partner GmbH vom 17. September 2020 berechnete Schallpegel von 28 dB(A) liegt als solcher nach einer Kategorisierung des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen,
58vgl. https://www.lanuv.nrw.de/umwelt/laerm/geraeusche/grundlagen-der-wahrnehmung-wirkung-und-beurteilung,
59im oberen Bereich eines gerade hörbaren Geräuschs (Uhrenticken, Blätterrauschen), noch unterhalb eines schwachen Geräuschs (Unterhaltungssprache, ruhige Wohnstraße). Nach den Angaben des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat kann eine deutlich höhere (10 oder mehr dB(A)) Hintergrundbelastung die Wahrnehmung eines Geräusches ausschließen (Protokollabdruck Seite 4). Ausgehend von dem nach dem Schallgutachten der V. und Partner GmbH vom 29. März 2018 an dem Wohnhaus der Kläger am 23. März 2018 gemessenen Hintergrundgeräuschpegel LAF95 (IP1, temporär mäßiger Straßenverkehr sowie Naturgeräusche durch Vögel) von 33,7 dB(A) ist demnach die Wahrnehmbarkeit des genehmigten Gebetsrufs am Wohngrundstück der Kläger nicht in jedem Fall auszuschließen.
60Zwar legt ein Schallpegel von 28 dB(A) grundsätzlich nahe, dass sich das Wohnhaus der Kläger schon nicht im Einwirkungsbereich der Schallquelle im Sinne von Nr. 2.2 der Sechsten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm - TA Lärm) befinden dürfte. Denn der dort verursachte Beurteilungspegel liegt mehr als 10 dB(A) unter den tagsüber geltenden Immissionsrichtwerten für ein allgemeines Wohngebiet nach Nr. 6.1 lit. d) TA Lärm in der bei Erlass des Bescheids geltenden Fassung (a. F.) (jetzt lit. e)) von 55 dB(A) bzw. für ein reines Wohngebiet nach Nr. 6.1 lit. e) TA Lärm a. F. (jetzt lit. f)) von 50 dB(A).
61Da das Klagebegehren der Kläger aber gerade nicht auf eine allein an den Immissionsrichtwerten der TA Lärm orientierte Prüfung, sondern auf eine Berücksichtigung ihrer grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit im Rahmen der einzelfallbezogenen Beurteilung der Zumutbarkeit zielt, kann eine Verletzung in ihren eigenen Rechten durch die streitgegenständliche Genehmigung nicht von vornherein ausgeschlossen werden, ohne die Prüfung der Begründetheit der Klage bereits an dieser Stelle in unzulässiger Weise vorwegzunehmen.
62d) Die Kläger haben auch ein berechtigtes Interesse nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der beantragten Feststellung. Ein solches Interesse ergibt sich hier aus einer bestehenden Wiederholungsgefahr. Die streitgegenständliche Ausnahmegenehmigung vom 25. Januar 2017 ist neben derjenigen vom 15. September 2014 die zweite - im Wesentlichen gleichlautende - Genehmigung zugunsten des Beigeladenen, die sich durch Zeitablauf erledigt hat. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 29. Mai 2019 zudem verdeutlicht, dass ihr bereits ein erneuter Antrag des Beigeladenen vom 14. Mai 2019 vorliege, dessen Bescheidung sie allein im Hinblick auf das hiesige Verfahren zurückstelle. Demnach kann sich für die Kläger zukünftig eine tatsächlich wie rechtlich vergleichbare Situation ergeben, deren Klärung sie bereits durch dieses Verfahren anstreben. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt hat, sie werde den Hinweis des Gerichts zu einem Zuschlag für Informationshaltigkeit über den reinen Mittelungspegel hinaus bei etwaigen zukünftig zu erteilenden Genehmigungen berücksichtigen (Protokollabdruck Seite 4), den am Nachbargebäude einzuhaltenden Immissionswert mithin erneut überprüfen. Denn abgesehen davon, dass diese Erklärung der Beklagten noch keinen Aufschluss über die konkrete Ausgestaltung einer möglichen zukünftigen Genehmigung gibt, ist jedenfalls davon auszugehen, dass die Beklagte beabsichtigt, dem Beigeladenen demnächst wiederum eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen.
63e) Der Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage steht auch nicht entgegen, dass die ursprünglich gegen die streitgegenständliche Ausnahmegenehmigung vom 25. Januar 2017 erhobene Drittanfechtungsklage der Kläger nach § 68 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 110 JustG NRW als unzulässig anzusehen wäre, weil diese vor Klageerhebung kein Vorverfahren nach § 68 VwGO durchgeführt haben.
64Ein solches Vorverfahren war hier ausnahmsweise entbehrlich. Zwar findet nach § 110 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 JustG NRW das Vorverfahren Anwendung auf im Verwaltungsverfahren nicht beteiligte Dritte - wie die Kläger -, die sich gegen den Erlass eines einen anderen begünstigenden Verwaltungsaktes wenden. Das gilt grundsätzlich auch im Rahmen von immissionsschutzrechtlichen Drittanfechtungen wie hier.
65Wenn allerdings bereits ein Vorverfahren für ein im Wesentlichen gleiches Vorhaben durchgeführt worden ist, das Vorhaben in ein anhängiges Klageverfahren einbezogen wird, sich der Streitstoff dadurch nicht wesentlich ändert und das Gericht die Sachdienlichkeit einer Klageänderung nach § 91 Abs. 1 VwGO bejaht, ist ein erneutes Vorverfahren nicht erforderlich.
66Vgl. BVerwG, Urteile vom 18. August 2005 - 4 C 13.04 -, NVwZ 2006, 87 (88), vom 22. Februar 1980 - IV C 61.77 -, juris Rn. 23, und vom 27. Februar 1970 - IV C 28.67 -, NJW 1970, 1564 (1565); Rennert, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 68 VwGO Rn. 34; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Jan. 2020, § 68 Rn. 34a.
67Dies ist hier der Fall. Die Kläger hatten gegen die zuvor erteilte Ausnahmegenehmigung vom 15. September 2014 Klage erhoben und ein Vorverfahren durchgeführt, das mit Erlass des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 27. November 2015 endete. Die Ausnahmegenehmigung vom 25. Januar 2017, die mit derjenigen vom 15. September 2014 inhaltlich im Wesentlichen identisch ist, haben sie mit anwaltlichem Schriftsatz vom 1. März 2017 in dieses laufende Klageverfahren einbezogen. Dieses Vorgehen hat das Verwaltungsgericht im Ergebnis als sachdienlich eingestuft. Mit Blick auf das bereits erfolglos durchlaufene Vorverfahren hinsichtlich der Ausnahmegenehmigung vom 15. September 2014 hätte sich ein erneutes Vorverfahren anlässlich der im Wesentlichen auf eine bloße zeitliche Fortführung der bisherigen Regelung gerichteten Ausnahmegenehmigung vom 25. Januar 2017 als ein bloßer Formalismus dargestellt.
682. Der Klageantrag zu 1. ist unbegründet. Die Kläger haben keinen Anspruch gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO auf die Feststellung, dass der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2017 in der Fassung vom 1. Februar 2018 rechtswidrig war. Eine solche Feststellung setzt voraus, dass die Kläger durch den erledigten Bescheid in ihren eigenen Rechten verletzt worden sind (dazu a)). Dies ist hier nicht der Fall (dazu b)).
69a) Entgegen dem insoweit missverständlichen Wortlaut des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO reicht die objektive Rechtswidrigkeit des streitigen Verwaltungsaktes nicht aus, dem Fortsetzungsfeststellungsantrag zum Erfolg zu verhelfen. Wie der enge Zusammenhang zwischen Satz 1 und Satz 4 des § 113 Abs. 1 VwGO deutlich macht, darf dem Feststellungsbegehren nur entsprochen werden, soweit der Kläger durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt worden ist und der betreffende Verwaltungsakt deshalb hätte aufgehoben werden müssen, wenn er sich nicht erledigt hätte.
70Vgl. BVerwG, Urteile vom 3. März 1987 - 1 C 15.85 -, juris Rn. 15, und vom 23. März 1982 ‑ 1 C 157.79 -, juris Rn. 26.
71Demnach entspricht das Prüfprogramm einer Fortsetzungsfeststellungsklage, auf die eine Anfechtungsklage nach Erledigung des angefochtenen Verwaltungsaktes umgestellt wird, dem des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da die Fortsetzungsfeststellungsklage keinen umfassenderen Rechtsschutz gewähren darf als die vor der Erledigung erhobene Anfechtungsklage, kann hierbei insbesondere nicht auf eine subjektive Rechtsverletzung verzichtet werden.
72Vgl. Riese, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Jan. 2020, § 113 Rn. 151.
73Das gilt auch für die Drittanfechtung von Ermessensentscheidungen. Entscheidungserheblich ist allein, ob Rechte des Klägers durch den angefochtenen Verwaltungsakt selbst verletzt sind. Darauf, ob die Anforderungen, die an eine Ermessensentscheidung allgemein zu stellen sind, gewahrt wurden, kommt es dagegen nicht an.
74Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 1998 - 4 C 14.87 -, juris Rn. 10, und Beschluss vom 8. Juli 1998 - 4 B 64.98 -, juris Rn. 7; OVG NRW, Urteil vom 9. Mai 2016 - 10 A 1613/14 -, juris Rn. 50 ff., m. w. N., und Beschluss vom 10. September 2018 - 10 B 1228/18 -, juris Rn. 10 ff.
75b) Die Voraussetzungen des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO lagen hier nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob die mittlerweile erledigte streitgegenständliche Ausnahmegenehmigung der Beklagten vom 25. Januar 2017 in der Fassung vom 1. Februar 2018 objektiv rechtswidrig gewesen ist; sie hat die Kläger jedenfalls nicht in deren eigenen Rechten verletzt. Dies liegt zwar nicht daran, dass schon die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 10 Abs. 4 Satz 1 LImSchG NRW nicht erfüllt wären und die Genehmigung daher nicht erforderlich gewesen wäre (dazu aa)). Die von § 10 Abs. 1 LImSchG NRW vorausgesetzte Belastungsgrenze war allerdings durch die erteilte Genehmigung im Falle der Kläger objektiv nicht erreicht (dazu bb)). Aus § 10 Abs. 2 LImSchG NRW ergeben sich keine weitergehenden Rechte für die Kläger (dazu cc)).
76aa) Eine Verletzung subjektiver Rechte der Kläger ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Ausnahmegenehmigung wegen eines schon nicht dem Genehmigungserfordernis unterliegenden Regelungsgegenstandes ins Leere ginge.
77Die dem Beigeladenen erteilte Ausnahmegenehmigung vom 25. Januar 2017 stützt sich auf § 10 Abs. 4 Satz 1 LImSchG NRW. Danach kann die örtliche Ordnungsbehörde bei einem öffentlichen oder überwiegenden privaten Interesse von den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 im Einzelfall Ausnahmen zulassen. Nach § 10 Abs. 1 LImSchG NRW dürfen Geräte, die der Schallerzeugung oder Schallwiedergabe dienen (Musikinstrumente, Tonwiedergabegeräte und ähnliche Geräte), nur in solcher Lautstärke benutzt werden, dass unbeteiligte Personen nicht erheblich belästigt werden. Absatz 2 der Vorschrift verbietet den Gebrauch dieser Geräte auf öffentlichen Verkehrsflächen sowie in und auf solchen Anlagen, Verkehrsräumen und Verkehrsmitteln, die der allgemeinen Benutzung dienen, ferner in öffentlichen Badeanstalten, wenn andere hierdurch belästigt werden können.
78Der Anwendungsbereich des § 10 LImSchG NRW ist hier - was das Verwaltungsgericht offen gelassen hat - in tatbestandlicher Hinsicht erfüllt. Der von der Beigeladenen eingesetzte Lautsprecher ist stark genug, um jedenfalls in der nächsten Nachbarschaft Lärmimmissionen zu verursachen, die als erhebliche Belästigung im Sinne von § 10 Abs. 1 LImSchG NRW oder als Belästigung im Sinne von § 10 Abs. 2 LImSchG NRW gewertet werden können. Der streitbefangene Bescheid, der sich ausdrücklich an den Vorgaben der TA Lärm orientiert und für das unmittelbare Nachbargebäude einen Zielwert von 55 dB(A) als Mittelungspegel vorgibt, lässt eine Überschreitung des nach der TA Lärm maßgeblichen Immissionsrichtwerts damit - wenn auch möglicherweise ungewollt - zu. Denn die Immissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 TA Lärm stellen auf den Beurteilungspegel ab, der sich nach Nr. 2.10 TA Lärm aus dem Mittelungspegel (vgl. Nr. 2.7 TA Lärm) und den hier jedenfalls im Nahbereich hinzuzurechnenden Zuschlägen für Ton- und Informationshaltigkeit (nach A.3.3.5 des Anhangs zur TA Lärm 3 oder 6 dB) zusammensetzt, hier also am Nachbargebäude bis zu 61 dB(A) betragen dürfte.
79bb) Es fehlte allerdings an einer subjektiven Rechtsverletzung, weil die von § 10 LImSchG NRW vorausgesetzte Belastungsgrenze durch die erteilte Genehmigung im Falle der Kläger objektiv nicht erreicht war. Der Gebetsruf stellte in der genehmigten Form keine erhebliche Belästigung im Sinne von § 10 Abs. 1 LImSchG NRW für die Kläger dar.
80Was erhebliche Belästigungen im Sinne dieser Vorschrift sind, bestimmt sich nach § 3 Abs. 1 BImSchG. Dies ergibt sich aus der systematischen Stellung von § 10 LImSchG NRW innerhalb dieses Gesetzes: Nach § 1 Abs. 1 LImSchG NRW gilt dieses Gesetz für die Errichtung und für den Betrieb von Anlagen sowie für das Verhalten von Personen, soweit dadurch schädliche Umwelteinwirkungen verursacht werden können. Die Begriffe der schädlichen Umwelteinwirkungen, der Immissionen und der Emissionen werden nach § 2 Satz 1 LImSchG NRW in diesem Gesetz im Sinne des § 3 Abs. 1 bis 6 BImSchG verwandt. Nach § 3 Abs. 1 LImSchG NRW hat sich jeder so zu verhalten, dass schädliche Umwelteinwirkungen vermieden werden, soweit das nach den Umständen des Einzelfalles möglich und zumutbar ist. § 10 LImSchG NRW befindet sich im Zweiten Teil des Gesetzes, der nach dem Ersten Teil - Allgemeine Vorschriften - Vorschriften für besondere Immissionsarten und Anlagensicherheit enthält und darin im Zweiten Abschnitt (§§ 9 bis 11) die Lärmbekämpfung regelt.
81Gemäß § 3 Abs. 1 BImSchG sind schädliche Umwelteinwirkungen Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Nachbarschaft in diesem Sinne kennzeichnet ein qualifiziertes Betroffensein, das sich deutlich abhebt von den Auswirkungen, die den Einzelnen als Teil der Allgemeinheit treffen können. Sie setzt im Interesse klarer und überschaubarer Konturen und damit letztlich im Interesse der Rechtssicherheit ein besonderes Verhältnis zur Anlage im Sinne einer engeren räumlichen und zeitlichen Beziehung des Bürgers zum Genehmigungsgegenstand voraus.
82Vgl. BVerwG, Urteile vom 10. Juli 2012 - 7 A 11.11 -, juris Rn. 33, vom 7. Mai 1996 - 1 C 10.95 -, juris Rn. 34, und vom 22. Oktober 1982 ‑ 7 C 50.78 -, juris Rn. 12.
83Dies gilt auch für den von § 10 LImSchG NRW im Bereich der Lärmbekämpfung vermittelten Drittschutz. Die Drosselung der Geräuschentwicklung schallerzeugender Geräte liegt in erster Linie im Interesse der durch den Lärm unmittelbar betroffenen Umgebung.
84Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. Juli 1983 - 4 A 1063/82 -, NVwZ 1984, 531 (532); Himmelmann, LImSchG NRW, Stand: Juni 2019, §10 Erl. 3.
85Der Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Ein behördlicher Beurteilungsspielraum ist insoweit nicht eröffnet.
86Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Februar 1978 - I C 102.76 -, juris Rn. 32.
87Für die Frage, ob Lärmeinwirkungen das zumutbare Maß überschreiten und damit eine erhebliche Belästigung im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG darstellen, ist ein objektivierter Maßstab - nämlich das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen, nicht die individuelle Einstellung eines besonders empfindlichen Nachbarn - zugrunde zu legen.
88Vgl. BVerwG, Urteile vom 23. September 1999 ‑ 4 C 6.98 -, juris Rn. 29, vom 7. Mai 1996 - 1 C 10.95 -, juris Rn. 28, vom 7. Oktober 1983 - 7 C 44.81 -, juris Rn. 18, Beschluss vom 18. Mai 2009 - 8 B 13.09 -, juris Rn. 5; OVG NRW, Urteil vom 15. März 2007 - 10 A 998/06 -, juris Rn. 82, sowie Beschlüsse vom 14. Januar 2010 - 8 B 1015/09 -, juris Rn. 76 f., und vom 10. Februar 2006 - 8 A 2621/04 -, juris Rn. 19.
89Nach diesen Maßstäben stellte der lautsprecherverstärkte Gebetsruf in seiner genehmigten Form keine erhebliche Belästigung im Sinne von § 10 Abs. 1 LImSchG NRW i. V. m. § 3 Abs. 1 BImSchG für die Kläger dar. Das gilt sowohl bei einer an den Vorschriften der TA Lärm (dazu aaa)) orientierten Beurteilung der Zumutbarkeit der Lärmeinwirkung (dazu bbb)) als auch bei Würdigung des Einzelfalls nach Maßgabe von § 10 Abs. 4 Satz 1 LImSchG NRW sowie der § 1 Abs. 1, § 2 Satz 1 LImSchG NRW i. V. m. § 3 Abs. 1 BImSchG (dazu ccc)).
90aaa) Das Regelwerk der TA Lärm ist im Ansatz auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit des Gebetsrufs des Muezzins prinzipiell geeignet.
91Vgl. Thormann, KommJur 2018, 256 (Anm. zu dem hier angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts); Troidl, DVBl. 2012, 925 (933); Wallkamm, Muslimische Gemeinden in Deutschland im Lichte des Staatskirchenrechts, 2012, S. 172 ff.; Mick-Schwerdtfeger, Kollisionen im Rahmen der Religionsausübung, 2008, S. 161 f.; Sarcevic, DVBl. 2000, 519 (525); Muckel, NWVBl. 1998, 1 (4); Guntau, ZevKR 43 (1998), 369 (385); Otting, Städte- und Gemeinderat 1997, 65 (66).
92Dies ergibt sich aus Folgendem: Die im Verfahren nach § 48 BImSchG als Verwaltungsvorschrift erlassenen Vorschriften der TA Lärm - hier mit Blick auf die Ausnahmegenehmigung vom 25. Januar 2017 in der bis zum 8. Juni 2017 geltenden Fassung - konkretisieren die Frage, wann schädliche Umwelteinwirkungen durch Geräusche vorliegen. Sie können - mit gewissen Einschränkungen - grundsätzlich auch für die Beurteilung der Frage herangezogen werden, ob die Geräuschbelastung durch den lautsprecherverstärkten Gebetsruf des Muezzins im Rechtssinne die Schwelle der erheblichen Belästigung im Sinne von § 10 Abs. 1 LImSchG NRW i. V. m. § 3 Abs. 1 BImSchG erreicht.
93Die TA Lärm gilt zwar nach ihrer Nr. 1 unmittelbar nur für genehmigungsbedürftige Anlagen im Sinne des § 4 BImSchG. Die in ihr niedergelegten Lärmermittlungs- und Bewertungsgrundsätze sind aber auch für andere Lärmarten - je nach deren Ähnlichkeit mit gewerblichem Lärm - bedeutsam. Die Immissionsrichtwerte der TA Lärm regeln die Schutzwürdigkeit bestimmter Gebiete in Abhängigkeit von der jeweiligen Gebietsart, den tatsächlichen Verhältnissen und der Tageszeit und können daher auch in anderen immissionsschutzrechtlichen Verfahren als Ausgangspunkt für die Frage dienen, ob bei der Einzelfallwürdigung eine unzumutbare Lärmbelastung vorliegt.
94Vgl. zum Zeitschlagen von Kirchturmuhren: BVerwG, Urteil vom 30. April 1992 - 7 C 25.91 -, BVerwGE 90, 163, juris Rn. 11 f.; zum liturgischen Glockengeläut: BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 1983 - 7 C 44.81 -, juris Rn. 19; Beschlüsse vom 19. Februar 2013 - 7 B 38.12 -,juris Rn. 10, und vom 2. September 1996 - 4 B 152.96 -, juris Rn. 6.
95Da die TA Lärm jedoch in ihrer Grundausrichtung auf gewerblichen (Dauer‑)Lärm zugeschnitten ist und der elektronisch verstärkte Gebetsruf hier im spezifischen Kontext einer landesrechtlichen Ausnahmeregelung zur Benutzung von Tongeräten nach § 10 LImSchG NRW steht, ist sie insofern modifiziert und auf den landesrechtlichen Kontext angepasst anzuwenden.
96Das gilt insbesondere in Bezug auf den maßgeblichen Beurteilungszeitraum. Gemäß Nr. 6.4 Abs. 3 Satz 1 TA Lärm gelten die Immissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 TA Lärm während des Tages für eine Beurteilungszeit von 16 Stunden. Dies berücksichtigt den Umstand, dass gewerbliche Anlagen typischerweise auf längere Betriebszeiten ausgelegt sind. Die von § 10 Abs. 1 LImSchG NRW erfassten Tongeräte und erst recht die in § 10 Abs. 3 LImSchG NRW genannten, der Wahlwerbung dienenden Lautsprecher, hinsichtlich derer der Landesgesetzgeber ein ausdrückliches Regelungsbedürfnis gesehen hat, werden jedoch typischerweise nur kurzzeitig betrieben. Nach der Wertung, die in § 10 LImSchG NRW und den dortigen Verbotsnormen (Absätze 1 und 2) und Ausnahmen (Absätze 3 bis 5) zum Ausdruck kommt, ist auch schon mit dem nur kurzzeitigen Einsatz von Tongeräten an sich eine erhöhte Störwirkung verbunden. Daher ist es hier allein sachgerecht, als Beurteilungszeit auf die tatsächliche Einwirkzeit (vgl. A.1.1.3 des Anhangs zur TA Lärm) im Rahmen der nach der streitgegenständlichen Genehmigung maximal zulässigen Betriebszeit von 15 Minuten abzustellen. Ein derartiges Verständnis des Beurteilungszeitraums hat im Übrigen auch der verantwortliche Mitarbeiter der Beklagten, Herr Stadtverwaltungsdirektor H. , im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zum Ausdruck gebracht (Protokollabdruck Seite 3).
97bbb) Ausgehend vom Vorstehenden führte der mit Bescheid vom 25. Januar 2017 genehmigte Gebrauch eines Lautsprechers nicht zu einer erheblichen Belästigung im Sinne von § 10 Abs. 1 LImSchG NRW i. V. m. § 3 Abs. 1 BImSchG am Wohnhaus der Kläger. Der Immissionsrichtwert nach Nr. 6.1 TA Lärm wurde dort eingehalten (dazu (1)). Der genehmigte Gebetsruf ist auch nicht wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls als trotzdem erheblich belästigend anzusehen (dazu (2)).
98(1) Der maßgebliche Immissionsrichtwert nach Nr. 6.1 TA Lärm wurde am Wohnhaus der Kläger deutlich unterschritten.
99Es kann dahinstehen, ob das Grundstück der Kläger in einem allgemeinen oder in einem reinen Wohngebiet liegt. Der Immissionsrichtwert beträgt tags in einem allgemeinen Wohngebiet nach Nr. 6.1 lit. d) TA Lärm a. F. 55 dB(A) (nach TA Lärm 2017 lit. e)) und in einem reinen Wohngebiet nach Nr. 6.1 lit. e) TA Lärm a. F. 50 dB(A) (nach TA Lärm 2017 lit. f)). Beide Werte wurden durch den genehmigten Betrieb des Lautsprechers nicht annähernd erreicht.
100Das belegt die auf einer Ausbreitungsrechnung beruhende schalltechnische Stellungnahme der V. und Partner GmbH vom 17. September 2020. Dabei wurde insbesondere zugrunde gelegt, dass der nach Ziffer 2 a) des Bescheides maximal zulässige Mittelungspegel von 55 dB(A) an dem Immissionsort „Wohngebäude Klein-F1. Straße “ während der maximalen Einwirkzeit von 15 Minuten ausgeschöpft wird. Danach beträgt der Schallpegel bei einer nach den Vorgaben der TA Lärm erfolgten Berechnung, d. h. bei unterstellten günstigen meteorologischen und Mitwind-Bedingungen, sowie ohne Berücksichtigung von Abschirmungen durch Gebäude oder Bewuchs am Grundstück der Kläger lediglich 28 dB(A). Die schalltechnische Stellungnahme ist zwar zusätzlich „für eine Einwirkzeit von 0,25 h innerhalb der Beurteilungszeit von 16 h“ von einer Zeitkorrektur von -18 dB(A) ausgegangen. Da sich nach dem Vorstehenden die Beurteilungszeit aber nicht aus Nr. 6.4 Abs. 3 Satz 1 TA Lärm ergibt, sondern mit der Einwirkzeit gleichzusetzen ist, ist von dem rechnerisch ermittelten Schallpegel von 28 dB(A) auszugehen. Selbst bei einem Zuschlag für Ton- und Informationshaltigkeit nach A.2.5.2 (bzw. A.3.3.5) des Anhangs zur TA Lärm von maximal 6 dB(A) würde der Beurteilungswert auf dem klägerischen Grundstück von (28 dB(A) + 6 dB(A) =) 34 dB(A) deutlich unter den oben genannten Immissionsrichtwerten liegen.
101Der Immissionsrichtwert für einzelne kurzzeitige Geräuschspitzen nach Nr. 6.1 Satz 2 TA Lärm von 85 dB(A) tags im allgemeinen Wohngebiet und von 80 dB(A) tags im reinen Wohngebiet wird am Wohnhaus der Kläger ebenfalls offenkundig eingehalten. Nach der Nebenbestimmung in Ziffer 2 a) des Bescheides dürfen kurzfristige Geräuschspitzen einen Maximalwert von 85 dB(A) selbst an dem unmittelbar neben der Moschee gelegenen Wohngebäude Klein-F1. Straße nicht überschreiten.
102Das Vorbringen der Kläger, der Gebetsruf sei in der Vergangenheit lauter gewesen als bei der Nachmessung im März 2018 und nach der Genehmigung zugelassen, gibt keinen Anlass, bei der hier gebotenen Prüfung auf einen lauteren als den genehmigten Betrieb des Lautsprechers abzustellen. Es kann insbesondere nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Beigeladene ohnehin nicht an die Nebenbestimmungen zum Lärmschutz halten und der maßgebliche Lärmrichtwert am Wohnhaus der Kläger regelmäßig überschritten würde.
103Grundsätzlich darf sich eine Behörde bei Erteilung einer Genehmigung - wie hier geschehen - darauf beschränken, Immissionswerte als Zielwerte festzulegen. Diese sind zur Sicherstellung eines hinreichenden Lärmschutzniveaus grundsätzlich geeignet. Abweichendes gilt bei absehbaren Problemen, die Einhaltung des Zielwertes durch eine Nachmessung zu überprüfen,
104vgl. zu Windenergieanlagen OVG NRW, Urteil vom 18. November 2002 - 7 A 2127/00 -, juris Rn. 75,
105oder wenn die bei der Nutzung der genehmigten Anlage entstehenden Immissionen bei regelmäßigem Betrieb die für die Nachbarschaft maßgebliche Zumutbarkeitsgrenze mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu überschreiten drohen. Dann genügt es zur Sicherung der Nachbarrechte nicht, in der Genehmigung den maßgeblichen Immissionsrichtwert als Zielwert festzulegen und weitere Nebenbestimmungen vorzubehalten.
106Vgl. BVerwG, Urteile vom 24. Juni 1971 - I C 39.67 -, NJW 1971, 1475, und vom 5. November 1968 - I C 29.67 -, VerwRspr 1969, 220; OVG NRW, Beschlüsse vom 29. Januar 2016 - 2 A 2423/15 -, BeckRS 2016, 41565 Rn. 31 f., und vom 12. Februar 2013 - 2 B 1336/12 -, BeckRS 2013, 48005.
107Eine solche Fallkonstellation lag hier nicht vor. Die elektronische Verstärkung des Gebetsrufs ist nicht von sich aus bei regelmäßigem Betrieb auf eine Überschreitung der festgelegten Zielwerte angelegt. So haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht angegeben (Protokollabdruck, Seite 2), den Ruf des Muezzins an ihrem Haus letztmalig Ende 2014/Anfang 2015 akustisch wahrgenommen zu haben. Sollte es seit der Geltung der hier streitbefangenen Genehmigung vom 25. Januar 2017 gleichwohl zu einer Überschreitung der Lärmrichtwerte am Wohnhaus der Kläger gekommen sein, wäre dies eine Frage der Überwachung der erteilten Genehmigung durch die Beklagte gewesen und hätte dieser ohne Weiteres zur Kenntnis gebracht werden können. Im Übrigen haben die Vertreter des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat deutlich gemacht, dass sie bereit sind, die Vorgaben der Genehmigung einzuhalten. Der Vereinsvorsitzende, Herr L. , hat erklärt, im Falle der Erteilung einer neuen Genehmigung würden die Lärmwerte eingehalten. Insbesondere werde auch ein Techniker hinzugezogen (Protokollabdruck Seite 4).
108Das Vorbringen der Kläger gegen die Ermittlung der Geräuschimmission durch die V. und Partner GmbH ist unbegründet.
109Auf die gegen das Verfahren bei Erstellung des Schallgutachtens vom 29. März 2018 und dessen Inhalt, insbesondere die Mischung zwischen Mess- und Prognosegutachten, gerichteten Einwände der Kläger kommt es nicht an. Da Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens die erteilte Genehmigung und nicht etwa eine (Überwachungs‑)Messung ist, ist auf die schalltechnische Stellungnahme vom 17. September 2020 abzustellen, die nicht auf dieser Messung, sondern auf einer Ausbreitungsrechnung ausgehend von den genehmigten Schallleistungspegeln beruht. Vor diesem Hintergrund verfangen auch die Bedenken hinsichtlich der meteorologischen Verhältnisse bei der Messung am 23. März 2018 (Querwindsituation, diesige Wetterlage) schon im Ansatz nicht.
110Dasselbe gilt, soweit die Kläger in Frage stellen, dass eine nachvollziehbare Berücksichtigung der Zuschläge für Ton- und Informationshaltigkeit sowie für Impulshaltigkeit stattgefunden habe. Nach dem Vorstehenden sind selbst bei einem - nach Einschätzung des Sachverständigen hier wegen der am Haus der Kläger nicht mehr gegebenen Verständlichkeit des Textes entbehrlichen - Zuschlag für Ton- und Informationshaltigkeit von maximal 6 dB(A) die Immissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 TA Lärm eingehalten. Unter welchem Gesichtspunkt der Gebetsruf des Muezzins eine Impulshaltigkeit, also Geräusche mit schnellen Pegeländerungen wie z. B. ein Knall- oder ein Aufprallgeräusch,
111vgl. Beckenbauer, in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 2. Aufl. 2018, 3. Teil: Immissionsschutzrecht, Rn. 412; Feldhaus/Tegeder, in: Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht, Stand: Aug. 2020, A.2 TA Lärm Rn. 27,
112beinhalten soll, zeigen die Kläger nicht auf. Dies ist auch sonst nicht ersichtlich.
113(2) Die Einzelfallumstände, insbesondere die spezifische Geräuschcharakteristik des Gebetsrufs (Gesang in arabischer Sprache mit spezieller Melodie) und dessen religiöser Inhalt, geben keinen Anlass, diesen am Haus der Kläger als erheblich belästigend im Sinne von § 10 Abs. 1 LImSchG NRW i. V. m. § 3 Abs. 1 BImSchG zu bewerten. Insoweit kann das Regelwerk der TA Lärm mit der in Nr. 3.2.2 vorgesehenen ergänzenden Prüfung im Sonderfall einen Anhaltspunkt für die Einzelfallwürdigung bieten. Die Voraussetzungen für den Eintritt in eine solche Sonderfallprüfung (dazu (a)) liegen schon nicht vor (dazu (b)). Selbst wenn man dies bejahte, führte dies zu keinem anderen Ergebnis (dazu (c)).
114(a) Nach Nr. 3.2.2 Satz 1 TA Lärm ist, wenn im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, die bei der Regelfallprüfung keine Berücksichtigung finden, nach Art und Gewicht jedoch wesentlichen Einfluss auf die Beurteilung haben können, ob die Anlage zum Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen relevant beiträgt, ergänzend zu prüfen, ob sich unter Berücksichtigung dieser Umstände des Einzelfalls eine vom Ergebnis der Regelfallprüfung abweichende Beurteilung ergibt.
115Nr. 3.2.2 Satz 1 TA Lärm gibt danach eine bestimmte gedankliche Struktur der Sonderfallprüfung vor. Die Sonderfallprüfung ersetzt nicht die Regelfallprüfung, sondern setzt voraus, dass diese stattgefunden hat. Haben sich dabei konkrete Anhaltspunkte ergeben, dass die standardisierte Regelfallprüfung wegen der vorliegenden Besonderheiten nicht ausreichend ist, um zuverlässig beurteilen zu können, ob die Anlage zum Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen relevant beiträgt, ist in Ergänzung hierzu die Sonderfallprüfung durchzuführen. Anlass für eine Sonderfallprüfung sind nur besondere Umstände, die nach Art und Gewicht eine wesentlich andere Beurteilung erwarten lassen.
116Vgl. Feldhaus/Tegeder, in: Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht, Stand: Aug. 2020, Nr. 3 TA Lärm Rn. 52; Beckenbauer, in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 2. Aufl. 2018, 3. Teil: Immissionsschutzrecht, Rn. 287 unter Hinweis auf die Kriterien für eine ergänzende Prüfung im Sonderfall der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI).
117Die in Nr. 3.2.2 Satz 2 TA Lärm beispielhaft genannten Umstände sind zwar hauptsächlich als solche zu verstehen, die trotz einer negativen Regelfallprüfung (Lärmrichtwerte überschritten) zu einer Genehmigungsfähigkeit einer Anlage führen können. Im Wortlaut von Nr. 3.2.2 Satz 1 TA Lärm ist eine solche Beschränkung auf die eine Genehmigung ermöglichenden Umstände jedoch nicht zum Ausdruck gekommen. Sie wäre auch nicht gesetzeskonform, da schädliche Umwelteinwirkungen durch Geräusche trotz positiver Regelfallprüfung nicht immer ausgeschlossen werden können. Demnach wird auch die negative Sonderfallprüfung, die trotz positiver Regelfallprüfung zu einer Verneinung der Genehmigungsfähigkeit führen kann, von Nr. 3.2.2 TA Lärm erfasst.
118Vgl. Hansmann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand: Febr. 2020, TA Lärm Nr. 3 Rn. 34.
119(b) Nach diesen Maßgaben liegen besondere Umstände im Sinne von Nr. 3.2.2 TA Lärm, die eine ergänzende Prüfung im Sonderfall erforderlich machen und für eine solche Absenkung der Erheblichkeitsschwelle sprechen, dass das Geräusch mit dem hier in Rede stehenden Beurteilungspegel von (äußerstenfalls) 34 dB(A) bzw. Mittelungspegel von 28 dB(A) als erhebliche Belästigung zu bewerten wäre, nicht vor.
120Ernstlich in Betracht kommt hier nur Nr. 3.2.2 Satz 2 lit. d) TA Lärm. Danach ist eine Sonderfallprüfung in Betracht zu ziehen, wenn besondere Gesichtspunkte der Herkömmlichkeit und der sozialen Adäquanz der Geräuschimmissionen vorliegen. Derartige Umstände können, wie es insbesondere beim kirchlichen Glockengeläut der Fall ist, für eine Anhebung der Erheblichkeitsschwelle sprechen. Das schließt eine Absenkung der Erheblichkeitsschwelle bei ungewohnten oder aus anderen Gründen als besonders lästig empfundenen Geräuschen zwar nicht von vornherein aus. Bei der hier gebotenen wertenden Betrachtung ist aber auch der Bedeutung der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG für den Gebetsruf angemessen Rechnung zu tragen.
121Vgl. Troidl, DVBl. 2012, 925 (931); Wallkamm, Muslimische Gemeinden in Deutschland im Lichte des Staatskirchenrechts, 2012, S. 172 ff.; Sarcevic, DVBl. 2000, 519 (526); zur Berücksichtigung der Wertentscheidung des Grundgesetzes nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG im Rahmen des baurechtlichen Rücksichtnahmegebots BVerwG, Urteil vom 27. Februar 1992 - 4 C 50.89 -, juris Rn. 22; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 20. November 2000 - 8 A 11739/00 -, NVwZ 2001, 933 (934).
122Soweit der Lärm bei Ausübung einer nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG grundrechtlich geschützten Religionsausübung entsteht, wirkt diese Wertentscheidung des Grundgesetzes in das einfache Recht und damit auch in Nr. 3.2.2 TA Lärm hinein.
123Anders als das Verwaltungsgericht meint (Urteilsabdruck Seite 16), kommt es in diesem Zusammenhang nicht auf eine Einbeziehung der Bewohner der betroffenen Stadtteile - gar in Form einer Bürgerbefragung - zur Klärung der allgemeinen Akzeptanz an. Abgesehen davon, dass eine solche Vorgehensweise dem typischerweise auf den Schutz von Minderheiten gerichteten Grundrechtsschutz des Grundgesetzes - hier in Gestalt der Religionsfreiheit - ersichtlich zuwiderliefe, ist die Bewertung eines Geräuschs als erhebliche Belästigung Gegenstand der tatrichterlichen Würdigung.
124Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 1992 - 7 C 25.91 -, juris Rn. 11, und Beschluss vom 25. Februar 2014 - 4 B 2.14 -, juris Rn. 7.
125Der Gebetsruf für das Freitagsgebet als solcher und die mit Bescheid vom 25. Januar 2017 genehmigte Benutzung eines Lautsprechers zur Durchführung dieses Gebetsrufes sind von der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt. Nach Absatz 1 der Vorschrift sind die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich. Absatz 2 gewährleistet die ungestörte Religionsausübung.
126Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, das heißt einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben. Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben; dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze.
127Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 ‑ 2 BvR 1333/17 -, juris Rn. 78, m. w. N.
128Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben.
129Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 ‑ 2 BvR 1333/17 -, juris Rn. 80, m. w. N.
130Der Gebetsruf zum Freitagsgebet hat schon nach seinem Inhalt bekenntnishaften Charakter, indem durch ihn ein Bekenntnis zu wesentlichen Elementen des islamischen Glaubens stattfindet. Nach der vom Beigeladenen vorgelegten Übersetzung bedeutet er: „Gott ist groß. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt. Ich bezeuge, dass Muhammad Gottes Gesandter ist. Kommt her zum Gebet. Groß ist Gott (Allah ist der größte.). Es gibt keine Gottheit außer Gott.“ Zugleich richtet er sich an die Mitglieder der muslimischen Gemeinde und fordert zum gemeinsamen Gebet auf. Das Gemeinschaftsgebet am Freitag nimmt insofern eine herausragende Stellung ein.
131Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 15; Kokott, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 62; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 1, 7. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 61; Wolff, in: Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 8; Morlok, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 132; Mick-Schwerdtfeger, Kollisionen im Rahmen der Religionsausübung, 2008, S. 152; Rademacher/Janz, JuS 2002, 58 (62); Muckel, NWVBl. 1998, 1 (3); Guntau, ZevKR 43 (1998), 369 (376 ff.); Otting, Städte- und Gemeinderat 1997, 65 (68); zur Bedeutung des islamischen Gemeinschaftsgebets am Freitag Khoury/Hagemann/Heine, Islam-Lexikon, 2006, S. 223 f.; Kreiser/Diem/Majer, Lexikon der Islamischen Welt, Band 1, 1974, S. 183.
132Der Gebetsruf fällt nicht deswegen aus dem Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG heraus, weil er ein Bekenntnis beinhaltet, das zentrale Glaubenssätze des Islams hervorhebt und damit als Abgrenzung zu anderen Religionen verstanden werden kann. Denn die Tatsache, dass ein Bekenntnis das andere ausschließt und dies öffentlich kundgetan wird, kann nicht dazu herhalten, einem solchen Bekenntnis den Schutz der Religionsfreiheit zu versagen. Gerade auch das öffentliche Eintreten für den eigenen Glauben wird vielmehr von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt.
133Zum Bekenntnis und zum Eintreten für den eigenen Glauben in der Öffentlichkeit BVerfG, Beschlüsse vom 27. Oktober 2016 - 1 BvR 458/10 -, juris Rn. 102, vom 26. Juni 2002 - 1 BvR 670/91 ‑, juris Rn. 52, vom 25. März 1980 ‑ 2 BvR 208/76 -, juris Rn. 114, und vom 16. Oktober 1968 - 1 BvR 241/66 -, juris Rn. 25 ff.; vgl. auch Guntau, ZevKR 43 (1998), 369 (378).
134Keine Rolle kann es dabei spielen, ob der öffentliche Gebetsruf nach den Glaubenslehren des Islams zwingend notwendig ist. Er ist nämlich jedenfalls - was auch die Kläger letztlich nicht in Frage stellen - Teil der islamischen Tradition und gehört traditionell zum Ausdruck islamischer Frömmigkeit.
135Vgl. Guntau, ZevKR 43 (1998), 369 (376 ff.); zur Verankerung des Gebetsrufs und des Gebetsruferamts im Urislam Kreiser/Diem/Majer, Lexikon der Islamischen Welt, Band 2, 1974, S. 188.
136Auch liegt der Gebetsruf des Muezzins nicht allein deshalb außerhalb des Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, weil er elektronisch verstärkt erfolgen soll.
137Vgl. Muckel, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Jan. 2020, Art. 4 Rn. 26.
138Denn seine nach dem religiösen (Selbst-)Verständnis gewünschte Funktion kann der Gebetsaufruf in der Öffentlichkeit besser erreichen, wenn er wahrnehmbar ist.
139Dabei können sich jedenfalls der Muezzin und die Mitglieder der islamischen Gemeinde des Beigeladenen mit Blick auf die Durchführung des Gebetsrufs auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - auch in ihrer gemeinsamen Ausübung - berufen. Nicht zu klären ist demnach, ob auch der Beigeladene selbst als Mitgliedsverein („Moscheeverein“) der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB) über Art. 19 Abs. 3 GG das Grundrecht der Religionsfreiheit für sich beanspruchen kann.
140Vgl. dazu Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 9, 3. Aufl. 2003, § 199 Rn. 81.
141Der grundrechtliche Schutz des genehmigten Gebetsrufs als positive Religionsausübung wird nicht dadurch eingeschränkt, dass sich die Kläger hier auf ihre negative Religionsfreiheit berufen, die ebenfalls durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie den über Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Art. 136 Abs. 4 WRV geschützt ist. Diese Vorschriften vermitteln den Klägern grundsätzlich kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben.
142Dem durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Recht zur Teilnahme an den kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet, entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt. Art. 4 Abs. 1 GG überlässt es dem Einzelnen, zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt. Zwar hat er in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist.
143Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 ‑ 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 46, 54, Beschlüsse vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17 -, juris Rn. 94, vom 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11 -, juris Rn. 64, vom 27. Januar 2015 - 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 -, juris Rn. 104, und vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 -, juris Rn. 34; zum liturgischen Glockengeläut im Rahmen des Herkömmlichen, bei dem es nicht darauf ankommt, aus welchen individuellen Gründen sich ein betroffener Nachbar gestört fühlt, siehe BVerwG, Beschluss vom 19. Februar 2013 - 7 B 38.12 -, juris Rn. 11.
144Aus Art. 136 Abs. 4 WRV folgt kein weitergehender Schutz. Danach darf niemand zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden. Die Vorschrift bekräftigt bzw. präzisiert nur, was sich ohnehin aus der freiheitssichernden Wirkung der von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützten negativen Religionsfreiheit ergibt.
145Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 ‑ 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 46 a. E., Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 -, juris Rn. 34 a. E.; Ehlers, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 136 WRV Rn. 8.
146Nach diesen Maßgaben führte die von den Klägern geltend gemachte Beeinträchtigung ihrer negativen Religionsfreiheit nicht zu einer Absenkung der immissionsschutzrechtlich anzulegenden Erheblichkeitsschwelle.
147Der Gebetsruf ist für jeden Empfänger offenkundig nicht staatlich veranlasst. Er ist vielmehr Ausdruck der individuellen und religiös motivierten Entscheidung des Beigeladenen und seiner muslimischen Mitglieder. Der Staat, der eine religiöse Aussage - wie hier den Gebetsruf - hinnimmt bzw. zulässt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.
148Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 ‑ 2 BvR 1436/02 -, juris Rn. 54, Beschluss vom 27. Januar 2015 - 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 -, juris Rn. 104, einschränkend für religiöse Symbole von Amtsträgern im Gerichtssaal Beschluss vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17 -, juris Rn. 95.
149Die Kläger befanden sich auch nicht in einer Situation, in der sie dem Gebetsruf mit besonderer Intensität ohne Ausweichmöglichkeit wie in einer Zwangslage ausgesetzt waren. Sie wohnen in einer Entfernung von circa 890 m zur Schallquelle des Beigeladenen. Wie oben ausgeführt, war der Gebetsruf in der genehmigten Form auf ihrem Grundstück nur sehr leise und damit außerhalb des Hauses wahrnehmbar und zudem auf den kurzen Zeitraum von maximal 15 Minuten pro Woche beschränkt. Dass die Kläger - wie sie selbst vortragen - mit der Wahrnehmung des übertragenen Gebetsrufs gleichsam zu Teilnehmern an einem islamischen Gottesdienst würden, trifft aus der maßgeblichen Sicht eines verständigen Durchschnittsmenschen nicht zu. Das bloße akustische Wahrnehmen einer religiösen Aussage ist nämlich nicht mit der erzwungenen (aktiven) Teilnahme an einer religiösen Übung gleichzusetzen. Soweit sich die Kläger ausweislich ihrer Ausführungen erkennbar aus ihrem eigenen christlichen Glaubensverständnis heraus gegen die Inhalte des islamischen Gebetsrufs wenden und von fremden Glaubensbekundungen verschont bleiben wollen, ist dies wiederum Ausdruck ihrer eigenen Freiheit der positiven Religionsausübung. Ein gegen die Genehmigung des Gebetsrufs des Beigeladenen gerichteter Anspruch wurde jedoch auch hierdurch nicht vermittelt.
150Da der grundrechtliche Schutz des genehmigten Gebetsrufs durch die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Nr. 3.2.2 TA Lärm hineinwirkt und die Geräuscheinwirkung mit einem Beurteilungspegel von allenfalls 34 dB(A) am Wohnhaus der Kläger hier ohnehin ganz gering ist, bestehen keine besonderen Umstände nach Nr. 3.2.2 Satz 2 lit. d) TA Lärm.
151Insbesondere liefern allein die fremdländische Herkunft des Gebetsrufs sowie das damit möglicherweise bei einzelnen Personen - wie hier den Klägern - verbundene Unbehagen vor dem Hintergrund der objektiven Wertentscheidung des Grundgesetzes keine zureichenden Gründe, um das Geräusch des lautsprecherverstärkten Gebetsrufs als erheblich belästigend zu bewerten.
152Vgl. Troidl, DVBl. 2012, 925 (931 f.); Wallkamm, Muslimische Gemeinden in Deutschland im Lichte des Staatskirchenrechts, 2012, S. 174 f.; Muckel, NWVBl. 1998, 1 (6); Schmehl, JA 1997, 866 (871).
153Es liegen über die in Nr. 3.2.2 TA Lärm benannten Sonderfallumstände hinaus auch keine sonstigen Umstände vor, die Anlass zu einer vom Regelfall abweichenden Bewertung geben.
154(c) Auch wenn man im Hinblick auf die besondere Geräuschcharakteristik und deren fehlende Herkömmlichkeit die Erforderlichkeit einer Sonderfallprüfung nach Nr. 3.2.2. TA Lärm bejahte, führte diese - unter Berücksichtigung der oben dargestellten Umstände des Einzelfalls - nicht zu einer vom Ergebnis der Regelfallprüfung abweichenden Beurteilung.
155Der elektronisch verstärkte Gebetsruf sollte ausweislich der streitgegenständlichen Ausnahmegenehmigung vom 25. Januar 2017 nur einmal pro Woche, jeweils am Freitag, in der Zeit zwischen 12.00 Uhr und 14.00 Uhr erfolgen. Es handelte sich demnach um einen Zeitraum, der eindeutig und mit großem zeitlichen Abstand weder in die Zeit der Nachtruhe nach Nr. 6.4 Abs. 1 Nr. 2 TA Lärm (22.00 - 6.00 Uhr) fällt, noch zu den Tageszeiten mit erhöhter Empfindlichkeit an Werktagen nach Nr. 6.5 TA Lärm (6.00 - 7.00 Uhr, 20.00 - 22.00 Uhr) zählt. Der Freitag als Werktag mit der entsprechenden werktäglichen Geschäftigkeit genießt dabei von vornherein einen geringeren Schutz mit Blick auf Geräuschimmissionen als Sonn- und Feiertage.
156Hinzu kommt die Beschränkung der maximalen Dauer des Gebetsrufs innerhalb dieses zeitlichen Rahmens auf 15 Minuten. Das macht im Verlauf eines Tages nur einen unwesentlichen Zeitraum aus. Im Verlauf einer Woche handelt es sich nur um ein einmaliges kurzes Ereignis. Die Dauer des einzelnen Gebetsrufs hält sich zudem in dem üblichen zeitlichen Rahmen anderer religiöser Bekundungen, die mit Lärm verbunden sind.
157Vgl. zum liturgischen Glockengeläut BVerwG, Beschluss vom 19. Februar 2013 - 7 B 38.12 -, juris Rn. 13.
158Außerdem liegt, wie oben dargestellt, die Geräuscheinwirkung nach dem Ergebnis der Ausbreitungsrechnung am Wohnhaus der Kläger bei 28 dB(A) bzw. selbst unter Berücksichtigung eines kaum zu rechtfertigenden, lediglich auf einer großzügigen Bewertung beruhenden Zuschlags für Ton- und Informationshaltigkeit von 6 dB(A) bei 34 dB(A) und damit nicht nur weit unter dem für allgemeine und sogar reine Wohngebiet maßgeblichen Immissionsrichtwert, sondern auch vergleichsweise knapp über der Wahrnehmbarkeitsschwelle. Vor dem Hintergrund dieser äußerst geringen Lärmintensität kann sich hier auch nichts anderes daraus ergeben, dass der Gebetsruf eine Lärmimmission in Form eines Gesangs in arabischer Sprache mit spezieller Melodie bzw. Tonlage ist. Dies gilt wie aufgezeigt gerade auch mit Blick darauf, dass der objektiven Wertentscheidung des Grundgesetzes hinsichtlich der Gewährleistung der freien Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in diesem Zusammenhang besonderes Gewicht beizumessen ist.
159Vgl. OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 20. November 2000 - 8 A 11739/00 -, NVwZ 2001, 933 (934) zum Ruf des Muezzins zum Freitagsgebet bei „leisem Betrieb“ der Lautsprecheranlage sowie zur Wahrung des baurechtlichen Rücksichtnahmegebots; zustimmend Himmelmann, LImSchG NRW, Stand: Juni 2019, § 10 Erl. 5.
160Ob etwas anderes gilt, wenn der Muezzinruf unter anderen Umständen des Einzelfalls - etwa mehrmals (bis zu fünfmal) täglich bzw. in anderer Lautstärke - durchgeführt wird, ist hier nicht zu entscheiden.
161ccc) Auch wenn man unterstellt, dass die Maßstäbe der TA Lärm hier nicht anwendbar wären, folgt daraus im Ergebnis nichts anderes. Eine davon losgelöste Würdigung des Einzelfalls unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 10 Abs. 4 Satz 1 LImSchG NRW sowie der § 1 Abs. 1, § 2 Satz 1 LImSchG NRW i. V. m. § 3 Abs. 1 BImSchG führt dazu, dass durch den genehmigten Gebetsruf keine schädlichen Umwelteinwirkungen zulasten der Kläger hervorgerufen wurden.
162Wie ausgeführt dienen die Vorschriften der Lärmbekämpfung und orientieren sich an immissionsschutzrechtlichen Maßstäben. Sie zielen nicht auf eine Bewertung des Geräuschinhalts und ermöglichen auch nicht, Geräuscheinwirkungen, die objektiv nur von geringer Intensität sind, wegen der mit dem Geräusch bei Dritten verbundenen Konnotationen als erheblich belästigend einzuordnen. Insoweit gelten die vorstehenden Erwägungen entsprechend. Auch im Rahmen einer an der Werteordnung des Grundgesetzes orientierten Auslegung des § 10 LImSchG NRW kann eine der Grundrechtsausübung zuzuordnende Geräuschverursachung nicht allein deshalb als erheblich belästigend bewertet werden, weil einzelne oder auch mehrere von diesem Geräusch - wie hier akustisch nur sehr niederschwellig - Betroffene mit dieser Grundrechtsausübung anderer nicht konfrontiert werden wollen.
163cc) Aus § 10 Abs. 2 LImSchG ergeben sich - unabhängig von der Frage, ob und inwieweit die Kläger sich auf Lärmschutz für die in dieser Norm genannten öffentlichen Flächen berufen können - keine weitergehenden Rechte für die Kläger. Der lautsprecherverstärkte Gebetsruf in der hier genehmigten Form stellt unter Berücksichtigung der oben dargestellten Umstände des Einzelfalls (Zeit, Dauer, Lärmintensität, Schutz durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) nicht nur keine erhebliche Belästigung gemäß § 10 Abs. 1 LImSchG NRW, sondern für die Kläger an ihrem Wohnhaus auch keine Belästigung nach Absatz 2 der Vorschrift dar. Die normative Differenzierung danach, ob andere „erheblich belästigt werden“ (§ 10 Abs. 1 LImSchG NRW) oder nur „belästigt werden können“ (§ 10 Abs. 2 LImSchG NRW) ist im Übrigen für den Umfang des gegen eine solche Ausnahmegenehmigung gewährten Drittschutzes ohne Belang. Sie betrifft nämlich allein die objektive Frage, ab wann der jeweilige präventive Verbotstatbestand bzw. das Erfordernis der Einholung einer Ausnahmegenehmigung greifen.
164II. Der Klageantrag zu 2. hat keinen Erfolg.
165Im Übergang von dem in der Vorinstanz als Hilfsantrag gestellten Feststellungsantrag zu einem Hauptantrag ist zwar keine Klageänderung zu sehen, weil sich durch diesen Wechsel der Streitgegenstand nicht geändert hat.
166Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 2009 ‑ 2 C 31.08 -, juris Rn. 13.
167Die Feststellungsklage ist aber unzulässig.
168Mit dem Klageantrag zu 2. begehren die Kläger wie mit dem Klageantrag zu 1. die Feststellung, dass die Ausnahmegenehmigung vom 25. Januar 2017 in der Fassung vom 1. Februar 2018 sie in ihren Rechten verletzte. Der Klageantrag zu 2. begrenzt dabei die Prüfung der subjektiven Rechtsverletzung der Kläger auf die Frage, ob ein Verstoß gegen die negative Religionsfreiheit vorlag. Er betrifft damit mit Blick auf das geltend gemachte subjektive Recht lediglich einen Teilausschnitt des von dem Klageantrag zu 1. erfassten Fortsetzungsfeststellungsbegehrens nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO.
169Ein solcher Antrag des Inhalts, der Verwaltungsakt sei aus einem bestimmten Grund rechtswidrig gewesen, ist unzulässig. Die gerichtliche Feststellung eines bestimmten Rechtswidrigkeitsgrundes kann mit einem Antrag nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nicht verlangt werden. Solche Gründe können sich vielmehr nur aus einem der Fortsetzungsfeststellungsklage stattgebenden Urteil ergeben.
170Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 23. November 1995 - 8 C 9.95, 8 PKH 10.95 -, juris Rn. 6, vom 16. Oktober 1989 - 7 B 43.89 -, Buchholz 11 Art. 2 GG Nr. 59, vom 5. September 1984 - 1 WB 131.82 -, juris Rn. 33; Hess. VGH, Beschluss vom 15. September 2009 - 7 A 2550/08 -, juris Rn. 28 f.; W.-R. Schenke/R. P. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 113 Rn. 100, 111; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 113 VwGO Rn. 86.
171Unabhängig davon wäre der Klageantrag zu 2. ohnehin unbegründet, da die begehrte Feststellung einer Verletzung der negativen Religionsfreiheit nach dem Vorstehenden nicht getroffen werden kann.
172Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO. Sie berücksichtigt für das erstinstanzliche Verfahren den nach teilweiser Erledigung der Hauptsache rechtskräftig gewordenen Teil der erstinstanzlichen Kostenentscheidung. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht aus Gründen der Billigkeit erstattungsfähig nach § 162 Abs. 3 VwGO, weil er keinen Sachantrag gestellt und sich damit keinem eigenen Kostenrisiko (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO) ausgesetzt hat.
173Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10 und 711 ZPO.
174Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der angegriffene Beschluss geändert.
Der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird insgesamt abgelehnt.
Die Beschwerde des Antragstellers wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Rechtszüge.
1Gründe:
2Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet und führt zur Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts, mit dem die Antragsgegnerin zur Bereitstellung eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung mit einem Umfang von täglich sechs Stunden verpflichtet worden ist. Die zulässige Beschwerde des Antragstellers, die über den Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung hinaus auf einen Betreuungsplatz mit einem Betreuungsumfang von täglich sieben Stunden gerichtet ist, bleibt hingegen ohne Erfolg.
3Die von der Antragsgegnerin fristgerecht (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) erhobenen Einwände rechtfertigen die Abänderung des angefochtenen Beschlusses. Der Antragsteller hat die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes entgegen den Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
4Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung von wesentlichen Nachteilen oder drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Erforderlich ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund), dass dem Hilfesuchenden mit Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf die begehrte Regelung zusteht (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO.
5Wird mit der begehrten Regelung - wie hier - die Hauptsache vorweggenommen, gelten gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, indem ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit dafür sprechen muss, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist. Überdies kommt eine Vorwegnahme der Hauptsache nur in Betracht, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden, die eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigen könnte.
6Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 12. März 2015 - 12 B 136/15 -, juris Rn. 3 ff., und vom 27. Januar 2014
7- 12 B 1422/13 -, juris Rn. 4 ff., jeweils m. w. N.
8Dies zugrunde gelegt hat der Antragsteller - unabhängig vom zeitlichen Umfang der Betreuung - jedenfalls ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.
9Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts reicht es - auch im Falle eines hohen Grades der Wahrscheinlichkeit der Begründetheit des in der Hauptsache verfolgten Anspruchs - für den Anordnungsgrund nicht aus, dass der unaufschiebbare Anspruch des Antragstellers auf frühkindliche Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege in irreversibler Weise unerfüllt bleibt. Der Anordnungsgrund könnte seine im System der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO gesetzlich angelegte eigenständige Bedeutung verlieren, falls immer dann, wenn der Anordnungsanspruch in qualifiziertem Maße bejaht würde, an das Vorliegen des Anordnungsgrundes keine besonderen Anforderungen mehr gestellt würden.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Juli 2020 - 12 B 469/20 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18. Juli 2018 - 12 S 643/18 -, juris Rn. 20; VG Mainz, Beschluss vom 27. April 2018 - 1 L 279/18.MZ -, juris Rn. 11 ff.; a. A. Sächs. OVG, Beschluss vom 7. Juni 2017 - 4 B 100/17 -, juris Rn. 10.
11Soweit in der Rechtsprechung angenommen wird, dass wegen der Gefahr fortschreitender Rechtsvereitelung ein Anordnungsgrund indiziert ist, wenn mit der für eine Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz VwGO hinreichenden Wahrscheinlichkeit ein Erfolg im Hauptsacheverfahren angenommen werden kann, betrifft dies Fälle, in denen Grundrechtspositionen von Gewicht in Rede stehen.
12Vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. September 2009
13- 1 BvR 1702/09 -, juris Rn. 24.
14Die Nichterfüllung eines einfachgesetzlichen Anspruchs auf frühkindliche Förderung führt für sich genommen regelmäßig - so auch hier - nicht zu einer solchen gewichtigen Grundrechtsbetroffenheit des jeweiligen Kindes. Ob die Zuweisung eines Betreuungsplatzes für einen Antragsteller in einer Weise dringlich ist, dass ihm ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist, ist demnach aufgrund einer Abwägung aller konkreten Umstände des Falles zu entscheiden, wobei der Betreuungsbedarf des Kindes mit Blick auf die Arbeitssituation der Eltern eine besondere Rolle spielt.
15Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Juli 2020 - 12 B 469/20 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18. Juli 2018 - 12 S 643/18 -, juris Rn. 20; vgl. insoweit auch OVG Berl.-Bbg., Beschluss vom 30. Mai 2018 - OVG 6 S 16.18 -, juris Rn. 7 ff.
16Eine solche Dringlichkeit ist hier weder erstinstanzlich noch im Beschwerdeverfahren dargelegt geschweige denn glaubhaft gemacht worden. Im Beschwerdeverfahren geht der Antragsteller auf die Frage des Anordnungsgrundes überhaupt nicht ein, obwohl die Antragsgegnerin dessen Glaubhaftmachung und Vorliegen - sowohl erstinstanzlich als auch in der Begründung ihrer eigenen Beschwerde - unter Hinweis auf das Fehlen näherer Angaben z. B. zum Umfang der Erwerbstätigkeit explizit in Abrede gestellt hat. Erstinstanzlich hat der Antragsteller in seinen auf das Vorliegen eines Anordnungsgrundes betreffenden Ausführungen lediglich auf den (seinerzeit) bevorstehenden Beginn des Kindergartenjahres verwiesen und daneben geltend gemacht, dass ihm der womöglich erst bei seiner Schulaufnahme zu erwartende Ausgang des bereits anhängigen Klageverfahrens nicht zuzumuten sei. Vollständige und substantiierte Angaben zur Arbeitssituation der Kindeseltern oder zu einem unabhängig davon bestehenden Betreuungsbedarf hat er nicht gemacht. In den Sachverhaltsangaben seiner Antragsschrift hat er zunächst lediglich pauschal und ohne nähere Bezeichnung der Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisse seiner Eltern behauptet, dass diese "aus beruflichen Gründen" dringend auf seine Aufnahme in einer Kindertageseinrichtung angewiesen seien. Soweit hinsichtlich der Kindesmutter ergänzend ausgeführt worden ist, dass diese ohne eine Betreuungsmöglichkeit für den Antragsteller ihren nicht näher bezeichneten Ausbildungsplatz verlieren würde, ist dies derart substanzlos, dass damit - auch unter Berücksichtigung der nur auf diese Angaben verweisenden eidesstattlichen Versicherung der Kindesmutter - selbst im Falle einer vollen Berufstätigkeit des Kindesvaters ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht werden kann. Abgesehen davon verhalten sich das erstinstanzliche und das Beschwerdevorbringen des Antragstellers in keiner Weise näher zu der beruflichen Situation des Kindesvaters, der im Rubrum unter der gleichen Anschrift wie der Antragsteller geführt wird. Insoweit fehlt es überdies selbst für die pauschal behaupteten beruflichen Gründe an jeglicher Glaubhaftmachung, da der Kindesvater keine eidesstattliche Versicherung abgegeben und die Kindesmutter in ihrer Erklärung nur die Richtigkeit der ihre Person betreffenden Angaben in der Antragsschrift an Eides statt versichert hat. Es wird auch nicht näher dargelegt, inwieweit es der Zuweisung des begehrten Betreuungsplatzes zur Sicherstellung der Betreuung bedarf, zumal der Bruder des Antragstellers trotz der beruflichen Situation der Eltern nunmehr anscheinend betreut werden kann, obwohl offenbar auch diesem gegenüber ein Ablehnungsbescheid bezüglich der Bereitstellung eines Betreuungsplatzes ergangen ist. Ein Anordnungsgrund ergibt sich auch nicht aus dem mit Schriftsatz vom 12. August 2020 behaupteten Umstand, dass der Antragsteller "kaum bis sehr wenig" soziale Kontakte mit gleichaltrigen Kindern habe. Auch wenn die Zurverfügungstellung eines Kindertagesstättenplatzes aus diesem Grunde für das Kindeswohl förderlich sein mag, sind allein aufgrund dieser Behauptung keine schweren und unzumutbaren Nachteile erkennbar, die dem Antragsteller im Falle des weiteren Zuwartens auf einen Platz in einer Betreuungseinrichtung mit gleichaltrigen Kindern drohen. Abgesehen davon fehlt es insoweit an jeglicher Glaubhaftmachung.
17Vor diesem Hintergrund lässt der Senat dahinstehen, ob der Antragsteller einen Anordnungsanspruch in einer die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden, qualifizierten Weise glaubhaft gemacht hat. Insbesondere bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, ob der Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 16. März 2020 wegen nicht fristgerecht erhobenen Widerspruchs bestandskräftig geworden ist und inwieweit sich dies auf den für den Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO glaubhaft zu machenden Anordnungsanspruch oder auch auf das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers auswirkt. Dementsprechend kann offen bleiben, ob und wann dem Antragsteller die von der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren eingereichte vollständige Fassung des Bescheids (mit behördlichen Briefkopf und Angabe der Anschrift der Antragsgegnerin) bekannt gegeben worden ist. In Betracht kommt insoweit aufgrund der Übermittlung in das von der Mutter des Antragstellers eventuell als Zugang i. S. v. § 36a Abs. 1 SGB I eröffnete persönliche Postfach im Online-System Kita-Navigator einerseits eine Bekanntgabe gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X am dritten Tag nach dieser Übermittlung (also am 19. März 2020), andererseits eine Bekanntgabe durch tatsächlichen Abruf nach § 37 Abs. 2a SGB X. Für den Fall der wirksamen Bekanntgabe einer Fassung des Bescheids mit vollständigem Briefkopf weist der Senat darauf hin, dass die Rechtsbehelfsbelehrung dann zwar die Anschrift der Behörde erkennen ließe, gleichwohl unrichtig i. S. v. § 58 Abs. 2 VwGO sein könnte, sofern die Antragsgegnerin i. S. v. § 3a Abs. 1 VwVfG NRW einen Zugang für eine Widerspruchserhebung in elektronischer Form eröffnet hat. Denn dann wäre der Antragsteller mit der im Bescheid angefügten Rechtsbehelfsbelehrung, die keinen Hinweis auf die Möglichkeit der Widerspruchseinlegung in elektronischer Form enthält, möglicherweise nicht ordnungsgemäß über alle möglichen Formen der Widerspruchseinlegung belehrt worden.
18Der mit der Beschwerde des Antragstellers geltend gemachte weitergehende Anspruch hat aus den vorstehenden Gründen keinen Erfolg, weil auch insoweit ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht ist
19Mit dem vorliegenden Beschluss ist eine Entscheidung über den Antrag der Antragsgegnerin auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts entbehrlich geworden.
20Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
21Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).
| {
"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
} |
Tenor
Der Antrag auf Gegenstandswertfestsetzung wird verworfen.
Gründe
1
Der Antrag auf Gegenstandswertfestsetzung wird verworfen, weil für eine gerichtliche Festsetzung des Gegenstandswertes kein Rechtsschutzbedürfnis besteht.
2
Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG beträgt der Mindestgegenstandswert im eigenständigen Verfahren der einstweiligen Anordnung (vgl. BVerfGE 89, 91 <94>) 5.000 Euro. Ein höherer Gegenstandswert kommt in Fällen, in denen ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt oder zurückgenommen worden ist, regelmäßig nicht in Betracht (vgl. zur insoweit vergleichbaren Rechtslage bei einer Verfassungsbeschwerde BVerfGE 79, 365 <369>). Umstände, die hier ausnahmsweise einen höheren Gegenstandswert rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Ist deshalb vom Mindestgegenstandswert auszugehen, so besteht für die gerichtliche Festsetzung des Gegenstandswertes kein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 25. Mai 1999 - 2 BvR 1790/94 -, NJW 2000, S. 1399; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Januar 2020 - 1 BvR 1867/17 -, Rn. 2).
3
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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"language": "de"
} |
Tenor
Es wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig festgestellt, dass den Antragstellern anlässlich ihrer Hochzeitsfeier am 26. September 2020 im Hotel A. gem. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO die Aufführung eines Hochzeitstanzes erlaubt ist.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller zu 2/3 und die Antragsgegnerin zu 1/3.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antrag hat im tenorierten Umfang Erfolg. Der Haupt- und der erste Hilfsantrag sind jedenfalls unbegründet. Der zweite Hilfsantrag hat – bei sachdienlicher Auslegung – Erfolg.
2
1. Der Hauptantrag, im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig festzustellen, dass die Antragsteller berechtigt sind, ihre Hochzeitsveranstaltung am 26. September 2020 im Hotel A. in Hamburg durchzuführen, ohne dass den Teilnehmern und Teilnehmerinnen das Tanzen untersagt ist, hat keinen Erfolg.
3
Es kann dahinstehen, ob der Antrag zulässig ist. Insbesondere bedarf es an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob Feststellungsbegehren, mit denen – wie hier – wegen einer ersichtlich begehrten Vorwegnahme der Hauptsache tatsächlich eine endgültige Feststellung erstrebt wird, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verfolgt werden können (zweifelnd OVG Hamburg, Beschl. v. 20.5.2020, 5 Bs 77/20, juris Rn. 13 ff. m.w.N.). Denn auch wenn der Antrag zulässig wäre, bliebe er mangels Begründetheit ohne Erfolg.
4
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung hierfür ist, dass die tatsächlichen Voraussetzungen sowohl eines Anordnungsgrunds, der insbesondere die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet, als auch eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den der Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz sucht, glaubhaft gemacht werden (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Da das vorläufige Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO grundsätzlich nur der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses dient und einem Antragsteller hier regelmäßig nicht bereits das gewährt werden soll, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen kann, kann einem Eilantrag nach § 123 VwGO im Falle einer Vorwegnahme der Hauptsache nur stattgegeben werden, wenn dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG schlechterdings unabweisbar ist. Dies setzt hohe Erfolgsaussichten, also eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in der Hauptsache sowie schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile im Falle des Abwartens in der Hauptsache voraus (OVG Hamburg, Beschl. v. 6.7.2018, 3 Bs 97/18, juris Rn. 35 m.w.N.). Diese strengen Anforderungen gelten im vorliegenden Verfahren, da die von den Antragstellern begehrte Feststellung eine solche endgültige Vorwegnahme der Hauptsache bewirken würde. Die Antragsteller könnten auch in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr erreichen als die begehrte Feststellung, dass den Teilnehmern ihrer Hochzeitsveranstaltung das Tanzen nicht untersagt ist. Aufgrund des zeitlich gebundenen Begehrens könnte aber eine entsprechende Entscheidung in einer – bisher noch nicht anhängig gemachten – Hauptsache vor der geplanten Feier am 26. September 2020 nicht mehr ergehen.
5
Unter Zugrundelegung des vorgenannten Maßstabs haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch, und damit die erforderliche weit überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in der Hauptsache, nicht glaubhaft gemacht. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung haben die Antragsteller voraussichtlich keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung.
6
Das Ausrichten einer Hochzeitsfeier, bei der getanzt wird, unterfällt dem Verbot in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 der Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Freien und Hansestadt Hamburg vom 15. September 2020 (HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO). Danach ist den Teilnehmern und Teilnehmerinnen das Tanzen auf Veranstaltungen untersagt. Bei der geplanten Hochzeitsfeier der Antragsteller handelt es sich – wovon auch die Beteiligten übereinstimmend ausgehen – um eine Veranstaltung gem. § 2 Abs. 4 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO.
7
Die Regelung in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO erweist sich voraussichtlich als rechtmäßig und beansprucht deshalb auch gegenüber den Antragstellern Gültigkeit.
8
Die Hamburgische SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung findet in §§ 32 Satz 1 und 2, 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine hinreichende gesetzliche Grundlage. Die Verordnungsermächtigung in §§ 32 Satz 1 und 2, 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ist mit höherrangigem Recht vereinbar, sie ist insbesondere bestimmt genug (VGH München, Beschl. v. 30.3.2020, 20 NE 20.632, juris Rn 45; OVG Münster, Beschl. v. 15.4.2020, 13 B 440/20.NE, juris Rn. 47 ff.) und beachtet die Vorgaben von Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG und des Parlamentsvorbehalts (OVG Hamburg, Beschl. v. 20.8.2020, 5 Bs 114/20, juris Rn. 8 m.w.N.).
9
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind aufgrund der gegenwärtig bestehenden Corona-Pandemie weiterhin erfüllt (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 20.8.2020, 5 Bs 114/20, juris Rn. 10). Das Robert-Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland auch aktuell noch insgesamt als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch. An dieser Bewertung hält das Robert-Koch-Institut nach wie vor fest (Risikobewertung zu COVID-19 vom 18.9.2020: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Zwar war eine vorübergehende Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau zu verzeichnen, aktuell ist jedoch bundesweit ein weiterer Anstieg der Übertragungen zu beobachten (täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 vom 22.9.2020:https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Sept_2020/2020-09-22-de.pdf?__blob=publicationFile).
10
Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „wie“ des Eingreifens – räumt die Bekämpfungs-Generalklausel der zuständigen Behörde Ermessen ein. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt. Dabei begrenzt § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG den Handlungsrahmen der Behörde nicht dahingehend, dass allein Schutzmaßnahmen gegenüber der als möglichem Überträger festgestellten Person in Betracht kommen. Die Vorschrift ermöglicht Regelungen gegenüber einzelnen wie mehreren Personen. Vorrangige Adressaten sind die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG benannten Personengruppen. Bei ihnen steht fest oder besteht der Verdacht, dass sie Träger von Krankheitserregern sind, die bei Menschen eine Infektion oder eine übertragbare Krankheit im Sinne von § 2 Nr. 1 bis Nr. 3 IfSG verursachen können. Wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr, eine übertragbare Krankheit weiterzuverbreiten, sind sie nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts als „Störer“ anzusehen. Es können aber auch (sonstige) Dritte („Nichtstörer“) Adressaten von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen (BVerwG, Urt. v. 22.3.2012, 3 C 16/11, juris Rn. 24 ff.). Gemessen an diesen Vorgaben ist das in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO normierte Tanzverbot auf Veranstaltungen bei summarischer Prüfung nicht zu beanstanden.
11
Bei dem Tanzverbot auf Veranstaltungen handelt es ich um eine notwendige Schutzmaßnahme, die den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügt. Die Regelung erscheint nach derzeitiger erkennbarer Sach- und Rechtslage und im Lichte des dem Verordnungsgeber hier zustehenden Entscheidungsspielraums als geeignet, erforderlich und angemessen. Mit dem Ziel, die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus in der Freien und Hansestadt Hamburg einzudämmen, um hierdurch die Gesundheit und das Leben der Bürgerinnen und Bürger zu schützen und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens zu gewährleisten (vgl. § 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO), dient das Tanzverbot auf Veranstaltungen einem legitimen Zweck. Zur Förderung dieses Zwecks ist das Tanzverbot auf Veranstaltungen auch geeignet. Der Hauptübertragungsweg des SARS-CoV-2-Virus ist nach Einschätzung des Robert-Koch-Instituts die Aufnahme virushaltiger Flüssigkeitspartikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Während größere Tröpfchen schnell zu Boden sinken, können Aerosole (feinste luftgetragene Flüssigkeitspartikel und Tröpfchenkerne, kleiner als 5 Mikrometer) auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen. Durch die Anreicherung und Verteilung von Aerosolen im Raum wird die Gefahr einer Infektion derart erhöht, dass auch das Einhalten von Mindestabständen ggf. nicht mehr ausreichend sein kann. So weisen bisherige Beobachtungen darauf hin, dass auch schwere körperliche Arbeit bei mangelnder Lüftung zu hohen Infektionsraten führen kann (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=8B06D8D73916F101C3497D265A375307.internet082#doc13776792bodyText2).
12
Der Verordnungsgeber durfte daher zu Recht davon ausgehen, dass das Tanzen auf Veranstaltungen ein erhöhtes Infektionspotenzial aufweist. Dies folgt zum einen aus üblicherweise stattfindenden Körperkontakten oder jedenfalls der Unterschreitung des Mindestabstands, dessen Beachtung aufgrund von ausgelassener Stimmung und (möglicherweise) von Alkoholkonsum in Vergessenheit gerät, zum anderen aber auch aus der körperlichen Aktivität und der damit einhergehenden erhöhten Atemfrequenz und somit dem vermehrten Ausstoß von Aerosolen, die möglicherweise mit Viren belastet sind. Das Tanzverbot auf Veranstaltungen hat auch bei privaten Veranstaltungen mit ausschließlich geladenen Gästen zur Folge, dass engerer Kontakt zwischen Teilnehmern der Veranstaltung, die sich ansonsten nicht so nah kommen würden, und ein vermehrter Ausstoß von Aerosolen, wodurch das Virus übertragen werden könnte, unterbunden werden.
13
Der hamburgische Verordnungsgeber darf es im Rahmen seines Einschätzungsspielraums nach wie vor für erforderlich halten, das Tanzen auf Veranstaltungen zu verbieten, um das Ziel der Eindämmung einer erhöhten Infektionsgefahr durch das SARS-CoV-2-Virus zu erreichen. Ein milderes Mittel, das zur Erreichung dieses Zwecks gleich geeignet wäre, ist nicht ersichtlich. Eine Regelung, vergleichbar mit der in § 19 Abs. 1, 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO, wie sie für Tanzschulen gilt, wonach das Tanzen erlaubt ist, soweit sich die Teilnehmer nicht durchmischen und die beteiligten Personen in geschlossenen Räumen einen Mindestabstand von 2,5 Metern zueinander einhalten, wäre auf einer privaten Veranstaltung realistischerweise nicht umzusetzen. Anders als in Tanzschulen, bei denen es einen strukturierten Unterrichtsablauf gibt, die Teilnehmer den Anweisungen des Tanzlehrers folgen und somit kontrollierte, aufeinander abgestimmte Bewegungen ausführen, bei denen die Einhaltung des Mindestabstands gewährleistet werden kann, kann hiervon bei „freiem Tanzen“ auf privaten Veranstaltungen nicht ausgegangen werden.
14
In diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung ist die im Prinzip nicht zu beanstandende Strategie der Antragsgegnerin, durch schrittweise Lockerungen der Beschränkungen bei ständiger Überprüfung ihrer möglichen Auswirkungen auf die Infektionszahlen einerseits und der Berücksichtigung des Gewichts der verbleibenden Grundrechtseingriffe andererseits in möglichst vielen Bereichen eine zunehmende Annäherung an die Situation vor Beginn der Corona-Pandemie zu erreichen. Diese Vorgehensweise bedingt es, die in Betracht kommenden Lockerungen zeitlich weiter nach hinten zu verlagern, mit denen ein spezifisch höheres Infektionsrisiko verbunden ist. In der Zwischenzeit hat der Verordnungsgeber zu prüfen, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass bisher bereits vorgenommene Lockerungen zu einer (signifikanten) Erhöhung der Infektionszahlen geführt haben könnten, und ggf. zu versuchen, mögliche Zusammenhänge zu erkennen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass zwischen der Ansteckung, dem Beginn der ersten Symptome, einer Testung und der statistischen Verarbeitung des Testergebnisses einige Tage vergehen, sodass eine einigermaßen tragfähige Einschätzung zu den möglichen Auswirkungen einer Lockerung auf die Infektionszahlen erst entsprechend später getroffen werden kann (OVG Hamburg, Beschl. v. 20.5.2020, 5 Bs 77/20, juris Rn. 34). Angesichts dessen erscheint es plausibel, dass der Verordnungsgeber mit der Erlaubnis des Tanzens auf Veranstaltungen jedenfalls noch so lange zuwartet, bis die eventuellen Auswirkungen der zuletzt vorgenommenen (infektionstechnisch weniger riskant erscheinenden) Lockerungen besser eingeschätzt werden können.
15
Das Tanzverbot auf Veranstaltungen ist auch noch angemessen. Die damit einhergehenden Belastungen stehen nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck. Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG auch verpflichtet ist, hat die Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit von Veranstaltern und Veranstaltungsteilnehmern derzeit zurücktreten. Außerdem ist die angegriffene Regelung zunächst bis zum 30. November 2020 befristet. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei ist stets unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots zu prüfen, ob die Einschränkungen beim Ausrichten von Veranstaltungen noch aufrechterhalten werden können oder eine Lockerung verantwortet werden kann.
16
Die Anzahl der neu übermittelten Fälle an Erkrankungen an Covid-19 in Deutschland steigt nach einer Stabilisierungsphase derzeit wieder an (s.o.). In verschiedenen Landkreisen gibt es Ausbrüche, die mit unterschiedlichen Situationen in Zusammenhang stehen, darunter unter anderem auch größere Feiern im Familien- und Freundeskreis (täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 vom 22.9.2020:https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Sept_2020/2020-09-22-de.pdf?__blob=publicationFile). Die Anzahl der neu Erkrankten liegt in Hamburg deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt. Die aktuelle Lage ist nach der Risikobewertung des Robert-Koch-Instituts weiterhin dynamisch und ernst zu nehmen. Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wird insgesamt weiter als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen als sehr hoch. Zwar verläuft die Erkrankung in der überwiegenden Zahl der Fälle mild, die Wahrscheinlichkeit für schwere und auch tödliche Krankheitsverläufe nimmt aber mit zunehmenden Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu. Darüber hinaus kann es auch bei jungen Menschen ohne bekannte Vorerkrankungen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Fällen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Nach wie vor gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig. Auch wenn die Belastung des Gesundheitssystems aktuell in weiten Teilen Deutschlands gering ist, kann sie örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten, so dass Belastungsspitzen im Gesundheitswesen zu vermeiden sind (zum Ganzen: Risikobewertung zu COVID-19 vom 18.9.2020: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html).
17
Das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit überwiegt das Interesse der Antragsteller, ihre Hochzeitsfeier uneingeschränkt frei gestalten zu können. Dabei ist zu berücksichtigten, dass den Antragstellern das Ausrichten ihrer Hochzeitsfeier ohne Tanzmöglichkeit nicht verwehrt wird. Die Antragsteller tragen selbst vor, dass das Tanzen auf Hochzeiten ein wichtiger Bestandteil von vielen sei. Dass die Feier für sie ohne die Möglichkeit des Tanzens derart an Wert verlieren würde, dass sie sich zu einer Verlegung oder Stornierung gezwungen sehen würden, machen sie nicht geltend. Die vorgetragenen wirtschaftlichen Nachteile im Falle einer Verlegung oder Stornierung sind daher vorliegend außer Acht zu lassen. Hierbei wäre zudem zu berücksichtigen, dass die Antragsteller ihre Hochzeitsfeier – wie sich aus dem vorgelegten Veranstaltungsvertrag ergibt – bereits zu Zeiten der Corona-Pandemie geplant haben. Sie haben daher das Risiko von Einschränkungen während der Feier bewusst in Kauf genommen.
18
Eine Verletzung der Antragsteller aus ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) ist vor dem Hintergrund der vorstehenden Erwägungen nicht ersichtlich. Die allgemeine Handlungsfreiheit gilt nicht schrankenlos; im vorliegenden Fall muss sie angesichts der durch die Pandemie bedingten Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG auch verpflichtet ist, und der in diesem Zusammenhang verordneten, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechenden Beschränkung derzeit zurücktreten.
19
Auch eine Verletzung der Antragsteller aus ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG (Eheschließungsfreiheit) kommt nicht in Betracht. Durch Beschränkungen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung von (Hochzeits-)Veranstaltungen werden die Antragsteller nicht in ihrem Recht auf ungehinderten Zugang zur Ehe verletzt, zumal die Antragsteller bereits am 8. August 2020 standesamtlich geheiratet haben.
20
Schließlich werden die Antragsteller durch das Tanzverbot auf ihrer Hochzeitsfeier nicht in ihrem allgemeinen Gleichheitsrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet es dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012, 1 BvL 16/11, juris Rn. 30).
21
Dies zugrunde gelegt, stellt die unterschiedliche Behandlung von Veranstaltungen gegenüber Tanzschulen keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz dar. Es handelt sich um Sachverhalte, die im Hinblick auf die jeweilige Gefahr von Infektionen und schweren Krankheitsverläufen unterschiedlich zu würdigen sind; insoweit wird auf die vorstehenden Erwägungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Bezug genommen. Auch die unterschiedlichen Behandlungen von Veranstaltungen und Fitnessstudios sowie Sportbetrieben stellen keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz dar. Bei Veranstaltungen und Fitnessstudios handelt es sich ebenso wie bei Veranstaltungen und Sportbetrieben nicht um wesentlich gleiche Sachverhalte, die eine wesentlich gleiche Behandlung erfordern würden. Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung kann sich darüber hinaus auch nicht daraus ergeben, dass das Tanzen auf Veranstaltungen in anderen Bundesländern mittlerweile wieder erlaubt sein mag. Der Gleichheitssatz bindet jeden Träger der öffentlichen Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich, weshalb der Gleichheitssatz nicht dadurch verletzt wird, dass ein anderes Bundesland den gleichen Sachverhalt anders behandelt (BVerfG, Beschluss v. 12.5.1987, 2 BvR 1226/83, juris Rn. 151).
22
2. Der Antrag hat auch mit dem ersten Hilfsantrag, im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass die Antragsteller berechtigt sind, ihre Hochzeitsveranstaltung am 26. September 2020 im Hotel A. in Hamburg durchzuführen, ohne dass den Teilnehmern und Teilnehmerinnen das paarweise Tanzen untersagt ist, keinen Erfolg.
23
Unabhängig von der Frage der Zulässigkeit des Feststellungsantrags (s.o.), ist der Antrag jedenfalls nicht begründet. Die Antragsteller haben auch insoweit keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
24
Auch das paarweise Tanzen unterfällt dem Verbot in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO. Bei dem generellen Tanzverbot, ohne Ausnahmemöglichkeit für Paartanz, handelt es sich auch um eine geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme. Auf die obigen Ausführungen wird verwiesen.
25
Bei einem Tanzverbot mit Ausnahme von Paartanz würde es sich auch nicht um ein milderes Mittel handeln, das im Vergleich zu einem generellen Tanzverbot gleich geeignet wäre. Dies ist vorliegend schon deshalb ausgeschossen, weil die Antragsteller eine Duldung von Paartanz begehren, bei der „in der Regel“ stets mit den gleichen Lebenspartnern getanzt wird. Bei dieser begehrten allgemeinen Duldung von Paartanz ist daher nicht ausgeschlossen, dass es zu Körperkontakten zwischen Personen käme, die nicht vom Abstandsgebot gem. § 3 Abs. 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO ausgenommen sind. Darüber hinaus vermag der Paartanz das Risiko von Körperkontakten oder jedenfalls des Unterschreitens von Mindestabständen zu anderen Tanzpaaren und den vermehrten Ausstoß von Aerosolen aufgrund der körperlichen Aktivität und der damit einhergehenden erhöhten Atemfrequenz nicht zu beseitigen.
26
3. Der Antrag hat jedoch mit dem zweiten Hilfsantrag Erfolg.
27
Der von den Antragstellern wörtlich gestellte Antrag, festzustellen, dass die Antragsteller berechtigt sind, ihre Hochzeitsveranstaltung am 26. September 2020 im Hotel A. in Hamburg durchzuführen, ohne dass dem Hochzeitspaar der Hochzeitstanz untersagt ist, ist mit Blick auf das von den Antragstellern verfolgte Rechtsschutzziel dahingehend auszulegen (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO), dass sie im Wege einer einstweiligen Anordnung begehren festzustellen, dass ihnen die Aufführung eines Hochzeitstanzes anlässlich ihrer Hochzeitsfeier am 26. September 2020 im Hotel A. nach der HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO erlaubt ist.
28
Der so verstandene Antrag ist zulässig. Er ist insbesondere als Antrag gem. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft, da mit ihm nicht die endgültige Klärung der Wirksamkeit einer Verbotsnorm begehrt wird (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 20.5.2020, 5 Bs 77/20, juris Rn. 15).
29
Der Antrag ist auch begründet. Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass mit der für die erstrebte endgültige Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund bestehen.
30
Den Antragstellern ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit gem. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO erlaubt, anlässlich ihrer Hochzeitsfeier am 26. September 2020 einen Hochzeitstanz aufzuführen.
31
Der geplante Hochzeitstanz der Antragsteller unterfällt nicht dem Tanzverbot in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO, sondern ist nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO zulässig. Nach dieser Vorschrift sind Darbietungen zulässig, wenn zwischen dem Publikum und Bühnen oder Podien, auf denen Darbietungen stattfinden, ein Mindestabstand von 2,5 Metern gewährleistet wird. Der Begriff der Darbietung ist in der HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO nicht legaldefiniert. Unter ihm ist daher nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und aufgrund des Regelungszusammenhangs im Rahmen von Veranstaltungen eine Art Vorstellung bzw. Aufführung zu verstehen. Bei einem Hochzeitstanz handelt es sich um eine solche Aufführung. Bei ihm geht es nicht allein um den Tanz als solchen, sondern vielmehr um seine symbolische und rituelle Bedeutung. In dieser Funktion zieht er meist die Aufmerksamkeit der gesamten Hochzeitsgäste, vergleichbar mit einem Publikum, auf sich, und ist mit dem allgemeinen freien Tanzen der Hochzeitsgäste nicht vergleichbar. In dieser Sonderfunktion ist der Hochzeitstanz daher als Darbietung unter Einhaltung des Mindestabstands von 2,5 Metern zu den zuschauenden Gästen zulässig.
32
Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Eilbedürftigkeit der vorläufigen Regelung ergibt sich daraus, dass die Hochzeitsfeier der Antragsteller bereits am kommenden Samstag, dem 26. September 2020, stattfinden soll und eine Entscheidung in der Hauptsache somit zu spät erginge.
II.
33
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2, § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG. Aufgrund der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache sieht das Gericht von einer Reduzierung des Streitwerts im Eilverfahren ab (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013).
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"jurisdiction": "Germany",
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"language": "de"
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Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).
Gründe
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde und der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wenden sich gegen eine ohne Anhörung der Beschwerdeführerin erlassene einstweilige Verfügung des Landgerichts Hamburg.
2
1. Die angegriffene Verfügung untersagt der Beschwerdeführerin Äußerungen, die sie in der von ihr herausgegebenen Tageszeitung über eine angebliche frühere Mitgliedschaft des Antragstellers des Ausgangsverfahrens, Andreas Kalbitz, in dem inzwischen verbotenen, völkisch-rechtsextremen Verein "Heimattreue deutsche Jugend" veröffentlicht hatte. Bereits vor Erlass der einstweiligen Verfügung hatte die Beschwerdeführerin den Bericht online berichtigt und auch in Print richtiggestellt. Die Rede war in der neuen Fassung nun nicht mehr von einem "Mitgliedsantrag", sondern von einer Mitgliedsliste, die dem Verfassungsschutz vorliege und auf der auch der Name des Antragstellers des Ausgangsverfahrens geführt werde. Dennoch erließ das Landgericht Hamburg - ohne Einbeziehung der Beschwerdeführerin - die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene einstweilige Verfügung und untersagte den Bericht in seiner Ursprungsfassung.
3
2. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Entscheidung vom 16. Juli 2020 den Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mangels Darlegung eines schwerwiegenden, grundrechtlich erheblichen Nachteils im Sinne des § 32 BVerfGG abgelehnt. Die Beschwerdeführerin habe nicht vorgetragen, die ihr untersagte Äußerung weiter verbreiten zu wollen, sondern habe sich gegenüber dem titulierten Unterlassungsanspruch gerade auf eine mangelnde Wiederholungsgefahr berufen. Es fehle somit an einem materiellen Eingriff in die Berichterstattungsfreiheit.
4
3. Mit Schriftsatz vom 29. Juli 2020 hat die Beschwerdeführerin hierauf Gegenvorstellung erhoben, ihren Eilantrag erneuert und ihre Verfassungsbeschwerde ergänzt. Sie sei durch die auf Grundlage eines prozessrechtswidrigen Verfahrens erlassene Verfügung des Landgerichts weiterhin beschwert. Dies gelte sowohl hinsichtlich der Kostenfolge als auch hinsichtlich ihrer Berichterstattungsfreiheit. Die Beschwerdeführerin stehe infolge der Unterlassungsverfügung nämlich vor der Frage, wie sie ihre Berichterstattung in diesem konkreten Fall und in Zukunft gestalten solle.
II.
5
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig ist und jedenfalls Annahmegründe im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht gegeben sind. Ein besonderes Interesse an einer nachträglichen Feststellung eines Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit ist nicht ausreichend dargelegt oder ersichtlich.
6
1. a) Ausweislich der für das Verfahren maßstäblichen Entscheidung der Kammer vom 30. September 2018 (1 BvR 1783/17, Rn. 11) setzt eine nachträgliche Feststellung eines Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren grundsätzlich ein besonderes Feststellungsinteresse voraus (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 9 f.). Die bloße Geltendmachung eines - auch gravierenden - error in procedendo reicht hierfür nicht aus (vgl. BVerfGE 138, 64 <87 Rn. 71> m.w.N. - zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Anzunehmen ist ein Feststellungsinteresse insbesondere dann, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu befürchten ist (vgl. BVerfGE 91, 125 <133>), also eine hinreichend konkrete Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten rechtlichen und tatsächlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergehen würde. Dafür bedarf es nach der Klärung der Rechtslage durch den stattgebenden Kammerbeschluss vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 - näherer Darlegungen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. Oktober 2019 - 1 BvR 1078/19 u.a. -, Rn. 3). Ein auf eine Wiederholungsgefahr gestütztes Feststellungsinteresse setzt insoweit voraus, dass die Zivilgerichte die aus dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit folgenden Anforderungen grundsätzlich verkennen und ihre Praxis hieran unter Missachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe erkennbar nicht ausrichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 10).
7
b) Die Darlegung eines solchen besonderen Feststellungsinteresses kann nur ausnahmsweise entbehrlich sein, solange eine offenkundig prozessrechtswidrig erlassene einstweilige Verfügung noch fortwirkt, das darauf bezogene fachgerichtliche Widerspruchsverfahren zügig beschritten wurde und noch andauert sowie schwere, grundrechtlich erhebliche Nachteile des Beschwerdeführers im Sinne von § 32 Abs. 1, § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG geltend gemacht werden, die ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts noch während des laufenden fachgerichtlichen Verfahrens gebieten (vgl. zu solchen Konstellationen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12 f.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 9-12).
8
2. Nach diesen Maßstäben mangelt es der Verfassungsbeschwerde an einem ausreichenden Feststellungsinteresse beziehungsweise an Annahmegründen im Sinne des § 93a Abs. 1 BVerfGG.
9
a) Bereits aus dem Beschluss der Kammer vom 16. Juli 2020 ergibt sich, dass die besonderen Voraussetzungen für ein verfassungsgerichtliches Einschreiten im Wege des § 32 Abs. 1 BVerfGG vorliegend nicht gegeben sind. Auch der nachgereichte Schriftsatz legt lediglich eine gewöhnliche Beschwer der Beschwerdeführerin durch den formellen Unterlassungstitel und die Kostenlast dar, nicht aber einen schwerwiegenden Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG. Auch zur Erfüllung der übrigen prozessualen Anforderungen, die in besonderen Fällen ein Einschreiten nach § 32 Abs. 1 BVerfGG in Fällen einer Verletzung der Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren rechtfertigen können, ist nichts vorgetragen.
10
b) Ein besonderes Interesse an einer nachträglichen Feststellung einer Verletzung der prozessualen Waffengleichheit ist nicht hinreichend dargelegt.
11
aa) Die Beschwerdeführerin beruft sich in erster Linie auf die beiden zitierten Entscheidungen der Kammer aus den Verfahren 1 BvR 1246/20 und 1 BvR 1380/20, in denen eine solche Darlegung im Rahmen der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht gefordert wurde. Diese Bezugnahme geht allerdings fehl, weil ein Verzicht auf diese Anforderung der dortigen Verfahrenskonstellation geschuldet war. Dort bestanden jeweils die Wirkungen der Verletzung der prozessualen Waffengleichheit fort, war ein Widerspruch eingelegt und begründet worden und konnte außerdem ein schwerwiegender Nachteil im Sinne des § 32 BVerfGG geltend gemacht werden. All dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Verzicht auf das Erfordernis der Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses war gerade dieser Verfahrenskonstellation und der spezifischen verfassungsgerichtlichen Rechtschutzform (§ 32 BVerfGG) geschuldet. Denn die substantiierte Darlegung und verfassungsgerichtliche Prüfung eines solchen besonderen Feststellungsinteresses dürfte in aller Regel im Eilverfahren nicht mit Aussicht auf Erfolg möglich sein. Handelt es sich hingegen nicht mehr um eine besonders dringliche Sache, sondern geht es darum, abschließend zu prüfen, ob in dem Verfahren die prozessuale Waffengleichheit verletzt wurde, sind besondere Anforderungen an das Interesse an einer nachträglichen Feststellung zu stellen, die auch sonst in Fällen einer nachträglichen Feststellung von Verfahrensverstößen gefordert werden. Denn dem Verfassungsgericht obliegt nicht die Aufgabe eines rückblickenden Nachvollzugs des ordnungsgemäßen Ablaufs des fachgerichtlichen Verfahrens um seiner selbst willen.
12
bb) Diesen somit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren anzulegenden Darlegungsanforderungen genügt der Beschwerdevortrag offensichtlich nicht. Die Beschwerdeführerin behauptet lediglich pauschal und ohne nähere Erläuterungen, dass das Landgericht Hamburg die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die im Verfahren 1 BvR 1783/17 formuliert wurden, grundsätzlich verkenne und nicht gewillt sei, diese umzusetzen. Zur Plausibilisierung verweist sie allein auf den vorliegenden Fall und die dort nach ihrer Ansicht gegebene schwere Missachtung ihrer prozessualen Waffengleichheit. Dies genügt nicht, um ein besonderes Feststellungsinteresse zu begründen.
13
Zwar beruft sich die Beschwerdeführerin hinsichtlich einer Wiederholungsgefahr auf die Möglichkeit, in Zukunft in anderen presserechtlichen Auseinandersetzungen erneut mit einstweiligen Verfügungen des Landgerichts Hamburg rechnen zu müssen. Ihr Vortrag ist insofern jedoch gänzlich allgemein gehalten, sodass sich eine konkrete Wiederholungsgefahr daraus nicht ergibt. Insbesondere enthält die Verfassungsbeschwerde keinen Vortrag, der plausibilisieren könnte, dass der Beschwerdeführerin im Fall zukünftiger einstweiliger Verfügungsverfahren vor dem Landgericht Hamburg erneut entsprechende Verletzungen ihrer prozessualen Waffengleichheit drohen würden. Für eine grundlegende und systematische Missachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen durch das Landgericht werden somit keine Anhaltspunkte genannt.
14
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
15
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe
1
Der Beschwerdeführer, dessen mit der Verfassungsbeschwerde verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Kammer mit Beschluss vom 17. Juni 2020 abgelehnt hat, hat mit Schreiben vom 17. August 2020 mitgeteilt, dass die mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachte Verletzung der prozessualen Waffengleichheit nicht mehr fortdauere. Er beantragt nunmehr, die notwendigen Auslagen für das verfassungsgerichtliche Verfahren nach § 34a Abs. 3 BVerfGG dem Land Berlin aufzuerlegen.
2
Angesichts der Erledigung der Verfassungsbeschwerde ist nur noch gemäß § 34a Abs. 3 BVerfGG nach Billigkeit über die Auslagenerstattung für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu entscheiden. Dabei findet eine überschlagsmäßige Würdigung der Erfolgsaussichten, wie sie im fachgerichtlichen Verfahren im Erledigungsfall üblich ist, im verfassungsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich nicht statt. Eine Auslagenerstattung entspricht der Billigkeit daher nur, soweit ausnahmsweise die Erfolgsaussichten im Verfassungsbeschwerdeverfahren ohne Weiteres unterstellt werden können (vgl. BVerfGE 133, 37 <38 f.>).
3
Nach diesem Maßstab entspricht eine Auslagenerstattung hier nicht der Billigkeit. Der Ablehnungsbeschluss der Kammer vom 17. Juni 2020 verhält sich gerade nicht zu den Erfolgsaussichten der vom Beschwerdeführer erhobenen Verfassungsbeschwerde. Zudem enthält diese keinen substantiierten Vortrag zu einem besonderen Interesse an einer nachträglichen Feststellung einer Verletzung der prozessualen Waffengleichheit. Es liegt damit gerade nicht auf der Hand, dass die vorliegende Verfassungsbeschwerde erfolgreich gewesen wäre.
4
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 06.12.2019 wird angeordnet.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Gerichtskosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin zur Hälfte und die Antragsgegnerin sowie die Beigeladene jeweils zu einem Viertel. Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen darüber hinaus auch jeweils ein Viertel der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin, die Antragstellerin trägt jeweils die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerin und der Beigeladenen. Im Übrigen trägt jede Beteiligte ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 20.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen mehrere Baugenehmigungen, die die Antragsgegnerin für das sogenannte „E. -Grundstück“ in der Innenstadt von F. erteilt hat.
2
Die Antragstellerin stellt in ihrem Betrieb Spezialpapiere und Verpackungen her. Der Betriebsbereich G. in F., H., Flurstück 103/1 der Flur 34 der Gemarkung F., unterfällt der 12. Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes – Störfall-Verordnung –. Das Betriebsgelände hat eine Größe von insgesamt 384.000 qm und liegt nordwestlich der Innenstadt von F. im rechtsseitigen Flusstal der I.; auf dem Gelände wird seit mehr als 200 Jahren Papier hergestellt. Im März 2018 erstellte der TÜV Nord im Auftrag der Antragstellerin ein Gutachten zur Verträglichkeit des Betriebsbereichs G. in Bezug auf die angrenzende Bebauung. Nach dem Gutachten ist der das Gefahrenpotential bestimmende Stoff in dem Betrieb Schwefeldioxid. Dieser wird einmal wöchentlich mit einem Eisenbahnkesselwagen angeliefert, in einer Abfüllhalle entladen und von dort durch eine im Freien verlaufende Rohrleitung zum Tanklager geleitet. Der gesamte Vorgang dauert etwa vier Stunden. Nach den Feststellungen des TÜV Nord beträgt der Sicherheitsabstand um die Rohrleitung 800 m. In diesem Abstand liegen östlich des Betriebsgeländes Wohngebiete und die Altstadt von F. mit kommunalen Einrichtungen sowie die Fußgängerzone.Im Südosten grenzt das Betriebsgelände an die J..
3
Die Beigeladene ist Eigentümerin des sogenannten „E. -Grundstücks“, J. 5/6 in F., Flurstücke 329/6 u.a. der Flur 9 und Flurstücke 72/24 u.a. der Flur 24 der Gemarkung F.. Das Grundstück liegt im unbeplanten Innenbereich. Es hat eine Größe von insgesamt 6.335 qm und grenzt im Nordwesten an die J., im Südwesten an die Straße K. und im Südosten an den L.. Es ist jedenfalls seit mindestens der 1990er-Jahren ein Einzelhandelsstandort. Zuletzt befanden sich auf dem Grundstück an die Straße K. grenzend ein Lebensmittelmarkt mit darüber liegendem zweigeschossigen Parkdeck mit über 100 Einstellplätzen sowie – in einem Gebäude an der J. – weitere Einzelhandels- bzw. Dienstleistungsbetriebe. Der gesamte Gebäudekomplex sollte ab 2016 zunächst grundlegend saniert werden. Die dafür der Grundstücksgemeinschaft M. als einer Voreigentümerin des „E. -Grundstücks“ zunächst erteilte Baugenehmigung vom 23.02.2016 zur „Herstellung einer Ein- und Ausfahrt zur J. sowie Umbau des Erdgeschosses mit Nutzung als Lebensmittelmarkt, Sanitätshaus, Büro- und Einzelhandelsflächen“ (Bauschein-Nr. (63) 104/2015) wurde allerdings nicht ausgenutzt.
4
Am 28.04.2016 zeigte die Grundstücksgemeinschaft M. bei der Antragsgegnerin den Abbruch des Lebensmittelmarktes und des Parkdecks an.
5
Mit Bescheid vom 14.12.2016 erteilte die Antragsgegnerin sodann der N. als einer weiteren Voreigentümerin des „E. -Grundstücks“ eine Baugenehmigung für den „Neubau/Umbau eines Lebensmittelmarktes mit Getränkemarkt, Fleischereiabteilung und Backshop sowie Umbau eines Teilbereiches in ein Sanitätshaus und Herstellung von 84 Einstellplätzen“ (Bauschein-Nr. ). Ausweislich des grüngestempelten Lageplans sollte das Gebäude an der J. erhalten bleiben und das neue Gebäude des Lebensmittelmarktes wieder an die Straße K. grenzen, dort war auch die LKW-Anlieferung vorgesehen. Die Stellplätze sollten sich im nördlichen und östlichen Teil des Grundstücks befinden. Das geplante Gebäude sollte eine überbaute Fläche von etwa 2.762 qm haben.
6
Auf den Widerspruch der N. gegen vier Nebenbestimmungen genehmigte die Antragsgegnerin der Voreigentümerin mit Bescheid vom 08.02.2017, überschrieben als 1. Nachtrag zum Bauschein Nr. vom 14.12.2016, eine veränderte Bauausführung. Unter Nr. 1 der Baugenehmigung heißt es dazu, die Nachtragsgenehmigung habe nur Gültigkeit in Verbindung mit dem Bauschein vom 14.12.2016 und sei Bestandteil der vorgenannten Baugenehmigung. Die ursprüngliche Auflage, zwischen Käseverkauf und Aufbackabteilung die geplante Tür durch eine geschlossene Wand zu ersetzen, entfiel durch die geänderte Ausführung eines raumhohen Wandelements mit Tür zwischen den Abteilungen und eine zunächst zwischen Käse- und Wurstabteilung geplante Tür sollte nicht zur Ausführung kommen.
7
Die N. zeigte unter dem 09.03.2017 an, dass mit der Ausführung der Bauarbeiten am 13.03.2017 begonnen werde. Nach einem Artikel nebst Foto in der O. Allgemeinen Zeitung vom 12.07.2017 war der Lebensmittelmarkt – mit dem zweigeschossigen Parkdeck – zu dem Zeitpunkt abgerissen.
8
Mit Bescheid vom 10.08.2017, überschrieben als 2. Nachtrag zum Bauschein vom 14.12.2016, genehmigte die Antragsgegnerin der N. einen 1. statischen Nachtrag. Weitere geprüfte Unterlagen und ein 2. Prüfbericht eines beratenden Ingenieurs wurden Bestandteil der Genehmigung.
9
Mit Bescheid vom 03.12.2018, überschrieben als 3. Nachtrag zum Bauschein vom 14.12.2016, genehmigte die Antragsgegnerin nunmehr der Beigeladenen einen 2. statischen Nachtrag.
10
Unter dem 26.06.2019 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung „Sanierung/Ersatzbau SB-Verbrauchermarkt mit Backshop“. Dem Antrag lagen eine Baubeschreibung, eine Berechnung des umbauten Raumes, eine Ermittlung des Stellplatzbedarfs, eine Betriebsbeschreibung, ein schalltechnisches Gutachten und ein Gutachten über die „Verkehrserschließung zur Reaktivierung des Einzelhandels in F. –J.“ bei. Ausweislich der Bauzeichnungen ist der Baukörper auf dem Grundstück nach Osten verschoben und außerdem gedreht worden. Er grenzt nunmehr an die Straße K. und den L., wobei sich im L. die LKW-Anlieferung befindet. Im westlichen Teil des Grundstücks befinden sich nun die Stellplätze. Die überbaute Fläche soll 2.370 qm betragen.
11
Am 13.08.2019 zeigte die Beigeladene den Abbruch des an der J. liegenden Gebäudes bei der Antragsgegnerin an.
12
In einem Vermerk vom 30.09.2019 aus dem Baudezernat der Antragsgegnerin ist festgehalten, dass das Baugrundstück einen sehr schwierigen Baugrund habe mit insbesondere statischen Folgen. Diese seien der Grund für das sehr lange Bauantragsverfahren mit mehreren erteilten Baugenehmigungen, die aufeinander aufbauten. Ursprünglich sei die Sanierung der Bestandsimmobilie beabsichtigt und genehmigt gewesen. Da diese nicht möglich gewesen sei, sei ein Ersatzbau an gleicher Stelle genehmigt worden. Nunmehr sei – wiederum aus statischen Erfordernissen – der Ersatzbau auf dem Grundstück nach Osten verschoben worden. Gleichzeitig werde der Ersatzbau in seinen Maßen kleiner und mit einer gegenüber dem ursprünglichen Bestandsgebäude deutlich verminderten Verkaufsfläche ausgeführt. Weiterhin habe sich herausgestellt, dass auch die straßenbegleitende Bebauung auf dem Grundstück langfristig nicht standsicher sei und abgerissen werden müsse. Der jetzt zur Genehmigung eingereichte Bauantrag werde deshalb als „Sanierung/Ersatzbau“ bezeichnet, er habe einen kausalen Zusammenhang zur ersten Baugenehmigung mit der Bauschein-Nr. (63) 104/2015, sei quasi eine „veränderte Ausführung“. Materiell bewege sich das Vorhaben innerhalb der Bestandssituation, es handele sich also nicht um eine Baumaßnahme, die „erstmalig“ oder „zusätzlich“ im Sinne des § 62 Abs. 1 Satz 4 NBauO entstehe. Selbst wenn eine „Seveso-III-Relevanz“ angenommen werden müsste, entspräche das Vorhaben der Zielsetzung der Seveso-III-Richtlinie, in dem es durch eine Reduzierung des Baubestands und der damit einhergehenden Reduzierung von Nutzungsflächen bzw. betretbaren Verkaufsflächen das nachbarliche Verhältnis zum Störfallbetrieb verbessere.
13
Mit Bescheid vom 06.12.2019 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung (Bauschein-Nr. (63) 88/2019). Im Betreff der Genehmigung heißt es: „Sanierung/Ersatzbau SB-Verbrauchermarkt mit Backshop und Herstellung von 91 Einstellplätzen – veränderte Ausführung der Baugenehmigung vom 14.12.2016“. Die Baugenehmigung wurde der Antragstellerin am 18.12.2019 zugestellt.
14
Gegen diese Baugenehmigung legte die Antragstellerin unter dem 16.01.2020 Widerspruch ein.
15
Unter dem 20.02.2020 verfasste der Prozessbevollmächtigte der Beigeladenen für die Antragsgegnerin einen Vermerk: Es könne dahinstehen, ob es sich bei der Baugenehmigung vom 06.12.2019 um eine nur ändernde Genehmigung oder um die umfassende Neuzulassung eines Vorhabens handele. Der Prüfungsmaßstab sei in jedem Fall § 34 BauGB. Von einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots könne aber nur ausgegangen werden, wenn das Bauvorhaben mit der Seveso-III-Richtlinie nicht vereinbar sei. Die Antragsgegnerin gehe davon aus, dass das geplante Gebäude einem öffentlich genutzten Gebäude im Sinne der Richtlinie gleichkomme und dass das Gebäude innerhalb des angemessenen Abstands von 800 m liege. Sie gehe allerdings davon aus, dass das Bauvorhaben trotzdem zulassungsfähig sei. Zwar könne nach der Richtlinie in sogenannten Gemengelagen im Einzelfall im Rahmen einer nachvollziehenden Abwägung auch eine „erstmalige“ bzw. „zusätzliche“ schutzwürdige Nutzung innerhalb des angemessenen Sicherheitsabstands neu etabliert werden. Dies sei aber vorliegend nicht der Fall. Der vorhandene Gebäudebestand und die vorhandenen Nutzungen würden im Rahmen der Richtlinie nicht mit betrachtet; es greife Bestandsschutz. Dies gelte im übertragenen Sinne auch für den „neuen“ SB-Verbrauchermarkt, denn dieser entstehe weder „erstmalig“ noch „zusätzlich“. Insofern sei es zwar positiv, aber im Hinblick auf die Richtlinie unerheblich, dass mit dem Vorhaben der Baubestand und die Nutzungsflächen bzw. betretbaren Verkaufsflächen reduziert würden. Die Richtlinie stelle darauf ab, dass neue Störfallszenarien entstünden, die über die angestammte Störfallsituation hinausgingen. Darunter könne der vorliegende Fall, in dem sich auf einem Bestandsgrundstück eine angestammte Nutzung nur fortsetze, nicht subsumiert werden. Aber selbst wenn mit dem Begriff der „Ansiedlung neuer Betriebe“ im Sinne der Richtlinie das Vorhaben der Beigeladenen gemeint sei, stelle es sich als zulassungsfähig dar. Nach der Rechtsprechung betreffe eine störfallrechtliche Abstandsproblematik erst einmal die planungsrechtliche Ebene und nicht die Ebene des Zulassungsrechts. So habe das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass es die Richtlinie gestatte, den angemessenen Abstand im Einzelfall zu unterschreiten, wenn hinreichende gewichtige nicht störfallspezifische Belange für die Zulassung stritten. Im Rahmen einer nachvollziehenden Abwägung könne ein eventueller Planungsausfall kompensiert werden. Das „E. -Grundstück“ unterliege seit jeher hochfrequenten innerstädtischen Nutzungen. So werde nicht erstmalig eine Gemengelage geschaffen, sondern eine angestammte Nutzung mit zurückgenommenen Ausnutzungsziffern fortgesetzt. Ausweislich des Einzelhandelskonzepts vom 21.06.2013 handele es sich um einen städtebaulich integrierten Einzelhandelsstandort, der zum zentralen Versorgungsbereich der Stadt F. rechne und gesichert, gestärkt und weiterentwickelt werden müsse. Das Vorhaben löse im Hinblick auf die Auswirkungen eines Störfalls keinen weiteren Schutzbedarf als die bisherige Bebauung aus. Das genehmigte Vorhaben bleibe deutlich hinter der bisher ausgeübten Nutzung zurück. Ausgehend von der im Jahr 1996 erteilten Baugenehmigung seien die Grundflächen- und die Geschossflächenzahl sowie der Bruttorauminhalt des Vorhabens geringer, die Bruttogeschossfläche reduziere sich um mehr als die Hälfte. Das Interesse der Beigeladenen, das von ihr erworbene und überplante Grundeigentum durch Errichtung des Vorhabens sinnvoll zu nutzen, wiege schwer, denn die Beigeladene habe neben einem erheblichen Grundstückspreis und den Kaufnebenkosten bereits weitere Aufwendungen gehabt und einen Generalunternehmervertrag geschlossen.
16
Unter dem 23.03.2020 beantragte die Beigeladene einen Nachtrag zu der ihr erteilten Baugenehmigung in Form von Nebenbestimmungen zur Vorsorge in Bezug auf einen möglichen Störfall. Über diesen Antrag hat die Antragsgegnerin noch nicht entschieden.
17
Mit Schreiben vom 26.03.2020 legte die Antragstellerin Widerspruch gegen die Baugenehmigungen vom 14.12.2016, 08.02.2017, 10.08.2017 und 03.12.2018 ein. Weiterhin beantragte sie die Aussetzung der Vollziehung aller angefochtenen Baugenehmigungen.
18
Unter dem 27.03.2020 legte das Baudezernat der Antragsgegnerin die Widersprüche der Antragstellerin der Widerspruchsstelle vor. In dem Vorlagebericht heißt es, im Kern gehe es um die Frage, ob das Vorhaben der Beigeladenen der Seveso-III-Richtlinie unterfiele und die nach der Richtlinie geltenden Regelungen deshalb hätten Anwendung finden müssen. Die Regelungen seien bei dem Vorhaben „Altenwohn- und Pflegeheim P.“ zur Anwendung gekommen. Weiter heißt es dann wörtlich: „Der vorliegende Fall liegt indes anders. … In sog. Gemengelagen kann sich im Einzelfall im Rahmen einer nachvollziehenden Abwägung auch eine „erstmalige“ bzw. „zusätzliche“ schutzwürdige Nutzung innerhalb des sog. angemessenen Sicherheitsabstands neu etablieren. Dieser Fall liegt hier nicht vor.“ Der vorhandene Gebäudebestand und die vorhandenen Nutzungen würden im Rahmen der Seveso-III-Richtlinie nicht mit betrachtet, sie blieben außen vor. Es gelte Bestandsschutz im seveso-rechtlichen Sinne. Dieser generelle Grundsatz gelte natürlich im Besonderen auch für den „neuen“ SB-Verbrauchermarkt mit Backshop und 91 Stellplätzen. Dieser entstehe weder „erstmalig“ noch „zusätzlich“. Seit Jahrzehnten werde auf dem Grundstück ein SB-Verbrauchermarkt betrieben. Der Beigeladenen könne es nicht zum Nachteil gereichen, dass sie die in die Jahre gekommene Immobilie umfangreich habe sanieren wollen, sich wegen des bewegten Baugrunds dann aber für einen Neubau an gleicher Stelle entschieden habe und sich letztlich auf dem Baugrundstück einen statisch sicheren Bereich habe suchen müssen.
19
Mit Bescheid vom 05.05.2020 wies die Antragsgegnerin die Widersprüche der Antragstellerin zurück. Zur Begründung führte sie aus: Die Widersprüche seien bereits unzulässig. Die drei Nachtragsgenehmigungen vom 08.02.2017, 10.08.2017 und 03.12.2018 enthielten keine erneute volle Genehmigung des Bauvorhabens und beschwerten die Antragstellerin nicht. Sie beträfen nur die Statik oder ließen nur marginale bauliche Veränderungen zu. Die Baugenehmigung vom 14.12.2016 habe gegenüber der Antragstellerin Bestandskraft erlangt. Zwar sei es möglich, dass die Antragstellerin von der Baugenehmigung keine Kenntnis gehabt habe. Bei gehöriger Sorgfalt hätte sie sich aber Kenntnis verschaffen können, da in den Jahren 2016 und 2017 weitreichende Abbrucharbeiten vorgenommen worden seien. Spätestens im Jahr 2017 habe deshalb die einjährige Widerspruchsfrist eingesetzt. Die Abbrucharbeiten könnten der Antragstellerin nicht verborgen geblieben sein, da sich ihr Betrieb vis-á-vis des Vorhabengrundstücks befinde. Außerdem habe es eine ausführliche Presseberichterstattung gegeben, die an der Geschäftsführung der Antragstellerin nicht vorbeigegangen sein könne. Die Baugenehmigung aus dem Jahr 2016 sei auch noch nicht erloschen. Die Beigeladene habe Handwerkerrechnungen aus dem Jahr 2017 vorgelegt, die belegten, dass mit der Ausführung der Baumaßnahme begonnen worden sei. Zwar sei durch die Baugenehmigung vom 06.12.2019 eine veränderte Bauausführung genehmigt worden und sei mit einer Ausführung des Vorhabens gemäß der Baugenehmigung vom 14.12.2016 nicht mehr zu rechnen, die Unterbrechung der Ausführung habe aber keine drei Jahre gedauert. Die Baugenehmigung vom 14.12.2016 könne deshalb nach wie vor realisiert werden. Dem Widerspruch der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung vom 06.12.2019 fehle schließlich das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Eine Aufhebung der Baugenehmigung könne die Rechtsstellung der Antragstellerin nicht verbessern, da die beabsichtigte Einzelhandelsnutzung auf dem „E. -Grundstück“ bereits durch die bestandskräftige Baugenehmigung vom 14.12.2016 zugelassen worden sei. Darüber hinaus werde die Antragstellerin durch die angefochtenen Baugenehmigungen nicht in eigenen Rechten verletzt. Ein Verstoß gegen das insoweit allein in Betracht kommende nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme liege nicht vor. Zwar verlange die Seveso-III-Richtlinie, dass die Risiken der Zulassung öffentlich genutzter Gebäude in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs gewürdigt würden, es fehle vorliegend aber bereits an der durch die Richtlinie vorgegebenen Grundvoraussetzung einer „neuen“ Entwicklung in der Nachbarschaft des Betriebs der Antragstellerin. Der mir den angefochtenen Baugenehmigungen jeweils zugelassene Einzelhandel „SB-Verbrauchermarkt/Backshop/Parken“ sei auf dem Baugrundstück in vergleichbarer Form bereits seit den 1990er Jahren vorhanden. Zusätzlich bleibe das Vorhaben in seiner Dimension hinter der bisher zulässigen Nutzung deutlich zurück. Es vergrößere deshalb nicht das Risiko und verschlimmere nicht die Folgen eines Unfalls. Es könne deshalb im Ergebnis offenbleiben, ob es sich bei dem Bauvorhaben um ein öffentlich genutztes Gebäude im Sinne der Seveso-III-Richtlinie handele.
20
Ebenfalls unter dem 05.05.2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin auf Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigungen ab.
21
Die Antragstellerin hat am 13.05.2020 Klage gegen die Baugenehmigung vom 14.12.2016 einschließlich der Nachtragsgenehmigungen und gegen die Baugenehmigung vom 06.12.2019 erhoben und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.
22
Sie trägt vor, vorsorglich habe sie auch die alten Genehmigungen mitangefochten, da die Antragsgegnerin im Widerspruchsverfahren die Rechtsansicht vertreten habe, dass alle Genehmigungen eine „Einheit“ darstellten. Ihr Widerspruch gegen die Baugenehmigungen sei nicht verspätet bzw. verwirkt. Die früheren Baugenehmigungen seien ihr nicht bekannt gegeben worden. Da auch mit den Bauarbeiten zur Umsetzung des Vorhabens nicht begonnen worden sei, habe sie keine Kenntnis erlangen können. Aus den Abbrucharbeiten habe sie nicht schließen können, dass eine Baugenehmigung zu ihren Lasten erteilt worden sei. Nur über die Abbrucharbeiten sei in der Presse berichtet worden. Sie sei nicht verpflichtet gewesen, Pressemitteilungen als Ersatz für eine ordnungsgemäße Bekanntmachung der Baugenehmigungen zu lesen. Auch aus dem Abbruch des Altbestandes auf dem Gelände des „E. -Grundstücks“ habe sie nicht folgern müssen, dass ein die Störfallrechte tangierendes Vorhaben errichtet werde. Ebenso wenig sei daraus eine Erkundigungspflicht erwachsen. Dies wäre nur dann der Fall gewesen, wenn tatsächlich mit Bauarbeiten begonnen worden wäre. Die Baugenehmigung vom 14.12.2016 sei auch nicht ausgenutzt worden. Die Abbrucharbeiten hätten die Genehmigung nicht ausgenutzt, da sie verfahrensfrei zulässig gewesen seien. Die Baugenehmigung sei nun aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr wirksam. Die Nachtragsgenehmigungen hätten die Geltungsdauer der Genehmigung nicht verlängert. Selbst wenn dies aber der Fall gewesen wäre, stellte der im Jahr 2019 gestellte Bauantrag einen Verzicht auf das im Jahr 2016 genehmigte und wegen Einsturzgefahr nicht zu realisierende Vorhaben dar.
23
Gegen die Baugenehmigung vom 06.12.2019 könne sie sich wenden, da diese entgegen der Ansicht der Beigeladenen mit der Baugenehmigung aus dem Jahr 2016 keine Einheit darstelle. Die Vorhaben seien nicht identisch. Schon die Bezeichnungen der Vorhaben in den Bauanträgen zeigten, dass es sich um unterschiedliche Vorhaben handele. Auch entspreche die im Jahr 2019 genehmigte bauliche Anlage weder im Standort noch im Bauvolumen der Anlage dem ursprünglichen Vorhaben. Auch werde durch die Drehung des Baukörpers die Genehmigungsfrage vollständig neu aufgeworfen. Dass ein inhaltlich „anderes“ Bauvorhaben genehmigt worden sei, lasse sich ohne weiteres auch an der veränderten Anzahl der Stellplätze ablesen. Sie habe ihr Widerspruchsrecht auch nicht verwirkt. Sie habe nie ihr Einverständnis mit dem Vorhaben erklärt. Auch ein Verzicht auf Rechtsmittel sei von ihren Geschäftsführern zu keiner Zeit und schon gar nicht in einem Gespräch im Dezember 2019 erklärt worden. Zu diesem Gespräch sei ihnen die Genehmigung vom 06.12.2019 noch gar nicht bekannt gegeben gewesen.
24
Die angefochtenen Genehmigungen seien rechtswidrig, denn sie verletzten das Rücksichtnahmegebot. Das Vorhaben der Beigeladenen unterfalle als schutzwürdiges Objekt dem Anwendungsbereich des Art. 13 der Seveso-III-Richtlinie. Wenn die Antragsgegnerin meine, es löse keine „neue Entwicklung“ im Sinne der Richtlinie aus, verkenne sie, dass der Europäische Gerichtshof ausdrücklich die Erteilung von Baugenehmigungen als vom Anwendungsbereich der Richtlinie umfasst angesehen habe. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots liege nicht erst dann vor, wenn das Vorhaben der Beigeladenen für ihren Betrieb, dem der Antragstellerin, Einschränkungen in Form nachträglicher Anordnungen zur Folge haben würde. Das störfallrechtliche Abstandserfordernis diene auch dem Recht des Störfallsbetriebs auf Erhaltung des Betriebs und dem Interesse auf betriebliche Entwicklung und Erweiterung. Für ein Vorhaben auf dem „E. -Grundstück“ gebe es keinen Bestandsschutz. Es gebe keinen Altbestand mehr, der zu einer Erleichterung bei der Zulassung eines neuen Vorhabens führen könne. Vielmehr gehe es allein um die Frage, ob das zuzulassende Vorhaben einen angemessenen Abstand im Sinne der Seveso-III-Richtlinie einhalte. Das sei nicht der Fall, das Vorhaben werde nur etwa 150 m von ihrem Betrieb entfernt sein. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin hätte es einer nachvollziehenden Abwägung bedurft. Insbesondere stelle der Vorlagebericht keine solche Abwägung dar. Ohne diese Abwägung erweise sich die Baugenehmigung als rechtswidrig. Es müsse aber davon ausgegangen werden, dass der geplante Verbrauchermarkt auch mit einer nachvollziehenden Abwägung nicht rechtmäßig genehmigt werden könne. Es seien keine sozioökonomischen Belange für die Genehmigung des Vorhabens ersichtlich. Ein Einzelhandelskonzept begründe keine sozioökonomischen Belange. Das Konzept sei auch unzureichend, weil die Grundannahmen für die Planung unzureichend gewesen seien. Es finde sich an keiner Stelle ein Hinweis auf ihren Störfallbetrieb. Die Genehmigungspraxis der Antragsgegnerin löse darüber hinaus einen qualifizierten, weil gesteigerten Planungsbedarf aus. Die Antragsgegnerin wolle aber offenbar die widerstreitenden Belange ausschließlich im jeweiligen Genehmigungsverfahren abarbeiten. Eine nachvollziehende Abwägung sei aber nicht geeignet, den städtebaulichen Konflikt endgültig zu bewältigen. Nach der Rechtsprechung wäre es Aufgabe der Beigeladenen gewesen, im Einzelnen darzulegen und zu belegen, welche sozioökonomischen Gesichtspunkte eine Zulassung ihres Vorhabens gebieten würden. Da das Vorhaben noch nicht realisiert sei, könne von keinem durch Art. 12 und 14 GG geschützten Bestand des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs ausgegangen werden, die Beigeladene könne lediglich eine Erwerbsaussicht für sich reklamieren, die aber rechtlich nicht geschützt sei. Auch sei nicht ersichtlich, weshalb für das Vorhaben nicht ein alternatives Grundstück außerhalb des Sicherheitsabstands zur Verfügung stehe und ob die Beigeladene sich überhaupt ausreichend um alternative Grundstücke bemüht habe. Selbst wenn sozioökonomische Argumente für das Vorhaben sprächen, würden diese keineswegs die störfallrechtlichen Belange überwiegen. Es gebe keine Belange, die die Gefahren für Leib und Leben, die sich gerade wegen der besonders dichten Lage des Vorhabens zu ihrem Störfallbetrieb ergäben, überwiegen könnten. Die Annahme der Antragsgegnerin, das Vorhaben stelle eine „Verbesserung“ gegenüber dem ursprünglich genehmigten Vorhaben dar, sei falsch, da es keine „Bestandssituation“ gebe. Hinzu komme, dass der Gedanke der „Verbesserung“ nicht durchgreife. Dem Ziel der Seveso-III-Richtlinie, den Sicherheitsabstand von störfallsensibler Nutzung frei zu halten, würde es eklatant widersprechen, eine bestehende Nutzung zu reduzieren, da mit der Reduzierung der Nutzung zugleich auch eine Perpetuierung des nicht gewollten störfallspezifischen Risikos verbunden sei. Ohne eine Reduzierung sei damit zu rechnen, dass das Vorhaben insgesamt aufgegeben und damit dem Ziel der Richtlinie entsprochen werde. Bei einem Störfall sei das Risiko einer Gefährdung von Menschen ausgesprochen hoch. Dies gelte nicht zuletzt deshalb, weil eine rechtzeitige Alarmierung der auf dem Kundenparkplatz befindlichen Kunden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen wäre.
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Die Antragstellerin beantragt,
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die aufschiebende Wirkung ihrer Klage anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Sie trägt nun vor, die von der Antragstellerin angefochtenen Baugenehmigungen stellten keine Einheit dar, die Baugenehmigung vom 06.12.2019 sei im Vergleich zur Baugenehmigung vom 14.12.2016 ein „aliud“. Es sei aber durch die Erteilung der Baugenehmigung vom 06.12.2019 keine Erledigung der Baugenehmigung aus dem Jahr 2016 eingetreten. Die Beigeladene halte mit den Genehmigungen vom 14.12.2016 und 06.12.2019 Genehmigungen für zwei Bauvorhaben in Händen, die sie berechtigten, nach eigener Wahl das eine oder das andere Vorhaben umzusetzen. Sie habe weder ausdrücklich erklärt, auf die Genehmigung vom 14.12.2016 zu verzichten, noch komme dem Umstand, dass sie einen weiteren Bauantrag gestellt habe, ein solcher Erklärungswert zu. Die Baugenehmigung vom 14.12.2016 habe gegenüber der Antragstellerin Bestandskraft erlangt. Die materiell-rechtliche Argumentation müsse am Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 der Seveso-III-Richtlinie ansetzen, nämlich an den Begriffen „neue Entwicklung“, „Vergrößerung des Risikos“ oder „Verschlimmerung der Folgen“. Zweifelhaft sei allerdings schon, ob das Vorhaben der Beigeladenen als öffentlich genutztes Gebäude im Sinne der Richtlinie anzusehen sei. Weiterhin sei das „E. -Grundstück“ Teil des im Einzelhandelskonzept ausgewiesenen zentralen Versorgungsbereichs Innenstadt, der die Fußgängerzone der Stadt F. mitumfasse und nahezu vollständig im Sicherheitsabstand zum Betriebsbereich der Antragstellerin liege. Das Areal sei ein historisch gewachsener Einzelhandelsstandort, auf dem bereits seit den 1960er-Jahren großflächiger Einzelhandel stattgefunden habe. Das Bauvorhaben der Beigeladenen könne demzufolge unabhängig davon, welche Baugenehmigung umgesetzt werde, keine „neue Entwicklung“ auslösen, mit der die Vergrößerung eines Störfallrisikos oder eine Verschlimmerung der Folgen eines Störfalls verbunden wären.
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Die Beigeladene beantragt,
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den Antrag abzulehnen,
32
und trägt Folgendes vor: Der Aussetzungsantrag sei bereits unzulässig, da es am Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin mangele. Die Antragstellerin wende sich gegen Baugenehmigungen, die ihr gegenüber längst in Bestandskraft erwachsen seien bzw. hinsichtlich derer sie ihr Widerspruchsrecht verwirkt habe. Klage und Antrag der Antragstellerin seien verspätet, soweit diese sich gegen die Baugenehmigung vom 14.12.2016 wende, da die Widerspruchsfrist für diese Genehmigung abgelaufen sei. Der Antragstellerin sei das Bauvorhaben seit Jahr und Tag bekannt, da ihr Betriebsgelände von der Örtlichkeit nur durch eine Straße getrennt sei. Das Vorhaben und die Erteilung der Baugenehmigung Ende 2016 seien im Übrigen wiederholt Gegenstand umfangreicher Presseartikel gewesen. Die Jahresfrist sei nicht erst angelaufen, als mit den Bauarbeiten begonnen worden sei, sondern bereits als die Antragstellerin vernünftigerweise davon habe ausgehen müssen, dass eine sie potentiell betreffende Baugenehmigung erteilt worden sei. Es könne deshalb nur noch darauf ankommen, ob und inwieweit die Änderungsbaugenehmigung vom 06.12.2019 erstmals subjektive, spezifisch durch das öffentliche Baurecht gewährleistete Rechte der Antragstellerin verletze. Die Antragstellerin habe ihr Widerspruchsrecht gegen die Baugenehmigung vom 06.12.2019 allerdings verwirkt. Sie habe wiederholt erklärt, die Genehmigung hinnehmen zu wollen. Ausdrücklich hätten dies die Geschäftsführer der Antragstellerin am 11.12.2019 so erklärt. An diesem Tage habe eine Besprechung mit Vertretern der Antragsgegnerin stattgefunden, deren Anlass die Baugenehmigung gewesen sei. Über das Gespräch habe ein Bediensteter der Antragsgegnerin einen Vermerk gefertigt, der Inhalt der Bauakte geworden sein müsste. Selbst wenn das Gericht in rückwärtiger Prüfung sämtlicher Fassungen der Genehmigung dazu käme, eine der letzten Fassungen für nicht vollziehbar zu erachten, würde die Ausgangsgenehmigung vom 14.12.2016 fortgelten und würde die laufenden Bauarbeiten auf dem Baugrundstück abdecken. Durch die Erteilung der Nachtragsbaugenehmigungen und allemal durch die Erteilung der Änderungsbaugenehmigung vom 06.12.2019 sei die 3-Jahres-Frist des § 71 Satz 1 NBauO niemals abgelaufen. Auch sei ausweislich der in den Bauakten befindlichen Anzeige des Baubeginns vom 09.03.2017 mit den Bauarbeiten im Jahr 2017 begonnen worden. Notfalls wäre sie, die Beigeladene, bereit, das Bauvorhaben entsprechend der Genehmigung in der Fassung des Nachtrags vom 03.12.2018 weiter und zu Ende zu führen. Materiell lasse ihr Bauvorhaben auch nicht die gebotene Rücksicht auf den Betrieb der Antragstellerin vermissen. Dies ergebe sich insbesondere aus dem Vermerk ihres Prozessbevollmächtigten vom 20.02.2020. Das gegenüber der Baugenehmigung vom 14.12.2016 nur modifizierte Einzelhandelsvorhaben genieße störfallrechtlich Bestandsschutz. Im Kern bestehe die Umplanung aus einer Verschiebung des Baukörpers, die erforderlich geworden sei, weil sich der ursprünglich genehmigte Baukörper mit wesentlichen Teilen über einer „Erdfallstelle“ befunden hätte und sich daraus Einsturzgefahren ergeben hätten. Nur deshalb habe man den Baukörper aus dem erdfallgefährdeten Teil des Baugrundstücks „herausgedreht“ und dort die unproblematischen Parkplätze geplant. In dem Vorlagebericht des Baudezernats vom 27.03.2020 sei eine umfassende „nachvollziehende Abwägung“ erfolgt. Die vom Bundesverwaltungsgericht so genannten „Leistungsgrenzen des Rücksichtnahmegebots“ seien nicht überschritten, gehe es doch allein um die Revitalisierung eines seit eh und je auf erhebliche Besucher- und Kundenfrequenzen ausgelegten Standorts. Es gebe für sie, die Beigeladene, und ihren Hauptmieter, die Firmengruppe Q., kein Alternativgrundstück. Außerhalb des Radius von 800 m um den Betrieb der Antragstellerin hätten sie sich in Widerspruch zu dem Einzelhandelskonzept der Stadt F. gesetzt. Jeder Standort außerhalb des Radius scheide nach dem Konzept für den großflächigen Lebensmitteleinzelhandel aus. Nach Abschluss umfangreicher Recherchen sei nur der heutige Standort übriggeblieben. Nach der Arbeitshilfe der Fachkommission Städtebau der Bauministerkonferenz vom 18.04.2018 („Berücksichtigung des neuen nationalen Störfallrechts zur Umsetzung des Art. 13 Seveso-III-Richtlinie im baurechtlichen Genehmigungsverfahren in der Umgebung von Störfallbetrieben“) sei eine Unterschreitung des angemessenen Sicherheitsabstands dann nicht hinnehmbar, wenn eine neu hinzukommende schutzwürdige Nutzung dazu führe, dass es innerhalb eines Betriebsbereichs zusätzlicher Schutzvorkehrungen und sonstiger Maßnahmen bedürfe, weil das neu hinzukommende Vorhaben einen weitergehenden Schutzbedarf als die bisherige Bebauung auslöse. Dafür sei aber in dem Fall ihres Vorhabens nichts ersichtlich. Auch die Antragstellerin habe dazu nichts vorgetragen. Mit Hilfe von Google Earth ließe sich im Übrigen ermitteln, dass der Abstand des Entladepunkts der Schwefeldioxids zu dem Q. -Markt nicht wie von der Antragstellerin vorgetragen 150 m, sondern rund 300 m betrage. Auch sei es nach der Arbeitshilfe zu berücksichtigen, wenn sich durch den Ersatz oder die Änderung eines bestehenden Vorhabens das Gefahrenrisiko verringere. Genau dies sei der Fall, da die Anzahl der potentiell öffentlichkeitswirksamen Nutzungen zurückgenommen werde. In der Vergangenheit seien durchschnittlich 7 Mieter auf dem Grundstück ansässig gewesen, zukünftig werde es nur noch einen Mieter geben. Die öffentlichkeitswirksam genutzte Mietfläche solle mehr als halbiert werden. Die durchschnittliche Mitarbeiterzahl von 92 Vollzeitarbeitskräften werde sich auf 24 reduzieren, die in einem 2-Schicht-Betrieb arbeiten werde. Außerdem werde nicht erwartet, dass mehr als 100 Kunden durchschnittlich gleichzeitig in dem Q. -Markt einkauften. Auch sei der Neubau aufgrund verbesserter Baustoffe entschieden sicherer in der Abwehr von Störfällen als das Ausgangsbauvorhaben. Mit dem Ansatz der Antragstellerin würde im Abstand von 800 m um deren Firmengrundstück jedwede Bestandsnutzung störfallrechtlich einem strikten Veränderungsverbot unterworfen. Jeder Grundstückseigentümer müsste es entweder auf unabsehbare Dauer bei der ausgeübten Nutzung belassen oder aber eine neue Nutzung aufnehmen, die dem Störfallrecht nicht unterfiele. Dies wäre dann aber der „Todesstoß“ für die R. Innenstadt, das wirtschaftliche Aus für die die Kernstadt prägenden Einzelhandelsnutzungen.
33
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen. Sämtlicher Akteninhalt war Gegenstand der Beratung.
II.
34
Der Antrag der Antragstellerin nach § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO hat teilweise Erfolg.
35
Soweit sich die Antragstellerin mit ihrer Klage gegen die Baugenehmigung vom 14.12.2016 wendet, ist ihr Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz allerdings unstatthaft, denn die Baugenehmigung ist ihr gegenüber bestandskräftig geworden. Ein vorläufiger Rechtsschutzantrag ist nur statthaft, solange der in der Hauptsache angefochtene Verwaltungsakt gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden noch keine Bestandskraft erlangt hat (W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 70 Rdnr. 17).
36
Zwar ist die Baugenehmigung vom 14.12.2016 gegenüber der Antragstellerin nicht bereits durch den Ablauf einer Monatsfrist nach Bekanntgabe gemäß § 70 VwGO bestandskräftig geworden, da die Genehmigung der Antragstellerin nicht bekanntgegeben worden ist. Jedoch führt der Grundsatz von Treu und Glauben in Verbindung mit den Regelungen der § 70 Abs. 2 und § 58 Abs. 2 VwGO über die Jahresfrist zur Bestandskraft der Genehmigung.
37
Nach Rechtsprechung und Kommentarliteratur muss sich ein Nachbar, der sichere Kenntnis von der Erteilung einer Baugenehmigung erhalten hat oder diese Kenntnis hätte haben müssen, so behandeln lassen, als sei ihm die Baugenehmigung im Zeitpunkt der zuverlässigen Kenntniserlangung oder in dem Zeitpunkt, in dem er diese Kenntnis hätte erlangen müssen, amtlich bekanntgegeben worden. Von diesem Zeitpunkt an richtet sich die Widerspruchsfrist regelmäßig nach den Vorschriften der § 70 und § 58 Abs. 2 VwGO. Dies folgt aus dem zwischen Nachbarn bestehenden besonderen Gemeinschaftsverhältnis, das durch eine von Treu und Glauben geprägte Verbundenheit gekennzeichnet ist. Das Gemeinschaftsverhältnis verpflichtet den Nachbarn, durch zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen möglichen Schaden des Bauherrn zu vermeiden oder den Vermögensverlust möglichst gering zu halten. Der Nachbar muss dieser Verpflichtung dadurch nachkommen, dass er nach Erkennen einer Beeinträchtigung durch Baumaßnahmen ungesäumt seine nachbarlichen Einwendungen geltend macht, wenn ihm nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegengehalten werden soll, weil er ohne zureichenden Grund mit seinen Einwendungen länger als notwendig zugewartet hat (BVerwG, Beschl. vom 11.09.2018 - 4 B 34.18 -, juris Rdnr. 11; VG Hamburg, Beschl. vom 04.09.2015 - 9 E 3623/15 -, juris Rdnr. 19; Burzynska/Fontana in Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 68 Rdnr. 188; Dolde/Porsch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 70 Rdnr. 21).
38
Entscheidend für den Verlust des Widerspruchsrechts nach dem Grundsatz von Treu und Glauben sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalles, wobei es auf die Gegebenheiten auf beiden Seiten dieses Verhältnisses ankommt (VG Hamburg, Beschl. vom 04.09.2015 - 9 E 3623/15 -, juris Rdnr. 19 mit Hinweis auf BVerwG, Beschl. vom 28.08.1987 - 4 N 3/86 -, juris Rdnr. 17). So ist für den Beginn der Jahresfrist nicht lediglich auf die Kenntnis bzw. die Möglichkeit der Kenntnisnahme von der Erteilung einer Baugenehmigung, sondern auf für den Nachbarn erkennbare hierdurch ausgelöste Risiken und Beeinträchtigungen abzustellen. Dies folgt aus der Herleitung der Verpflichtung des Nachbarn aus dem vom Grundsatz von Treu und Glauben geprägten nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis (vgl. VGH Baden-Württ., Urt. vom 14.05.2012 - 10 S 2693/09 -, juris Rdnr. 36 ff.; VG Hamburg, Beschl. vom 04.09.2015 - 9 E 3623/15 -, juris Rdnr. 20; Burzynska/Fontana in Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 68 Rdnr. 189; Dolde/Porsch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 70 Rdnr. 21). Auch dafür ist jedoch nicht erforderlich, dass der Nachbar die Beeinträchtigung seiner Rechte durch ein Vorhaben tatsächlich erkannt hat; es genügt ebenfalls die Erkennbarkeit. Davon ist immer auszugehen, wenn sich das Vorliegen einer Genehmigung einschließlich der subjektiven Beeinträchtigung aufdrängt. Es genügt aber auch bereits, wenn es dem Nachbarn möglich und zumutbar war, sich über diese Umstände Gewissheit zu verschaffen, etwa durch eine Anfrage beim Bauherrn oder der Behörde. Eine Ermittlungspflicht des Nachbarn hinsichtlich des Vorliegens einer Baugenehmigung, deren Inhalts und möglicher Beeinträchtigungen besteht beispielsweise, wenn ein deutlich wahrnehmbares Baugeschehen vorliegt (vgl. VGH Baden-Württ., Urt. vom 14.05.2012, - 10 S 2693/09 -, juris Rdnr. 40; VG Hamburg, Beschl. vom 04.09.2015 - 9 E 3623/15 -, juris Rdnr. 20).
39
Dahinstehen kann, ob es auf dem „E. -Grundstück“ in den vergangenen drei Jahren bereits ein wahrnehmbares (Neu-)Baugeschehen gegeben hat und ob es sich für die Antragstellerin hätte bereits zum Zeitpunkt der Abbrucharbeiten aufdrängen müssen, dass für das Baugrundstück eine neue Baugenehmigung erteilt worden war. Zumindest aber ergab sich durch die Abbrucharbeiten eine Pflicht der Verantwortlichen der Antragstellerin, sich über das Vorliegen einer Baugenehmigung zu erkundigen. Wenn die Antragstellerin auch zu Recht darauf hinweist, dass die Abbrucharbeiten nicht Gegenstand der Baugenehmigung waren, sondern verfahrensfrei durchgeführt werden konnten, so hat sie doch nicht bestritten, die Abbrucharbeiten bemerkt zu haben. Vielmehr hat sie in ihrem Widerspruchsschreiben lediglich ausgeführt, dass sie aus dem Abbruch des Altbestandes nicht habe folgern müssen, dass ein die Störfallrechte tangierendes Vorhaben errichtet werde. Dies sieht das Gericht aufgrund der Umstände dieses Einzelfalls anders. Der Abbruch des Lebensmittelmarktes – und des zugehörigen zweigeschossigen Parkdecks – war ein deutliches Zeichen dafür, dass für das Grundstück eine neue Bebauung geplant war und hätte Anlass für die Antragstellerin sein müssen, nachzufragen, ob eine Baugenehmigung bereits erteilt worden ist. Die Antragstellerin hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass eine Baulücke von dieser erheblichen Größe – die Addition der einzelnen Flurstücke des Baugrundstücks nach den Angaben in den Bauvorlagen ergibt ein Grundstück von insgesamt 6.335 qm – im Innenstadtbereich von F. zwischen Fußgängerzone und Bahnhof – und beidseitig fußläufig zu erreichen – längerfristig unbebaut bleiben würde. Insoweit mögen die Umstände, die zu der Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts geführt haben, Abrissarbeiten nicht als ausreichend für die Pflicht des Nachbarn zu Nachfragen anzusehen (Beschl. vom 20.12.2004 - 1 EO 1077/04 -, juris Rdnr. 29), andere als vorliegend gewesen sein. Zugleich hätte sich der Antragstellerin auch aufdrängen müssen, dass mit einer neuen Bebauung auf dem „E. -Grundstück“ ihre subjektiven Rechte tangiert würden. Dies hätte sich für sie allein schon aufgrund der sehr geringen räumlichen Nähe des Baugrundstücks zum Betriebsgelände – auf der gegenüberliegenden Seite der J. – und insbesondere zur Rohrleitung für das Schwefeldioxid ergeben müssen.
40
Allerdings lässt sich den Vorgängen der Antragsgegnerin keine konkrete Zeitspanne entnehmen, in der die Abbrucharbeiten stattfanden. Selbst bei einer Betrachtung zugunsten der Antragstellerin war die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO jedoch spätestens Mitte Juli 2018 abgelaufen und der Widerspruch der Antragstellerin mit Schreiben vom 26.03.2020 verspätet. Denn der Abbruch des Lebensmittelmarktes und der Parkdecks, der der Bauaufsicht von der Voreigentümerin des „E. -Grundstücks“ bereits am 28.04.2016 angezeigt worden war, war nach einem in den Vorgängen der Antragsgegnerin vorhandenen Artikel der O. Allgemeinen Zeitung vom 12.07.2017 zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen.
41
Der Antrag der Antragstellerin ist auch insoweit unzulässig, als sich die Antragstellerin gegen die Baugenehmigungen vom 08.02.2017, 10.08.2017 und 03.12.2018 wendet. Hinsichtlich der genannten Genehmigungen fehlt der Antragstellerin offensichtlich die notwendige Antragsbefugnis.
42
Bei den Genehmigungen handelte es sich um Nachtragsbaugenehmigungen, die lediglich geringfügige Änderungen der Baugenehmigung vom 14.12.2016 enthielten, ohne das Vorhaben in seiner Gestalt zu verändern. So genehmigte die Antragsgegnerin der Voreigentümerin des Baugrundstücks mit der Genehmigung vom 08.02.2017 lediglich eine geänderte Ausführung eines raumhohen Wandelements und den Verzicht auf eine Tür zwischen zwei Abteilungen des Lebensmittelmarktes. Mit den Genehmigungen vom 10.08.2017 und 03.12.2018 genehmigte sie darüber hinaus zwei statische Nachträge, mit denen sie Unterlagen zur Statik und insbesondere zwei weitere statische Prüfberichte zu Bestandteilen der Baugenehmigung vom 14.12.2016 machte.
43
Beschränkt sich der Regelungsgehalt einer Nachtragsbaugenehmigung aber auf einzelne Ergänzungen der ersten Genehmigung und kann diese deshalb – so wie hier – nur in Verbindung mit der ersten Genehmigung ausgenutzt werden, so kann ein Nachbar nur die Änderungen angreifen und auch nur dann, wenn diese ihn in seinen subjektiven Rechten verletzen können (vgl. Burzynska/Fontana in Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 68 Rdnr. 191).
44
Danach kann sich die Antragstellerin gegen die Nachtragsgenehmigungen vom 08.02.2017, 10.08.2017 und 03.12.2018 nicht wenden, denn es ist ausgeschlossen, dass eine Genehmigung von Wandelementen oder Türen oder aber statischen Nachträgen subjektive Rechte der Antragstellerin verletzt. Weder die Innenausstattung des Verbrauchermarktes noch die gesamte Statik des Bauvorhabens berühren Rechte der Antragstellerin.
45
Die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob die Baugenehmigung vom 14.12.2016 – in der Fassung der Nachtragsgenehmigungen – inzwischen gemäß § 71 NBauO oder durch Verzicht erloschen ist, stellt sich aufgrund der Unzulässigkeit des vorläufigen Rechtsschutzantrags in Bezug auf diese Genehmigungen nicht.
46
Soweit sich die Antragstellerin mit ihrer Klage gegen die Baugenehmigung vom 06.12.2019 wendet, ist ihr Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz allerdings statthaft und auch im Übrigen zulässig.
47
Bei der Baugenehmigung vom 06.12.2019 handelt es sich nicht um eine Nachtragsgenehmigung zu der Baugenehmigung vom 14.12.2016, sondern um eine Genehmigung für ein anderes Bauvorhaben, die von der Antragstellerin selbständig angefochten werden kann.
48
Die Frage, ob eine Baugenehmigung einen Nachtrag zu einer bereits zuvor erteilten Baugenehmigung darstellt, hängt vom Regelungsgehalt der späteren Genehmigung ab. Statt eines Nachtrags liegt eine Änderungsgenehmigung vor, wenn es sich um eine neue (Voll-) Genehmigung des Vorhabens in veränderter Gestalt, ein „aliud“, handelt. Ein „aliud“ ist anzunehmen, wenn sich das neue Vorhaben in Bezug auf baurechtlich relevante Kriterien von dem ursprünglich genehmigten Vorhaben unterscheidet. Dies gilt unabhängig davon, ob die baurechtliche Zulässigkeit des abgewandelten Bauobjekts als solche im Ergebnis anders zu beurteilen ist. Ein baurechtlich relevanter Unterschied zwischen dem ursprünglich genehmigten und dem abgewandelten Bauvorhaben ist immer dann anzunehmen, wenn sich für das abgewandelte Bauvorhaben die Frage der Genehmigungsfähigkeit wegen geänderter tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen neu stellt, d.h. diese geänderten Voraussetzungen eine erneute Überprüfung der materiellen Zulässigkeitskriterien erfordern (Nds. OVG, Beschl. vom 02.03.2015 - 1 LA 151/14 -, juris Rdnr. 11 und Beschl. vom 16.06.2014 - 1 ME 70/14 -, juris Rdnr. 11; OVG NRW, Beschl. vom 13.12.2012 - 2 B 1250/12 -, juris Rdnr. 15). Schon eine Standortänderung allein führt regelmäßig zu der Annahme eines „aliud“ (vgl. VG Frankfurt (Oder), Urt. vom 10.09.2014 - 5 K 577/11 -, juris Rdnr. 33; VG Gelsenkirchen, Beschl. vom 08.03.2012 - 6 L 1267/11 -, juris Rdnr. 9).
49
So stellte sich auch für das von der Beigeladenen unter dem 26.06.2019 beantragte Bauvorhaben die Frage der Genehmigungsfähigkeit unter anderem deshalb neu, weil im Vergleich zu dem am 14.12.2016 genehmigten Vorhaben der N. der Baukörper auf dem Baugrundstück nach Osten verschoben und gedreht worden war. Mit der Verschiebung des Baukörpers ging außerdem eine Verlegung der Stellplätze und mit der Drehung auch ein neuer Standort der LKW-Anlieferung auf dem Grundstück einher. Infolge dieser Veränderungen waren insbesondere Fragen des notwendigen Abstands des Baukörpers zu den Nachbargrundstücken sowie der Lärmimmissionen der Anlieferung und der Kundenparkplätze neu zu prüfen. Dies hatte offenbar auch die Beigeladene zunächst selbst angenommen, die ihrem Bauantrag unter anderem ein neues schalltechnisches Gutachten und ein Gutachten über die „Verkehrserschließung zur Reaktivierung des Einzelhandels in F. –J.“ beigefügt hatte.
50
Die Antragstellerin hat auf ihr Widerspruchsrecht auch nicht wirksam verzichtet. Zu Recht weist sie darauf hin, dass eine Verzichtserklärung in der Form dem Widerspruch hätte entsprechen, also gemäß § 70 VwGO schriftlich oder zur Niederschrift bei der Behörde hätte erklärt werden müssen (vgl. Dolde/Porsch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 69 Rdnr. 7). Eine solche schriftliche Erklärung der Antragstellerin findet sich in den Vorgängen der Antragsgegnerin allerdings nicht.
51
Entgegen der Ansicht der Beigeladenen hat die Antragstellerin ihr Widerspruchsrecht in Bezug auf die Baugenehmigung vom 06.12.2019 auch nicht verwirkt. Die Beigeladene trägt dazu zwar vor, dass die Antragstellerin wiederholt erklärt habe, die Baugenehmigung vom 06.12.2019 hinnehmen zu wollen. Ausdrücklich hätten dies die Geschäftsführer der Antragstellerin am 11.12.2019 bei einer Besprechung mit Vertretern der Antragsgegnerin erklärt, deren Anlass die Baugenehmigung gewesen sei. Eine Verwirkung ist vorliegend jedoch ausgeschlossen, da die Antragstellerin innerhalb eines Monats nach der Zustellung der Baugenehmigung vom 06.12.2019 an sie Widerspruch eingelegt hat. Zwar können auch nachbarliche Widerspruchsrechte grundsätzlich verwirken (Burzynska/Fontana in Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 68 Rdnr. 60). Allerdings kann eine Verwirkung noch nicht innerhalb der Widerspruchsfrist von einem Monat eintreten, da dieser Zeitraum dem Nachbarn verfahrensrechtlich als Überlegungs- und Handlungsfrist eingeräumt ist (Burzynska/Fontana in Große-Suchsdorf, NBauO, 10. Aufl. 2020, § 68 Rdnr. 60).
52
Auch fehlt der Antragstellerin nicht das Rechtsschutzbedürfnis für ihren Antrag.
53
Der Auffassung der Antragsgegnerin, eine Aufhebung der Baugenehmigung vom 06.12.2019 könne die Rechtsstellung der Antragstellerin nicht verbessern, da die beabsichtigte Einzelhandelsnutzung auf dem „E. -Grundstück“ bereits durch die bestandskräftige Baugenehmigung vom 14.12.2016 zugelassen worden sei, kann nicht gefolgt werden.
54
Mit der Baugenehmigung vom 14.12.2016 ist zwar eine Nutzung als Verbrauchermarkt genehmigt worden, jedoch ausschließlich in Bezug auf die zugleich genehmigten baulichen Anlagen. Einhellige Ansicht ist, dass eine Baugenehmigung für ein Vorhaben in aller Regel auch die beabsichtigte Nutzung der baulichen Anlage umfasst (vgl. nur Burzynska/Mann in Große-Suchsdorf, NBauO 10. Aufl. 2020, § 70 Rdnr. 9f.). Weder lässt sich deshalb eine bauliche Anlage zulässigerweise anders als genehmigt nutzen, noch ist mit einer Baugenehmigung für eine andere als die genehmigte bauliche Anlage auf dem Baugrundstück bereits eine Nutzung genehmigt. Die Wirkung, die die Antragsgegnerin der Baugenehmigung vom 14.12.2016 zusprechen will, hätte sich lediglich mit einem Bauvorbescheid zu der Frage, ob eine Nutzung durch einen Verbrauchermarkt in einer bestimmten Größe planungsrechtlich auf dem Grundstück zulässig ist, erreichen lassen können. Ein solcher Bauvorbescheid ist im Jahr 2016 jedoch weder beantragt noch erteilt worden.
55
Soweit die Beigeladene ein Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin mit der Begründung verneinen will, dass diese einen Einzelhandelsbetrieb auf dem Vorhabengrundstück aufgrund der bestandskräftigen Baugenehmigung aus dem Jahr 2016 nicht werde verhindern können, ist dem entgegen zu halten, dass sich die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Betriebs der Antragstellerin nicht allein aus der Art der Nutzung auf dem Grundstück der Beigeladenen ergeben kann. Es ist der Antragstellerin bei jedem Bauvorhaben auf dem Vorhabengrundstück erneut die Möglichkeit eröffnet, mit möglicherweise auch unterschiedlichen Argumenten die Verträglichkeit mit ihrem Störfallbetrieb gerichtlich überprüfen zu lassen.
56
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ist, soweit sich die Antragstellerin gegen die Baugenehmigung vom 06.12.2019 wendet, auch begründet.
57
In Verfahren nach § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO ist "ausgewogener" Rechtsschutz zu gewähren. Nicht nur auf Seiten des Nachbarn drohen vollendete, weil unumkehrbare Tatsachen einzutreten, wenn das Vorhaben verwirklicht wird. Auch auf Seiten des Bauherrn können solche nicht oder nur schwer wieder gutzumachenden Folgen eintreten. Diese bestehen im Falle einer Antragsstattgabe in jedem Fall darin, die durch den Aufschub verlorene Zeit nicht nachholen und damit die in dieser Zeit erzielbaren Gewinne nicht mehr realisieren zu können. Da der Antragsteller von den Folgen des § 945 ZPO im verwaltungsgerichtlichen Nachbarstreit verschont bleibt, kommt in Verfahren des vorläufigen Nachbarrechtsschutzes den Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs ausschlaggebende Bedeutung zu. Der Sachverhalt ist dabei in aller Regel nur summarisch zu überprüfen. Das Ergebnis dieser Prüfung gibt dem Vollzugsinteresse des Bauherrn nicht erst dann Vorrang, wenn die Baugenehmigung danach mehr oder minder zweifelsfrei Nachbarrechte dieses Antragstellers nicht verletzt. Ein derartiger Rechtsschutz wäre nicht ausgewogen, weil er das Risiko, die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung bei nur summarischer Prüfung nicht vollständig und zweifelsfrei ermitteln zu können, einseitig dem Bauherrn auferlegte, obwohl dessen Bauabsicht nach der gesetzlichen Wertung (§ 212a BauGB) grundsätzlich Vorrang genießen soll. Eine Stattgabe des vorläufigen Rechtsschutzantrags kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn Überwiegendes für die Annahme spricht, der Rechtsbehelf des Nachbarn in der Hauptsache sei jedenfalls derzeit begründet (Nds. OVG, Beschl. vom 14.06.2017 - 1 ME 64/17 -, juris Rdnr. 13).
58
Eine danach vorgenommene Prüfung der Erfolgsaussichten ergibt, dass die Klage der Antragstellerin gegen die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung vom 06.12.2019 voraussichtlich Erfolg haben wird.
59
Das genehmigte Vorhaben erweist sich als planungsrechtlich unzulässig, denn es verstößt gegen das sich aus § 34 BauGB ergebende planungsrechtliche, nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme.
60
Welche Anforderungen sich aus dem Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen ergeben, hängt maßgeblich davon ab, was dem Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 32; Hess. VGH, Urt. vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 23; BayVGH, Beschl. vom 24.04.2014 - 15 ZB 13.1167 -, juris Rdnr. 13). Zur Rücksichtnahme ist nicht nur derjenige verpflichtet, der Störungen verursacht, sondern auch derjenige, der ein schutzbedürftiges Vorhaben in der Nachbarschaft einer störenden Anlage errichtet. Nicht nur Vorhaben, von denen unzumutbare Belästigungen oder Störungen ausgehen, sondern auch solche, die sich unzumutbaren Belästigungen oder Störungen aussetzen, können gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen (BayVGH, Beschl. vom 24.04.2014 - 15 ZB 13.1167 -, juris Rdnr. 13).
61
Setzt sich ein Vorhaben der Gefahr eines Störfalls aus, ist im Rahmen des Rücksichtnahmegebots Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.07.2012 zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen – Seveso-III-Richtlinie – maßgeblich. Danach haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass in ihrer Politik der Flächenausweisung oder Flächennutzung oder anderen einschlägigen Politiken sowie den Verfahren für die Durchführung dieser Politiken langfristig dem Erfordernis Rechnung getragen wird, dass zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und Wohngebieten, öffentlich genutzten Gebäuden und Gebieten, Erholungsgebieten und – soweit möglich – Hauptverkehrswegen andererseits ein angemessener Sicherheitsabstand gewahrt bleibt. Nach einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (vom 15.09.2011 - C-53/10 -, juris) und einem daran anschließenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 13ff., jeweils noch zu dem entsprechenden Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 der Seveso-II-Richtlinie) verlangt Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Seveso-III-Richtlinie, dass die Risiken der Zulassung eines öffentlich genutzten Gebäudes in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs ungeachtet etwaiger Vorbelastungen gebührend gewürdigt werden. Für eine richtlinienkonforme Handhabung des Gebots der Rücksichtnahme ist deshalb zu prüfen, ob das zuzulassende Vorhaben einen angemessenen Abstand im Sinne der Richtlinie einhält und falls dies nicht der Fall ist, ob es ausnahmsweise trotzdem zugelassen werden kann (Hess. VGH, Urt. vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 24).
62
Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin und der Beigeladenen ist auch im Falle des Vorhabens der Beigeladenen die Seveso-III-Richtlinie beachtlich. Zunächst verkennen die genannten Beteiligten die maßgebliche Regelung der Richtlinie, wenn der Prozessbevollmächtigte der Beigeladenen in seinem Vermerk für die Antragsgegnerin vom 20.02.2020 die Frage stellt, ob mit dem Begriff der „Ansiedlung neuer Betriebe“ im Sinne der Richtlinie das Vorhaben der Beigeladenen gemeint sein könne, und die Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung ausführt, materiell müsse man am Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie ansetzen. Art. 13 Abs. 1 der Seveso-III-Richtlinie – und insbesondere Buchst. a) der Vorschrift, der die Überwachung der Ansiedlung neuer Betriebe regelt – ist nicht einschlägig. Das Rücksichtnahmegebot ist richtlinienkonform vielmehr anhand von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Seveso-III-Richtlinie zu prüfen. Auch die Auffassung von Antragsgegnerin und Beigeladener, vorhandener Gebäudebestand und vorhandene Nutzungen würden im Rahmen der Richtlinie nicht betrachtet, es greife insoweit Bestandsschutz im „seveso-rechtlichen Sinne“ und dies gelte auch für den geplanten Verbrauchermarkt auf dem „E. -Grundstück“, der weder erstmalig noch zusätzlich entstehe, blendet die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts aus:
63
Nach dieser Rechtsprechung ist Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Seveso-III-Richtlinie nicht lediglich in Fällen der erstmaligen Bebauung eines Grundstücks beachtlich, sondern in allen Baugenehmigungsverfahren, die Bauvorhaben im Sicherheitsabstand eines Störfallbetriebs betreffen. Mit den oben zitierten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (Tenor 1) und des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die Verpflichtung aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Seveso-III-Richtlinie (zuvor Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 der Seveso-II-Richtlinie) nicht nur im Bereich des Planungsrechts gilt, sondern auch von einer für die Erteilung von Baugenehmigungen zuständigen Behörde zu beachten ist, und zwar auch dann, wenn sie in Ausübung dieser Zuständigkeit eine gebundene Entscheidung zu erlassen hat (vgl. auch Hinweis von Wasielewski, NVwZ 2018, S. 937 (939); ebenso Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 34 Rdnr. 33). Nur dann, wenn dem Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände bereits von den Planungsbehörden Rechnung getragen worden ist, besteht für die Baugenehmigungsbehörden keine weitere Verpflichtung, den Vorgaben der Richtlinie Rechnung zu tragen (vgl. EuGH, Urt. vom 15.09.2011 - C-53/10 -, juris insbesondere Rdnr. 26 und 28). Das Vorhabengrundstück der Beigeladenen ist jedoch nicht überplant.
64
Im Rahmen des hier zu prüfenden Rücksichtnahmegebots ist Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Seveso-III-Richtlinie anzuwenden, weil es sich bei dem Betriebsbereich G. der Antragstellerin unstreitig um einen Betrieb handelt, der der Störfall-Verordnung unterfällt und das Bauvorhaben der Beigeladenen entgegen den Zweifeln der Antragsgegnerin auch ein öffentlich genutztes Gebäude darstellt.
65
Unter öffentlich genutzten Gebäuden im Sinne der Richtlinie und des § 3 Abs. 5d BImSchG sind auch privatwirtschaftlich genutzte Gebäude zu verstehen, wenn diese geeignet und dazu bestimmt sind, von der Öffentlichkeit – d.h. einem prinzipiell unbeschränkten Personenkreis – aufgesucht zu werden. Die Nutzung wird als öffentlich angesehen, wenn ein allgemeiner Publikumsverkehr im Sinne eines unkontrollierten Stroms von Besuchern stattfindet mit der Begründung, dass es nicht möglich ist, die Besucher für die Störfallrisiken zu sensibilisieren und Verhaltensregeln einzuüben (vgl. VG Karlsruhe, Urt.vom 22.01.2020 - 2 K 194/19 -, juris Rdnr. 37; Hess. VGH, Urt. vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 26; vgl. auch Schoen in Landmann/Rohmer, UmweltR Band III, Loseblatt Stand 01.06.2019, Rdnr. 113 zu § 50 BImSchG; Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (439)). Unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Besucher soll es darauf ankommen, dass das Gebäude von einem größeren Teil der Öffentlichkeit benutzt werden kann, weil es über einen für den öffentlichen Verkehr zugänglichen Bereich verfügt (Schoen in Landmann/Rohmer, UmweltR Band III, Stand 01.06.2019, Rdnr. 113 zu § 50 BImSchG; vgl. auch Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (439f.)).
66
Bei dem von der Beigeladenen geplante SB-Verbrauchermarkt, der von der Firmengruppe Q. betrieben werden soll, wird es sich unzweifelhaft um ein privatwirtschaftlich genutztes Gebäude mit erheblichem Kundenverkehr handeln. Einzelhandelsbetriebe wie Gartencenter, Baumärkte und eben Supermärkte stellen öffentlich genutzte Gebäude im Sinne der Seveso-III-Richtlinie dar (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 14 und Hess. VGH, Urt. vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 26 - Gartencenter -; VG Köln, Urt. vom 28.08.2019 - 23 K 2083/18 -, juris Rdnr. 27 - Lebensmittelmarkt -; Schoen in Landmann/Rohmer, UmweltR Band III, Stand 01.02.2020, § 50 BImSchG Rdnr. 113; Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (439)).
67
Das Vorhaben der Beigeladenen hält allerdings den angemessenen Abstand zum Störfallbetrieb der Antragstellerin nicht ein und ist auch nicht ausnahmsweise zuzulassen.
68
Der Begriff des angemessenen Sicherheitsabstands ist im Unionsrecht nicht geregelt, hat jedoch durch Art. 1 Nr. 2c) des Gesetzes zur Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie vom 30.11.2016 (BGBl. I S. 2749) mit § 3 Abs. 5c BImSchG Aufnahme in das nationale Gesetz gefunden. Nach Satz 1 der Vorschrift ist der angemessene Sicherheitsabstand der Abstand zwischen einem Betriebsbereich oder einer Anlage, die Betriebsbereich oder Bestandteil eines Betriebsbereichs ist, und einem benachbarten Schutzobjekt, der zur gebotenen Begrenzung der Auswirkungen auf das benachbarte Schutzobjekt, welche durch schwere Unfälle hervorgerufen werden können, beiträgt. Welcher Sicherheitsabstand als „angemessen“ zu wahren ist, ist gemäß § 3 Abs. 5c Satz 2 BImSchG anhand störfallspezifischer Faktoren zu ermitteln. Nach der der Gesetzesergänzung vorangegangenen – und insofern für die Auslegung der Vorschrift maßgeblich heranzuziehenden – Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts genügt es nicht, für einen Störfallbetrieb einen Sicherheitsabstand zu ermitteln, der für alle Vorhaben im Umfeld des Betriebs gilt. Vielmehr ist der Abstand in jedem Einzelfall für jedes schutzbedürftige Objekt anhand von anlagen- und vorhabenbezogenen störfallspezifischen Faktoren festzulegen (BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 16; nachfolgend Hess. VGH, Urt. vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 29; vgl. auch Thiel in Landmann/Rohmer, UmweltR Band III, Stand 01.02.2020, § 3 BImSchG Rdnr. 102d). Als störfallspezifische Faktoren sind unter anderem auch die Art der Tätigkeit der neuen Ansiedlung und die Intensität der öffentlichen Nutzung zu berücksichtigen. Auch besondere bauliche Anforderungen an das an den Störfallbetrieb heranrückende Vorhaben sind einzustellen, wenn mit ihnen mögliche Schadensfolgen beeinflusst werden können (BVerwG, Urt.vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 18; nachfolgend Hess. VGH, Urt. vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 30, 61; Thiel in Landmann/Rohmer, UmweltR Band III, Stand 01.02.2020, § 3 BImSchG Rdnr. 102d; Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (444f.)).
69
Aus den anlagenbezogenen störfallspezifischen Faktoren für den Betriebsbereich G. ergibt sich ausweislich eines Gutachtens des TÜV Nord vom März 2018 ein Sicherheitsabstand von 800 m um die im Freien liegende Rohrleitung, mit der das Schwefeldioxid von der Abfüllhalle zum Tanklager geleitet wird. Das Gutachten ist gerichtsbekannt, weil es Gegenstand des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens 12 B 1932/19 gewesen ist, in dem sich die Antragstellerin gegen die Neuerrichtung eines Altenwohn- und Pflegeheims gewandt hat. Nach wie vor besteht kein Anlass, an den Feststellungen des TÜV Nord zu zweifeln. Insbesondere ist an dieser Stelle irrelevant, ob die Antragstellerin die im Freien verlaufende Rohrleitung als doppelwandige Leitung ertüchtigen und dadurch den vom TÜV Nord festgestellten Sicherheitsabstand auf 650 m reduzieren könnte, da das Vorhaben der Beigeladenen auch diesen Abstand noch erheblich unterschreitet.
70
Das Gericht lässt im Weiteren offen, ob dieser Abstand unter Berücksichtigung von vorhabenbezogenen Faktoren zu reduzieren wäre, da das Vorhaben der Beigeladenen selbst bei einer ganz erheblichen Reduzierung des Radius noch deutlich innerhalb des Sicherheitsabstands liegen würde. Das Vorhaben, insbesondere mit Blick auf die Parkplätze an der J., ist etwa 370 m (gemessen anhand des elektronischen Kartenmaterials des Landesamtes für Geoinformation und Landesvermessung Niedersachsen, Auskunftssystem Liegenschaftskataster, https://www.lgln.niedersachsen.de/startseite/online_angebote_amp_services/webdienste/asl/asl-106667.html) von der im Freien verlaufenden Rohrleitung, Flurstück 103/1 der Flur 34 der Gemarkung F., entfernt. Auch die Beteiligten gehen – wenn auch unter Zugrundelegung unterschiedlicher Entfernungen – davon aus, dass das Vorhaben der Beigeladenen innerhalb des einzuhaltenden Sicherheitsabstands liegt.
71
Das Vorhaben der Beigeladenen ist nicht ausnahmsweise in diesem Sicherheitsabstand zuzulassen, denn eine nachvollziehende Abwägung führt dazu, dass sich das Vorhaben zumindest zum jetzigen Zeitpunkt als rücksichtslos im planungsrechtlichen Sinne und damit für die Antragstellerin nachbarrechtsverletzend darstellt.
72
Mit jedem Vorhaben, das den angemessenen Abstand zu einem Störfallbetrieb unterschreitet, wird der störfallrechtlich unerwünschte Zustand weiter verfestigt. Gleichwohl zwingt Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Seveso-III-Richtlinie nicht dazu, den angemessenen Abstand zum alleinigen Genehmigungskriterium zu machen und Bauvorhaben in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs damit ausnahmslos abzulehnen. Eine Unterschreitung des angemessenen Abstands zu einem Störfallbetrieb ist allerdings nur ausnahmsweise zulässig, wenn die Gemengelage nicht erstmals geschaffen wird und im Einzelfall hinreichend gewichtige nicht störfallspezifische Belange – insbesondere solche sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Art – für die Zulassung des Vorhabens streiten (BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 22ff.; nachfolgend Hess. VGH, Urt. vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 63f.; VG Karlsruhe, Urt. vom 22.01.2020 - 2 K 194/19 -, juris Rdnr. 51; Söfker in Ernst-Zinkahn-Bielenburg, BauGB, Stand 01.02.2020, § 34 Rdnr. 76a). Die Genehmigungsbehörde muss sich in jedem Einzelfall darüber Gedanken machen, ob ein Unterschreiten des eigentlich erforderlichen angemessenen Abstands im Hinblick auf sonstige – nicht störfallspezifische – Faktoren vertretbar ist. Unionsrechtlich gefordert, aber auch ausreichend ist insoweit eine „nachvollziehende Abwägung“, verstanden als ein Vorgang der Rechtsanwendung, der eine auf den Einzelfall ausgerichtete Gewichtsbestimmung verlangt (BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 23 und 26).
73
Eine Gemengelage wird vorliegend nicht erstmals geschaffen. Eine solche ist immer dann gegeben, wenn im angemessenen Abstand um einen Störfallbetrieb bereits weitere schutzbedürftige Objekte existieren (BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 25; Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (454)) und besteht im Falle des Störfallbetriebs der Antragstellerin und der Innenstadt von F. östlich und südöstlich des Betriebsgeländes bereits seit Jahrzehnten, weshalb Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Seveso-III-Richtlinie für Bauvorhaben in dem Sicherheitsabstand um den Betriebsbereich G. der Antragstellerin grundsätzlich die Möglichkeit einer nachvollziehenden Abwägung eröffnet.
74
Eine solche Abwägung hat die Antragsgegnerin allerdings im Verwaltungsverfahren nicht vorgenommen. Sie hat ausweislich des Vorlageberichts vom 27.03.2020 an die Widerspruchsstelle die Notwendigkeit einer Abwägungsentscheidung vielmehr ausdrücklich verneint. Auch im gerichtlichen Verfahren hat sie mit dem Argument, dass das Vorhaben dem Störfallrecht von vornherein nicht unterfalle, daran festgehalten, dass es keiner nachvollziehenden Abwägung bedürfe.
75
Allein deshalb stellt sich die Baugenehmigung jedoch entgegen der Ansicht der Antragstellerin noch nicht zwingend als rücksichtlos und rechtswidrig dar, denn das Gericht hat eine eigene Abwägung zu treffen.
76
Soweit Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) der Seveso-III-Richtlinie im Rahmen der durch die Verwaltung zu treffenden gebundenen Entscheidung über eine Baugenehmigung eine „nachvollziehende“ Abwägung erfordert, ist diese keine planerische Abwägung im Sinne politischer Dezision, sondern als Vorgang der Rechtsanwendung sachgeleitete Wertung, deren Ergebnis gerichtlich voll überprüfbar ist (BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 26; Rieger in Schrödter, BauGB, 9. Aufl. 2019, § 35 Rdnr. 8; Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 34 Rdnr. 34; Söfker in Ernst-Zinkahn-Bielenburg, BauGB, Stand 01.02.2020, § 34 Rdnr. 76a; Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (457)). Unterlässt die Genehmigungsbehörde diese oder ist die getroffene Abwägung fehlerhaft, hat das Gericht selbst die maßgeblichen Belange abzuwägen (VG Köln, Urt. vom 28.08.2019 – 23 K 2083/18 -, juris Rdnr. 34 und 43; vgl. auch die Rechtsprechung zum Abwägungsausfall bei § 35 BauGB, auf den das BVerwG (Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 26) zum Begriff der „nachvollziehenden“ Abwägung verwiesen hat: OVG Rh.-Pf., Urt. vom 16.06.2020 - 8 A 11327/19 -, juris Rdnr. 111ff.; Bay. VGH, Urt. vom 12.11.20109 - 22 BV 17.2448 -, juris Rdnr. 80f.; VG Schleswig, Urt. vom 14.11.2019 - 6 A 44/15 -, juris Rdnr. 81ff.).
77
Die Abwägung führt aber zu dem Ergebnis, dass das Vorhaben der Beigeladenen nicht ausnahmsweise zuzulassen ist.
78
Bei der wertenden Entscheidung, ob ein schutzwürdiges Vorhaben innerhalb des angemessenen Abstands zu einem Störfallbetrieb zugelassen werden kann, ist dem Abstandserfordernis in spezifischer Weise Rechnung zu tragen. Dabei ist die Abwägung regelmäßig auf einen bipolaren Interessenausgleich beschränkt, bei dem das Interesse des Bauherrn bzw. Grundstückseigentümers an einer wirtschaftlichen Ausnutzung des Vorhabengrundstücks dem in der Richtlinie zum Ausdruck kommenden Interesse gegenübersteht, die Folgen eines möglichen Störfalls – insbesondere für das potentielle Publikum des öffentlich genutzten Gebäudes – zu begrenzen (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 26; Hess. VGH, Urt. vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 66; vgl. auch Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (457f.)).
79
Unberücksichtigt bleiben demgegenüber städtebauliche oder sonstige öffentliche Gründe, denn so weit reicht die Leistungsfähigkeit des Instruments der „nachvollziehenden“ Abwägung nicht. Die Grenzen der Abwägung und damit des Rücksichtnahmegebots sind überschritten, wenn nicht individuelle, sondern städtebauliche Gründe für eine Zulassung des Vorhabens streiten (BVerwG, Urt. vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 35; Söfker in Ernst-Zinkahn-Bielenburg, BauGB, Stand 01.02.2020, § 34 Rdnr. 76a; Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 34 Rdnr. 34). Soll ein Vorhaben aus öffentlichen Interessen, insbesondere städtebaulichen Gründen, zugelassen werden, kann dies nur auf der Grundlage eines Bebauungsplans erfolgen, bei dessen Aufstellung die Anforderungen des Art. 13 Abs. 2 a) der Seveso-III-Richtlinie im Rahmen des Abwägungsgebots planerisch zu bewältigen und vor allem auch zu verantworten sind (VG Karlsruhe, Urt. vom 22.01.2020 - 2 K 194/19 -, juris Rdnr. 54).
80
Danach sind folgende, von der Antragsgegnerin und der Beigeladenen maßgeblich zugunsten des Vorhabens angeführte Belange aus der Abwägung auszuschließen: Offenkundig einen städtebaulichen Belang stellt das Vorbringen der Antragsgegnerin dar, ausweislich des Einzelhandelskonzepts vom 21.06.2013 handele es sich um einen städtebaulich integrierten Einzelhandelsstandort, der zum zentralen Versorgungsbereich der Stadt F. rechne und gesichert, gestärkt und weiterentwickelt werden müsse. Gleiches gilt ersichtlich auch, soweit die Beigeladene in ihrer Antragserwiderung ausführt, es gehe doch allein um die Revitalisierung eines seit eh und je auf erhebliche Besucher- und Kundenfrequenzen angelegten Standorts. Aber auch der Vortrag der Beigeladenen, es könne nicht im Abstand von 800 m um das Firmengrundstück der Antragstellerin jedwede Bestandsnutzung störfallrechtlich einem strikten Veränderungsverbot unterworfen werden, da dann jeder Grundstückseigentümer es entweder auf unabsehbare Dauer bei der ausgeübten Nutzung belassen oder aber eine neue Nutzung aufnehmen müsse, die dem Störfallrecht nicht unterfalle, was wiederum ein wirtschaftliches Aus für die die Kernstadt prägenden Einzelhandelsnutzungen wäre, betrifft städtebauliche Gründe, die nur planerisch berücksichtigt werden können. Gleiches gilt auch für die Behauptung der Beigeladenen, es gebe für sie und ihren Hauptmieter, die Firmengruppe Q., kein Alternativgrundstück, denn außerhalb des Radius von 800 m um den Betrieb der Antragstellerin hätte sie sich in Widerspruch zu dem Einzelhandelskonzept der Stadt F. gesetzt, nach dem jeder Standort außerhalb des Radius für den großflächigen Lebensmitteleinzelhandel ausscheide. Soweit das im Jahr 2013 erstellte Einzelhandelskonzept für die Stadt F. die Beigeladene an der Wahl eines alternativen Standortes für einen Q. -Verbrauchermarkts hindert, beruht auch dies auf städtebaulichen Erwägungen. Das Konzept ist vom Rat der Stadt immerhin als städtebauliches Entwicklungskonzept beschlossen worden.
81
In die Abwägung einzustellen sind danach lediglich die erheblichen wirtschaftlichen Interessen der Beigeladenen. Nach dem Vermerk ihres Prozessbevollmächtigten vom 20.02.2020 hat sie das Baugrundstück zu einem Grundstückspreis von 1.780.000,00 Euro erworben, zumindest 110.000,00 Euro Kaufnebenkosten aufgewandt, zusätzlich rund 200.000,00 Euro für Bau- und andere Anträge sowie Gutachten investiert und bereits einen Generalunternehmervertrag mit einem Volumen von 3,3 Mio. Euro geschlossen.
82
Gegenüber diesem wirtschaftlichen Interesse der Beigeladenen setzt sich hier das Interesse, die Risiken eines immer möglichen „Dennoch-Störfalls“ zu begrenzen, durch. Nach einer Verwirklichung des Vorhabens der Beigeladenen würde im Falle eines Störfalls ein weiteres Gebäude in F. von den möglichen Auswirkungen betroffen sein. Welche Risiken sich in Bezug auf das geplante Vorhaben der Beigeladenen sodann realisieren würden, vermag das Gericht nicht abzuschätzen. Ersichtlich ist lediglich, dass insbesondere die mit der Baugenehmigung vom 06.12.2019 genehmigten Parkplätze, die sich nunmehr westlich des Gebäudes und damit ohne abschirmende Bebauung direkt an der J. befinden, nur etwa 370 m von der maßgeblichen Rohrleitung entfernt sind. Die Baugenehmigung enthält bis heute keinerlei Nebenbestimmungen, die zu einer Reduzierung der Risiken eines möglichen Störfalls führen würden. Den insoweit von der Beigeladenen unter dem 23.03.2020 gestellten Nachtragsbauantrag hat die Antragsgegnerin bis heute nicht beschieden, abgesehen davon, dass die beantragten Nebenbestimmungen hinter den Nebenbestimmungen zurückbleiben, die die Antragsgegnerin der Baugenehmigung für das Altenwohn- und Pflegeheim beigefügt hatte. Es lässt sich aber für das Gericht auch nicht absehen, ob und zu welcher Risikoreduzierung diese Nebenbestimmungen tatsächlich führen würden. Dies ließe sich letztlich nur durch ein Gutachten klären, welches über das TÜV-Gutachten vom März 2018 hinaus insbesondere die Risiken für die sich auf dem Parkplatz aufhaltenden Kunden des geplanten Verbrauchermarktes feststellen und bewerten müsste. Entscheidend für die Abwägung ist dabei die Frage, ob es im Falle eines Austritts von Schwefeldioxid aus der Rohrleitung im Betrieb der Antragstellerin noch möglich wäre, die Kunden rechtzeitig zu alarmieren, bevor das Gas das Vorhabengrundstück erreicht und welche Gesundheitsgefahren drohen würden, wenn dies nicht der Fall ist. Solange diese Fragen offen sind, muss die Abwägung zu Lasten des wirtschaftlichen Interesses der Beigeladenen ausfallen.
83
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
84
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und berücksichtigt Nr. 8 d) der Streitwertannahmen der Bausenate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (NdsVBl. 2002, S. 192).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Normenkontrollverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Antragsteller kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Antragsgegnerin zuvor Sicherheit in Höhe von110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die Änderung einer universitären Prüfungsordnung.
2
Der Antragsteller ist seit dem Wintersemester 2017/2018 bei der Antragsgegnerin im Masterstudiengang „Engineering Physics“ eingeschrieben. Der auf vier Semester angelegte Studiengang, welcher nach der bestandenen Masterprüfung mit der Verleihung des Hochschulgrades „Master of Science (M. Sc.)“ endet, wird von der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften der Antragsgegnerin in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Technik der Hochschule G. durchgeführt.
3
Regelungen zu den einzelnen zu erbringenden Modulprüfungen, der abschließenden Masterarbeit sowie dem Prüfungsverfahren enthält die „Prüfungsordnung für Fachmasterstudiengänge der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften an der D.“ (PO). Als Anlage 6 enthält die PO eine „Studiengangspezifische Anlage Engineering Physics“.
4
Zum Zeitpunkt des Beginns des Masterstudiums des Antragstellers galt der Hauptteil der PO in der Fassung vom 18. August 2017 (neugefasst durch die elfte Änderung der PO, Amtliche Mitteilungen der Antragsgegnerin 062/2017). Die Anlage 6 - Studiengangspezifische Anlage Engineering Physics - galt in der Fassung vom 22. September 2016 (neugefasst durch die neunte Änderung der PO, Amtliche Mitteilungen der Antragsgegnerin 2016, S. 315).
5
Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 PO beträgt der Gesamtumfang des Studiums 120 Kreditpunkte, wovon das Masterabschlussmodul nach § 5 Abs. 4 Satz 1 PO einen Umfang von 30 Kreditpunkten einnimmt. Jede Modulprüfung sowie die Masterarbeit werden gemäß § 13 PO einzeln bewertet und benotet. § 15 PO regelt die Wiederholung von Modulprüfungen im Falle des Nichtbestehens und enthält in Absatz 5 eine Freiversuchsregelung. Hiernach können innerhalb der Regelstudienzeit zum erstmöglichen Termin bestandene Klausuren auf Antrag einmal zur Notenverbesserung innerhalb eines Jahres wiederholt werden (Freiversuch zur Notenverbesserung). § 23 Abs. 1 PO bestimmt, dass das Studium nach dem Erwerb von 120 Kreditpunkten und nach Bestehen aller Modulprüfungen einschließlich des Masterarbeitsmoduls erfolgreich abgeschlossen ist. Gemäß § 23 Abs. 2 PO erfolgt die abschließende Ermittlung der Gesamtnote nach § 13 Abs. 3 PO durch Bildung eines gewichteten Notendurchschnitts für das Masterstudium. Hierfür werden die Noten für die einzelnen nach § 13 Abs. 2 PO benoteten Modulprüfungen inklusive des Masterarbeitsmoduls mit den Kreditpunkten des Moduls multipliziert. Die Summe der gewichteten Noten wird anschließend durch die Gesamtzahl der Kreditpunkte dividiert, die in die Benotung eingegangen sind. § 23 Abs. 3 PO enthält schließlich die Regelung, dass, sofern die studiengangspezifischen Anlagen keine andere Regelung vorsehen, auf Antrag bei der Ermittlung der Gesamtnote Modulprüfungsnoten im Umfang von maximal 15 Kreditpunkten aus dem Wahlpflicht- oder Wahlbereich unberücksichtigt bleiben können. Das Masterarbeitsmodul ist hiervon ausgenommen. Eine hiervon abweichende Regelung enthielt die Anlage 6 in der Fassung vom 22. September 2016 nicht.
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Nach einem zustimmenden Beschluss der an der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften der Antragsgegnerin gebildeten Studienkommission vom 2. Mai 2018 beschloss der Fakultätsrat am 16. Mai 2018 die zwölfte Änderung der PO (im Folgenden: PO n. F.). Das Präsidium der Antragsgegnerin genehmigte die Änderung der PO mit Beschluss vom 3. Juli 2018. Hieraufhin machte die Antragsgegnerin die zwölfte Änderung der PO vom 1. August 2018 bekannt (Amtliche Mitteilungen der Antragsgegnerin 047/2018 v. 31. Juli 2018).
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Neben Änderungen des Hauptteils der PO enthält die zwölfte Änderung der PO unter Abschnitt I Nr. 9 auch eine Neufassung der Anlage 6 - Studiengangspezifische Anlage Engineering Physics -. Unter anderem ist hierin geregelt, dass das Studium Lehrveranstaltungen des Pflichtbereiches im Umfang von 36 Kreditpunkten, des Wahlpflichtbereiches im Umfang von 54 Kreditpunkten und das Masterarbeitsmodul im Umfang von 30 Kreditpunkten umfasst (Ergänzung zu § 5, Anlage 6 PO n. F.). Zudem wurde die Liste der zu absolvierenden Pflichtmodule sowie der angebotenen Wahlpflichtmodule neu gefasst (Ergänzung zu § 10 PO, Anlage 6 PO n. F.). Neu eingefügt wurde darüber hinaus die Regelung, dass bei der Ermittlung der Gesamtnote alle Modulnoten berücksichtigt werden (Ergänzung zu § 23, Anlage 6 PO n. F.). In Abschnitt II der zwölften Änderung der PO ist unter Nr. 1 bestimmt, dass die Änderung zum Wintersemester 2018/2019 nach der Bekanntmachung in den Amtlichen Mitteilungen der Antragsgegnerin für alle Studierenden in Kraft tritt. Hiervon abweichend enthält Abschnitt II Nr. 2 Übergangsbestimmungen, wonach unter anderem die neuen Regelungen der Anlage 6 abweichend von Nr. 1 nicht für Studierende gelten, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens im vierten oder höheren Fachsemester befinden.
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Der Antragsteller hat am 18. März 2019 einen Normenkontrollantrag gestellt, mit dem er sich dagegen wendet, dass die Ergänzung zu § 23 in der Anlage 6 PO n. F., wonach bei der Ermittlung der Gesamtnote alle Modulnoten berücksichtigt werden, auch für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der zwölften Änderung der PO bereits immatrikulierte Studierende gilt. Zugleich hat er den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO beantragt. Diesen Antrag hat der Senat mit Beschluss vom 17. Februar 2020 (- 2 MN 379/19 -, in juris) abgelehnt.
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Der Antragsteller trägt zur Begründung seines Normenkontrollantrages vor, er sei antragsbefugt, da er in absehbarer Zeit sein Studium an der Antragsgegnerin beenden werde und dann die Gesamtnotenbildung anstehe. Er habe bisher überdurchschnittliche Leistungen im Bereich zwischen 1,0 und 1,7 erzielt. Lediglich drei absolvierte Module fielen aus diesem Rahmen. Ohne die Anwendung der Ergänzung zu § 23 in Anlage 6 PO n. F. könne er eine deutlich bessere Gesamtnote erhalten. In materieller Hinsicht entfalte die Neuregelung eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung. Mit der Festsetzung der Note einer Modulprüfung stehe grundsätzlich auch immer schon ein Teil der später erzielten Gesamtnote fest. Bei der endgültigen Feststellung der Gesamtnote handele es sich nur noch um eine Addition der Modulnoten. Für vor Inkrafttreten der Änderung absolvierte Modulprüfungen habe aufgrund der in die Dispositionsfreiheit der Studierenden gestellten Möglichkeit nach § 23 Abs. 3 PO zunächst noch nicht festgestanden, ob diese Eingang in die Bildung der Gesamtnote finden würden. Hätten Studierende nach Erzielung einer schlechten Modulnote aber wegen der später bestehenden Möglichkeit, die Note unberücksichtigt zu lassen, die Entscheidung getroffen, keinen Verbesserungsversuch anzutreten, hätten sie die entsprechende Modulnote für sich akzeptiert. Der Sachverhalt der Nichtberücksichtigung der erbrachten Leistung bei der Gesamtnotenbildung sei dann bereits in der Vergangenheit abgeschlossen worden. Entscheidend für die Einordnung der Rückwirkung sei der Zeitpunkt, zu welchem sich der Studierende für die Geltung der jeweiligen Einzelleistung entschieden habe. Durch die Änderung werde rückwirkend die in der Prüfung erreichte Note festgeschrieben und ihre zwingende Berücksichtigung in der Gesamtnote angeordnet. Hiermit werde nachträglich ändernd in bereits abgeschlossene Sachverhalte eingegriffen. Die Ziele, die der Normgeber mit der Neuregelung verfolgt habe, seien nicht in nachvollziehbarer Weise offengelegt worden. Den Satzungsunterlagen lasse sich lediglich entnehmen, dass eine Angleichung an den Studiengang Fachmaster Physik habe stattfinden sollen. Dass es dem Normgeber um eine höhere Chancengleichheit der Studierenden gegangen sei, könne ohne tatsächliche Grundlage nicht unterstellt werden. Soweit die Antragsgegnerin anführe, die Regelung des § 23 Abs. 3 PO habe die Einführung des Bologna-Prozesses abfedern sollen, ergäben sich hierfür aus dem Wortlaut keinerlei Anhaltspunkte. Die Neuregelung sei jedenfalls nicht mit dem gebotenen Vertrauensschutz vereinbar. Es sei nicht erkennbar, dass der Satzungsgeber Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes in seine Erwägungen eingestellt habe. Die Möglichkeit der Wiederholung von bereits absolvierten Prüfungen stelle keinen hinreichenden Ausgleich für den Wegfall der Möglichkeit nach § 23 Abs. 3 PO dar. Eine ständige Aktualisierung ihres Wissensstandes sei den Studierenden nicht zumutbar, eine Wiederholung führe zu einer Verlängerung der Studienzeit und berge zudem auch die Gefahr einer Notenverschlechterung. Im Übrigen sei eine nachträgliche Notenverbesserung wegen der in § 15 Abs. 5 PO vorgesehenen Jahresfrist nicht möglich. Für Prüfungsleistungen, die bereits absolviert seien, bestehe keine Reaktionsmöglichkeit der Studierenden mehr. Bei der bisher geltenden Regelung nach § 23 Abs. 3 PO habe es sich um eine faktische Freischuss-Regelung gehandelt. Die Regelung habe in verhaltenslenkender Wirkung darauf abgezielt, Studierende zu ermuntern, sich möglichst frühzeitig zu den Prüfungen anzumelden. Die Studierenden hätten bei Ablegung einer Modulprüfung vor Inkrafttreten der zwölften Änderung der PO daher in besonderer Weise vertrauen können, dass die Möglichkeit fortbesteht, eine Berücksichtigung bei der Gesamtnotenbildung im Umfang von bis zu 15 Kreditpunkten zu verhindern. Nach der bisherigen Regelung hätten Studierende in dem Bewusstsein, dass sie einzelne schlechte Noten später streichen können, auf die Anfechtung einzelner Noten verzichtet, was ebenfalls einen besonderen Vertrauensschutz begründe. Schließlich liege im Verhältnis zu denjenigen Studierenden, die Leistungen des vierten Fachsemesters absolviert hätten und die von der Anwendung der Neuregelung ausgenommen seien, eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung vor.
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Der Antragsteller beantragt,
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festzustellen, dass Abschnitt I Nr. 9 der zwölften Änderung der Prüfungsordnung für Fachmasterstudiengänge an der D. vom 1. August 2018 insoweit unwirksam ist, als darin in Ergänzung zu § 23 der Prüfungsordnung bestimmt wird, dass bei der Ermittlung der Gesamtnote alle Modulnoten berücksichtigt werden, soweit diese Regelung auch für Studierende gilt, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der zwölften Änderung der Prüfungsordnung bereits in diesem Studiengang immatrikuliert waren.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen,
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und erwidert, dass die Ergänzung zu § 23 in Anlage 6 PO n. F. keine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung entfalte, da nicht nachträglich ändernd in einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen werde. Die Neuregelung betreffe allein die Berechnung der Endnote des Studienganges. Keiner der Studierenden, die der Neuregelung unterfielen, habe schon alle für die Gesamtnotenbildung relevanten Prüfungsleistungen erbringen können. Der der Bildung der Gesamtnote zugrundeliegende Sachverhalt sei für sie noch nicht abgeschlossen, auch wenn er bereits in der Vergangenheit begonnen habe. Es handele es sich daher um einen Fall der unechten Rückwirkung. Entgegen der Ansicht des Antragstellers werde mit der Neuregelung auch nicht nachträglich ändernd in die Benotung einzelner Modulprüfungen eingegriffen. Diese Noten stünden fest und blieben unverändert. Ob eine Einzelnote in die Gesamtnote eingehen würde, habe schon aufgrund der bestehenden Wiederholungsmöglichkeit noch nicht feststehen können. Im Übrigen habe auch gerade die weggefallene Regelung nach § 23 Abs. 3 PO dazu geführt, dass noch nicht festgestanden habe, welche Modulprüfungsnoten bei der Gesamtnotenbildung zu berücksichtigen sein werden. Die entsprechende Entscheidung des Studierenden falle nicht im Anschluss an die Erbringung einer Einzelprüfung, sondern erst mit der Antragstellung hinsichtlich der Gesamtberechnung. Die gegenteilige Unterstellung des Antragstellers lasse außer Acht, dass ein Studierender erst bei Vorliegen aller Modulprüfungsnoten habe wissen können, welche die schlechtesten seien. Studierende, die ihr Studium nach einer bestimmten Prüfungsordnung aufgenommen hätten, könnten nicht generell beanspruchen, ihr Studium in jedem Fall nach der ursprünglichen Prüfungsordnung beenden zu können. Die Änderung verfolge das legitime Ziel, dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit für alle Studierenden mehr Geltung zu verschaffen. Studierende mit konstantem Leistungsbild hätten im Unterschied zu Studierenden mit abweichenden Modulnoten durch die Anwendung von § 23 Abs. 3 PO keinen bzw. nur einen geringeren Vorteil gehabt. Auch aus Gründen der Transparenz und Vergleichbarkeit von Gesamtnoten bestehe ein Interesse daran, die Regelung des § 23 Abs. 3 PO nicht mehr anzuwenden. An anderen Hochschulen, die vergleichbare Studiengänge anbieten würden, existierten dem § 23 Abs. 2 PO entsprechende Regelungen nicht. Bei der bisherigen Regelung nach § 23 Abs. 3 PO habe es sich zudem um eine faktische Übergangsregelung gehandelt, die vor dem Hintergrund der Umsetzung des Bologna-Prozesses eingeführt worden sei. Angesichts der durch die damalige Umstellung hervorgerufenen Unsicherheiten unter den Studierenden sei mit § 23 Abs. 3 PO die Möglichkeit eingeführt worden, das neue Studiensystem „auszuprobieren“. Die damalige Interessenlage bestehe aber nicht mehr fort. Die Eingriffsintensität der jetzigen Änderung stelle sich im Hinblick auf die frustrierte Rechtsposition der Studierenden als geringfügig dar. Die zuvor nach § 23 Abs. 3 PO eingeräumte Möglichkeit der Nichtberücksichtigung von Modulnoten habe sich nur auf Wahlpflicht- und Wahlmodule bezogen, nicht aber auf Pflichtmodule und die Masterarbeit. Zusammen mit der Begrenzung auf maximal 15 Kreditpunkte habe dies dazu geführt, dass maximal zwei Modulnoten unberücksichtigt bleiben konnten, da alle Wahlpflicht- und Wahlmodule einen Umfang von sechs Kreditpunkten aufweisen würden. Zudem hätten Studierende, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung zu Beginn des Wintersemester 2018/2019 im dritten Semester befunden hätten - eine Neueinschreibung finde nur zum Wintersemester statt -, noch die Möglichkeit gehabt, im Rahmen noch ausstehender Prüfungsleistungen eventuelle schlechte Modulnoten auszugleichen. Daneben habe für sie auch die Möglichkeit bestanden, gemäß der Freiversuchsregelung in § 15 Abs. 4 PO zum erstmöglichen Termin bestandene Prüfungen - also alle bestandenen Klausuren des ersten und zweiten Semesters - binnen Jahresfrist zwecks Notenverbesserung zu wiederholen. Die Regelung in § 23 Abs. 3 PO, deren Anwendbarkeit mit der Ergänzung zu § 23 in Anlage 6 PO n. F. entfallen sei, stelle demgegenüber entgegen der Ansicht des Antragstellers keine faktische Freischussregelung dar. Die Regelung habe nicht an ein möglichst frühes Ablegen einer Prüfung angeknüpft, sondern habe allen Prüflingen unabhängig vom Zeitpunkt der Ablegung der Modulprüfungen offen gestanden. Soweit der Antragsteller anführe, Studierende hätten einzelne Modulprüfungsnoten nicht angefochten, da sie auf die Möglichkeit einer späteren Streichung bei der Gesamtnotenbildung vertraut hätten, sei dies schon deshalb wenig plausibel, da sie nicht hätten wissen können, ob sie nicht zukünftig noch schlechtere Modulprüfungsnoten erzielen würden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Der Normenkontrollantrag, über den der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig (dazu unter 1.), aber unbegründet (dazu unter 2.).
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1. Der Antrag ist zulässig.
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Die Statthaftigkeit ist gegeben. Die sich aus der zwölften Änderung der PO der Antragsgegnerin ergebende Geltung der ergänzenden Bestimmung zu § 23 PO in der Anlage 6 PO n. F. für bereits vor dem Wintersemester 2018/2019 in dem Masterstudiengang „Engineering Physics“ immatrikulierte Studierende ist statthafter Gegenstand einer Normenkontrolle vor dem Oberverwaltungsgericht, weil die zwölfte Änderung der PO eine im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift i. S. d. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 75 NJG darstellt (vgl. wie hier zu Studien- und Prüfungsordnungen einer Universität OVG RP, Urt. v. 12.12.2016 - 10 C 10948/15 -, juris Rn. 12; HessVGH, Urt. v. 20.12.2016 - 10 C 1608/15.N -, juris Rn. 14).
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Die Statthaftigkeit des Normenkontrollantrages ist nicht dadurch nachträglich entfallen, dass die Antragsgegnerin während des Verfahrens die dreizehnte Änderung der PO vom 2. September 2019 beschlossen hat (Amtliche Mitteilungen der Antragsgegnerin 069/2019). Diese weitere Änderung der PO enthält unter Abschnitt I Nr. 3 eine vollständige Neufassung der Anlage 6 - Studiengangspezifische Anlage Engineering Physics -, ersetzt also ab ihrem Inkrafttreten zum Wintersemester 2019/2020 auch die hier im Streit stehende, mit der zwölften Änderung der PO eingefügte Ergänzung zu § 23 PO. Allerdings wird diese Regelung in der Neufassung wortgleich übernommen. Zudem bestimmt die Überleitungsvorschrift in Abschnitt II Nr. 2 der dreizehnten Änderung der PO, dass die neuen Regelungen der Anlage 6 auch nach ihrem Inkrafttreten nicht für Studierende mit Studienbeginn vor dem Wintersemester 2019/2020 gelten. Die Ergänzung zu § 23 PO gilt daher in der Fassung der zwölften Änderung der PO für bereits zuvor immatrikulierte Studierende - wie den Antragsteller - fort und stellt somit in jedem Fall weiterhin einen tauglichen Prüfungsgegenstand im Normenkontrollverfahren dar. Auf die Frage, ob gegen den Neuerlass einer mit einer Vorgängervorschrift übereinstimmenden Rechtsnorm ein Normenkontrollantrag zulässig ist bzw. ob ein gegen die Vorgängervorschrift gerichteter Normenkontrollantrag durch einen Neuerlass unstatthaft werden könnte, kommt es daher vorliegend nicht an. Nur ergänzend merkt der Senat an, dass durch die vierzehnte Änderung der PO vom 22. Juli 2020 (Amtliche Mitteilungen der Antragsgegnerin 049/2020) die Regelungen in § 23 PO sowie in Anlage 6 PO unberührt belassen werden.
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Der am 18. März 2019 gestellte Normenkontrollantrag wahrt die Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO von einem Jahr nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift, die hier durch die Veröffentlichung der zwölften Änderung der PO in den Amtlichen Mitteilungen der Antragsgegnerin am 31. Juli 2018 erfolgte.
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Der Antragsteller ist auch antragsbefugt. Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO setzt die Normenkontrollantragsbefugnis voraus, dass der Antragsteller geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder ihre Anwendung in seinen eigenen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Erforderlich, aber auch ausreichend für die Antragsbefugnis ist, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass er durch die Rechtsvorschrift in einem ihm zustehenden subjektiv-öffentlichen Recht verletzt wird. Zur Annahme der Antragsbefugnis muss positiv festgestellt werden können, ob ein subjektiv-öffentliches Recht des Antragstellers von der zur gerichtlichen Prüfung gestellten Norm betroffen ist; insofern genügt die bloße Möglichkeit einer eigenen Rechtsbetroffenheit des Antragstellers nicht. Ferner muss nach den Darlegungen des Antragstellers eine Rechtswidrigkeit der Norm und damit eine eigene Rechtsverletzung immerhin in Betracht kommen; insofern sind keine höheren Anforderungen zu stellen, als sie bei der Antrags- und Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO gelten (BVerwG, Beschl. v. 10.7.2012 - 4 BN 16.12 -, juris Rn. 2; Urt. v. 10.3.1998 - 4 CN 6.97 -, juris Rn. 12; Urt. v. 24.9.1998 - 4 CN 2.98 -, juris Rn. 8; Senatsbeschl. v. 8.4.2014 - 2 MN 352/13 -, juris Rn. 8, m. w. N.; Nds. OVG, Beschl. v. 14.12.2016 - 1 MN 95/17 -, juris Rn. 12).
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Gemessen hieran kann sich der Antragsteller darauf berufen, dass ihm die zu Beginn seines Masterstudiums im Wintersemester 2017/2018 geltende PO in § 23 Abs. 3 bei der Bildung der abschließenden Gesamtnote das Recht einräumte, einzelne Modulprüfungsnoten aus dem Wahlpflicht- oder Wahlbereich im Umfang von maximal 15 Kreditpunkten unberücksichtigt zu lassen. Diese Möglichkeit entfällt mit der Ergänzung zu § 23 in Anlage 6 PO n. F., da dort nunmehr bestimmt ist, dass bei der Ermittlung der Gesamtnote alle Modulnoten zu berücksichtigen sind. Die Neuregelung findet auf das Masterstudium des Antragstellers auch Anwendung. Da sich der Antragsteller bei Inkrafttreten der zwölften Änderung der PO zu Beginn des Wintersemesters 2018/2019 im dritten Fachsemester befand, gilt die Übergangsregelung für Studierende des vierten oder eines höheren Fachsemesters nach Abschnitt II Nr. 2 Abs. 1 der zwölften Änderung der PO für ihn nicht. Die Anlage 6 PO in der Fassung der dreizehnten Änderung der PO ist auf ihn wie bereits ausgeführt ebenfalls nicht anzuwenden. Dass die Anwendung der Ergänzung zu § 23 PO in Anlage 6 PO n. F. auf schon vor Inkrafttreten der zwölften Änderung der PO immatrikulierte Studierende gegen die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verstößt, kann jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Eine hieraus folgende Rechtsverletzung des Antragstellers wäre auch in absehbarer Zeit zu erwarten. Der Antragsteller hat bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung im Wintersemester Kreditpunkte in einzelnen Modulprüfungen erworben. Zu Ende seines Studiums steht nach dem Absolvieren des Masterabschlussmoduls die Bildung der Gesamtnote an, bei welcher die Neuregelung zum Tragen kommt. Der Antragsteller hat mit der vorgelegten Notenbescheinigung vom 7. November 2018 glaubhaft gemacht, dass er schon im Wintersemester 2018/2019 im Masterstudium „Engineering Physics“ insgesamt 60 Kreditpunkte erworben hatte. Am 21. Mai 2019 gab die Antragsgegnerin an, dass der Antragsteller insgesamt 72 Kreditpunkte erreicht hatte. Ihm fehlten demnach zu diesem Zeitpunkt nur noch 18 Kreditpunkte aus einzelnen Modulabschlussnoten sowie das Masterabschlussmodul im Umfang von 30 Kreditpunkten. Angaben zu seinem weiteren Studienverlauf hat der Antragsgegner im Verfahren nicht gemacht, allerdings lässt sein bisheriger Studienfortschritt auf einen jedenfalls bald zu erwartenden Studienabschluss schließen.
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2. Der Normenkontrollantrag ist unbegründet.
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Der Antragsteller wendet sich mit seinem Antrag ausschließlich dagegen, dass die Neuregelung in Anlage 6 PO n. F., wonach abweichend von der gemäß § 23 Abs. 3 PO bestehenden Möglichkeit, auf Antrag bei der Ermittlung der Gesamtnote einzelne Modulprüfungsnoten im Umfang von bis zu 15 Kreditpunkten aus dem Wahlpflicht- und Wahlbereich unberücksichtigt zu lassen, alle Modulnoten bei der Ermittlung der Gesamtnote berücksichtigt werden müssen, auch auf bereits vor dem Wintersemester 2018/2019 in dem Masterstudiengang „Engineering Physics“ eingeschriebene Studierende anzuwenden ist. Die hierin liegende Verschärfung der auf der Ermächtigungsgrundlage des § 7 Abs. 3 NHG beruhenden Prüfungsordnung für bereits immatrikulierte Studierende ist in der durch die Antragsgegnerin vorgenommenen Ausgestaltung mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) vereinbar. Es liegt ein Fall einer unechten Rückwirkung und nicht einer echten Rückwirkung vor (dazu unter a.). Die getroffene Regelung ist in ihrer Ausgestaltung als verhältnismäßig anzusehen und verletzt nicht Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes (dazu unter b.).
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a. Insoweit, als die Ergänzung zu § 23 PO in Anlage 6 PO n. F. auch auf bereits vor dem Wintersemester 2018/2019 in dem Studiengang „Engineering Physics“ immatrikulierte Studierende anwendbar ist, handelt es sich um einen Fall der unechten Rückwirkung und nicht um einen solchen der echten Rückwirkung, wie der Antragsteller meint.
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Eine echte Rückwirkung im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist gegeben, wenn eine Rechtsnorm nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“). Dies ist nach dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip im Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nachteilig Betroffener grundsätzlich als verfassungsrechtlich unzulässig anzusehen. Ausnahmsweise können aber zwingende Belange des Gemeinwohls oder ein nicht oder nicht (mehr) vorhandenes Vertrauen des Einzelnen eine Durchbrechung des verfassungsrechtlichen Verbots der echten Rückwirkung rechtfertigen. (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.4.2018 - 1 BvR 1236/11 -, BVerfGE 148, 217, juris Rn. 135; Beschl. v. 17.12.2013 - 1 BvL 5/08 -, BVerfGE 135,1, juris Rn. 41; Beschl. v. 10.10.2012 - 1 BvL 6/07 -, BVerfGE 132, 302, juris Rn. 42; Beschl. v. 2.5.2012 - 2 BvL 5/10 -, BVerfGE 131, 20, juris Rn. 65, 72, m. w. N.).
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Eine unechte Rückwirkung ist dagegen anzunehmen, wenn eine Rechtsnorm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet. Dies ist etwa dann der Fall, wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“). Dies ist verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Allerdings können sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen der Zulässigkeit ergeben. Diese Grenzen sind erst überschritten, wenn die vom Normgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Normzwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn das Vertrauens des Einzelnen auf die Fortgeltung der Rechtslage das Gemeinwohlinteresse des Normgebers an der Rechtsänderung ausnahmsweise überwiegt (vgl. BVerfG, Urt. v. 10.4.2018 - 1 BvR 1236/11 -, BVerfGE 148, 217, juris Rn. 136; Beschl. v. 10.10.2012 - 1 BvL 6/07 -, BVerfGE 132, 302, juris Rn. 43; Beschl. v. 2.5.2012 - 2 BvL 5/10 -, BVerfGE 131, 20, juris Rn. 66, 73 f., m. w. N.). Für das Gewicht des Vertrauensschutzes kommt es auf die betroffenen, in der Regel grundrechtsgeschützten Rechtsgüter und die Intensität der Nachteile an. Danach anzunehmende Bedenken können gegebenenfalls durch Übergangsvorschriften ausgeräumt werden (vgl. Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 137, Senatsbeschl. v. 19.9.2008 - 2 ME 90/08 -, juris Rn. 7).
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Gemessen an diesen Grundsätzen entfaltet die Anwendbarkeit der Ergänzung zu § 23 in Anlage 6 PO n. F. auf bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung - also vor dem Wintersemester 2018/2019 - immatrikulierte Studierende nur eine unechte Rückwirkung. Bei dem insofern betroffenen Personenkreis handelt es sich um diejenigen Studierenden, die - wie der Antragsteller - im Wintersemester 2017/2018 ihr Masterstudium aufgenommen und sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung im Wintersemester 2018/2019 im dritten Fachsemester befunden haben. Dies folgt daraus, dass die Antragsgegnerin Neueinschreibungen nur jeweils zum Wintersemester vornimmt und Studierende, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt als dem Wintersemester 2017/2018 das Masterstudium aufgenommen haben, nach der Übergangsregelung nach Abschnitt II Nr. 2 der zwölften Änderung der PO von der Geltung der neuen Regelung der Anlage 6 PO ausgenommen sind.
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Der in der fraglichen Ergänzung zu § 23 in Anlage 6 PO n. F. geregelte Wegfall der zuvor gemäß § 23 Abs. 3 PO bestehenden Möglichkeit der Nichtberücksichtigung einzelner Modulprüfungsnoten bezieht sich auf die Ermittlung der Studiengesamtnote nach§ 23 Abs. 2 PO, die erst zu Ende des Masterstudiums möglich ist. Grundlage der Gesamtnotenbildung sind alle von dem jeweiligen Prüfling erzielten Noten in den einzelnen Modulprüfungen inklusive des Masterarbeitsmoduls (§ 23 Abs. 2 Satz 1 PO), so dass der der Gesamtnotenbildung zugrundeliegende Lebenssachverhalt auch erst nach erfolgter Benotung der Masterarbeit als abgeschlossen angesehen werden kann. Hieraus folgt, dass - neben den einzelnen Prüfungsrechtsverhältnissen zu den jeweiligen Modulprüfungen - hinsichtlich der Bildung der Studiengesamtnote ein über die gesamte Dauer des Masterstudiums andauerndes Prüfungsrechtsverhältnis besteht. Für die Studierenden, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung im Wintersemester 2018/2019 im dritten Fachsemester befunden haben und die bereits in den beiden vorhergehenden Semestern einzelne Modulprüfungsnoten erzielt haben, greift die Neuregelung in dieses andauernde Prüfungsrechtsverhältnis ein und entwertet eine bisher vorhandene Rechtsposition (= die Möglichkeit, gegebenenfalls zu Ende des Studiums bei der Gesamtnotenbildung einzelne im ersten und zweiten Semester erzielte Modulprüfungsnoten unberücksichtigt zu lassen). Insofern findet zwar eine Anknüpfung an bereits in der Vergangenheit ins Werk gesetzte Sachverhalte statt. Dies bezieht sich jedoch nur auf die Berücksichtigung der Modulprüfungsnoten im Rahmen des noch andauernden Prüfungsrechtsverhältnisses über die Gesamtnotenbildung. Die Festsetzung der Noten bereits abgeschlossener Modulprüfungen selbst bleibt dagegen von der Neuregelung unberührt. Ein Eingriff in bereits abgeschlossene einzelne Prüfungsrechtsverhältnisse zu schon abgelegten Modulprüfungen findet daher nicht statt.
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Nichts Abweichendes ergibt sich aus dem Vorbringen des Antragstellers, dass mit der Festsetzung einer Modulprüfungsnote auch immer zugleich ein Teil der später erzielten Gesamtnote feststehe und es sich bei der Gesamtnotenbildung nur noch um einen abschließenden Additionsvorgang handele. Gerade die mit der Neuregelung abgeschaffte Gestaltungsmöglichkeit der Studierenden nach § 23 Abs. 3 PO spricht gegen eine solche Annahme, da mit ihr den Studierenden zu Ende des Studiums eine Möglichkeit zur Nichtberücksichtigung einzelner Prüfungsleistungen eingeräumt wurde, also gerade nicht abschließend feststand, inwiefern eine bestimmte Modulprüfungsnote bei der Gesamtnotenberechnung berücksichtigt werden würde. Dementsprechend kann die Neuregelung auch nicht in einen abgeschlossenen Sachverhalt über ein schon teilweises Feststehen der Gesamtnote eingreifen.
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Auch mit seinem weiteren Vortrag zum Vorliegen einer echten Rückwirkung vermag der Antragsteller nicht durchzudringen. Er beruft sich insofern darauf, dass, soweit sich Studierende nach Erhalt einer schlechter ausgefallenen Modulprüfungsnote in den Vorsemestern wegen der später bestehenden Möglichkeit der Nichtberücksichtigung bei der Gesamtnotenbildung dafür entschieden hätten, die Modulnote gelten zu lassen und keinen Wiederholungsversuch anzutreten, der Sachverhalt der Nichtberücksichtigung der erbrachten Leistung bereits als abgeschlossen anzusehen sei. Durch die Änderung werde rückwirkend in diesen abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen und die zwingende Berücksichtigung der erzielten Modulprüfungsnote bei der Gesamtnotenbildung festgeschrieben.
32
Entgegen der Auffassung des Antragstellers kann das Vorliegen eines abgeschlossenen Sachverhaltes der Nichtberücksichtigung einzelner Modulprüfungsnoten bei der Gesamtnotenbildung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung zu Beginn des Wintersemester 2018/2019 nicht angenommen werden. Der Antragsteller verkennt zunächst, dass die Möglichkeit zur Beantragung der Nichtberücksichtigung von einzelnen Modulprüfungsnoten des Wahlpflicht- und Wahlbereiches im Umfang von maximal 15 Kreditpunkten bei der Gesamtnotenbildung gemäß § 23 Abs. 3 PO erst zu dem Zeitpunkt bestehen konnte, zu welchem alle der Gesamtnotenbildung zugrunde zu legenden Einzelprüfungsleistungen vorlagen. Dies war bei den von der Rückwirkung betroffenen Studierenden, die vor dem Inkrafttreten der Neuregelung erst maximal zwei Semester des Masterstudiums absolviert hatten, noch nicht der Fall. Eine eventuelle vorherige subjektive Entscheidung von Studierenden zur späteren Beantragung der Nichtberücksichtigung im Anschluss an eine abgelegte einzelne Modulprüfung ist demgegenüber unbeachtlich. Im Übrigen konnten Studierende nach dem Absolvieren von nur zwei Fachsemestern auch sinnvollerweise noch gar nicht entscheiden, hinsichtlich welcher Modulprüfungsnoten sie zu Ende des Studiums von der Möglichkeit des § 23 Abs. 3 PO Gebrauch zu machen beabsichtigten. Denn erst nach Abschluss aller Modulprüfungen des Wahlpflicht- und Wahlbereiches konnten sie wissen, in welchen Modulen sie ihre schlechtesten Benotungen erzielt haben würden. Schließlich bestand für alle von der Rückwirkung der im Wintersemester 2017/2018 in Kraft getretenen Neuregelung betroffenen Studierenden noch die Möglichkeit, in den beiden Vorsemestern bestandene Modulprüfungen über die Freischussregelung nach § 15 Abs. 5 PO zu wiederholen. Denn die in § 15 Abs. 5 Satz 1 PO genannte Jahresfrist führte für sie dazu, dass alle zuvor im Wintersemester 2017/2018 abgelegten Modulprüfungen im Wintersemester 2018/2019 wiederholt werden konnten. Hinsichtlich der Modulprüfungen, die betroffene Studierende im Sommersemester 2018 abgelegt haben, konnte sogar noch bis zum Sommersemester 2019 eine Wiederholung erfolgen. Dass sich Studierende trotz noch bestehender Wiederholungsmöglichkeit zur Notenverbesserung bereits abschließend hiergegen entschieden hätten, erscheint entgegen der Ansicht des Antragstellers wenig plausibel. Weshalb im Übrigen eine Wiederholung zur Notenverbesserung ausgeschlossen sein sollte, wie der Antragsteller meint, erschließt sich dem Senat vor dem bereits dargestellten Hintergrund, dass von der Rückwirkung der Neuregelung nur solche Studierende betroffen sind, die vor dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens höchstens zwei Fachsemester des Masterstudienganges absolviert haben, nicht.
33
b. Die ergänzende Regelung zu § 23 PO in Anlage 6 PO n. F. ist in ihrer unechten Rückwirkung auf bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung in dem Studiengang immatrikulierte Studierende als verhältnismäßig anzusehen und verletzt nicht den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes.
34
Es besteht kein Anspruch darauf, dass die zu Beginn des Studiums geltende Prüfungsordnung bis zum Abschluss nicht mehr geändert wird, vielmehr darf eine Prüfungsordnung grundsätzlich mit Wirkung für die Zukunft geändert werden, wobei der zu beachtende Vertrauensschutz jedoch gebietet, dass ein Prüfling die Möglichkeit erhält, sich in zumutbarer Weise auf die Rechtsänderung einzurichten (HessVGH, Urt. v. 20.12.2016 - 10 C 1620/15.N -, juris Rn. 36; OVG NRW, Beschl. v. 31.3.2016 - 14 B 243/16 -, juris Rn. 6; OVG MV, Beschl. v. 1.8.2012 - 2 L 31/11 -, juris Rn. 12; Jeremias, in: Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 64 f.).
35
Objektiv erkennbarer legitimer Zweck der vom Ordnungsgeber verfolgten Neuregelung ist es in erster Linie, dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit für alle Studierenden des Masterstudienganges höhere Geltung zu verschaffen. Denn wie die Antragsgegnerin zu Recht ausführt, verschaffte die bisher geltende Regelung in § 23 Abs. 3 PO bei der Bildung der Gesamtnote nur denjenigen Studierenden einen Vorteil, die in einzelnen Modulen eine von ihrem sonstigen Leistungsbild deutlich nach unten abweichende Bewertung erhalten haben. Studierenden mit einem gleichbleibenden Leistungsbild profitieren von der Möglichkeit, einzelne Modulnoten unberücksichtigt zu lassen, bei der Gesamtnotenbildung dagegen nicht, wurden also im Vergleich zur erstgenannten Gruppe schlechter gestellt. Mit der Neuregelung ist demgegenüber eine Gleichbehandlung aller Prüflinge gewährleistet. Unschädlich ist entgegen der Ansicht des Antragstellers, dass dieser objektiv erkennbare Normzweck von der Antragsgegnerin nicht ausdrücklich in den die Beschlussfassungen der Studienkommission, des Fakultätsrates und des Präsidiums vorbereitenden Unterlagen festgehalten ist. In der Vorlage zur Sitzung des Fakultätsrates am 16. Mai 2018 findet sich insofern lediglich die Anmerkung (Drs. 117/18 zu TOP 4.7.1), dass mit der Neuregelung eine Angleichung an den Studiengang Fachmaster Physik erfolgt, was aber über den vom Normgeber subjektiv verfolgten Zweck im eigentlichen Sinne keine Aussage erkennen lässt. Hierauf kommt es letztlich aber nicht an, da sich die Frage, welchem Zweck der Erlass einer Rechtsnorm dient, nach dem im Wortlaut der Norm und dem Sinnzusammenhang zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Normgebers richtet. Nicht in erster Linie ausschlaggebend ist demgegenüber die subjektive Vorstellung der am Normsetzungsprozess beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder (vgl. BVerfG, Beschl. v. 3.11.1982 - 1 BvR 210/79 -, BVerfGE 62, 169, juris Rn. 48; Urt. v. 17.1.2017 - 2 BvB 1/13 -, BVerfGE 144,20, juris Rn. 555, m. w. N.). Soweit die Antragsgegnerin darüber hinaus ausführt, dass es sich bei § 23 Abs. 3 PO in erster Linie um eine Übergangsregelung im Zuge der Einführung der Bachelor- und Masterabschlüsse im Rahmen des Bologna-Prozesses gehandelt habe, welche der Verunsicherung der Studierenden im Zuge der Umstellung habe entgegenwirken sollen und nun aber nicht mehr erforderlich sei, mag dies ein weiteres die Neuregelung tragendes Ziel gewesen sein. Dies bedarf angesichts der erkennbar höheren Wahrung des Chancengleichheitsgrundsatzes zwischen den Studierenden unter der Geltung der Master-PO aber keiner vertieften Erörterung. Selbiges gilt für die von der Antragsgegnerin angeführte Erwägung, auch die bessere Vergleichbarkeit der Abschlussnoten mit denjenigen von anderen Hochschulen, die ähnlich gelagerte Masterstudiengänge anbieten würden, sei Ziel der Neuregelung gewesen.
36
Zur Erreichung des legitimen Zwecks der besseren Wahrung der prüfungsrechtlichen Chancengleichheit unter den Studierenden erscheint die Neuregelung ohne Weiteres geeignet und erforderlich. Die Anordnung der Geltung der ergänzenden Regelung zu § 23 in Anlage 6 PO n. F. ab dem Wintersemester 2018/2019 auch für diejenigen Studierenden, die bereits zuvor seit dem Wintersemester 2017/2018 in dem Studiengang immatrikuliert waren und schon einzelne Modulprüfungen in ihren ersten beiden Fachsemestern abgelegt haben, verstößt auch nicht gegen Vertrauensschutzgesichtspunkte, da diesen Studierenden in hinreichender Weise die Möglichkeit eingeräumt wird, sich auf die neuen Vorgaben der PO einzustellen.
37
Soweit der Antragsteller rügt, im Protokoll der Sitzung des Fakultätsrates vom 16. Mai 2018 seien keine Erwägungen dahingehend dokumentiert, dass sich der Ordnungsgeber überhaupt mit Fragen des Vertrauensschutzes befasst habe, ist dies unschädlich, da sich aus dem Norminhalt selber ergibt, dass die Antragsgegnerin den zu beachtenden Vertrauensschutz hinreichend beachtet hat.
38
Der in dem Wegfall der Möglichkeit, einzelne Modulprüfungsnoten bei der Bildung der Studiengesamtnote unberücksichtigt zu lassen, liegende Eingriff in die Berufsfreiheit der Studierenden gemäß Art. 12 Abs. 1 GG ist zunächst von verhältnismäßig geringer Intensität. Wie die Antragsgegnerin zu Recht ausführt, ermöglichte die bisher geltende Regelung nach § 23 Abs. 3 PO lediglich die Nichtberücksichtigung von zwei einzelnen Modulprüfungsnoten. Denn die Regelung ist auf Modulprüfungen aus dem Wahlpflicht- und Wahlbereich in einem Umfang von maximal 15 Kreditpunkten beschränkt gewesen. Sämtliche Module des Wahlpflichtbereiches im Masterstudium „Engineering Physics“ umfassen jedoch mindestens 6 Kreditpunkte, Module des Wahlbereiches werden nicht angeboten. Dies gilt sowohl nach den Modullisten in Ergänzung zu § 10 PO nach Anlage 6 PO i. d. F. vom 22. September 2016 als auch nach Anlage 6 PO i. d. F. vom 1. August 2018. Letztere regelt in der Ergänzung zu § 5 Abs. 4 PO ausdrücklich, dass das Studium allein Lehrveranstaltungen des Pflicht- und des Wahlpflichtbereiches umfasst. Effektiv konnten so lediglich Modulprüfungsnoten im Umfang von 12 Kreditpunkten (von 90 insgesamt in Modulprüfungen zu erbringenden Kreditpunkten) bei der Gesamtnotenermittlung gestrichen werden.
39
Darüber hinaus bestand für die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der zwölften Änderung der PO zum Wintersemester 2018/2019 im dritten Fachsemester befindlichen Studierenden des Masterstudiengangs „Engineering Physics“, die bereits Modulprüfungen im Wintersemester 2017/2018 und im Sommersemester 2018 bestanden hatten, nach der Freiversuchsregelung des § 15 Abs. 5 PO die Möglichkeit, innerhalb der Regelstudienzeit zum erstmöglichen Termin bestandene Klausuren auf Antrag zu wiederholen. Diese Regelung ermöglichte es allen von der unechten Rückwirkung der Neuregelung betroffenen Studierenden, ihre zuvor im ersten und zweiten Fachsemester abgelegten Modulprüfungen zur Notenverbesserung zu wiederholen. Der Einwand des Antragstellers, aufgrund der Fristenregelung in § 15 Abs. 5 PO sei eine nachträgliche Notenverbesserung nicht mehr möglich gewesen, erschließt sich - wie bereits ausgeführt - hinsichtlich der betroffenen, im Wintersemester 2018/2019 höchstens im dritten Fachsemester befindlichen Studierenden nicht. Vielmehr erhielten diese über § 15 Abs. 5 PO die Chance, ihre bei der Gesamtnotenbildung zu berücksichtigenden Einzelmodulprüfungsnoten unbesehen der Neuregelung zu verbessern. Zwar bedeutet dies, dass die entsprechenden Studierenden sich erneut auf die jeweilige Modulprüfung hätten vorbereiten und den jeweiligen Prüfungsstoff hätten aktualisieren müssen. Dies erscheint - auch unter Berücksichtigung dessen, dass nach der alten Regelung maximal zwei Modulprüfungen unberücksichtigt bleiben konnten - bis höchstens zum dritten Fachsemester aber noch als zumutbar, da in diesem Stadium die Studierenden regelmäßig noch Einzelmodulprüfungen ablegen und nach dem Studienverlaufsplan der Antragsgegnerin (abrufbar unter https://uol.de/fileadmin/user_upload/physik/stud/ep/ 19_09_12_Studienverlaufsplan_MSc_EP.pdf) erst im vierten Semester die Anfertigung der Masterabschlussarbeit vorgesehen ist. Zudem ist, wenn die Erstprüfung maximal ein Jahr zurückliegt, davon auszugehen, dass eine erneute Prüfungsvorbereitung zur Notenverbesserung in maximal zwei Modulprüfungen angesichts des regelmäßig jedenfalls noch in Grundzügen zu erwartenden Wissensstandes nicht die Zumutbarkeitsgrenze überschreitet. Eine Verlängerung der Studienzeit ist angesichts der ohnehin gegebenen Beschränkung auf maximal zwei Modulprüfungen des Wahlpflicht- und Wahlbereichs bei einem solchen Vorgehen entgegen der Befürchtung des Antragstellers nicht zu erwarten. Die Gefahr einer Notenverschlechterung besteht zudem gemäß der Regelung des § 15 Abs. 5 PO nicht, da dort geregelt ist, dass bei einem Notenverbesserungsversuch jeweils das bessere Ergebnis zählt (§ 15 Abs. 5 Satz 3 PO).
40
Soweit der Antragsteller meint, die Regelung des § 23 Abs. 3 PO habe im Sinne einer faktischen Freischussregelung eine verhaltenssteuernde Wirkung auf die Studierenden dahingehend gehabt, dass diese ermuntert werden sollten, ihre Modulprüfungen möglichst frühzeitig abzulegen, weshalb bei einer Abschaffung der Regelung dem Vertrauensschutz ein besonderes Gewicht beizumessen sei, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die vom Antragsteller unterstellte verhaltenssteuernde Wirkung der bisherigen Regelung kann nach Dafürhalten des Senats schon nicht festgestellt werden, da die Regelung in § 23 Abs. 3 PO - im Gegensatz zu der Freiversuchsregelung in § 15 Abs. 5 PO - gerade nicht voraussetzt, dass eine nicht zu berücksichtigende Modulprüfung zum erstmöglichen Termin absolviert worden ist. Vielmehr konnten alle Studierenden mit entsprechenden Notenausreißern in einzelnen Modulprüfungsnoten von § 23 Abs. 3 PO profitieren, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt sie die jeweilige Modulprüfung abgelegt hatten.
41
Auch aus dem vom Antragsteller angeführten Gesichtspunkt, Studierende hätten in dem Bewusstsein, dass sie einzelne schlechte Noten später streichen konnten, auf eine Prüfungsanfechtung hinsichtlich einzelner Module verzichtet, was ebenfalls einen besonderen Vertrauensschutz begründet, ergibt sich nichts Anderes. Dies folgt schon aus dem bereits angeführten Gesichtspunkt, dass Studierende erst nach Abschluss aller Modulprüfungen wissen konnten, bei welchen erzielten Noten es sich um die schlechtesten handelt. Eine Festlegung, dass zu einer bestimmten erzielten Modulprüfungsnote zu Ende des Studiums eine Nichtberücksichtigung bei der Gesamtnotenbildung beantragt werden sollte, konnte daher nach Abschluss von zwei Semestern sinnvollerweise noch nicht erfolgen.
42
Schließlich besteht für die von der unechten Rückwirkung betroffenen Studierenden, die sich im Wintersemester 2018/2019 im dritten Fachsemester befanden, keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung im Vergleich zu Studierenden mindestens des vierten Fachsemesters, welche nach der Übergangsregelung gemäß Abschnitt II Nr. 2 der zwölften Änderung der PO von der Neuregelung ausgenommen worden. Denn für diejenigen Studierenden, die sich im Wintersemester 2018/2019 bereits im vierten Fachsemester befanden, bestand aufgrund der in § 15 Abs. 5 PO vorgesehenen Jahresfrist nicht mehr die Möglichkeit, alle vorher abgelegten Modulprüfungen zu wiederholen. Zum anderen ist nach dem Studienverlaufsplan der Antragsgegnerin im vierten Semester regelmäßig bereits die Anfertigung der Masterabschlussarbeit vorgesehen. In diesem Fall erscheint es nicht mehr zumutbar, eine schon begonnene Masterabschlussarbeit zu unterbrechen, um noch einzelne Modulprüfungen nachzuholen. Ein sachlicher Grund für die getroffene Differenzierung liegt daher vor.
43
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
44
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
45
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 13. September 2019 in der Fassung vom 21. Oktober 2019 der Bescheid vom 24. Oktober 2018 sowie der Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2019 aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über den (Teil-)Widerruf eines Zuwendungsbescheids für Wiederaufforstungen im Körperschaftswald.
2
Im Februar 2009 beantragte die Klägerin unter Mitwirkung des Forstamts Rennerod die Gewährung von Zuwendungen für die Anlage von Wald (Wiederaufforstungen) nach dem Orkan „Kyrill“ unter Zugrundelegung der Fördergrundsätze-Forst 2007 – FGF – und der Verwaltungsvorschrift zum Vollzug der Landeshaushaltsordnung – VV - LHO –.
3
Darauf erteilte ihr der Beklagte am 25. Februar 2009 eine Vorabgenehmigung zur Durchführung der Maßnahmen und wies gleichzeitig darauf hin, dass in ihrem Fall aufgrund hoher Wildbestände von einer Gefährdung des Zuwendungsziels bei der geplanten Wiederaufforstung durch Wildschäden ausgegangen werde. Nach Ziffer 5.8.1 FGF drohe eine Rückforderung einer gewährten Zuwendung, sofern eine aufgeforstete Fläche nicht so geschützt und gepflegt werde, dass der Bestand gesichert sei. Durch entsprechende Schutzmaßnahmen wie Bau, Kontrolle und Unterhaltung eines wilddichten Zaunes, ggf. in Verbindung mit Hinwirken auf geringere Wilddichten, könne aber das Zuwendungsziel erreicht werden.
4
Nach Vorlage des Verwendungsnachweises bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 6. August 2009 als erste Förderrate Zuwendungen aus Mitteln des Bundes und des Landes in Höhe von 13.767,00 € für den Kulturtyp Laubkultur auf Flächen von insgesamt 8,72 Hektar für mehrere Förderprojekte. Der Betrag wurde in der Folge auch ausgezahlt. In Ziffer 1 der Nebenbestimmungen zum Bescheid wurden u.a. die Angaben in dem Antrag der Klägerin, die FGF und die VV-LHO zu § 44, insbesondere die Allgemeinen Nebenbestimmungen für Zuwendungen zur Projektförderung – ANBest-P – und für kommunale Gebietskörperschaften – ANBest-K –) zum Gegenstand der Bewilligung gemacht. Weiter heißt es unter Ziffer 6.6 des Bewilligungsbescheids:
5
Sonstige Bestimmungen:
6
„Wird eine aufgeforstete Fläche gerodet oder nicht so geschützt und gepflegt, dass der Bestand gesichert ist, können innerhalb von zehn Jahren nach Auszahlung die erhaltenen Zuwendungen ganz oder teilweise zurückgefordert werden.“
7
Im Oktober 2017 überprüfte das Forstamt Rennerod von Amts wegen den Zustand der Kulturflächen und stellte u.a. infolge von Wildverbissschäden erhebliche Störungen im Höhenwachstum bis hin zu totalen Ausfällen der geförderten Ausgangspflanzen fest. Es wurde daraufhin vermerkt, dass das Förderziel einer gesicherten Laubholzkultur hinsichtlich Pflanzenzahl, -größe, -dichte und -verteilung auf Teilflächen nicht erreicht worden sei.
8
In mehreren Aufnahmebögen zur Prüfung „gesicherte Kultur“ wurde zu „Zustand und Ursachen (Verbiß, Konkurrenzsituation, Ausfälle usw.)“ bzw. „Bewertung“ sinngemäß vermerkt, es sei trotz intensiver Pflege, Schutzmaßnahmen und Nachbesserung zu Ausfällen und nicht gelungenen Flächen gekommen.
9
Das Forstamt Rennerod übersandte die Aufnahmebögen der Zentralstelle der Forstverwaltung und teilte mit, in insgesamt zehn Projekten seien die Kulturen nicht gesichert.
10
Nachfolgend bewilligte der Beklagte der Klägerin auf Antrag die zweite Rate der Zuwendung gemäß Ziffer 3.2.9 FGF für eine Gesamtaufforstungsfläche von 1,85 Hektar.
11
Mit Schreiben vom 6. Juli 2018 hörte der Beklagte die Klägerin zu dem beabsichtigten teilweisen Widerruf und der anteiligen Rückforderung der gewährten Zuwendung an. Nach den Feststellungen des Forstamts Rennerod sei der Verwendungszweck mit dem Ziel einer gesicherten Kultur nur auf Teilflächen von 0,45 Hektar erfüllt. Es sei eine Rückforderung für eine Fläche von 3,6319 Hektar in Höhe von 6.061,00 € beabsichtigt, für eine Fläche von 3,238 Hektar – auf der die Kultursicherung auch nicht erreicht sei – solle wegen positiver Prognose von einer Rückforderung abgesehen werden.
12
Die Klägerin machte geltend, die beabsichtigte Rückforderung sei rechtswidrig. Der Zuwendungsbescheid enthalte keine ausdrückliche Auflage zur Sicherung der Kultur. Insbesondere sei die Vorgabe, die Zweckerreichung erfordere eine Quote von 75 % der Ausgangspflanzen mit einer Höhe von 1,50 Meter, nicht Bestandteil des Zuwendungsbescheids geworden. Ferner fehlten detaillierte Informationen zum konkreten jeweiligen Pflanzenbestand. Der Förderzweck sei nicht verfehlt.
13
Mit Bescheid vom 24. Oktober 2018 widerrief der Beklagte den Zuwendungsbescheid vom 6. August 2009 in Höhe eines Teilbetrages von 6.061,00 € mit Wirkung für die Vergangenheit (Ziffer 1) und forderte die gewährte Zuwendung in dieser Höhe zurück (Ziffer 2). Dieser Betrag sei bis zum 26. November 2018 bei der Landesoberkasse Rheinland-Pfalz einzuzahlen (Ziffer 3) und mit fünf Prozent über dem Basiszinssatz zu verzinsen (Ziffer 4).
14
Zur Begründung führte der Beklagte aus, nach Abwägung des eingeräumten Ermessens werde der Bewilligungsbescheid gestützt auf § 49 Abs. 3 Nr. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG – i.V.m Nr. 8.2.3 (Teil I) der VV-LHO zu § 44 mit Wirkung für die Vergangenheit widerrufen. Die Geldleistung sei nicht zweckgerecht verwendet worden. Nach den Nebenbestimmungen des Bescheids seien u.a. die FGF und die VV zu § 44 LHO zum Gegenstand der Bewilligung geworden, insbesondere die ANBest-K. Letztere enthielten Vorgaben zum Nachweis und der Verwendung von Zuwendungen zur Projektförderung. Gemäß FGF könne man Zuwendungen u.a. nur bei einer Mindestpflanzenzahl je Hektar Aufforstungsfläche erhalten. Ziel der Förderung sei die Schaffung von arten- und strukturreichen Wirtschaftswäldern mit hohen Vorratsdichten, einer hohen Kohlenstoffspeicherung und hohen Holznutzungspotentialen gemäß den Grundsätzen des § 5 Landeswaldgesetz – LWaldG –. Die Voraussetzungen einer gesicherten Kultur ergäben sich aus den allgemein anerkannten Maßstäben der ordnungsgemäßen Forstwirtschaft gemäß § 5 LWaldG, den FGF und dem Schreiben der Zentralstelle Forstverwaltung vom 20. April 2007 – Jahresrundschreiben –.
15
Ein Anteil von insgesamt 6,87 Hektar der geförderten Fläche sei als nicht gesichert anzusehen; für eine Teilfläche davon (3,238 Hektar) sei im Hinblick auf die noch vorhandenen Pflanzen eine günstige Prognose zu stellen, daher werde auf eine Rückforderung verzichtet. Auf der übrigen nicht gesicherten Fläche (3,6319 Hektar) sei es u.a. durch Wildverbissschäden zu erheblichen Wachstumsstörungen und Totalausfällen gekommen. Auf die Gefahr von Wildschäden sei die Klägerin zuvor ausdrücklich hingewiesen worden. Das auszuübende Ermessen sei im Hinblick auf die haushaltsrechtlichen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit intendiert, außergewöhnliche Umstände lägen nicht vor. Die Möglichkeit des Widerrufs ergebe sich aus Ziffer 6.6 des Bewilligungsbescheids. Die Klägerin als Antragstellerin sei allein für die förderkonforme Ausführung der Maßnahmen verantwortlich.
16
Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2019 zurück. Der teilweise Widerruf und die teilweise Rückforderung wegen Zweckverfehlung seien rechtmäßig. Der Förderzweck ergebe sich aus den in den Bescheid einbezogenen FGF in Verbindung mit dem Jahresrundschreiben nebst Anlage, in der wiederum die zu erreichenden Quoten und Wuchshöhen genannt seien. Diese Vorgaben seien auf Teilflächen nicht erfüllt, so dass der Förderzweck dort nicht erreicht worden sei. Ausweislich der Unterlagen habe das zuständige Forstamt Rennerod jedes Aufforstungsobjekt anhand von vorgeschriebenen Aufnahmebögen im Wesentlichen durch Soll-Ist-Abgleich im gutachterlichen Verfahren, in der Regel durch Aufnahme und Begutachtung von Probeflächen, bewertet. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich, das Ermessen sei intendiert (Ziffer 8.2.3 VV- LHO zu § 44). Die Erstattungspflicht folge aus den ebenfalls zum Gegenstand des Zuwendungsbescheids gemachten Ziffern 9.1 und 9.2.2 ANBest-K.
17
Die Klägerin hat daraufhin Klage erhoben und diese ergänzend zum früheren Vorbringen wie folgt begründet: Der vom Beklagten angenommene Förderzweck, der eine Quote von 75 % der Ausgangspflanzen mit einer Höhe von 1,50 Meter vorgebe, ergebe sich nicht als Primärförderzweck aus dem Zuwendungsbescheid; die Vorgabe sei willkürlich. Soweit in Ziffer 6.6 des Zuwendungsbescheids auf die Sicherung des Bestands abgestellt werde, sei dies als Förderzweck nicht hinreichend bestimmt und lediglich als Klarstellung ohne konkreten Regelungsgehalt anzusehen. Ziffer 3.2.9 FGF betreffe nur die Auszahlungsbedingungen der zweiten Rate.
18
Die Klägerin hat beantragt,
19
den Bescheid vom 26. Oktober 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Februar 2019 aufzuheben.
20
Der Beklagte hat beantragt,
21
die Klage abzuweisen.
22
Er hat angeführt, zwar sei primärer Förderzweck nicht die Sicherung der Kultur, sondern die Wiederaufforstung mit standortgerechten Baumarten mit dem Ziel, die Stabilität und Leistungsfähigkeit des Waldes zu erhöhen. Nur bei einer gesicherten Kultur aber sei dieser Förderzweck zu erreichen. Selbstverständlich sei auch der Erhalt des Bestandes ein wesentlicher Förderzweck. Von einem stabilen und leistungsfähigen Wald könne ausgegangen werden, wenn im achten Jahr nach der Zuwendung 75% der Pflanzen noch vorhanden seien und eine Höhe von 1,50 Meter aufwiesen, also dem Rehwildäser entwachsen seien. Die Ursache für den teilweisen Misserfolg sei unerheblich, denn der Zuwendungsempfänger habe die üblichen Risiken der Forstwirtschaft zu tragen. Es liege auch kein Ermessensfehler vor, denn in Fällen der Zweckverfehlung bei der Subventionsvergabe gingen die finanziellen Interessen des Staates in der Regel den individuellen Interessen des Empfängers am Erhalt der Förderung vor.
23
Mit Urteil vom 13. September 2019 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen.
24
Zur Begründung hat es im Wesentlichen angeführt, Rechtsgrundlage für den Widerruf sei § 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz – LVwVfG – i.V.m. § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG. Die Klägerin habe die Zuwendung nicht im vollen Umfang zweckgemäß verwendet. Das Förderziel der Aufforstungsmaßnahme, wonach nach spätestens acht Jahren noch mindestens 75% der Anpflanzungen mit einer Wuchshöhe von 1,50 Meter vorhanden sein müssten, sei als Bestandteil des Bewilligungsbescheides primärer Zweck der Förderung. Zur Auslegung des Bescheides sei nicht nur Ziffer 6.1 der Nebenbestimmungen heranzuziehen, sondern auch die in Bezug genommenen FGF und das im Betreff genannte Jahresrundschreiben. In der Zusammenschau von Ziffer 3.2.1, 3.2.8 und 3.2.9 FGF und der Anlage 1 zum Jahresrundschreiben sowie der Ziffer 6.6 des Bewilligungsbescheids ergebe sich die Kultursicherung als Förderzweck. Dieses Ziel sei auf den betreffenden Flächen nicht erreicht worden. Ermessensfehler lägen nicht vor, das Ermessen sei auf Null reduziert gewesen. Die Jahresfrist des §§ 49 Abs. 3 S. 2, 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG sei gewahrt. Die Rückzahlungsanordnung einschließlich Zinsen finde ihre Grundlage in § 1 LVwVfG i.V.m. § 49a Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 S. 1 VwVfG.
25
Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung hält die Klägerin daran fest, es fehle an einer Zweckverfehlung. Die Zuwendung sei vollständig für die Wiederaufforstung nach abiotischen Schäden und damit für den vorgesehenen Zweck verwandt worden. Das Gericht habe fehlerhaft den Zustand der gesicherten Kultur als Primärzweck angesehen. Nach dem Wortlaut von Ziffer 3.2.9 FGF sei das Vorliegen einer gesicherten Kultur (nur) Auszahlungsbedingung für die zweite Förderrate und nicht Rechtsgrund für das Behaltendürfen der ersten Rate. Von der Mehrheit der Zwecke sei im Wege der Auslegung aus der Sicht des Empfängers der nächstliegende im Verhalten des Empfängers angestrebte Zweck als Zuwendungszweck zu bestimmen. Wegen des möglichen Widerrufs seien hohe Anforderungen an die Bestimmtheit des Bescheides zu stellen; Unklarheiten gingen zu Lasten der Behörde. Hilfsweise macht sie geltend, der Widerruf sei ermessensfehlerhaft, da die Ursache der Zweckverfehlung – wenn überhaupt – in der Risikosphäre der Forstbehörden liege. Die Planung und Umsetzung der Maßnahme habe nämlich dem Forstamt Rennerod bzw. der Revierleitung, die durch staatliche Bedienstete ausgeübt werde, oblegen. Sie, die Klägerin, habe kein Weisungs- oder Mitspracherecht gehabt und könne keine Angaben zu Schutz- und Pflegemaßnahmen machen.
26
Die Klägerin beantragt,
27
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 13. September 2019 in der berichtigten Fassung vom 21. Oktober 2019 den Bescheid vom 24. Oktober 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Februar 2019 aufzuheben.
28
Der Beklagte beantragt,
29
die Berufung zurückzuweisen.
30
Er knüpft an seine bisherigen Ausführungen an und führt aus, Förderzweck sei nicht die reine Anpflanzung, vielmehr sollte darüber hinaus die Kultursicherung mit den entsprechenden Wuchsergebnissen gegeben sein. Dies ergebe sich im Wege der Auslegung aus dem Förderbescheid. Ziffer 3.2.9 FGF sei im Zusammenhang mit Ziffern 3.2.8 und 3.2.12 FGF sowie Ziffer 6.6. der Nebenbestimmungen zu lesen. Aus der Anlage zum Jahresrundschreiben ergebe sich, wann von einer Kultursicherung auszugehen sei. Die stichprobenartige Überprüfung habe ergeben, dass in neun Abteilungen die Kultur nicht gesichert sei; dies wiederum führe dazu, dass der Zuwendungsweck – eine stabile und leistungsfähige Waldfläche – nicht erreicht werden würde. Der Zuwendungsempfänger habe den Erfolg der Maßnahme sicherzustellen. Die staatliche Beförsterung sei unerheblich, im Übrigen seien – dies ergebe sich aus der Auskunft des Forstamts – wegen der hohen Wildbestände Schutzmaßnahmen durchaus umgesetzt worden. Ursache für den teilweisen Misserfolg seien biotische und abiotische Schäden, Wildverbiss spiele eine besondere Rolle.
31
Der Senat hat eine amtliche Auskunft des Forstamtes Rennerod zur Durchführung der Wiederaufforstungsmaßnahmen und der Schutz- und Pflegemaßnahmen eingeholt, die unter dem 8. Juli 2020 erteilt wurde.
32
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakte verwiesen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe
33
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet; das Verwaltungsgericht hätte ihrer zulässigen Anfechtungsklage stattgeben müssen.
34
Der Bescheid vom 24.Oktober 2018 und der Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2019 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Sie waren nach § 113 Abs. 1 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – aufzuheben.
35
Der Beklagte hat den Zuwendungsbescheid vom 6. August 2009 zu Unrecht teilweise widerrufen. Damit fehlt es auch an einer Rechtsgrundlage für die im streitigen Bescheid gleichzeitig angeordnete anteilige Rückforderung der ausgezahlten Zuwendung.
36
I. Der Widerruf des Zuwendungsbescheids findet seine Ermächtigung nicht in § 1 LVwVfG i.V.m. § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG. Danach kann u.a. ein rechtmäßiger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks gewährt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit widerrufen werden, wenn die Leistung nicht oder nicht mehr für den bestimmten Zweck verwendet wird.
37
Zwar liegt hier ein rechtmäßiger Verwaltungsakt vor, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks gewährt (1.); jedoch ist keine zweckwidrige Verwendung der Geldleistung erfolgt (2.).
38
1. Der Zuwendungsbescheid vom 6. August 2009 über den Zuschuss von 13.767,00 € war ein rechtmäßiger Verwaltungsakt, der eine einmalige Geldleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks gewährt. Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit des Bescheides sind nicht geltend gemacht oder sonst ersichtlich. Die Zuwendung der Fördersumme war auch zweckgebunden. Laut Bescheid durfte der Zuschuss nämlich nur für die in der Anlage zum Bescheid wie auch im Förderantrag aufgeführten Pflanzmaßnahmen verwendet werden.
39
2. Es fehlt indes an einem Widerrufsgrund, denn die Klägerin hat die ihr zugewendeten Fördermittel nicht zweckwidrig verwendet.
40
Der in dem Bescheid bestimmte Zweck im Sinne des § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG ist hier – anders als der Beklagte annimmt – nicht die Sicherung der geförderten Kultur, welche nach den Erläuterungen in der Anlage zum Jahresrundschreiben wiederum voraussetzt, dass nach acht Jahren noch 75% der angepflanzten Forstpflanzen in einer Wuchshöhe von 1,50 Metern vorhanden sind; diese Sicherung ist lediglich eine weitere erwünschte Folge der Zuwendung. Als primären Zweck entnimmt der Senat dem Zuwendungsbescheid indes die unmittelbare Durchführung der Maßnahme, also das Anpflanzen in der festgelegten Art und Anzahl und nachfolgend die Durchführung der ordnungsgemäßen Schutz- und Pflegemaßnahmen (dazu a.). Diesen Zweck hat die Klägerin bei der Verwendung der Fördersumme jedoch nicht verfehlt (dazu b.).
41
a) Im Grundansatz gilt bei der Ermittlung des im Zuwendungsbescheids bestimmten Zwecks, dass zu unterscheiden ist zwischen dem (primären) Subventionszweck, der das durch die Gewährung stimulierte Verhalten des Empfängers bezeichnet, und dem (sekundären) Subventionsziel (vgl. Ziekow, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 5. Aufl. 2020, § 6 Rn. 12; vgl. auch OVG RP, Urteil vom 16. April 1980 – 2 A 21/79 –, NJW 1981, 882). Zuwendungen als Steuerungsinstrument sollen Begünstigte nach ihrer Grundausrichtung zu einem bestimmten Verhalten veranlassen, das den dahinterliegenden politischen Zweck der Zuwendung fördert (vgl. Müller/Richter/Ziekow, Handbuch Zuwendungsrecht, 2017, Teil A Rn. 7).
42
aa) Von der Mehrheit der mit der Subventionsvergabe verfolgten Intentionen ist in § 49 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG aber (nur) der nächstliegende, mit der Zuwendung im Verhalten des Empfängers angestrebte Zweck angesprochen, der sich allein als Verwendungsrichtmaß eignet (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 49 Rn. 101; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 11. Februar 1983 – 7 C 70.80 –, juris Rn. 18 - zu einem Widerrufsvorbehalt im Falle nicht zweckentsprechender Verwendung: abzustellen auf den unmittelbaren Zweck der Subvention). Diese Anknüpfung an das unmittelbar zu stimulierende Verhalten des Empfängers erfordert auch bereits der Wortlaut des § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG, der auf die zweckentsprechende Verwendung der Geldleistung abstellt und damit nach allgemeinem Sprachgebrauch – vereinfacht formuliert – auf das Ausgeben der Mittel abzielt. Dem Adressaten obliegt es daher regelmäßig nur, den unmittelbar durch sein Verhalten erreichbaren Primärzweck zu verwirklichen, während die seinem Einfluss entzogenen weiteren Zuwendungsziele des Leistenden im Zweifel schon nicht an der in dem Verwaltungsakt bestimmten Zweckbindung teilhaben (Suerbaum, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 49 Rn. 133). Nur ein fassbares und überschaubares Verhalten ist zudem überhaupt geeignet, der für den Zuschuss geltenden Zweckbindung Inhalt und Konturen zu geben. Durch die Zweckbindung wird nämlich eine rechtliche Obliegenheit mit allen Konsequenzen, die nach den Nebenbestimmungen und der Verwaltungsvorschrift bei Nichterfüllung vorgesehen sind, begründet. Deshalb muss das dem Subventionsempfänger obliegende Verhalten klar und eindeutig fassbar sein (vgl. zu alledem OVG RP a.a.O.).
43
bb) In Anwendung dieser Grundsätze ist der Zuwendungsbescheid so zu verstehen, dass das Anpflanzen mit anschließenden ordnungsgemäßen Schutz- und Pflegemaßnahmen als primärer Zuwendungszweck festgelegt ist, nicht aber auch der angestrebte Erfolg einer gesicherten Kultur.
44
Das mit der Gewährung der Zuwendung angestrebte unmittelbare Empfängerverhalten im Sinne der obigen Definition sind hier gemäß Ziffer 2 des Bewilligungsbescheids das Anpflanzen der Bäume in der im Zuwendungsantrag aufgeführten Anzahl und Art auf den angegebenen Flächen, und zwar unter Beachtung der Vorgaben in Ziffer 6.2 bis 6.4 des Bewilligungsbescheids. Ferner sind auch die anschließenden ordnungsgemäßen Pflege- und Schutzmaßnahmen vom Primärzweck umfasst.
45
Das zwangsläufige Erfordernis von Pflege- und Schutzmaßnahmen folgt bereits aus Ziffer 3.2.12 FGF. Danach wird nämlich die Pflanzenpauschale u.a. als Zuwendung für Schutz und Pflege der Kultur gewährt. Außerdem ergibt sich das Erfordernis von Schutz und Pflege aus Ziffer 6.6 des Bescheids („Wird eine aufgeforstete Fläche […] nicht so geschützt und gepflegt, dass der Bestand gesichert ist, können […] die erhaltenen Zuwendungen […] zurückgefordert werden.“) und nicht zuletzt auch daraus, dass anderenfalls die Aufforstung vorhersehbar mehr oder weniger erfolglos im Hinblick auf das weitere Zuwendungsziel der Erhöhung der Stabilität und Leistungsfähigkeit des Waldes (vgl. Ziffer 3.2.1 FGF) bliebe. Zudem ergibt sich aus dem Schreiben des Beklagten vom 25. Februar 2009 zur absehbaren Gefahr des Wildverbisses hinreichend klar, dass Pflege- und Schutzmaßnahmen durchzuführen sind.
46
Demgegenüber ist die Festlegung eines Wuchsergebnisses nach obiger Definition wegen der naturgemäß gegebenen Unwägbarkeiten der biotischen und abiotischen Umstände schon grundsätzlich nicht geeignet, an der (Verwendungs- )Zweckbestimmung i.S.d. § 49 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG teilzuhaben. Das Erreichen des Zustands der Kultursicherung ist vielmehr weiteres Zuwendungsziel und nach Ziffer 3.2.9 FGF Voraussetzung für die Bewilligung der zweiten Rate der Förderung (siehe hierzu unter II.2.a). Im Übrigen hat auch der Beklagte selbst erstinstanzlich in seiner Klageerwiderung vom 22. März 2019 angeführt, dass die Sicherung der Kultur nicht als primärer Förderzweck anzusehen sei, sondern nur als weiterer Förderungszweck, so dass diese Einordnung zwischen den Beteiligten schon gar nicht im Streit steht.
47
cc) Selbst wenn man aber abweichend von der hier vertretenen Auffassung davon ausginge, dass vom Zweck im Sinne des § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG über den Primärzweck hinaus auch das Erreichen entfernterer Zuwendungsziele erfasst sein kann (vgl. in diesem Sinn jedenfalls grundsätzlich OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20. Januar 2011 – 1 L 77/10 –, juris Rn. 8), würde dies hier nicht dazu führen, dass auch die Kultursicherung als primärer Zuwendungszweck anzusehen wäre. Denn dies würde jedenfalls voraussetzen, dass dieser Zuwendungszweck in dem Bescheid hinreichend genau beschrieben wird. Wenn nämlich – wie hier – der Zuwendungsempfänger eine Art Garantiehaftung übernehmen soll, durch die das Äquivalenzverhältnis zwischen Zuwendungen und Aufwand massiv verändert wird, ist dies in dem Bescheid hinreichend deutlich und bestimmt zum Ausdruck zu bringen (BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1996 – 3 C 18.94 –, juris Rn. 20f.). Denn der Verfassungsgrundsatz der Rechtssicherheit verlangt größtmögliche Bestimmtheit bei der in den Zuwendungsbescheid aufzunehmenden Zweckbestimmung (vgl. insgesamt BayVGH, Urteil vom 22. Mai 1997 – 22 B 96.3646 –, juris Rn. 18) und Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde (BVerwG, Urteil vom 11. Februar 1983 a.a.O.). Diese Bestimmtheitsanforderungen sind hier jedenfalls nicht erfüllt, da aus Sicht der Klägerin als Bescheidempfängerin nicht hinreichend deutlich aus dem Bescheid hervorgeht, dass sie auch bei ordnungsgemäßer Durchführung von Pflege und Schutz für den Nichteintritt des Erfolgs der Kultursicherung einstehen soll (siehe hierzu unter II.2.a).
48
b) Der in obigem Sinne auszulegende Zuwendungszweck der Anpflanzung in der vorgegebenen Art und Anzahl sowie nachfolgend ordnungsgemäßen Pflege- und Schutzmaßnahmen ist nicht verfehlt worden.
49
Unstreitig hat die Klägerin die Anpflanzungen in der erforderlichen Art und Anzahl und im Anschluss ordnungsgemäße Pflege- und Schutzmaßnahmen auf den Flächen durchgeführt. Der Beklagte hat hierauf in der Berufungserwiderung ausdrücklich selbst hingewiesen und der Vertreter des Forstamts Rennerod hat in der mündlichen Verhandlung über akribische Pflegemaßnahmen auf den geförderten Flächen berichtet. Die Durchführung von Pflege- und Schutzmaßnahmen entnimmt der Senat darüber hinaus den entsprechenden Eintragungen in den Aufnahmebögen, im Einzelnen für die Projekte Gemeinde Bölsberg Abt. 4a1 (Bl. 120 VA), Gemeinde Stockhausen Abt. 4b1 (Bl. 129 VA), Gemeinde Dreisbach Abt. 2a (Bl. 145 VA), Gemeinde Dreisbach Abt. 5a (Bl. 170 VA), Gemeinde Dreisbach Abt. 4a (Bl. 160 VA), Gemeinde Dreisbach Abt. 6c (Bl. 162 VA) und Gemeinde Nistertal Abt. 1a (Bl. 54 VA). Schließlich sind auch in der Auskunft des Forstamts Rennerod vom 8. Juli 2020 jährliche Pflege- und Schutzmaßnahmen – in Form von Zaunbau und Einzelschutz – zur Verhinderung von Wildschäden sowie Nachpflanzungen bestätigt worden. Soweit der Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung – in Übereinstimmung mit der Auskunft des Forstamts Rennerod – angeführt hat, in einem Fall – laut Auskunft in der Gemeinde Dreisbach – habe man auf Drängen des Jagdpächters den Schutzzaun nicht angebracht, ergibt sich daraus nichts Abweichendes. Der Beklagte hat schon nicht konkret angegeben, um welche Pflanzfläche es sich handelt und wie im Einzelnen die Entscheidungsfindung hierzu verlaufen ist. Zu Letzterem bedurfte es schon deshalb weiterer Darlegungen, weil die forstfachliche Leitung für alle geförderten Flächen vom Forstamt ausgeübt wird (§ 27 Abs. 1 LWaldG) und die Revierleitung (§ 28 Abs. 1 LWaldG) durch staatliche Bedienstete durchgeführt wurde. Dass ein Zusammenhang zwischen unzureichenden Pflege- und Schutzmaßnahmen und dem Nichterreichen des Zustands der Kultursicherung bestehe oder die Pflege- und Schutzmaßnahmen nicht ordnungsgemäß gewesen seien, ist nicht hinreichend dargelegt und auch sonst nicht ersichtlich, zumal sich die Zentralstelle der Forstverwaltung auch nicht zum Erlass eines Auflagenbescheids veranlasst sah, wie es allerdings in den Erläuterungen der Bewilligungsbehörde zu den FGF (Anlage zum Jahresrundschreiben, Ziffer 3.2.9) in problematischen Fällen vorgesehen ist. Der Beklagte hat zur Kausalität in der Klageerwiderung vom 22. März 2019 dementsprechend auch ausgeführt, es spiele keine Rolle, auf welche Ursache es zurückzuführen sei, dass keine stabile und leistungsfähige Waldfläche erreicht worden sei. Laut der Auskunft des Forstamtes sind auch die Pflegemaßnahmen entsprechend der Wuchsentwicklung der Zielbaumarten unter Berücksichtigung der Konkurrenzvegetation erfolgt. Schließlich ist auch nicht etwa vorgetragen oder sonst ersichtlich, dass die Anpflanzungen in einer von vornherein nicht erfolgversprechenden Art und Weise vorgenommen worden wären. Vielmehr ist laut der Auskunft die Pflanzenauswahl unter Berücksichtigung des Standorts erfolgt.
50
Eine zum Widerruf berechtigende Zweckverfehlung ist nach alledem nicht festzustellen, so dass der Beklagte den Zuwendungsbescheid nicht nach § 1 LVwVfG i.V.m. § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG widerrufen konnte.
51
II. Der von dem Beklagten (nur) auf § 49 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG gestützte Widerruf des Zuwendungsbescheids ist auch nicht – mit Wirkung nur für die Zukunft – nach § 1 LVwVfG i.V.m. § 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VwVfG gerechtfertigt (vgl. zum Erfordernis dieser Prüfung und zu einer Umdeutung in solchen Fällen BVerwG, Urteil vom 19. September 2018 – 8 C 16.17 –, juris Rn. 23ff.). Danach kann ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, wenn der Widerruf im Verwaltungsakt vorbehalten ist.
52
1. Die Regelung in Ziffer 6.6 des Zuwendungsbescheids und wortgleich in Ziffer 5.8.1 FGF zur Rückforderung der erhaltenen Zuwendungen enthält zwar einen Widerrufsvorbehalt. Der Formulierung ist klar zu entnehmen, dass der Beklagte die Befugnis haben soll, den Zuwendungsbescheid später wieder aufzuheben (zur Definition des Widerrufsvorbehalts: Störmer, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, § 36 VwVfG Rn. 21).
53
2. Es fehlt jedoch an einem Widerrufsgrund, denn die Voraussetzungen, unter denen sich der Beklagte den Widerruf des Zuwendungsbescheids vorbehalten hat, liegen nicht vor.
54
a) Die vorzunehmende Auslegung der Ziffer 6.6 des Zuwendungsbescheids bzw. Ziffer 5.8.1 FGF ergibt, dass ein Widerruf nur möglich sein soll, wenn der Zuwendungsempfänger die Schutz- und Pflegemaßnahmen nicht ordnungsgemäß durchführt.
55
Der Regelungsgehalt eines Verwaltungsakts ist nach ständiger Rechtsprechung entsprechend der §§ 133, 157 BGB durch Auslegung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung des Empfängerhorizontes und der speziellen Sachkunde des adressierten Fachkreises zu ermitteln (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2017 – 8 C 18.16 –, juris Rn. 14 m.w.N.). Dabei ist der erklärte Wille maßgebend, wie ihn der Empfänger bei objektiver Würdigung verstehen konnte. Bei der Ermittlung dieses objektiven Erklärungswertes sind alle dem Empfänger bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umstände heranzuziehen (vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Oktober 2013 – 8 C 21.12 –, juris Rn. 14 und vom 26. Oktober 2017, a.a.O.); Unklarheiten gehen dabei zu Lasten der Behörde (BVerwG, Urteil vom 11. Februar 1983, a.a.O. Rn. 15 – zur Auslegung eines Widerrufsvorbehalts). Wie oben bereits ausgeführt, gilt im Rahmen der Auslegung schließlich auch, dass vor allem die Übernahme einer Garantiehaftung, durch die das Äquivalenzverhältnis zwischen Zuwendungen und Aufwand massiv verändert wird, in dem Bescheid hinreichend deutlich und bestimmt zum Ausdruck zu bringen ist (BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1996, a.a.O.).
56
Bei Beachtung dieser Auslegungsregeln ergibt sich hier, dass der Beklagte sich den Widerruf und die Rückforderung für den Fall vorbehalten hat, dass der Zuwendungsempfänger – wie hier nicht – die Kultur nach dem Anpflanzen nicht ordnungsgemäß schützt und pflegt, und nicht etwa auch für Fälle, in denen zwar Pflege und Schutz gewährleistet sind, das Forstamt aber trotzdem im Rahmen der Überprüfung die Kultur nicht als gesichert ansieht bzw. die angestrebten Wuchsziele nicht erreicht werden.
57
Weder aus dem Bescheid selbst, noch aus den FGF und dem im Betreff des Bescheids erwähnten Jahresrundschreiben nebst der zugehörigen Anlage mit den Erläuterungen zu den FGF ergibt sich hinreichend klar, dass der Zuwendungsempfänger im Falle des Nichteintretens der Sicherung der Kultur auch bei Gewährleistung von Schutz und Pflege in ordnungsgemäßer Form mit einem Widerruf rechnen muss, also letztlich eine Erfolgshaftung übernimmt. Insbesondere enthält Ziffer 5.8.1 FGF nebst Erläuterungen bzw. Ziffer 6.6 des Bescheids keine eindeutige Verknüpfung mit dem Begriff der Kultursicherung bzw. sind deren Voraussetzungen dort nicht einmal andeutungsweise erwähnt. Auch der Wortlaut der Ziffer 3.2.9 FGF deutet darauf hin, dass das Erreichen der Sicherung der Kultur (nur) für die Frage der Bewilligung der zweiten Rate von Bedeutung sein soll. Der Beklagte selbst hat dementsprechend im Widerrufsbescheid (dort S. 3 oben) ausgeführt, spätestens im achten Kalenderjahr nach Auszahlung müssten diese Ergebnisse erreicht sein, und damit eine Verknüpfung mit der Bewilligung und Zahlung der zweiten Rate vorgenommen, die nach Ziffer 3.2.9 FGF spätestens nach acht Jahren zu erfolgen hat. Soweit der Beklagte hierzu darauf verweist, die Beurteilung des Zustandes der Kultur habe nach Ziffer 3.2.9 FGF unabhängig von der Beantragung und Bewilligung der zweiten Rate zu erfolgen (S. 6 des Widerrufsbescheids), teilt der Senat dieses Verständnis der Regelung nicht. Vielmehr wird die Verknüpfung gerade dadurch hergestellt, dass die Überprüfung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beantragung und Bewilligung der zweiten Rate erwähnt wird. Auch die Formulierung des Widerrufsvorbehalts muss der Empfänger keinesfalls so verstehen, dass auch bei ordnungsgemäßer Pflege eine Rückforderungsmöglichkeit besteht. Denn der zweite mit Ziffer 6.6 des Zuwendungsbescheids bzw. Ziffer 5.8.1 FGF geschaffene Widerrufstatbestand – nämlich die Rodung der Fläche – setzt ein absichtliches und vollständiges Aufgeben des weiteren Förderziels – Schaffung eines stabilen und leistungsfähigen Waldes – voraus. Es liegt aber fern, dass die gleichen schwerwiegenden Folgen an ein Vorgehen geknüpft werden sollen, bei dem trotz ordnungsgemäßer Pflege- und Schutzmaßnahmen (nur) Entwicklungsziele nicht erreicht werden. Auch wegen der in der Kommentarspalte zu Ziffer 5.8.1 FGF genannten vergleichbaren Konstellationen (Laubbäume aus Mischkulturen entnehmen; Fräsen der Flächen), in denen eine absichtliche Entfernung von Pflanzen erfolgt, liegt es vielmehr nahe, dass ein Widerruf nur im Falle von nicht ordnungsgemäßer Pflege bzw. nicht ordnungsgemäßem Schutz der Pflanzen erfolgen können soll. Dieses Verständnis des Widerrufsvorbehalts legt auch das Schreiben des Beklagten vom 25. Februar 2009 zur Wildverbissgefahr nahe, in dem es ausdrücklich heißt, dass im Falle des Ergreifens entsprechender Schutzmaßnahmen – wie der Errichtung von Zäunen, die hier auch erfolgt ist – das Zuwendungsziel sicherzustellen sei und so eine Rückforderung verhindert werden könne. Gleiches gilt für die Formulierung der Erläuterungen zu Ziffer 2.6 FGF (Anlage zum Jahresrundschreiben). Dort wird nämlich eine mögliche Rückforderung wegen „nicht durchgeführter Pflege“ thematisiert.
58
b) Bei diesem Verständnis der Widerrufsvoraussetzungen lagen die Voraussetzungen des vorbehaltenen Widerrufs nicht vor, da die Klägerin auf den Aufforstungsflächen – wie oben (unter I.2.b) bereits ausgeführt – ordnungsgemäße Pflege- und Schutzmaßnahmen durchgeführt hat.
59
Demnach scheidet auch der Widerruf nach § 1 LVwVfG i.V.m. § 49 Abs. 2. S. 1 Nr. 1 VwVfG aus.
60
III. Fehlt es demnach schon an einer Widerrufsberechtigung, kommt es für die gerichtliche Entscheidung auf Ermessenserwägungen und die Frage, ob von einem Widerruf wegen der Staatsbeförsterung und im Hinblick auf mangelndes Verschulden der Klägerin und die dokumentierten Pflege- und Schutzmaßnahmen ausnahmsweise abzusehen war, nicht (mehr) an.
61
IV. Mangels Aufhebung des Verwaltungsaktes liegen auch die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs nach § 49a VwVfG oder nach den Grundsätzen des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs – unabhängig von der Frage, ob im Falle des Widerrufs nur mit Wirkung für die Zukunft die Leistung überhaupt rechtsgrundlos erfolgt wäre (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 11. Februar 1983, a.a.O. Rn. 21) – nicht vor.
62
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
63
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
64
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
Beschluss
65
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.061,00 € festgesetzt (§§ 52 Abs. 1, 47 Abs. 1 GKG).
| {
"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
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Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das am 10.07.2019 verkündete Urteil der 23. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 23 O 415/18 - teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.857,44 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.01.2019 zu zahlen.
2. Die Klage im Übrigen wird abgewiesen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 55 % und die Beklagte zu 45 %. Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz tragen der Kläger zu 46 % und die Beklagte zu 54 %.
4. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
5. Die Revision wird zugelassen.
1G r ü n d e:
2I.
3Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von Beitragserhöhungen in der privaten Krankenversicherung des Klägers. Streitig sind in zweiter Instanz die Beitragserhöhungen in den Tarifen:
41) A
zum 01.07.2010
um 36,80 €
2) A
zum 01.07.2014
um 22,73 €
3) A
zum 01.07.2018
um 79,99 €
5Der am xx.xx.1938 geborene Kläger ist bei der Beklagten privat krankenversichert. Im Rahmen dieser Versicherung besteht in der Krankheitskostenversicherung Versicherungsschutz in dem Standardtarif A; hierzu wurden als AVB die Musterbedingungen für den Standardtarif (MB/ST 2009) vereinbart (Anlage BLD 2 im Anlagenhefter, BLD 14, Bl. 408 ff. GA). Auslöser der streitigen Beitragserhöhungen waren nach dem Vortrag der Beklagten die Entwicklungen der Leistungsausgaben (Bl. 67, 68 GA). Die für die streitgegenständlichen Prämienerhöhungen maßgeblichen Zustimmungen wurden durch den Treuhänder erteilt.
6Die Beklagte teilte dem Kläger die Prämienerhöhungen zu den jeweiligen Stichtagen mit Schreiben aus Mai des jeweiligen Jahres mit (vgl. im Einzelnen Anlagen KGR 1, KGR 3, KGR 6, Bl. 133 ff., 142 ff., 161 f GA sowie Anlagenkonvolut BLD 3 im Anlagenhefter).
7Mit anwaltlichem Schreiben vom 06.12.2018 (Anlage KGR 9, Bl. 182 ff. GA) machte der Kläger gegenüber der Beklagten die Unwirksamkeit der Prämienerhöhungen geltend und forderte die Beklagte mit einer Fristsetzung von zwei Wochen nach Erhalt des Schreibens zur Rückzahlung der auf diese Erhöhungen gezahlten Prämienanteile auf.
8Die Zustellung der am 14.12.2018 bei Gericht eingegangenen Klageschrift erfolgte am 21.01.2019 (Bl. 21 R GA). In der am 03.04.2019 zugestellten Klageerwiderung vom 25.03.2019 (Bl. 64 ff., 104 GA) hat die Beklagte die Prämienerhöhungen zu den jeweiligen Stichtagen mit einem Anstieg der Leistungsausgaben begründet und den jeweiligen auslösenden Faktor mitgeteilt (Bl. 68 GA). Außerdem hat sie sich auf die aus ihrer Sicht dem Kläger rechtsgrundlos zugeflossenen Vermögensvorteile berufen, die sich bei einem Vergleich der Altersrücklagen ohne jegliche Beitragserhöhung mit der Höhe der Altersrücklagen unter Berücksichtigung der Prämienerhöhung ergebe und welche dem Kläger im Wege der Saldierung der sich gegenüberstehenden Bereicherungsansprüche anzurechnen seien. In Höhe dieser anzurechnenden konkreten Vermögensvorteile, die sie mit 5.231,82 € beziffert, hat sie zudem die Hilfsaufrechnung gegen die bezifferte Klageforderung erhoben (Bl. 93 GA).
9Mit Schriftsatz vom 06.05.2019 (Bl.110 ff. GA) hat der Kläger seinen Feststellungsantrag zu 1) teilweise für erledigt erklärt. Die Beklagte hat sich dieser Erledigungserklärung mit Schriftsatz vom 29.05.2019 (Bl. 207 ff. GA) unter Verwahrung gegen die Kostenlast angeschlossen. Mit Schriftsatz vom 28.05.2019 (Bl.195 GA) hat der Kläger die Klage zu dem verbleibenden Feststellungsantrag zu 1., bezogen auf Feststellungen hinsichtlich des Tarifs „B“ und zu der insoweit geltend gemachten Zahlungsforderung (1.168,03 €) zurückgenommen. Bezüglich dieser Teilklagerücknahme des Klägers hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 05.06.2019 Kostenantrag gestellt (Bl. 234 GA).
10Das Landgericht hat die Zahlungs- und Feststellungsklage des Klägers abgewiesen. Die in Rede stehenden Prämienanpassungen, deren materielle Rechtmäßigkeit nicht in Streit stehe, seien in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.
11Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes einschließlich der dort gestellten Schlussanträge und der Urteilsbegründung im Einzelnen wird auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
12Mit seiner form- und fristgerechten Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Klagebegehren weiter. Er macht geltend, dass die Mitteilungsschreiben nicht den an ihre formelle Rechtmäßigkeit zu stellenden Anforderungen genügten. Das Begründungserfordernis des § 203 Abs. 5 VVG solle es dem Versicherungsnehmer möglich machen, die grundlegenden Tatsachen, die zur Beitragserhöhung geführt haben, in Erfahrung zu bringen und diese anschließend auf dieser Grundlage überprüfen zu lassen. Eine bloß formelhafte Begründung genüge nicht. Aus der Begründung müsse hervorgehen, welche der nach § 203 Abs. 2 Sätze 1 und 3 VVG zu betrachtenden Rechtsgrundlagen sich gegenüber der ursprünglichen Kalkulation verändert haben. Die Gründe müssten detailliert aufgeführt und auch die konkrete Höhe der Veränderung müsse mitgeteilt werden. Andernfalls sei der Versicherungsnehmer nicht in der Lage, die Vertragsanpassung nachzuvollziehen oder zu überprüfen.
13Nach Umstellung seines ursprünglich angekündigten Antrages gemäß Berufungsbegründung vom 06.09.2019 (Bl.282, 283), mit welchem er lediglich die Klageanträge zu 1. (Feststellungsantrag), 2. (Zahlungsantrag) und 4. (Erstattung vorgerichtlicher Kosten) weiterverfolgt hat, beantragt der Kläger nunmehr,
14das Urteil des Landgerichts Köln vom 10.07.2019 – 23 O 415/18 – aufzuheben und die Beklagte nach Maßgabe der nachfolgenden Anträge zu verurteilen:
151) Es wird festgestellt, dass der folgende Feststellungsantrag – auch soweit er für erledigt erklärt wurde – ursprünglich zulässig und begründet war:
16 Es wird festgestellt, dass folgende Erhöhungen des Monatsbeitrags in der zwischen dem Kläger und der Beklagten bestehenden Krankenversicherung mit der Versicherungsnummer C unwirksam sind und der Kläger nicht zur Zahlung des jeweiligen Erhöhungsbetrages verpflichtet und der Gesamtbetrag auf insgesamt 225,24 € zu reduzieren ist:
17in der Krankheitskostenversicherung im Tarif „A“ die Erhöhungen zum 01.07.2010 um 36,80 €, zum 01.07.2014 um 22,73 € und zum 01.07.2018 um 79,99 €,
182) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 6.450,30 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
193) Es wird festgestellt, dass die Beklagte
20a) dem Kläger zur Herausgabe der Nutzungen verpflichtet ist, die sie aus dem Prämienanteil gezogen hat, den der Kläger auf die unter 1) aufgeführten Beitragserhöhungen gezahlt hat,
21b) die nach 3 a) herauszugebenden Nutzungen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu verzinsen hat.
224) Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten und Auslagen in Höhe von 1.184,05 € freizustellen.
23Die Beklagte beantragt,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrages hält die Beklagte daran fest, dass sämtliche Erhöhungsschreiben den formellen Voraussetzungen genügten. Sie erhebt zudem erneut die Einrede der Verjährung.
26Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen und die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
27II.
28Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
29Hinsichtlich des Feststellungsantrages zu 1. haben die Parteien den Rechtsstreit bereits in erster Instanz übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt, wodurch die Rechtshängigkeit dieses Anspruchs von selbst beendet worden ist. Die lediglich noch zu treffende Kostenentscheidung führt zu einer Auferlegung der insoweit entstandenen Kosten auf beide Seiten. Soweit der Kläger seinen Zahlungsanspruch noch verfolgt, ist dieser in Höhe von 2.857,44 € begründet. Der Feststellungsantrag zu 3., gerichtet auf Herausgabe der – aus Sicht des Klägers – zu Unrecht gezogenen Nutzungen, ist unzulässig. Ein Anspruch des Klägers auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten ist gleichfalls nicht begründet.
301. Den auf Feststellung der Erledigung der Hauptsache gerichteten Klageantrag zu 1. in der Fassung des Schriftsatzes vom 23.06.2020 (Bl. 343 f. GA), den der Kläger in der Sitzung vom 11.08.2020 gestellt hat (Bl.355 GA), haben die Parteien mit Schriftsätzen vom 06.05.2019 (Bl.110 f. GA) und vom 29.05.2019 (Bl.207 f. GA) bereits erstinstanzlich übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt. Dies wird auf S. 4 des angefochtenen Urteils auch ausdrücklich festgestellt. Eine Entscheidung des Senats ist insoweit nicht veranlasst. Nach übereinstimmender Erledigungserklärung eines Teils der Hauptsache ist dieser nicht mehr rechtshängig; insoweit hat das Gericht gemäß § 91 a ZPO nur noch nach den materiellen Kriterien des § 91 Abs. 1 S. 1 über die Kosten zu entscheiden. Das Gericht verliert bzgl. des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils seine Befugnis, in der Hauptsache zu entscheiden. Rechtshängig bleibt (nur) der nicht für erledigt erklärte Teil der Hauptsache (Musielak/Voit-Flockenhaus, ZPO, 17. Aufl. 2020, § 91 a, Rdnr. 51; BeckOK, ZPO/Jaspersen, 37. Edition, Stand: 01.07.2020, § 91 a, Rdnr. 25). Der Gebührenstreitwert ergibt sich fortan nur noch aus dem Wert der Resthauptsache. Die anteiligen Prozesskosten nach übereinstimmender Teilerledigungserklärung erhöhen den Streit- und Beschwerdewert nicht, solange noch ein Teil der Hauptsache im Streit ist (BGH, Beschluss vom 14.01.2020 - II ZR 395/18 - BeckRS 2020, 2998). Der Berufungsantrag des Klägers zu Ziffer 1. geht damit in Leere.
31Die Kosten hinsichtlich dieses erledigten Teils des Rechtstreits sind gemäß § 91 a ZPO zu 57 % dem Kläger und zu 43 % der Beklagten aufzuerlegen. Die Entscheidung, welche der Parteien die Kosten des erledigten Teils der Hauptsache zu tragen hat, ist gemäß § 91 a ZPO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach– und Streitstandes nach billigem Ermessen zu treffen. Bei dieser Entscheidung sind die Grundgedanken des Kostenrechts gemäß den §§ 91 ff. ZPO zu berücksichtigen, insbesondere der Grundsatz des § 91 ZPO, dass der Unterlegene die Kosten des Rechtstreits zu tragen hat. Dies wären vorliegend beide Parteien gewesen, da ohne das erledigende Ereignis (Erklärungen der Parteien, Mitteilung der auslösenden Faktoren zu den streitgegenständlichen Beitragsanpassungen) auf den ursprünglichen Feststellungsantrag des Klägers festzustellen gewesen wäre, dass in der zwischen den Parteien bestehenden Krankenversicherung die streitigen Tariferhöhungen zum 01.07.2010 (36,80 €) und zum 01.07.2014 (22,73 €) zunächst unwirksam gewesen sind und der Kläger nicht zur Zahlung der jeweiligen Erhöhungsbeträge verpflichtet gewesen ist. Diese Tariferhöhungen waren aus den unter 2. näher dargelegten Gründen wegen einer unzureichenden Begründung in den jeweiligen Mitteilungsschreiben der Beklagten in formeller Hinsicht zunächst unwirksam und sind erst durch die Zustellung der Klageerwiderung am 03.04.2019 geheilt und zum 01.06.2019 wirksam geworden. Bezüglich der Prämienerhöhung zum 01.07.2018 (79,99 €) wäre der Feststellungsantrag aus den unter 2. näher dargelegten Gründen dagegen unbegründet gewesen.
322. Der Kläger kann von der Beklagten gemäß § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB im Wege der Leistungskondiktion die Rückzahlung geleisteter Erhöhungsbeträge in dem Tarif A für den Zeitraum von Januar 2015 bis Dezember 2018 in Höhe von 2.857,44 € nebst anteiligen Verzugszinsen gemäß §§ 288 Abs. 1, 291 BGB verlangen. Die den Betrag von 2.857,44 € übersteigende Forderung unterliegt der Abweisung.
33Die streitgegenständlichen Tariferhöhungen zum 01.07.2010 (36,80 €) und zum 01.07.2014 (22,73 €) waren wegen einer unzureichenden Begründung in den jeweiligen Mitteilungsschreiben der Beklagten in formeller Hinsicht unwirksam und sind erst durch die Zustellung der Klageerwiderung am 03.04.2019 geheilt und zum 01.06.2019 wirksam geworden.
34In formeller Hinsicht gilt Folgendes:
35a) Nach § 203 Abs. 5 VVG werden die Neufestsetzung der Prämie und die Änderungen nach § 203 Abs. 2 und 3 VVG zu Beginn des zweiten Monats wirksam, der auf die Mitteilung der Neufestsetzung oder der Änderungen und der hierfür maßgeblichen Gründe an den Versicherungsnehmer folgt. Vorliegend genügen - bis auf das Anpassungsschreiben aus Mai 2018 (Anlage KGR 6, Bl. 161 f. GA, Anlage BLD 3 im Anlagenband) - die von der Beklagten verfassten Begründungsschreiben nebst Anlagen nicht den zu stellenden Mindestanforderungen an eine Mitteilung der maßgeblichen Gründe im Sinne des §˘203 Abs. 5 VVG.
36Streitig und noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, was unter Mitteilung der „maßgeblichen Gründe“ im Sinne von § 203 Abs. 5 VVG zu verstehen ist und welche Angaben die Mitteilung im Einzelnen enthalten muss. „Gründe“ i.S.d. § 203 Abs. 5 VVG sind jedenfalls die Umstände, die eine Neufestsetzung der Prämie inhaltlich rechtfertigen. Da das Anpassungsrecht eine nicht nur vorübergehende Veränderung der für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlagen im Sinne von § 203 Abs. 2 VVG, § 12 b Abs. 2 VAG bzw. § 155 Abs. 3 VAG 2016 voraussetzt, muss die Mitteilung daher zumindest irgendwelche Aussagen zu diesem Punkt enthalten. Zu den in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Ansichten, welche Anforderungen an die Mitteilung gemäß § 203 Abs. 5 VVG zu stellen sind, und zu der vom Senat vertretenen Auffassung wird auf die Senatsurteile vom 29.10.2019 (9 U 127/18), vom 17.12.2019 (9 U 131/18), vom 28.01.2020 (9 U 138/19) sowie vom 21.04.2020 (9 U 174/18) verwiesen. Unter inhaltlicher Bezugnahme auf die betreffenden Ausführungen in den Senatsurteilen sind hiernach folgende Anforderungen und Grundsätze zu beachten:
37aa) Zunächst ist erforderlich, in der Mitteilung gemäß § 203 Abs. 5 VVG zur Begründung der Prämienanpassung die Rechnungsgrundlage zu nennen, deren Veränderung die Prämienanpassung ausgelöst hat, also die Veränderung der Leistungsausgaben bzw. Versicherungsleistungen und/oder der Sterbewahrscheinlichkeit bzw. Sterbetafeln, weil die Veränderung zumindest einer dieser beiden Rechnungsgrundlagen oder ggf. auch beider in § 155 VAG ausdrücklich als Voraussetzung für eine Prämienanpassung genannt ist.
38bb) Die Benennung der Rechnungsgrundlage muss auch bezogen auf die konkrete Prämienanpassung erfolgen. Nicht ausreichend ist insofern, dass in Informationsblättern allgemein darauf hingewiesen wird, dass eine Veränderung einer der beiden genannten Rechnungsgrundlagen eine Prämienanpassung auslösen kann, ohne klar darauf hinzuweisen, welche geänderte Rechnungsgrundlage für die in Rede stehende konkrete Prämienerhöhung maßgeblich war. Eine bloße Erläuterung der allgemeinen gesetzlichen und tariflichen Grundlagen reicht nicht aus. Denn dem Gesetzeswortlaut ist durch die Verwendung des Begriffs „maßgeblich“ zu entnehmen, dass nicht eine allgemeine Information oder Belehrung über das Prämienanpassungsrecht ausreicht, sondern ein Bezug zu der konkreten Prämienanpassung hergestellt werden muss.
39cc) Hingegen ist die Angabe der konkreten Höhe der Veränderung oder des sog. auslösenden Faktors nicht erforderlich. Denn für die Prämienerhöhung reicht es aus, dass die Veränderung den in den Versicherungsbedingungen oder im Gesetz festgelegten Schwellenwert über- oder unterschreitet.
40dd) Nicht erforderlich ist zudem, dass in der Mitteilung konkret angegeben wird, welcher Schwellenwert über- oder unterschritten wurde, der gesetzliche Faktor gemäß § 155 VAG (Versicherungsleistungen über 10 % bzw. Sterbetafeln über 5 %) oder ein gegebenenfalls abweichender tariflich vereinbarter auslösender Faktor (z.B. § 8 b MB/KK: Versicherungsleistungen über 5 %). Es reicht aus, wenn der Versicherungsnehmer dem Gesamtzusammenhang des Begründungsschreibens klar entnehmen kann, dass der Versicherer seine Erhöhung mit einer Über- oder Unterschreitung des geltenden Faktors begründet.
41ee) Nicht erforderlich ist die Angabe des Namens und der Anschrift des Treuhänders in der Mitteilung nach § 203 Abs. 5 VVG durch den Versicherungsnehmer. Da die Unabhängigkeit des Treuhänders nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19.12.2018 (- IV ZR 255/17 -, VersR 2018, 283 ff.) nicht gerichtlich zu überprüfen ist, ist der Name für den Versicherungsnehmer zunächst ohne Bedeutung. Bei Interesse kann er ihn im Rahmen des ihm zustehenden Auskunftsanspruchs beim Versicherer erfragen.
42ff) Jedenfalls bei gestiegenen Leistungsausgaben ist ebenfalls nicht zwingend erforderlich die Nennung der Veränderung weiterer Kriterien, welche die Prämienhöhe zumindest auch noch beeinflusst haben, wie bspw. der Rechnungszins. Insbesondere muss ein konkreter Bezug zwischen der streitgegenständlichen Prämienerhöhung und den veränderten weiteren Faktoren in der Begründung nicht hergestellt werden. Denn dies führte zu einer erheblichen Erhöhung des Verwaltungsaufwands, der zu Lasten der Versicherungsgemeinschaft ginge, ohne dass dem Aufwand ein nur ansatzweise entsprechender Nutzen für den einzelnen Versicherungsnehmer gegenüberstünde.
43Genügt die Mitteilung des Versicherers gemäß § 203 Abs. 5 VVG diesen unter 2. a), aa) bis ff) genannten, grundsätzlichen Anforderungen, kann der Versicherungsnehmer die rechtlichen Voraussetzungen, mit denen der Versicherer die Prämienanpassung begründet, in hinreichendem Maße nachvollziehen.
44b) Gemessen daran erfüllen die streitgegenständlichen Begründungen aus Mai 2010 und Mai 2014 nicht die nach § 203 Abs. 5 VVG zu stellenden Mindestanforderungen an die Mitteilung der maßgeblichen Gründe.
45In dem Mitteilungsschreiben aus Mai 2010 (Anlagen KGR 1, Bl.133 ff. GA, Anlage BLD 3 im Anlagenheft) wird die Beitragssteigerung mit gestiegenen „Ausgaben für Gesundheitsleistungen“ begründet (zweiter Absatz des Schreibens), aber auch mit einer „gestiegenen Lebenserwartung“. Aus dem Schreiben ergibt sich jedoch nicht, welche der beiden in § 203 Abs. 2 VVG genannten Rechnungsgrundlagen sich in welcher Höhe verändert hat. Ebenso fehlt eine – auf den konkreten Tarif bezogene – Klarstellung dazu, dass die Veränderung der „gestiegenen Ausgaben“ über der gesetzlich bzw. tariflich festgelegten Grenze liegt.
46In dem Mitteilungsschreiben aus Mai 2014 (KGR 3, Bl. 142 ff. GA, BLD 3 im Anlagenheft) wird gleichfalls ein weiterer Anstieg der „Ausgaben für Versicherungsleistungen“ als Grund für die Beitragserhöhungen angeführt. Es fehlt indes auch hier die Angabe, dass die Veränderung über der gesetzlich bzw. tariflich festgelegten Grenze liegt.
47Lediglich das Anpassungsschreiben aus Mai 2018 (KGR 6, Bl.161 ff. GA, BLD 3 im Anlagenhefter) erfüllt die vom Senat gestellten Anforderungen und ist daher auch in formeller Hinsicht wirksam. In der dem Anschreiben beigefügten detaillierten Erläuterung für die Beitragserhöhungen („Warum passen wir die Beiträge an?“) wird darauf hingewiesen, dass die Beklagte „mindestens jährlich“ zu einem Vergleich der „erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen“ verpflichtet sei. Ergebe „dieser Vergleich eine Abweichung von den definierten Grenzwerten“, sei sie – die Beklagte – zur Prüfung der Beiträge verpflichtet, was als „Anspringen“ des „Auslösenden Faktors Schaden“ bezeichnet werde. Sodann verweist die Beklagte auf die nachfolgende Tabelle und den dort detailliert aufgeführten Tarifen. In dieser Tabelle auf Seite 2 werden für den Tarif A, geordnet nach Alter und Geschlecht des Versicherungsnehmers, die relevanten Veränderungen konkret dargelegt. So wird dort die durchschnittliche Veränderung der Versicherungsleistung tarifspezifisch konkret benannt (in diesem Fall 8,15 %, Bl. 167 GA.). Diesen Erläuterungen kann der Versicherungsnehmer entnehmen, dass Auslöser für die Erhöhung seiner Beiträge eine Abweichung der Leistungsausgaben oberhalb der für die Tarife festgelegten Prozentsätze gewesen ist.
48Soweit die Beklagte im Rahmen dieses Verfahrens den auslösenden Faktor mit 112,6 angegeben hat (S. 5 der Klageerwiderung vom 25.03.2019, Bl. 68 GA), ist dies der in dem Mitteilungsschreiben bezeichneten „durchschnittlichen Veränderung der Versicherungsleistung“ (vgl. die 4. Spalte in der betreffenden Tabelle) nicht gleichzusetzen und wird im Hinblick auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten auch von dem Leser des Mitteilungsschreibens nicht gleichgesetzt werden. Während die §§ 15, 16 KVAV das Verfahren zur Ermittlung des „Auslösenden Faktors“ gesetzlich im Einzelnen regeln und hierzu detaillierte Vorgaben definieren (vgl. etwa § 15 Abs. 2 KVAV: Ermittlung der tatsächlichen Grundkopfschäden der letzten drei Beobachtungszeiträume / § 15 Abs. 3 KVAV: Berechnung der erforderlichen Versicherungsleistungen nach der Formel des Abschnitts B der Anlage 2 der KVAV / § 16 KVAV: Verfahren zur Gegenüberstellung der kalkulierten Sterbewahrscheinlichkeiten und der zuletzt veröffentlichten Sterbewahrscheinlichkeiten), handelt es sich bei der in dem Mitteilungsschreiben genannten „durchschnittlichen Veränderung der Versicherungsleistungen“ nicht um ein solches gesetzlich klar definiertes Berechnungsverfahren, sondern vielmehr um eine rein tatsächliche Angabe. Die „durchschnittliche Veränderung der Versicherungsleistungen“ ist – neben anderen tatsächlichen Entwicklungen (etwa die Höhe des Rechnungszinses) – von maßgeblicher Bedeutung im Rahmen der tatsächlichen Neuberechnung der Prämie, während der „Auslösende Faktor“ nach gesetzlich klar definierten Vorgaben bestimmt, ob überhaupt eine Überprüfung aller Prämien eines Tarifs stattfindet (§ 155 Abs. 3 S. 1, 2 VAG i.V.m. § 203 Abs. 2, S. 4 VVG).
49Insgesamt genügt daher nur das aus Mai 2018 stammende Anpassungsschreiben den vom Senat gestellten Anforderungen an eine Begründung gem. § 203 Abs. 5 VVG.
50c) Die übrigen unzureichenden Begründungen für die jeweiligen Prämienerhöhungen sind mit Zustellung der Klageerwiderung am 03.04.2019 (Bl.104 GA) an die Prozessbevollmächtigten des Klägers geheilt. Nach Ablauf der Frist nach § 203 Abs. 5 VVG werden die vorgenannten Prämienerhöhungen zum 01.06.2019 grundsätzlich wirksam.
51aa) Nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs führt eine etwaige zunächst unzureichende Mitteilung der Gründe möglicherweise nur zum Erfolg des Zahlungsantrags auf Rückzahlung der bis zum geltend gemachten Zeitpunkt einschließlich geleisteten Prämienzahlungen, nicht aber auch zum Erfolg des darüber hinaus reichenden Feststellungsantrags, sofern eine ausreichende Mitteilung der Gründe in den detaillierten Angaben in der Klageerwiderung erblickt werden könnte (BGH, Urteil vom 19.12.2018, - IV Z R 255/17 -, VersR 2018, 283 ff. in juris Rn. 65). Erfolgt eine Mitteilung der Prämienanpassung zunächst ohne eine den Anforderungen des § 203 Abs. 5 VVG genügende Begründung, wird diese aber später nachgeholt, wird durch den Zugang dieser nachgeholten Begründung die für die Wirksamkeit der Neufestsetzung der Prämie angeordnete Frist in Lauf gesetzt, so dass erst von diesem Zeitpunkt an das Inkrafttreten nach § 203 Abs. 5 VVG zu berechnen ist (BGH, Urteil vom 19.12.2018, - IV Z R 255/17 -, VersR 2018, 283 ff. in juris Rn. 65; MK/Boetius a.a.O. § 203 Rn. 1160; Boetius, Private Krankenversicherung a.a.O. § 203 VVG Rn. 207; a.A. und für vollständige Unwirksamkeit: LG Neuruppin, Urteil vom 25.08.2017, - 1 O 338/16 -, VersR 2018, 469 ff. in juris Rn. 26; Brömmelmeyer in Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar z. VVG, 3. Aufl. 2016, § 203 VVG Rn. 47; Klimke, VersR 2016, 22/24 Ziff. III 1. a) u. b)).
52bb) Der Senat schließt sich der vom Bundesgerichtshof vertreten Auffassung an. Zunächst spricht der Wortlaut „werden … wirksam“ gegen die Annahme einer endgültigen Unwirksamkeit. Außerdem entspricht es dem Willen des Gesetzgebers, an der Rechtslage vor 2008 nichts Wesentliches zu ändern. Dieser Wille würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn formelle Mängel bei der Mitteilung ein dauerhaft beachtliches Wirksamkeitshindernis für eine Prämienanpassung darstellten. Ein solches Wirksamkeitshindernis sollte nicht leichtfertig aufgestellt werden, da das Recht des Versicherers auf Beitragsanpassungen nach § 203 Abs. 2 VVG ein wesentlicher Stützpfeiler der aufsichtsrechtlich angestrebten dauernden Erfüllbarkeit der Versicherungsverträge ist (Brand, VersR 2018, 453/457 Ziff. V) und der Versichertengemeinschaft dient. Das berechtigte Interesse des einzelnen Versicherungsnehmers an einer Mitteilung der für seine konkrete Prämienanpassung maßgeblichen Gründe wird hinreichend dadurch geschützt, dass dieser bis zur Heilung etwaiger Begründungsmängel nicht zur Zahlung des erhöhten Beitrages verpflichtet ist.
53cc) In Anwendung der vorgenannten Grundsätze konnten die unzureichenden Begründungen der Beklagten für die streitigen Prämienerhöhungen durch die Ausführungen in der Klageerwiderung vom 25.03.2019 (Bl.64 ff. GA) geheilt werden. Die Beklagte hat dort die maßgebliche Rechnungsgrundlage (Versicherungsleistungen) und den jeweiligen auslösenden Faktor genannt. Insoweit hat sie nachvollziehbar dargetan, dass und inwieweit bei den einzelnen Erhöhungen der jeweiligen Tarife zu den jeweiligen Stichtagen der gesetzliche Schwellenwert von 10 % bzw. der tarifliche Schwellenwert von 5 % überschritten ist.
54Mit Zustellung der Klageerwiderung am 03.04.2019 wurde in Anwendung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Frist des § 203 Abs. 5 VVG in Lauf gesetzt, sodass die Prämienerhöhungen in den Tarifen mit einem nur unzureichenden Begründungsschreiben jeweils ab 01.06.2019 wirksam geworden sind. Die Heilung berührt indes die Begründetheit des bis einschließlich Dezember 2018 geltend gemachten Rückzahlungsbegehrens nicht.
55d) Bei den Tarifanpassungen zum 01.07.2010 und zum 01.07.2014 liegt die Veränderung bei den Versicherungsleistungen jeweils unter dem gesetzlichen Schwellenwert von über 10 %, aber über 5 % (A zum 01.07.2010: 5,63 %, A zum 01.07.2014: 6,44 %). Diese Anpassungen sind aufgrund der Beitragsanpassungsklausel in § 8 a Abs. 4 MB/ST 2009 (Anlage BLD 2 im Anlagenhefter; BLD 14, Bl. 408 ff., 415 GA) gerechtfertigt. Hiernach können bei einer Veränderung der Schadenwahrscheinlichkeiten von mehr als 5 % die Beiträge der betroffenen Beobachtungseinheiten überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders angepasst werden; „von einer solchen Anpassung wird abgesehen, wenn die Veränderung der Versicherungsleistungen als vorübergehend anzusehen ist.“ Diese Klausel ist wirksam. Sie steht insbesondere mit den §§ 12 b Abs. 2 S. 2 VAG a.F., 155 Abs. 3, S. 2 VAG, 203 Abs. 2 VVG in Einklang, nach denen eine Prämienanpassung nur dann zulässig ist, wenn die Veränderung nicht nur vorübergehender Art ist.
56e) Die zu viel gezahlten Beträge für alle Tarife in Höhe von insgesamt 2.857,44 € errechnen sich unter Berücksichtigung des konkreten Klagebegehrens, das eine Rückforderung bis einschließlich Dezember 2018 vorsieht (Bl.8, 11, 13, 16 GA), im Einzelnen wie folgt:
57Tarif
Erhöhung
insgesamt
1) A
ab 01.01.2015 um 36,80 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 36,80 €)
1.766,40 €
2) A
ab 01.01.2015 um 22,73 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 22,73 €)
1.091,04 €
ergibt insgesamt:
2.857,44 €
58f) Die von der Beklagten erhobenen Einwendungen gegen die Höhe des geltend gemachten Rückzahlungsanspruchs aus Bereicherungsrecht greifen nicht durch.
59aa) Entgegen der Ansicht der Beklagten muss sich der Kläger auf der Rechtsfolgenseite des bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsanspruchs etwaige Vorteile aus den geleisteten erhöhten Prämienbeiträgen nicht anrechnen lassen, weil die Grundsätze der Vorteilsausgleichung im Bereicherungsrecht grundsätzlich keine Anwendung finden. Der Bereicherte – hier die Beklagte – kann sich nicht darauf berufen, dass der Entreicherte – hier der Versicherte – durch den Bereicherungsvorgang – hier Zahlung der erhöhten Prämienbeiträge – auch Vorteile gehabt hat. Die Grundsätze der Vorteilsausgleichung sind auf die nur auf objektiven Ausgleich gerichteten Ansprüche aus unberechtigter Bereicherung nicht anwendbar (Palandt/Sprau, BGB, 79. Aufl. 2020, § 812 Rdnr. 72; BGH, Urteil vom 05.11.2002, - XI ZR 381/01 -, NJW 2003, 582 ff. in juris Rn. 26 m.w.N.; BGH, Kartellsenat, Urteil vom 22.07.2014, - KZR 27/23 -, NJW 2014, 3089 ff. in juris Rn. 43). Zwar können nach dem Grundsatz von Treu und Glauben im Einzelfall Ausnahmen in Betracht kommen (BGH, Kartellsenat, Urteil vom 22.07.2014, - KZR 27/23 -, NJW 2014, 3089 ff. in juris Rn. 43), den der Bundesgerichtshof beim Rückforderungsanspruch nach § 3 HWiG angenommen und eine Anrechnung von Steuervorteilen im Wege der Vorteilsausgleich in entsprechender Anwendung der dafür geltenden Grundsätze vorgenommen hat (BGH, Urteil vom 24.04.2007, - XI ZR 17/06 -,NJW 2007, 2401 ff. in juris Rn. 24). Ein solcher Ausnahmefall ist allerdings vorliegend nicht gegeben.
60bb) Eine abweichende rechtliche Beurteilung ergibt sich nicht aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Fällen, in denen Lebens- oder Rentenversicherungen nach § 5 a VVG a.F. nach einem wirksamen Widerspruch nach § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BGB rückgewickelt werden mussten. Zwar hat der Bundesgerichtshof in diesen Fällen entschieden, dass die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarechtswidrigkeit des § 5 a Abs. 2 S. 4 VVG a.F. nicht auf eine Wirkung ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken sind, sondern nur eine Rückwirkung dem Effektivitätsgebot entspreche (BGH, Urteil vom 11.11.2015, - IV ZR 513/14 -, VersR 2016, 33 ff. in juris Rn. 29) und dass der Anspruch auf Prämienrückzahlung nach § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BGB der Höhe nach nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien umfasse und dem Kläger bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung der jedenfalls faktisch bis zum Widerspruch genossene Versicherungsschutz anzurechnen sei (BGH, Urteil vom 11.11.2015, - IV ZR 513/14 -, VersR 2016, 33 ff. in juris Rn. 30; BGH, Urteil vom 07.05.2014, - IV ZR 76/11 -, VersR 2014, 817 ff. in juris Rn. 45).
61Diese Fälle sind mit den vorliegenden Fällen eines Rückgewähranspruchs des Versicherten nach unwirksamer Prämienerhöhung insoweit nicht vergleichbar, als eine etwaige Unwirksamkeit einer Prämienerhöhung keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit und den Fortbestand des Krankenversicherungsschutzes sowie die Höhe der vereinbarten Prämien bis zum Zeitpunkt der unwirksamen Prämienerhöhung hat. Infolge dessen erfolgt bei Unwirksamkeit einer Prämienerhöhung – anders als in den Widerspruchsfällen gem. § 5 a VVG a.F. – keine Rückabwicklung des Krankenversicherungsvertrags mit Rückwirkung. Vielmehr bleibt die beklagte Versicherung nach wie vor zur Versicherungsleistung bei Vorliegen eines Versicherungsfalles verpflichtet und der Versicherte hat jedenfalls die Prämien in der bisherigen Höhe zu zahlen.
62cc) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die sog. Saldotheorie nicht anzuwenden. Die Saldotheorie findet dogmatisch nur bei rechtsunwirksamen Verträgen Anwendung, was bei einer unwirksamen Prämienerhöhung nicht der Fall ist. Der Krankenversicherungsvertrag bleibt im Übrigen mit der bisherigen, geringeren Prämie wirksam. Der vertraglich zugesagte Leistungsanspruch des Versicherungsnehmers erhöht sich nicht aufgrund einer Prämienanpassung.
63dd) Entgegen der Ansicht der Beklagten sind als anzurechnende Vermögensvorteile des Versicherungsnehmers nicht in Abzug zu bringen die Sparprämie (= zur Bildung von Rückstellungen für die im Alter steigenden Versicherungsleistungen), die Risikoprämie und der gesetzliche Beitragszuschlag (= Erhebung gemäß § 149 VAG und Zuführung zur Alterungsrückstellung), die anteilig aus den Prämienbeiträgen gebildet werden. Denn es ist keineswegs sicher und auch nicht absehbar, ob und ggf. in welchem Umfang der jeweilige Versicherte überhaupt in den Genuss dieser Leistungen kommt. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Versicherte die dafür geltende Altersgrenze noch nicht erreicht hat. Insofern erscheint es angemessen, dass allein das Versicherungsunternehmen das rechtliche Risiko trägt, eine Prämienanpassung rechtswirksam durchzusetzen (Ossyra, VuR 2018, 373/380 Ziff. II.).
64ee) Die Beklagte kann sich gegenüber dem bereicherungsrechtlichen Rückerstattungsanspruch des Klägers wegen erhöhter Prämien nicht mit Erfolg auf Entreicherung gemäß § 818 Abs. 3 BGB berufen.
65Soweit die Beklagte die vereinnahmten erhöhten Prämien zur Erbringung von Versicherungsleistungen verwendet hat, ist sie schon deswegen nicht entreichert, weil sie durch diese Leistung die ihr aufgrund der jeweiligen Krankenversicherungsverträge obliegende Verpflichtung zur Erstattung der versicherten Krankheitskosten erfüllt hat und sie damit von einer Verbindlichkeit befreit worden ist. Diese Leistungsverpflichtung der Beklagten bei Vorliegen eines Versicherungsfalles besteht unabhängig davon, ob die Prämienanpassung wirksam ist oder nicht, denn der Krankenversicherungsvertrag besteht fort. Die Befreiung von einer Verbindlichkeit mit Hilfe des rechtsgrundlos Erlangten durch den Bereicherungsschuldner stellt eine fortbestehende Bereicherung dar, der Bereicherungsschuldner kann sich grundsätzlich nicht auf § 818 Abs. 3 BGB berufen (Palandt/Sprau a.a.O. § 818 Rdnr.45, BGH NJW 1985, 2700).
66Soweit die Beklagte nach ihrem Vortrag aus den eingenommenen erhöhten Prämien anteilig Sparprämien, Risikoprämien und den gesetzlichen Beitragszuschlag gebildet haben will, entspricht auch dies ihrer Verpflichtung aus dem Versicherungsvertrag. Dabei verkennt der Senat nicht, dass ein Unterschied zu der Verwendung der erhöhten Prämien zur Erbringung der versicherungsvertraglich geschuldeten Leistungen insofern bestehen dürfte, als eine Verpflichtung zur Bildung entsprechender anteiliger Sparprämien, Risikoprämien und des gesetzlichen Beitragszuschlags erst aufgrund der Prämienerhöhung entstanden sein wird. Indes hat die Beklagte trotz ihres umfangreichen Vortrages bisher nicht konkret dargetan, dass es ihr bei einer gerichtlichen Feststellung der Unwirksamkeit der erhöhten Prämien nicht möglich wäre, die zur Bildung von Sparprämien und gesetzlichen Beitragszuschlägen verwendeten erhöhten Prämienanteile wieder zurück zu buchen oder mit späteren auf diese Prämienanteile zu erbringenden Aufwendungen zu verrechnen. Bei der Möglichkeit einer Rückbuchung oder späteren Verrechnung scheidet eine Entreicherung der Beklagten von vornherein aus. Hierzu verhält sich der Vortrag der Beklagten nicht.
67g) Da sich der Kläger auf der Rechtsfolgenseite des bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsanspruchs etwaige Vorteile aus den geleisteten erhöhten Prämienbeiträgen nicht anrechnen lassen muss, ist auch die von der Beklagten in der Klageerwiderung erhobene Hilfsaufrechnung über 5.231,82 € (Bl.93 GA), die auch in zweiter Instanz zu berücksichtigen ist (vgl. die umfassende Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Vortrag Bl.312 GA), nicht begründet. Auch insoweit gilt, dass der Bereicherte – hier die Beklagte – sich nicht darauf berufen kann, dass der Entreicherte – hier der Versicherte – durch den Bereicherungsvorgang (Zahlung der erhöhten Prämienbeiträge) auch Vorteile gehabt hat.
68h) Die übrigen Rückzahlungsansprüche des Klägers sind verjährt.
69Die Zustellung der Klageschrift erfolgte am 21.01.2019 (Bl.21 R GA). Allerdings ist die Klage bereits am 14.12.2018 bei Gericht eingegangen (Bl.3 GA). Die Zustellung wirkt auf den Zeitpunkt der Klageeinreichung zurück, sofern sie „demnächst“ erfolgt (Palandt-Ellenberger, BGB, 79. Aufl. 2020, § 204, Rdnr.7). Dies ist vorliegend der Fall mit der Folge, dass die verjährungshemmende Wirkung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB bereits mit Eingang der Klage bei Gericht am 14.12.2018 eingetreten ist.
70Rückforderungsansprüche des Klägers wegen der bis zum Ende des Jahres 2014 geleisteten Mehrprämien sind daher gemäß §§ 195, 199 BGB verjährt. Die Verjährung zeitlich späterer Rückzahlungsansprüche, also ab 01.01.2015, wurde durch die auf den Zeitpunkt der Klageeinreichung am 14.12.2018 rückwirkende Zustellung der Klageschrift am 21.01.2019 gehemmt.
71Die Beklagte hat bereits mit ihrer Klageerwiderung vom 25.03.2019 die Einrede der Verjährung erhoben. Der Anspruch des Klägers auf Rückzahlung war mit der jeweiligen monatlichen Prämienzahlung entstanden. Der Kläger hatte mit Erhalt der jeweiligen Anpassungsschreiben zu den Erhöhungen aus Mai des jeweiligen Jahres Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen.
72Für den bereicherungsrechtlichen Rückerstattungsanspruch gilt die dreijährige Verjährungsfrist gemäß § 195 BGB, deren Beginn sich nach § 199 Abs. 1 BGB bzw. § 199 Abs. 3 BGB richtet. Nach § 199 Abs. 1 BGB beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist gemäß § 195 BGB, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grober Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB).
73aa) Für die Entstehung des bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsanspruchs gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist auf die jeweilige monatliche Prämienzahlung abzustellen, weil frühestens mit der jeweiligen monatlichen Zahlung der vermeintlich überhöhten Prämie der Rückforderungsanspruch fällig wird und entsteht. Die Rückzahlungsforderung ist daher jeweils frühestens mit der Zahlung der vermeintlich überhöhten Prämie fällig geworden, also entstanden (LG Neuruppin, Urteil vom 25.08.2017, - 1 O 338/16 -, VersR 2018, 469 ff. in juris Rn. 40; OLG Köln, Urteil vom 20 U 128/16 -, in juris Rn 14 f.).
74Die Verjährung beginnt zu dem Zeitpunkt zu laufen, in dem dem Versicherungsnehmer die Mitteilung über die Beitragserhöhung zugegangen ist. Der Gesetzgeber hat nicht ähnliche Regelungen wie bei dem Widerrufsrecht nach Verbraucherschutznormen oder z.B. § 5 a Abs. 1 VVG a.F. getroffen, sondern den Wirksamkeitszeitpunkt der Beitragserhöhung bis zu dem Zeitpunkt hinausgeschoben, in dem der Versicherungsnehmer eine ordnungsgemäße Mitteilung über die Beitragserhöhung erhalten hat (LG Neuruppin, a.a.O.).
75bb) Die erforderliche Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers lag mit Erhalt der jeweiligen Anpassungsschreiben aus Mai des jeweiligen Jahres vor. Bezogen auf die formelle Unwirksamkeit liegt die Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers als Versicherungsnehmer im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB mit Erhalt der jeweiligen Anpassungsschreiben der Beklagten für die betreffenden Tarife vor. Diesen konnte der Kläger nichts entnehmen, was ihm die Prüfung der durch die Beklagte aufgestellten Behauptung über die Erforderlichkeit der Beitragsanpassung ermöglicht hätte.
76Soweit der Gläubiger – hier der Versicherte – von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grob fahrlässige Unkenntnis erlangt haben muss, ist dies hinsichtlich der formellen Voraussetzung der Mitteilung über die Beitragserhöhung mit Zugang derselben der Fall. Ab diesem Zeitpunkt ist von einer grob fahrlässigen Unkenntnis des Klägers in dem Sinne auszugehen, dass er seine Beiträge in einer Höhe entrichtet, die auf einer unwirksamen Beitragserhöhung beruht. Es genügt die Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen, nicht erforderlich ist, dass der Gläubiger den Vorgang rechtlich zutreffend bewertet (LG Neuruppin, a.a.O, juris Rn. 42; BGH NJW 2008, 1729 ff. in juris Rn. 26).
77Grundsätzlich reicht eine Kenntnis aus, die den Berechtigten in die Lage versetzt, wenn auch nicht ohne Risiko, eine Feststellungsklage zu erheben (LG Neuruppin, a.a.O., in juris Rn. 42, BGH NJW 2013, 1801). Der Versicherungsnehmer hat im Hinblick auf das Fehlen der formellen Voraussetzung der Mitteilung der wesentlichen Gründe gemäß § 203 Abs. 5 VVG die Kenntnis von der Unwirksamkeit dann grob fahrlässig nicht erlangt, wenn er den Mitteilungen der in Anspruch genommenen Versicherung über die jeweilige Prämienerhöhung ganz offensichtlich nichts entnehmen konnte, was ihn die Richtigkeit der von der beklagten Versicherung aufgestellten Behauptung über die Erforderlichkeit der Beitragserhöhung überprüfen ließ. (LG Neuruppin, a.a.O., in juris Rn. 43).
78Von einer solchen grob fahrlässigen Unkenntnis des Versicherten vom Fehlen einer ausreichenden Mitteilung gemäß § 203 Abs. 5 VVG und einer daraus folgenden – zeitweisen – formellen Unwirksamkeit der Prämienerhöhung bis zur Vorlage einer ausreichenden Mitteilung gemäß § 203 Abs. 5 VVG durch die Versicherung ist vorliegend auszugehen, da in den betreffenden Anpassungsmitteilungen der Versicherung nicht einmal die maßgebliche Rechnungsgrundlage (Leistungsausgaben oder Sterbewahrscheinlichkeit), die für die Prämienanpassung verantwortlich war, und die Überschreitung des gesetzlichen Schwellenwertes (> 10 %) oder des in den AVB vereinbarten geringeren Schwellenwertes (> 5 %) angegeben wurde.
79Denn als gesetzliche Voraussetzung für eine Beitragsanpassung ist nach §§ 203 Abs. 2 VVG, 155 VAG eine Veränderung der Rechnungsgrundlage „Leistungsausgaben oder Sterbewahrscheinlichkeit“ erforderlich und außerdem muss für die Rechtsgrundlage „Leistungsausgabe“ der gesetzliche bzw. tarifliche Schwellenwert überschritten sein. Soweit diese aus dem Gesetz ersichtlichen Voraussetzungen für die jeweils erhöhten Tarife der Krankheitskosten- oder Krankentagegeldversicherung in einer Anpassungsmitteilung nicht enthalten sind, ist daraus für den betroffenen Versicherten offensichtlich erkennbar, dass er die ihm mitgeteilte Beitragsanpassung nicht einmal aufgrund der Behauptung der Beklagten anhand der gesetzlich dafür erforderlichen Voraussetzungen überprüfen kann.
80Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, dass es aufgrund unklarer Rechtslage im Hinblick auf die Anforderungen an die Mitteilung der maßgeblichen Gründe gemäß § 203 Abs. 5 VVG an einer Kenntnis bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB fehle. Denn dem Kläger war der Inhalt der jeweiligen Anpassungsschreiben, insbesondere die Tatsachen, die die zeitweise fehlende Wirksamkeit der Prämienerhöhung begründen, bekannt.
81Zwar können bei besonders unübersichtlicher und verwickelter Rechtslage ausnahmsweise erhebliche Zweifel den Verjährungsbeginn bis zur Klärung ausschließen (BGH NJW 1999, 2041; Palandt/Ellenberger, BGB, 79. Aufl. 2020, § 199 Rdnr.27). Eine solche hat der BGH im Falle der Widerspruchsfälle gemäß § 5 a VVG a.F. verneint und hierzu ausgeführt, für eine Unzumutbarkeit der Klageerhebung genügt es nicht, dass über die Richtlinienkonformität des § 5 a VVG a.F. ein Meinungsstreit bestand, über den der Senat im Jahr 2010 noch nicht abschließend entschieden hatte. Eine Rechtslage ist nicht schon dann im Sinne der genannten Rechtsprechung unsicher und zweifelhaft, wenn eine Rechtsfrage umstritten und noch nicht höchstrichterlich entschieden ist. Bei einer solchen Konstellation sei dem Gläubiger die Erhebung der Klage jedenfalls dann nicht unzumutbar, wenn er gleichwohl bereits vor einer höchstrichterlichen Entscheidung seinen Anspruch gegenüber dem Schuldner geltend macht und dadurch zu erkennen gibt, vom Bestehen des Anspruchs auszugehen (BGH, Urteil vom 21.02.2018, - IV ZR 385/16 -, VersR 2018, 404 f. in juris Rn. 17). So liegt der Fall hier.
82Nachdem der Kläger inzwischen trotz fortbestehenden Meinungsstreits Klage erhoben und sich u.a. auch auf den unzureichenden Inhalt der Anpassungsschreiben sowie die daraus folgende fehlende Wirksamkeit der Prämienanpassung berufen hat, ist ihm eine Klageerhebung trotz des bis heute noch bestehenden Meinungsstreits in Rechtsprechung und Literatur hinsichtlich der Anforderungen an eine Mitteilung der maßgeblichen Gründe im Sinne des § 203 Abs. 5 VVG nicht unzumutbar. Angesichts dessen hätte die Klage auch schon früher erhoben werden können, weil der Meinungsstreit bis heute nicht höchstrichterlich entschieden ist. Würde man dies anders sehen, könnte in solchen Fällen die Verjährung nie zu laufen beginnen, bis der jeweilige Meinungsstreit höchstrichterlich entschieden ist.
83i) Die Zinsforderung des Klägers folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.
843. Der in der Berufungsinstanz erstmals mit Schriftsatz vom 23.06.2020 geltend gemachte Feststellungsantrag zu 3. (Bl. 343, 344 GA) ist unzulässig. Das Landgericht hat die auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Herausgabe der Nutzungen gerichtete Klage abgewiesen. Der Kläger hat mit der Berufungsbegründung vom 06.09.2019 (Bl. 282 ff. GA) die Entscheidung des Landgerichts insoweit nicht angegriffen. Zwar können die Berufungsanträge grundsätzlich bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erweitert werden. Dies setzt aber voraus, dass die erweiterten Anträge durch die fristgerecht eingereichten Berufungsgründe (§ 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2–4 ZPO) gedeckt sind. Eine Erweiterung des Berufungsantrags nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist kann somit nur auf schon in der Berufungsbegründung angeführte Gründe gestützt werden (BGH NJW 2005, 3067; BGH NJW-RR 2005, 714 [715]; BGH NJW-RR 2012, 662 [663]; Musielak/Voit-Ball, ZPO, 17. Aufl. 2020, § 520, Rdnr.25; BeckOK-Wulf, ZPO, 37. Edition, Stand: 01.07.2020, § 520, Rdnr.18). Hieran fehlt es vorliegend. Die Berufungsbegründung vom 06.09.2019 setzt sich mit keinem Wort zu dem von der Klageabweisung erfassten Antrag auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Herausgabe der Nutzungen auseinander, die sie aus dem erhöhten Prämienanteil gezogen hat. Die nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist beantragte Erweiterung des Berufungsantrags auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Herausgabe der gezogenen Nutzungen aus den von dem Kläger gezahlten erhöhten Prämienanteilen gemäß § 818 Abs. 1 BGB ist daher von der eingereichten Berufungsbegründung nicht gedeckt.
854. Ein Anspruch des Klägers auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten besteht nicht. Ein Anspruch aus Verzug ist nicht schlüssig dargelegt. Dem klägerischen Vortrag ist nicht zu entnehmen, dass die Beklagte sich bei Übersendung und Zugang des vorgerichtlichen anwaltlichen Mahnschreibens vom 06.12.2018 schon in Verzug befunden hat. Die Kosten eines verzugsbegründenden anwaltlichen Mahnschreibens sind nicht erstattungsfähig, da sie nicht infolge des Verzugs der Beklagten entstanden sind.
86III.
871. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen – auch unter Berücksichtigung der Erledigungserklärungen der Parteien – auf §§ 91, 91 a, 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Bezüglich der übereinstimmenden Teilerledigungserklärung der Parteien wird die Kostengrundentscheidung bezüglich des durch die Parteien für erledigt erklärten Teils gemäß § 91 a ZPO festgesetzt. Die Entscheidung über den verbleibenden Teil folgt den allgemeinen Grundsätzen. Im Rahmen dieser Kostenmischentscheidung ist eine einheitliche Quote zu bilden. Dabei ist der auf die Erledigung entfallende Streitwert in ein Verhältnis zum Gesamtstreitwert zu setzen, mit der nach § 91 a ZPO zu ermittelnden Kostenlast zu multiplizieren und zu der sich für den streitigen Teil ergebenden Quote zu addieren.
88Hiervon ausgehend führt dies in der Berufungsinstanz zu einer Kostenquote von 54 % zu 46 % zu Lasten der Beklagten.
89Klageantrag zu 1) (139,52 € x 42, § 9 ZPO): 5.859,84 €
90(Klageantrag zu 2, Zahlungsforderung): 6.450,30 €
91Hilfsaufrechnung der Beklagten, soweit
92über diese Gegenforderung eine rechtskraftfähige
93Entscheidung ergeht (Bl.86 GA, § 45 Abs. 3 GKG): 2.857,44 €
94insgesamt: 15.167,58 €
955.859,84 € entsprechen 39 % des Gesamtstreitwertes von 15.167,58 €. Bezüglich dieses erledigten Teils hat die Beklagte 43 % der Kosten zu tragen.
96Bezogen auf die Gesamtkosten ergibt sich eine Quote von 17 % (43/100 x 39/100 = 1.677/10.000 = 16,77/100 = 17 %)
97Bezüglich des streitigen Teils von insgesamt 9.307,74 € unterliegt die Beklagte mit 5.714,88 € (2 x 2.857,44 €), das entspricht etwa 61 %.
98Bezogen auf die Gesamtkosten ergibt sich eine Quote von 37 % (61/100 x 61/100 = 3.721/10.000 = 37,21 %).
99Zusammenfassend ergibt sich für die Beklagte damit eine Kostenlast von 54 % (17/100 + 37/100), dies ergibt eine Kostenquote von 54 % zu 46 % zu Lasten der Beklagten.
100Die Kostenentscheidung für die erste Instanz beträgt 55 % zu 45 % zu Lasten des Klägers. Auch insoweit war bezüglich der übereinstimmenden Teilerledigungserklärung der Parteien die Kostengrundentscheidung bezüglich des durch die Parteien für erledigt erklärten Teils gemäß § 91 a ZPO festzusetzen. Die Abweichung zu der Kostenentscheidung zweiter Instanz folgt aus dem in erster Instanz geringeren Gesamtstreitwert:
101Klageantrag zu 1) (139,52 € x 42, § 9 ZPO): 5.859,84 €
102(Klageantrag zu 2, Zahlungsforderung): 6.119,14 €
103Hilfsaufrechnung der Beklagten bleibt außer Ansatz, da eine
104rechtskraftfähige Entscheidung hierüber nicht ergangen ist
105(Bl.93 GA, § 45 Abs. 3 GKG):
106insgesamt: 11.978,98 €
1075.859,84 € entsprechen 49 % des Gesamtstreitwertes von 11.978,98 €. Bezüglich dieses erledigten Teils hat die Beklagte 43 % der Kosten zu tragen.
108Bezogen auf die Gesamtkosten ergibt sich eine Quote von 21 % (43/100 x 49/100 = 2.107/10.000 = 21,07/100 = 21 %)
109Bezüglich des streitigen Teils von insgesamt 6.119,14 € unterliegt die Beklagte mit 2.857,44 €, das entspricht etwa 47 %.
110Bezogen auf die Gesamtkosten ergibt sich eine Quote von 24 % (47/100 x 51/100 ).= 2.397/10.000 = 23,97 %)
111Zusammenfassend ergibt sich für die Beklagte erstinstanzlich damit eine Kostenlast von 45 % (21/100 + 24/100), dies ergibt eine Kostenquote von 45 % zu 55 % zu Lasten des Klägers.
1122. Die Revision wird gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugelassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
1133. Der Streitwert für das Verfahren wird für beide Instanzen (§ 63 Abs. 2, Abs. 3, S. 1 Nr. 2 GKG) wie folgt festgesetzt:
114Streitwert 1. Instanz:
115Bis zum 27.05.2019: Klageantrag zu 2., Zahlungsforderung: 7.287,17 €
116Über die Hilfsaufrechnung der Beklagten ist eine
117rechtskraftfähige Entscheidung des Gerichts nicht ergangen.
118Ab dem 28.05.2019: Klageantrag zu 2., Zahlungsforderung: 6.119,14 €
119Über die Hilfsaufrechnung der Beklagten ist eine
120rechtskraftfähige Entscheidung des Gerichts nicht ergangen.
121Streitwert 2. Instanz:
122bis zum 22.06.2020: 10.181,42 €.
123(Klageantrag zu 2, Zahlungsforderung): 7.323,98 €
124Hilfsaufrechnung der Beklagten, soweit
125über diese Gegenforderung eine rechtskraftfähige
126Entscheidung ergeht (Bl.86 GA, § 45 Abs. 3 GKG): 2.857,44 €
127ab dem 23.06.2020: 9.307,74 €.
128(Klageantrag zu 2, Zahlungsforderung): 6.450,30 €
129Hilfsaufrechnung der Beklagten, soweit
130über diese Gegenforderung eine rechtskraftfähige
131Entscheidung ergeht (Bl.86 GA, § 45 Abs. 3 GKG): 2.857,44 €
132Der übereinstimmend für erledigt erklärte Feststellungsantrag zu 1. bleibt außer Betracht; der Gebührenstreitwert ergibt sich nur noch aus dem Wert der Resthauptsache. Der Feststellungsantrag zu 3. sowie der Antrag auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten bleiben gemäß § 4 Abs. 1 ZPO außer Ansatz.
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Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das am 18.09.2019 verkündete Urteil der 23. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 23 O 392/18 - teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 9.546,09 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.01.2019 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte
a) dem Kläger zur Herausgabe der Nutzungen verpflichtet ist, die sie vom 01.01.2015 bis zum 31.12.2018 aus dem Prämienanteil gezogen hat, den der Kläger in den nachgenannten Tarifen auf folgende Beitragserhöhungen gezahlt hat:
1) A
zum 01.01.2010
um 39,27 €
2) A
zum 01.01.2011
um 36,49 €
3) A
zum 01.04.2017
um 84,97 €
4) B
zum 01.01.2010
um 7,17 €
5) B
zum 01.04.2014
um 7,01 €
6) B
zum 01.04.2017
um 4,92 €
7) C
zum 01.01.2010
um 22,29 €
8) C
zum 01.01.2011
um 14,34 €
9) C
zum 01.04.2013
um 24,01 €
10) C
zum 01.04.2018
um 47,84 €
b) die nach 3 a) herauszugebenden Nutzungen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 15.01.2019 zu verzinsen hat.
3. Die Klage im Übrigen wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 31 % und die Beklagte zu 69 %. Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz tragen der Kläger zu 17 % und die Beklagte zu 83 %.
Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1G r ü n d e:
2I.
3Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von Beitragserhöhungen in der privaten Krankenversicherung des Klägers. Streitig sind die Beitragserhöhungen in den Tarifen:
41) A
zum 01.01.2010
um 39,27 €
2) A
zum 01.01.2011
um 36,49 €
3) A
zum 01.04.2017
um 84,97 €
4) B
zum 01.01.2010
um 7,17 €
5) B
zum 01.04.2014
um 7,01 €
6) B
zum 01.04.2017
um 4,92 €
7) C
zum 01.01.2010
um 22,29 €
8) C
zum 01.01.2011
um 14,34 €
9) C
zum 01.04.2013
um 24,01 €
10) C
zum 01.04.2018
um 47,84 €
5Der am 31.08.1966 geborene Kläger ist bei der Beklagten privat krankenversichert. Im Rahmen dieser Versicherung besteht in der Krankheitskostenversicherung Versicherungsschutz in den Tarifen A, B und C. Auslöser der streitigen Beitragserhöhungen waren nach dem Vortrag der Beklagten die Entwicklungen der Leistungsausgaben. Die für die streitgegenständlichen Prämienerhöhungen maßgeblichen Zustimmungen wurden durch den Treuhänder D erteilt.
6Die Beklagte teilte dem Kläger die Prämienerhöhungen zu den jeweiligen Stichtagen des 1. Januar/ 1. April eines Jahres mit Schreiben aus November des jeweiligen Vorjahres bzw. aus Februar desselben Jahres mit (vgl. im Einzelnen Anlagen KGR 2 bis KGR 9, Bl.126 f., 128 f., 132 f., 134 f., 137 f. und 139 f. GA sowie Anlagenkonvolut BLD 5 im Anlagenhefter).
7Mit anwaltlichem Schreiben vom 02.11.2018 (Anlage BLD 6 im Anlagenband) machte der Kläger gegenüber der Beklagten die Unwirksamkeit der Prämienerhöhungen geltend und forderte die Beklagte mit einer Fristsetzung von zwei Wochen nach Erhalt des Schreibens zur Rückzahlung der auf diese Erhöhungen gezahlten Prämienanteile einschließlich der daraus gezogenen Nutzungen auf.
8Die Zustellung der am 03.12.2018 bei Gericht eingegangenen Klageschrift erfolgte am 15.01.2019 (Bl. 23 R GA). In der am 27.02.2019 zugestellten Klageerwiderung vom 18.02.2019 (Bl. 59 ff., 95 GA) hat die Beklagte die Prämienerhöhungen zu den jeweiligen Stichtagen mit einem Anstieg der Leistungsausgaben begründet und den jeweiligen auslösenden Faktor mitgeteilt. Außerdem hat sie sich auf die aus ihrer Sicht dem Kläger rechtsgrundlos zugeflossenen Vermögensvorteile berufen, die sich bei einem Vergleich der Altersrücklagen ohne jegliche Beitragserhöhung mit der Höhe der Altersrücklagen unter Berücksichtigung der Prämienerhöhung ergebe und welche dem Kläger im Wege der Saldierung der sich gegenüberstehenden Bereicherungsansprüche anzurechnen seien. In Höhe dieser anzurechnenden konkreten Vermögensvorteile, die sie mit 10.681,14 € beziffert, hat sie zudem die Hilfsaufrechnung gegen die bezifferte Klageforderung erhoben (Bl. 86 GA).
9Mit der Klageschrift hat der Kläger unter Ziffer 1. zunächst beantragt festzustellen,
10dass folgende Erhöhungen des Monatsbeitrags in der zwischen dem Kläger und der Beklagten bestehenden Krankenversicherung mit der Versicherungsnummer E unwirksam sind und der Kläger nicht zur Zahlung des jeweiligen Erhöhungsbetrages - bezogen auf den letzten rechtmäßigen Beitrag vom 01.12.2009 in Höhe von insgesamt 342,46 € - verpflichtet ist:
11a) in der Krankheitskostenversicherung im Tarif „A“ die Erhöhungen zum 01.01.2010 um 39,27 €, zum 01.01.2011 um 75,76 € und zum 01.04.2017 um 160,73 €,
12b) in der Krankheitskostenversicherung im Tarif „B“ die Erhöhungen zum 01.01.2010 um 7,17 €, zum 01.04.2014 um 14,18 € und zum 01.04.2017 um 19,10 €,
13c) in der Krankheitskostenversicherung im Tarif „C“ die Erhöhungen zum 01.01.2010 um 22,29 €, zum 01.01.2011 um 36,63 €, zum 01.04.2013 um 60,64 € und zum 01.04.2018 um 108,48 €,
14d) in der Pflegepflichtversicherung im Tarif „F“ die Erhöhungen zum 01.01.2010 um 1,73 €, zum 01.04.2013 um 2,01 € und zum 01.04.2015 um 10,84 €.
15Mit Schriftsatz vom 21.03.2019 (Bl. 98 ff. GA) hat der Kläger seinen Feststellungsantrag zu 1. a), b) und c) für erledigt erklärt, nachdem die Beklagte in der Klageerwiderung vom 18.02.2019 (Bl. 59 ff. GA) insbesondere die auslösenden Faktoren zu den streitgegenständlichen Beitragsanpassungen mitgeteilt hat. Bezogen auf die Erhöhungen in der Pflegepflichtversicherung im Tarif F hat der Kläger die Klage mit Schriftsatz vom 24.06.2019 (Bl. 188 GA) sowohl bezüglich des ursprünglichen Feststellungsantrages zu 1. d) als auch bzgl. der insoweit geltend gemachten Zahlungsforderung (692,72 €) sowie des auf den Tarif F bezogenen Feststellungsantrages zu 3) zurückgenommen. Die Beklagte hat der Teilerledigungserklärung des Klägers zu dem Feststellungsantrag zu 1. a), b) und c) mit Schriftsatz vom 11.04.2019 (Bl. 148 ff. GA) zunächst widersprochen und sich anschließend mit Schriftsatz vom 09.05.2019 der Teilerledigungserklärung des Klägers unter Verwahrung gegen die Kostenlast angeschlossen (Bl. 174 GA). Bezüglich der Teilklagerücknahme des Klägers zu dem Feststellungsantrag 1. d), den auf den Tarif F bezogenen Zahlungsantrag zu 2) sowie den Feststellungsantrag zu 3.), bezogen auf den Tarif „F“, hat sie mit Schriftsatz vom 28.06.2019 Kostenantrag gestellt (Bl. 191 GA).
16Das Landgericht hat die Zahlungs- und Feststellungsklage des Klägers abgewiesen. Die in Rede stehenden Prämienanpassungen, deren materielle Rechtmäßigkeit nicht in Streit stehe, seien in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.
17Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes einschließlich der dort gestellten Schlussanträge und der Urteilsbegründung im Einzelnen wird auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
18Mit seiner form- und fristgerechten Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Klagebegehren weiter. Er macht geltend, dass die Mitteilungsschreiben nicht den an ihre formelle Rechtmäßigkeit zu stellenden Anforderungen genügten. Das Begründungserfordernis des § 203 VVG solle es dem Versicherungsnehmer möglich machen, die grundlegenden Tatsachen, die zur Beitragserhöhung geführt haben, in Erfahrung zu bringen und diese anschließend auf dieser Grundlage überprüfen zu lassen. Eine bloß formelhafte Begründung genüge nicht. Aus der Begründung müsse hervorgehen, welche der nach § 203 Abs. 2 Sätze 1 und 3 VVG zu betrachtenden Rechnungsgrundlagen sich gegenüber der ursprünglichen Kalkulation verändert haben. Die Gründe müssten detailliert aufgeführt und auch die konkrete Höhe der Veränderung müsse mitgeteilt werden. Andernfalls sei der Versicherungsnehmer nicht in der Lage, die Vertragsanpassung nachzuvollziehen oder zu überprüfen.
19In der Berufungsinstanz hat der Kläger ursprünglich einen Zahlungsbetrag von 19.638,89 € sowie Zinsen hieraus seit dem 06.11.2018 geltend gemacht (Bl. 252 GA). Mit Schriftsatz vom 22.07.2020 hat er seinen Antrag umgestellt; insbesondere hat er den Zahlungsantrag zu Ziffer 2. von ehemals 19.638,89 € auf 16.388,72 € reduziert (Bl. 313 ff. GA).
20Der Kläger beantragt nunmehr,
21das Urteil des Landgerichts Köln vom 18.09.2019 – 23 O 392/18 – aufzuheben und die Beklagte nach Maßgabe der nachfolgenden Anträge zu verurteilen:
221) Es wird festgestellt, dass der folgende Feststellungsantrag – auch soweit er für erledigt erklärt wurde – ursprünglich zulässig und begründet war:
23 Es wird festgestellt, dass folgende Erhöhungen des Monatsbeitrags in der zwischen dem Kläger und der Beklagten bestehenden Krankenversicherung mit der Versicherungsnummer G unwirksam sind und der Kläger nicht zur Zahlung des jeweiligen Erhöhungsbetrages verpflichtet ist:
24b) in der Krankheitskostenversicherung im Tarif „A“ die Erhöhungen zum 01.01.2010 um 39,27 €, zum 01.01.2011 um 75,76 € und zum 01.04.2017 um 160,73 €,
25b) in der Krankheitskostenversicherung im Tarif „B“ die Erhöhungen zum 01.01.2010 um 7,17 €, zum 01.04.2014 um 14,18 € und zum 01.04.2017 um 19,10 €,
26c) in der Krankheitskostenversicherung im Tarif „C“ die Erhöhungen zum 01.01.2010 um 22,29 €, zum 01.01.2011 um 36,63 €, zum 01.04.2013 um 60,64 € und zum 01.04.2018 um 108,48 €.
272) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 16.388,72 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
283) Es wird festgestellt, dass die Beklagte
29a) dem Kläger zur Herausgabe der Nutzungen verpflichtet ist, die sie aus dem Prämienanteil gezogen hat, den der Kläger auf die unter 1) aufgeführten Beitragserhöhungen gezahlt hat,
30b) die nach 3 a) herauszugebenden Nutzungen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu verzinsen hat.
314) Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten und Auslagen in Höhe von 1.698,13 € freizustellen.
32Die Beklagte beantragt,
33die Berufung zurückzuweisen.
34Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Unter Bezugnahme auf ihren gesamten erstinstanzlichen Vortrag und Vertiefung ihrer jeweiligen Standpunkte hält die Beklagte daran fest, dass sämtliche Erhöhungsschreiben den formellen Voraussetzungen genügten. Sie erhebt zudem erneut die Einrede der Verjährung.
35Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen und die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
36II.
37Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache nur teilweise Erfolg.
38Hinsichtlich des Feststellungsantrages zu 1. haben die Parteien den Rechtsstreit bereits in erster Instanz übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt, wodurch die Rechtshängigkeit dieses Anspruchs von selbst beendet worden ist. Die lediglich noch zu ergehende Kostenentscheidung führt zu einer Auferlegung der insoweit entstandenen Kosten auf die Beklagte. Soweit der Kläger seinen Zahlungsanspruch noch verfolgt, ist dieser in Höhe von 9.546,09 € begründet. Der Feststellungsantrag zu 3. ist in dem tenorierten Umfang begründet, während ein Anspruch des Klägers auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nicht gegeben ist.
391. Den auf Feststellung der Erledigung der Hauptsache gerichteten Klageantrag zu 1. a), b) und c) in der Fassung des Schriftsatzes vom 22.07.2020 (Bl. 313 f. GA), den der Kläger in der Sitzung vom 11.08.2020 gestellt hat (Bl.327 GA), haben die Parteien mit Schriftsätzen vom 21.03.2019 (Bl. 98 ff. GA) und vom 09.05.2019 (Bl.174 GA) bereits erstinstanzlich übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt. Eine Entscheidung des Senats ist insoweit nicht veranlasst. Nach übereinstimmender Erledigungserklärung eines Teils der Hauptsache ist dieser nicht mehr rechtshängig; insoweit hat das Gericht gemäß § 91 a ZPO nur noch nach den materiellen Kriterien des § 91 Abs. 1 S. 1 über die Kosten zu entscheiden. Das Gericht verliert bzgl. des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils seine Befugnis, in der Hauptsache zu entscheiden. Rechtshängig bleibt (nur) der nicht für erledigt erklärte Teil der Hauptsache (Musielak/Voit-Flockenhaus, ZPO, 17. Aufl. 2020, § 91 a, Rdnr. 51; BeckOK, ZPO/Jaspersen, 37. Edition, Stand: 01.07.2020, § 91 a, Rdnr. 25). Der Gebührenstreitwert ergibt sich fortan nur noch aus dem Wert der Resthauptsache. Die anteiligen Prozesskosten nach übereinstimmender Teilerledigungserklärung erhöhen den Streit- und Beschwerdewert nicht, solange noch ein Teil der Hauptsache im Streit ist (BGH, Beschluss vom 14.01.2020 - II ZR 395/18 - BeckRS 2020, 2998). Der Berufungsantrag des Klägers zu Ziffer 1. geht damit ins Leere.
40Die Kosten hinsichtlich dieses erledigten Teils des Rechtstreits sind gemäß § 91 a ZPO der Beklagten aufzuerlegen. Die Entscheidung, welche der Parteien die Kosten des erledigten Teils der Hauptsache zu tragen hat, ist gemäß § 91 a ZPO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach– und Streitstandes nach billigem Ermessen zu treffen. Bei dieser Entscheidung sind die Grundgedanken des Kostenrechts gemäß den §§ 91 ff. ZPO zu berücksichtigen, insbesondere der Grundsatz des § 91 ZPO, dass der Unterlegene die Kosten des Rechtstreits zu tragen hat. Dies wäre vorliegend die Beklagte gewesen, da ohne das erledigende Ereignis (Erklärungen der Parteien, Mitteilung der auslösenden Faktoren zu den streitgegenständlichen Beitragsanpassungen) auf den ursprünglichen Feststellungsantrag des Klägers festzustellen gewesen wäre, dass die streitigen Tariferhöhungen in der zwischen den Parteien bestehenden Krankenversicherung unwirksam gewesen sind und der Kläger nicht zur Zahlung der jeweiligen Erhöhungsbeträge verpflichtet gewesen ist. Aus den unter 2. näher dargelegten Gründen waren die streitgegenständlichen Tariferhöhungen wegen einer unzureichenden Begründung in den jeweiligen Mitteilungsschreiben der Beklagten entweder bereits in formeller Hinsicht jeweils unwirksam und sind erst durch die Zustellung der Klageerwiderung am 27.02.2019 geheilt und zum 01.04.2019 wirksam geworden oder sie waren im Hinblick auf die Unwirksamkeit der Tarifanpassungsklausel gemäß § 8 b MB/KK bereits von vornherein endgültig unwirksam.
412. Der Kläger kann von der Beklagten gemäß § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB im Wege der Leistungskondiktion die Rückzahlung geleisteter Erhöhungsbeträge in den Tarifen A, B und C für den Zeitraum von Januar 2015 bis Dezember 2018 in Höhe von 9.546,09 € nebst anteiligen Verzugszinsen gemäß §§ 288 Abs. 1, 291 BGB verlangen. Die den Betrag von 9.546,09 € übersteigende Forderung unterliegt der Abweisung.
42Die vier Tarifanpassungen in den Tarifen B zum 01.04.2014, B zum 01.04.2017, C zum 01.01.2011 und C zum 01.04.2018 sind wegen der Unwirksamkeit der Beitragsanpassungsklausel in § 8 b Abs. 1, Abs. 2 MB/KK 2009 (Anlage BLD 2) endgültig unwirksam (vgl. hierzu nachfolgend 2. d)). Die übrigen sechs Tariferhöhungen waren wegen einer unzureichenden Begründung in den jeweiligen Mitteilungsschreiben der Beklagten in formeller Hinsicht jeweils unwirksam und sind erst durch die Zustellung der Klageerwiderung am 27.02.2019 geheilt und zum 01.04.2019 wirksam geworden.
43In formeller Hinsicht gilt Folgendes:
44a) Nach § 203 Abs. 5 VVG werden die Neufestsetzung der Prämie und die Änderungen nach § 203 Abs. 2 und 3 VVG zu Beginn des zweiten Monats wirksam, der auf die Mitteilung der Neufestsetzung oder der Änderungen und der hierfür maßgeblichen Gründe an den Versicherungsnehmer folgt. Vorliegend genügen die von der Beklagten verfassten Begründungsschreiben aus November 2009, November 2010, Februar 2013 und Februar 2017 (vgl. im Einzelnen Anlagen KGR 2 bis KGR 8, Bl.126 ff. GA sowie Anlagenkonvolut BLD 5 im Anlagenhefter), bezogen auf Prämienerhöhungen zum 01.01.2010, 01.01.2011, 01.04.2013 und 01.04.2017, nebst Anlagen nicht den zu stellenden Mindestanforderungen an eine Mitteilung der maßgeblichen Gründe im Sinne des §˘203 Abs. 5 VVG.
45Streitig und noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, was unter Mitteilung der „maßgeblichen Gründe“ im Sinne von § 203 Abs. 5 VVG zu verstehen ist und welche Angaben die Mitteilung im Einzelnen enthalten muss. „Gründe“ i.S.d. § 203 Abs. 5 VVG sind jedenfalls die Umstände, die eine Neufestsetzung der Prämie inhaltlich rechtfertigen. Da das Anpassungsrecht eine nicht nur vorübergehende Veränderung der für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlagen im Sinne von § 203 Abs. 2 VVG, § 12 b Abs. 2 VAG bzw. § 155 Abs. 3 VAG 2016 voraussetzt, muss die Mitteilung daher zumindest irgendwelche Aussagen zu diesem Punkt enthalten. Zu den in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Ansichten, welche Anforderungen an die Mitteilung gemäß § 203 Abs. 5 VVG zu stellen sind, und zu der vom Senat vertretenen Auffassung wird auf die Senatsurteile vom 29.10.2019 (9 U 127/18), vom 17.12.2019 (9 U 131/18), vom 28.01.2020 (9 U 138/19) sowie vom 21.04.2020 (9 U 174/18) verwiesen. Unter inhaltlicher Bezugnahme auf die betreffenden Ausführungen in den Senatsurteilen sind hiernach folgende Anforderungen und Grundsätze zu beachten:
46aa) Zunächst ist erforderlich, in der Mitteilung gemäß § 203 Abs. 5 VVG zur Begründung der Prämienanpassung die Rechnungsgrundlage zu nennen, deren Veränderung die Prämienanpassung ausgelöst hat, also die Veränderung der Leistungsausgaben bzw. Versicherungsleistungen und/oder der Sterbewahrscheinlichkeit bzw. Sterbetafeln, weil die Veränderung zumindest einer dieser beiden Rechnungsgrundlagen oder ggf. auch beider in § 155 VAG ausdrücklich als Voraussetzung für eine Prämienanpassung genannt ist.
47bb) Die Benennung der Rechnungsgrundlage muss auch bezogen auf die konkrete Prämienanpassung erfolgen. Nicht ausreichend ist insofern, dass in Informationsblättern allgemein darauf hingewiesen wird, dass eine Veränderung einer der beiden genannten Rechnungsgrundlagen eine Prämienanpassung auslösen kann, ohne klar darauf hinzuweisen, welche geänderte Rechnungsgrundlage für die in Rede stehende konkrete Prämienerhöhung maßgeblich war. Eine bloße Erläuterung der allgemeinen gesetzlichen und tariflichen Grundlagen reicht nicht aus. Denn dem Gesetzeswortlaut ist durch die Verwendung des Begriffs „maßgeblich“ zu entnehmen, dass nicht eine allgemeine Information oder Belehrung über das Prämienanpassungsrecht ausreicht, sondern ein Bezug zu der konkreten Prämienanpassung hergestellt werden muss.
48cc) Hingegen ist die Angabe der konkreten Höhe der Veränderung oder des sog. auslösenden Faktors nicht erforderlich. Denn für die Prämienerhöhung reicht es aus, dass die Veränderung den in den Versicherungsbedingungen oder im Gesetz festgelegten Schwellenwert über- oder unterschreitet.
49dd) Nicht erforderlich ist zudem, dass in der Mitteilung konkret angegeben wird, welcher Schwellenwert über- oder unterschritten wurde, der gesetzliche Faktor gemäß § 155 VAG (Versicherungsleistungen über 10 % bzw. Sterbetafeln über 5 %) oder ein gegebenenfalls abweichender tariflich vereinbarter auslösender Faktor (z.B. § 8 b MB/KK: Versicherungsleistungen über 5 %). Es reicht aus, wenn der Versicherungsnehmer dem Gesamtzusammenhang des Begründungsschreibens klar entnehmen kann, dass der Versicherer seine Erhöhung mit einer Über- oder Unterschreitung des geltenden Faktors begründet.
50ee) Nicht erforderlich ist die Angabe des Namens und der Anschrift des Treuhänders in der Mitteilung nach § 203 Abs. 5 VVG durch den Versicherungsnehmer. Da die Unabhängigkeit des Treuhänders nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19.12.2018 (- IV ZR 255/17 -, VersR 2018, 283 ff.) nicht gerichtlich zu überprüfen ist, ist der Name für den Versicherungsnehmer zunächst ohne Bedeutung. Bei Interesse kann er ihn im Rahmen des ihm zustehenden Auskunftsanspruchs beim Versicherer erfragen.
51ff) Jedenfalls bei gestiegenen Leistungsausgaben ist ebenfalls nicht zwingend erforderlich die Nennung der Veränderung weiterer Kriterien, welche die Prämienhöhe zumindest auch noch beeinflusst haben, wie bspw. der Rechnungszins. Insbesondere muss ein konkreter Bezug zwischen der streitgegenständlichen Prämienerhöhung und den veränderten weiteren Faktoren in der Begründung nicht hergestellt werden. Denn dies führte zu einer erheblichen Erhöhung des Verwaltungsaufwands, der zu Lasten der Versicherungsgemeinschaft ginge, ohne dass dem Aufwand ein nur ansatzweise entsprechender Nutzen für den einzelnen Versicherungsnehmer gegenüberstünde.
52Genügt die Mitteilung des Versicherers gemäß § 203 Abs. 5 VVG diesen unter 2. a), aa) bis ff) genannten, grundsätzlichen Anforderungen, kann der Versicherungsnehmer die rechtlichen Voraussetzungen, mit denen der Versicherer die Prämienanpassung begründet, in hinreichendem Maße nachvollziehen.
53b) Die Mitteilungsschreiben der Beklagten zu den vier Tarifanpassungen in den Tarifen B zum 01.04.2014, B zum 01.04.2017, C zum 01.01.2011 und C zum 01.04.2018 bedürfen – wie ausgeführt – keiner näheren Untersuchung; diese Beitragserhöhungen sind wegen der Unwirksamkeit der Beitragsanpassungsklausel in § 8 b Abs. 1, Abs. 2 MB/KK 2009 (Anlage BLD 2) endgültig unwirksam (vgl. hierzu nachfolgend 2. d)).
54Die übrigen streitgegenständlichen Begründungen aus November 2009, November 2010, Februar 2013 und Februar 2017 (vgl. im Einzelnen Anlagen KGR 2 bis KGR 8, Bl.126 ff. GA sowie Anlagenkonvolut BLD 5 im Anlagenhefter) beziehen sich auf Prämienerhöhungen zum 01.01.2010, 01.01.2011, 01.04.2013 und 01.04.2017. Konkret sind insoweit folgende Prämienerhöhungen betroffen:
551) A
zum 01.01.2010
um 39,27 €
2) A
zum 01.01.2011
um 36,49 €
3) A
zum 01.04.2017
um 84,97 €
4) B
zum 01.01.2010
um 7,17 €
5) C
zum 01.01.2010
um 22,29 €
6) C
zum 01.04.2013
um 24,01 €
56Die von der Beklagten übersandten Begründungen zu diesen Prämienerhöhungen erfüllen nicht die nach § 203 Abs. 5 VVG zu stellenden Mindestanforderungen an die Mitteilung der maßgeblichen Gründe.
57aa) In den zeitlich früheren Schreiben aus November 2009, November 2010 und Februar 2013 (Anlagen KGR 2 - KGR 5, Bl.126 ff. GA, Anlage BLD 5 im Anlagenheft) erschöpft sich der erste Absatz regelmäßig in einer reinen Werbebotschaft (November 2009 und November 2010) bzw. in der Mitteilung, dass in diesem Jahr die Beiträge des Klägers deutlich erhöht werden müssen und wesentliche Gründe dafür der medizinische Fortschritt und die damit verbesserten Behandlungsverfahren seien (Februar 2013). In den folgenden Absätzen wird ganz allgemein darauf hingewiesen, dass Beitragseinnahmen und die Ausgaben für Gesundheitsleistungen an die Versicherten im Gleichgewicht sein müssen (November 2010) bzw. es werden die Bemühungen der Beklagten, den Anstieg der Beiträge zu vermindern, geschildert (Februar 2013). Ferner wird mitgeteilt, dass der Treuhänder, ein von ihr unabhängiger Mathematiker, die gesetzlich erforderliche Zustimmung zu der in Rede stehenden Beitragsanpassung nach genauer Prüfung erteilt habe (Februar 2013). Aus den Schreiben ergibt sich jedoch schon nicht im Ansatz, welche der beiden in § 203 Abs. 2 VVG genannten Rechnungsgrundlagen sich verändert hat. Ebenso wenig wird dargestellt, welche konkreten Tarife von diesen Veränderungen betroffen sind und ob es eine Veränderung der in § 203 Abs. 2 VVG genannten Berechnungsgrundlagen (Leistungsausgaben oder Sterbewahrscheinlichkeit) gegeben hat, die auch die im Gesetz angegebene Quote übersteigen bzw. ob wegen einer Überschreitung des Schwellenwertes von 5 % eine Beitragsanpassung nach § 8 b MB/KK vorgenommen wurde. Auch in den beigefügten Informationen zur Beitragsanpassung („Höhere Beiträge - wozu?“ November 2010; „Beitragsanpassungen garantieren dauerhaft Qualitätsmedizin auf hohem Niveau“, Februar 2013, Anlage BLD 5 im Anlagenheft) finden sich nicht die nach § 203 Abs. 5 VVG erforderlichen Mindestangaben. Es handelt sich durchweg um allgemeine Informationen, die keinen konkreten Bezug zu den vorgenommenen Tariferhöhungen enthalten. Anschließend werden die gesetzlichen Grundlagen für eine Prämienanpassung mitgeteilt. Dies sind aber keine Rechnungsgrundlagen i.S.d. § 203 Abs. 2 VVG, bei deren Veränderung eine Prämienanpassung vorgenommen werden dürfte. Dass die Beitragsanpassung auf der Veränderung einer dieser gesetzlich genannten Rechnungsgrundlagen erfolgt, ist den beiden Anpassungsschreiben auch nicht ansatzweise zu entnehmen.
58bb) In dem jüngerem Anpassungsschreiben aus Februar 2017 (KGR 8, Bl.137 f. GA, BLD 5 im Anlagenheft) wird zwar im ersten Absatz mitgeteilt, dass wichtigster Grund für die Änderung des Beitrags die gestiegenen Gesundheitskosten sei. Es fehlt indes die Angabe, dass die Veränderung den gesetzlich festgelegten Schwellenwert von 10 % überschritten hat oder ob wegen einer Überschreitung des Schwellenwertes von 5 % eine Beitragsanpassung nach § 8 b MB/KK vorgenommen wurde. Konkrete Angaben zu den Rechnungsgrundlagen und deren Veränderung, die den angepassten Tarifen zugrunde liegen, finden sich auch in beigefügten Beilagen („Wie kommt es zu Beitragsanpassungen?“, „Gründe für Beitragsanpassungen“) nicht. Auch dort werden nur allgemeine Informationen zu den gesetzlichen Schwellenwerten wiedergegeben; ein konkreter Bezug zu den vorgenommenen Tariferhöhungen fehlt. Allgemeine Hinweise in den Informationsblättern darauf, dass eine Veränderung einer der beiden Rechnungsgrundlagen eine Prämienanpassung auslösen kann und bloße Erläuterungen der allgemeinen gesetzlichen und tariflichen Grundlagen reichen nicht aus, um eine Mitteilung der maßgeblichen Gründe anzunehmen und die Frist des § 203 Abs. 5 VVG auszulösen. In der Mitteilung ist vielmehr unmissverständlich, klar und eindeutig darauf hinzuweisen, welche geänderte Rechnungsgrundlage für die in Rede stehende konkrete Prämienerhöhung maßgeblich gewesen ist. Hieran fehlt es.
59Insgesamt genügt daher keines der Anpassungsschreiben aus November 2009, November 2010, Februar 2013 und Februar 2017 den vom Senat gestellten Anforderungen an eine Begründung gemäß § 203 Abs. 5 VVG.
60c) Die unzureichenden Begründungen für diese sechs Prämienerhöhungen zum 01.01.2010, 01.01.2011, 01.04.2013 und 01.04.2017 sind mit Zustellung der Klageerwiderung am 27.02.2019 (Bl.95 GA) an die Prozessbevollmächtigten des Klägers geheilt worden. Nach Ablauf der Frist nach § 203 Abs. 5 VVG wurden die vorgenannten Prämienerhöhungen zum 01.04.2019 wirksam.
61aa) Nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs führt eine etwaige zunächst unzureichende Mitteilung der Gründe möglicherweise nur zum Erfolg des Zahlungsantrags auf Rückzahlung der bis zum geltend gemachten Zeitpunkt einschließlich geleisteten Prämienzahlungen, nicht aber auch zum Erfolg des darüber hinaus reichenden Feststellungsantrags, sofern eine ausreichende Mitteilung der Gründe in den detaillierten Angaben in der Klageerwiderung erblickt werden könnte (BGH, Urteil vom 19.12.2018, - IV Z R 255/17 -, VersR 2018, 283 ff. in juris Rn. 65). Erfolgt eine Mitteilung der Prämienanpassung zunächst ohne eine den Anforderungen des § 203 Abs. 5 VVG genügende Begründung, wird diese aber später nachgeholt, wird durch den Zugang dieser nachgeholten Begründung die für die Wirksamkeit der Neufestsetzung der Prämie angeordnete Frist in Lauf gesetzt, so dass erst von diesem Zeitpunkt an das Inkrafttreten nach § 203 Abs. 5 VVG zu berechnen ist (BGH, Urteil vom 19.12.2018, - IV Z R 255/17 -, VersR 2018, 283 ff. in juris Rn. 65; MK/Boetius a.a.O. § 203 Rn. 1160; Boetius, Private Krankenversicherung a.a.O. § 203 VVG Rn. 207; a.A. und für vollständige Unwirksamkeit: LG Neuruppin, Urteil vom 25.08.2017, - 1 O 338/16 -, VersR 2018, 469 ff. in juris Rn. 26; Brömmelmeyer in Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar z. VVG, 3. Aufl. 2016, § 203 VVG Rn. 47; Klimke, VersR 2016, 22/24 Ziff. III 1. a) u. b)).
62bb) Der Senat schließt sich der vom Bundesgerichtshof vertretenen Auffassung an. Zunächst spricht der Wortlaut „werden … wirksam“ gegen die Annahme einer endgültigen Unwirksamkeit. Außerdem entspricht es dem Willen des Gesetzgebers, an der Rechtslage vor 2008 nichts Wesentliches zu ändern. Dieser Wille würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn formelle Mängel bei der Mitteilung ein dauerhaft beachtliches Wirksamkeitshindernis für eine Prämienanpassung darstellten. Ein solches Wirksamkeitshindernis sollte nicht leichtfertig aufgestellt werden, da das Recht des Versicherers auf Beitragsanpassungen nach § 203 Abs. 2 VVG ein wesentlicher Stützpfeiler der aufsichtsrechtlich angestrebten dauernden Erfüllbarkeit der Versicherungsverträge ist (Brand, VersR 2018, 453/457 Ziff. V) und der Versichertengemeinschaft dient. Das berechtigte Interesse des einzelnen Versicherungsnehmers an einer Mitteilung der für seine konkrete Prämienanpassung maßgeblichen Gründe wird hinreichend dadurch geschützt, dass dieser bis zur Heilung etwaiger Begründungsmängel nicht zur Zahlung des erhöhten Beitrages verpflichtet ist.
63cc) In Anwendung der vorgenannten Grundsätze sind die unzureichenden Begründungen der Beklagten für die genannten Prämienerhöhungen zum 01.01.2010, 01.01.2011, 01.04.2013 und 01.04.2017 durch die Ausführungen in der Klageerwiderung vom 18.02.2019 (Bl. 59 ff. GA) geheilt worden. Die Beklagte hat dort die maßgebliche Rechnungsgrundlage (Versicherungsleistungen) und den jeweiligen auslösenden Faktor genannt. Insoweit hat sie nachvollziehbar dargetan, dass und inwieweit bei den einzelnen Erhöhungen der jeweiligen Tarife zu den jeweiligen Stichtagen der gesetzliche Schwellenwert von 10 % überschritten ist.
64Mit Zustellung der Klageerwiderung am 27.02.2019 wurde in Anwendung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Frist des § 203 Abs. 5 VVG in Lauf gesetzt, sodass die nachfolgenden Prämienerhöhungen
651) A
zum 01.01.2010
um 39,27 €
2) A
zum 01.01.2011
um 36,49 €
3) A
zum 01.04.2017
um 84,97 €
4) B
zum 01.01.2010
um 7,17 €
5) C
zum 01.01.2010
um 22,29 €
6) C
zum 01.04.2013
um 24,01 €
66mit einem nur unzureichenden Begründungsschreiben jeweils ab 01.04.2019 wirksam geworden sind.
67d) Bei den Tarifanpassungen in den Tarifen B zum 01.04.2014, B zum 01.04.2017, C zum 01.01.2011 und C zum 01.04.2018 liegt die Veränderung bei den Versicherungsleistungen jeweils unter dem gesetzlichen Schwellenwert von über 10 %, aber über 5 % (B zum 01.04.2014: 8 %, B zum 01.04.2017: 5,7 %, C zum 01.01.2011: 6,8 %, C zum 01.04.2018: 8,2 %).
68Die Beitragsanpassungsklausel in § 8 b Abs. 1, Abs. 2 MB/KK 2009 (Anlage BLD 2) gestattet bei einer Abweichung der Versicherungsleistungen von mehr als 5 % eine Überprüfung aller Beiträge dieser Beobachtungseinheit und ggf. eine Anpassung der Prämie mit Zustimmung des Treuhänders. Diese Klausel ist nach Auffassung des Senats jedoch unwirksam. Der Kläger ist auch nicht gehindert, sich auf diese Unwirksamkeit zu berufen; er hat in der Sitzung vom 11.08.2020 klargestellt, dass Einwände gegen die Prämienerhöhungen in materieller Hinsicht nicht erhoben werden, „soweit es die Rechtmäßigkeit der Prämienberechnung angeht“ (Bl.332 R GA). Hiernach ist es dem Kläger nicht verwehrt, sich auf eine generelle Unwirksamkeit dieser Beitragsanpassungsklausel zu berufen.
69Die Unwirksamkeit dieser Regelung ergibt sich nicht etwa daraus, dass bei den Versicherungsleistungen in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen auch ein geringerer Prozentsatz als über 10 % vorgesehen werden kann. Die Zulässigkeit einer solchen Regelung folgt bereits aus den §§ 12 b Abs. 2 S. 2 VAG a.F., 155 Abs. 3 S. 2 VAG. Die Unwirksamkeit der Tarifbedingung in § 8 b Abs. 1, Abs. 2 MB/KK ergibt sich vielmehr daraus, dass abweichend von den §§ 12 b Abs. 2 S. 2 VAG a.F., 155 Abs. 3, S. 2 VAG, 203 Abs. 2 VVG von einer Beitragsanpassung abgesehen werden kann, wenn die Veränderung der Versicherungsleistungen nur vorübergehend ist. Diese Regelung wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse, auf den der BGH in ständiger Rechtsprechung abstellt (BGH NJW 2009, 1147 (1148); BGH NJW-RR 2015, 1442 (1443); BGH NJW 2018, 305 (306)), dahin verstehen, dass dem Versicherer bei einer nur vorübergehenden Veränderung der Versicherungsleistung ein Ermessensspielraum bei der Entscheidung darüber eingeräumt wird, ob es zu einer Prämienanpassung kommt oder nicht. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 8 b Abs. 1, Abs. 2 MB/KK wird dem Versicherer die Möglichkeit eingeräumt, auch im Falle einer nur vorübergehenden Veränderung der Rechnungsgrundlage „Versicherungsleistungen“ zum Nachteil des Versicherungsnehmers eine Beitragsanpassung vorzunehmen. Dies widerspricht insoweit dem eindeutigen Wortlaut der §§ 12 b Abs. 2 S. 2 VAG a.F., 155 Abs. 3, S. 2 VAG, 203 Abs. 2 VVG, nach denen eine Prämienanpassung nur dann zulässig ist, wenn die Veränderung nicht nur vorübergehender Art ist. Nach der halbzwingenden Vorschrift des § 208 Abs. 1 VVG kann von der gesetzlichen Regelung nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers abgewichen werden (Prölss/Martin-Voit, VVG, 30. Aufl. 2018, MB/KK 2009 § 8b Rdnr.2).
70Dieser Bewertung steht das Urteil des BGH vom 22.09.2004 (IV ZR 97/03, VersR 2004, 1446 = NJW-RR 2004, 1677) nicht entgegen. In dieser Entscheidung hat der BGH keine Entscheidung zur Wirksamkeit einer solchen Beitragsanpassungsklausel getroffen, sondern Prämienanpassungen nach der früheren Rechtslage beurteilt, d.h. jene vor dem Inkrafttreten des Dritten Durchführungsgesetzes/EWG zum VAG am 29.07.1994. Hierzu hat der BGH klargestellt, dass bei solchen Prämienanpassungen nach altem Recht, in denen die vertraglichen Bestimmungen zur Beitragsanpassung (dort § 8 a Teil II, III AVB) „weniger strenge Vorgaben enthalten“ als die seit dem 29.07.1994 geltenden Rechtsvorschriften und „dem Versicherer einen Ermessensspielraum eröffnen“, diese „Ermessensausübung auf ihre Billigkeit nach § 315 BGB zu prüfen“ ist (BGH NJW-RR 2004, 1677 [1678]). Eine nähere Prüfung, ob eine solche Regelung mit den halbzwingenden Vorschriften der §§ 12 b Abs. 2 S. 2 VAG a.F., 155 Abs. 3, S. 2 VAG, 203 Abs. 2, 208 Abs. 2 VVG zu vereinbaren ist, war im Rahmen dieser Entscheidung nicht veranlasst, da insoweit Prämienerhöhungen zum 01.07.1994, also nach altem Recht, betroffen waren.
71Die Unwirksamkeit der Klausel in § 8 b Abs. 2 MB/KK führt auch zur Unwirksamkeit des § 8 b Abs. 1 MB/KK, weil die Regelungen in den Absätzen 1 und 2 zu den Voraussetzungen einer Prämienerhöhung in einem untrennbaren Zusammenhang stehen. Im Falle des Wegfalls der Regelung in § 8 b Abs. 2 MB/KK wegen Unwirksamkeit könnte die Regelung in § 8 b Abs. 1 MB/KK nicht alleine fortbestehen, ohne nicht ebenfalls gegen die in §§ 12 b Abs. 2 S. 2 VAG a.F., 155 Abs. 3, S. 2 VAG, 203 Abs. 2 VVG vorgesehene Voraussetzung einer nicht nur vorübergehenden Veränderung für eine Prämienanpassung zu verstoßen (blue pencil test). Bei Unwirksamkeit des § 8 b Abs. 2 MB/KK könnte nach dem § 8 Abs. 1 MB/KK eine Beitragsanpassung schon dann erfolgen, wenn der maßgebliche Schwellenwert überschritten ist, und zwar entgegen dem Gesetz auch dann, wenn eine nur vorübergehende Veränderung vorliegt.
72Eine Prämienanpassung ist hiernach von vornherein unwirksam, wenn bei der Rechnungsgrundlage „Versicherungsleistungen“ die Abweichung der erforderlichen von den kalkulierten Versicherungsleistungen für einen Tarif nicht mehr als 10 vom Hundert „nach oben oder unten“ beträgt.
73Demnach sind die genannten vier Tariferhöhungen endgültig unwirksam.
74e) Die zu viel gezahlten Beträge für alle Tarife errechnen sich unter Berücksichtigung des konkreten Klagebegehrens, das eine Rückforderung bis einschließlich Dezember 2018 vorsieht (Bl.10, 17, 19, 319 GA), im Einzelnen wie folgt:
75Tarif
Erhöhung
insgesamt
1) A
ab 01.01.2015 um 39,27 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 39,27 €)
1.884,96 €
2) A
ab 01.01.2015 um 36,49 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 36,49 €)
1.751,52 €
3) A
ab 01.04.2017 um 84,97 € bis zum 31.12.2018 (21 Monate 21 x 84,97 €)
1.784,37 €
4) B
ab 01.01.2015 um 7,17 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 7,17 €)
344,16 €
5) B
ab 01.01.2015 um 7,01 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 7,01 €)
336,48 €
6) B
ab 01.04.2017 um 4,92 € bis zum 31.12.2018 (21 Monate 21 x 4,92 €)
103,32 €
7) C
ab 01.01.2015 um 22,29 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 22,29 €)
1.069,92 €
8) C
ab 01.01.2015 um 14,34 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 14,34 €)
688,32 €
9) C
ab 01.01.2015 um 24,01 € bis zum 31.12.2018 (48 Monate 48 x 24,01 €)
1.152,48 €
10) C
ab 01.04.2018 um 47,84 € bis zum 31.12.2018 (9 Monate 9 x 47,84 €)
430,56 €
ergibt insgesamt:
9.546,09 €
76f) Der Zinsanspruch des Klägers folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.
77g) Die von der Beklagten erhobenen Einwendungen gegen die Höhe des geltend gemachten Rückzahlungsanspruchs aus Bereicherungsrecht greifen nicht durch.
78aa) Entgegen der Ansicht der Beklagten muss sich der Kläger auf der Rechtsfolgenseite des bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsanspruchs etwaige Vorteile aus den geleisteten erhöhten Prämienbeiträgen nicht anrechnen lassen, weil die Grundsätze der Vorteilsausgleichung im Bereicherungsrecht grundsätzlich keine Anwendung finden. Der Bereicherte – hier die Beklagte – kann sich nicht darauf berufen, dass der Entreicherte – hier der Versicherte – durch den Bereicherungsvorgang – hier Zahlung der erhöhten Prämienbeiträge – auch Vorteile gehabt hat. Die Grundsätze der Vorteilsausgleichung sind auf die nur auf objektiven Ausgleich gerichteten Ansprüche aus unberechtigter Bereicherung nicht anwendbar (Palandt/Sprau, BGB, 79. Aufl. 2020, § 812 Rdnr. 72; BGH, Urteil vom 05.11.2002, - XI ZR 381/01 -, NJW 2003, 582 ff. in juris Rn. 26 m.w.N.; BGH, Kartellsenat, Urteil vom 22.07.2014, - KZR 27/23 -, NJW 2014, 3089 ff. in juris Rn. 43). Zwar können nach dem Grundsatz von Treu und Glauben im Einzelfall Ausnahmen in Betracht kommen (BGH, Kartellsenat, Urteil vom 22.07.2014, - KZR 27/23 -, NJW 2014, 3089 ff. in juris Rn. 43), den der Bundesgerichtshof beim Rückforderungsanspruch nach § 3 HWiG angenommen und eine Anrechnung von Steuervorteilen im Wege der Vorteilsausgleich in entsprechender Anwendung der dafür geltenden Grundsätze vorgenommen hat (BGH, Urteil vom 24.04.2007, - XI ZR 17/06 -,NJW 2007, 2401 ff. in juris Rn. 24). Ein solcher Ausnahmefall ist allerdings vorliegend nicht gegeben.
79bb) Eine abweichende rechtliche Beurteilung ergibt sich nicht aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Fällen, in denen Lebens- oder Rentenversicherungen nach § 5 a VVG a.F. nach einem wirksamen Widerspruch nach § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BGB rückgewickelt werden mussten. Zwar hat der Bundesgerichtshof in diesen Fällen entschieden, dass die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarechtswidrigkeit des § 5 a Abs. 2 S. 4 VVG a.F. nicht auf eine Wirkung ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken sind, sondern nur eine Rückwirkung dem Effektivitätsgebot entspreche (BGH, Urteil vom 11.11.2015, - IV ZR 513/14 -, VersR 2016, 33 ff. in juris Rn. 29) und dass der Anspruch auf Prämienrückzahlung nach § 812 Abs. 1 S. 1 1. Alt. BGB der Höhe nach nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien umfasse und dem Kläger bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung der jedenfalls faktisch bis zum Widerspruch genossene Versicherungsschutz anzurechnen sei (BGH, Urteil vom 11.11.2015, - IV ZR 513/14 -, VersR 2016, 33 ff. in juris Rn. 30; BGH, Urteil vom 07.05.2014, - IV ZR 76/11 -, VersR 2014, 817 ff. in juris Rn. 45).
80Diese Fälle sind mit den vorliegenden Fällen eines Rückgewähranspruchs des Versicherten nach unwirksamer Prämienerhöhung insoweit nicht vergleichbar, als eine etwaige Unwirksamkeit einer Prämienerhöhung keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit und den Fortbestand des Krankenversicherungsschutzes sowie die Höhe der vereinbarten Prämien bis zum Zeitpunkt der unwirksamen Prämienerhöhung hat. Infolge dessen erfolgt bei Unwirksamkeit einer Prämienerhöhung – anders als in den Widerspruchsfällen gem. § 5 a VVG a.F. – keine Rückabwicklung des Krankenversicherungsvertrags mit Rückwirkung. Vielmehr bleibt die beklagte Versicherung nach wie vor zur Versicherungsleistung bei Vorliegen eines Versicherungsfalles verpflichtet und der Versicherte hat jedenfalls die Prämien in der bisherigen Höhe zu zahlen.
81cc) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die sog. Saldotheorie nicht anzuwenden. Die Saldotheorie findet dogmatisch nur bei rechtsunwirksamen Verträgen Anwendung, was bei einer unwirksamen Prämienerhöhung nicht der Fall ist. Der Krankenversicherungsvertrag bleibt im Übrigen mit der bisherigen, geringeren Prämie wirksam. Der vertraglich zugesagte Leistungsanspruch des Versicherungsnehmers erhöht sich nicht aufgrund einer Prämienanpassung.
82dd) Entgegen der Ansicht der Beklagten sind als anzurechnende Vermögensvorteile des Versicherungsnehmers nicht in Abzug zu bringen die Sparprämie (= zur Bildung von Rückstellungen für die im Alter steigenden Versicherungsleistungen), die Risikoprämie und der gesetzliche Beitragszuschlag (= Erhebung gemäß § 149 VAG und Zuführung zur Alterungsrückstellung), die anteilig aus den Prämienbeiträgen gebildet werden. Denn es ist keineswegs sicher und auch nicht absehbar, ob und ggf. in welchem Umfang der jeweilige Versicherte überhaupt in den Genuss dieser Leistungen kommt. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Versicherte die dafür geltende Altersgrenze noch nicht erreicht hat. Insofern erscheint es angemessen, dass allein das Versicherungsunternehmen das rechtliche Risiko trägt, eine Prämienanpassung rechtswirksam durchzusetzen (Ossyra, VuR 2018, 373/380 Ziff. II.).
83ee) Die Beklagte kann sich gegenüber dem bereicherungsrechtlichen Rückerstattungsanspruch der Klägerin wegen erhöhter Prämien nicht mit Erfolg auf Entreicherung gemäß § 818 Abs. 3 BGB berufen.
84Soweit die Beklagte die vereinnahmten erhöhten Prämien zur Erbringung von Versicherungsleistungen verwendet hat, ist sie schon deswegen nicht entreichert, weil sie durch diese Leistung die ihr aufgrund der jeweiligen Krankenversicherungsverträge obliegende Verpflichtung zur Erstattung der versicherten Krankheitskosten erfüllt hat und sie damit von einer Verbindlichkeit befreit worden ist. Diese Leistungsverpflichtung der Beklagten bei Vorliegen eines Versicherungsfalles besteht unabhängig davon, ob die Prämienanpassung wirksam ist oder nicht, denn der Krankenversicherungsvertrag besteht fort. Die Befreiung von einer Verbindlichkeit mit Hilfe des rechtsgrundlos Erlangten durch den Bereicherungsschuldner stellt eine fortbestehende Bereicherung dar, der Bereicherungsschuldner kann sich grundsätzlich nicht auf § 818 Abs. 3 BGB berufen (Palandt/Sprau a.a.O. § 818 Rdnr.45, BGH NJW 1985, 2700).
85Soweit die Beklagte nach ihrem Vortrag aus den eingenommenen erhöhten Prämien anteilig Sparprämien, Risikoprämien und den gesetzlichen Beitragszuschlag gebildet haben will, entspricht auch dies ihrer Verpflichtung aus dem Versicherungsvertrag. Dabei verkennt der Senat nicht, dass ein Unterschied zu der Verwendung der erhöhten Prämien zur Erbringung der versicherungsvertraglich geschuldeten Leistungen insofern bestehen dürfte, als eine Verpflichtung zur Bildung entsprechender anteiliger Sparprämien, Risikoprämien und des gesetzlichen Beitragszuschlags erst aufgrund der Prämienerhöhung entstanden sein wird. Indes hat die Beklagte trotz ihres umfangreichen Vortrages bisher nicht konkret dargetan, dass es ihr bei einer gerichtlichen Feststellung der Unwirksamkeit der erhöhten Prämien nicht möglich wäre, die zur Bildung von Sparprämien und gesetzlichen Beitragszuschlägen verwendeten erhöhten Prämienanteile wieder zurück zu buchen oder mit späteren auf diese Prämienanteile zu erbringenden Aufwendungen zu verrechnen. Bei der Möglichkeit einer Rückbuchung oder späteren Verrechnung scheidet eine Entreicherung der Beklagten von vornherein aus. Hierzu verhält sich der Vortrag der Beklagten nicht.
86h) Da sich der Kläger auf der Rechtsfolgenseite des bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsanspruchs etwaige Vorteile aus den geleisteten erhöhten Prämienbeiträgen nicht anrechnen lassen muss, ist auch die von der Beklagten in der Klageerwiderung erhobene Hilfsaufrechnung über 10.681,14 € (Bl. 86 GA), die auch in zweiter Instanz zu berücksichtigen ist (vgl. die umfassende Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Vortrag Bl. 280 GA), nicht begründet. Auch insoweit gilt, dass der Bereicherte – hier die Beklagte – sich nicht darauf berufen kann, dass der Entreicherte – hier der Versicherte – durch den Bereicherungsvorgang (Zahlung der erhöhten Prämienbeiträge) auch Vorteile gehabt hat.
87i) Die übrigen Rückzahlungsansprüche des Klägers sind verjährt.
88Die Zustellung der Klageschrift ist am 15.01.2019 erfolgt (Bl.23 R GA) und damit „demnächst“ i.S.d. § 167 ZPO bewirkt worden mit der Folge, dass die verjährungshemmende Wirkung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB bereits mit Eingang der Klage bei Gericht am 03.12.2018 eingetreten ist. Rückforderungsansprüche der Klägerin wegen der bis zum Ende des Jahres 2014 geleisteten Prämien sind dagegen gemäß §§ 195, 199 BGB verjährt. Die Verjährung zeitlich späterer Rückzahlungsansprüche, also ab 01.01.2015, wurde durch die Zustellung der Klageschrift am 15.01.2019 gehemmt.
89Die Beklagte hat bereits mit ihrer Klageerwiderung vom 18.02.2019 die Einrede der Verjährung erhoben. Der Anspruch des Klägers auf Rückzahlung war mit der jeweiligen monatlichen Prämienzahlung entstanden. Der Kläger hatte mit Erhalt der jeweiligen Anpassungsschreiben zu den Erhöhungen aus November des jeweiligen Vorjahres bzw. aus Februar desselben Jahres Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen.
90Für den bereicherungsrechtlichen Rückerstattungsanspruch gilt die dreijährige Verjährungsfrist gemäß § 195 BGB, deren Beginn sich nach § 199 Abs. 1 BGB bzw. § 199 Abs. 3 BGB richtet. Nach § 199 Abs. 1 BGB beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist gemäß § 195 BGB, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grober Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB).
91aa) Für die Entstehung des bereicherungsrechtlichen Rückzahlungsanspruchs gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist auf die jeweilige monatliche Prämienzahlung abzustellen, weil frühestens mit der jeweiligen monatlichen Zahlung der vermeintlich überhöhten Prämie der Rückforderungsanspruch fällig wird und entsteht. Die Rückzahlungsforderung ist daher jeweils frühestens mit der Zahlung der vermeintlich überhöhten Prämie fällig geworden, also entstanden (LG Neuruppin, Urteil vom 25.08.2017, - 1 O 338/16 -, VersR 2018, 469 ff. in juris Rn. 40; OLG Köln, Urteil vom 20 U 128/16 -, in juris Rn 14 f.).
92Die Verjährung beginnt zu dem Zeitpunkt zu laufen, in dem dem Versicherungsnehmer die Mitteilung über die Beitragserhöhung zugegangen ist. Der Gesetzgeber hat nicht ähnliche Regelungen wie bei dem Widerrufsrecht nach Verbraucherschutznormen oder z.B. § 5 a Abs. 1 VVG a.F. getroffen, sondern den Wirksamkeitszeitpunkt der Beitragserhöhung bis zu dem Zeitpunkt hinausgeschoben, in dem der Versicherungsnehmer eine ordnungsgemäße Mitteilung über die Beitragserhöhung erhalten hat (LG Neuruppin, a.a.O.).
93bb) Die erforderliche Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers lag mit Erhalt der jeweiligen Anpassungsschreiben aus November der jeweiligen Vorjahre bzw. aus Februar desselben Jahres vor. Bezogen auf die formelle Unwirksamkeit liegt die Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers als Versicherungsnehmer im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB mit Erhalt der jeweiligen Anpassungsschreiben der Beklagten für die betreffenden Tarife vor. Diesen konnte der Kläger nichts entnehmen, was ihm die Prüfung der durch die Beklagte aufgestellten Behauptung über die Erforderlichkeit der Beitragsanpassung ermöglicht hätte.
94Soweit der Gläubiger – hier der Versicherte – von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grob fahrlässige Unkenntnis erlangt haben muss, ist dies hinsichtlich der formellen Voraussetzung der Mitteilung über die Beitragserhöhung mit Zugang derselben der Fall. Ab diesem Zeitpunkt ist von einer grob fahrlässigen Unkenntnis des Klägers in dem Sinne auszugehen, dass er seine Beiträge in einer Höhe entrichtet, die auf einer unwirksamen Beitragserhöhung beruht. Es genügt die Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen, nicht erforderlich ist, dass der Gläubiger den Vorgang rechtlich zutreffend bewertet (LG Neuruppin, a.a.O, juris Rn. 42; BGH NJW 2008, 1729 ff. in juris Rn. 26).
95Grundsätzlich reicht eine Kenntnis aus, die den Berechtigten in die Lage versetzt, wenn auch nicht ohne Risiko, eine Feststellungsklage zu erheben (LG Neuruppin, a.a.O., in juris Rn. 42, BGH NJW 2013, 1801). Der Versicherungsnehmer hat im Hinblick auf das Fehlen der formellen Voraussetzung der Mitteilung der wesentlichen Gründe gemäß § 203 Abs. 5 VVG die Kenntnis von der Unwirksamkeit dann grob fahrlässig nicht erlangt, wenn er den Mitteilungen der in Anspruch genommenen Versicherung über die jeweilige Prämienerhöhung ganz offensichtlich nichts entnehmen konnte, was ihn die Richtigkeit der von der beklagten Versicherung aufgestellten Behauptung über die Erforderlichkeit der Beitragserhöhung überprüfen ließ. (LG Neuruppin, a.a.O., in juris Rn. 43).
96Von einer solchen grob fahrlässigen Unkenntnis des Versicherten vom Fehlen einer ausreichenden Mitteilung gemäß § 203 Abs. 5 VVG und einer daraus folgenden – zeitweisen – formellen Unwirksamkeit der Prämienerhöhung bis zur Vorlage einer ausreichenden Mitteilung gemäß § 203 Abs. 5 VVG durch die Versicherung ist vorliegend auszugehen, da in den betreffenden Anpassungsmitteilungen der Versicherung nicht einmal die maßgebliche Rechnungsgrundlage (Leistungsausgaben oder Sterbewahrscheinlichkeit), die für die Prämienanpassung verantwortlich war, und die Überschreitung des gesetzlichen Schwellenwertes (> 10 %) angegeben wurde.
97Denn als gesetzliche Voraussetzung für eine Beitragsanpassung ist nach §§ 203 Abs. 2 VVG, 155 VAG eine Veränderung der Rechnungsgrundlage „Leistungsausgaben oder Sterbewahrscheinlichkeit“ erforderlich und außerdem muss für die Rechtsgrundlage „Leistungsausgabe“ der gesetzliche bzw. tarifliche Schwellenwert überschritten sein. Soweit diese aus dem Gesetz ersichtlichen Voraussetzungen für die jeweils erhöhten Tarife der Krankheitskosten- oder Krankentagegeldversicherung in einer Anpassungsmitteilung nicht enthalten sind, ist daraus für den betroffenen Versicherten offensichtlich erkennbar, dass er die ihm mitgeteilte Beitragsanpassung nicht einmal aufgrund der Behauptung der Beklagten anhand der gesetzlich dafür erforderlichen Voraussetzungen überprüfen kann.
98Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, dass es aufgrund unklarer Rechtslage im Hinblick auf die Anforderungen an die Mitteilung der maßgeblichen Gründe gemäß § 203 Abs. 5 VVG an einer Kenntnis bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB fehle. Denn dem Kläger war der Inhalt der jeweiligen Anpassungsschreiben, insbesondere die Tatsachen, die die zeitweise fehlende Wirksamkeit der Prämienerhöhung begründen, bekannt.
99Zwar können bei besonders unübersichtlicher und verwickelter Rechtslage ausnahmsweise erhebliche Zweifel den Verjährungsbeginn bis zur Klärung ausschließen (BGH NJW 1999, 2041; Palandt/Ellenberger, BGB, 79. Aufl. 2020, § 199 Rdnr.27). Eine solche hat der BGH im Falle der Widerspruchsfälle gemäß § 5 a VVG a.F. verneint und hierzu ausgeführt, für eine Unzumutbarkeit der Klageerhebung genügt es nicht, dass über die Richtlinienkonformität des § 5 a VVG a.F. ein Meinungsstreit bestand, über den der Senat im Jahr 2010 noch nicht abschließend entschieden hatte. Eine Rechtslage ist nicht schon dann im Sinne der genannten Rechtsprechung unsicher und zweifelhaft, wenn eine Rechtsfrage umstritten und noch nicht höchstrichterlich entschieden ist. Bei einer solchen Konstellation sei dem Gläubiger die Erhebung der Klage jedenfalls dann nicht unzumutbar, wenn er gleichwohl bereits vor einer höchstrichterlichen Entscheidung seinen Anspruch gegenüber dem Schuldner geltend macht und dadurch zu erkennen gibt, vom Bestehen des Anspruchs auszugehen (BGH, Urteil vom 21.02.2018, - IV ZR 385/16 -, VersR 2018, 404 f. in juris Rn. 17). So liegt der Fall hier.
100Nachdem der Kläger inzwischen trotz fortbestehenden Meinungsstreits Klage erhoben und sich u.a. auch auf den unzureichenden Inhalt der Anpassungsschreiben sowie die daraus folgende fehlende Wirksamkeit der Prämienanpassung berufen hat, ist ihm eine Klageerhebung trotz des bis heute noch bestehenden Meinungsstreits in Rechtsprechung und Literatur hinsichtlich der Anforderungen an eine Mitteilung der maßgeblichen Gründe im Sinne des § 203 Abs. 5 VVG nicht unzumutbar. Angesichts dessen hätte die Klage auch schon früher erhoben werden können, weil der Meinungsstreit bis heute nicht höchstrichterlich entschieden ist. Würde man dies anders sehen, könnte in solchen Fällen die Verjährung nie zu laufen beginnen, bis der jeweilige Meinungsstreit höchstrichterlich entschieden ist.
101cc) Für die Tarifanpassungen, die wegen der Unwirksamkeit der Beitragsanpassungsklausel in § 8 b Abs. 1, Abs. 2 MB/KK 2009 (Anlage BLD 2) endgültig unwirksam sind (vgl. hierzu 2. d)), gelten die vorstehenden Ausführungen entsprechend. Die materielle Unwirksamkeit ergibt sich bereits daraus, dass das gesetzlich konstituierte Erfordernis einer dauerhaften – und eben nicht nur vorübergehenden – Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgebenden Rechnungsgrundlage (§§ 12 b Abs. 2 S. 2 VAG a.F., 155 Abs. 3, S. 2 VAG, 203 Abs. 2 VVG) dort – für den Versicherungsnehmer erkennbar – vertraglich abbedungen wird. Insbesondere im Hinblick auf die geringen Anforderungen, die an ein erhebliches Bestreiten der materiellen Wirksamkeit der Prämienerhöhungen zu stellen sind, wäre es dem Kläger ohne Weiteres zumutbar gewesen, auch diesen Einwand mit Rücksicht auf die ansonsten eintretende Unverjährbarkeit solcher Ansprüche gerichtlich geltend zu machen.
1023. Der Feststellungsantrag zu 3. ist im tenorierten Umfang begründet.
103Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 818 Abs. 1 BGB auf Herausgabe der gezogenen Nutzungen aus den von ihm gezahlten erhöhten Prämienanteilen aufgrund der nicht wirksam begründeten bzw. den von Beginn an unwirksamen Prämienerhöhungen vom 01.01.2015 bis zum 31.12.2018. Ausweislich der der Klageschrift beigefügten Berechnungstabelle werden die Rückzahlungsansprüche des Klägers einschließlich der Rückgewähransprüche bzgl. gezogener Nutzungen bis einschließlich Dezember 2018 geltend gemacht (Bl. 13 ff., 17, 19 GA).
1044. Ein Anspruch des Klägers auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten besteht nicht. Ein Anspruch aus Verzug ist nicht schlüssig dargelegt. Dem klägerischen Vortrag ist nicht zu entnehmen, dass die Beklagte sich bei Übersendung und Zugang des vorgerichtlichen anwaltlichen Mahnschreibens vom 02.11.2018 schon in Verzug befunden hat. Die Kosten eines verzugsbegründenden anwaltlichen Mahnschreibens sind nicht erstattungsfähig, da sie nicht infolge des Verzugs der Beklagten entstanden sind.
105III.
1061. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen – auch unter Berücksichtigung der Erledigungserklärungen der Parteien – auf §§ 91, 91 a, 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Bezüglich der übereinstimmenden Teilerledigungserklärung der Parteien wird die Kostengrundentscheidung bezüglich des durch die Parteien für erledigt erklärten Teils gemäß § 91 a ZPO festgesetzt. Die Entscheidung über den verbleibenden Teil folgt den allgemeinen Grundsätzen. Im Rahmen dieser Kostenmischentscheidung ist eine einheitliche Quote zu bilden. Dabei ist der auf die Erledigung entfallende Streitwert in ein Verhältnis zum Gesamtstreitwert zu setzen, mit der nach § 91 a ZPO zu ermittelnden Kostenlast zu multiplizieren und zu der sich für den streitigen Teil ergebenden Quote zu addieren.
107Hiervon ausgehend führt dies in der Berufungsinstanz zu einer Kostenquote von 83 % zu 17 % zu Lasten der Beklagten.
108Klageantrag zu 1) (288,31 € x 42, § 9 ZPO): 12.109,02 €
109(Klageantrag zu 2, Zahlungsforderung): 16.388,72 €
110Hilfsaufrechnung der Beklagten, soweit
111über diese Gegenforderung eine rechtskraftfähige
112Entscheidung ergeht (Bl.86 GA, § 45 Abs. 3 GKG): 9.546,09 €
113insgesamt: 38.043,83 €
11412.109,02 € entsprechen 32 % des Gesamtstreitwertes von 38.043,83 € (etwa 1/3). Bezüglich dieses erledigten Teils hat die Beklagte alle Kosten (100 %) zu tragen.
115Bezüglich des streitigen Teils von insgesamt 25.934,81 € unterliegt die Beklagte mit 19.092,18 € (2 x 9.546,09 €), das entspricht etwa 74 % (etwa 3/4).
116Bezogen auf die Gesamtkosten ergibt sich eine Quote von 1/2 (3/4 x 2/3).
117Zusammenfassend ergibt sich für die Beklagte damit eine Kostenlast von 5/6 (3/6 + 2/6), dies ergibt eine Kostenquote von 83 % zu 17 % zu Lasten der Beklagten.
118Die Kostenentscheidung für die erste Instanz beträgt 69 % zu 31 % zu Lasten der Beklagten. Auch insoweit war bezüglich der übereinstimmenden Teilerledigungserklärung der Parteien die Kostengrundentscheidung bezüglich des durch die Parteien für erledigt erklärten Teils gemäß § 91 a ZPO festzusetzen. Die Abweichung zu der Kostenentscheidung zweiter Instanz folgt aus dem in erster Instanz geringeren Gesamtstreitwert:
119Klageantrag zu 1) (288,31 € x 42, § 9 ZPO): 12.109,02 €
120(Klageantrag zu 2, Zahlungsforderung): 19.607,15 €
121Hilfsaufrechnung der Beklagten bleibt außer Ansatz, da eine
122rechtskraftfähige Entscheidung hierüber nicht ergangen ist
123(Bl.86 GA, § 45 Abs. 3 GKG):
124insgesamt: 31.716,17 €
12512.109,02 € entsprechen 38 % des Gesamtstreitwertes von 31.716,17 €. Bezüglich dieses erledigten Teils hat die Beklagte alle Kosten (100 %) zu tragen.
126Bezüglich des streitigen Teils von insgesamt 19.607,15 € unterliegt die Beklagte mit 9.546,09 €, das entspricht etwa 49 % (etwa 1/2).
127Bezogen auf die Gesamtkosten ergibt sich eine Quote von 31/100 (1/2 x 62/100).
128Zusammenfassend ergibt sich für die Beklagte erstinstanzlich damit eine Kostenlast von 69/100 (38/100 + 31/100), dies ergibt eine Kostenquote von 69 % zu 31 % zu Lasten der Beklagten.
1292. Die Revision wird gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugelassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
1303. Der Streitwert für das Verfahren wird für beide Instanzen (§ 63 Abs. 2, Abs. 3, S. 1 Nr. 2 GKG) wie folgt festgesetzt:
131Streitwert 1. Instanz:
132Klageantrag zu 2., Zahlungsforderung: 19.607,15 €
133Über die Hilfsaufrechnung der Beklagten ist eine rechtskraftfähige Entscheidung des Gerichts nicht ergangen.
134Streitwert 2. Instanz:
135bis zum 21.07.2020: 29.184,98 €.
136(Klageantrag zu 2, Zahlungsforderung): 19.638,89 €
137Hilfsaufrechnung der Beklagten, soweit
138über diese Gegenforderung eine rechtskraftfähige
139Entscheidung ergeht (Bl.86 GA, § 45 Abs. 3 GKG): 9.546,09 €
140ab dem 22.07.2020: 25.934,81 €.
141(Klageantrag zu 2, Zahlungsforderung): 16.388,72 €
142Hilfsaufrechnung der Beklagten, soweit
143über diese Gegenforderung eine rechtskraftfähige
144Entscheidung ergeht (Bl.86 GA, § 45 Abs. 3 GKG): 9.546,09 €
145An die vorläufige Festsetzung gemäß § 63 Abs. 1 GKG vom 28.11.2019 (Bl. 267 GA) ist der Senat nicht gebunden; er entscheidet vielmehr auf der Tatsachengrundlage am Schluss der mündlichen Verhandlung (BeckOK KostR/Jäckel, GKG, 30. Edition, Stand: 01.06.2020, § 63 Rdnr. 22).
146Der übereinstimmend für erledigt erklärte Feststellungsantrag zu 1. a) b) c) bleibt außer Betracht; der Gebührenstreitwert ergibt sich nur noch aus dem Wert der Resthauptsache. Der Feststellungsantrag zu 3. sowie der Antrag auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten bleiben gemäß § 4 Abs. 1 ZPO außer Ansatz.
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Tenor
Soweit die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.
Die Klage wird im Übrigen abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden zu 80 % der Klägerin und zu 20 % der Beklagten auferlegt.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung nach Maßgabe der Kostenfestsetzung abwenden, falls die Beklagte nicht vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um Wohngeld für die Klägerin.
2
Mit Bescheid vom 22.5.2017 wurde der Klägerin vom Beklagten aufgrund ihres Antrags vom 17.2.2017 für den Wohnraum Feldberger Seenlandschaft, A-Stadt, A-Straße, ein Lastenzuschuss bewilligt und ihr Wohngeld nach § 19 Wohngeldgesetz (WoGG) für den Zeitraum vom 1.2.2017 bis 31.1.2018 bewilligt. Hierfür hatte der Beklagte ein anrechenbares Monatseinkommen der Klägerin von 616,13 € und eine monatliche Belastung von 351,00 € sowie ein Haushaltsmitglied zugrunde gelegt.
3
Mit Bescheid vom 15.12.2017 teilte die Deutsche Rentenversicherung Bund der Klägerin mit, dass sie auf ihren Antrag vom 22.9.2017 Altersrente für langjährig Versicherte erhalte, die Rente am 1.8.2017 beginne und laufend monatlich ausgezahlt werde und die Höhe der laufenden Zahlung monatlich ab dem 1.8.2017 867,65 € betrage und ihr für die Zeit vom 1.8.2017 bis zum 31.12.2017 ein Betrag von 3.845,85 € nachgezahlt werde. Daraufhin bat der Beklagte die Klägerin unter dem 15.12.2017, Nachweise über die Leistungen der Rentenversicherung bei ihm einzureichen. Mit Bescheid vom 1.3.2018 hob der Beklagte seinen Bescheid vom 22.5.2017 mit Wirkung vom 1.8.2017 auf und setzte er das Wohngeld auf 0,00 € fest. Hierfür legte er ein anrechenbares Monatseinkommen von 1.389,36 € und eine monatliche Belastung von 351 € zugrunde. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Lastenzuschuss für den Wohnraum der Klägerin mit Wirkung vom 1.8.2017 aufgrund der eingetretenen Änderung der Verhältnisse entfallen sei, weil das monatliche Gesamteinkommen den Höchstbetrag nach § 19 WoGG übersteige.
4
Mit Bescheid vom 20.3.2019 bewilligte der Beklagte der Klägerin den Lastenzuschuss mit Wirkung vom 1.2.2017 von Amts wegen neu und nahm er den Bescheid vom 22.5.2017 gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zurück. Zugleich setzte er das Wohngeld nach § 19 WoGG auf monatlich 274 € fest. Für die Entscheidung hatte der Beklagte ein anrechenbares Monatseinkommen von 361,28 € und eine zu berücksichtigende Miete/Belastung von 351,00 € zugrunde gelegt. Außerdem verfügte der Beklagte die Nachzahlung des Wohngeldes in Höhe von 828,00 € an die Klägerin und die Reduzierung des Wohngeldbeitrages bis zur vollständigen Tilgung des Rückforderungsbetrages in Höhe von 448 € zu 100 %.
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Mit Bescheid vom 19.7.2019 verfügte der Beklagte gegenüber der Klägerin, dass aufgrund der eingetretenen Änderung der Verhältnisse der Lastenzuschuss für den genannten Wohnraum mit Wirkung vom 1.2.2017 entfalle und ab diesem Zeitpunkt der Bescheid vom 20.3.2019 gemäß § 45 SGB X aufgehoben werde. Zugleich forderte der Beklagte die Klägerin auf, den überzahlten Betrag in Höhe von 1.276,00 € bis zum 30.8.2019 an den Beklagten zu zahlen. Zur Begründung führte er aus, das Wohngeld entfalle, weil das anrechenbare monatliche Gesamteinkommen in Höhe von 1.134,51 € den Höchstbetrag nach § 19 WoGG übersteige. Der Bescheid vom 20.3.2019 sei zu korrigieren, da bei der Berechnung das Einkommen der Klägerin aus der Rentenversicherung nicht berücksichtigt worden sei. Es sei daher zu einer Überzahlung von 3.014,00 € gekommen, wovon die Klägerin bereits 1.738,00 € zurückgezahlt habe, sodass eine Restrückforderung von 1.276 € verbleibe.
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Hiergegen legte die Klägerin am 29.7.2019 Widerspruch ein. Zur Begründung trug sie vor, die Berechnungen im Bescheid vom 19.7.2019 seien falsch. Sie habe nicht vom 1.2.2017 an Rente bekommen, sondern erst vom 1. August des Jahres. Auch gehe der Beklagte fehlerhaft von einer Zahlung von 3.014 € aus, was einer monatlichen Zahlung von 274 € entspreche. Tatsächlich habe sie jedoch nur 158 € monatlich bekommen. Aus dem zu Jahresbeginn beim Beklagten eingereichten Steuerbescheid gingen ihre wirklichen Einnahmen hervor, die sich auf 7.925 € jährlich belaufen würden. Und darin sei die Monatsrente, wie auch aus dem Steuerbescheid hervorgehe, bereits enthalten. In den Monaten ohne Rente, also vom 1.2.2017 bis 1.8.2017 habe ihr Monatseinkommen bei 401,40 € gelegen.
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Mit so bezeichnetem Abhilfebescheid vom 10.9.2019 half der Beklagte dem Widerspruch der Klägerin ab und hob er den Wohngeldbescheid vom 19.7.2019 auf. Zudem entschied der Beklagte, dass für diesen Abhilfebescheid keine Kosten und Gebühren entstehen würden und der Klägerin entstandene Kosten nicht erstattet würden. Eine Begründung für die Kostenentscheidung enthält der Bescheid nicht.
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Mit Bescheid vom 10.9.2019 setzte der Beklagte aufgrund der eingetretenen Änderung der Verhältnisse den Lastenzuschuss der Klägerin für den bezeichneten Wohnraum mit Wirkung vom 1.2.2017 neu fest. Zugleich hob er den Bescheid vom 20.3.2019 ab 1.2.2017 gemäß § 45 SGB X auf und setzte das Wohngeld nach § 19 WoGG auf monatlich 127,00 € fest. Hierbei legte der Beklagte ein anrechenbares Monatseinkommen von 678,99 € und eine zu berücksichtigende Miete/Belastung von 351,00 € fest. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass der Bescheid vom 20.3.2019 rechtswidrig gewesen sei, da das Renteneinkommen hätte berücksichtigt werden müssen. Dadurch sei ein zu hohes Wohngeld bewilligt worden. Die Klägerin habe infolge grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit des Bescheides nicht gekannt. Es bestehe die grundsätzliche Verpflichtung, einen Bewilligungsbescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Danach sei die Unkenntnis grob fahrlässig, wenn der Adressat, hätte er den Bewilligungsbescheid gelesen zur Kenntnis genommen, aufgrund einfachster naheliegender Überlegungen mit Sicherheit hätte erkennen können, dass der zuerkannte Anspruch nicht oder jedenfalls nicht so besteht. Davon sei bei Fehlern auszugehen, die sich 1. aus dem begünstigenden Bescheid selbst oder anderen Umständen ergeben würden und 2. nach der individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Betroffenen ohne weiteres erkennbar seien. Der Fehler im Bescheid sei für die Klägerin auch ohne nähere Rechtskenntnisse erkennbar gewesen und hätte sich beim Lesen des Bescheides aufdrängen müssen. Bei dem fehlenden Einkommen handele es sich um eine Angabe, die bei der Antragstellung explizit erhoben worden sei. Dadurch hätte sie davon ausgehen können, dass diese Angabe Einfluss auf die Berechnung des Wohngeldes habe. Dennoch habe sie nicht erkannt und der Wohngeldbehörde gemeldet, dass das Renteneinkommen nicht berücksichtigt worden sei. Damit habe sie die ihr individuell mögliche und im allgemeinen Rechtsverkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Der überzahlte Betrag in Höhe von 827,00 € sei gemäß § 50 Abs. 1 SGB X bis zum 10. 9. 2019 an den Beklagten zu zahlen.
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Mit Schreiben vom 10.10.2019, beim Beklagten am 14.10.2019 eingegangen, erhob die Klägerin gegen den Abhilfebescheid vom 10.9.2000 bezüglich der Kostenentscheidung als auch gegen den Wohngeldbescheid vom 10.9.2019 und der dortigen Erstattungsverfügung Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, dass die Kostenentscheidung im Abhilfebescheid nicht nachvollzogen werden könne, da der Widerspruch erfolgreich gewesen sei. Es gebe keine rechtliche Grundlage für diese Kostenentscheidung. Der angegriffene Bescheid sei aufgehoben worden. Am Erfolg des Widerspruchs sowie an der Kausalität des Widerspruchs bezüglich der Aufhebung der angegriffenen Entscheidung bestünden keine nachvollziehbaren Zweifel. Vor diesem Hintergrund seien der Klägerin auch die Kosten des Widerspruchsverfahren zu erstatten.
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Auch der neuerliche Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10. 9. 2019 unterliege der Aufhebung. Eine solche käme allenfalls nach § 45 SGB X in Betracht, weil tatsächlich alle vorhergehenden Bescheide von Anfang an rechtswidrig gewesen wären. Dessen Voraussetzungen lägen aber, anders als in angegriffenen Bescheid dargestellt, nicht vor. Der angegriffene Bescheid sei bereits aus Gründen des Vertrauensschutzes wieder aufzuheben. Eine Aufhebung der Bewilligung vom 20.3.2019 würde nur in Betracht gekommen, wenn die Widerspruchsführerin die Rechtswidrigkeit des Bescheides infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hätte. Die Klägerin habe nicht die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Man könne von ihr nicht verlangen, schlauer als die verfügende Behörde zu sein, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Beklagte auch mit seinen falschen Bescheiden, insbesondere dem vom 1.3.2018, Vertrauenstatbestände geschaffen habe. Zudem sei auch der Bescheid vom 20.3.2019 nicht allein begünstigend für die Klägerin. Die Klägerin hätte die Rechtswidrigkeit nicht erkennen können. Der Bescheid vom 20.7.2019 sei mehr als ein Jahr nach dem letzten vorangegangenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 1.3.2018 erlassen, welcher ebenfalls falsch gewesen sei und den Bescheid vom 22.5.2017 teilweise aufgehoben und die aufgehobenen Beträge in Höhe von 948,00 € zur Erstattung verfügt habe. Aus diesem Bescheid ergebe sich ausdrücklich, dass die nun in Dezember 2017 nachbezahlte Rente ab 1.8.2019 berücksichtigt worden sei. Nun verhalte es sich so, dass die Klägerin als Rentnerin keine nähere Kenntnis des Wohngeldgesetzes habe. Sie sei deshalb bis zum Erlass des Bescheides vom 20.3.2019 von der Richtigkeit des Bescheides vom 1.3.2018 ausgegangen und hätte mangels besseren Wissens auch davon ausgehen können. Aus diesem Grunde hätte sie auch bis zum Erlass des aufgehobenen Bescheides vom 20.3.2019 insgesamt 550,00 € zurück zu zahlen gehabt. Angesichts dieses Bescheides habe die Klägerin bei gründlicher Lektüre davon ausgehen können, dass die Rente nur in den Monaten angerechnet werde, in denen die Rente auch gezahlt werde, im Fall der Klägerin also ab August 2018. Sie habe also mangels besserer Rechtskenntnis aufgrund des Bescheides vom 1.3.2018 davon ausgehen können, dass sie aufgrund der Renten(nach)Zahlung für die Zeit von August 2017 bis Januar 2018 insgesamt in Höhe von 948,00 Euro überzahlt worden sei. Insofern habe die Klägerin ein gutes Jahr später die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 20.3.2019 nicht grob fahrlässig verkannt.
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Die Rechtswidrigkeit des Bescheides sei für die Klägerin überhaupt nicht erkennbar gewesen. Die Rentenzahlung sei nicht unter dem Punkt Einkommen in der Anlage zum Bescheid aufgeführt. Sie habe auch eine weitere erhebliche Zuwendung, die sie infolge ihres literarischen Schaffens erhalten habe, nicht auf ihren Wohngeldanspruch angerechnet bekommen. Tatsächlich sei auch gar nicht davon auszugehen, dass die Rentenzahlung im Bescheid vom 20.3.2019 nicht berücksichtigt worden sei. Es sei auch nicht der Bescheid vom 1.3.2018 zurückgenommen worden, der die Rentennachzahlung – wenn auch falsch – berücksichtigt habe, sondern erneut der Bescheid vom 22.5.2017, in dem die Rentennachzahlung mangels Zufluss derselben nicht berücksichtigt worden sei. Tatsächlich sei der Klägerin noch in dem Bescheid mitgeteilt worden, dass die Aufhebungsverfügung vom 1.3.2018 aufgrund der Nachzahlung der Rente aufrechterhalten bleibe und abzüglich des bereits zurückgezahlten Betrages von 500,00 € noch mit der ausstehenden Rückforderung von f448,00 € aufgerechnet werde. Insofern habe die Klägerin dem Bescheid vom 20.3.2019 dieselbe Rentenanrechnung wie schon im Bescheid vom 1.3.2018 entnehmen können.
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Schließlich sei kein Ermessen ausgeübt worden und auch die Frist des § 45 Abs. 4 SGB X nicht beachtet worden, wonach zumindest eine Herabsetzung des Wohngeldes unter 158,00 € gar nicht mehr in Betracht gekommen sei. Die Rentenzahlung sei in allen Einzelheiten am 1.3.2018 bekannt gewesen, die Anhörung der Klägerin bereits erfolgt. Zudem sei die Erstattungverfügung nicht nachvollziehbar, weil zu Unrecht erbrachte und bereits getätigte Überzahlungen nicht korrekt saldiert worden seien.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 5.2.2020, der Klägerin am 7.2.2020 zugestellt, wurde der Widerspruch als sachlich nicht begründet zurückgewiesen. Der Landrat des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte führt dazu aus, dass der Klägerin im Abhilfebescheid keine Kosten zu erstatten gewesen seien, da ihr nachvollziehbare Kosten und Gebühren nicht entstanden seien.
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Es sei nicht nachvollziehbar, dass der Klägerin nicht aufgefallen sei, dass bei der Einkommensermittlung im Bescheid vom 20.3.2019 ihre monatliche Rente nicht berücksichtigt worden sei, sondern lediglich das Einkommen aus selbstständiger Arbeit in Höhe von 401,42 €. Die Klägerin könne sich auf Vertrauen nach § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB X nicht berufen. Es könne dahinstehen, ob die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Wohngeldbescheides vom 20.3.2019 erkannt habe. Sollte dies zu verneinen sein, wäre ihre Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Wohngeldbescheides auf grobe Fahrlässigkeit zurückzuführen. In diesem Zusammenhang müsse auf den Verstoß gegen die Mitteilungspflicht im laufenden Bewilligungszeitraum vom 1.2.2017 bis 31.1.2018 hingewiesen werden. Erst durch den Datenabgleich sei bekannt geworden, dass die Klägerin am 19.12.2017 eine einmalige Rentennachzahlung in Höhe von 3.845,85 € erhalten habe, die dem Beklagten nicht mitgeteilt worden sei. Allein dieser Umstand hätte die Klägerin veranlassen müssen, die weiteren Wohngeldbescheide einer genaueren Prüfung, insbesondere bezüglich einer berücksichtigten Rente, zu unterziehen. Die Fehlerhaftigkeit des Wohngeldbescheides aufgrund der nicht berücksichtigten Rente sei auch trotz eingeschränkter individueller Kenntnisse und Fähigkeiten erkennbar gewesen. Dem Wohngeldbescheid sei schon bei flüchtiger Durchsicht – erst recht unter Beachtung des Wissens der einmaligen nicht angegebenen Rentennachzahlung vom 19.12.2017 – ohne weiteres zu entnehmen gewesen, dass die Rente unberücksichtigt geblieben sei. Die Klägerin habe aus vorhergehenden Wohngeldbescheiden gewusst, dass die Rente ein anrechenbares Einkommen sei. Sie hätte an der Höhe des Wohngeldes zweifeln müssen. Der Klägerin hätte auffallen müssen, dass bei korrekter Berücksichtigung aller Einkommen sich aus dem Bescheid vom 20.3.2019 kein höheres monatliches Wohngeld als im Bescheid vom 22.5.2017 ergeben könne. Demnach könne sich die Klägerin nicht auf Vertrauensschutz berufen.
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Am 9.3.2020, einem Montag, hat die Klägerin Klage gegen den Landrat des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte erhoben. Sie verweist auf die Widerspruchsbegründung und trägt ergänzend vor, der Beklagte könne vor dem Hintergrund, dass er selbst vollkommen unfähig gewesen sei, einen einfachen Wohngeldtatbestand zu regeln, nicht ernsthaft verlangen, dass die Klägerin als Rentnerin bei einfacher Lektüre die vom Beklagten verfügte widersprüchliche Bescheidbegründung verstehe, in der einerseits keine Rentenzahlung im Berechnungsbogen auftauche, andererseits aber die Rückzahlung wegen der Rentenzahlung beibehalten und mehr bewilligte Leistungen in Höhe von 448,00 € wegen der Rentennachzahlung einbehalten werden. Die Klägerin hätte dies nicht anders verstehen können, als dass die Rentennachzahlung auch in diesem Bescheid berücksichtigt werde. Wenn der Beklagte wolle, dass der Bürger einfache Fehler im Bescheid erkennen könne, müsse er entsprechend einfache Verfügungen anbieten und widerspruchsfrei begründen. Hinzu komme, dass der Beklagte von sich aus, ohne Zutun der Klägerin, von Amts wegen einen falschen Bescheid aufgehoben habe und durch einen noch falscheren Bescheid ersetzt habe.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 10.9.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.2.2020 aufzuheben
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Der Landrat des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zur Begründung hat er darauf verwiesen, dass die Klage schon unzulässig sei, da sie nicht gegen den richtigen Beklagten gerichtet sei und zumindest unbegründet, da die ihr zugrundeliegenden Verwaltungsentscheidungen rechtmäßig seien und die Klägerin hierdurch nicht in ihren Rechten verletzt werde.
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Mit Schriftsatz vom 14.4.2020, am selben Tag bei Gericht eingegangen, hat die Klägerin die Klage geändert und gegen den Beklagten gerichtet. Er hat hierzu ausgeführt, dass die Klageänderung zulässig sei. Es komme für die Rechtzeitigkeit der Klageerhebung nur darauf an, ob die ursprünglich erhobene Klage innerhalb der Klagefrist bei Gericht eingegangen sei. Dass ein Wechsel des Beklagten nach Ablauf der Klagefrist nicht zur Unzulässigkeit der Klage wegen Fristversäumnis führe, entspreche dem Bestreben der Verwaltungsgerichtsordnung, im Interesse eines wirksamen Rechtsschutzes die Erhebung einer Klage nicht mehr als aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nötig an formellen Mängeln scheitern zu lassen. Im Übrigen sei die Klageänderung auch innerhalb der einjährigen Klagefrist erfolgt. Diese gelte, da die Rechtsmittelbelehrung unrichtig sei. Wenn – wie vorliegend – Ausgangs- und Widerspruchsbehörde nicht identisch seien, erwecke die bloße Belehrung, dass gegen den (Widerspruchs-)Bescheid Klage erhoben werden könne, den unzutreffenden Eindruck, die Klage sei stets gegen die Widerspruchsbehörde bzw. deren Rechtsträger zu richten. Hierdurch sei die Rechtsbehelfsbelehrung objektiv geeignet, eine rechtzeitige Rechtsbehelfsbelegung nennenswert zu erschweren. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass hier zwei Bescheide angegriffen worden seien, in der Rechtsmittelbelehrung hingegen nur von einem Bescheid die Rede sei.
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Der Landrat des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte hat darauf hingewiesen, dass sich die Frage stelle, ob der Bescheid als bestandskräftig anzusehen wäre, da die Klage nicht rechtzeitig gegen den richtigen Beklagten erhoben worden sei.
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Mit Verfügung vom 16.6.2020 hat die Kammer die Klage an den Beklagten zugestellt und das Verfahren mit dem Beklagten anstelle des Landrates des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte fortgeführt.
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Der Beklagte beantragt unter Verweisung auf die Sach- und Rechtslage im Bescheid vom 10.9.2019 und den Widerspruchsbescheid vom 5.2.2020,
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die Klage abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 7.7.2020 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte den Abhilfebescheid vom 10.9.2019 dahingehend abgeändert, dass die Kosten der Klägerin im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 19.07.2019 für erstattungsfähig erklärt werden. Zugleich hat er in der mündlichen Verhandlung den Wohngeldbewilligungsbescheid vom 10.9.2019 insoweit aufgehoben, als darin ein höherer Betrag als 777,00 Euro als Rückforderung geltend gemacht worden ist.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die bei Akten befindlichen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Soweit die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einzustellen.
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Im Übrigen hat die Klage keinen Erfolg.
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
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Die Klage ist zunächst zulässig. Sie ist insbesondere zulässig, soweit die Klägerin sie gegen den Beklagten gerichtet hat. Die insofern von ihr ausgesprochene Klageänderung, in der sie den Beklagten ausgewechselt hat, ist gemäß § 91 Abs. 1 VwGO zulässig. Danach ist eine Änderung der Klage zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. Bei einer Auswechslung des Beklagten handelt es sich um eine Klageänderung (vgl. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl., § 91, Rn. 2). Diese Änderung ist zuzulassen. Zwar fehlt es an einer Einwilligung des früheren Beklagten. Jedoch hält das Gericht die Klageänderung für sachdienlich, sodass die Klageänderung zugelassen werden muss. Sachdienlichkeit ist anzunehmen, wenn auch für die geänderte Klage der Streitstoff im Wesentlichen derselbe bleibt und die Klageänderung die endgültige Beilegung des Streites fördert und dazu beiträgt, dass ein weiterer sonst zu erwartender Prozess vermieden wird (Schenke, a.a.O., Rn. 19). So verhält es sich vorliegend. Der Streitstoff bleibt derselbe, da weiterhin um den Anspruch der Klägerin auf Bewilligung von Wohngeld für die Zeit vom 1.2.2017 bis 31.12.2017 und die Erstattung ihrer Kosten im Widerspruchsverfahren gestritten wird bzw. wurde und die Bescheide des neuen Beklagten vom 10.9.2019 von Anfang an als Streitgegenstand dieser Klage bezeichnet und zu den Akten gereicht worden sind. Würde das Gericht die Klage mit der Begründung abweisen, dass es bei einer Klage gegen den bisherigen Beklagten auf eine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides beschränkt wäre, so wäre eine weitere Klage gegen den neuen Beklagten zu erwarten. Eine solche wäre auch nicht verfristet. Die Klagefrist beträgt im vorliegenden Fall gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO ein Jahr ab Zustellung des Widerspruchsbescheides. Danach ist die Einlegung des Rechtsbehelfs innerhalb eines Jahres seit Zustellung zulässig, wenn die Belehrung über den Rechtsbehelf unrichtig erteilt worden ist. Eine Rechtsbehelfsbelehrung hinsichtlich Angaben, die nach § 58 Abs. 1 VwGO nicht erforderlich sind, ist auch dann unrichtig, wenn Sie einen nicht erforderlichen Zusatz enthält, der fehlerhaft oder irreführend ist und dadurch generell geeignet ist, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen und materiellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch davon abhalten kann, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen (Schenke, a.a.O., § 58 Rn 12). Dies ist insbesondere dann gegeben, wenn nur auf die Anfechtbarkeit des Widerspruchsbescheides hingewiesen wird, sofern Ausgangs- und Widerspruchsbehörde nicht identisch sind (Schenke, a.a.O., § 58 Rn. 12). So verhält es sich vorliegend. In der Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Widerspruchsbescheides vom Landrat des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte vom 5.2.2020 heißt es „Gegen diesen Bescheid kann ... Klage ... erhoben werden. ...“ Damit weist die Rechtsbehelfsbelehrung den Widerspruchsbescheid vom 5.2.2020 als Klagegegenstand aus. Tatsächlich ist aber Streitgegenstand nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Da gemäß § 78 VwGO die Klage gegen die Behörde zu richten ist, die den Verwaltungsakt erlassen hat, wirkt sich der Fehler unmittelbar auf die Bezeichnung und damit richtige Wahl des Beklagten aus. Damit ist dieser Fehler generell geeignet, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen und materiellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch davon abhalten kann, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen.
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Die danach zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 10.9.2019, mit dem der Beklagte den vorhergehenden Wohngeldbescheid vom 20.3.2019 aufgehoben, eine Reduzierung des Wohngeldes vorgenommen und die Rückzahlung von empfangenen Leistungen in Höhe von 700,00 € verfügt hat, ist in der Gestalt des Widerspruchsbescheides von 5.2.2020 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Rechtsgrundlage für die Rücknahme des Bescheides vom 20.3.2019 ist § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach darf, soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
33
Der Bescheid vom 20.3.2019 begünstigt die Klägerin, da er ihr ein Wohngeld gewährt. Er ist auch rechtswidrig. Soweit in dem Bescheid vom 20.3.2019 als anrechenbares Monatseinkommen ein Betrag von 361,28 € zugrunde gelegt worden ist, ist diese Grundlage fehlerhaft. Der Beklagte hat insoweit außer Betracht gelassen, dass bei dem anrechenbaren Monatseinkommen auch die ab dem 1.8.2017 erfolgten monatlichen Rentenzahlungen bzw. die tatsächliche erfolgte Nachzahlung der Rente an die Klägerin in Höhe von 867,65 € pro Monat in das Monatseinkommen einzurechnen waren. Da sich die Höhe des Wohngeldanspruchs nach §§ 13 bis 18, 19 WoGG nach dem Gesamteinkommen berechnet, wirkt sich ein fehlerhaft eingesetztes Gesamteinkommen auf das zu berechnende Wohngeld aus und bedingt daher eine fehlerhafte Festsetzung des Wohngeldanspruchs, sodass der den Wohngeldanspruch beziffernde Bescheid vom 20.3.2019 rechtswidrig war.
34
Die Rücknahme des Bescheides vom 20.3.2019 ist nicht durch § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X gehindert. Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Gemäß Abs. 2 Satz 2 ist das Vertrauen in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Feststellungen hierzu hat der Beklagte nicht getroffen. Solche konnten jedoch auch unterbleiben, da die Klägerin nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X gehindert ist, sich auf Vertrauensschutz zu berufen.
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Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauensschutz berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schweren Maße verletzt hat. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Anzuwenden ist insoweit ein subjektiver Maßstab, wonach das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (BSG, Urt. v. 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R – Juris Rn. 23 m.w.Nw.).
36
Die Klägerin musste die Rechtswidrigkeit der Wohngeldberechnung im Bescheid vom 20.3.2019 erkennen, da ihr die Fehlerhaftigkeit der Berechnungsgrundlage bezüglich des fehlerhaften Einkommens hätte auffallen müssen. Die Klägerin wäre gehalten gewesen, den sie begünstigenden Wohngeldbescheid auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen. Dabei wäre ihr die Unrichtigkeit ohne weiteres aufgefallen. Anders als der mit dem Bescheid vom 20.3.2019 zurückgenommene Bescheid vom 22.5.2017, der bei dem Monatseinkommen das damals nicht bekannte Renteneinkommen nicht berücksichtigt hatte, lag dem Bescheid vom 20.3.2019 die nunmehr von der Klägerin mitgeteilten Einkünfte aus einer Rente gemäß Festsetzung der Deutschen Rentenversicherung Bund im Bescheid vom 15.12.2017 zugrunde. Von daher hätte der Klägerin ohne weiteres auffallen müssen, dass sich unter Einrechnung der Rentenzahlungen das Monatseinkommen nicht gegenüber der vorherigen mit Bewilligungsbescheid vom 22.5.2017 deutlich reduzieren konnte, sondern sich stattdessen hätte erhöhen müssen. Von daher hätte sie das gegenüber dem Bescheid vom 22.5.2017 deutlich höhere Wohngeld anzweifeln müssen und den Beklagten hierüber informieren müssen. Dies aber hat sie unterlassen. Damit hat sie einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Bei dieser Sachlage kann sich die Klägerin auch nicht darauf berufen, dass der Beklagte eine Vielzahl von Bescheiden erlassen hat und sie dadurch verwirrt habe. Die Klägerin brauchte hier nicht die Rechtswidrigkeit des Bescheides durch einen Abgleich mit sämtlichen anderen Bescheiden feststellen, sondern lediglich erkennen, dass der streitgegenständliche Bescheid im Vergleich mit dem ersten Bewilligungsbescheid eindeutig Anlass geboten hat, an der Richtigkeit dieser Entscheidung zu zweifeln.
37
Da ein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vorliegt, durfte der Bescheid vom 20.3.2019 gemäß § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, wonach die Behörde die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, aussprechen darf, wurde eingehalten.
38
Die weiter mit dem Bescheid vom 10.9.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.06.2018 erfolgte Festsetzung einer Pflicht der Klägerin zur Rückzahlung ist ebenfalls rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 50 Abs. 1 SGB X. Danach sind, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Sach- und Dienstleistungen sind in Geld zu erstatten. Laut Abs. 3 ist – wie hier geschehen – die zu erstattende Leistung durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen und soll die Festsetzung, sofern die Leistung auf Grund eines Verwaltungsakts erbracht worden ist, mit der Aufhebung des Verwaltungsaktes verbunden werden. Bedenken an der Richtigkeit des ermittelten überzahlten Betrages in Höhe von 777,00 € bestehen nicht.
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Dem Beklagten sind auch keine Ermessensfehler zum Rückforderungsverlangen unterlaufen. Zwar hat der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden kein Ermessen ausgeübt. Dies ist jedoch nicht zu beanstanden. Eine Ermessensentscheidung kommt allenfalls in Betracht, wenn ein atypischer Ausnahmefall abweichend vom Regelfall vorliegt. Der Beklagte war vorliegend nicht gehalten, ein Erstattungsermessen auszuüben. Soweit der zurückgenommene Verwaltungsakt – wie vorliegend – mit der Beschränkung der Rücknahmemöglichkeit durch § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X bereits eine vorweggenommene Ermessensentscheidung auch für das Rücknahmeverlangen darstellt, kann sich dies nur in atypischen Fällen auswirken, während für den Regelfall von einer insoweit gebundenen Entscheidung hinsichtlich des Rückzahlungsverlangens auszugehen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.11.2001 – 5 C 10.00 –, juris Rn. 10; SächsOVG, Urt. v. 5.12.2017 – 4 A 273/17 –, Rn. 24, juris).
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Auch hinsichtlich der Festsetzung des Wohngeldes in Höhe von 127 € hat die Klage keinen Erfolg. Die Klage ist auch insoweit unbegründet. Die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf ein höheres Wohngeld.
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Die Wohngeldberechnung des Beklagten ist nicht zu beanstanden. Die grundsätzliche Wohngeldberechtigung ergibt sich für die Klägerin aus § 3 Abs. 1 Satz 1 WoGG. Danach ist wohngeldberechtigte Person jede natürliche Person, die Wohnraum gemietet hat. Gemäß § 4 WoGG richtet sich das Wohngeld nach 1. der Anzahl der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder (§§ 5 bis 8), 2. der zu berücksichtigenden Miete der Belastung (§§ 9 bis 12) und 3. dem Gesamteinkommen (§§ 13 bis 18) und ist nach § 19 zu berechnen. Dass dem Beklagten hierbei Fehler unterlaufen sind, hat die Klägerin nicht dargetan; augenscheinlich akzeptiert sie die Berechnung und wendet sich nur gegen die Rücknahme der früheren höheren Begünstigung im zurückgenommene Bescheid vom 20.3.2019. Auch für das Gericht sind keine Fehler in der Berechnung feststellbar.
42
Zutreffend hat der Beklagte von dem vereinbarten Mietentgelt in Höhe von 475,48 Euro nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WoGG Nebenkosten für Heizung/Warmwasser in Höhe von 124,48 € abgesetzt und eine zu berücksichtigende Miete von 351,00 € errechnet, die unter dem Höchstbetrag nach § 12 Abs. 1 und § 11 Abs. 3 WoGG liegt und daher vollumfänglich zu berücksichtigen ist.
43
Auch das zu berücksichtigende Gesamteinkommen der Klägerin hat der Beklagte nunmehr zutreffend ermittelt. Nach § 13 Abs. 1 WoGG ist das Gesamteinkommen die Summe der Jahreseinkommen (§ 14 WoGG) der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder abzüglich der Freibeträge (§ 17) und der Abzugsbeträge für Unterhaltsleistungen (§ 18). § 13 Abs. 2 WoGG bestimmt, dass das monatliche Gesamteinkommen 1/12 des Gesamteinkommens ist. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 WoGG ist das Jahreseinkommen eines zu berücksichtigenden Haushaltsmitgliedes vorbehaltlich des Absatzes 3 die Summe der positiven Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes zuzüglich der Einnahmen nach Absatz 2 abzüglich der Abzugsbeträge für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge (§ 16 WoGG). Gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 5 WoGG gehören zum Jahreseinkommen auch steuerfreie Renten. Sofern wir hier diese ein kommen nicht gleich bleiben das ganze Jahr über geflossen sind, ist das Jahresgesamteinkommen festzustellen und durch 12 zu teilen sodass sämtliche für das Jahr 2017 erfolgen Rentenzahlungen zu berücksichtigen sind.
44
Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 WoGG ist zwar das Einkommen zugrunde zu legen, das im Zeitpunkt der Antragstellung im Bewilligungszeitraum zu erwarten ist. Bei Beantragung des Wohngeldes durch die Klägerin am 17.2.2017 war die auf den Antrag der Klägerin vom 22.9.2017 laut des Bescheides der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 15.12.2017 festgesetzte Rentenzahlung in Höhe von 867,65 € nicht zu erwarten.
45
Allerdings ist gemäß § 27 Abs. 2 Nr. 3 WoGG über die Leistung des Wohngeldes von Amts wegen mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse unter Aufhebung des Bewilligungsbescheides neu zu entscheiden, wenn sich im laufenden Bewilligungszeitraum nicht nur vorübergehend das Gesamteinkommen um mehr als 15 Prozent erhöht und dadurch das Wohngeld wegfällt oder sich verringert. Vorliegend war eine entsprechende Erhöhung durch die Begründung des Rentenanspruchs gegeben. Bei Antragstellung betrug das jährliche Bruttoeinkommen 7.393,56 €. Durch die Rentenzahlung kamen noch einmal 3.845,85 € dazu. Hierdurch erhöhte sich das jährliche Bruttoeinkommen um 52 % und verringerte sich wegen des erhöhten Jahreseinkommens der Wohngeldanspruch.
46
Von daher hatte der Beklagte von Amts wegen nachträglich auch das zusätzliche Einkommen der Klägerin durch die Rentenzahlungen zur Grundlage der Wohngeldberechnung zu machen. Dass die Bruttoeinkünfte zugrunde zu legen sind, ergibt sich zum einen aus dem Verweis in § 14 WoGG auf das Einkommensteuergesetz und zum anderen aus der Regelung in § 16 WoGG, der bestimmt, welche Beträge von dem Bruttoeinkommen abzuziehen sind.
47
Dass höhere Werbungskosten/Absetzungen als 102 € vom Beklagten vom Jahreseinkommen abzuziehen gewesen wären, hat weder die Klägerin dargetan noch ist dies für das Gericht erkennbar. Ein Abzug nach § 16 WoGG von 30 % war nicht vorzunehmen. Dieser ergibt sich, wenn Steuern, Pflichtbeiträge zur gesetzlichen oder privaten Kranken- und Rentenversicherung zu leisten sind. Die Klägerin hat indessen lediglich nachgewiesen, dass sie Beiträge zur Krankenversicherung zahlte. Nachweise einer Rentenbeitragszahlung und der tatsächlichen Steuerzahlung hat sie nicht vorgelegt. Demzufolge war auch nur – wie vom Beklagten vorgenommen – ein Abzug von 10% für die Kranken- und Pflegeversicherung einzurechnen.
48
Bei einem sich danach ergebenden monatlichen Gesamteinkommen von 790,54 € und einer zu berücksichtigenden Miete i. H. v. 678,99 € ergibt sich nach § 19 Abs. 1 WoGG i.V.m. der Wohngeldtabelle nach Anlage 1 der WoGVwV ein monatlicher Wohngeldbetrag von 127,00 €, wie vom Beklagten berechnet.
49
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1, § 161 Abs. 2, § 188 Satz 2 VwGO, die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit beruht auf § § 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung [ZPO].
50
Gründe für die Zulassung der Berufung liegen nicht vor (§ 124 VwGO).
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung nach Maßgabe der Kostenfestsetzung abwenden, falls der Beklagte nicht vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um Wohngeld für die Klägerin.
2
Am 21.1.2020 stellte sie beim Beklagten einen Antrag auf Wohngeld ab dem 1.3.2020 für ihre Wohnung S. Straße 5 in A-Stadt. Am 30.1.2020 legte sie diverse Antragsunterlagen vor. Mit Bescheid vom 28.2.2020 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Leistung von Wohngeld ab dem 1.3.2020 ab. Zur Begründung gab er an, dass bei der Anzahl der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder von einer Person und einer zu berücksichtigenden monatlichen Miete/Belastung von 200,00 € das zu berücksichtigenden monatliche Gesamteinkommen 790,54 € betrage, sodass der entsprechend dem Wohngeldgesetz ermittelte Mietzuschuss monatlich 0,00 € betrage.
3
Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben am 9.3.2020 Widerspruch ein. Zur Begründung trug sie vor, sie hätte alle maßgebenden Unterlagen übergeben, sodass nach der neuen Berechnung und der Veränderungen in ihren persönlichen Verhältnissen nach der neuen Verordnung Wohngeld herauskommen müsse. Sie müsse seit vier Jahren von ihrer Altersvorsorge leben. Sie habe Entscheidungen bezüglich ihres Gesundheitszustandes beantragt. Aufgrund der Situation müsste sie eigentlich für ihre Rente in Zukunft vorsorgen. Wenn Sie bei den ihr vorliegenden Verhältnissen jetzt nach Erkrankung riestern müsste, wären dies mindestens 100 € pro Monat, die sie nicht mehr von ihrer Rente und den Ausgaben aufbringen könne. Für den Fall der Klage und Nachzahlung müsse sie jeden Monat mindestens 200 € nachzahlen. Da sie die Kosten für ihre Erkrankung selbst zahlen müsse, fielen monatlich ca. 50 € an. Die Kosten für den Anschluss des Fernsehens in Höhe von 128 € habe sie nicht mehr in Rechnung gesetzt. Für den Fall Zukunft/Rente müsse sie mindestens 100 € monatlich einzahlen. Den Anstieg der Lebenshaltungskosten balanciere man nicht jeden Monat aus.
4
Mit Widerspruchsbescheid vom 8.4.2020 wies der Beklagte den Widerspruch als zulässig, jedoch unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, er sei gemäß § 73 Abs. 1 Ziffer 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zur Entscheidung des Widerspruchs berufen. Nach § 4 Wohngeldgesetz (WoGG) richte sich das Wohngeld nach der Anzahl der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder (§§ 5-8), der zu berücksichtigenden Miete oder Belastung (§§ 9-12) und dem Gesamteinkommen (§§ 13-18) und sei nach § 19 zu berechnen. Gemäß § 13 Abs. 1 WoGG sei Gesamteinkommen die Summe der Jahreseinkommen der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder abzüglich der Freibeträge (§ 17) und der Abzugsbeträge für Unterhaltsleistungen (§ 18). Das monatliche Gesamteinkommen sei ein Zwölftel des Gesamteinkommens § 13 Abs. 2 WoGG). Das Jahreseinkommen eines zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieds sei nach § 14 Abs. 1 WoGG die Summe der positiven Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes zuzüglich der Abzugsbeträge für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge (§ 16).
5
Die Klägerin beziehe eine Rente wegen Erwerbsminderung, die zum Jahreseinkommen gehöre. Die Bruttorente betrage 824,32 € monatlich was einer Jahressumme von 9.891,84 € entspreche. Weiterhin beziehe sie monatlich einen Betrag von 62,56 € als Versorgungsbezug von der Allianz Lebensversicherung AG. Die Einkünfte aus Versorgungsbezügen würden ebenfalls zum Jahreseinkommen gemäß § 14 Abs. 1 WoGG gehören. Die Jahressumme der Einkünfte aus Versorgungsbezügen betrage 750,72 €. Von der sich daraus ergebenden Jahreszwischensumme von 10.642,56 € seien 102 € Werbungskosten (Rente) abzusetzen. Nach § 16 WoGG seien von dem Betrag 10 % für Pflichtbeiträge KV/PV in Höhe von 1054,06 € abzuziehen. Es ergebe sich daher ein Jahreseinkommen von 9.486,50 €. Zwar hätte die Klägerin einen Nachweis über den Grad der Behinderung von 30 vorgelegt. Damit lägen die Voraussetzungen für die Gewährung eines Freibetrages gemäß § 17 Nummer 1 WoGG jedoch nicht vor, da hierfür ein Grad der Behinderung von 100 oder bei einem darunterliegenden Grad eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 14 SGB XI und gleichzeitige häusliche oder teilstationäre Pflege oder Kurzzeitpflege erforderlich sei. Daran fehle es bei der Klägerin. Da Frei- und Abzugsbeträge gemäß § § 17,18 WoGG nicht zu berücksichtigen seien, betrage das monatliche Gesamteinkommen 790,54 €. Die zu berücksichtigende Miete betrage 200 €, da von den Mietkosten in Höhe von 280 € nach Vermieterbescheinigung Kosten für Heizung/Warmwasser in Höhe von 80 € abzusetzen seien. Da dieser Betrag unter den in § 12 Abs. 1 WoGG genannten Höchstbeträgen für Miete und Belastung liege, werde er in voller Höhe berücksichtigt. Bei einer zu berücksichtigenden Miete von 200,00 € und einem monatlichen Gesamteinkommen in Höhe von 790,54 € stehe einem Haushalt mit einem Haushaltsmitglied gemäß § 19 WoGG kein Wohngeld zu. Ein Berechnungsfehler liege nicht vor. Die von der Klägerin weiter angeführten Kosten für den Fall einer Klage, im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung, für die Zukunft/Rente und den Anstieg von Lebenshaltungskostenreparaturen könnten bei der Berechnung des Wohngeldes nicht berücksichtigt werden, da das Wohngeldgesetz dafür keine Raum bietet. Die Kosten für den Anschluss des Fernsehers in Höhe von 128,00 € pro Jahr wären bei der Berechnung des Wohngeldes grundsätzlich berücksichtigungsfähig, wenn ein Nachweis über die tatsächliche Zahlung im Rahmen der Beantragung des Wohngeldes vorgelegt werden.
6
Am 22.4.2020 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie trägt vor, sie verlange eine nachvollziehbare Berechnung der Wohngeldberechnung nach dem aktuellen Wohngeldgesetz, sowie Entschädigung, sodass sie dem Eigentümer die Rückstände bezahlen könne. Jedem Bürger der BRD stünden im Zusammenhang mit Verdienstausfällen während der Pandemie Entschädigungen zu. Ihre Arbeitsfähigkeit sei laut Gutachten eingeschränkt und somit weiterer Zuverdienst begrenzt. Der geplante Verkauf des Grundstücks und Objekts in Heinrichswalde sei gescheitert. Ihr stehe deswegen in der jetzigen Situation nur begrenztes Vermögen zu. Die Mieter seien Mitschuldner, welche auch veranlagt worden seien. Sie müsse aufgrund der sich zuspitzenden Situation ihre Rücklagen aufbrauchen. Ihre Handwerker- und Malerarbeiten seien geplant und würden voraussichtlich auch noch fällig. Die Waschmaschine sei aufgrund der vielen Arbeiten defekt, das Bad sei beauftragt und müsse saniert werden. Die Reinigung Ihres PKWs als Leistungen während der Pandemie sei steuerlich absetzbar. Das Versorgungsamt A-Stadt sei in Bezug auf die Behinderung in Verzug, ein Bescheid liege noch nicht vor. Die für den Pandemiezeitraum beantragten Zulagen seien abgelehnt worden und würden nochmals abgefordert. Das Zurückzahlen der Erwerbsminderungsrente könne sie aufgrund der Eigentumsverhältnisse nur für ihren Anteil in Erwägung ziehen, jedoch sei auf dem Arbeitsmarkt keine Möglichkeit vorhanden, Geld zu verdienen. Die Altersvorsorge sei bis auf einen beweiskräftigen Betrag nachweisbar aufgebraucht.
7
Die Klägerin beantragt,
8
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 28.2.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.4.2020 zu verpflichten, ihr Wohngeld von Beginn des Mietvertrages an bis zum Ende des Mietverhältnisses zu bewilligen.
9
Der Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den Inhalt der Verwaltungsakte und der Bescheide,
10
die Klage abzuweisen.
11
Mit Beschluss vom 29.6.2020 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die bei Akten befindlichen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
Entscheidungsgründe
13
Die Klage hat keinen Erfolg.
14
Die Klage ist zulässig aber unbegründet.
15
Die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf den begehrten Verwaltungsakt. Sie hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Wohngeld.
16
Hierbei legt das Gericht den Antrag der Klägerin dahingehend aus, dass sie mit der Klage, die Verpflichtung des Beklagten begehrt, ihrem Antrag vom 21.1.2020 auf Bewilligung von Wohngeld ab dem 1.3.2020 für 12 Monate zu entsprechen.
17
Die Wohngeldberechnung des Beklagten ist nicht zu beanstanden. Die grundsätzliche Wohngeldberechtigung ergibt sich für die Klägerin aus § 3 Abs. 1 Satz 1 WoGG. Danach ist wohngeldberechtigte Person jede natürliche Person, die Wohnraum gemietet hat. Gemäß § 4 WoGG richtet sich das Wohngeld nach 1. der Anzahl der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder (§§ 5 bis 8), 2. der zu berücksichtigenden Miete der Belastung (§§ 9 bis 12) und 3. dem Gesamteinkommen (§§ 13 bis 18) und ist nach § 19 zu berechnen. Danach kann die Klägerin ein höheres bzw. zusätzliches Wohngeld für die Zeit ab dem 1.3.2020 nicht beanspruchen. Der Beklagte hat die Anzahl der zu berücksichtigenden Familienmitglieder (nur die Klägerin) und die Höhe der Miete und das Gesamteinkommen der Klägerin zutreffend ermittelt.
18
Zutreffend hat der Beklagte von dem vereinbarten Mietentgelt in Höhe von 280,00 Euro nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WoGG 80,00 € Nebenkosten für Heizung/Warmwasser abgesetzt und eine zu berücksichtigende Miete von 200,00 € errechnet, die unter dem Höchstbetrag nach § 12 Abs. 1 und § 11 Abs. 3 WoGG liegt und daher vollumfänglich zu berücksichtigen ist.
19
Auch das zu berücksichtigende Gesamteinkommen der Klägerin hat der Beklagte zutreffend ermittelt. Nach § 13 Abs. 1 WoGG ist das Gesamteinkommen die Summe der Jahreseinkommen (§ 14 WoGG) der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder abzüglich der Freibeträge (§ 17) und der Abzugsbeträge für Unterhaltsleistungen (§ 18). § 13 Abs. 2 WoGG bestimmt, dass das monatliche Gesamteinkommen 1/12 des Gesamteinkommens ist. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 WoGG ist das Jahreseinkommen eines zu berücksichtigenden Haushaltsmitgliedes vorbehaltlich des Absatzes 3 die Summe der positiven Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes zuzüglich der Einnahmen nach Absatz 2 abzüglich der Abzugsbeträge für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge (§ 16 WoGG). Gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 5 WoGG gehören zum Jahreseinkommen auch steuerfreie Renten. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 WoGG ist das Einkommen zugrunde zu legen, das im Zeitpunkt der Antragstellung im Bewilligungszeitraum zu erwarten ist. Laut der von der Klägerin vorgelegten Bescheinigung betrug die monatliche Rente der Klägerin im Zeitpunkt der Antragstellung 824,32 €. Dass die Bruttoeinkünfte zugrunde zu legen sind, ergibt sich zum einen aus dem Verweis in § 14 WoGG auf das Einkommensteuergesetz und zum anderen aus der Regelung in § 16 WoGG, der bestimmt, welche Beträge von dem Bruttoeinkommen abzuziehen sind.
20
Dass höhere Werbungskosten/Absetzungen als 102 € vom Beklagten vom Jahreseinkommen abzuziehen gewesen wären, hat weder die Klägerin dargetan noch ist dies für das Gericht erkennbar. Ein Abzug nach § 16 WoGG von 30 % war nicht vorzunehmen. Dieser ergibt sich, wenn Steuern, Pflichtbeiträge zur gesetzlichen oder privaten Kranken- und Rentenversicherung zu leisten sind. Die Klägerin hat lediglich nachgewiesen, dass sie Beiträge zur Krankenversicherung zahlt. Nachweise einer Rentenbeitragszahlung und einer tatsächlichen Steuerzahlung hat sie nicht vorgelegt. Demzufolge war auch nur – wie vom Beklagten vorgenommen – ein Abzug von 10% für die Kranken- und Pflegeversicherung einzurechnen. Einen Freibetrag nach § 17 WoGG und Abzugsbeträge für Unterhaltsleistungen nach § 18 WoGG hatte der Beklagte nicht abzuziehen, weil die Klägerin hierzu nichts nachgewiesen hat. Zwar hat die Klägerin einen Nachweis über den Grad der Behinderung von 30 vorgelegt. Dies führt nicht zur Annahme eines Freibetrags. Die Gewährung eines Freibetrages gemäß § 17 Nr. 1 WoGG setzt hierfür einen Grad der Behinderung von 100 oder bei einem darunterliegenden Grad eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 14 SGB XI und gleichzeitig eine häusliche oder teilstationäre Pflege oder Kurzzeitpflege voraus. Daran fehlt es bei der Klägerin.
21
Bei einem sich danach ergebenden monatlichen Gesamteinkommen von 790,54 € und einer zu berücksichtigenden Miete i. H. v. 200,00 € ergibt sich nach § 19 Abs. 1 WoGG i.V.m. der Wohngeldtabelle nach Anlage 1 der WoGVwV ein monatlicher Wohngeldbetrag von 0 €, wie vom Beklagten berechnet.
22
Soweit die Klägerin auf ihre schwierigen Vermögensverhältnisse verweist, hat dies außer Betracht zu bleiben. Das Wohngeldgesetz sieht keine Berücksichtigung dieser Umstände vor. Vielmehr stellt das Wohngeldgesetz allein auf das Einkommen ab und regelt abschließend, was von dem Einkommen abzusetzen ist. Soweit es der Klägerin nicht möglich sein sollte, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ist sie auf die Beantragung von Sozialleistungen zu verweisen. Die Wohngeldbewilligung hingegen dient gemäß § 1 Abs. 1 WoGG alleine der wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnens.
23
Auch der Widerspruchsbescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Beklagte war zum Erlass des Widerspruchsbescheides zuständig. Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO erlässt den Widerspruchsbescheid die nächsthöhere Behörde, soweit nicht durch Gesetz eine andere höhere Behörde bestimmt wird. Die nächsthöhere Behörde gegenüber dem Beklagten als Bürgermeister der Kreisstadt des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte ist grundsätzlich der Landrat des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte. Allerdings ist der Landrat gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO in Verbindung mit § 86 Abs. 1, § 145 Abs. 3 Kommunalverfassung Mecklenburg-Vorpommern (KV M-V) nur Widerspruchsbehörde für die Bürgermeister der amtsfreien Gemeinden mit Ausnahme der großen kreisangehörigen Städte und für die Amtsvorsteher der Ämter, während nach § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 86 Absatz 3 KV M-V die Oberbürgermeister der kreisfreien und großen kreisangehörigen Städte die Widerspruchsbescheide selbst erlassen (vgl. Nr. 2.4 der Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Wirtschaft, Bau und Tourismus vom 12. April 2016 – V 500 - 472-00004-2014/018 – VV Meckl.-Vorp. Gl. Nr. 402 – 5 veröffentlicht im AmtsBl. M-V 2016 S. 148 und geändert durch Verwaltungsvorschrift vom 10.05.2019 (AmtsBl. M-V 2019 S. 559).
24
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1, 188 Satz 2 VwGO, die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit beruht auf § § 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung [ZPO].
25
Gründe für die Zulassung der Berufung liegen nicht vor (§ 124 VwGO).
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. April 2017 wird zurückgewiesen.Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen im Berufungsverfahren, die dieser selbst zu tragen hat.Der Streitwert des Verfahrens wird endgültig auf 5.000,- EUR festgesetzt.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist der sozialversicherungsrechtliche Status des Beigeladenen in seiner Tätigkeit als Lehrbeauftragter für die Klägerin im Zeitraum vom 1. Februar 2012 - 30. August 2013 streitig.2 Die Klägerin ist ein als GmbH verfasstes Unternehmen, das im Weiterbildungs- und Qualifizierungsbereich tätig ist und u.a. die Durchführung von Fortbildungen und Umschulungen für Arbeitsagenturen und Jobcenter sowie Schulungen für sonstige Institutionen und Firmen anbietet.3 (Jedenfalls) ab dem 01. Februar 2012 war auch der im Jahr 1965 geborene G., der spätere Beigeladene, der über eine Ausbildung im sozialpädagogischen Bereich verfügt, für die Klägerin an deren Lehrgangsort C. als Bildungsbegleiter bzw. in der sozialpädagogischen Betreuung tätig. Seiner Tätigkeit lag hierbei ein „Vertrag Sozialpädagoge/-in“ vom 13. Februar 2012 zu Grunde, der - auszugsweise - u.a. folgende Regelungen beinhaltete:4 § 1 Leistung des Auftragnehmers5 (1) Rahmen der Leistung6 1. Nummer des Projektes: OG 7156562. Zeitraum des Projektes: 19.09.2011 bis 18.09.20133. Ggf. davon abweichender Zeitraum des Einsatzes des Auftragnehmers – Vertragslaufzeit: 19.09.2011 bis 18.09.20134. Einsatzort/OE-Nr.: C./07317 (2) Art der Leistung8 Der Auftragnehmer wird als freier Mitarbeiter die sozialpädagogische Betreuung von Kursteilnehmern gewährleisten.9 (3) Stunden pro Woche und beauftragte Gesamtmenge: 4010 (4) Zum Leistungsumfang gehören auch notwendige Vor- und Nachbereitungsarbeiten, Erstellen von Unterlagen, Durchführen von Anwesenheitskontrollen und ihre Dokumentation, das Entgegennehmen und Weiterleiten von Papieren der Teilnehmer/innen, das Feststellen des Qualifizierungsstandes, die Beratung und Betreuung von Teilnehmer/innen inklusive Beratung hinsichtlich Bewerbungsunterlagen/-Training, die projektbezogenen Kontakte zu sozialen Einrichtungen (Schuldnerberatung, Drogenhilfe etc.) sowie projektbezogene Zusammenarbeit mit Ansprechpartnern der Kostenträger einschließlich der Berichtserstellung auf von Kostenträgern vorgegebenen Dokumenten, das Führen des allgemeinen Schriftverkehrs und die Teilnahme an Projektbesprechungen. Die Tätigkeit kann auch die Betreuung während der Praktikumsphase beinhalten.11 (5) Der Auftragnehmer ist in der Verteilung der wöchentlich vereinbarten Stunden frei. Die Tätigkeit in der Einrichtung kann jedoch nur während der allgemeinen Öffnungszeiten erbracht werden und – soweit die Betreuung etc. von Teilnehmer/innen erfolgt – unter Berücksichtigung der Anwesenheitszeiten der Teilnehmer/innen und deren Tätigkeit in anderen Ausbildungsteilen etc.12 § 2 Vergütung13 (1) Der Auftragnehmer erhält für jede tatsächlich geleistete Einheit: Vergütung pauschal 3.500,00 EUR/Monat14 (2) Mit dieser Vergütung sind alle Leistungen des Auftragnehmers (persönliche und sachliche Kosten) zu § 1 dieses Vertrages abgegolten.15 (3) Nr. 3: die Vergütung ist von der Umsatzsteuer befreit.16 (4) Die Monatsrechnung ist 14 Tage nach Eingang zur Überweisung fällig.17 (5) Für die Versteuerung und das Abführen von Beiträgen zur Sozialversicherung gegebenenfalls nach § 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI (selbstständige Lehrer und Erzieher, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen) sowie gegebenenfalls gemäß § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI ist der Auftragnehmer selbst verantwortlich.18 § 3 Laufzeit und Kündigung19 (1) Kommt das/die Projekte nicht zustande, insb. mangels Teilnehmern oder fehlender Finanzierung, ist dieser Vertrag gegenstandslos.20 (2) Der Vertrag kann von beiden Seiten spätestens am 15. eines Monats für den Schluss des Kalendermonats schriftlich gekündigt werden. Das Recht zur außerordentlichen Kündigung bleibt unberührt.21 § 4 Art der Durchführung22 (1) Der Auftragnehmer ist grundsätzlich an keine Weisungen gebunden; insbesondere ist er in der Art und Weise der Leistungserbringung frei.23 (2) Der Auftragnehmer hat die Leistung zu § 1 selbst zu erbringen. Hinsichtlich Qualifikation und Erfahrung soll ein Dritter damit grundsätzlich nicht beauftragt werden. In Ausnahmefällen kann zwischen der D. Akademie und dem Auftragnehmer eine andere Regelung vereinbart werden, wenn Qualifikation und Erfahrung in der Person des Dritten erfüllt sind, die Leistung nicht anders erbracht werden kann und eine gegebenenfalls notwendige Zustimmung von Auftraggebern der D. Akademie vorliegt.24 (3) Unmittelbar nach Beendigung des Vertragsverhältnisses hat der Auftragnehmer sämtliche sich in seinem Besitz befindlichen Unterlagen, die seine Tätigkeit, die Klägerin bzw. ihr verbundene Unternehmen betreffen, unaufgefordert zurückzugeben. Ein Zurückbehaltungsrecht kann der Auftragnehmer hieran nicht geltend machen.25 § 6 Nebentätigkeit26 Der Auftragnehmer ist berechtigt, andere Tätigkeiten für Dritte, gleich welcher Art, auszuüben ... Dies gilt jedoch nicht für Dritte, die mit der Klägerin in einem Wettbewerbsverhältnis stehen, soweit hierfür im Auftrag der Klägerin entwickelte oder deren eigene Materialien etc. Verwendung finden oder damit gegen § 5 dieses Vertrages verstoßen wird.27 In einem weiteren Vertrag „Lehrbeauftragter“ vom 14. November 2012 ist zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen u.a. wie folgt vereinbart worden:28 § 1 Leistung des Auftragnehmers29 (1) Rahmen der Leistung30 1. Nummer des Projekts: OG 7156562. Zeitraum des Projektes: 19.09.2011 - 18.09.20133. Ggf. davon abweichender Zeitraum des Einsatzes des Auftragnehmers – Vertragslaufzeit: 01.12.2012 bis 18.09.20134. Einsatzort/OE-Nummer: C./07315. Fach/Fächer: Bildungsbegleiter31 (2) Art der Leistung32 Der Auftragnehmer wird als freier Mitarbeiter in Veranstaltungen der Klägerin Teilnehmer/-innen unterrichten.33 (3) Dauer einer Einheit und beauftragte Gesamtmenge34 1. Dauer einer Einheit: 60 Minuten35 2. Gesamtmenge Einheiten: 40 Stunden/Woche36 (4) Zum Leistungsumfang gehören auch notwendige Vor- und Nachbearbeitungsarbeiten, Erstellen von Unterlagen, das Führen von Anwesenheitskontrollen und ihre Dokumentation, das Entgegennehmen und Weiterleiten von Papieren der Teilnehmer/-innen, das inhaltliche Erstellen von Klausuren/Tests, die Korrektur von Klausuren/Tests, das Feststellen des Qualifizierungsstandes, Kassenbucheinträge (Soll-/Ist-Abgleich), die Teilnahme an Projektbesprechungen. Projektbesprechungen werden gesondert gemäß § 2.1 vergütet, soweit diese nicht während der Unterrichtszeit stattfinden.37 (5) Der genaue Einsatz wird in der Regel vier Wochen im Voraus vereinbart und im Stundenplan dokumentiert.38 § 2 Vergütung39 (1) Der Auftragnehmer erhält für jede tatsächlich geleistete Unterrichtseinheit pauschal 3.500,- EUR pro Monat.40 (2) Mit dieser Vergütung sind alle Leistungen des Auftragnehmers (persönliche und sachliche Kosten) zu § 1 dieses Vertrages abgegolten.41 (3) Der Auftragnehmer hat die korrigierten Klausuren/Tests spätestens fünf Werktage nach Erhalt an die Klägerin zurückzugeben. Bei Überschreitung dieses Termins ist die Klägerin berechtigt, den Vergütungsanspruch um EUR 150,00 zu kürzen.42 (5) Die Monatsrechnung ist 14 Tage nach Eingang der Überweisung fällig.43 (6) Für die Versteuerung und das Abführen von Beiträgen zur Sozialversicherung nach § 2 Satz 1 Nr. 1 SGBVI (selbstständige Lehrer und Erzieher, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen) sowie gegebenenfalls gemäß § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI ist der Auftragnehmer selbst verantwortlich.44 § 3 Laufzeit und Kündigung45 (1) Kommt das Projekt nicht zustande, insbesondere mangels Teilnehmern oder fehlender Finanzierung, ist dieser Vertrag gegenstandslos.46 (2) Der Vertrag kann von beiden Seiten spätestens am 15. eines Monats für den Schluss des Kalendermonats gekündigt werden. Das Recht zur außerordentlichen Kündigung bleibt unberührt. Die Kündigung bedarf der Schriftform.47 § 4 Art der Durchführung48 (1) Der Auftragnehmer ist grundsätzlich an keine Weisungen gebunden; insbesondere ist er in der methodischen und didaktischen Gestaltung frei.49 (2) Der Auftragnehmer ist verpflichtet, Lehrpläne/Rahmenstoffpläne/Curricula unter Berücksichtigung des neuesten Standes der fachspezifischen und pädagogischen Wissenschaft zu beachten, insbesondere wenn diese von Auftraggebern der Klägerin vorgegeben werden.50 (3) Der Auftragnehmer ist zur Erteilung von Weisungen an Mitarbeiter der Klägerin nicht befugt.51 (4) Der Auftragnehmer ist nicht verpflichtet, Unterrichtsvertretung zu übernehmen. Eine solche bedarf eines gesonderten Vertrages mit diesem Vertragsmuster.52 (5) Der Auftragnehmer hat die Leistung zu § 1 selbst zu erbringen. Hinsichtlich Qualifikation und Erfahrung soll ein Dritter damit grundsätzlich nicht beauftragt werden. In Ausnahmefällen kann zwischen der Klägerin und dem Auftragnehmer eine andere Regelung vereinbart werden, wenn Qualifikation und Erfahrung in der Person des Dritten erfüllt sind, die Leistung nicht anders erbracht werden kann und eine gegebenenfalls notwendige Zustimmung von Auftraggebern der D. Akademie vorliegt.53 (6) Ist der Auftragnehmer daran gehindert, seine Tätigkeit aufzunehmen, so hat er die Klägerin darüber und über die voraussichtliche Dauer unverzüglich zu unterrichten. Eine Vergütung solcher Zeiten erfolgt nicht.54 (7) Unmittelbar nach Beendigung des Vertragsverhältnisses hat der Auftragnehmer sämtliche sich in seinem Besitz befindlichen Unterlagen, die seine Tätigkeit, die D. Akademie bzw. mit ihr verbundene Unternehmen betreffen, unaufgefordert zurückzugeben. Ein Zurückbehaltungsrecht kann der Auftragnehmer hieran nicht geltend machen.55 § 6 Nebentätigkeit56 Der Auftragnehmer ist berechtigt, andere Tätigkeiten für Dritte, gleich welcher Art, auszuüben ... Dies gilt jedoch nicht für Dritte, die mit der Klägerin in einem Wettbewerbsverhältnis stehen, soweit hierfür im Auftrag der Klägerin entwickelte oder deren eigene Materialien etc. Verwendung finden oder damit gegen § 5 dieses Vertrages verstoßen wird.57 Mit dem Ziel festzustellen, dass eine versicherungspflichtige Beschäftigung nicht vorliege, beantragte der Beigeladene am 20. November 2012 bei der Beklagten die Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status seiner Tätigkeit für die Klägerin vom 01. Februar 2012 - 18. September 2013. Hierzu gab er u.a. an, seine Tätigkeit bestehe darin, zu unterrichten, Teilnehmer zu betreuen, diese in Praktika und Ausbildung zu vermitteln sowie Förderpläne und Dokumentationen zu erstellen. Hinsichtlich der Auftragsausführung erhalte er keine Vorgaben. Er führe Verhandlungen über das Honorar, schreibe Rechnungen an die Klägerin und könne seine Arbeitszeit frei einteilen. Ein Unternehmerrisiko trage er nicht. Mit seinem Antrag legte er neben den seiner Tätigkeit zu Grunde liegenden Verträgen auch von ihm gestellte Rechnungen vor, mit denen er der Klägerin für monatliche Rechnungszeiträume 3.500,- EUR, für halbmonatige Rechnungszeiträume 1.750,- EUR in Rechnung gestellt hatte.58 Nach Anhörung der Klägerin und des Beigeladenen (Anhörungsschreiben vom 21. März 2013) stellte die Beklagte mit gleichlautenden Bescheiden vom 31. Juli 2013 fest, dass der Beigeladene seine Tätigkeit als Sozialpädagoge bei der Klägerin im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausübe und in diesem Beschäftigungsverhältnis seit dem 01. Februar 2012 Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe. Begründend führte die Beklagte aus, dass sich aus den vertraglichen und tatsächlichen Verhältnissen die wesentlichen Merkmale einer anhängigen Beschäftigung ergäben. So unterliege der Beigeladene hinsichtlich Zeit, Ort und der Art der Tätigkeit dem Weisungsrecht der Klägerin. Ferner sei die wöchentliche Arbeitszeit sowie eine pauschale Vergütung vereinbart. Ein unternehmerisches Risiko trage der Beigeladene nicht. Dass dem Beigeladenen keine methodischen und didaktischen Vorgaben erteilt worden seien, stehe dem nicht entgegen.59 Hiergegen erhob die Klägerin am 9. August 2013 Widerspruch, mit dem sie mitteilte, dass der Beigeladene seine Tätigkeit für sie, die Klägerin, auf eigenen Wunsch zum 30. August 2013 beendet habe. Die Klägerin machte geltend, dass der Beigeladene in keinem abhängigen Beschäftigungsverhältnis zu ihr gestanden habe. Der Beigeladene sei insb. in der Art und Weise der Leistungserbringung völlig frei gewesen. Es habe kein Direktionsrecht und keine Rechtsmacht, die Durchführung der Beschäftigung entscheidend zu bestimmen, bestanden. Auch die Tatsache, dass die Stellung eines Vertreters/Mitarbeiters von der Zustimmung des Auftraggebers abhängig sei, sei kein Merkmal einer abhängigen Beschäftigung. Ein Unternehmerrisiko des Beigeladenen dokumentiere sich darin, dass er mit der Klägerin über sein Honorar verhandelt habe.60 Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 2014 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Der Beigeladene sei in die betriebliche Organisation der Klägerin funktionsgerecht dienend eingegliedert. Die Erteilung von konkreten Einzelfallanweisungen sei hierzu nicht erforderlich. Es sei grundsätzlich üblich, dass bei fachlich mit der Arbeit vertrautem Personal fachliche Einzelanweisungen entbehrlich seien und sich Weisungen eher auf organisatorische Fragen beschränkten. In der Gestaltung des Unterrichts sei der Beigeladene zwar grundsätzlich frei gewesen, die Gestaltungsfreiheit gehe jedoch nicht über die pädagogische Freiheit im Rahmen der übernommenen Bildungsaufgaben hinaus. Zudem sei der Beigeladene verpflichtet, die vereinbarten Termine sowie die Stundenzahl einzuhalten und Abwesenheitszeiten entsprechend zu melden. Ein Unternehmerrisiko bestehe nicht. Das Risiko, für seine Arbeit kein Entgelt zu erhalten bzw. bei nicht zufriedenstellender Arbeit nicht weiterbeschäftigt zu werden, stelle kein unternehmerisches Risiko dar.61 Hiergegen hat die Klägerin am 30. Januar 2014 Klage beim Sozialgericht R. erhoben, die mit Beschluss vom 31. März 2014 an das Sozialgericht Stuttgart (SG) verwiesen worden ist. Zur Begründung hat die Klägerin vorgebracht, der Beigeladene sei bei seiner Tätigkeit als Bildungsbegleiter selbstständig tätig gewesen. Die Tätigkeit als Dozent beinhalte zwangsläufig Vorgaben betr. der Thematik des zu vermittelnden Stoffes. Bei der Vermittlung dieses Stoffes habe es jedoch keine methodisch/didaktischen Vorgaben gegeben. Es habe für den Beigeladenen in der Tätigkeit als Lernbegleiter ohnehin keine Lehrpläne gegeben. Für den Beigeladenen habe auch ein unternehmerisches Risiko insoweit bestanden, als er eine Vergütung nur dann habe beanspruchen können, wenn er die vereinbarte Leistung auch tatsächlich erbringe.62 Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid bezogen.63 Mit Beschluss vom 15. Oktober 2014 hat das SG Hrn. T. notwendig zum Verfahren beigeladen.64 Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 25. April 2017 hat der Beigeladene vorgetragen, der Klägerin seien Jugendliche durch die Bundesagentur für Arbeit zugewiesen worden. Seine Aufgabe habe darin bestanden, diese in eine Ausbildung zu vermitteln. Die Jugendlichen hätten auch die Möglichkeit gehabt, den Hauptschulabschluss nachzuholen. Hierbei habe er diese auf die externen Prüfungen vorbereitet. Die eigentliche Prüfungsvorbereitung sei jedoch von Lehrern durchgeführt worden. Wenn diese nicht da gewesen seien, habe auch er unterrichtet. Das Lehrmaterial sei von der Klägerin zur Verfügung gestellt worden. Konkret habe er EDV- Schulungen durchgeführt, freies Sprechen und den Ablauf von Bewerbungsgesprächen geübt. Auch habe er Praktika vermittelt. Die Unterrichtszeiten seien hierbei festgelegt gewesen, welchen Bildungsinhalt er jedoch zu welchem Zeitpunkt vermittelt habe, indes nicht. Wenn er krank gewesen sei, habe jemand anderes seine Stunde übernommen. Sein Gehalt sei monatlich gleich gewesen. In den Räumlichkeiten der Klägerin in C. habe er ein Büro und den dortigen Computer nutzen können. Für die Räumlichkeiten habe er einen Schlüssel gehabt.65 Mit Urteil vom 25. April 2017 hat das SG die Klage abgewiesen. Begründend hat es ausgeführt, der Beigeladene habe seine Tätigkeit für die Klägerin als deren Lehrbeauftragter im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt. Obschon lehrende Tätigkeiten auch selbstständig ausgeübt werden könnten, überwögen vorliegend die Merkmale, die für eine abhängige Beschäftigung sprächen. So seien der Unterrichtsbeginn und das Unterrichtsende sowie die Gesamtmenge der Unterrichtseinheiten festgelegt gewesen, woran sich die Einbindung des Beigeladenen in die Arbeitsorganisation der Klägerin zeige. Die Zahlung eines festen Entgelts spreche gleichfalls gegen eine selbstständige Tätigkeit. Der Umstand, dass der Beigeladene in der Art und Weise der Durchführung des Unterrichts keinen Einzelweisungen unterlegen habe, sei Ausfluss dessen, dass sich die Weisungsgebundenheit bei Diensten höherer Art, wie der eines Lehrenden, auf eine dienende Teilhabe am Arbeitsprozess beschränke. Diese manifestiere sich u.a. darin, dass der Beigeladene mit anderen Mitarbeitern der Klägerin zusammengewirkt und hierbei auf die arbeitstechnische Organisation der Klägerin zurückgegriffen habe. Der Beigeladene habe schließlich kein, für eine selbstständige Tätigkeit charakteristisches Unternehmerrisiko getragen. Er sei vielmehr pauschal vergütet worden. Das Risiko, im Falle der Insolvenz der Klägerin kein Entgelt zu erhalten, entspreche dem Entgeltrisiko, das jeder Arbeitnehmer zu tragen habe. Der Beigeladene sei hiernach, als abhängig Beschäftigter, versicherungspflichtig in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung gewesen.66 Gegen das ihr am 9. Mai 2017 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 31.Mai 2017 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung wiederholt und vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen. Soweit das SG vom Fehlen eines unternehmerischen Risikos ausgegangen sei, verkenne dies, dass ein solches bei reinen Dienstleistungen wie der des Beigeladenen nicht mit größeren Investitionen in Werkzeug, Arbeitsgeräte oder Arbeitsmaterialien verbunden sei. Auch sei das SG fehlerhaft von einer Eingliederung des Beigeladenen in ihren Betrieb mit einem entsprechenden Direktionsrecht ausgegangen. Insofern sei auch nicht von einer dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess auszugehen. Der Beigeladene sei in seiner Tätigkeit vollkommen frei gewesen; eine Anbindung an den Unternehmenszweck der Klägerin habe nicht bestanden. Der Begriff der „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ stelle überdies eine Leerformel der Beklagten und der Sozialgerichtsbarkeit dar. Ein Weisungsrecht gegenüber dem Beigeladenen habe zu keinem Zeitpunkt bestanden; sämtliche Aspekte der Tätigkeit seien vielmehr vertraglich geregelt worden. Auch die Festlegung des Unterrichtsbeginns und dessen Ende spreche, so die Klägerin weiter, nicht für eine abhängige Beschäftigung. Sie beruhten auf Vorgaben der Kostenträger und seien vertraglich vereinbart worden. Bestandteil der Vereinbarung mit den Kostenträgern sei auch die Unterrichtsmenge von 40 Unterrichtsstunden pro Woche gewesen. Dieser Umfang sei vertraglich weitergegeben worden, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Anders als vom SG angenommen, habe sie, die Klägerin, eine Zusammenarbeit bzw. eine Koordination der Tätigkeiten der einzelnen Dozenten weder veranlasst noch vorgegeben. Dass der Beigeladene seine Tätigkeit stets nur in eigener Person verrichtet habe, ergebe sich auch aus der vertraglichen Regelung, denn Dozenten und Ausbilder müssten den Kostenträgern, einschließlich ihrer Qualifikation, namentlich benannt werden. Ein Dozentenaustausch sei in aller Regel nur mit Zustimmung der Kostenträger möglich. Der Beigeladene habe zwar eine pauschale Vergütung i.H.v. 3.500,- EUR erhalten, soweit er gegenüber dem SG angegeben habe, er habe diese auch erhalten, wenn er nicht anwesend gewesen sei, sei ihr, der Klägerin, dies schlicht nicht bekannt gewesen. Wäre eine Abwesenheit des Beigeladenen bekannt gemacht worden, wäre das Honorar um diese Tage gekürzt worden. Der Beigeladene hätte auch keine Vergütung im Rahmen der Lohnfortzahlung erhalten. Die pauschale Vergütung sei daher kein Indiz für eine abhängige Beschäftigung. Eine abhängige Beschäftigung könne auch nicht mit einem fehlenden unternehmerischen Risiko begründet werden. Überall, wo letztlich die Vermarktung der eigenen Fähigkeiten im Vordergrund stehe, gebe es kein einzusetzendes Wagniskapital oder Ähnliches. I.d.S. habe, so der Kläger zuletzt, das Bundessozialgericht ([BSG] Urteil vom 31. März 2017 - B 12 R 7/15 R -) entschieden, dass bei reinen Dienstleistungen ein unternehmerisches Risiko nicht mit größeren Investitionen verbunden sei. In der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2020 ist klägerseits betont worden, dass der Beigeladene bereits deswegen nicht in den Betrieb der Klägerin eingegliedert gewesen sei, als am Lehrgangsort C. keine ihrer Mitarbeiter, sondern ausschließlich freie Mitarbeiter und Teilnehmer der Schulungsveranstaltungen anwesend gewesen seien; ihr Betrieb habe sich hingegen in R., der Hauptbetrieb in S. befunden. Üblicherweise erfolge die Honorierung der für sie tätigen Dozenten nach Stundensätzen, warum vorliegend ein Pauschalhonorar vereinbart worden sei, sei nicht mehr bekannt. Insofern spreche jedoch die Höhe der Entlohnung von 3.500,- EUR monatlich für eine selbstständige Tätigkeit.67 Die Klägerin beantragt,68 das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. April 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Januar 2014 aufzuheben und festzustellen, dass die Tätigkeit des Beigeladenen bei der Klägerin in der Zeit vom 1. Februar 2012 - 30. August 2013 nicht versicherungspflichtig in der gesetzlichen Kranken-, der sozialen Pflege-, der gesetzlichen Rentenversicherung wegen abhängiger Beschäftigung und nach dem Recht der Arbeitsförderung gewesen ist.69 Die Beklagte beantragt,70 die Berufung zurückzuweisen.71 Zur Begründung ihres Antrages bringt sie vor, das SG habe den Sachverhalt zutreffend gewürdigt. Entgegen der Auffassung der Klägerin habe das SG insb. zu Recht ein unternehmerisches Risiko verneint. Der Beigeladene habe eine erfolgsunabhängige Pauschalvergütung erhalten. Das Unterrichtsmaterial habe die Klägerin gestellt. Im Übrigen sei der Beigeladene auch weisungsgebunden in den Betrieb der Klägerin eingegliedert im Sinne einer funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess gewesen. Nach Angaben des Beigeladenen in erster Instanz hätten die Unterrichtszeiten festgestanden und es seien Absprachen erfolgt und auch die Vertretung anderer Dozenten. Der Arbeitsort und die Anzahl der wöchentlichen Unterrichtseinheiten sei ebenfalls vorgegeben gewesen. Der Beigeladene sei Teil eines Teams gewesen und demgemäß in den Unterrichtsbetrieb der Klägerin eingebunden gewesen.72 Der Beigeladene hat schriftsätzlich bestätigt, dass er, auch wenn er die Leistung nicht habe erbringen können, eine erfolgsunabhängige Pauschalvergütung erhalten habe. Er habe aufgrund Urlaub oder Krankheit keine finanziellen Einbußen erlitten. Er sei auch weisungsgebunden in den Betrieb der Klägerin eingebunden gewesen. Unterrichtszeiten sowie der Arbeitsort seien vorgegeben gewesen.73 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die bei der Beklagten geführte Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2020 geworden sind, sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2020 verwiesen.
Entscheidungsgründe
74 Die form- und fristgerecht (vgl. § 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (vgl. § 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig.
75 Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 8. Januar 2014 (vgl. § 95 SGG), mit dem die Beklagte entschieden hat, dass der Beigeladene seine Tätigkeit als Sozialpädagoge bei der Klägerin im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt hat und in diesem Beschäftigungsverhältnis seit dem 01. Februar 2012 Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe. Da die Tätigkeit des Beigeladenen für die Klägerin nach deren Mitteilung im Widerspruchsverfahren zum 30. August 2013 beendet worden ist, ist der Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht auf den Zeitraum vom 1. Februar 2012 - 30. August 2013 eingegrenzt.
76 Die Berufung führt jedoch für die Klägerin inhaltlich nicht zum Erfolg; das SG hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil vom 25. April 2017 zu Recht abgewiesen.
77 Der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 8. Januar 2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Tätigkeit des Beigeladenen für die Klägerin vom 1. Februar 2012 - 30. August 2013 erfolgte im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses und unterlag hiernach der Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung.
78 Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten ist formell rechtmäßig.
79 Gem. § 7a Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) können die Beteiligten schriftlich eine Entscheidung beantragen, ob eine Beschäftigung vorliegt, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger hatte im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Über den Antrag entscheidet abweichend von § 28h Abs. 2 SGB IV die Deutsche Rentenversicherung Bund (§ 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV). Der Beigeladene hat sich für das (fakultative) Anfrageverfahren bei der Beklagten (Clearing-Stelle) nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV entschieden. Ein vorrangiges Verfahren bei der Einzugs- oder der Prüfstelle war nicht eingeleitet worden (zur Verfahrenskonkurrenz vgl. BSG; Urteil vom 04. September 201, - B 12 KR 11/17 R -, in juris).
80 Gemäß § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) muss ein Verwaltungsakt hinreichend bestimmt sein. Im Hinblick auf sozialversicherungsrechtliche Statusentscheidungen muss im Einzelfall zumindest durch Auslegung vor dem Hintergrund der den Beteiligten bekannten Umstände zu erschließen sein, auf welche konkreten rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten sich die Feststellung einer abhängigen Beschäftigung beziehen soll. Notwendig ist regelmäßig die Angabe einer bestimmbaren Arbeit und die gerade hiermit in Zusammenhang stehende Entgeltlichkeit (vgl. näher BSG, Urteil vom 11. März 2009 - B 12 R 11/07 R -; Urteil vom 04. Juni 2009, - B 12 R 6/08 R -, alle in juris). Außerdem darf sich weder die im Anfrageverfahren (§ 7a SGB IV) noch die im Einzugsstellenverfahren (§ 28h SGB IV) ergehende Entscheidung auf das isolierte Feststellen des Vorliegens einer abhängigen Beschäftigung beschränken. Eine Elementenfeststellung dieser Art ist nicht zulässig (BSG, Urteil vom 11. März 2009, a.a.O.). Die Beklagte ist diesen Anforderungen im Bescheid vom 31. Juli 2013 gerecht geworden. Sie hat die vom Beigeladenen bei der Klägerin ausgeübte Tätigkeit mit Sozialpädagoge hinreichend bestimmt bezeichnet. Die Beklagte hat sich auch nicht auf die isolierte Feststellung eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses beschränkt, vielmehr auch ausdrücklich festgestellt, dass für die vom Beigeladenen ausgeübte Beschäftigung Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestanden hat.
81 Der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 (Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 2014) ist auch materiell rechtmäßig, da der Beigeladene in seiner Tätigkeit für die in der Zeit vom 01. Februar 2012 – 30. August 2013 versicherungspflichtig in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung gewesen ist.
82 Der Eintritt von Versicherungspflicht in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung wegen einer abhängigen Beschäftigung bestimmt sich nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III), § 5 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), § 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) und § 20 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI). Die für den Eintritt von Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung sowie der Kranken-, Renten- und sozialen Pflegeversicherung danach erforderliche Beschäftigung wird in § 7 Abs. 1 SGB IV näher definiert. Beschäftigung ist danach die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
83 Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erfordert das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Arbeitsleistung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit sowie das Unternehmerrisiko gekennzeichnet (vgl. BSG, Urteil vom 29. August 2012, - B 12 KR 25/10 R -, in juris). Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (zur Verfassungsmäßigkeit der Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Mai 1996 - 1 BvR 21/96 -, in juris). Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung (vgl. BSG, Urteil vom 19. September 2019 - B 12 R 25/18 R -, sowie vom 07. Juni 2019 - B 12 R 6/18 R -, jeweils m.w.N., beide in juris). Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine - formlose - Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von Vereinbarungen abweichen. Die Zuordnung des konkreten Lebenssachverhalts zum rechtlichen Typus der (abhängigen) Beschäftigung als nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV), nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung erfordert nach der Rechtsprechung des BSG eine Gewichtung und Abwägung aller als Indizien für und gegen eine Beschäftigung bzw. selbstständige Tätigkeit sprechenden Merkmale der Tätigkeit im Einzelfall. Bei Vorliegen gegenläufiger, d. h. für die Bejahung und die Verneinung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals sprechender tatsächlicher Umstände oder Indizien hat das Gericht (ebenso die Behörde) insoweit eine wertende Zuordnung aller Umstände im Sinne einer Gesamtabwägung vorzunehmen. Diese Abwägung darf allerdings nicht (rein) schematisch oder schablonenhaft erfolgen, etwa in der Weise, dass beliebige Indizien jeweils zahlenmäßig einander gegenübergestellt werden, sondern es ist in Rechnung zu stellen, dass manchen Umständen wertungsmäßig größeres Gewicht zukommen kann als anderen, als weniger bedeutsam einzuschätzenden Indizien. Eine rechtmäßige Gesamtabwägung setzt deshalb - der Struktur und Methodik jeder Abwägungsentscheidung (innerhalb und außerhalb des Rechts) entsprechend - voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls wesentlichen Indizien festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und in dieser Gesamtschau nachvollziehbar, d. h. den Gesetzen der Logik entsprechend und widerspruchsfrei, gegeneinander abgewogen werden (BSG, Urteil vom 24. Mai 2012, - B 12 KR 14/10 R - und - B 12 KR 24/10 R -, beide in juris).
84 In Anlegung dieser Maßstäbe gelangt der Senat zur Überzeugung, dass die Tätigkeit des Beigeladenen bei der Klägerin im Zeitraum vom 01. Februar 2012 – 30. August 2013 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt worden ist.
85 Die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit erfolgt nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder. Es ist daher möglich, dass ein und derselbe Beruf - je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen in ihrer gelebten Praxis - entweder in Form der Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird. Ob bzw. dass das Landessozialgericht Bayern daher, wie klägerseits in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2020 mitgeteilt, einen „gleichen“ Fall dahingehend entschieden hat, dass eine selbstständige Tätigkeit angenommen worden ist (Urteil vom 02. Juli 2020 - L 14 R 5092/17 -), ist vorliegend nicht von einer rechtlich relevanten Bedeutung. Maßgebend sind vielmehr die konkreten Umstände des individuellen Sachverhalts (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R -, Urteil vom 25.5.2011 - B 12 R 13/09 R – beide in juris). Die vom Beigeladenen ausgeübte Tätigkeit als Lehrbeauftragter bzw. Bildungsbegleiter kann daher, wie andere Dienstleistungen aus dem Bereich der persönlich geprägten lehrenden Tätigkeiten, grds. sowohl in der Form einer abhängigen Beschäftigung als auch einer selbstständigen Tätigkeit erbracht werden (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB VI; hierzu auch; BSG, Urteil vom 14. März 2018 - B 12 R 3/17 R -, in juris, dort Rn. 13; Segebrecht in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 7 Abs. 1 SGB IV, Rn. 150 ff. mit Nachweisen aus der Rspr.).
86 Auszugehen ist bei der konkreten Abwägung zunächst von den zwischen den Beteiligten getroffenen vertraglichen Abreden. Die zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen geschlossenen Verträge vom 13. Februar 2012 und vom 14. November 2012 sprechen dafür, dass die Beteiligten eine selbstständige Tätigkeit vereinbaren wollten, wie insb. daraus deutlich wird, dass jeweils in § 4 Abs. 1 der Verträge niedergelegt worden ist, dass der Auftragnehmer, d.h. der Beigeladene, grundsätzlich an keine Weisungen gebunden, er insb. in der methodischen und didaktischen Gestaltung frei ist. Der Wille der Beteiligten kann aber weder die Beklagte noch die Gerichte für die nach Maßgabe des § 7 Abs. 1 SGB IV vorzunehmende statusrechtliche Beurteilung binden. Der Wille der Beteiligten stellt lediglich ein Indiz für das Vorliegen einer selbstständigen Erwerbstätigkeit dar, wenn dieser Wille den festgestellten sonstigen tatsächlichen Verhältnissen nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird bzw. die übrigen Umstände gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine Beschäftigung sprechen. Nur unter diesen Voraussetzungen ist der in einem Vertrag dokumentierte Parteiwille überhaupt als ein auf Selbstständigkeit deutendes Indiz in die Gesamtabwägung einzustellen; hierdurch wird eine Selbstständigkeit jedoch nicht vorfestgelegt (vgl. BSG, Urteil vom 18. November 2015 - B 12 KR 16/13 R -, in juris, dort Rn. 26).
87 Der Beigeladene hat tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht, die der Klägerin zu Gute gekommen sind. Weisungsgebunden arbeitet hierbei, wer - im Umkehrschluss zu § 84 Abs. 1 Satz 2 Handelsgesetzbuch - nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Senat verkennt nicht, dass der Beigeladene bei seiner Tätigkeit in fachlicher Hinsicht keinen Weisungen i.d.S. unterlegen ist, er vielmehr in der didaktischen Umsetzung der Lehrinhalte frei gewesen ist. Diese insofern bestehende Eigenverantwortlichkeit ist gerade kennzeichnend für lehrende Tätigkeiten und typischer Ausfluss der dem Lehrenden obliegenden Verantwortung, die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Teilnehmer zu erkennen und die Schulung auf deren individuellen Stand hin anzupassen. Indes stehen Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Betrieb jedoch weder in einem Rangverhältnis zueinander, noch müssen sie stets kumulativ vorliegen. Die in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV genannten Merkmale sind schon nach dem Wortlaut der Vorschrift nur "Anhaltspunkte" für eine persönliche Abhängigkeit, also im Regelfall typische Merkmale einer Beschäftigung und keine abschließenden Bewertungskriterien (BSG, Urteil vom 4. Juni 2019, - B 12 R 11/18 R - in juris Rn. 29 unter Hinweis auf BT-Drucks 14/1855 S. 6). Obschon das Weisungsrecht insb. bei Diensten höherer Art aufs Stärkste eingeschränkt sein kann, kann die Dienstleistung trotz dessen fremdbestimmt sein, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhält, in deren Dienst die Arbeit verrichtet wird (BSG, Urteil vom 19.06.2001, - B 12 KR 44/00 R -, in juris). I.d.S. ist das Weisungsrecht bei Diensten höherer Art zur „dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert (dazu BSG, Urteil vom 18. Dezember 2001, - B 12 KR 10/01 R -, in juris). Hierbei handelt es sich nicht um eine bloße Leerformel, wie klägerseits angeführt, durch sie wird vielmehr die klassische Weisungsgebundenheit konkretisiert. Da die von der Klägerin angebotenen Schulungen und Fortbildungen komplett von dieser, der Klägerin, organisiert worden sind, die Klägerin auch die Ziele der Schulungsveranstaltungen festgelegt hat und - nach den Zuweisungen ihrer Vertragspartner - auch bestimmte, wer an den Veranstaltungen teilnahm, die Dozenten hierbei keinerlei Einfluss hatten, war die lehrende Tätigkeit des Beigeladenen in die betriebliche Organisation der Klägerin eingebettet (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 24. März 2016 - B 12 KR 20/14 R -, in juris); sie erfolgte fremdbestimmt. Der Eingliederung des Beigeladenen in die betriebliche Organisation der Klägerin steht nicht, wie klägerseits geltend gemacht, entgegen, dass der Lehrgangsort C. kein Betrieb der Klägerin ist. Die Eingliederung beschränkt sich in räumlicher Hinsicht nicht auf die jeweilige Betriebsstätte, sondern umfasst die gesamte infrastrukturelle Organisationseinheit des Arbeitgebers. An diese war der Beigeladene bereits deswegen angebunden, als dort, vorliegend an den Standorten R. und S., die Tätigkeit des Beigeladenen koordiniert worden ist.
88 Obschon vorliegend der Beginn, das Ende und der Umfang der vom Beigeladenen zu leistenden Unterrichtseinheiten jeweils festgelegt gewesen ist, insoweit jedenfalls in einem Gesamtkontext der zeitliche Rahmen der Erbringung der vertraglich geschuldeten Leistung bestimmt gewesen ist, vermag der Senat vorliegend keine (weitergehende) Weisungsgebundenheit des Beigeladenen anzunehmen. Der Kernbereich der Tätigkeit des Beigeladenen, die Kenntnis- und Wissensvermittlung an die Teilnehmer, unterlag im Hinblick auf die Didaktik keinen Weisungen. Die diesbezüglich vertraglich geregelte Weisungsfreiheit ist nach den Bekundungen des Beigeladenen gegenüber der Beklagten im Rahmen der Antragstellung auch tatsächlich so gelebt worden, weswegen keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die didaktische Autonomie des Beigeladenen eingeschränkt gewesen ist. Auch kann die Tätigkeit eines Dozenten nicht bereits deshalb als abhängige Beschäftigung angesehen werden, weil der Bildungsträger den äußeren Ablauf der Lehrtätigkeit bestimmt, denn der Lehrbetrieb kann nur dann sinnvoll vonstattengehen, wenn die vielfältigen Lehrveranstaltungen in einem Gesamtplan räumlich und zeitlich aufeinander abgestimmt werden. Vielmehr sind lehrende Tätigkeiten auch dann weisungsfrei, wenn dem Lehrenden zwar die Ziele seiner Tätigkeit vorgegeben sind, jedoch die Art und Weise, wie er diese erreicht, seiner eigenen Entscheidung überlassen bleibt (BSG, Urteil vom 12. Februar 2004 - B 12 KR 26/02 R -, in juris, dort Rn. 29), weswegen im Rahmen der Gesamtabwägung eine Weisungsgebundenheit nicht maßgeblich für eine abhängige Beschäftigung herangezogen werden kann. Indes ist, wie oben ausgeführt, bei der Gesamtabwägung einzustellen, dass der Beigeladene in die betriebliche Organisation der Klägerin eingebunden gewesen ist.
89 Wie oben ausgeführt ist eine selbstständige Tätigkeit jedoch vornehmlich dadurch geprägt, dass ein unternehmerisches Risiko getragen wird. Dieses stellt, auch für den Senat, ein besonders gewichtiges Entscheidungskriterium dar (vgl. dazu LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 02. September 2011 - L 4 R 1036/10 -, vom 30. März 2012 - L 4 R 2043/10 - und - L 4 KR 3725/11 - sowie vom 19.04.2013 - L 4 KR 2078/11 -; alle in juris). Maßgebendes Kriterium für das Vorliegen eines Unternehmerrisikos ist, ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der sächlichen oder persönlichen Mittel mithin ungewiss ist und diesem Risiko auch größere Freiheiten in der Gestaltung und der Bestimmung des Umfangs beim Einsatz der eigenen Arbeitskraft gegenüberstehen (BSG, Urteil vom 25. April 2012, - B 12 KR 24/10 R -, in juris). Abhängig Beschäftigte tragen demgegenüber das Arbeitsplatzrisiko, das in der Gefahr besteht, bei wirtschaftlichem Misserfolg des Unternehmens die Arbeitsstelle einzubüßen bzw. keine Entlohnung zu erhalten. Der Beigeladene hat kein eigenes Kapital eingesetzt. Auch erfolgte der Einsatz seiner Arbeitskraft nicht unter der Gefahr eines Verlustes. Der Beigeladene erhielt ausweislich der vertraglichen Grundlage seiner Tätigkeit, der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Rechnungen und seines Vortrages im erstinstanzlichen Verfahren ein pauschales Honorar von 3.500,- EUR (brutto) monatlich. Die Vergütung enthielt mithin keine Bestandteile, die auf eine (gegebenenfalls geringe) Gewinn- bzw. Umsatzbeteiligung schließen ließen. Der Beigeladene erhielt die Vergütung auch unabhängig davon, wie viele Personen letztendlich tatsächlich an den Schulungsveranstaltungen teilgenommen haben und welche Qualität die von ihm angebotenen Schulungsinhalte hatten. Der Beigeladene verfügte im Hinblick auf seine Tätigkeit für die Klägerin auch nicht über eine eigene Betriebsstätte. Er nutzte vielmehr die bei der Klägerin bestehende Infrastruktur, ohne dass er sich an den (Vorhalte-)Kosten finanziell zu beteiligen hatte. Er nutzte für die von ihm gehaltenen Kurse im Übrigen auch die von der Klägerin zur Verfügung gestellten Arbeitsmittel. Auch bestand für ihn keine Möglichkeit, die mit der Klägerin vereinbarten Einkünfte aufgrund der mit der Klägerin vereinbarten Schulungen durch unternehmerisches Geschick zu steigern. Da schließlich aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft ggf. nicht verwerten zu können, kein Unternehmerrisiko wegen der einzelnen Einsätze folgt (BSG, Urteil vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, a.a.O.), hat der Beigeladene bei seiner Tätigkeit für die Klägerin kein unternehmerisches Risiko getragen. Soweit klägerseits hiergegen unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 31. März 2017 (- B 12 R 7/15 R -, in juris) eingewandt wird, das bei reinen Dienstleistungen, worunter auch die Dozententätigkeit rechne, ein unternehmerisches Tätigwerden nicht mit größeren Investitionen verbunden sei, bedingt dies keine abweichende Beurteilung, da das BSG in dieser Entscheidung hierzu ausgeführt hat, dass das Fehlen (solcher) Investitionen bei reinen Dienstleistungen kein ins Gewicht fallendes Indiz für eine (abhängige) Beschäftigung sei. Es hat hingegen, anders als klägerseits wohl gemeint, nicht entschieden, dass das Vorliegen eines unternehmerischen Risikos im oben beschriebenen Sinn der Ungewissheit des Erfolgs beim Einsatz der sächlichen oder persönlichen Mittel, für den Bereich der Dienstleistungen nicht als Entscheidungskriterium heranzuziehen ist.
90 Auch die Höhe des vereinbarten Entgelts spricht vorliegend nicht für eine selbstständige Tätigkeit. Zwar kann nach der Rspr. des BSG die Höhe des Entgelts ein wichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit sei, soweit es die üblicherweise für die ausgeübte Tätigkeit gewährte Vergütung überschreitet und hierdurch eine ausreichende Eigenvorsorge ermöglicht wird (Urteil vom 31. März 2017 - B 12 R 7/15 R -, in juris; dort zwischen 40,- und 41,50 EUR pro Stunde). Da sich das Entgelt des Beigeladenen pauschal auf 3.500,- EUR belaufen hat, sich hieraus bei 40 wöchentlichen Arbeitsstunden (vgl. § 1 Abs. 3 des Vertrages vom 14. November 2012) ein Stundenlohn von „nur“ 20,19 EUR errechnet (3.500,- x 3 / 13 = Entgelt pro Woche [807,69 EUR] ./. 40 = 20,19 EUR), dieses Entgelt jedoch eine ausreichende Eigenvorsorge nicht ermöglicht, ist die Höhe des dem Beigeladenen gewährten Entgelts, ungeachtet dessen, dass es das Entgelt festangestellter Dozenten überstiegen hat, nicht als maßgebliches Indiz für eine selbstständige Tätigkeit bei der Gesamtabwägung einzustellen.
91 Für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist vorliegend in die Gesamtabwägung auch einzustellen, dass der Beigeladene am Markt bzw. gegenüber den Schulungsteilnehmern nicht als selbstständiger Unternehmer, sondern als Dozent der Klägerin aufgetreten ist. Ferner spricht auch die Vorenthaltung bzw. Nichtinanspruchnahme von gesetzlichen Rechten - bezahlter Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - nicht für eine selbstständige Tätigkeit, da sich die Rechtsfolgen einer Beschäftigung aus dem Gesetz ergeben und nicht abdingbar sind. Unerheblich für das Gesamtbild der vom Beigeladenen für die Klägerin verrichteten Tätigkeit ist auch, dass er sein Arbeitsentgelt durch Rechnungen geltend gemacht hat. Dies stellt eine formale Äußerlichkeit der Entgeltzahlung dar und ist für die materielle Einstufung des Entgelts als Arbeitsentgelt oder Unternehmervergütung nicht ausschlaggebend.
92 Der Umstand, dass der Beigeladene nach § 4 Abs. 5 der Verträge die zu erbringenden Leistungen selbst, d.h. persönlich, zu erbringen hatte, ist vorliegend nicht als gewichtiges Indiz für abhängige Beschäftigung und gegen eine Selbstständigkeit anzusehen, da dies, die persönliche Leistungserbringung, den Eigenheiten und besonderen Erfordernissen der lehrenden Tätigkeit entspricht.
93 Auch das Fehlen eines Wettbewerbsverbotes – der Beigeladenen zu 1) war nach § 6 der Verträge vom 13. Februar 2012 und vom 14. November 2012 berechtigt, andere Tätigkeiten für Dritte aufzunehmen, soweit er bei einer Tätigkeit für Dritte, die im Wettbewerb mit der Klägerin stehen, keine Materialien der Klägerin verwendet - ist kein maßgebliches Indiz für eine selbstständige Tätigkeit (vgl. BSG, Urteil vom 31. März 2017, a.a.O., Rn. 49).
94 Unter Berücksichtigung dieser Aspekte gelangt der Senat bei der anzustellenden Gesamtwürdigung zu der Überzeugung, dass die Tätigkeitsmerkmale, die für eine abhängige Beschäftigung sprechen, die, die für eine selbstständige Tätigkeit einzustellen sind, überwiegen. Obschon vorliegend nicht von einer Weisungsgebundenheit des Beigeladenen ausgegangen werden kann, hat die fehlende Weisungsunterworfenheit des Beigeladenen insb. nicht dazu geführt, dass dieser selbst und ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation bei der Klägerin seine Tätigkeit und deren Umfeld hat bestimmen können, weswegen dem nicht vorhandenen unternehmerischen Risiko ein besonderes Gewicht beizumessen ist, das der Tätigkeit des Beigeladenen sein maßgebliches Gepräge vermittelt.
95 Mithin ist der Senat davon überzeugt, dass die Tätigkeit des Beigeladenen bei der Klägerin im Zeitraum vom 01. Februar 2012 – 30. August 2013 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt worden ist und der Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung (wegen abhängiger Beschäftigung) sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag.
96 Der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 8. Januar 2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
97 Die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG vom 25. April 2017 ist zurückzuweisen.
98 Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung. Der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen des Berufungsverfahrens aufzuerlegen entspricht nicht der Billigkeit, da dieser im Berufungsverfahren Sachanträge nicht gestellt und damit ein Prozessrisiko nicht übernommen haben.
99 Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
100 Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
Gründe
74 Die form- und fristgerecht (vgl. § 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (vgl. § 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig.
75 Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 8. Januar 2014 (vgl. § 95 SGG), mit dem die Beklagte entschieden hat, dass der Beigeladene seine Tätigkeit als Sozialpädagoge bei der Klägerin im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt hat und in diesem Beschäftigungsverhältnis seit dem 01. Februar 2012 Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe. Da die Tätigkeit des Beigeladenen für die Klägerin nach deren Mitteilung im Widerspruchsverfahren zum 30. August 2013 beendet worden ist, ist der Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht auf den Zeitraum vom 1. Februar 2012 - 30. August 2013 eingegrenzt.
76 Die Berufung führt jedoch für die Klägerin inhaltlich nicht zum Erfolg; das SG hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil vom 25. April 2017 zu Recht abgewiesen.
77 Der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 8. Januar 2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Tätigkeit des Beigeladenen für die Klägerin vom 1. Februar 2012 - 30. August 2013 erfolgte im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses und unterlag hiernach der Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung.
78 Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten ist formell rechtmäßig.
79 Gem. § 7a Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) können die Beteiligten schriftlich eine Entscheidung beantragen, ob eine Beschäftigung vorliegt, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger hatte im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Über den Antrag entscheidet abweichend von § 28h Abs. 2 SGB IV die Deutsche Rentenversicherung Bund (§ 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV). Der Beigeladene hat sich für das (fakultative) Anfrageverfahren bei der Beklagten (Clearing-Stelle) nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV entschieden. Ein vorrangiges Verfahren bei der Einzugs- oder der Prüfstelle war nicht eingeleitet worden (zur Verfahrenskonkurrenz vgl. BSG; Urteil vom 04. September 201, - B 12 KR 11/17 R -, in juris).
80 Gemäß § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) muss ein Verwaltungsakt hinreichend bestimmt sein. Im Hinblick auf sozialversicherungsrechtliche Statusentscheidungen muss im Einzelfall zumindest durch Auslegung vor dem Hintergrund der den Beteiligten bekannten Umstände zu erschließen sein, auf welche konkreten rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten sich die Feststellung einer abhängigen Beschäftigung beziehen soll. Notwendig ist regelmäßig die Angabe einer bestimmbaren Arbeit und die gerade hiermit in Zusammenhang stehende Entgeltlichkeit (vgl. näher BSG, Urteil vom 11. März 2009 - B 12 R 11/07 R -; Urteil vom 04. Juni 2009, - B 12 R 6/08 R -, alle in juris). Außerdem darf sich weder die im Anfrageverfahren (§ 7a SGB IV) noch die im Einzugsstellenverfahren (§ 28h SGB IV) ergehende Entscheidung auf das isolierte Feststellen des Vorliegens einer abhängigen Beschäftigung beschränken. Eine Elementenfeststellung dieser Art ist nicht zulässig (BSG, Urteil vom 11. März 2009, a.a.O.). Die Beklagte ist diesen Anforderungen im Bescheid vom 31. Juli 2013 gerecht geworden. Sie hat die vom Beigeladenen bei der Klägerin ausgeübte Tätigkeit mit Sozialpädagoge hinreichend bestimmt bezeichnet. Die Beklagte hat sich auch nicht auf die isolierte Feststellung eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses beschränkt, vielmehr auch ausdrücklich festgestellt, dass für die vom Beigeladenen ausgeübte Beschäftigung Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestanden hat.
81 Der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 (Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 2014) ist auch materiell rechtmäßig, da der Beigeladene in seiner Tätigkeit für die in der Zeit vom 01. Februar 2012 – 30. August 2013 versicherungspflichtig in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung gewesen ist.
82 Der Eintritt von Versicherungspflicht in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung wegen einer abhängigen Beschäftigung bestimmt sich nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III), § 5 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), § 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) und § 20 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI). Die für den Eintritt von Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung sowie der Kranken-, Renten- und sozialen Pflegeversicherung danach erforderliche Beschäftigung wird in § 7 Abs. 1 SGB IV näher definiert. Beschäftigung ist danach die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
83 Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erfordert das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Arbeitsleistung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit sowie das Unternehmerrisiko gekennzeichnet (vgl. BSG, Urteil vom 29. August 2012, - B 12 KR 25/10 R -, in juris). Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (zur Verfassungsmäßigkeit der Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Mai 1996 - 1 BvR 21/96 -, in juris). Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung (vgl. BSG, Urteil vom 19. September 2019 - B 12 R 25/18 R -, sowie vom 07. Juni 2019 - B 12 R 6/18 R -, jeweils m.w.N., beide in juris). Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine - formlose - Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von Vereinbarungen abweichen. Die Zuordnung des konkreten Lebenssachverhalts zum rechtlichen Typus der (abhängigen) Beschäftigung als nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV), nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung erfordert nach der Rechtsprechung des BSG eine Gewichtung und Abwägung aller als Indizien für und gegen eine Beschäftigung bzw. selbstständige Tätigkeit sprechenden Merkmale der Tätigkeit im Einzelfall. Bei Vorliegen gegenläufiger, d. h. für die Bejahung und die Verneinung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals sprechender tatsächlicher Umstände oder Indizien hat das Gericht (ebenso die Behörde) insoweit eine wertende Zuordnung aller Umstände im Sinne einer Gesamtabwägung vorzunehmen. Diese Abwägung darf allerdings nicht (rein) schematisch oder schablonenhaft erfolgen, etwa in der Weise, dass beliebige Indizien jeweils zahlenmäßig einander gegenübergestellt werden, sondern es ist in Rechnung zu stellen, dass manchen Umständen wertungsmäßig größeres Gewicht zukommen kann als anderen, als weniger bedeutsam einzuschätzenden Indizien. Eine rechtmäßige Gesamtabwägung setzt deshalb - der Struktur und Methodik jeder Abwägungsentscheidung (innerhalb und außerhalb des Rechts) entsprechend - voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls wesentlichen Indizien festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und in dieser Gesamtschau nachvollziehbar, d. h. den Gesetzen der Logik entsprechend und widerspruchsfrei, gegeneinander abgewogen werden (BSG, Urteil vom 24. Mai 2012, - B 12 KR 14/10 R - und - B 12 KR 24/10 R -, beide in juris).
84 In Anlegung dieser Maßstäbe gelangt der Senat zur Überzeugung, dass die Tätigkeit des Beigeladenen bei der Klägerin im Zeitraum vom 01. Februar 2012 – 30. August 2013 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt worden ist.
85 Die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit erfolgt nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder. Es ist daher möglich, dass ein und derselbe Beruf - je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen in ihrer gelebten Praxis - entweder in Form der Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird. Ob bzw. dass das Landessozialgericht Bayern daher, wie klägerseits in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2020 mitgeteilt, einen „gleichen“ Fall dahingehend entschieden hat, dass eine selbstständige Tätigkeit angenommen worden ist (Urteil vom 02. Juli 2020 - L 14 R 5092/17 -), ist vorliegend nicht von einer rechtlich relevanten Bedeutung. Maßgebend sind vielmehr die konkreten Umstände des individuellen Sachverhalts (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2015 - B 12 KR 16/13 R -, Urteil vom 25.5.2011 - B 12 R 13/09 R – beide in juris). Die vom Beigeladenen ausgeübte Tätigkeit als Lehrbeauftragter bzw. Bildungsbegleiter kann daher, wie andere Dienstleistungen aus dem Bereich der persönlich geprägten lehrenden Tätigkeiten, grds. sowohl in der Form einer abhängigen Beschäftigung als auch einer selbstständigen Tätigkeit erbracht werden (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB VI; hierzu auch; BSG, Urteil vom 14. März 2018 - B 12 R 3/17 R -, in juris, dort Rn. 13; Segebrecht in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 7 Abs. 1 SGB IV, Rn. 150 ff. mit Nachweisen aus der Rspr.).
86 Auszugehen ist bei der konkreten Abwägung zunächst von den zwischen den Beteiligten getroffenen vertraglichen Abreden. Die zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen geschlossenen Verträge vom 13. Februar 2012 und vom 14. November 2012 sprechen dafür, dass die Beteiligten eine selbstständige Tätigkeit vereinbaren wollten, wie insb. daraus deutlich wird, dass jeweils in § 4 Abs. 1 der Verträge niedergelegt worden ist, dass der Auftragnehmer, d.h. der Beigeladene, grundsätzlich an keine Weisungen gebunden, er insb. in der methodischen und didaktischen Gestaltung frei ist. Der Wille der Beteiligten kann aber weder die Beklagte noch die Gerichte für die nach Maßgabe des § 7 Abs. 1 SGB IV vorzunehmende statusrechtliche Beurteilung binden. Der Wille der Beteiligten stellt lediglich ein Indiz für das Vorliegen einer selbstständigen Erwerbstätigkeit dar, wenn dieser Wille den festgestellten sonstigen tatsächlichen Verhältnissen nicht offensichtlich widerspricht und er durch weitere Aspekte gestützt wird bzw. die übrigen Umstände gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine Beschäftigung sprechen. Nur unter diesen Voraussetzungen ist der in einem Vertrag dokumentierte Parteiwille überhaupt als ein auf Selbstständigkeit deutendes Indiz in die Gesamtabwägung einzustellen; hierdurch wird eine Selbstständigkeit jedoch nicht vorfestgelegt (vgl. BSG, Urteil vom 18. November 2015 - B 12 KR 16/13 R -, in juris, dort Rn. 26).
87 Der Beigeladene hat tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht, die der Klägerin zu Gute gekommen sind. Weisungsgebunden arbeitet hierbei, wer - im Umkehrschluss zu § 84 Abs. 1 Satz 2 Handelsgesetzbuch - nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Senat verkennt nicht, dass der Beigeladene bei seiner Tätigkeit in fachlicher Hinsicht keinen Weisungen i.d.S. unterlegen ist, er vielmehr in der didaktischen Umsetzung der Lehrinhalte frei gewesen ist. Diese insofern bestehende Eigenverantwortlichkeit ist gerade kennzeichnend für lehrende Tätigkeiten und typischer Ausfluss der dem Lehrenden obliegenden Verantwortung, die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Teilnehmer zu erkennen und die Schulung auf deren individuellen Stand hin anzupassen. Indes stehen Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Betrieb jedoch weder in einem Rangverhältnis zueinander, noch müssen sie stets kumulativ vorliegen. Die in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV genannten Merkmale sind schon nach dem Wortlaut der Vorschrift nur "Anhaltspunkte" für eine persönliche Abhängigkeit, also im Regelfall typische Merkmale einer Beschäftigung und keine abschließenden Bewertungskriterien (BSG, Urteil vom 4. Juni 2019, - B 12 R 11/18 R - in juris Rn. 29 unter Hinweis auf BT-Drucks 14/1855 S. 6). Obschon das Weisungsrecht insb. bei Diensten höherer Art aufs Stärkste eingeschränkt sein kann, kann die Dienstleistung trotz dessen fremdbestimmt sein, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhält, in deren Dienst die Arbeit verrichtet wird (BSG, Urteil vom 19.06.2001, - B 12 KR 44/00 R -, in juris). I.d.S. ist das Weisungsrecht bei Diensten höherer Art zur „dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert (dazu BSG, Urteil vom 18. Dezember 2001, - B 12 KR 10/01 R -, in juris). Hierbei handelt es sich nicht um eine bloße Leerformel, wie klägerseits angeführt, durch sie wird vielmehr die klassische Weisungsgebundenheit konkretisiert. Da die von der Klägerin angebotenen Schulungen und Fortbildungen komplett von dieser, der Klägerin, organisiert worden sind, die Klägerin auch die Ziele der Schulungsveranstaltungen festgelegt hat und - nach den Zuweisungen ihrer Vertragspartner - auch bestimmte, wer an den Veranstaltungen teilnahm, die Dozenten hierbei keinerlei Einfluss hatten, war die lehrende Tätigkeit des Beigeladenen in die betriebliche Organisation der Klägerin eingebettet (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 24. März 2016 - B 12 KR 20/14 R -, in juris); sie erfolgte fremdbestimmt. Der Eingliederung des Beigeladenen in die betriebliche Organisation der Klägerin steht nicht, wie klägerseits geltend gemacht, entgegen, dass der Lehrgangsort C. kein Betrieb der Klägerin ist. Die Eingliederung beschränkt sich in räumlicher Hinsicht nicht auf die jeweilige Betriebsstätte, sondern umfasst die gesamte infrastrukturelle Organisationseinheit des Arbeitgebers. An diese war der Beigeladene bereits deswegen angebunden, als dort, vorliegend an den Standorten R. und S., die Tätigkeit des Beigeladenen koordiniert worden ist.
88 Obschon vorliegend der Beginn, das Ende und der Umfang der vom Beigeladenen zu leistenden Unterrichtseinheiten jeweils festgelegt gewesen ist, insoweit jedenfalls in einem Gesamtkontext der zeitliche Rahmen der Erbringung der vertraglich geschuldeten Leistung bestimmt gewesen ist, vermag der Senat vorliegend keine (weitergehende) Weisungsgebundenheit des Beigeladenen anzunehmen. Der Kernbereich der Tätigkeit des Beigeladenen, die Kenntnis- und Wissensvermittlung an die Teilnehmer, unterlag im Hinblick auf die Didaktik keinen Weisungen. Die diesbezüglich vertraglich geregelte Weisungsfreiheit ist nach den Bekundungen des Beigeladenen gegenüber der Beklagten im Rahmen der Antragstellung auch tatsächlich so gelebt worden, weswegen keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die didaktische Autonomie des Beigeladenen eingeschränkt gewesen ist. Auch kann die Tätigkeit eines Dozenten nicht bereits deshalb als abhängige Beschäftigung angesehen werden, weil der Bildungsträger den äußeren Ablauf der Lehrtätigkeit bestimmt, denn der Lehrbetrieb kann nur dann sinnvoll vonstattengehen, wenn die vielfältigen Lehrveranstaltungen in einem Gesamtplan räumlich und zeitlich aufeinander abgestimmt werden. Vielmehr sind lehrende Tätigkeiten auch dann weisungsfrei, wenn dem Lehrenden zwar die Ziele seiner Tätigkeit vorgegeben sind, jedoch die Art und Weise, wie er diese erreicht, seiner eigenen Entscheidung überlassen bleibt (BSG, Urteil vom 12. Februar 2004 - B 12 KR 26/02 R -, in juris, dort Rn. 29), weswegen im Rahmen der Gesamtabwägung eine Weisungsgebundenheit nicht maßgeblich für eine abhängige Beschäftigung herangezogen werden kann. Indes ist, wie oben ausgeführt, bei der Gesamtabwägung einzustellen, dass der Beigeladene in die betriebliche Organisation der Klägerin eingebunden gewesen ist.
89 Wie oben ausgeführt ist eine selbstständige Tätigkeit jedoch vornehmlich dadurch geprägt, dass ein unternehmerisches Risiko getragen wird. Dieses stellt, auch für den Senat, ein besonders gewichtiges Entscheidungskriterium dar (vgl. dazu LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 02. September 2011 - L 4 R 1036/10 -, vom 30. März 2012 - L 4 R 2043/10 - und - L 4 KR 3725/11 - sowie vom 19.04.2013 - L 4 KR 2078/11 -; alle in juris). Maßgebendes Kriterium für das Vorliegen eines Unternehmerrisikos ist, ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der sächlichen oder persönlichen Mittel mithin ungewiss ist und diesem Risiko auch größere Freiheiten in der Gestaltung und der Bestimmung des Umfangs beim Einsatz der eigenen Arbeitskraft gegenüberstehen (BSG, Urteil vom 25. April 2012, - B 12 KR 24/10 R -, in juris). Abhängig Beschäftigte tragen demgegenüber das Arbeitsplatzrisiko, das in der Gefahr besteht, bei wirtschaftlichem Misserfolg des Unternehmens die Arbeitsstelle einzubüßen bzw. keine Entlohnung zu erhalten. Der Beigeladene hat kein eigenes Kapital eingesetzt. Auch erfolgte der Einsatz seiner Arbeitskraft nicht unter der Gefahr eines Verlustes. Der Beigeladene erhielt ausweislich der vertraglichen Grundlage seiner Tätigkeit, der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Rechnungen und seines Vortrages im erstinstanzlichen Verfahren ein pauschales Honorar von 3.500,- EUR (brutto) monatlich. Die Vergütung enthielt mithin keine Bestandteile, die auf eine (gegebenenfalls geringe) Gewinn- bzw. Umsatzbeteiligung schließen ließen. Der Beigeladene erhielt die Vergütung auch unabhängig davon, wie viele Personen letztendlich tatsächlich an den Schulungsveranstaltungen teilgenommen haben und welche Qualität die von ihm angebotenen Schulungsinhalte hatten. Der Beigeladene verfügte im Hinblick auf seine Tätigkeit für die Klägerin auch nicht über eine eigene Betriebsstätte. Er nutzte vielmehr die bei der Klägerin bestehende Infrastruktur, ohne dass er sich an den (Vorhalte-)Kosten finanziell zu beteiligen hatte. Er nutzte für die von ihm gehaltenen Kurse im Übrigen auch die von der Klägerin zur Verfügung gestellten Arbeitsmittel. Auch bestand für ihn keine Möglichkeit, die mit der Klägerin vereinbarten Einkünfte aufgrund der mit der Klägerin vereinbarten Schulungen durch unternehmerisches Geschick zu steigern. Da schließlich aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft ggf. nicht verwerten zu können, kein Unternehmerrisiko wegen der einzelnen Einsätze folgt (BSG, Urteil vom 28.09.2011 - B 12 R 17/09 R -, a.a.O.), hat der Beigeladene bei seiner Tätigkeit für die Klägerin kein unternehmerisches Risiko getragen. Soweit klägerseits hiergegen unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 31. März 2017 (- B 12 R 7/15 R -, in juris) eingewandt wird, das bei reinen Dienstleistungen, worunter auch die Dozententätigkeit rechne, ein unternehmerisches Tätigwerden nicht mit größeren Investitionen verbunden sei, bedingt dies keine abweichende Beurteilung, da das BSG in dieser Entscheidung hierzu ausgeführt hat, dass das Fehlen (solcher) Investitionen bei reinen Dienstleistungen kein ins Gewicht fallendes Indiz für eine (abhängige) Beschäftigung sei. Es hat hingegen, anders als klägerseits wohl gemeint, nicht entschieden, dass das Vorliegen eines unternehmerischen Risikos im oben beschriebenen Sinn der Ungewissheit des Erfolgs beim Einsatz der sächlichen oder persönlichen Mittel, für den Bereich der Dienstleistungen nicht als Entscheidungskriterium heranzuziehen ist.
90 Auch die Höhe des vereinbarten Entgelts spricht vorliegend nicht für eine selbstständige Tätigkeit. Zwar kann nach der Rspr. des BSG die Höhe des Entgelts ein wichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit sei, soweit es die üblicherweise für die ausgeübte Tätigkeit gewährte Vergütung überschreitet und hierdurch eine ausreichende Eigenvorsorge ermöglicht wird (Urteil vom 31. März 2017 - B 12 R 7/15 R -, in juris; dort zwischen 40,- und 41,50 EUR pro Stunde). Da sich das Entgelt des Beigeladenen pauschal auf 3.500,- EUR belaufen hat, sich hieraus bei 40 wöchentlichen Arbeitsstunden (vgl. § 1 Abs. 3 des Vertrages vom 14. November 2012) ein Stundenlohn von „nur“ 20,19 EUR errechnet (3.500,- x 3 / 13 = Entgelt pro Woche [807,69 EUR] ./. 40 = 20,19 EUR), dieses Entgelt jedoch eine ausreichende Eigenvorsorge nicht ermöglicht, ist die Höhe des dem Beigeladenen gewährten Entgelts, ungeachtet dessen, dass es das Entgelt festangestellter Dozenten überstiegen hat, nicht als maßgebliches Indiz für eine selbstständige Tätigkeit bei der Gesamtabwägung einzustellen.
91 Für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist vorliegend in die Gesamtabwägung auch einzustellen, dass der Beigeladene am Markt bzw. gegenüber den Schulungsteilnehmern nicht als selbstständiger Unternehmer, sondern als Dozent der Klägerin aufgetreten ist. Ferner spricht auch die Vorenthaltung bzw. Nichtinanspruchnahme von gesetzlichen Rechten - bezahlter Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - nicht für eine selbstständige Tätigkeit, da sich die Rechtsfolgen einer Beschäftigung aus dem Gesetz ergeben und nicht abdingbar sind. Unerheblich für das Gesamtbild der vom Beigeladenen für die Klägerin verrichteten Tätigkeit ist auch, dass er sein Arbeitsentgelt durch Rechnungen geltend gemacht hat. Dies stellt eine formale Äußerlichkeit der Entgeltzahlung dar und ist für die materielle Einstufung des Entgelts als Arbeitsentgelt oder Unternehmervergütung nicht ausschlaggebend.
92 Der Umstand, dass der Beigeladene nach § 4 Abs. 5 der Verträge die zu erbringenden Leistungen selbst, d.h. persönlich, zu erbringen hatte, ist vorliegend nicht als gewichtiges Indiz für abhängige Beschäftigung und gegen eine Selbstständigkeit anzusehen, da dies, die persönliche Leistungserbringung, den Eigenheiten und besonderen Erfordernissen der lehrenden Tätigkeit entspricht.
93 Auch das Fehlen eines Wettbewerbsverbotes – der Beigeladenen zu 1) war nach § 6 der Verträge vom 13. Februar 2012 und vom 14. November 2012 berechtigt, andere Tätigkeiten für Dritte aufzunehmen, soweit er bei einer Tätigkeit für Dritte, die im Wettbewerb mit der Klägerin stehen, keine Materialien der Klägerin verwendet - ist kein maßgebliches Indiz für eine selbstständige Tätigkeit (vgl. BSG, Urteil vom 31. März 2017, a.a.O., Rn. 49).
94 Unter Berücksichtigung dieser Aspekte gelangt der Senat bei der anzustellenden Gesamtwürdigung zu der Überzeugung, dass die Tätigkeitsmerkmale, die für eine abhängige Beschäftigung sprechen, die, die für eine selbstständige Tätigkeit einzustellen sind, überwiegen. Obschon vorliegend nicht von einer Weisungsgebundenheit des Beigeladenen ausgegangen werden kann, hat die fehlende Weisungsunterworfenheit des Beigeladenen insb. nicht dazu geführt, dass dieser selbst und ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation bei der Klägerin seine Tätigkeit und deren Umfeld hat bestimmen können, weswegen dem nicht vorhandenen unternehmerischen Risiko ein besonderes Gewicht beizumessen ist, das der Tätigkeit des Beigeladenen sein maßgebliches Gepräge vermittelt.
95 Mithin ist der Senat davon überzeugt, dass die Tätigkeit des Beigeladenen bei der Klägerin im Zeitraum vom 01. Februar 2012 – 30. August 2013 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt worden ist und der Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung (wegen abhängiger Beschäftigung) sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag.
96 Der Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 8. Januar 2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
97 Die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG vom 25. April 2017 ist zurückzuweisen.
98 Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung. Der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen des Berufungsverfahrens aufzuerlegen entspricht nicht der Billigkeit, da dieser im Berufungsverfahren Sachanträge nicht gestellt und damit ein Prozessrisiko nicht übernommen haben.
99 Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
100 Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
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Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 17. Juli 2020 insoweit aufgehoben, als der Antragsgegner vorläufig verpflichtet worden ist, für die Zeit vom 1. Juli 2020 bis 30. Juni 2021 auch die sog Mietkaufraten in Höhe von 247,50 Euro pro Monat (in den bisherigen Leistungsbewilligungen als „Grundmiete“ ausgewiesen) zu übernehmen.
Der Antragsgegner erstattet dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.
Gründe
I.
1
Die Beschwerde des Antragsgegners richtet sich gegen die einstweilige Anordnung des Sozialgerichts (SG) Lüneburg vom 17. Juli 2020, soweit der Antragsgegner für die Zeit vom 1. Juli 2020 bis 30. Juni 2021 auch zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) hinsichtlich der vom Antragsteller für seine Unterkunft zu zahlenden (hälftigen) Mietkaufraten verpflichtet worden ist.
2
Der 1966 geborene Antragsteller bezieht seit Januar 2013 vom Antragsgegner durchgängig SGB II-Leistungen. Er lebt mit seiner 1970 geborenen Ehefrau zusammen, die keine Grundsicherungsleistungen, sondern eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (651,11 Euro pro Monat) sowie Pflegegeld (Pflegegrad 4 - 728,00 Euro pro Monat) erhält. Die Antragsteller bewohnen seit 2012 ein Einfamilienhaus mit 140 m² Wohnfläche auf einem 1.700 m² großen Grundstück.
3
Am 24. Mai 2013 schlossen der Antragsteller, seine Ehefrau sowie der Eigentümer des Hauses einen notariellen „Grundstücksmietkaufvertrag nebst Auflassung“. Aus Teil A dieses Vertrags ergibt sich, dass die Grundschulden damals noch mit einem Gesamtbetrag von ca. 42.000,00 Euro valutierten. In Teil B („Mietvertrag“) war eine monatliche Miete von 550,00 Euro vorgesehen, wobei sich der Eigentümer verpflichtete, diese Miete bis zur Löschungsreife der Grundschulden zur Rückzahlung der Darlehensverbindlichkeiten zu verwenden. Betriebs- und Nebenkosten (mit Ausnahme der Grundsteuer) sowie Kosten für Klein- und Schönheitsreparaturen sind vom Antragsteller und seiner Ehefrau zu tragen. In Teil C („Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages“) unterbreitete der Eigentümer dem Antragsteller und seiner Ehefrau ein zunächst bis zum 31. Dezember 2021 befristetes unwiderrufliches Kaufangebot für die Immobilie (vgl zur Widerrufsmöglichkeit bei außerordentlicher Kündigung des Mietverhältnisses: § 1 Abs 3 Teil C des Vertrags). Gleichzeitig bewilligte der Eigentümer eine Auflassungsvormerkung zugunsten des Antragstellers und seiner Ehefrau. Teil E des Vertrags enthält einen Kaufvertrag, in dem der Kaufpreis für die Immobilie auf 55.000,00 Euro festgesetzt wurde. Sämtliche Mietzinszahlungen sowie die Mietkaution (1.000,00 Euro) sind in voller Höhe auf den Kaufpreis anzurechnen. § 1 Abs 1 Satz 3 des Kaufvertrags lautet wie folgt: „Der Käufer nimmt den Kauf an und verpflichtet sich zur Abnahme des Kaufobjekts“.
4
Auch nachdem der Antragsteller diesen Vertrag im August 2017 beim Antragsgegner vorgelegt hatte, berücksichtigte der Antragsgegner bei ihm weiterhin kopfanteilig 247,50 pro Monat als KdU (in der Bedarfsberechnung als „Grundmiete“ bezeichnet; vgl zuletzt für die Monate Januar bis Juli 2020: Bewilligungsbescheid vom 7. Januar 2020).
5
In der Zeit ab Januar 2020 forderte der Antragsgegner den Antragsteller mehrfach auf, ergänzende Angaben zu den wirtschaftlichen Verhältnissen seiner Ehefrau sowie zu den anfallenden Unterkunftskosten zu machen. Sodann nahm der Antragsgegner die Gewährung von SGB II-Leistungen für die Zeit ab 1. März 2020 hinsichtlich der Übernahme von Mietkaufraten als KdU zurück (Herabsetzung des monatlichen Leistungsbetrags von zunächst 645,45 Euro auf 327,42 Euro). Dies begründete der Antragsgegner damit, dass die Mietkaufraten bislang fälschlicherweise übernommenen worden seien und nicht mehr weiter berücksichtigt werden könnten (Änderungsbescheid vom 19. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. März 2020, gegen den der Antragsteller vor dem SG das Klageverfahren S 21 AS 220/20 führt). Gegenstand dieses Klageverfahrens ist auch der später erlassene Aufhebungsbescheid vom 24. März 2020, mit dem der Antragsgegner die laufende Leistungsbewilligung mit Wirkung ab 1. April 2020 wegen „nicht ausreichend nachgewiesener“ Hilfebedürftigkeit vollständig zurückgenommen hat.
6
In einem vorangegangenen Eilverfahren ordnete das SG die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Rücknahmebescheide mit der Begründung an, dass der Antragsgegner nicht das nach § 45 SGB X erforderliche Ermessen ausgeübt habe. Der Mietkaufvertrag sei dem Antragsgegner bereits seit August 2017 bekannt gewesen. Bislang sei auch nachgewiesen, dass keine Hilfebedürftigkeit mehr vorliege (Beschluss vom 23. April 2020 - S 21 AS 52/20 ER -). In Ausführung dieses Beschlusses zahlte der Antragsgegner dem Antragsteller die mit Bewilligungs- bzw Änderungsbescheiden vom 7. Januar und 11. Juni 2020 gewährten SGB II-Leistungen auch für die Monate April bis Juni 2020 in voller Höhe, dh iHv von 645,45 Euro aus.
7
Für den sich anschließenden und im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Folgezeitraum (1. Juli 2020 bis 30. Juni 2021) erteilte der Antragsgegner dem Antragsteller zunächst die Auskunft, dass aufgrund der Corona-Pandemie kein Weiterbewilligungsantrag erforderlich sei und die Weiterbewilligung von Amts wegen erfolge. Nachdem der Antragsteller jedoch bis Ende Juni 2020 weder einen Weiterbewilligungsbescheid noch Grundsicherungsleistungen für die Zeit ab Juli 2020 erhalten hatte, stellte er am 30. Juni 2020 einen Weiterbewilligungsantrag. Der Antragsgegner forderte daraufhin sowohl den Antragsteller als auch seine Ehefrau zur Vorlage diverser Unterlagen auf.
8
Am 2. Juli 2020 hat der Antragsteller beim SG um einstweiligen Rechtsschutz für die Zeit ab 1. Juli 2020 nachgesucht.
9
Das SG hat den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 1. Juli 2020 bis 30. Juni 2021 vorläufig SGB II-Leistungen in bisheriger Höhe zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die SGB II-Leistungen gemäß § 67 SGB II (als Teil des aufgrund der Corona-Pandemie in Kraft getretenen Sozialschutz-Pakets) unter Annahme unveränderter Verhältnisse für 12 Monate weiter zu bewilligen seien. Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Antragsgegner im vorangegangenen Bewilligungszeitraum Rücknahmebescheide erlassen habe. Das SG habe die aufschiebende Wirkung des diesbezüglichen Widerspruchs angeordnet. Die Leistungsgewährung aus dem vorangegangenen Bewilligungszeitraum sei in der Zeit ab 1. Juli 2020 unverändert fortzuführen. Nach § 67 Abs 5 Satz 3 SGB II bedürfe es keiner Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen im Einzelfall. Vielmehr sei zunächst zu bewilligen und ggf später zu überprüfen (Beschluss vom 17. Juli 2020).
10
Gegen diesen dem Antragsgegner am 17. Juli 2020 zugestellten Beschluss richtet sich seine am 3. August 2020 eingegangene Beschwerde. Er wendet sich ausschließlich gegen die Verpflichtung zur vorläufigen Übernahme der sog Mietkaufraten als KdU-Leistungen, nicht jedoch gegen die Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung im Übrigen (vgl Schriftsatz vom 13. August 2020 sowie Ausführungsbescheid vom 27. Juli 2020 - Bewilligung von SGB II-Leistungen iHv 327,42 Euro für die Zeit vom 1. Juli 2020 bis 30. Juni 2021). Für eine Berücksichtigung der Mietkaufraten als KdU fehle „schlicht eine Rechtsgrundlage“. Mietkaufraten dienten dem Erwerb von Wohneigentum und damit dem Vermögensaufbau. Dass der Antragsgegner diese Mietkaufraten in der Vergangenheit „fälschlicherweise und entgegen seiner Rechtsauffassung“ als Teil der KdU berücksichtigt habe, dürfe nicht dazu führen, auch weiterhin Leistungen zu Unrecht erbringen zu müssen.
11
Der Antragsteller hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Laut Mietvertrag habe er monatlich Miete an seinen Vermieter zu zahlen. Die Berücksichtigungsfähigkeit dieser Mietzahlungen könne erst entfallen, wenn das Eigentum an der Immobilie auf den Antragsteller übergehe. Es sei dem Verhandlungsgeschick des Antragstellers und seiner Ehefrau zu verdanken, dass die Mietzinszahlungen als Ratenzahlung zum Erwerb des Mietobjekts eingesetzt würden. Dies wirke sich auch positiv für die öffentliche Hand aus, da die Leistungspflicht des Antragstellers nicht auf Ewigkeit festgeschrieben werde.
12
Auf Nachfrage des Senats hat der Antragsteller zunächst vorgetragen, dass seine Frau und er das Kaufangebot noch nicht angenommen hätten. Es sei allerdings nach wie vor beabsichtigt, die Immobilie zu erwerben. Dies solle erfolgen, sobald die gesamte Kaufsumme gezahlt sei (Schriftsatz vom 1. September 2020). Später ist dagegen vorgetragen worden, dass das Kaufangebot bereits angenommen worden sei und nur noch die Eigentumsübertragung ausstehe (Schriftsatz vom 7. September 2020). Der Abschluss des schuldrechtlichen Vertrags ergebe sich aus § 1 des Kaufvertrags. Es sei zwar „offensichtlich so gewesen, dass die Beteiligten zunächst eine Angebots- und Annahmeregelung im Vertrag aufgenommen sehen wollten“. Im Verlaufe der Verhandlungen hätten dann aber die Käufer (dh der Antragsteller und seine Ehefrau) das schuldrechtliche Angebot des Verkäufers sofort angenommen (Schriftsatz vom 17. September 2020). Vom ursprünglichen Kaufpreis iHv 55.000,00 Euro sei noch ein Teilbetrag von 6.150,00 Euro offen, nachdem seit Juni 2013 insgesamt 48.850,00 Euro für Miete und Mietsicherheit an den Vermieter gezahlt worden seien.
II.
13
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und begründet. Es besteht kein Anordnungsanspruch für eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der (hälftigen) sog Mietkaufraten iHv 247,50 Euro (in den bisherigen Bewilligungsbescheiden als „Grundmiete“ bezeichnet). Der angefochtene Beschluss ist insoweit aufzuheben.
14
Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens ist ausschließlich die Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung von monatlich 247,50 Euro als KdU-Leistung (sog Mietkaufraten, vgl Schriftsatz des Antragsgegners vom 13. August 2020; vgl zu den KdU-Leistungen als eigenständiger und abtrennbarer Streitgegenstand: BSG, Urteil vom 19. Oktober 2016 – B 14 AS 40/15 R –, SozR 4-1500 § 75 Nr 24, Rn 16 mwN).
15
Hinsichtlich dieses Streitgegenstands fehlt es an dem für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderlichen Anordnungsanspruch, also an einem nach materiellem Recht bestehenden Anspruch auf die begehrte Leistung.
16
Nach § 22 Abs 1 SGB II werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Aufwendungen, die der Vermögensbildung oder der Schuldentilgung dienen, können jedoch grundsätzlich nicht als KdU iSd § 22 Abs 1 SGB II anerkannt werden, weil die Leistungen nach dem SGB II auf die aktuelle Existenzsicherung beschränkt sind (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl etwa: Urteil vom 12. Dezember 2019 – B 14 AS 26/18 R –, SozR 4-4200 § 22 Nr 106, Rn. 18). Entscheidend für den streitbefangenen Anspruch auf Übernahme der sog Mietkaufraten ist somit, ob es sich in der Sache um Mietzins oder aber um der Vermögensbildung bzw Schuldentilgung dienende Kaufpreisraten handelt.
17
Beim Mietkauf handelt es sich um einen sog Mischvertrag. Es existiert kein einheitlicher Typus des Mietkaufs, so dass die rechtliche Einordnung letztlich von den Umständen des Einzelfalles abhängig ist. Es kann sich um einen reinen Mietvertrag, Kaufvertrag oder auch Leasingvertrag handeln. Abzugrenzen ist nach dem Gesamtcharakter des Vertrages, ob der Vertragszweck der Parteien letztlich vorwiegend auf die Eigentumsübertragung oder aber auf die vorübergehende Gebrauchsüberlassung gerichtet ist (vgl hierzu insgesamt: Patzina in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 29a Rn 12). Den Regelfall eines Mietkaufs bildet der mit einer Kaufoption versehene Mietvertrag, bei dem der Vermieter dem Mieter das Recht einräumt, die Mietsache während der laufenden Mietzeit unter bestimmten Voraussetzungen zu kaufen, wobei die bis dahin gezahlte Miete ganz oder zum Teil auf den Kaufpreis angerechnet wird (vgl BGH, Urteil vom 15. März 1990 – I ZR 120/88 –, Rn 22). Solange der Mieter die Option zum Erwerb der Sache noch nicht ausgeübt hat, gilt ausschließlich Mietrecht. Nach Ausübung der Option gilt dagegen Kaufrecht (vgl H. Schmidt in: Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann (Hrsg), beck-online.Großkommentar zum Zivilrecht, Stand: Juli 2020, § 535 BGB Rn 81 mwN).
18
Der Antragsteller und seine Ehefrau haben die Kaufoption bereits ausgeübt und damit den Kaufvertrag über das von ihnen bewohnte Haus bereits geschlossen (so: Schriftsätze vom 7. und 17. September 2020). Soweit sie zuvor vorgetragen hatten, das Kaufangebot noch nicht angenommen zu haben, sondern erst bei vollständiger Zahlung des Kaufpreises annehmen zu wollen (Schriftsatz vom 1. September 2020), halten sie hieran auch nach mehrfacher Nachfrage des Senats nicht mehr fest. Vielmehr hat der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers, der selbst den Vertrag vom 24. Mai 2013 notariell beurkundet hat, im Einzelnen dargelegt, dass der Antragsteller und seine Ehefrau das Kaufangebot bereits beim damaligen Vertragsabschluss angenommen haben. Es stehe nur noch die Eigentumsübertragung aus (Schriftsatz vom 17. September 2020).
19
Nach den og zivilrechtlichen Grundsätzen gilt für den Grundstücksmietkaufvertrag vom 24. Mai 2013 somit seit Annahme des Kaufangebots (also bereits seit Vertragsschluss) Kaufrecht. Die monatlichen Zahlungen des Antragstellers und seiner Ehefrau stellen sich in der Sache als Kaufpreisraten dar, die der Vermögensbildung dienen, nämlich der Abzahlung der bereits mittels Kaufvertrag rechtswirksam gekauften Immobilie. Eine Anerkennung als KdU scheidet dementsprechend aus (so auch: LSG Bayern, Urteil vom 23. Februar 2017 - L 7 BK 6/15 -; LSG Schleswig-Holstein vom 14. Mai 2020 - L 6 AS 159/17 -), wobei es aufgrund der bei vollständiger Zahlung praktisch automatisch erfolgenden Eigentumsübertragung nicht darauf ankommt, dass der Antragsteller und seine Ehefrau bislang noch nicht Eigentümer der Immobilie sind (vgl hierzu nochmals: LSG Bayern, aaO, Rn 34; LSG Schleswig-Holstein, aaO, Rn 29 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom BSG, Urteil vom 04. Juni 2014 – B 14 AS 42/13 R –, SozR 4-4200 § 22 Nr 78 - zu einem Leibrentenvertrag mit Rücktrittsvorbehalt bei Zahlungsverzug der Käufer). Lediglich für die Zeit vor Annahme des Kaufvertrags, in der Mietrecht Anwendung findet (s.o.), könnten die monatlichen „Mietkaufraten“ des Antragstellers als Mietzins und damit als KdU iSd § 22 SGB II anerkannt werden (vgl hierzu etwa: Brehm, NZS 2020, 683).
20
Eine Übernahme der Mietkaufraten als KdU kommt auch nicht ausnahmsweise, nämlich im Hinblick auf die Restlaufzeit der Immobilienfinanzierung in Betracht (vgl hierzu: BSG, Urteil vom 16. Februar 2012 – B 4 AS 14/11 R –, Rn 23 mwN), weil der Antragsteller die Immobilie nicht schon vor Eintritt in den SGB II-Leistungsbezug (1. Januar 2013), sondern erst danach erworben hat (BSG, Urteil vom 16. Februar 2012, aaO, Rn 25 mwN).
21
Nach alledem erweist sich die Rechtsauffassung des Antragsgegners, wonach die laut Vertrag vom 24. Mai 2013 geschuldeten sog Mietkaufraten nicht als KdU iSd § 22 SGB II zu übernehmen sind, als materiell-rechtlich zutreffend.
22
Entgegen der Auffassung des SG ergibt sich ein Anordnungsanspruch auch nicht aus § 67 Abs 5 SGB II. Nach dieser Norm ist für die Weiterbewilligung von SGB II-Leistungen, deren Bewilligungszeitraum in der Zeit vom 31. März 2020 bis vor dem 31. August 2020 endet, abweichend von § 37 SGB II kein erneuter Antrag erforderlich. Der zuletzt gestellte Antrag gilt insoweit einmalig für einen weiteren Bewilligungszeitraum fort. Die Leistungen werden unter der Annahme unveränderter Verhältnisse für zwölf Monate weiterbewilligt, wobei allerdings § 60 SGB I sowie die §§ 45, 48 und 50 SGB X unberührt bleiben.
23
Im Ausgangspunkt stimmt der Senat dem SG zu, wonach § 67 Abs 5 SGB II im vorliegenden Fall einschlägig ist. Schließlich endete der (vorangegangene) Bewilligungszeitraum des Antragstellers am 30. Juni 2020 und damit innerhalb des in § 67 Abs 5 Satz 1 SGB II genannten Zeitraums. Auch erfolgte im vorangegangenen Bewilligungszeitraum eine Übernahme der sog Mietkaufraten als KdU-Leistungen (iHv 247,50 Euro). Zwar hatte der Antragsgegner die Leistungsbewilligung insoweit mit Wirkung ab 1. März 2020 gemäß § 45 SGB X zurückgenommen (Bescheid vom 19. Februar 2020). Allerdings hatte das SG die aufschiebende Wirkung des hiergegen eingelegten Widerspruchs angeordnet (Beschluss vom 23. April 2020 - S 21 AS 52/20 ER -). Damit lag eine (tatsächliche) Leistungsbewilligung vor, die nach § 67 Abs 5 Satz 3 SGB II im nächsten Bewilligungsabschnitt fortgeführt werden konnte (vgl zur Bedeutung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines gegen einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X eingelegten Widerspruchs für den Anspruch nach § 67 Abs 5 Satz 3 SGB II: LSG Bayern, Beschluss vom 20. April 2020 - L 16 AS 170/20 B ER -, Rn 24; Karl in: JurisPR-SozR 13/2020 Anmerkung 1 unter Abschnitt D. [letzter Absatz]).
24
Allerdings darf die Sondervorschrift nach § 67 Abs 5 Satz 3 SGB II nach allgemeiner Meinung nicht dazu führen, dass ein Jobcenter Grundsicherungsleistungen sehenden Auges zu Unrecht weitergewährt (vgl etwa: Groth in: jurisPR-SozR 7/2020 Anm 1; derselbe in: jurisPK-SGB II, 5. Auflage, Stand: 2020, § 67 Rn 43.1; Bittner, NZS 2020, 332, 334; Kellner, COVID-19 und Recht - COVuR - 2020, 172; Meßling in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19 - Corona-Gesetzgebung - Gesundheit und Soziales, 1. Auflage 2020, Rn 58; ähnlich auch: Harich in: Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht - BeckOK Sozialrecht -, 57. Edition 2020, § 67 SGB II, Rn 7; noch weitergehend: Köhler in Hauck/Noftz, SGB II, K § 67 Rn 36, wonach § 67 Abs 5 Satz 3 SGB II nicht zu einem „Wegfall“ der Amtsermittlungspflicht führen soll). Dementsprechend können auch unter Berücksichtigung von § 67 Abs 5 SGB II Mietkaufraten, die der Vermögensbildung dienen, in einem neu beginnenden Bewilligungszeitraum nicht weiterhin als KdU-Leistungen übernommen werden.
25
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Für einen vollen Kostenerstattungsanspruch des Antragstellers sprechen sein Teilerfolg (vgl Ausführungsbescheid vom 27. Juli 2020) sowie der Umstand, dass der Antragsgegner Anlass zur Beantragung von einstweiligem Rechtsschutz gegeben hat. Schließlich hatte er dem Antragsteller zunächst angekündigt, auch ohne Weiterbewilligungsantrag die SGB II-Leistungen fort zu bewilligen. Gleichwohl waren dem nach derzeitigem Sach- und Streitstand hilfebedürftigen Antragsteller zum Zeitpunkt der Beantragung von einstweiligem Rechtsschutz beim SG (2. Juli 2020) keine Grundsicherungsleistungen bewilligt oder ausgezahlt worden. Ein weiteres Zuwarten war dem Antragsteller nicht zuzumuten.
26
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten über die Besteuerung von Einkünften der Klägerin aus einem Investmentfonds mit Sitz in den Vereinigten Staaten von Amerika (U.S.A.).
2Die Klägerin war im Streitjahr verheiratet und wurde mit ihrem Ehemann zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
3Die Klägerin erzielte im Streitjahr u.a. Einkünfte aus Anteilen an dem Investmentfonds „G“ mit Sitz in den U.S.A. (internationale Wertpapierkennnummer (ISIN): xxx; deutsche Wertpapierkennnummer (WKN): xxx; im Folgenden: Fonds). Das Wirtschaftsjahr des Fonds ging jeweils vom 01.12. bis zum 30.11. Aus den von der Klägerin vorgelegten monatlichen Depotauszügen, sog. Investment Reports, für das Streitjahr geht hervor, dass die Klägerin vom 01.01.2007 bis zum 18.12.2007 76.323,788 Anteile und ab dem 19.12.2007 77.862,012 Anteile an dem Fonds hielt. Der Gesamtwert der Anteile erhöhte sich nach den in den Investment Reports für die Monate Januar und Dezember gemachten Angaben im Streitjahr von 2.212.626,61 $ (01.01.2007) auf 2.480.683,70 $ (31.12.2007). Der Fonds nahm im Streitjahr keine Veröffentlichungen im Bundesanzeiger vor.
4Die für die Anteile an dem Fonds werktäglich festgesetzten Preise sind im Internet abrufbar (z.B. unter: https://finance.yahoo.com/quote/FAIRX?p=FAIRX, zuletzt abgerufen am 23.09.2020). Die dort genannten Preise je Anteil decken sich mit den Angaben in den von der Klägerin vorgelegten monatlichen Investment Reports der Fondsgesellschaft, wobei in den Investment Reports jeweils nur der am letzten Tag des Monats geltende Anteilspreis genannt wird. Der erste im Streitjahr festgesetzte Preis pro Anteil belief sich auf 28,57 $ (02.01.2007), der letzte im Streitjahr festgesetzte Preis pro Anteil belief sich auf 31,86 $ (31.12.2007). Nach den Angaben in dem von der Klägerin übersandten Prospekt des Fonds (Prospectus July 22, 2008) können die Anteile jederzeit („at any time“) an den Fonds verkauft bzw. zurückgegeben werden (S. 17 „How to sell (redeem) your shares“).
5In den von der Klägerin vorgelegten monatlichen Investment Reports werden unter der Überschrift „Income Summary“ die von ihr in dem betreffenden Monat („This Period“) und im Kalenderjahr bisher („Year to Date“) erzielten Erträge ausgewiesen. In dem Investment Report für den Zeitraum vom 01.12. bis 31.12.2007 finden sich hierzu folgenden Angaben:
6
This Period
Year to Date
Taxable
Dividends
16.365,72 $
16.366,91 $
St cap gains
18.192,54 $
18.192,54 $
Lt capital gains
18.756,57 $
18.756,57 $
Total
53.314,83 $
53.316,02 $
7Die betreffenden Erträge wurden jeweils auf einem sog. „core account“ der Klägerin gutgeschrieben. Der Kontostand dieses core accounts betrug am 01.01.2007 26,57 $ und am 31.12.2007 27,87 $.
8Aus den von der Klägerin vorgelegten monatlichen Investment Reports für Januar bis Dezember 2007 ergibt sich, dass die der Klägerin im Streitjahr i.H.v. 53.314,83 $ auf dem core account gutgeschriebenen Erträge i.H.v. 53.314,72 $ aus dem Fonds und i.H.v. 0,11 $ aus dem core account selbst stammten. Die Erträge aus dem core account wurden monatlich (Buchungstext: „Core account income“) und die Erträge aus Fonds im Dezember 2007 gutgeschrieben (Buchungstext: „Income“). Abbuchungen von dem core account erfolgten lediglich im Dezember 2007 i.H.v. 48.131,00 $ (Buchungstext: „Securities bought“) und i.H.v. 5.183,72 $ (Buchungstext: „Other disbursements“). Näheres zu den im Dezember 2007 erfolgten Zu- und Abbuchungen ergibt sich aus dem Investment Report der Fondsgesellschaft für den Zeitraum 01.12.2007 bis 31.12.2007 unter der Überschrift „Brokerage Activity“. Danach erhielt die Klägerin am 19.12.2007 drei Gutschriften aus dem Fonds i.H.v. insgesamt 53.314,72 $ (Dividend received 16.365,61 $, Short-term cap gain 18.192,54 $, Long-term cap gain 18.756,57 $). Ebenfalls am 19.12.2007 erfolgten Abbuchungen für den Erwerb von Fondsanteilen („reinvestment“) zu 31,29 $ je Anteil i.H.v. 13.910,77 $, 15.463,66 $ und 18.756,57 $ (Summe: 48.131,00 $) sowie Abbuchungen für „Non-resident tax“ i.H.v. 2.454,84 $ und 2.728,88 $ (Summe 5.183,72 $). Durch die Reinvestition der gutgeschriebenen Erträge in Höhe von 48.131,00 $ erhöhte sich die Zahl der von der Klägerin gehaltenen Anteile von 76.323,788 (so die in den Investment Reports Januar bis November 2007 ausgewiesene Anzahl der Anteile) auf 77.862,012 (so die im Investmentreport Dezember 2007 am 31.12.2007 ausgewiesene Anzahl der Anteile).
9Im Oktober 2008 gaben die Klägerin und ihr Ehemann die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ab. Darin erklärten sie u.a. ausländische Kapitalerträge in Form von Dividenden und ähnliche Erträge der Klägerin aus Aktien und anderen Anteilen i.H.v. 11.365,00 € sowie anzurechnende ausländische Steuern für aus den U.S.A. stammende Einkünfte i.H.v. 3.600,00 €. Zum Nachweis ihrer Angaben legten die Klägerin und ihr Ehemann monatliche Investment Reports der Fondsgesellschaft für die Monate Januar bis Dezember 2007, einen Jahresbericht des Fonds für das am 30.11.2007 beendete Geschäftsjahr (Annual report for the fiscal year ended november 30, 2007) sowie Bescheinigungen des S Service…, wonach 2007 von Einkünften der Klägerin i.H.v. 34.558,00 $ ein Steuerbetrag i.H.v. 5.184,00 $ (Steuersatz: 15 %) und von Einkünften der Klägerin i.H.v. 18.757,00 $ ein Steuerbetrag i.H.v. 0 $ (Steuersatz: 0 %) einbehalten wurde („U.S. Federal tax withheld“). Wegen der weiteren Einzelheiten zum Inhalt der von der Klägerin eingereichten Unterlagen wird auf die in der Einkommensteuerakte des Beklagten befindlichen Belege Bezug genommen.
10Nach vorheriger Anhörung mit Schreiben vom 24.11.2008 folgte der Beklagte den Angaben der Klägerin und ihres Ehemannes nicht, berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid 2007 vom 02.02.2009 Einkünfte aus Kapitalvermögen aus dem Fonds i.H.v. 134.547,00 € und setzte die Einkommensteuer unter Anrechnung von in den U.S.A. auf die Kapitalerträge einbehaltenen Steuern i.H.v. 3.534,00 € auf 60.804,00 € fest. Die Einkünfte aus Kapitalvermögen aus dem Fonds ermittelte der Beklagte nach den Angaben in dem Anhörungsschreiben und den Erläuterungen zu dem Einkommensteuerbescheid für 2007 gemäß § 6 Investmentsteuergesetz (InvStG) wie folgt:
11
$
€ (nach Umrechnungskurs vom 31.12.2007)
Laufende Erträge
(Dividends: 16.366,00 $ + short term capital gains: 18.192,00 $)
34.558,00
23.475,00
Anteil am Mehrbetrag gemäß § 6 InvStG
(Differenz Rücknahmepreis 31.12.2007 (31,86 $) zu Rücknahmepreis 31.12.2006 (28,76 $) = 3,10 $, davon 70% = 2,17 $ 2,17 $ x Anzahl der Anteile 75.350)
163.510,00
111.072,00
12Gegen diesen Bescheid legten die Klägerin und ihr Ehemann fristgemäß Einspruch ein. Zur Begründung trugen sie im Wesentlichen vor:
13Die Einnahmen aus dem Fonds seien gemäß §§ 20 Abs. 1; 3 Nr. 40 Einkommensteuergesetz (EStG) der Besteuerung zu unterwerfen. Die Strafbesteuerung des § 6 InvStG, bei der es sich um eine Schutzvorschrift handele, finde keine Anwendung. Die Klägerin habe alle ihr vorliegenden Informationen bekannt gegeben und ihre Einkünfte aus dem ausländischen Fonds vollständig und ordnungsgemäß erklärt. Aus der Gesetzesbegründung zu § 6 InvStG, BT-Drs. 609/03, S. 299, ergebe sich, dass die Pauschalbesteuerung des § 6 InvStG nur dann greifen solle, wenn der Anleger die Höhe der ausgeschütteten Erträge nicht nachweise. Im Streitfall seien die vorgenommenen Ausschüttungen jedoch nachgewiesen worden. Nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers sei in solchen Fällen von der pauschalen Strafbesteuerung nach § 6 InvStG abzusehen. Zudem habe der Fonds die ihn betreffenden Offenlegungspflichten gemäß § 5 InvStG erfüllt. Sämtliche für die Besteuerung notwendigen Angaben ergäben sich aus den vorgelegten Unterlagen und den von dem Fonds auf seiner Homepage veröffentlichen Dokumenten. Dort fänden sich u.a. Informationen zu den von dem Fonds in den vergangenen Jahren vorgenommenen Ausschüttungen und der mit einem Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers versehene Jahresabschluss des Fonds für 2007. Zudem habe der Beklagte nicht nachgewiesen, dass der Fonds die unter § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4 InvStG genannten Angaben auch auf Aufforderung nicht erbracht habe.
14Unabhängig davon verstoße § 6 InvStG gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Die Norm bevorteile Anteilseigner von inländischen Fonds gegenüber solchen von ausländischen Fonds. Zwar bestehe mit §§ 5, 6 InvStG eine einheitliche Regelung, jedoch würden ausländische Fonds bzw. deren Anteilseigner durch die aufgestellten Hürden de facto benachteiligt. Die Ausführungen des Bundesfinanzhofs (BFH) in dem zu § 18 Auslandinvestment-Gesetz (AuslInvestmG) ergangenen Beschluss vom 14.09.2005, VIII B 40/05, seien auf § 6 InvStG übertragbar. Zudem komme es durch die Pauschalbesteuerung gemäß § 6 InvStG bei Investitionen des Fonds in Kapitalgesellschaften zu einer erheblichen Doppelbesteuerung, da die Erträge sowohl auf der Ebene der Kapitalgesellschaft als auch auf der Ebene des Anteilseigners besteuert würden. Überdies sehe § 6 InvStG eine Besteuerung des Wertes des Fonds auch dann vor, wenn dieser Verluste gemacht habe, und zwar i.H.v. 6% des letzten im Kalenderjahr festgesetzten Rücknahmepreises. Eine vergleichbare Regelung gebe es für andere Fonds nicht, vielmehr werde dort nur der tatsächlich erwirtschaftete Gewinn besteuert.
15Auch sei nicht auszuschließen, dass § 6 InvStG gegen die gemeinschaftsrechtliche Kapitalverkehrsfreiheit verstoße.
16Des Weiteren komme es durch die Pauschalbesteuerung zu einem Missverhältnis von Steuerlast und Anlageertrag. Die Klägerin hätte Dividenden i.H.v. 11.364,82 € vereinnahmt. Dem stehe eine Steuerlast von 55.476,86 € gegenüber. Diese Diskrepanz zwischen der Höhe der zugeflossenen Dividenden und der Steuerlast stelle einen nicht unerheblichen Eingriff in die Eigentumsfreiheit des Art. 14 GG dar, da offensichtlich Anteile des Fonds veräußert werden müssten, um die Steuerlast zu tilgen. Zudem widerspreche die Besteuerung des Wertzuwachses gemäß § 6 InvStG dem Zuflussprinzip gemäß § 11 Abs. 1 EStG und der Regelung des § 23 Abs. 1 Nr. 2 EStG a.F.
17Mit Einspruchsentscheidung vom 09.03.2010 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, die Pauschalbesteuerung nach § 6 InvStG sei zu Recht erfolgt. Der Fonds habe die Nachweis- und Offenlegungspflichten des § 5 InvStG nicht erfüllt. Die Veröffentlichung des Jahresberichtes im Internet und die von der Klägerin vorgelegten Unterlagen könnten die in § 5 InvStG geforderten Nachweise nicht ersetzen. Die Gesetzesbegründung zum InvStG führe zu keiner anderen Auffassung. Zum einen sei dort vorgesehen, dass der Anleger die Höhe der nicht ausgeschütteten Erträge nachweise. Insoweit hätte die Einspruchsbegründung das Wort „nicht“ übersehen. Zum anderen stelle die Gesetzesbegründung auf Seite 310, BT-Drs. 609/03, klar, dass die Voraussetzungen des § 5 InvStG erfüllt sein müssten, um der Pauschalbesteuerung nach § 6 InvStG zu entgehen. Im Streitfall hätten die Klägerin und ihr Ehemann die Höhe der nicht ausgeschütteten Erträge jedoch nicht nachgewiesen. Die von ihnen eingereichten Unterlagen wiesen zwar ein „reinvestment“ i.H.v. 48.131,00 $ aus. Es sei aber nicht erkennbar, ob es sich hierbei um die vollständigen nicht ausgeschütteten Erträge gehandelt habe. Die Ermittlung des investierten Betrages (Anzahl der Anteile und Stückpreis) spreche aber eher für eine Wiederanlage ansonsten ausgeschütteter Beträge und damit für die Annahme steuerpflichtiger Einkünfte. Es treffe auch nicht zu, dass eine Ermittlung der Einkünfte nach deutschem Steuerrecht anhand der eingereichten Unterlagen ohne Probleme möglich sei. Die Klägerin und ihr Ehemann hätten die Ausschüttungen aus „short term capital gains“ nicht erklärt. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 18.11.2008, VIII R 24/07, führe zu keiner anderen Rechtsauffassung. Zunächst sei es bei der Entscheidung um die Vorschrift des § 18 AuslInvestmG gegangen. Die in diesem Urteil beanstandete Diskriminierung ausländischer Anteilseigner bestehe seit Einführung des InvStG nicht mehr, da ausländische und inländische Fonds gleichgestellt würden.
18Die Klägerin hat fristgerecht Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung trägt sie ergänzend zu dem bisherigen Vorbringen im Wesentlichen vor:
19Bei den erklärten Einkünfte aus ihrer Beteiligung an dem Fonds (11.364,82 €) handele es sich um die Dividenden, die der Fonds am Ende jeden Jahres ausschütte und auf die § 3 Nr. 40 Buchstabe d) EStG anzuwenden sei. Für diese Dividenden sei in den U.S.A. 15% Quellensteuer i.H.v. 5.183,72 $ einbehalten worden. Bei dem Fonds handele es sich um einen sog. thesaurierenden Fonds. Erträge, die der Fonds über das Jahr generiere und nicht ausschütte, würden zum Ende des Jahres im Fonds reinvestiert (Reinvestment 48.131,00 $). Bei den sog. „st. cap gain“ und „lt. cap gain“ handele es sich um Gewinne aus Veräußerungen von Vermögen i.S.d. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, wobei short term eine Haltedauer von zwölf Monaten und darunter beschreibe.
20Die Erfassung der Einkünfte in der Einkommensteuererklärung sei zutreffend erfolgt. Ausgeschüttete Erträge gehörten wie ausschüttungsgleiche Erträge und Zwischengewinne nach § 2 Abs. 1 Satz 1 InvStG zu den Einkünften i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Hierbei handele es sich um eine Einkünftefiktion. Auf Erträge, die auf der Fondseingangsseite originären Dividendencharakter hätten, werde als Ausfluss des Transparenzprinzips § 3 Nr. 40 EStG angewandt, § 2 Abs. 2 Satz 1 InvStG. Die sog. „st. cap gain“ und „lt. cap gain“ seien aufgrund des im Streitjahr noch geltenden Fondsprivilegs als Bestandteile „ausgeschütteter Erträge“ zwar steuerbar, aber steuerfrei, § 2 Abs. 3 Nr. 1 InvStG. Bei Thesaurierung seien sie nicht steuerbar, § 1 Abs. 3 Satz 3 InvStG.
21Die Auffassung des Beklagten, dass der Fonds die Nachweis- und Offenlegungspflichten des § 5 InvStG nicht erfüllt habe, treffe nicht zu. Der Beklagte verkenne, dass der Fonds seine Offenlegungspflichten gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 InvStG erfüllt habe, sofern ihn solche beträfen. Den Anlegern seien alle in Rz. 91 und 100 des BMF-Schreibens vom 18.08.2009, IV C 1 – S 1980-1 / 08 / 10019, BStBl. I 2009, 931 (im Folgenden BMF-InvSt-Erlass) zur Vermeidung einer Pauschalbesteuerung genannten Angaben öffentlich gemacht worden. Angaben zum Betrag der Ausschüttung und den in der Ausschüttung enthaltenen ausschüttungsgleichen Erträgen der Vorjahre sowie zum Betrag der ausgeschütteten Erträge ergäben sich aus den mit der Einkommensteuererklärung vorgelegten monatlichen Depotauszügen und den Veröffentlichungen auf der Homepage des Fonds. Die Angaben zu der Bemessungsgrundlage der Einkommen-steuer ergäben sich ebenfalls aus den Depotauszügen. Zu der anrechenbaren oder erstattungsfähigen Kapitalertragsteuer seien durch die Nichterklärung entsprechender Angaben konkludent Null-Meldungen abgegeben worden, da diese Angaben für einen ausländischen Fonds schon deshalb ausgeschlossen seien, weil er keinen Zinsabschlag vornehme und keine Kapitalertragsteuer abführe. Auch zu den geforderten Angaben zu dem Betrag der bei der Ermittlung der Erträge angesetzten Absetzung für Abnutzung oder Substanzverringerung seien durch die Nichtabgabe konkludent Null-Meldungen abgegeben worden, da diese Angaben für einen ausländischen Fonds schon deshalb nicht möglich seien, weil sie auf deutschem Steuerrecht beruhten. Zudem handele es sich bei dem Fonds um ein Wertpapierinvestmentvermögen, bei dem eine solche Angabe mit Null zu erklären sei. Hinsichtlich der verlangten Angaben zu dem Körperschaftsteuerminderungsbetrag sei ebenfalls eine Nullmeldung abgegeben worden, da diese Regelungen auf den Fonds nicht anwendbar seien.
22Entgegen der Auffassung der Beklagten sei es daher nicht unmöglich, die aus dem Fonds erzielten Einkünfte nach deutschem Steuerrecht zu ermitteln. Zum Nachweis legte die Klägerin mit Schriftsatz vom 07.12.2010 ein von ihren damaligen Prozessbevollmächtigten erstelltes „Tax Reporting“ für das Streitjahr vor, aus dem sich, so die Klägerin, die Höhe der Einkünfte zweifelsfrei ergebe und zwar sowohl für den vorliegenden Fall eines thesaurierenden Fonds, als auch, aus Vollständigkeitserwägungen, für den Fall eines ausschüttenden Fonds. Wegen der Einzelheiten zum Inhalt des Tax Reportings wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
23Selbst wenn die Auffassung des Beklagten über den Nachweis der Besteuerungsrundlagen zutreffen sollte, irre der Beklagte über die steuerliche Behandlung von Beteiligungen an ausländischen Personengesellschaften. Die Beteiligung an dem Fonds sei nämlich nicht nach den speziellen Besteuerungsregeln des InvStG zu behandeln, sondern nach den allgemeinen steuerlichen Regeln über ausländische Beteiligungen. Das InvStG sei nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 InvStG nur auf ausländische Investmentvermögen und ausländische Investmentanteile i.S.d. § 2 Abs. 8 und 9 des Investmentgesetzes (InvG) anzuwenden und verweise damit auf die Begriffsdefinitionen des Aufsichtsrechts. Folgerichtig stelle auch der BMF-InvSt-Erlass in Rz. 2 ff. klarstellend fest, dass die Definitionen des Aufsichtsrechts maßgeblich seien. Nach Rz. 6 des BMF-InvSt-Erlasses gelte der Anschluss an die Rechtsansichten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ausdrücklich auch für die bisherigen Bereichsausnahmen (insbesondere für Hedgefonds, Private Equity Fonds, Venture Capital Fonds). Der Beklagte, der insoweit die Feststellungslast trage, habe weder geprüft noch festgestellt, ob die Voraussetzungen für die Annahme eines ausländischen Investmentvermögens bzw. eines ausländischen Investmentanteils vorlägen. Tatsächlich sei dies nicht der Fall. Die formellen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 InvStG i.V.m. § 2 Abs. 8 und 9 InvG lägen nicht vor, da der Fonds weder einer der inländischen Investmentaufsicht vergleichbaren Investmentaufsicht unterliege noch ein dem InvG adäquates Rückgaberecht existiere. Die materiellen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 InvStG lägen ebenfalls nicht vor, weil bei dem Fonds keine nach dem deutschen Investmentrecht vorgeschriebene Risikodiversifizierung stattfinde, da der Fonds satzungsgemäß nur in typengleiche/branchenidentische Beteiligungen investiere. Dies gehe eindeutig aus Seite 11 des Jahresberichtes hervor. Daneben werde bei dem Fonds der Anteil der unzulässigen Vermögensgegenstände von 10 % des Nettoinventarwertes (sog. Schmutzgrenze) überschritten, da der Beteiligungsschwerpunkt des Fonds auf fremdfinanzierten Unternehmensbeteiligungen liege und diese keine zulässigen Vermögensgegenstände im Sinne des § 2 Abs. 4 InvG seien. Zusätzlich würden auch die zulässigen Anlagegrenzen nach §§ 90b, 90h, 91, 112 InvG nicht eingehalten (mehr als 30 % „Hedge-Beteiligungen“). Der Fonds sei darüber hinaus kein taugliches Auslandsvehikel i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 InvStG, weil er unter die Bereichsausnahme für Hedgefonds nach dem BMF-InvSt-Erlas falle. Auch von der BaFin werde der Fonds nicht als ausländischer Investmentfonds behandelt.
24Nachdem der Rechtsstreit zwischenzeitlich bis zum Ergehen die Instanz abschließender Entscheidungen des Bundesfinanzhofs in den Verfahren VIII R 27/12 und VIII R 36/12, des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in dem Verfahren C-326/12 und des Bundesfinanzhofs in dem Verfahren VIII R 31/16 geruht hat, trägt die Klägerin ergänzend zu ihrem bisherigen Vorbringen im Wesentlichen vor:
25Zwar sei der Fonds als amerikanischer Publikumsfonds seiner deutschen Offenlegungspflicht nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 InvStG nicht nachgekommen. Jedoch sei dem Steuerpflichtigen nach dem BMF-Schreiben vom 23.05.2016, IV C 1-S 1980-1/11/10014:016, BStBl. I 2016, 504 (im Folgenden BMF-Schreiben 2016), mit dem Stellung zu dem Urteil des EuGH vom 09.10.2014, C-326/12, genommen worden sei, die Möglichkeit einzuräumen, Unterlagen oder Informationen beizubringen, mit denen sich die tatsächliche Höhe der Einkünfte nachweisen lasse. Im Streitfall seien, unabhängig davon, ob die Vorgaben dieses Schreibens wegen gemeinschaftsrechtlicher Bedenken zu beachten seien, entsprechende Nachweise vorgelegt worden. Insbesondere sei ein sog. Tax Reporting zur Verfügung gestellt worden, in welchem unter Berücksichtigung der jeweiligen Buchstaben des § 5 Abs. 1 Satz 1 InvStG die notwendigen Angaben separiert dargestellt worden seien. Dieser Report enthalte sämtliche Mindestangaben zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage und entspreche einer vergleichbaren Bescheinigung i.S.d. § 3 StBerG. Weitere Unterlagen habe die Klägerin nicht einreichen brauchen. Der Bundesfinanzhof habe in dem Verfahren VIII R 31/16 explizit offen gelassen, ob es im Falle eines vollständigen Nachweises nach § 6 Abs. 2 Satz 1 InvStG im Hinblick auf die erklärten Besteuerungsgrundlagen neben einer Berufsträgerbescheinigung und eines zum jeweiligen Geschäftsjahresende gültigen Jahresbericht darüber hinaus auch kumulativ weiterer Unterlagen bedurfte. Insbesondere aus dem mit Schriftsatz vom 07.12.2010 von ihren damaligen Prozessbevollmächtigten erstellten Tax Reporting für das Streitjahr seien die notwendigen Angaben ersichtlich. Sofern die Nachweisanforderungen nicht erfüllt seien, sei jedenfalls aufgrund der umfänglichen Angaben durch die Klägerin eine Schätzung vorzunehmen.
26Im Fall einer Einkünfteermittlung nach den Grundsätzen des InvStG ergäben sich, wie erklärt, Einkünfte i.H.v. 11.364,36 €. Hilfsweise seien die Einkünfte nach dem EStG zu ermitteln. Die Besteuerungsgrundlagen ergäben sich aus den vorgelegten Investment Reports. Der Fonds habe zum Jahresende eine Dividende i.H.v. 16.365,72 $ (11.364,36 €) ausgeschüttet. Die darüber hinaus in dem Investment Report ausgewiesenen Gewinne aus der Veräußerung kurzfristig gehaltener Anteile mit einer Haltedauer von unter zwölf Monaten (short-term capital gains) würden unter der Annahme, dass keine steuerbegünstigte Thesaurierung vorliege, zu steuerpflichtigen Einkünften i.H.v. 34.558 $ (23.996,86 €) führen. Die Gewinne aus der Veräußerung von langfristig gehaltenen Anteilen (long term capital gains) seien nicht steuerpflichtig. Bei diesen Gewinnen handele es sich um solche i.S.d. § 23 Abs. 1 EStG, bei denen die Veräußerung außerhalb der Spekulationsfrist erfolgt sei.
27Die Klägerin beantragt,
28den Einkommensteuerbescheid für 2007 vom 02.02.2009 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 09.03.2010 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von Einkünften aus Kapitalvermögen aus dem G Fund in Höhe von 11.364,36 € und unter Anrechnung ausländischer Steuern in Höhe von 3.603,55 € festgesetzt wird,
29hilfsweise, die Revision zuzulassen.
30Der Beklagte beantragt,
31die Klage abzuweisen,
32hilfsweise, die Revision zuzulassen.
33Der Beklagte verweist zur Begründung auf seine Einspruchsentscheidung und führt ergänzend im Wesentlichen aus, der Vortrag der Klägerin sei widersprüchlich. Aus Sicht der Klägerin seien lediglich die erklärten Dividenden steuerpflichtig, jedoch werde die Anrechnung ausländischer Steuer begehrt, die sowohl auf die Dividenden als auch auf die short term capital gains entfallen sei. Zudem vertrete die Klägerin zum einen die Ansicht, dass die short term capital gains ebenso wie die long term capital gains steuerbar, aber nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 InvStG steuerfrei seien, räume aber an anderer Stelle ein, dass die Erträge durchaus steuerpflichtig sein könnten, wenn es sich um Zinsen, Dividenden, Mieten oder Veräußerungsgewinne aus Immobilien innerhalb der Zehnjahresfrist handele. Allein diese Widersprüche zeigten, dass es weder der Klägerin noch der deutschen Finanzverwaltung möglich sei, an Hand der vorliegenden Unterlagen die nach deutschem Steuerrecht steuerpflichtigen Einkünfte zu ermitteln.
34Der Vortrag der Klägerin, dass es sich bei dem Fonds um einen thesaurierenden Fonds handele sei nicht nachvollziehbar. In den Abrechnungen gehe es um „income“ (Einkommen) und „reinvestment“ (Wiederanlage). Damit seien die Beträge zugeflossen und wiederangelegt und damit steuerpflichtig. Dies sei offensichtlich auch nach amerikanischem Steuerrecht der Fall, da sowohl für die dividends als auch für die short term capital gains Quellensteuer einbehalten worden sei.
35Nach dem zwischenzeitlichen Ruhen des Verfahrens führt der Beklagte ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen noch Folgendes aus:
36Bei dem Fonds handele es sich um einen amerikanischen Investmentfonds. Mangels anderer Erkenntnisse könne unterstellt werden, dass die Voraussetzungen der § 2 Abs. 8 und 9 InvG erfüllt seien.
37Durch das Investmentsteuerreformgesetz vom 19.07.2016 sei § 6 InvStG um einen Absatz 2 ergänzt worden. Hiernach sei abweichend von der Pauschalbesteuerung § 5 Abs. 1 Satz 2 InvStG anzuwenden, wenn der Anleger die Besteuerungsgrundlagen i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 (mit Ausnahme der Buchstaben c und f) InvStG erkläre und die Richtigkeit der Angaben vollständig nachweise (§ 6 Abs. 2 Satz 1 InvStG). Als Nachweis könne insbesondere eine Berufsträgerbescheinigung darüber dienen, dass die Besteuerungsgrundlagen nach den Regeln des deutschen Steuerrechts ermittelt worden seien (§ 6 Abs. 2 Satz 2 InvStG). Diese Regelung sei in allen offenen Fällen anzuwenden (§ 22a Abs. 2 InvStG). Unabhängig von der Gesetzesänderung seien in Fällen, in denen eine von § 6 Abs. 1 InvStG abweichende Besteuerung beantragt werde, die im BMF-Schreiben vom 23.05.2016 geforderten Unterlagen vollständig anzufordern. Im Streitfall seien bisher keine Besteuerungsgrundlagen nach § 5 Abs. 1 Satz 1 InvStG ermittelt und nachgewiesen worden. Darüber hinaus fehle die Bestätigung, dass die Besteuerungsgrundlagen nach den Regeln des deutschen Steuerrechts ermittelt worden seien (sog. Berufsträgerbescheinigung). Das von der Klägerin vorgelegte Tax-Reporting entspreche nicht der geforderten Berufsträgerbescheinigung. Das Tax-Reporting enthalte auf der ersten Seite den Hinweis, dass es hypothetisch erstellt worden sei unter der Annahme, dass es sich bei dem Fonds um einen Exchange Traded Fund handele. Diese Einschränkung spreche dagegen, dass für das Tax Reporting sämtliche Unterlagen vorgelegen hätten. Außerdem sei nicht erkennbar, welcher Berufsträger für die Einkünfteermittlung verantwortlich sei.
38In allen Fällen, in denen die erklärten Besteuerungsgrundlagen nicht zumindest durch eine Berufsträgerbescheidung nachgewiesen worden seien, sei an der Pauschalbesteuerung festzuhalten, sofern nicht sämtliche andere im BMF-Schreiben vom 23.05.2016 genannten Unterlagen vorgelegt würden. Dies sei hier jedoch nicht der Fall. Es fehlten die Summen- und Saldenliste aus der Fondsbuchhaltung, die Anlage für die Gewinn und Verlustvorträge bezogen auf die einzelnen Ertragsarten sowie eine Überleitungsrechnung, aus der hervorgehe, wie aus der investmentrechtlichen Rechnungslegung die Besteuerungsgrundlagen nach den Regeln des deutschen Steuerrechts ermittelt worden seien. Ohne diese Unterlagen sei eine Überprüfung der Besteuerungsgrundlagen nicht möglich. Die Summen- und Saldenliste sei hinsichtlich der einzelnen Erträge und Aufwendungen wesentlich dezidierter als die Erträgnisaufstellungen. Ebenso könne auf die Vorlage der Anlage für die Gewinn- und Verlustvorträge nicht verzichtet werden. Die Verlustvorträge seien für eine geschäftsjahrübergreifende Verlustverrechnung i.S.d. § 3 Abs. 4 Satz 2 InvStG erforderlich. Die Gewinnvorträge seien zur Bestimmung der ausschüttbaren Erträge im Sinne des Investmentsteuerrechts bei Substanzausschüttungen maßgeblich.
39Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
40Der Senat hat am 27.09.2017 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, auf deren Protokoll Bezug genommen wird.
41Die Beteiligten haben jeweils ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe
42I. Die Klage, über die aufgrund der übereinstimmenden Einverständnisse der Beteiligten ohne Durchführung einer (weiteren) mündlichen Verhandlung gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) entschieden werden konnte, hat keinen Erfolg. Der Einkommensteuerbescheid für 2007 vom 02.02.2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.03.2010 ist jedenfalls nicht zu Lasten der Klägerin rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Einkünfte der Klägerin aus Kapitalvermögen aus dem G Fund sind zu Recht nach § 6 Abs. 1 InvStG ermittelt worden.
431. Das InvStG ist im Streitfall anzuwenden. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 InvStG sind erfüllt.
44a. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 InvStG in der im Streitjahr anwendbaren Fassung ist das InvStG anzuwenden auf ausländisches Investmentvermögen und ausländische Investmentanteile i.S.d. § 2 Abs. 8 und 9 InvG.
45Etwas anderes folgt nicht aus § 22 Abs. 1 Satz 1 InvStG in der Fassung des Gesetzes zur Anpassung des Investmentsteuergesetz und anderer Gesetze an das AIFM-Umsetzungsgesetz (AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz) vom 18.12.2013, BGBl. I 2013, 4318, nach dem die Vorschriften des InvStG in der Fassung des Art. 1 des AIFM-Steuer-Anpassungsgesetzes ab dem 24.12.2013 anzuwenden sind. Aus dem AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz folgt keine rückwirkende Anwendung auf das Streitjahr. Gemäß Art. 16 AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz tritt dieses Gesetz am Tag nach der Verkündung in Kraft.
46Gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 InvStG sind die Begriffsbestimmungen in § 1 Satz 2 und § 2 InvG anzuwenden.
47Ausländische Investmentanteile sind gemäß § 2 Abs. 9 InvG in der bis zum 27.12.2007 geltenden Fassung Anteile an ausländischen Investmentvermögen, die von einem Unternehmen mit Sitz im Ausland ausgegeben werden (ausländische Investmentgesellschaft). Gemäß der aufgrund der Änderung durch Art. 1 Abs. 3 des Gesetzes zur Änderung des Investmentgesetzes und zur Anpassung anderer Vorschriften (Investmentänderungsgesetz) vom 21.12.2007, BGBl. I 2007, 3089, ab dem 28.12.2007 geltenden Fassung von § 2 Abs. 9 InvG ist zudem erforderlich, dass der Anleger verlangen kann, dass ihm gegen Rückgabe des Anteils sein Anteil an dem ausländischen Investmentvermögen ausgezahlt wird, oder dass der Anleger kein Recht zur Rückgabe der Anteile hat, aber die ausländische Investmentgesellschaft in ihrem Sitzstaat einer Aufsicht über Vermögen zur gemeinschaftlichen Kapitalanlage unterstellt ist. Nach § 18 Abs. 11 InvStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2008 (JStG 2008) vom 20.12.2007, BGBl. I 2007, 3150, gelten Anteile an ausländischen Vermögen, die zwar ausländische Investmentanteile gemäß § 2 Abs. 9 InvG in der bis zum nicht aber in der seit dem Inkrafttreten des Investment Steueränderungsgesetzes vom 21.12.2007 geltenden Fassung sind, für die Anwendung des § 6 InvStG bis zum 31.12.2007 weiterhin als ausländische Investmentanteile.
48Ausländische Investmentvermögen sind gemäß § 2 Abs. 8 Satz 1 InvG in der im Streitjahr anwendbaren Fassung Investmentvermögen i.S.d. § 1 Satz 2 InvG, die dem Recht eines anderen Staates unterstehen. Investmentvermögen i.S.d. § 1 Satz 2 InvG sind Vermögen zur gemeinschaftlichen Kapitalanlage, die nach dem Grundsatz der Risikomischung in Vermögensgegenständen i.S.d. § 2 Abs. 4 InvG (u.a. Wertpapiere, Geldmarktinstrumente, Derivate, Bankguthaben, Grundstücke, Beteiligungen an Gesellschaften) angelegt sind. Nach § 2 Abs. 8 Satz 2 InvG gilt der Grundsatz der Risikomischung für ausländische Investmentvermögen auch dann als gewahrt, wenn das Investmentvermögen in nicht nur unerheblichem Umfang Anteile an einem oder mehreren anderen Vermögen enthält und diese andere Vermögen unmittelbar oder mittelbar nach dem Grundsatz der Risikomischung angelegt sind.
49b. Im Streitfall sind die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 2 InvStG i.V.m. § 2 Abs. 9 InvG erfüllt. Die von der Klägerin gehaltenen Anteile an dem Fonds sind ausländische Investmentanteile.
50aa. Diese Anteile sind von der den Fonds betreibenden Gesellschaft als Unternehmen mit Sitz in den USA ausgegeben worden.
51bb. Dieser Fonds stellt ausländisches Investmentvermögen i.S.d. § 2 Abs. 8 Satz 1 i.V.m. § 1 Satz 2 InvG dar.
52(1) Der Fonds ist Investmentvermögen i.S.d. § 1 Satz 2 InvG. Es handelt sich um Vermögen zur gemeinschaftlichen Kapitalanlage, das nach dem Grundsatz der Risikomischung in Vermögensgegenständen i.S.d. § 2 Abs. 4 InvG angelegt ist.
53Der Fonds stand einem von vornherein nicht begrenzten Personenkreis zu Anlagezwecken zur Verfügung, war mithin zur gemeinschaftlichen Kapitalanlage bestimmt und geeignet. Die Klägerin trägt selbst vor, dass es sich um einen sog. Publikumsfonds gehandelt hat.
54Dabei ist das Vermögen des Fonds nach dem Grundsatz der Risikomischung in Vermögensgegenständen i.S.d. § 2 Abs. 4 InvG angelegt gewesen.
55Weder das InvG noch das InvStG konkretisieren den unbestimmten Rechtsbegriff „Grundsatz der Risikomischung“.
56Nach Auffassung der BaFin liegt eine Risikomischung regelmäßig vor, wenn das Vermögen in mehr als drei Vermögensgegenstände mit unterschiedlichen Anlagerisiken angelegt ist (BaFin, Rundschreiben 14/2008 (WA) vom 22.12.2008, WA 41 - Wp 2136 - 2008/0001, abgedruckt als Anhang 7 zum BMF-InvSt-Erlass).
57Nach Auffassung der Finanzverwaltung, der auch die Klägerin in der Klagebegründung zustimmt, ist der Auslegung des § 1 Satz 2 und § 2 InvG durch die BaFin in deren Rundschreiben vom 22.12.2008 auch für das Steuerrecht zu folgen (BMF-InvSt-Erlass, Rn. 5).
58Auch der erkennende Senat legt den unbestimmten Rechtsbegriff „Grundsatz der Risikomischung“, anknüpfend an die von der BaFin aufgestellten Kriterien, dahingehend aus, dass eine Risikomischung regelmäßig vorliegt, wenn das Vermögen in mehr als drei Vermögensgegenstände mit unterschiedlichen Anlagerisiken angelegt ist.
59Zum einen steht eine solche Auslegung im Einklang mit der Systematik des InvStG. Das InvStG knüpft bewusst an die Begriffsbestimmung des Aufsichtsrechts an, wie der Verweis in § 1 Nr. 2 und § 1 Abs. 2 Satz 1 InvStG auf das InvG zeigt. Zum anderen stimmt eine solche Auslegung mit der Rechtsentwicklung im Bereich des Investmentsteuerrechts überein. Gemäß § 26 Nr. 3 InvStG in der Fassung vom 11.12.2018 liegt eine Risikomischung regelmäßig vor, wenn das Vermögen in mehr als drei Vermögensgegenstände mit unterschiedlichen Anlagerisiken angelegt ist; der Grundsatz der Risikomischung gilt als gewahrt, wenn der Investmentfonds in nicht nur unerheblichem Umfang Anteile an einem oder mehreren anderen Investmentfonds hält und diese anderen Investmentfonds unmittelbar oder mittelbar nach dem Grundsatz der Risikomischung angelegt sind. Für eine solche Auslegung streitet auch der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Nach § 262 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Kapitalanlagegesetzbuch (KAGB) gilt der Grundsatz der Risikomischung i.S.d. § 262 Abs. 1 Satz 1 KAGB als erfüllt, wenn entweder in mindestens drei Sachwerte i.S.d. § 261 Absatz 2 KAGB investiert wird und die Anteile jedes einzelnen Sachwertes am aggregierten eingebrachten Kapital und noch nicht eingeforderten zugesagten Kapital des Alternativen Investmentfonds, berechnet auf der Grundlage der Beträge, die nach Abzug sämtlicher direkt oder indirekt von den Anlegern getragener Gebühren, Kosten und Aufwendungen für Anlagen zur Verfügung stehen, im Wesentlichen gleichmäßig verteilt sind.
60Ein solches Auslegungsverständnis hatte auch der Gesetzgeber im Rahmen des Gesetzes über den Vertrieb ausländischer Investmentanteile und über die Besteuerung der Erträge aus ausländischen Investmentanteilen (AuslInvestmG). Nach seiner Auffassung bedeute Risikomischung im Rahmen des § 1 Abs. 1 AuslInvestmG, dass die der Investmentgesellschaft zufließenden Gelder in einer Vielzahl von Wertpapieren oder Grundstücken oder beiden angelegt werden (BT-Drs. V/3494, S. 17; dem sich anschließend BFH, Beschluss vom 14.09.2005, VIII B 40/05, juris; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16.10.1979, I C 14.75, juris).
61Unter Zugrundelegung dieser Rechtsauslegung hat der Fonds im Streitfall den Grundsatz der Risikomischung gewahrt. Das Vermögen des Fonds ist in mehr als drei Vermögensgegenstände mit unterschiedlichen Anlagerisiken angelegt gewesen. Ausweislich des von der Klägerin vorgelegten Annual report for the fiscal year ended november 30, 2007, des Fonds (insb. S. 16 – 18, „schedule of investsments“) ist das fast sieben Milliarden US-Dollar umfassende Vermögen des Fonds zum 30.11.2007 zu mehr als 90% in einer Vielzahl von Wertpapieren (§ 2 Abs. 4 Nr. 1 InvG) unterschiedlicher Branchen und Herkunftsländer, Geldmarktinstrumenten (§ 2 Abs. 4 Nr. 2 InvG) und Immobilien-Gesellschaften (§ 2 Abs. 4 Nr. 6 InvG) angelegt gewesen. Dabei hält der Fonds auch Anteile an anderen diversifizierten Beteiligungsgesellschaften, sog. „diversified holding companies“. Lebensnah ist zudem davon auszugehen, dass der Fonds ein Bankkonto mit Bankguthaben (§ 2 Abs. 4 Nr. 6 InvG) führt.
62Entgegen der klägerischen Auffassung ist der streitgegenständliche Fonds nicht von der im BMF-InvSt-Erlass vorgesehenen Bereichsaufnahme für Private-Equity-Fonds bzw. der Bereichsausnahme für Venture-Capital-Fonds erfasst. Zwar ist in dem BMF-InvSt-Erlass ausgeführt, dass ein Investmentvermögen i.S.d. § 1 Satz 2 InvG nicht vorliegen solle, wenn das Vermögen in beachtlichem Umfang auf die Anlage der Mittel in Unternehmensbeteiligungen oder anderer Vermögensgegenständen (z.B. Aktien) gerichtet ist, deren Wert durch eine aktive unternehmerische Tätigkeit gesteigert werden soll. Jedoch sind im Streitfall keine vernünftigen Gründe für eine solche aktive unternehmerische Tätigkeit des Fonds hinsichtlich der verschiedenen Beteiligungen ersichtlich.
63(2) Dieses Investmentvermögen, d.h. der Fonds, untersteht dem Recht der U.S.A., d.h. einem anderen Staat.
64dd. Da die Voraussetzungen des § 2 Abs. 9 InvG in der bis zum 27.12.2007 geltenden Fassung erfüllt sind, kann im Streitfall dahinstehen, ob die streitgegenständlichen Anteile die zusätzlichen Anforderungen des § 2 Abs. 9 InvG in der Fassung des Investmentänderungsgesetzes erfüllen. Gemäß § 18 Abs. 11 InvStG in der Fassung des JStG 2008 gelten Anteile an ausländischen Vermögen, die zwar ausländische Investmentanteile gemäß § 2 Abs. 9 InvG in der bis zum, nicht aber in der seit dem Inkrafttreten des Investmentänderungsgesetzes geltenden Fassung sind, wie im Streitfall, für die Anwendung des § 6 InvStG bis zum 31.12.2007 weiterhin als ausländische Investmentanteile.
652. Die Kapitalerträge der Klägerin aus dem Fonds sind nach § 6 Abs. 1 InvStG zu ermitteln.
66a. § 6 Abs. 1 InvStG in der Fassung des Art. 2 Abs. 5 Gesetz zur Reform der Investmentbesteuerung (Investmentsteuerreformgesetz) vom 19.07.2016, BGBl. I 2016, 1730, ist anzuwenden, wenn die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 InvStG, der verschiedene Bekanntmachungspflichten der Investmentgesellschaft normiert, nicht erfüllt sind.
67Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 InvStG, der als gesetzgeberische Reaktion auf das Urteil des EuGH vom 09.10.2014 C-326/12 Rs. van Caster, BFH/NV 2014, 2029, durch das Investmentsteuerreformgesetz eingeführt worden ist und gemäß § 22a Abs. 2 InvStG in der Fassung des Investmentsteuerreformgesetzes in allen Fällen anzuwenden ist, in denen die Steuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist, ist abweichend von § 6 Abs. 1 InvStG bei Erträgen aus Investmentfonds § 5 Abs. 1 Satz 2 InvStG anzuwenden, wenn der Anleger bis zur Bestandskraft seiner Steuerfestsetzung die Besteuerungsgrundlagen i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1 InvStG mit Ausnahme der Buchstaben c) und f) erklärt und die Richtigkeit der Angaben vollständig nachweist. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 InvStG kann als Nachweis insbesondere eine Bescheinigung eines zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung befugten Berufsträgers im Sinne des § 3 des Steuerberatungsgesetzes (StBerG), einer behördlich anerkannten Wirtschaftsprüfungsstelle oder einer vergleichbaren ausländischen Person oder Institution dienen, dass die Besteuerungsgrundlagen nach den Regeln des deutschen Steuerrechts ermittelt wurden. Weist der Anleger auch die Besteuerungsgrundlagen nach § 5 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstaben c) und f) InvStG nach, finden gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 InvStG die §§ 2 und 4 InvStG Anwendung.
68b. Im Streitfall liegen die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 InvStG vor.
69Der Fonds, an dem die Klägerin beteiligt gewesen ist, hat die Anforderungen des § 5 Abs. 1 InvStG nicht erfüllt. Der Fonds hat, was auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist, im Streitjahr jedenfalls die in § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InvStG genannten Angaben nicht wie von § 5 Abs. 1 Nr. 3 InvStG vorgeschrieben, spätestens vier Monate nach Ablauf des Geschäftsjahres im Bundesanzeiger bekannt gemacht.
70Von der Anwendung des § 6 Abs. 1 InvStG ist im Streitfall auch nicht nach § 6 Abs. 2 Satz 1 InvStG abzusehen. § 6 Abs. 2 Satz 1 InvStG ist im Streitfall nach § 22a Abs. 2 InvStG anwendbar, da im Streitfall die Steuer für das Streitjahr noch nicht bestandskräftig festgesetzt worden ist. Die Klägerin hat nicht die Besteuerungsgrundlagen i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InvStG in der Fassung des Investmentsteuerreformgesetzes mit Ausnahme der Buchstaben c) und f) erklärt und die Richtigkeit der Angaben nicht vollständig nachgewiesen. Dabei ist § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InvStG in der Fassung des Investmentsteuerreformgesetzes anzuwenden. Dies folgt mittelbar aus dem Verweis in § 22a Abs. 2 InvStG über § 6 InvStG, zumal nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Bekanntmachungs- bzw. Erklärungsanforderungen des § 5 InvStG, die der Anleger zu erfüllen hat, je nach Streitjahr unterschiedlich sein sollen.
71Unabhängig davon, ob die Klägerin durch die vorgelegten monatlichen Depotauszüge, Investment Reports, von Januar bis Dezember 2007 die Ausschüttungen i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a) InvStG erklärt und die Richtigkeit vollständig nachgewiesen hat, fehlen jedenfalls Angaben zu den in der Ausschüttung enthaltenen ausschüttungsgleichen Erträgen der Vorjahre und Substanzbeträgen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a) Doppelbuchstaben aa) und bb) InvStG). Zudem fehlen Angaben zu den nach § 5 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstaben d), g) und h) InvStG erforderlichen Informationen.
72Weder die das Streitjahr betreffenden Investment Reports der Fondsgesellschaft noch der Jahresbericht des Fonds für das am 30.11.2007 beendete Geschäftsjahr (Annual report for the fiscal year ended november 30, 2007) enthalten hierzu (die Klägerin betreffende spezifische) Angaben. Auch das von der Klägerin mit Schriftsatz vom 07.12.2010 vorgelegte (nicht unterzeichnete) Tax Reporting der C AG macht hierzu keine Angaben. Bei dem Tax Reporting handelt es sich unabhängig davon auch nicht um eine Bescheinigung i.S.d. § 6 Abs. 2 Satz 2 InvStG eines zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung befugten Berufsträgers i.S.d. § 3 StBerG, einer behördlich anerkannten Wirtschaftsprüfungsstelle oder einer vergleichbaren ausländischen Person oder Institution, dass die Besteuerungsgrundlagen nach den Regeln des deutschen Steuerrechts ermittelt wurden. Das folgt schon daraus, dass das Tax reporting nach den dort gemachten Angaben nur hypothetisch unter der Annahme, dass es sich um einen Exchange Traded Fund handele, erstellt wurde. Die vermeintlichen Nachweise im Schreiben vom 20.05.2010, auf die von der Klägerin verwiesen wird, sind keine. So ist der Hinweis, dass die ausschüttungsgleichen Erträge den auf der Homepage des Fonds abrufbaren Jahresabschlüssen des Fonds entnommen werden kann, nicht nachvollziehbar und stellt letztlich einen Antrag auf Beweiserhebung „ins Blaue hinein“ dar.
73c. Die im Streitfall gemäß § 6 Abs. 1 InvStG zu ermittelnden Kapitalerträge der Klägerin betragen 138.170,68 €.
74aa. Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 InvStG sind beim Anleger die Ausschüttungen auf Investmentanteile, der Zwischengewinn sowie 70 Prozent des Mehrbetrags anzusetzen, der sich zwischen dem ersten im Kalenderjahr festgesetzten Rücknahmepreis und dem letzten im Kalenderjahr festgesetzten Rücknahmepreis eines Investmentanteils ergibt; mindestens sind 6 Prozent des letzten im Kalenderjahr festgesetzten Rücknahmepreises anzusetzen. Wird kein Rücknahmepreis festgesetzt, tritt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 InvStG an seine Stelle der Börsen- oder Marktpreis. Der nach § 6 Abs. 1 Satz 1 InvStG anzusetzende Teil des Mehrbetrags gilt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3 InvStG mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahres als ausgeschüttet und zugeflossen.
75Ausschüttungen sind gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 InvStG die dem Anleger tatsächlich gezahlten oder gutgeschriebenen Beträge einschließlich der einbehaltenen Kapitalertragsteuer.
76bb. Im Streitfall betragen die nach § 6 Abs. 1 Satz 1 InvStG zu ermittelnden Kapitalerträge 138.170,68 €.
77Die Ausschüttungen betragen 37.062,72 € bzw. 53.314,72 $. Ausweislich des Investment Reports für Dezember 2007 hat die Klägerin im Streitjahr, neben der Gutschrift aus dem core account selbst i.H.v. 0,11 $, am 19.12.2007 Gutschriften aus dem Fonds i.H.v. 53.314,72 $ erhalten. Diese Summe, gerundet auf den nächsten vollen Dollarbetrag, folgt auch aus den Bescheinigungen des S Service …. Dabei ist unerheblich, dass die Kläger diese Gutschriften (teilweise) in neue Anteile an dem Fonds reinvestiert hat (48.131,00 $ mit dem Buchungstext: „Securities bought“ und 5.183,72 $ mit dem Buchungstext: „Other disbursements“). Die Klägerin hat über den gesamten Betrag verfügt. Aus dem Prospekt des Fonds ergibt sich unter der Überschrift „Dividends and Distributions“, dass die Anleger ein Wahlrecht haben, ob die distributions bar ausgezahlt oder in neue Anteile angelegt werden. Die Umschichtung gutgeschriebener Erträge der Klägerin in neue Investmentanteile kann aufgrund einer Novation jeweils zu einer gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 InvStG zugeflossenen Ausschüttung führen (BFH, Urteil vom 17.11.2015 VIII R 27/12 BStBl. II 2016 539; BFH, Urteil vom 11.02.2014 VIII R 25/12, BStBl. II 2014, 461). Unter Berücksichtigung des Wechselkurses vom 19.12.2007 als maßgeblichen Zuflusszeitpunkt (vgl. BFH, Urteil vom 03.12.2009 VI R 4/08, BStBl. II 2010, 698) von 1,00 € zu 1,4385 $ ergibt sich eine Ausschüttung i.H.v. 37.062,72 €.
78Ein Zwischengewinn i.S.d. § 1 Abs. 4 InvStG ist im Streitfall nicht ersichtlich.
79Der Mindestbetrag i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 InvStG beträgt 101.107,96 €. Dieser Betrag ist im Streitfall zu berücksichtigen, da er den Mehrbetrag i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 InvStG übersteigt.
80Der 70%ige Anteil des Mehrbetrages i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 InvStG beträgt 2.688,30 €. Für die Ermittlung dieses Betrages sind der erste und letzte im Kalenderjahr festgesetzte Rücknahmepreis als insoweit maßgebliche Bemessungsgrundlagen zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entstehung, d.h. Festsetzung, in Euro umzurechnen (vgl. BFH, Urteil vom 24.01.2012 IX R 62/10 BStBl. II 2012, 564; Beschluss vom 06.11.2015 IX B 54/15, juris). Die Differenz zwischen dem ersten im Kalenderjahr festgesetzten Rücknahmepreis am 02.01.2007 i.H.v. 28,57 $ (https://finance.yahoo.com/quote/ FAIRX?p=FAIRX, zuletzt abgerufen am 04.08.2020), d.h. unter Berücksichtigung des Wechselkurses vom 23.09.2007 von 1,00 € zu 1,3231$ umgerechnet 21,593228 €, und dem letzten im Kalenderjahr festgesetzten Rücknahmepreis am 31.12.2007 i.H.v. 31,86 $ (https://finance.yahoo.com/quote/FAIRX?p=FAIRX, zuletzt abgerufen am 23.09.2020), d.h. unter Berücksichtigung des Wechselkurses vom 31.12.2007 von 1,00 € zu 1,4721 $ umgerechnet 21,6425515 € beträgt mithin 0,04932343 € (21,6425515 € ./. 21,593228 €), davon 70% mithin 0,0345264 €. Unter Berücksichtigung der Anzahl der von der Klägerin ausweislich des Investment Report von Dezember 2007 am 31.12.2007 gehaltenen Investmentanteile von 77.862,012 ergibt sich ein Betrag i.H.v. 2.688,30 €.
81Dieser nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 InvStG ermittelte Betrag bleibt jedoch hinter dem sog. Mindestbetrag des § 6 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 InvStG zurück. Nach letztgenannter Norm sind mindestens 6 Prozent des letzten im Kalenderjahr festgesetzten Rücknahmepreises anzusetzen. Im Streitfall ergibt sich unter Zugrundelegung des letzten im Kalenderjahr festgesetzten Rücknahmepreises am 31.12.2007 i.H.v. 31,86 $ und der von der Klägerin am 31.12.2007 gehaltenen Investmentanteile von 77.862,012 ein Mindestbetrag i.H.v. 148.841,02 $ bzw. unter Anwendung des Wechselkurses vom 31.12.2007 von 1,00 € zu 1,4721 $ ein Betrag i.H.v. 101.107,96 €.
82d. Entgegen der klägerischen Auffassung scheidet eine individuelle Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO aus. Die Regelung in § 6 Abs. 1 InvStG ordnet eine pauschale Ermittlung der Erträge an, die, soweit kein abweichender Nachweis nach § 6 Abs. 2 InvStG geführt wird, keinen Raum für eine individuelle Schätzung der Besteuerungsgrundlagen lässt (BFH, Urteil vom 15.05.2019, VIII R 31/16, BStBl. II 2019, 562).
83e. § 6 Abs. 1 InvStG ist auch im Streitfall anzuwenden. Die Norm ist verfassungsgemäß, verstößt insbesondere nicht gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen des Bundesfinanzhofs in seinen Urteilen vom 15.05.2019, VIII R 31/16, BStBl. II 2019, 562, und vom 28.07.2015, VIII R 2/09, BStBl. II 2016, 447, verwiesen, denen sich der erkennende Senat anschließt.
84Die Norm ist insbesondere nach Einführung von § 6 Abs. 2 Satz 1 InvStG als gesetzgeberischer Reaktion auf das Urteil des EuGH vom 09.10.2014 C-326/12 Rs. van Caster, BFH/NV 2014, 2029, der im Streitfall nach § 22a Abs. 2 InvStG in der Fassung des Investmentsteuerreformgesetzes auch anzuwenden ist, da die Steuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt worden ist, europarechtskonform (vgl. auch BFH, Urteil vom 15.05.2019, VIII R 31/16, BStBl. II 2019, 562).
853. Die auf die Einkommensteuerfestsetzung anzurechnenden, in den U.S.A. auf die Kapitalerträge bereits einbehaltenen Steuern betragen 3.603,56 €. Ausweislich des Investment Report von Dezember 2017 hat die Klägerin am 19.12.2007 in den U.S.A. Steuern (sog. Federal Tax Withheld) i.H.v. 5.183,72 $ gezahlt. Unter Berücksichtigung des Wechselkurses vom 19.12.2007 als Abflusszeitpunkt von 1,00 € zu 1,4385 $ ergibt sich ein Betrag i.H.v. 3.603,56 €.
864. Aufgrund des im finanzgerichtlichen Verfahren bestehenden Verböserungsverbots sind die in dem streitgegenständlichen Bescheid berücksichtigten Einkünfte aus Kapitalvermögen der Klägerin aus dem Fonds i.H.v. 134.547,00 € nicht auf den aus den vorstehenden Ausführungen folgenden Betrag i.H.v. 138.170,68 € zu erhöhen. Ebenso wenig sind jedoch die in den U.S.A. auf die Kapitalerträge einbehaltenen Steuern i.H.v. 3.603,56€ im Gegensatz zu dem in dem Einkommensteuerbescheid 2007 berücksichtigten Betrag i.H.v. 3.534,00 €, erhöhend zu berücksichtigen. Insoweit wird ein möglicher Klageerfolg unter Anwendung von § 177 AO kompensiert.
87II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
88III. Die Revision war nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die im Streitfall zu klärenden Rechtsfragen sind nicht mehr aktuell, weil sie ausgelaufenes Recht betreffen (vgl. BFH, Beschluss vom 27.07.2014 XI B 42/04, juris). Aufgrund der seit dem Streitjahr 2007 vergangenen langen Zeit ist nicht anzunehmen, dass die Streitfragen noch für eine Vielzahl von Fällen entscheidungserheblich sind, mithin trotz des ausgelaufenen Rechts eine grundsätzliche Bedeutung anzunehmen ist. Zudem betrifft die im Streitfall aufgeworfene Rechtsfrage hinsichtlich der Anwendbarkeit des InvStG im Jahr 2007 den konkreten Einzelfall. Die Rechtsfrage nach der Auslegung des Begriffes des „Grundsatzes der Risikomischung“ ist durch Einführung des § 26 Nr. 3 InvStG hinsichtlich der neuen Rechtslage geklärt.
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Tenor
1.
Das Verfahren wird gem. § 33a StPO in die Lage zurückversetzt, die vor dem Senatsbeschluss vom 30.07.2020 bestand. Der Senatsbeschluss vom 30.07.2020 ist damit gegenstandslos.
2.
Die sofortige Beschwerde wird aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses, die durch das Vorbringen des Verurteilten nicht ausgeräumt werden, auf dessen Kosten (§ 473 Abs. 1 StPO) als unbegründet verworfen.
1Zusatz:
2Der Senat hatte bei seiner Entscheidung vom 30.07.2020 versehentlich übersehen, dass die Frist des Verurteilten zur Stellungnahme zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft (ursprüngliches Fristende: 13.07.2020) bis zum 03.08.2020 verlängert worden war. Er hat deswegen das Vorbringen des Verurteilten aus dem innerhalb der verlängerten Frist eingegangenen Verteidigerschriftsatz vom 03.08.2020 nicht berücksichtigen können. Mit Schreiben vom 08.09.2020 hat der Senat auf diesen Umstand hingewiesen. Mit Verteidigerschriftsatz vom 21.09.2020 hat der Verurteilte auf seine Verteidigerstellungnahme vom 03.08.2020 verwiesen, was der Senat als Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs auslegt und deswegen das Verfahren in die Lage zurückversetzt, die vor dem o.g. Senatsbeschluss bestand.
3Das (weitere) Vorbringen des Verurteilten, welches sich im Wesentlichen auf die fehlende prognostische Wertung im angefochtenen Beschluss und die diesbezüglichen Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft bezieht, gibt dem Senat keinen Anlass zu einer abweichenden Bewertung. Er hat zu der ungünstigen Prognose bereits in seinem Beschluss vom 30.07.2020 Stellung genommen und bezieht sich nach erneuter Prüfung auf die seinerzeitigen Ausführungen.
4Diese lauteten:
5„Ergänzend bemerkt der Senat: Der Verurteilte ist während der Bewährungszeit erneut einschlägig straffällig geworden und deswegen rechtskräftig verurteilt worden. Mildere Mittel als der Widerruf (§ 56f Abs. 2 StGB) scheiden aus. Schon die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Rahmen der neuen Verurteilung belegt die ungünstige Prognose, die dem Verurteilten zu stellen ist.
6Entgegen der Ansicht der Verteidigung hindert die im neuen Verfahren angeordnete und inzwischen im Vollstreckungsstadium befindliche Sicherungsverwahrung auch nicht aus Verhältnismäßigkeitsgründen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung. Entgegen der Auffassung der Verteidigung wird ein „bereits begonnener therapeutischer Prozess“ nicht zwangsläufig durch die Unterbrechung der Maßregelvollstreckung durch Vollstreckung der Reststrafe in vorliegendem Verfahren unterbrochen. Das therapeutischen Betreuungsangebot nach § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB ist dem Verurteilten auch schon „im Strafvollzug“ zu unterbreiten. „Strafvollzug“ in diesem Sinne ist nicht nur der, der aufgrund einer Freiheitsstrafe erfolgt, die zugleich mit der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verhängte wurde, sondern jeder Strafvollzug. Der Wortlaut enthält keine Einschränkungen. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich eindeutig, dass der Gesetzgeber auch jede andere Freiheitsstrafe und auch Zwischenvollstreckungen von dem privilegierten Strafvollzug erfasst wissen wollte (BT-Drs. 17/9874 S. 18).“
7Diese Ausführungen gelten auch weiterhin.
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Tenor
Der Antrag auf Erlass einer Zwischenverfügung („Hängebeschluss“) wird abgelehnt.
Gründe
1 Der - sachdienlich ausgelegte - Antrag der Antragsteller vom 10.09.2020, im Wege einer Zwischenentscheidung bis zu Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO der Antragsgegnerin aufzugeben, sofortige Maßnahmen zur Einstellung der Baumaßnahmen zu ergreifen, hat keinen Erfolg.2 Ob eine Zwischenentscheidung in Form eines sogenannten Hängebeschlusses im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren auf Antrag eines Beteiligten oder von Amts wegen erforderlich ist, ist im Wege einer Interessenabwägung zu ermitteln (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.08.2012 - 7 VR 7.12 -, juris). Der Erlass eines Hängebeschlusses ist, wenn keine anderen überwiegenden Interessen eine sofortige Vollziehung der im Eilverfahren angegriffenen Bescheide erfordern (vgl. Guckelberger, NVwZ 2001, 275), zulässig und geboten, wenn der Eilantrag nicht von vornherein offensichtlich aussichtslos ist und ohne die befristete Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gefährdet wäre, weil irreversible Zustände oder schwere und unabwendbare Nachteile einzutreten drohen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 18.12.2015 - 3 S 2424/15 -, juris und vom 26.09.2017 - 2 S 1916/17 -, juris; HessVGH, Beschluss vom 28.04.2017 - 1 B 947/17 -, juris; OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 04.04.2017 - 3 M 195/17 -, juris; BVerfG, Kammerbeschluss vom 11.10.2013 - 1 BvR 2616/13 -, juris; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.10.2019 - 9 S 2643/19 -, juris).3 Der Antrag auf Erlass eines sogenannten Hängebeschlusses ist jedoch nur dann statthaft, wenn vom Antragsteller bestimmte prozessuale Anforderungen erfüllt worden sind. Kann er so frühzeitig einstweiligen Rechtsschutz beantragen, dass der nunmehr beklagte Zeitdruck nicht, jedenfalls nicht in diesem Maße, entstanden wäre, so scheidet eine Berufung auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und damit eine Zwischenentscheidung aus. Denn die Rechtschutzgarantie befreit einen Petenten nicht davon das in seiner Macht Stehende zu tun, um eine solchen Zeitdruck erst gar nicht entstehen zu lassen (Nds. OVG, Beschluss vom 03.12.2008 - 1 MN 257/08 -, juris Rn. 16; vgl. auch VG Wiesbaden, Beschluss vom 09.12.2003 - 4 G 2952/03 -, juris).4 Dieser Verpflichtung sind die Antragsteller nicht nachgekommen.5 Ausweislich der beigezogenen Behördenakten haben die Antragsteller bereits am 02.09.2019 Widerspruch gegen die Baugenehmigung vom 02.04.2019 (Az.: ...) eingelegt (vgl. S. 23 der Behördenakte). Zu diesem Zeitpunkt wäre es ihnen auch möglich und zumutbar gewesen, einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bei Gericht zu stellen. Gleichwohl haben die Antragsteller bis zum 24.08.2020 zugewartet. Dem damaligen Bevollmächtigten der Antragsteller hätte auch bewusst sein müssen, dass besondere Eile geboten ist. Spätestens nach Einsicht in die Behördenakte im September 2019 (vgl. den Schriftsatz vom 10.09.2019, S. 25 der Behördenakte) hätten er erkennen können, dass die Antragsgegnerin dem Beigeladenen bereits am 24.06.2019 die Baufreigabe erteilt hat (vgl. S. 19 der Behördenakte). Die Antragsteller können sich nicht darauf berufen, nun von einem anderen (Prozess-)bevollmächtigten vertreten zu werden. Sie müssen sich insoweit das Verschulden des vormaligen Bevollmächtigten zurechnen lassen. Die Antragsteller haben den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auch nicht gleich nach Baubeginn gestellt. Wie aus den Lichtbildern im Antragsschriftsatz vom 24.08.2020 hervorgeht, hatten zum Zeitpunkt der Antragstellung schon umfangreiche Bauarbeiten stattgefunden. So ist das vorher auf dem Grundstück des Beigeladenen befindliche Wohnhaus zu diesem Zeitpunkt bereits abgebrochen gewesen. Auch die Bodenplatte und das Untergeschoss waren bereits in weiten Teilen fertiggestellt.6 Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da die durch das Verfahren auf Erlass einer Zwischenverfügung entstehenden Kosten Kosten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO sind (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.10.2019 - 9 S 2643/19 -, juris). | {
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Tatbestand
1
Der Kläger, Insolvenzverwalter über das Vermögen der früheren Klägerin und jetzigen Insolvenzschuldnerin, wendet sich gegen einen Einfuhrabgabenbescheid über Zoll und Einfuhrumsatzsteuer.
2
Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin war... Seit dem 1. Juli 2006 betrieb sie u.a. ein vom früheren HZA Hamburg-1 am 27. Juni 2006 bewilligtes privates Zolllager des Typs C am A in Hamburg. Lagerkunde war im Wesentlichen ein Logistik- und Transportunternehmen, das im Auftrag überwiegend ... Unternehmen in Fernost gekaufte Nichtgemeinschaftswaren für den Weiterverkauf nach Osteuropa auf dem Seeweg in die Freizone Hamburg brachte. Dieses hatte die Insolvenzschuldnerin beauftragt, die in Hamburg eintreffenden und für die Wiederausfuhr bestimmten Waren in ihr (Transit-)Zolllager einzulagern. Zu diesem Zweck gab die Insolvenzschuldnerin bei den zuständigen Zollstellen vereinfachte Zollanmeldungen zur Überführung der Waren in das Zollverfahren "Zolllager Typ C" ab. Aufgrund der Teilnahme am ATLAS-Verfahren erfolgten Überführungen von Waren in das Zolllagerverfahren automatisch und unmittelbar. Gleiches galt wegen einer Schnittstelle zwischen dem ATLAS-Verfahren und dem von der Insolvenzschuldnerin verwendeten Programm für die Anschreibungen in den Bestandsaufzeichnungen.
3
Nach einer durchschnittlichen Lagerdauer von mehr als 6 Wochen unterrichtete das Logistik- und Transportunternehmen die Insolvenzschuldnerin über den Weiterverkauf von Waren, woraufhin die Insolvenzschuldnerin aus dem vorhandenen Warenbestand die jeweiligen Sendungen kommissionierte. Diese wurden von in den Bestimmungsländern ansässigen Spediteuren mit eigenen Fahrzeugen am Lager übernommen und anschließend - dies ist unstreitig - aus dem Zollgebiet der Union ausgeführt. Die Insolvenzschuldnerin erstellte bei der Entnahme der Waren Zollanmeldungen für ihre Wiederausfuhr (i.d.R. Verfahren Carnet TIR oder gemeinschaftliches Versandverfahren T1).
4
Im Rahmen einer Zollprüfung des Zolllagers für den Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Dezember 2006 stellte der Beklagte fest, dass die Entfernung solcher Waren aus dem Zolllager am A wegen einer manuellen Datenübermittlung erst mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen in den EDV-geführten Bestandsaufzeichnungen angeschrieben worden war.
5
Aus diesem Grunde setzte er mit Einfuhrabgabenbescheid vom 1. Juli 2008 (XXX-1) Zoll i.H.v. ... € und Einfuhrumsatzsteuer i.H.v. ... € fest. Im Rahmen der Zollprüfung sei festgestellt worden, dass die in der Anlage 5 des Bescheids genannten Waren ohne sofortige Buchung in den Bestandsaufzeichnungen aus dem Zolllager entnommen worden seien. Nach der Entnahme seien die Waren einer zulässigen neuen zollrechtlichen Bestimmung zugeführt worden. Die Buchungen in den Bestandsaufzeichnungen seien jedoch erst 11 bis 126 Tage nach der Entnahme erfolgt. Die gemäß Art. 105 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, 1; Zollkodex - ZK) i.V.m. Art. 529 und 530 Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 253, 1; Zollkodex-Durchführungsverordnung - ZK-DVO) verspäteten Buchungen hätten sich auf die ordnungsgemäße Abwicklung des Zolllagerverfahrens ausgewirkt (Art. 859 ZK-DVO) und führten als Pflichtverletzung im Rahmen eines Zolllagerverfahrens zu einer Zollschuldentstehung nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK. Die Vorschriften für Zölle würden gemäß § 21 Abs. 2 UStG sinngemäß für die Einfuhrumsatzsteuer gelten.
6
Gegen den Bescheid legte die Insolvenzschuldnerin am 2. Juli 2008 Einspruch ein. Eine Zollschuld sei bereits deshalb nicht entstanden, weil sich der Verstoß gegen die Pflicht zur rechtzeitigen und nachvollziehbaren Buchung von Entnahmen aus dem Zolllager nicht gemäß Art. 204 Abs. 1 Unterabs. 2 ZK i.V.m. Art. 859 Nr. 6 ZK-DVO auf die ordnungsgemäße Abwicklung des Zolllagerverfahrens ausgewirkt habe. Die Einfuhrumsatzsteuer habe der Beklagte ebenfalls nicht festsetzen dürfen. Die streitgegenständlichen Waren seien wiederausgeführt worden und damit nicht in den inländischen Wirtschaftskreislauf eingegangen. Deshalb liege kein umsatzsteuerrechtlicher Einfuhrtatbestand vor. Verfehlungen nach Art. 204 Abs. 1 ZK beinhalteten keine zollrechtliche, verbrauchsteuerrechtliche oder umsatzsteuerrechtliche Einfuhr. Daher könne dieser Zollschuldentstehungstatbestand nicht nach § 21 Abs. 2 UStG sinngemäß herangezogen werden.
7
Mit dem Einspruchsschreiben beantragte die Insolvenzschuldnerin zudem die Aussetzung der Vollziehung. Der Beklagte setzte die Vollziehung im Folgenden mit Entscheidungen vom 3. Juli und 22. August 2008 gegen Sicherheitsleistung in Höhe des geforderten Zolls (... €) befristet bis einen Monat nach Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung aus.
8
Die Insolvenzschuldnerin erkannte die Prüfungsfeststellungen, die auch dem Bescheid vom 1. Juli 2018 zugrunde lagen, im Rahmen einer Schlussbesprechung am 10. Juli 2008 an. Sie habe das streitgegenständliche Zolllager einschließlich des Personals und des Hauptkunden von einem Hamburger Unternehmen wegen wirtschaftlicher Zwänge übernommen, was für sie zu einem enormen Anstieg an Zollanmeldungen und zunächst nicht erkannten Problemen mit der bei der Führung der Bestandsaufzeichnungen verwendeten Software geführt habe. Die abschließenden Prüfungsfeststellungen wurden sodann einvernehmlich im Prüfungsbericht vom 6. August 2008, auf dessen Inhalt wegen der Einzelheiten verwiesen wird, festgehalten.
9
Im Rahmen des Einspruchsverfahrens stellte der Beklagte fest, dass für manche Waren eine Zollschuld bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor der Übernahme des Zolllagers durch die Insolvenzschuldnerin entstanden sei. Mit Einfuhrabgabenbescheid vom 11. August 2009 (XXX-2) erließ er der Insolvenzschuldnerin daher Zoll i.H.v. ... € und Einfuhrumsatzsteuer i.H.v. ... €. Aus dem Einfuhrabgabenbescheid vom 1. Juli 2008 verblieb eine Restforderung i.H.v. ... € Zoll und ... € Einfuhrumsatzsteuer (gesamt: ... €).
10
Mit Einspruchsentscheidung vom 8. Dezember 2009, der Insolvenzschuldnerin zugestellt am 9. Dezember 2009, wies der Beklagte den Einspruch im Übrigen zurück. Aus der Bewilligung des Zolllagers ergebe sich für die Insolvenzschuldnerin, dass alle aufzuzeichnenden Tatsachen und Vorgänge zeitnah und übersichtlich zu erfassen seien. Die Bestandsaufzeichnungen müssten mindestens das Datum des Abgangs und die Bezeichnung des Zollbelegs, mit dem das Zolllagerverfahren beendet worden sei, enthalten. Die Verletzung dieser Pflicht habe eine Zollschuld nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK entstehen lassen. Der Verstoß sei nicht nach Art. 204 Abs. 1 ZK i.V.m. Art. 859 Nr. 6 ZK-DVO unbeachtlich. Gemäß Art. 530 Abs. 3 ZK-DVO habe die Anschreibung in den Bestandsaufzeichnungen im Hinblick auf die Beendigung des Verfahrens spätestens zu dem Zeitpunkt stattzufinden, in dem die Waren das Zolllager verließen. Dies sei vorliegend nicht geschehen. Damit lägen bereits mit dem körperlichen Entfernen aus den Räumlichkeiten des Zolllagers die Tatbestandsvoraussetzungen für das Entstehen der Zollschuld vor. Sofern eine Zollschuld einmal entstanden sei, seien nachfolgende Handlungen oder Unterlassungen in Bezug auf die Ware zollschuldrechtlich grundsätzlich unerheblich. Auf das anschließende Verbringen der Ware aus dem Zollgebiet gemäß Art. 859 Nr. 6 ZK-DVO komme es daher nicht an. Entsprechendes gelte gemäß § 21 Abs. 2 UStG für die Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer.
11
Die Insolvenzschuldnerin hat am 10. Dezember 2009 Klage erhoben. Es liege bereits keine Pflichtverletzung gemäß Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK vor. Bei der Pflicht zur Buchung von Entnahmen aus den Bestandsaufzeichnungen gemäß Art. 105 ZK i.V.m. Art. 530 Abs. 3 ZK-DVO handele es sich um eine "nachverfahrensmäßige" Pflicht, d.h. um eine Pflicht, die erst nach Beendigung des Zolllagerverfahrens zu erfüllen sei. Die Festsetzung der Einfuhrumsatzsteuer sei rechtswidrig, da es an einem Einfuhrtatbestand fehle.
12
Zeitgleich beantragte die Insolvenzschuldnerin beim Beklagten für den streitgegenständlichen Bescheid die Verlängerung der Aussetzung der Vollziehung bis einen Monat nach Abschluss des finanzgerichtlichen Verfahrens. Der Beklagte gewährte mit Bescheid vom 16. Dezember 2009 zwar die weitere Aussetzung der Vollziehung, aber nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollen Abgabenbetrages. Auf einen gerichtlichen AdV-Antrag beschloss das Finanzgericht Hamburg am 15. September 2010 (4 V 21/10) die Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Einfuhrabgabenbescheids unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage der Insolvenzschuldnerin gegen eine Sicherheitsleistung von weiteren ... € über die durch Barmittel bereits erbrachte Sicherheitsleistung i.H.v. ... € hinaus. Diese Sicherheit leistete die Insolvenzschuldnerin mittels einer Bürgschaft.
13
Die Insolvenzschuldnerin hat ursprünglich die Aufhebung der angegriffenen Bescheide, der Beklagte unter Bezugnahme auf die Gründe der Einspruchsentscheidung die Klageabweisung beantragt.
14
Mit Beschluss vom 25. November 2010 (damaliges Aktenzeichen des Verfahrens: 4 K 285/09) hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
15
"Ist Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK dahin auszulegen, dass bei Nichtgemeinschaftsware, die sich im Zolllagerverfahren befunden hat und die mit Beendigung des Zolllagerverfahrens eine neue zollrechtliche Bestimmung erhalten hat, die Verletzung der Pflicht, die Entnahme der Ware aus dem Zolllager in dem dafür vorgesehen EDV-Programm bereits bei Beendigung des Zolllagerverfahrens - und nicht erst wesentlich später - anzuschreiben, zur Entstehung einer Zollschuld für die Ware führt?"
16
Der Europäische Gerichtshof hat auf das Vorabentscheidungsersuchen des Senats mit Urteil vom 6. September 2012 (C-28/11) erkannt:
17
"Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK ist dahin auszulegen, dass bei Nichtgemeinschaftsware die Nichterfüllung der Pflicht, die Entnahme der Ware aus einem Zolllager spätestens zum Zeitpunkt ihrer Entnahme in den dafür vorgesehenen Bestandsaufzeichnungen anzuschreiben, auch dann zur Entstehung einer Zollschuld für diese Ware führt, wenn sie wieder ausgeführt wurde."
18
Nach Eingang des Urteils des Europäischen Gerichtshofs hat der Senat das Verfahren von Amts wegen unter dem Aktenzeichen 4 K 150/12 wiederaufgenommen.
19
Die Insolvenzschuldnerin hat auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vorgetragen, dass der Gerichtshof zwar entschieden habe, dass der Verstoß gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Anschreibung der Warenausgänge nach Art. 105 Abs. 1 ZK i.V.m. Art. 529 Abs. 1, 530 Abs. 3 ZK-DVO eine nach Art. 859 ZK-DVO nicht heilbare Pflichtverletzung nach Art. 204 Abs. 1 ZK beinhalte, nicht aber, dass diese zollrechtliche Pflichtverletzung zugleich auch einen steuerbaren Einfuhrumsatz darstelle und die Einfuhrumsatzsteuer quasi als "Annex" zur Zollschuld entstanden sei. Insoweit biete sich eine erneute Vorlage an den Europäischen Gerichtshof an.
20
Mit Beschluss vom 18. Februar 2014 (4 K 150/12) hat der Senat das Verfahren erneut ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof u.a. folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
21
"Steht es im Widerspruch zu den Vorschriften der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (ABl. L 145, 1), Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände zu erheben, die als Nichtgemeinschaftsware wiederausgeführt worden sind, für die jedoch wegen einer Pflichtverletzung nach Art. 204 ZK - hier: nicht rechtzeitige Erfüllung der Pflicht, die Entnahme der Ware aus einem Zolllager spätestens zum Zeitpunkt ihrer Entnahme in den dafür vorgesehenen Bestandsaufzeichnungen aufzuschreiben - eine Zollschuld entstanden ist?"
22
Während des Vorlageverfahrens hat das Amtsgericht Hamburg mit Beschluss vom ... 2014 über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin ein Insolvenzverfahren wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung eröffnet und den jetzigen Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt.
23
Der Europäische Gerichtshof hat auf das zweite Vorabentscheidungsersuchen des Senats mit Urteil vom 2. Juni 2016 (C-226/14) erkannt:
24
"Art. 7 Abs. 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG ist dahin auszulegen, dass für Waren, die als Nichtgemeinschaftswaren wiederausgeführt werden und den in dieser Vorschrift genannten Zollverfahren zum Zeitpunkt ihrer Wiederausfuhr noch unterliegen, ihnen danach aber wegen der Wiederausfuhr nicht mehr unterliegen, keine Mehrwertsteuer geschuldet wird, und zwar auch dann, wenn eine Zollschuld ausschließlich auf der Grundlage von Art. 204 ZK entstanden ist."
25
Nach Eingang des Urteils des Europäischen Gerichtshofs hat der Senat das Verfahren von Amts wegen wiederaufgenommen, das nunmehr unter dem Aktenzeichen 4 K 151/16 geführt wird.
26
Der Kläger hat mit Schreiben vom 3. August 2016 die Aufnahme des Rechtsstreits gemäß § 85 Abs. 1 InsO erklärt.
27
Der Beklagte hat mit Schreiben vom 20. Oktober 2016 erklärt, den Rechtsstreit nach §§ 180 Abs. 2, 185, 184 Abs. 1 Satz 2 InsO wiederaufzunehmen. Die streitgegenständliche Forderung sei zur Tabelle nachgemeldet worden. Ein Prüfungstermin stehe noch aus.
28
Mit Schreiben vom 30. November 2017 hat der Beklagte vorgetragen, dass seine mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2016 erklärte Aufnahme des Rechtsstreits "ins Leere" gegangen sei. Vorliegend handele es sich um einen insolvenzrechtlichen Passivprozess, so dass der Kläger nicht befugt gewesen sei, ohne Durchführung eines Prüfungstermins die Aufnahme des Rechtsstreits nach § 85 Abs. 1 Satz 1 InsO zu erklären. Die Durchführung des Anmeldungs- und Prüfungsverfahrens sei Sachurteilsvoraussetzung für die Fortsetzung des ursprünglichen Rechtsstreits. Erst nach Durchführung dieses Verfahrens sei jede Prozesspartei zur Verfahrensaufnahme befugt. Daher fehle es derzeit an einer rechtswirksamen Aufnahme des unterbrochenen Rechtsstreits. Überdies spreche einiges dafür, dass aufgrund der von den Betriebsprüfern aufgedeckten schwerwiegenden Mängel in den Organisationsabläufen der Insolvenzschuldnerin bereits vor der Entnahme der streitgegenständlichen Waren aus dem Zolllager und ihrer Verbringung aus dem Zollgebiet eine Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 ZK entstanden sei. Angesichts dessen hätten die Waren nicht bis zu ihrer erfolgten Wiederausfuhr dem Zolllagerverfahren unterlegen und es habe folglich die Gefahr bestanden, dass sie in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangten. Es gebe keinen allgemeinen Grundsatz des Zollrechts, dass ein erfolgtes Verbringen von Waren in ein Drittland ein Entziehen ungeschehen mache. Aufgrund der Zollschuldentstehung nach Art. 203 Abs. 1 ZK liege auch eine umsatzsteuerrechtliche Einfuhr in das Inland vor, was eine Entstehung von Einfuhrumsatzsteuer nach sich ziehe. Im Falle der Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung bestehe stets die Gefahr, dass die Ware in den Wirtschaftskreislauf der Union eingehe. Ein solch abstraktes Risiko sei hinreichend für die Entstehung der Mehrwertsteuer.
29
Der Kläger hat erwidert, dass es sich vorliegend zwar grundsätzlich um einen insolvenzrechtlichen Passivprozess handele. Allerdings habe die Insolvenzschuldnerin zur Abwendung der Zwangsvollstreckung aus dem Abgabenbescheid Sicherheiten geleistet. In diesem Fall fänden die Regelungen des insolvenzrechtlichen Aktivprozesses Anwendung. Daher könne er jederzeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 85 InsO das finanzgerichtliche Verfahren aufnehmen. Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen Aktiv- und Passivprozess sei die Frage, ob der Streitgegenstand des Prozesses einen Aktivposten der Masse betreffe oder nicht. Ein Aktivprozess liege insbesondere dann vor, wenn der Insolvenzschuldner, gegen den sich der streitgegenständliche Steueranspruch richte, den von ihm beigetriebenen Betrag zurückerhalten oder die von ihm zur Abwendung der Zwangsvollstreckung geleistete Sicherheit zurückerhalten möchte. Eine Differenzierung danach, in welcher Höhe die Sicherheit im Vergleich zum streitgegenständlichen Steueranspruch geleistet worden sei, sei nicht zielführend. Maßgeblich sei lediglich, ob im Fall des Obsiegens der Insolvenzmasse ein Aktivposten zustehe. Für die Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer sei einzig relevant, ob durch die zollrechtliche Verfehlung die Nicht-Unionsware in den Wirtschaftskreislauf desjenigen Mitgliedstaates eingegangen sei, der die Einfuhrumsatzsteuer erheben wolle. Die streitgegenständlichen Waren seien in Deutschland unstrittig nicht zu Verbrauchszwecken verwendet worden, was aber für jeden Umsatz essenziell sei. Deshalb sei eine diesbezügliche Gefahr unerheblich für die Annahme eines Einfuhrumsatzes.
30
Dem hat der Beklagte entgegnet, dass die vorliegende Situation einer Sicherheitsleistung nicht mit der Situation vergleichbar sei, in der ein Schuldner eines zivilrechtlichen Anspruchs nach einer Entscheidung der ersten Instanz auf den Anspruch selbst zahle, um eine Vollstreckung aus dem vorläufig vollstreckbaren Urteil abzuwenden und sodann während des Rechtsmittelverfahrens insolvent werde. Der Anspruch auf Sicherheitsleistung beruhe auf einer anderen Rechtsgrundlage als die Einfuhrabgabenforderung. Wäre auf die Abgabenforderung selbst geleistet worden, wäre diese unmittelbar erloschen. Mit der Leistung einer Sicherheit erhalte der Sicherungsnehmer hingegen eine potentielle Verwertungsmöglichkeit. Insoweit fehle es an einer Identität zwischen einer Leistung auf die Einfuhrabgaben und der Leistung einer Sicherheit. Im Übrigen sei der Antrag des Klägers unverändert auf die Aufhebung des Einfuhrabgabenbescheids in Gestalt der Einspruchsentscheidung gerichtet. Der gerichtlich verfolgte Anspruch ziele unverändert auf eine Verteidigung der Insolvenzmasse vor einer Inanspruchnahme ab und diene nicht der Vermehrung der Teilungsmasse. Zudem übersteige die Einfuhrabgabenforderung die Summe der Sicherheitsleistung. Insoweit könne ein insolvenzrechtlicher Aktivprozess bestenfalls in der Höhe der Sicherheitsleistung bejaht werden. Diese Tatsache spreche gegen das Umschlagen von einem Passiv- in einen Aktivprozess. Es könne nicht von der Art und dem Umfang der Sicherheit abhängen, ob und in welcher Form ein Aktiv- oder ein Passivprozess vorliege. Die Durchführung des insolvenzrechtlichen Feststellungsverfahrens diene schließlich dem Interesse der Gesamtheit der Insolvenzgläubiger. Durch das Verfahren der Anmeldung und Prüfung solle ihnen die Möglichkeit gegeben werden, sich an der gerichtlichen Auseinandersetzung über die Begründetheit der Forderung zu beteiligen, zumal die gerichtliche Feststellung gegenüber allen Insolvenzgläubigern wirke. Aus diesem Grund sei das Erfordernis des insolvenzrechtlichen Feststellungsverfahrens nicht abdingbar.
31
Der Kläger hat die streitgegenständliche zur Tabelle angemeldete Forderung im Mai 2018 geprüft und in voller Höhe bestritten. Mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2018 hat er die Aufnahme des Rechtsstreits erklärt.
32
Der Kläger beantragt nunmehr,den Widerspruch gegen die Anmeldung zur Tabelle der Abgabenforderung aus dem Einfuhrabgabenbescheid XXX-1 vom 1. Juli 2008 in Gestalt des Änderungsbescheids XXX-2 vom 11. August 2009 und der Einspruchsentscheidung vom 8. Dezember 2009 (xxx) über Zoll i.H.v. ... € und Einfuhrumsatzsteuer i.H.v. ... € (insgesamt ... €) für begründet zu erklären.
33
Der Beklagte beantragt,1. die Abgabenforderung aus dem Einfuhrabgabenbescheid XXX-1 vom 1. Juli 2008 in Gestalt des Änderungsbescheids XXX-2 vom 11. August 2009 und der Einspruchsentscheidung vom 8. Dezember 2009 (xxx) über Zoll i.H.v. ... € und Einfuhrumsatzsteuer i.H.v. ... € (insgesamt ... €) zur Tabelle festzustellen und den Widerspruch gegen diese Forderung für unbegründet zu erklären;2. hilfsweise, die Klage abzuweisen.
34
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Sachakten des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
35
I. Der Senat entscheidet gemäß § 90a Abs. 1 FGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid.
36
II. Der Gerichtsbescheid kann ergehen, da der durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin unterbrochene Rechtsstreit vom gemäß § 80 Abs. 1 InsO nunmehr am Verfahren beteiligten Kläger aufgenommen wurde.
37
Der Kläger hat das unterbrochene Verfahren durch seine Erklärung vom 3. Dezember 2018 wirksam aufgenommen. Nach § 155 Satz 1 FGO, § 240 Satz 1 ZPO wird im Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Partei das Verfahren, wenn es die Insolvenzmasse betrifft, unterbrochen, bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet wird. Vorliegend richtet sich die Aufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften über den insolvenzrechtlichen Passivprozess. Da die besonderen Voraussetzungen des § 86 Abs. 1 InsO nicht gegeben sind, gilt § 87 InsO, wonach die Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen können. Nach § 174 Abs. 1 Satz 1 InsO haben die Insolvenzgläubiger ihre Forderungen schriftlich beim Insolvenzverwalter zur Insolvenztabelle anzumelden. Die Forderungen werden sodann im Prüfungstermin vor dem Insolvenzgericht oder im schriftlichen Verfahren geprüft (§§ 176 ff. InsO). Wenn der Insolvenzverwalter oder ein anderer Insolvenzgläubiger der angemeldeten Forderung widerspricht, kann der Gläubiger den anhängigen Rechtsstreit mit dem Ziel der Feststellung der Forderung zur Tabelle aufnehmen (§ 179 Abs. 1, § 180 Abs. 2 InsO). Liegt - wie hier - bereits eine titulierte Forderung in Form eines Abgabenbescheids und damit ein vorläufig vollstreckbarer Schuldtitel vor, obliegt die Aufnahme des unterbrochenen Rechtsstreits gemäß § 179 Abs. 2 InsO dem Bestreitenden. Bleibt dieser untätig, ist auch der Gläubiger zur Aufnahme befugt. Die Durchführung des insolvenzrechtlichen Feststellungsverfahrens dient dabei dem Interesse der Gesamtheit der Insolvenzgläubiger. Durch das Verfahren der Anmeldung und Prüfung soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, sich an der gerichtlichen Auseinandersetzung über die Begründetheit der Forderung zu beteiligen, zumal die gerichtliche Feststellung gemäß § 183 Abs. 1 InsO gegenüber allen Insolvenzgläubigern wirkt. Aus diesem Grund ist das Erfordernis des insolvenzrechtlichen Feststellungsverfahrens auch nicht abdingbar, sondern es handelt sich um eine zwingende Sachurteilsvoraussetzung bei der Aufnahme eines unterbrochenen Rechtsstreits (BGH, Urteil vom 3. Juli 2014, IX ZR 261/12, juris).
38
Vor diesem Hintergrund waren die von den Beteiligten vor dem Prüfungstermin bereits im Jahr 2016 abgegebenen Aufnahmeerklärungen unwirksam und das Verfahren wurde aufgrund seines Charakters als Passivprozess erst durch die Erklärung des Klägers vom 3. Dezember 2018 aufgenommen. Ob es sich bei einem Rechtsstreit um einen insolvenzrechtlichen Aktiv- oder Passivprozess handelt, ist aus der Sicht der Insolvenzmasse zu beantworten. Dabei kann vorliegend mangels Entscheidungserheblichkeit offenbleiben, ob hinsichtlich des insoweit maßgeblichen Zeitpunktes auf die Verfahrensunterbrechung (Schumacher in Münchner Kommentar zur InsO, 4. Auflage 2019, § 85 InsO, Rn. 9) oder die Entscheidung über die Aufnahme (Schmidt, InsO, 19. Auflage 2016, § 85 InsO, Rn. 37) abzustellen ist. In einem Aktivprozess verfolgt der Schuldner einen Anspruch, der zur Insolvenzmasse gehört und im Falle seines Obsiegens - wie z.B. bei der Geltendmachung einer Steuererstattung - die zur Verteilung anstehende Masse vergrößern würde. Nicht entscheidend ist dabei die formelle Parteirolle, sondern allein der materielle Inhalt des Begehrens, also ob in dem anhängigen Rechtsstreit über eine Pflicht zu einer Leistung gestritten wird, die in die Masse zu gelangen hat (BGH, Beschluss vom 14. April 2005, IX ZR 221/04, juris). Wird dagegen vom Gläubiger ein Recht zu Lasten der Insolvenzmasse beansprucht, sodass ein Unterliegen zu einer Verringerung der Masse führen würde, liegt ein Passivprozess vor. Dies ist beispielsweise bei der Geltendmachung eines Steuer- oder Haftungsanspruchs durch das Finanzamt der Fall, wenn der Schuldner die Steuerforderung nicht bezahlt hat (BFH, Urteil vom 7. März 2006, VII R 11/05, juris). Hat der Schuldner dagegen die Steuer vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits gezahlt, verfolgt er mit seiner Klage wirtschaftlich einen Erstattungsanspruch, sodass ein Aktivprozess vorliegt (Leipold, Insolvenz von Beteiligten während eines finanzgerichtlichen Verfahrens unter besonderer Berücksichtigung von Personengesellschaften, DStZ 2012, 103, 109 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des BFH).
39
Daran gemessen ist vorliegend ein Passivprozess gegeben. Der Beklagte begehrt vom Kläger die Zahlung der im Bescheid festgesetzten Zoll- und Einfuhrumsatzsteuerschuld i.H.v. ... € mit der Folge, dass sich die Insolvenzmasse im Fall des Bestehens dieses Anspruchs verringern würde.
40
Der Passivprozess ist auch nicht dadurch in einen Aktivprozess umgeschlagen, dass die Insolvenzschuldnerin, um eine Vollziehung des Einfuhrabgabenbescheids zu vermeiden, aufgrund des zunächst behördlichen, später gerichtlichen AdV-Verfahrens Sicherheiten in Form einer Bürgschaft über ... € und von Barmitteln i.H.v. ... € geleistet hat.
41
Die Bürgschaft ist für die Abgrenzung von Aktiv- und Passivprozess ohne Bedeutung. Auch im Fall des Obsiegens des Klägers würde sie nicht zu einer Vergrößerung der Insolvenzmasse führen. Der Bürge hat vorliegend die Abgabenforderung auch nicht anteilig beglichen, sodass es bereits an einem Vermögensgegenstand fehlt, der zur Vergrößerung der Insolvenzmasse geeignet wäre. Aber selbst eine Leistung des Bürgen auf die Abgabenforderung hätte den Rechtsstreit nicht zu einem für die Masse geführten Aktivprozess werden lassen. Eine - im Fall des Nichtbestehens der Abgabenforderung - rechtsgrundlose Zahlung des Bürgen an den Gläubiger würde einen Rückgewähranspruch des Bürgen gegen dem Gläubiger entstehen lassen (Schwab in Münchner Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2017, § 812 BGB, Rn. 192, 198; Lorenz in Staudinger, BGB, § 812 BGB, Rn. 47 f., Stand 2007). Das Geleistete würde nicht der Insolvenzmasse zufließen.
42
Auch die als Sicherheit hinterlegten ... € Barmittel führen nicht dazu, dass insgesamt oder auch nur insoweit von einem insolvenzrechtlichen Aktivprozess auszugehen wäre. Nach der Rechtsprechung des BFH schlägt ein ursprünglicher Passivprozess im Fall der Begleichung der streitigen Steuerforderung vor der Insolvenzeröffnung in einen Aktivprozess um. In einem solchen Fall ist der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis gemäß § 47 AO durch Zahlung gemäß §§ 224 ff. AO erloschen. Es geht in einer solchen Situation folglich nicht mehr darum, dass der zwischenzeitlich befriedigte Gläubiger ein Recht zu Lasten der Insolvenzmasse beansprucht, sondern die Beteiligten streiten materiell nunmehr darüber, ob die bereits gezahlte Summe zugunsten der Insolvenzmasse zu erstatten ist.
43
So liegen die Dinge vorliegend nicht und sie sind hiermit auch nicht vergleichbar. Der Anspruch auf Zahlung von Zoll und Einfuhrumsatzsteuer ist nicht durch Zahlung erloschen, sondern nach wie vor alleiniger Streitgegenstand des Verfahrens. Die Insolvenzschuldnerin hat nicht auf die Steuerschuld geleistet, sondern als Folge des vom Hauptverfahren abstrakten Beschlussverfahrens der gerichtlichen Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 FGO, Art. 244 ZK die o.g. Barsicherheit beim Beklagten hinterlegt, was zum Entstehen eines öffentlich-rechtlichen Hinterlegungsverhältnisses geführt hat. Die Verpflichtung zur Rückzahlung dieser Sicherheit ist nicht Streitgegenstand der Klage. Die Freigabe der Sicherheit richtet sich lediglich rein tatsächlich nach dem Ausgang des Hauptsacheverfahrens. Dementsprechend hat der Beklagte zu Recht die gesamte offene Forderung zur Tabelle angemeldet, was im Fall eines Erlöschens der Einfuhrabgabenforderung durch Zahlung nicht notwendig gewesen wäre. Es entspricht dem Charakter eines Verfahrens als Passivprozess, wenn der Gläubiger seinen Anspruch zur Tabelle angemeldet hat (BGH, Beschluss vom 12. Februar 2004, V ZR 288/03, juris). Schließlich verdeutlicht auch der vom Kläger gestellte Antrag, den Widerspruch gegen die Anmeldung der Forderung zur Tabelle für begründet zu erklären, also die Insolvenzmasse vor einer Inanspruchnahme verteidigen zu wollen, den Charakter als Passivprozess.
44
Selbst wenn man die Leistung einer Sicherheit mit einer Zahlung auf den Steueranspruch für vergleichbar hielte, läge insoweit aus anderen Gründen kein Aktivprozess vor. Nach der Rechtsprechung des BGH können die Unterbrechung eines Verfahrens und seine Aufnahme hinsichtlich desselben materiellen Anspruchs nur einheitlich erfolgen. Dies gilt zumindest in den Fällen, in denen schutzwürdige Interessen der am Insolvenzverfahren Beteiligten der Aufnahme des ganzen noch anhängigen Rechtsstreits nicht entgegenstehen (BGH, Urteil vom 5. Dezember 1985, VII ZR 284/83, juris). Diese Voraussetzungen wären vorliegend erfüllt. Schutzwürdige Interessen der Insolvenzschuldnerin, des Klägers, des Beklagten oder der weiteren Insolvenzgläubiger wären durch die einheitliche Betrachtung des Verfahrens als insolvenzrechtliches Passivverfahren nicht betroffen. Unabhängig davon, ob man die Barsicherheit hälftig oder verhältnismäßig auf die Zoll- und die Einfuhrumsatzsteuerschuld verteilen würde, wäre der jeweilige Anspruch immer zu einem Anteil von weniger als 50 % durch die Barsicherheit gesichert. Deshalb wäre jedenfalls eine einheitliche Betrachtungsweise der Ansprüche und in der Folge eine Bewertung des Verfahrens als Passivprozess geboten.
45
III. Die Klage ist als Feststellungsklage zulässig (1.) und teilweise begründet (2.)
46
1. Durch die Aufnahme des Verfahrens hat sich die ursprüngliche Anfechtungsklage in eine (Insolvenz-)Feststellungsklage gewandelt, deren Gegenstand nicht länger die Rechtmäßigkeit des Einfuhrabgabenbescheids ist, sondern in der festzustellen ist, ob dem Beklagten die zur Tabelle angemeldete Forderung als Insolvenzforderung zusteht und der Widerspruch des Klägers zu beseitigen ist. Diese Klage gemäß § 41 Abs. 1 FGO ist zulässig. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, um das Insolvenzverfahren fördern zu können.
47
2. Die Feststellungsklage ist teilweilweise begründet. Die zur Tabelle angemeldete Einfuhrabgabenforderung steht dem Beklagten nur in Höhe von ... € - also in Höhe der Zollschuld - als Insolvenzforderung zu. Insoweit ist der Widerspruch des Klägers zu beseitigen. In Höhe von ... € hingegen - also in Höhe der Einfuhrumsatzsteuerschuld - steht dem Beklagten die Forderung nicht als Insolvenzforderung zu, weshalb der Widerspruch insoweit begründet ist. Die Einfuhrabgabenforderung besteht nur hinsichtlich des Zolls (a.), nicht jedoch hinsichtlich der geforderten Einfuhrumsatzsteuer (b.).
48
a. Der Einfuhrabgabenbescheid ist hinsichtlich der Zollschuld i.H.v. ... € rechtmäßig. Die Zollschuld ist jedenfalls gemäß Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK entstanden. Danach entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn in anderen als den in Art. 203 ZK genannten Fällen eine der Pflichten nicht erfüllt wird, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das sie übergeführt worden ist, ergeben, es sei denn, dass sich diese Verfehlungen nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Nach dem im hiesigen Verfahren ergangenen Urteil des EuGH vom 6. September 2012 ist Art. 204 Abs. 1 ZK dahin auszulegen, dass bei Nichtgemeinschaftswaren die Nichterfüllung der Pflicht, die Entnahme der Ware aus einem Zolllager spätestens zum Zeitpunkt ihrer Entnahme in den dafür vorgesehenen Bestandsaufzeichnungen anzuschreiben, auch dann zur Entstehung einer Zollschuld für diese Ware führt, wenn sie wieder ausgeführt wurde. Außerdem gehört die verspätete Anschreibung in den Bestandsaufzeichnungen nicht zu den in der abschließenden Liste in Art. 859 ZK-DVO aufgeführten Verfehlungen, die sich möglicherweise auf die ordnungsgemäße Abwicklung des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben. Die Insolvenzschuldnerin hat die Buchungen in den Bestandsaufzeichnungen erst 11 bis 126 Tage nach der Entnahme durchgeführt und damit gegen die sich aus der Inanspruchnahme des Zolllagerverfahrens ergebenen Pflichten aus Art. 529 Abs. 1, 530 Abs. 3 ZK-DVO verstoßen.
49
Sie ist auch nach Art. 204 Abs. 3 ZK die richtige Zollschuldnerin. Schließlich sind Fehler bei der Berechnung der Zollschuld nicht ersichtlich und werden auch vom Kläger nicht vorgetragen.
50
Ob es aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls bereits zu einer Zollschuldentstehung nach Art. 203 ZK wegen einer Entziehung der Waren aus der zollamtlichen Überwachung gekommen ist, wovon der Beklagte nunmehr ausgeht, kann offenbleiben. Eine Zollschuldentstehung nach Art. 203 ZK würde weder am Bestand noch an der Höhe der zur Tabelle angemeldeten Zollschuld etwas ändern und ist auch im Hinblick auf die Einfuhrumsatzsteuer nicht von Bedeutung.
51
b. Der Einfuhrabgabenbescheid ist rechtswidrig, soweit darin eine Einfuhrumsatzsteuer i.H.v. ... € festgesetzt ist. Nach § 21 Abs. 2 Halbs. 1 UStG gelten für die Einfuhrumsatzsteuer die Vorschriften für Zölle sinngemäß. Zwar ist vorliegend eine Zollschuld entstanden, es mangelt aber an einer "Einfuhr" im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG und der 6. Richtlinie 77/388/EWG vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, 1; im Folgenden: 6. MwSt-Richtlinie). Nach dem im hiesigen Verfahren ergangenen Urteil des EuGH vom 2. Juni 2016 ist im vorliegenden Sachverhalt keine Einfuhr von Waren gemäß Art. 2 Nr. 2 der 6. MwSt-Richtlinie gegeben. Die Waren unterlagen bis zum Zeitpunkt ihrer Wiederausfuhr dem Zolllagerverfahren als Nichterhebungsverfahren (vgl. Art. 7 Abs. 3, Art. 16 Abs. 1 Teil B Buchst. c der 6. MwSt-Richtlinie), sodass sie, obwohl sie sich physisch im Gebiet der Union befanden, nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind. Mithin konnten sie auch keinem Verbrauch, d.h. dem mit Mehrwertsteuer belasteten Vorgang, zugeführt werden.
52
Nach diesem Maßstab wäre die Einfuhrumsatzsteuer auch dann nicht entstanden, wenn, wie der Beklagte meint, eine Zollschuldentstehung nach Art. 203 ZK vorläge. Der EuGH hat mit Urteil vom 10. Juli 2019 (Federal Express Corporation, C-26/18) seine Rechtsprechung zum Entstehen der Einfuhrumsatzsteuer bei zollrechtlichen Verfehlungen entsprechend der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, 1; Mehrwertsteuersystemrichtlinie - MwStSysRL) weiter konkretisiert. Danach ist im Fall der Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung gemäß Art. 203 ZK zwar zu vermuten, dass eine Ware, die einem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren nicht mehr unterliegt, im Mitgliedstaat des zollrechtlichen Fehlverhaltens in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt ist. Diese Vermutung ist jedoch widerlegt, wenn nachgewiesen wird, dass die Ware im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats, in dem sie zum Verbrauch bestimmt war, in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt ist. In diesem Fall tritt der Tatbestand der Einfuhrmehrwertsteuer in diesem anderen Mitgliedstaat ein (vgl. insoweit näher FG Hamburg, Urteil vom 14. Januar 2020, 4 K 123/15, juris). Zwar unterliegen der zollrechtlichen Überwachung entzogene Waren, die sich körperlich im Gebiet der Union befinden, aufgrund des zollrechtlichen Fehlverhaltens nicht mehr der Überwachung durch die nationalen Zollbehörden, da diese keine Möglichkeit mehr haben, den Verkehr dieser Gegenstände zu kontrollieren. Ist aber nachgewiesen, dass diese Waren in einen anderen Mitgliedstaat, ihren endgültigen Bestimmungsort, oder einen Drittstaat weiterbefördert und dort verbraucht wurden, stellt das zollrechtliche Fehlverhalten keinen ausreichenden Beweis dafür dar, dass die Waren im ersten Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind.
53
Daran gemessen wäre vorliegend auch im Fall der Entziehung der Waren aus der zollamtlichen Überwachung keine Einfuhrumsatzsteuer entstanden. Vorliegend sind die Waren nicht in einen weiteren Mitgliedstaat, sondern in Drittstaaten weiterbefördert und dort verbraucht worden. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
54
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 115 Abs. 2 FGO).
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Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin hält treuhänderisch für verschiedene Anleger Kommanditbeteiligungen an der Fondsgesellschaft H. G. und A. GmbH & Co. H. und C. KG (Handelsregister H. HRA... ), und zwar ihrerseits über eine Treuhandkommanditistin. Die Beklagte zu 1 ist die Komplementärin der Fondsgesellschaft, die Beklagte zu 2 deren geschäftsführende Kommanditistin. Die Beklagten beabsichtigen den Verkauf der einzigen verbleibenden Fondsimmobilie und berufen sich dazu auf einen Gesellschafterbeschluss. Die Klägerin betrachtet diesen Beschluss nicht als eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage und verlangt Unterlassung der Veräußerung.
2
Die Fondsgesellschaft verfügte ursprünglich über zwei Fondsimmobilien, jeweils eine Büroimmobilie in H. und in C.. Die Hamburger Fondsimmobilie wurde bereits vor einigen Jahren veräußert.
3
Die Beklagten beabsichtigten jedenfalls seit August 2019, die verbleibende Fondsimmobilie zu veräußern. Nach § 9 Ziff. 1 S. 2 lit. g) und § 12 Ziff. 7 lit. f) des Gesellschaftsvertrags der Fondsgesellschaft (Anlage K 1) ist zur Veräußerung von Grundstücken die Zustimmung der Gesellschafterversammlung erforderlich. Die erforderliche Mehrheit beträgt nach § 12 Ziff. 10 des Gesellschaftsvertrags - ebenso wie für die Änderung des Gesellschaftsvertrags - 3/4 der teilnehmenden Gesellschafterstimmen. Der Gesellschaftsvertrag sieht weiterhin in § 12 Ziff. 12 vor, dass die Unwirksamkeit eines Beschlusses nur innerhalb einer Ausschlussfrist von 4 Wochen nach Kenntnis des Beschlusses geltend gemacht werden könne. Nach Ablauf der Frist gelte ein etwaiger Mangel als geheilt. Die Geltendmachung habe durch Klage zu erfolgen.
4
Die Beklagte zu 2 lud die Gesellschafter der Fondsgesellschaft mit Schreiben vom 12. August 2019 (Anlage K 3) zur Beschlussfassung im Umlaufverfahren zu nachfolgendem Beschluss ein:
5
“Zustimmung zur Veräußerung der Fondsimmobilie zu einem Mindestveräußerungspreis von 21 Millionen Euro nach Abzug der Umbaukosten. Die Gesellschaft wird anschließend aufgelöst. Der Verkaufsprozess der Immobilie wird durch einen zu beauftragenden Makler eingeleitet. Die im Gesellschaftsvertrag in § 23 festgelegten Leistungen werden durch die H. C. G. und A. GmbH erbracht und die ebenso gesellschaftsvertraglich in den §§ 15 und 17 festgelegten Vergütungen entsprechend von der H. C. G. und A. GmbH gegenüber der Fondsgesellschaft abgerechnet.”
6
Das Ergebnis der Beschlussfassung teilte die Beklagte zu 2 den Gesellschafterm am 23. September 2019 mit. Danach hatte der Beschlussantrag zur Veräußerung Fondsimmobilie mit 78,2% Ja-Stimmen die zur Beschlussfassung notwendige Mehrheit erreicht.
7
Innerhalb der vierwöchigen Ausschlussfrist des § 12 Ziff. 12 des Gesellschaftsvertrags machte kein direkter oder indirekter Gesellschafter der Fondsgesellschaft etwaige Mängel der gefassten Beschlüsse geltend.
8
Im Anschluss daran fand die Beklagte einen Kaufinteressenten, der kurz vor dem Erwerb der Immobilie unter Einhaltung der im Beschluss genannten Mindestvoraussetzungen steht.
9
Eine Gesellschaft namens „a. K. GmbH“ forderte die Beklagte zu 2 in einem auch durch die Klägerin unterschriebenen Schreiben vom 05. März 2020 (Anlage K 7) auf, den Verkaufsprozess umgehend zu stoppen, da der vorangegangene Beschluss, der nur rd. 78 % Zustimmung zu dem Objektverkauf ergeben habe, den Anforderungen des BGH nicht genüge und keine ausreichende Weisung / Ermächtigung für die Grundstückveräußerung enthalte. Aufgrund der mittlerweile veränderten Mehrheiten sei auch auszuschließen, dass ein Verkaufsbeschluss erneut die notwendige Mehrheit erreichen würde. In jedem Falle müsse aber eine Abstimmung über den ausverhandelten Vertrag erfolgen.
10
Die Beklagten leisteten der Aufforderung der Klägerin, den Verkaufsprozess zu stoppen bzw. über den ausverhandelten Vertrag abstimmen zu lassen, keine Folge.
11
Die Klägerin verlangt die Unterlassung der Verkaufs. Die Gesellschafter hätten bei der Zustimmung zur Veräußerung keine hinreichende Kenntnis vom wesentlichen Inhalt des Vertrags gehabt, sodass der Beschluss als Ermächtigung zum Verkauf nicht ausreiche. Soweit die Gesellschafter keine hinreichende Kenntnis hätten, würde hierin eine unzulässige Verlagerung der Zustimmungskompetenz liegen. Für die Rechtslage insgesamt und zur Stützung ihrer Ansicht, dass es sich bei dem bisherigen Veräußerungsbeschluss um einen unzulässigen Vorratsbeschluss handele, stützt sie sich auf die Entscheidung des BGH vom 24.07.2012 (II ZR 185/10) und auf die Entscheidung des Kammergerichts als Vorinstanz.
12
Im vorliegenden Fall bemängelt die Klägerin insbesondere, dass die Beklagte zu 2 keine Angaben zur Person des Käufers, Haftung, Verjährung und Gewährleistung gemacht habe, sodass die wirtschaftlichen Konsequenzen aus der Veräußerung für die Gesellschafter praktisch nicht absehbar seien.
13
Besonders wichtig sei auch die Kenntnis der Person des Käufers erforderlich, da nur so beurteilt werden könnte, ob etwaiger Stimmverbote beständen.
14
Darüber hinaus müssten die Gesellschafter über zahlreiche weitere Regelungen informiert werden, insbesondere über Gewährleistungsrechte des Käufers und Regelungen zur Fälligkeit des Kaufpreises relevant, da diese geeignet wären, die wirtschaftliche Bewertung der Maßnahme aus Gesellschaftersicht gravierend zu ändern.
15
Die Klägerin beantragt,
16
- die Beklagten zu verurteilen, es zu unterlassen, die im Eigentum der H. G. und A. GmbH & Co. H. und C. KG stehende Fondsimmobilie 10 in C. zu veräußern
17
- den Beklagten jeweils anzudrohen, dass für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die in Ziffer 1 bezeichnete Verpflichtung ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von € 250.000, und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, eine Ordnungshaft oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten (Ordnungshaft höchstens 2 Jahre), die Ordnungshaft zu vollziehen an den jeweiligen Geschäftsführern der Beklagten, festzusetzen
18
Die Beklagten beantragen,
19
die Klage abzuweisen.
20
Die Beklagten meinen, dass die Klage unzulässig sei, da die Klägerin etwaige Beschlussmängel binnen der Ausschlussfrist des § 12 Ziff. 12 des Gesellschaftsvertrags hätte geltend machen müssen.
21
Überdies wäre der Beschluss auch hinreichend bestimmt gefasst geworden. Der Mindestinhalt eines Beschlusses unterläge keiner generalisierenden Betrachtung und sei anhand des Einzelfalls zu ermitteln. Vorliegend würde dieser Mindestinhalt in dem durch den Verkauf der Fondsimmobilie mindestens zu erzielenden Kaufpreis liegen. Anders als im Fall des Vergleichs sei nämlich der Kaufvertrag nach dem Gesetz typisiert. Insbesondere sei es nicht erforderlich, dass die Beklagte den Namen des Käufers kenne, da aus der Angabe einer etwaigen Zweckgesellschaft bereits kein informativer Mehrwert bestehe. Der Klägerin ginge es nicht um Information, sondern darum den Verkaufsprozess zu lähmen, um günstig weitere Fondsanteile am Sekundärmarkt erwerben zu können.
22
Wegen des weiteren Parteivortrags wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen. Im Anschluss an mündliche Verhandlung haben die Beklagten die Klägerseite auf Anregung des Gerichts noch über diverse Einzelheiten des intendierten Vertrages, insbesondere die Person des Käufers informiert, um zu einer gütlichen Einigung zu gelangen. Die Klägerin hielt die Informationserteilung an nur einen Gesellschafter jedoch nicht für ausreichend.
Entscheidungsgründe
23
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
I.
24
Die Rechtsverfolgung im Wege der Unterlassungsklage ist statthaft, denn nur auf diesem Weg kann sichergestellt werden, dass die Kompetenzordnung der Gesellschaft nicht verletzt wird. Die geplante Veräußerung ist keine gewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme, die das geschäftsführende Organ alleine vornehmen dürfte, sondern unterliegt gemäß § 9 Ziff. 1 S. 2 lit. g) und § 12 Ziff. 7 lit. f) des Gesellschaftsvertrags der Zustimmung der Gesellschafterversammlung (BGH, Urt. v. 25.2.1982 - II ZR 174/80, NJW 1703, 1706). Fehlt es an dieser, hat jeder Gesellschafter das Recht, trotzdem drohende kompetenzverletzende Maßnahmen durch Erhebung einer Unterlassungsklage zu verhindern.
25
Die Klägerin ist auch klagebefugt, denn sie ist an der Fondsgesellschaft als Treugeberkommanditistin beteiligt. Bereits aus der Anwendung des Gesellschaftsvertrags, der namentlich in § 5 Ziff. 2 ausdrücklich bestimmt, dass Treugeberkommanditisten im Innenverhältnis wie Kommanditisten der Gesellschaft behandelt werden sollen, folgt, dass auch Treugeberkommanditisten klagebefugt sind.
II.
26
Die Klage ist jedoch unbegründet. Eine Veräußerung im Rahmen des am 23.9.2019 gefassten Veräußerungsbeschlusses ist der Fondsgeschäftsführung durch die Kommanditisten gestattet worden, ohne dass es dazu weiterer Beschlussfassungen bedarf.
27
1) Der Beschluss ist wirksam. Insbesondere ist er nicht nichtig.
28
Der Gesellschaftsvertrag der Fondsgesellschaft regelt in § 12 Ziffer 12 zulässigerweise, dass die Unwirksamkeit von Beschlüssen nur binnen eines Monats nach Kenntnis des jeweiligen Beschlusses geltend gemacht werden könne. Darin liegt ein Verweis auf das Beschlussmängelrecht von Kapitalgesellschaften, wonach Beschlüsse, sofern sie nicht fristgerecht angefochten werden, als wirksam gelten.
29
Nach Auffassung des Gerichts erfasst das allerdings nicht solche Beschlüsse, die auch nach den für Kapitalgesellschaften geltenden Regelungen als nichtig anzusehen wären, beispielsweise aufgrund von Einberufungsmängeln. Derartige schwerwiegende Mängel liegen hier aber nicht vor. Insbesondere ergibt sich eine etwaige Nichtigkeit des Beschlusses nicht aus den § 124 Abs. 2 S. 3 AktG (analog), wonach bei Satzungsänderungen, die nur mit Zustimmung der Hauptversammlung getroffen werden können, der jeweilige Wortlaut und bei Verträgen der wesentliche Inhalt mitzuteilen ist. Eine unmittelbare Satzungsänderung ist mit der Veräußerung nicht verbunden. Dass die Gesellschaft im Anschluss an die Veräußerung zu liquidieren ist, ergibt sich zudem ausdrücklich aus dem Beschluss, sodass für die Gesellschafter über die Konsequenzen der Veräußerung keine Unklarheiten bestehen.
30
Soweit der Gesellschaftsvertrag die Zustimmung der Gesellschafterversammlung zum An- und Verkauf der Fondsimmobilien verlangt, bestimmt sich die Frage, was als wesentlicher Inhalt einer Verkaufsvereinbarung anzusehen ist, nicht nur nach objektiven Gesichtspunkten, sondern maßgeblich danach, was die Gesellschafter selbst als wesentlich erachten. Wenn sich die Gesellschafter mit einer nur rudimentären Information zufrieden geben wollen, und den entsprechenden Beschluss trotz eines bestehenden Informationsdefizits fassen, erscheint es als nicht gerechtfertigt, ihnen die nicht gegebenen Informationen aufzuzwingen und ihre Beschlussfassung als nichtig zu betrachten. Dementsprechend zählen Verstöße gegen § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG auch nicht zu den absoluten Nichtigkeitsgründen im Sinne des § 241 AktG. Es besteht erst recht keine Grundlage dafür, im Rahmen einer etwaigen analogen Anwendung dieser Vorschrift auf eine Publikums-KG weiter zu gehen,
31
Minderheitsgesellschafter, die mit einer derart eingeschränkten Information nicht einverstanden sind, sind bei Kapitalgesellschaften ausreichend durch ihre Beschlussanfechtungsrechte geschützt. Das gilt auch bei der hier bestehenden Publikums-KG, da § 12 Ziffer 12 des Gesellschaftsvertrages, der betroffenen Gesellschaftern erlaubt, die Unwirksamkeit des Beschlusses binnen eines Monats geltend zu machen. Die materielle Ausschlussfrist bzw. das damit korrespondierende Anfechtungsrecht“ ist hier gesellschaftsvertraglich wirksam vereinbart. Sie entspricht in wesentlichen Punkten der gesetzlichen Konzeption des § 246 AktG (vgl. BGH, Urt. v. 15.6.1998 - II ZR 40/97, NJW 1998, 3344; Bayer/Moeller, NZG 2018, 801, 808) und weicht insofern sogar zugunsten der Gesellschafter von dieser Regelung ab, als es für den Fristbeginn nicht auf die Beschlussfassung, sondern auf die Kenntnis des Beschlussergebnisses ankommt.
32
Dem nach Fristablauf eintretenden Rechtsverlust steht auch nicht entgegen, dass es sich vorliegend um einen Beschluss zu einem zustimmungspflichtigen Vertrag handelt (OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 23.3.1999 - 5 U 193/97, NZG 1999, 887). Hier überwiegt das Interesse der Mehrheit, nach einer (aufwendigen) Abstimmung klare Verhältnisse zu erhalten.
33
2) Dem hier gefassten Beschluss lässt sich unter Anwendung der allgemeinen Grundsätze der §§ 133, 157 BGB (vgl, dazu BGH v. 23.1.2018, II ZR 74/16, RN 20) entnehmen, dass er ohne weiteres als Ermächtigungsgrundlage für eine Veräußerung der Immobilie durch die Geschäftsführung dienen soll und dass darüber hinaus keine weitere Beschlussfassung vorgesehen ist. Das ergibt sich auch aus den dazu im Schreiben vom 12.9.2019 gegebenen Erläuterungen, die keine weitere Abstimmung vorsehen, sondern den Gesellschaftern klar vor Augen führen, dass der Verkauf bei einer positiven Beschlussfassung durch die Geschäftsführung vorgenommen wird. Der vorliegende Beschluss ist damit Berechtigung und Auftrag, die Fondsimmobilie an einen beliebigen Käufer zu einem Preis von nicht weniger als € 21 Millionen nach Abzug der Umbaukosten binnen eines angemessenen Zeitraums zu veräußern. Dieser Zeitraum ist jedenfalls noch nicht verstrichen, denn bei vergleichbaren Immobilientransaktionen ist eine signifikante Dauer zur Suche eines Käufers und der Abwicklung der Transaktion üblich.
34
Da die Unwirksamkeit dieses Beschlusses nicht innerhalb der Frist des § 12 Ziff. 12 des Gesellschaftsvertrages geltend gemacht wurde, ist der Beschluss gefasst worden. Die Frist ist abgelaufen, denn die Klägerin erhielt bereits nach ihrem eigenen Vortrag bereits am 23. September 2019, mehrere Monate vor Klagerhebung, Kenntnis von dem Beschluss.
35
3) Soweit die Klägerin die Auffassung vertritt, es käme auf die Wirksamkeit des Beschlusses nicht an, weil er, selbst wenn er wirksam sein sollte, mangels der dafür bestehenden Erfordernisse nicht als Ermächtigung zum Verkauf der Immobilie dienen könne, greift dies nicht durch. Der Auffassung der Klägerin, dass ein entsprechender Ermächtigungsbeschluss überhaupt nur dann vorliege, wenn objektiv betrachtet die wesentlichen Bedingungen des Verkaufs mitgeteilt werden, ist nicht zu folgen. Dies würde auf eine unnötige Bevormundung der Gesellschafter hinauslaufen, die selbst bestimmen können, wie viel sie über einen bevorstehenden Verkauf erfahren wollen und ob sie mit dem gefassten Beschluss eine Verkaufsermächtigung der Geschäftsführung verbinden wollen. Dass die Gesellschafter dies hier tun wollten, folgt eindeutig aus einer Auslegung des Beschlusses nach den §§ 133, 157 BGB, der ersichtlich als endgültige Willensbildung für eine Veräußerung intendiert ist. Dafür, in die durch den Beschluss zum Ausdruck gebrachte freie Willensbildung der Gesellschaft einzugreifen, indem der Ermächtigungsbeschluss und der darin zum Ausdruck gebrachte Wille der Gesellschafter uminterpretiert wird, gibt es keine Grundlage. Minderheiten sind - wie gesagt- . durch ihr (quasi-) Anfechtungsrecht nach § 12 Ziff. 12 GesV geschützt. Hier spricht zwar vieles dafür, dass eine auf § 12 Ziff. 12 GesV gestützte Klage im vorliegenden Fall Erfolg gehabt hätte, denn die Mehrheit darf ein berechtigtes Informationsbedürfnis einer Minderheit nicht einfach beiseiteschieben. Wenn die Minderheit dann aber von ihren Rechten keinen Gebrauch macht, ist sie insoweit auch nicht als schutzbedürftig anzusehen.
III.
36
Die Entscheidung wegen der Kosten beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
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Tenor
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Die aufschiebende Wirkung eines noch einzulegenden Widerspruchs des Antragstellers gegen den Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 wird angeordnet, soweit die Antragsgegnerin darin einen am 7. November 2014 verwirkten Säumniszuschlag in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 geltend macht.
Im Übrigen werden der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt und die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 25.467,75 € festgesetzt.
Gründe:
1Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 30. Juni 2020 hat nur in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Die aufschiebende Wirkung eines noch einzulegenden Widerspruchs des Antragstellers gegen den Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 ist anzuordnen, soweit die Antragsgegnerin darin einen am 7. November 2014 verwirkten Säumniszuschlag in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 geltend macht. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
2Der Senat legt den Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 anzuordnen,
4gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - dahingehend aus, dass der Antragstellers begehrt, die aufschiebende Wirkung eines von ihm noch einzulegenden Widerspruchs gegen den Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 anzuordnen. Allein statthafter Rechtsbehelf gegen den Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 ist nämlich nicht die vom Antragsteller erhobene Anfechtungsklage 7 K 1186/20 VG Münster, sondern ein noch zu erhebender Widerspruch.
5Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Nach § 69 VwGO beginnt das Vorverfahren mit der Erhebung des Widerspruchs. Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Justiz im Land Nordrhein-Westfalen (Justizgesetz Nordrhein-Westfalen - JustG NRW -) bedarf es vor Erhebung einer Anfechtungsklage einer Nachprüfung in einem Vorverfahren abweichend von § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht. Nach § 110 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 JustG NRW gilt jedoch § 110 Abs. 1 Satz 1 JustG NRW nicht im Bereich der von den Gemeinden zu erhebenden Realsteuern. Bei dem Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Bereich der von den Gemeinden zu erhebenden Realsteuern. Die Antragsgegnerin hat mit dem Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 Säumniszuschläge zu den vom Antragstellern geschuldeten Gewerbesteuern für die Veranlagungsjahre 2008 bis 2012 abgerechnet. Gewerbesteuern sind Realsteuern (§ 3 Abs. 2 der Abgabenordnung - AO -). Die Rechtmäßigkeit des Abrechnungsbescheids der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 ist demnach vor Erhebung einer Anfechtungsklage in einem Vorverfahren nachzuprüfen, das mit der Erhebung des Widerspruchs beginnt. Einen solchen Widerspruch hat der Antragsteller bisher noch nicht erhoben, kann ihn aber noch zulässig erheben.
6Nach § 70 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 58 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz VwGO beginnt die Frist für die Erhebung des Widerspruchs nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde, bei der der Widerspruch zu erheben ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Ist die Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder unrichtig erteilt worden, ist die Erhebung des Widerspruchs innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig. Die Rechtsbehelfsbelehrung im Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 ist unrichtig, weil sie den Antragsteller dahingehend belehrt hat, er könne Klage gegen den Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 erheben, was nach Vorstehendem falsch ist.
7Der Senat kann auch die aufschiebende Wirkung eines noch zu erhebenden Widerspruchs des Antragstellers gegen den Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 anordnen. Nach § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Die Vorschrift zeigt, dass der Rechtsbehelf, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet wird, noch nicht erhoben sein muss.
8Ebenso OVG NRW, Beschluss vom 28. Dezember 2018 - 12 B 1838/18 -, juris, Rdnr. 4; ferner Gersdorf, in: Posser/Wolff, VwGO, 2. Aufl. 2014, § 80, Rdnr. 164; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 26. Aufl. 2020, § 80, Rdnr. 139; a.A. noch OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Mai 1995 - 10 B 894/95 -, NVwZ-RR 1996, 184, und vom 18. Juli 1974 - XII B 422/74 -, NJW 1975, 794; ferner Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, Kommentar zur VwGO, Stand Januar 2020, § 80, Rdnr. 460; Windthorst, in: Gärditz, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 2018, § 80, Rdnr. 203; Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl. 2018, § 80, Rdnr. 86; Hoppe, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2019, § 80, Rdnr. 81; Külpmann, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011, Rdnr. 945.
9Dass § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO nur den Rechtsbehelf der Anfechtungsklage, nicht jedoch den Rechtsbehelf des Anfechtungswiderspruchs nennt, steht der vorgenannten Auslegung der Vorschrift nicht entgegen. Sie entspricht dem Sinn und Zweck des § 80 VwGO, einen möglichst effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund überzeugt auch die Ansicht nicht, § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO erfasse lediglich den Zeitraum zwischen der Zurückweisung des Widerspruchs und der Erhebung der Anfechtungsklage und trage dem Umstand Rechnung, dass mit Blick auf den noch nicht bestandskräftigen Widerspruchsbescheid die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gerichtlich hergestellt werde.
10So Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, Kommentar zur VwGO, Stand Januar 2020, § 80, Rdnr. 461; ferner Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhl-fauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl. 2018, § 80, Rdnr. 86; Külpmann, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011, Rdnr. 946.
11§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO steht der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines noch zu erhebenden Widerspruchs ebenfalls nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Der Eintritt der aufschiebenden Wirkung setzt demnach die Erhebung des Widerspruchs voraus. Dies hindert aber die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines noch zu erhebenden Widerspruchs nicht, die dann eben mit der Erhebung des Widerspruchs eintritt.
12Die Klage des Antragstellers gegen den Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 entfaltet - ungeachtet ihrer Unzulässigkeit - aufschiebende Wirkung nicht nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Denn nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten. Bei den von der Antragsgegnerin mit dem Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 abgerechneten Säumniszuschlägen handelt es sich um öffentliche Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO.
13Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 17. März 1994 - 15 B 2916/93 -, juris, Rdnr. 2, und vom 31. August 1983 - 3 B 538/83 -, NVwZ 1984, 395; OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 14. März 2011 - OVG 9 S 50.10 -, juris, Rdnr. 11 f., und vom 25. September 2005 - OVG 9 S 10.05 -, OVGE 26, 171 (174 ff.); Hess. VGH, Beschluss vom 1. Februar 2012 - 5 B 77/12 -, KStZ 2012, 77 f.; Hamb. OVG, Beschluss vom 17. Oktober 2005 - 1 Bs 210/05 -, NVwZ-RR 2006, 156 (157); Puttler, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 80, Rdnr. 59; Saurenhaus/Buchheister, in: Wysk, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 2016, § 80, Rdnr. 14; a.A. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4. Februar 2015 ‑ 2 S 2436/14 -, VBlBW 2015, 467 (468); Bay. VGH, Beschluss vom 21. Dezember 1998 - 4 ZS 98.2811 -, juris, Rdnr. 9 f.; Nds. OVG, Beschluss vom 13. Oktober 2011 - 8 ME 173/11 -, juris, Rdnr. 8; Sächs. OVG, Beschluss vom 6. Oktober 2015 - 3 B 177/15 -, juris, Rdnr. 5; OVG LSA, Beschluss vom 5. Juli 2006 - 4 M 272/06 -, juris, Rdnr. 4; Thür. OVG, Beschluss vom 23. November 2007 - 4 EO 536/07 -, KStZ 2008, 218 f.; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, Kommentar zur VwGO, Stand Januar 2020, § 80, Rdnr. 137; Windthorst, in: Gärditz, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 2018, § 80, Rdnr. 132; Gersdorf, in: Posser/Wolff, VwGO, 2. Aufl. 2014, § 80, Rdnr. 52; Hoppe, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2019, § 80, Rdnr. 30; M. Redeker, in: Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2014, § 80, Rdnr. 16; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 26. Aufl. 2020, § 80, Rdnr. 63; Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl. 2018, § 80, Rdnr. 30; Kugele, VwGO, § 80, Rdnr. 18; Külpmann, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011, Rdnr. 687.
14Öffentliche Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO sind alle Geldleistungen, die - auch - eine Finanzierungsfunktion für die öffentlichen Haushalte erfüllen und von daher einer Steuer, einer Gebühr oder einem Beitrag gleichstehen.
15Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1992 - 4 C 30.90 -, NVwZ 1993, 1112 f.
16Dies folgt aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO. Der Begriff der „öffentlichen Abgaben“ in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO ist weitgefasst und beschränkt sich nicht etwa auf die klassische Trias von Steuern, Gebühren und Beiträgen. Nach der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum mit § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO wortgleichen § 81 Abs. 1 Satz 3 VwGO-E war für Abgaben und Kosten mit Rücksicht auf die Steuergesetzgebung, die eine aufschiebende Wirkung nicht kennt, eine aufschiebende Wirkung nicht vorgesehen.
17Vgl. BT-Drs. 3/55, S. 40.
18Dem lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber einerseits solche Geldleistungspflichten von der aufschiebenden Wirkung ausnahmen wollte, die von ihrer Zweckrichtung her Gemeinsamkeiten mit den Steuern aufweisen, und dass er andererseits die Ausnahme von der aufschiebenden Wirkung nicht auf Steuern, Gebühren und Beiträge beschränken wollte, da er nicht diese damals im Steuerrecht geläufigen Begriffe, sondern den weiteren Begriff der öffentlichen Abgaben verwendet hat.
19Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1992 - 4 C 30.90 -, NVwZ 1993, 1112.
20Der Sinn und Zweck des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO besteht darin, von der aufschiebenden Wirkung alle öffentlichen Abgaben auszunehmen, durch die, Steuern vergleichbar, die Befriedigung des öffentlichen Finanzbedarfs sichergestellt wird. Der Staat und die Kommunen sind zur Finanzierung ihrer vielfältigen Aufgaben auf einen kontinuierlichen Zufluss von Geld aus Steuern und anderen öffentlichen Abgaben angewiesen. Entscheidend ist daher, ob die öffentliche Abgabe ebenso wie eine Steuer, eine Gebühr oder ein Beitrag eine Finanzierungsfunktion erfüllt. Die Befriedigung des öffentlichen Finanzbedarfs muss dabei nicht der einzige Zweck der Abgabe sein, denn die Erzielung von Einnahmen kann auch bei Steuern Nebenzweck sein (vgl. § 3 Abs. 1, letzter Teilsatz AO).
21Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1992 - 4 C 30.90 -, NVwZ 1993, 1112, 1114.
22Ausgehend hiervon handelt es sich bei Säumniszuschlägen um öffentliche Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO. Sie dienen auch der Befriedigung des Finanzbedarfs der öffentlichen Haushalte. Säumniszuschläge sind in erster Linie ein Druckmittel, um den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung der Steuer anzuhalten. Darüber hinaus verfolgt § 240 AO aber auch den Zweck, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu erhalten. Durch Säumniszuschläge werden schließlich auch die Verwaltungsaufwendungen abgegolten, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, dass der Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgerecht zahlt.
23Vgl. BFH, Beschluss vom 2. März 2017 - II B 33/16 -, BFHE 257, 27 (34 f.), Rdnr. 32, und Urteil vom 29. August 1991 - V R 78/86 -, BFHE 165, 178 (183 f.).
24Dem lässt sich nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Einnahmen durch säumige Schuldner könnten nicht im Voraus in den Haushalt eingeplant und kalkuliert werden.
25So VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4. Februar 2015 - 2 S 2436/14 -, VBlBW 2015, 467 (468); OVG LSA, Beschluss vom 5. Juli 2006 - 4 M 272/06 -, juris, Rdnr. 4.
26Auch die zukünftige Höhe von Steuereinnahmen lässt sich nicht immer verlässlich abschätzen und dementsprechend sicher in den Haushalt einplanen, etwa bei einem unvorhergesehenen Konjunktureinbruch. Umgekehrt mag auch die voraussichtliche Höhe verwirkter und gezahlter Säumniszuschläge aufgrund von Erfahrungswerten vergangener Jahre in etwa abschätz- und damit einplanbar sein.
27Der Antrag ist zulässig, soweit die Antragsgegnerin mit dem Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 einen am 7. November 2014 verwirkten Säumniszuschlag in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 geltend macht. Im Übrigen ist er unzulässig.
28Nach § 80 Abs. 6 VwGO ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder teilweise abgelehnt hat. Dies gilt nicht, wenn 1. die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder 2. eine Vollstreckung droht. Bei dem Erfordernis des vorherigen Antrags auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde handelt es sich um eine nicht nachholbare Zugangsvoraussetzung für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.
29Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Juli 2012 - 9 B 818/12 -, NVwZ-RR 2012, 748.
30Die Antragsgegnerin hat keinen Antrag des Antragstellers auf Aussetzung der Vollziehung des Abrechnungsbescheids vom 14. Mai 2020 ganz oder teilweise abgelehnt, bevor der Antragsteller beim Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage 7 K 1186/20 gestellt hat, weil der Antragsteller keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Abrechnungsbescheids vom 14. Mai 2020 bei der Antragsgegnerin gestellt hat. Eine Vollstreckung aus dem Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 droht dem Antragsteller nur hinsichtlich des am 7. November 2014 verwirkten Säumniszuschlags in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011.
31Eine Vollstreckung droht erst dann im Sinne des § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO, wenn der Vollstreckungsgläubiger konkrete Vorbereitungshandlungen für eine baldige Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen getroffen hat und aus der Sicht eines objektiven Betrachters die Vollstreckung so unmittelbar bevorsteht, dass es dem Schuldner nicht zuzumuten ist, zunächst bei der Behörde die Aussetzung der Vollziehung zu beantragen, statt unmittelbar bei Gericht um einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen.
32Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Mai 2010 - 7 B 356/10 -, juris, Rdnr. 5.
33Dies ist hier nach Aktenlage nur hinsichtlich des vom Antragsteller am 7. November 2014 verwirkten Säumniszuschlags in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 der Fall. Diesbezüglich hat die Antragsgegnerin am 15. April 2020 einen Vollstreckungsauftrag erteilt und der Vollziehungsbeamte der Antragsgegnerin den Antragsteller am 17. April 2020 aufgefordert, diesen und weitere, mit dem Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 nicht geltend gemachte Beträge in Höhe von insgesamt 5.288,- € unverzüglich zu bezahlen, und diesbezüglich die Vollstreckung angekündigt. Daher musste der Antragsteller annehmen, dass bezüglich des Säumniszuschlags in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 die Vollstreckung unmittelbar bevorstehe.
34Vgl. auch BFH, Beschluss vom 22. November 2000 ‑ V S 15/00 -, juris, Rdnr. 11.
35Hinsichtlich der übrigen im Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 geltend gemachten Säumniszuschläge drohte hingegen keine Vollstreckung. Hierfür ergeben sich aus den Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin keine Anhaltspunkte und solche werden vom Antragsteller auch nicht vorgetragen. Dass die Antragsgegnerin dem Antragsteller im Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 mitteilte, die Klage entbinde nicht von der Zahlungsverpflichtung, begründet aus der Sicht eines objektiven Betrachters keinen Anhalt für eine unmittelbar bevorstehende Vollstreckung.
36Soweit der Antrag zulässig ist, ist er auch begründet. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Abrechnungsbescheids der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020, soweit sie darin einen am 7. November 2014 verwirkten Säumniszuschlag in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2014 geltend macht (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 4 Satz 2, 1. Alt. VwGO). Der Säumniszuschlag ist nach Aktenlage zahlungsverjährt und daher erloschen.
37Nach §§ 228 Satz 1, 232 AO unterliegen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis einer besonderen Zahlungsverjährung. Durch die Verjährung erlöschen der Anspruch aus dem Steuerschuldnerverhältnis und die von ihm abhängenden Zinsen. Der Säumniszuschlag ist ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (vgl. § 37 Abs. 1, § 3 Abs. 4 Nr. 5, § 240 AO).
38Nach § 228 Satz 2, 1. Halbsatz, § 229 Abs. 1 Satz 1 AO beträgt die (regelmäßige) Verjährungsfrist fünf Jahre. Die Verjährung beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Anspruch erstmals fällig geworden ist. Der von der Antragsgegnerin in der Vollstreckungsankündigung vom 17. April 2020 und im Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 geltend gemachte Säumniszuschlag in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 ist am 7. November 2014 fällig geworden. Die fünfjährige Verjährungsfrist des § 228 Satz 2, 1. Alt. AO begann daher mit Ablauf des 31. Dezembers 2014 und lief am 31. Dezember 2019 ab.
39Nach § 220 Abs. 2 Satz 1 AO wird der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis mit seiner Entstehung fällig, wenn es an einer besonderen gesetzlichen Regelung über die Fälligkeit fehlt, es sei denn, dass in einem nach § 254 AO erforderlichen Leistungsgebot eine Zahlungsfrist eingeräumt worden ist. Der von der Antragsgegnerin in der Vollstreckungsankündigung vom 17. April 2020 und im Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 geltend gemachte Säumniszuschlag in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 ist am 7. November 2014 entstanden. Eine besondere gesetzliche Regelung der Fälligkeit von Säumniszuschlägen existiert nicht (vgl. § 240 AO). Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller auch nicht in einem Leistungsgebot eine (längere) Zahlungsfrist eingeräumt.
40Nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von einem Prozent des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten, wenn eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags entrichtet wird; abzurunden ist auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag. Die Antragsgegnerin hatte die Gewerbesteuer für den Antragsteller für das Veranlagungsjahr 2011 mit Gewerbesteuerbescheid vom 1. Oktober 2014 von 6.923,- € auf 76.971,80 € erhöht, mithin um 70.048,80 €. Den Mehrbetrag von 70.048,80 € hatte sie zum 6. November 2014 fällig gestellt. Der Antragsteller hatte diesen Betrag bis zum Ablauf des 6. November 2014 jedoch nicht gezahlt, so dass hierfür am 7. November 2014 ein Säumniszuschlag in Höhe von 700,- € entstanden ist.
41Die Verjährungsfrist des § 228 Satz 2, 1. Halbsatz AO ist nach Aktenlage nicht nach § 231 AO unterbrochen worden. In Betracht kommt hier nach Aktenlage eine Unterbrechung nach § 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AO. Danach wird die Verjährung eines Anspruchs durch schriftliche Geltendmachung des Anspruchs unterbrochen. Schriftlich geltend gemacht wird der Anspruch durch jedes Schreiben, dass den Steuerpflichtigen zur Zahlung auffordert.
42Vgl. BFH, Urteil vom 30. März 1993 - VII R 37/92 -, juris, Rdnr. 28.
43Im vorliegenden Fall hat die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 15. November 2019 aufgefordert, 63.808,80 € zu zahlen. In diesem Betrag waren Säumniszuschläge zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 in Höhe von 396,- € enthalten. Durch dieses Schreiben ist die Verjährung des am 7. November 2014 entstandenen Säumniszuschlags in Höhe von 700,- € zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 jedoch nicht unterbrochen worden, und zwar auch nicht in Höhe von 396,- €.
44Aus dem Schreiben, mit dem der Anspruch geltend gemacht wird, müssen sich Art und Umfang des geltend gemachten Anspruchs ergeben. Es reicht aus, wenn sich Art und Umfang des geltend gemachten Anspruchs im Wege der Auslegung ermitteln lassen.
45Vgl. BFH, Urteil vom 30. März 1993 - VII R 37/92 -, juris, Rdnr. 28.
46Jedenfalls dann, wenn mehrere Säumniszuschläge entstanden sind, die aber nicht alle geltend gemacht werden, muss sich dem Schreiben zumindest im Wege der Auslegung der Zeitpunkt oder Zeitraum entnehmen lassen, zu dem oder für den der geltend gemachte Säumniszuschlag entstanden sein soll. Denn sonst bleibt unklar, hinsichtlich welchen Säumniszuschlags die Verjährung unterbrochen wird und hinsichtlich welchen Säumniszuschlags nicht.
47Dem Schreiben der Antragsgegnerin vom 15. November 2019 lässt sich jedoch auch im Wege der Auslegung nicht entnehmen, die Zahlung welchen zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 entstandenen Säumniszuschlags die Antragsgegnerin in Höhe von 396,- € verlangt hat. Hinsichtlich der Gewerbesteuernachforderung der Antragsgegnerin für das Veranlagungsjahr 2011 aus dem Gewerbesteuerbescheid vom 1. Oktober 2014 in Höhe von 70.048,80 € war nicht nur der Säumniszuschlag vom 7. November 2014 in Höhe von 700,- € entstanden, sondern infolge Nichtzahlung der Gewerbesteuernachforderung durch den Antragsteller ein weiterer Säumniszuschlag in Höhe von 700,- € am 7. Dezember 2014. Ferner waren nach der Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 durch die Antragsgegnerin mit Verfügung vom 27. Januar 2015 und Wirkung ab dem 17. Dezember 2014 in Höhe von 55.871,60 € weitere Säumniszuschläge in Höhe von jeweils 141,50 € ab dem 7. Januar 2015 (70.048,80 € - 55.871,60 € = 14.177,20 €; 1 Säumniszuschlag = 141,50 €), nach der Herabsetzung der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 auf 28.060,- € mit Gewerbesteuerbescheid vom 7. Oktober 2015 weitere Säumniszuschläge in Höhe von jeweils 211,- € ab dem 7. November 2015 (28.060,- € - gezahlter 6.923,- € = 21.137,- €, 1 Säumniszuschlag = 211,- €) und nach der weiteren Herabsetzung der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 auf 11.895,60 € mit Gewerbesteuerbescheid vom 5. November 2019 ein weiterer Säumniszuschlag in Höhe von 49,50 € am 7. November 2019 entstanden (11.895,60 € - gezahlter 6.923,- € = 4.972,60 €; 1 Säumniszuschlag = 49,50 €).
48Aus dem Schreiben der Antragsgegnerin vom 15. November 2019 geht nicht hervor, für welchen dieser entstandenen Säumniszuschläge die Antragsgegnerin die Zahlung von 396,- € fordert. Das Schreiben vom 15. November 2019 hat daher die Verjährung des am 7. November 2014 entstandenen Säumniszuschlags in Höhe von 700,- € nicht unterbrochen. Gleiches gilt für den Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 6. Dezember 2019, in dem diese wiederum ohne nähere Spezifizierung Säumniszuschläge zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 in Höhe von 396,- € geltend gemacht hat.
49Der Senat weist mit Blick auf den zu erwartenden Widerspruch des Antragstellers gegen und Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Abrechnungsbescheids vom 14. Mai 2020 auf Folgendes hin:
50Der Abrechnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 14. Mai 2020 ist rechtswidrig, soweit die Antragsgegnerin darin Säumniszuschläge für Zeiträume und Beträge geltend macht, hinsichtlich derer sie die Vollziehung der Gewerbesteuerbescheide vom 25. November 2013 (für die Veranlagungsjahre 2008 bis 2010) und vom 1. Oktober 2014 (für das Veranlagungsjahr 2011) ohne die Bedingung einer Sicherheitsleistung ausgesetzt hatte.
51Verwirkte Säumniszuschläge entfallen - ggf. auch rückwirkend - für den Zeitraum, für den die Aussetzung der Vollziehung angeordnet wird. Zwar bleibt ein Abgabenbescheid in seiner Wirksamkeit von der Aussetzung der Vollziehung unberührt. Die Aussetzung der Vollziehung führt aber dazu, dass die Behörde gehindert ist, die Regelung des Verwaltungsakts umzusetzen. Soweit die Regelung die Fälligstellung einer Forderung umfasst, wie dies insbesondere bei Abgabenbescheiden der Fall ist, hat die Aussetzung der Vollziehung zur Folge, dass die Forderung für die Behörde und ihren Rechtsträger einstweilen als nicht fällig gilt. Dann aber können Säumniszuschläge für diese Zeitspanne nicht anfallen.
52Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2016 - 9 C 1.15 ‑, BVerwGE 154, 68 (72 f.), Rdnr. 15 f. (zur Wirkung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO durch ein Verwaltungsgericht).
53Im vorliegenden Fall hat die Antragsgegnerin mit Verfügung vom 16. Januar 2015 die Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids vom 25. November 2013 hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2008 in Höhe von 59.209,- €, hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2009 in Höhe von 62.128,- € und hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2010 in Höhe von 58.920,40 € jeweils ab dem 30. Dezember 2013 (Datum der Fälligkeit der Gewerbesteuerforderungen aus dem Gewerbesteuerbescheid vom 25. November 2013) bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung des Finanzamts oder im Fall einer Änderung bis einen Monat nach Bekanntgabe des geänderten Gewerbesteuerbescheids ohne die Bedingung einer Sicherheitsleistung ausgesetzt. Die Entscheidung des Finanzamts Münster-Innenstadt vom 11. September 2015 über die Einsprüche des Antragstellers gegen die Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamts Münster-Innenstadt vom 25. November 2013 für die Veranlagungsjahre 2008 bis 2010 ist den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 15. September 2015 zugegangen und damit bekanntgegeben worden. Die Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids vom 25. November 2013 endete daher mit Ablauf des 15. Oktobers 2015. Auf die Bekanntgabe des Gewerbesteuerbescheids vom 7. Oktober 2015, mit dem der Gewerbesteuerbescheid vom 25. November 2013 geändert wurde, kam es damit für das Ende der Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids vom 25. November 2013 nicht mehr an.
54Ferner hat die Antragsgegnerin mit der Verfügung vom 16. Januar 2015 die Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids vom 25. November 2013 hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2008 in Höhe von 21.597,- €, hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2009 in Höhe von 10.221,20 € und hinsichtlich des Veranlagungsjahrs 2010 in Höhe von 20.864,80 € unter der Bedingung ausgesetzt, dass der Antragsteller hierfür bis zum 20. Februar 2015 eine Sicherheitsleistung in Höhe von 60.889,- € erbringt. Diese Sicherheitsleistung hat der Antragsteller nicht erbracht, so dass die Aussetzung der Vollziehung insoweit nicht wirksam geworden ist.
55Der Gewerbesteuerbescheid vom 25. November 2013 war daher in der Zeit vom 30. Dezember 2013 bis zum 15. Oktober 2015 hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2008 nur in Höhe von 21.597,- €, hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2009 nur in Höhe von 10.221,20 € und hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2010 nur in Höhe von 20.864,80 € vollziehbar (Gewerbesteuerbescheid vom 25. November 2013: Festsetzung für das Veranlagungsjahr 2008: + 80.806,- € - 59.209,- € (Aussetzung der Vollziehung) = 21.597,- €; Festsetzung für das Veranlagungsjahr 2009: + 72.349,20 € - 62.128,- € = 10.221,20 €; Festsetzung für das Veranlagungsjahr 2010: + 79.785,20 € - 58.920,40 € = 20.864,80 €). Säumniszuschläge sind daher in diesem Zeitraum nur hinsichtlich der vorgenannten vollziehbaren Teilbeträge angefallen.
56Ferner hat die Antragsgegnerin mit Verfügung vom 27. Januar 2015 die Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids vom 1. Oktober 2014 hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 in Höhe von 55.871,60 € mit Wirkung ab dem 17. Dezember 2014 bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung des Finanzamts oder im Fall einer Änderung bis einen Monat nach Bekanntgabe des geänderten Gewerbesteuerbescheids ohne die Bedingung einer Sicherheitsleistung ausgesetzt. Das Finanzamt Münster-Innenstadt hat mit der Einspruchsentscheidung vom 11. September 2015, den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zugegangen am 15. September 2015, auch über den Einspruch des Antragstellers gegen die Ablehnung seines Antrags auf Änderung des Gewerbesteuermessbetrags für das Veranlagungsjahr 2015 entschieden. Die Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids vom 1. Oktober 2014 endete daher ebenfalls mit Ablauf des 15. Oktobers 2015.
57Weiter hat die Antragstellerin mit der Verfügung vom 27. Januar 2015 die Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids vom 1. Oktober 2014 hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 in Höhe von 13.970,20 € unter der Bedingung ausgesetzt, dass der Antragsteller hierfür bis zum 27. Februar 2015 eine Sicherheitsleistung in Höhe von 15.224,- € erbringt. Diese Sicherheitsleistung hat der Antragsteller nicht erbracht, so dass die Aussetzung der Vollziehung insoweit nicht wirksam geworden ist.
58Der Gewerbesteuerbescheid vom 1. Oktober 2014 war daher in der Zeit vom 17. Dezember 2014 bis zum 15. Oktober 2015 hinsichtlich der Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2011 nur in Höhe von 14.177,20 € vollziehbar (Festsetzung für das Veranlagungsjahr 2011: + 70.048,80 € - 55.871,60 € = 14.177,20 €). Säumniszuschläge sind daher in diesem Zeitraum nur hinsichtlich des vorgenannten vollziehbaren Teilbetrags angefallen.
59Auf die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamt Münster-Innenstadt für die Veranlagungsjahre 2008 bis 2011 durch dieses sowie durch das Finanzgericht Münster mit Beschluss vom 7. Januar 2015 - 8 V 1774/14 G ‑ kommt es entgegen der Meinung des Antragstellers für die Entstehung der Säumniszuschläge nicht an, sondern allein darauf, ob und inwieweit die Antragsgegnerin die Vollziehung der Gewerbesteuerbescheide vom 25. November 2013 und 1. Oktober 2014 ausgesetzt hat. Das Finanzamt Münster-Innenstadt und das Finanzgericht Münster haben nicht die Vollziehbarkeit der Gewerbesteuerbescheide der Antragsgegnerin vom 25. November 2013 und 1. Oktober 2014 ausgesetzt, sondern lediglich (teilweise) die Vollziehbarkeit der Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamts Münster-Innenstadt vom 25. November 2013 und 1. Oktober 2014. Die (teilweise) Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide bewirkt nicht unmittelbar die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuerbescheide, sondern verpflichtet die Antragsgegnerin lediglich, die Vollziehung der Gewerbesteuerbescheide im Umfang der Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide auszusetzen (§ 361 Abs. 3 Satz 1 AO). Dabei steht es im Ermessen der Antragsgegnerin, die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuerbescheide von der Erbringung einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen, sofern nicht das Finanzamt oder das Finanzgericht bei der Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide das Verlangen einer Sicherheitsleistung für die Aussetzung der Gewerbesteuerbescheide ausdrücklich ausgeschlossen haben (§ 361 Abs. 3 Satz 3 AO).
60Abgesehen davon hat die Antragsgegnerin die (teilweise) Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamts Münster-Innenstadt vom 25. November 2013 und 1. Oktober 2014 durch die Verfügungen des Finanzamts Münster-Innenstadt vom 13. Dezember 2013, 18. Dezember 2014 und 13. und 19. Januar 2015 sowie den Beschluss des Finanzgerichts Münster vom 7. Januar 2015 - 8 V 1774/14 G - mit den Verfügungen vom 16. und 27. Januar 2015 vollständig umgesetzt.
61Die Ansicht des Antragstellers, Säumniszuschläge fielen bereits dann nicht an, wenn der Antragsteller sich nach besten Kräften darum bemüht habe, eine Aussetzung der Vollziehung zu erreichen, diese aber vom Finanzamt abgelehnt worden sei, trifft nicht zu. Dies kann allenfalls auf einen Anspruch auf Erlass von Säumniszuschlägen führen.
62Vgl. hierzu BFH, Urteil vom 18. September 2018 - XI R 36/16 -, BFHE 262, 297 (302), Rdnr. 36 ff.
63Über den Erlass von Säumniszuschlägen ist aber nicht mit Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO, sondern durch einen Erlassbescheid nach § 227 AO zu entscheiden ist.
64Vgl. BFH, Beschluss vom 30. April 2003 - XI B 175/02 -, juris, Rdnr. 5 f.
65Es kommt entgegen der Ansicht des Antragstellers für die Rechtmäßigkeit des Abrechnungsbescheids vom 14. Mai 2020 auch nicht darauf an, ob die Antragsgegnerin die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide vom 25. November 2013 und 1. Oktober 2014 hinsichtlich der oben genannten Teilbeträge zu Recht von der Erbringung entsprechender Sicherheitsleistungen durch den Antragsteller abhängig gemacht hat. Mit einem Abrechnungsbescheid über Säumniszuschläge wird dargestellt, ob und ggf. in welcher Höhe Säumniszuschläge entstanden und ggf. die entsprechende Zahlungsverpflichtung zwischenzeitlich durch den Eintritt eines der in § 47 AO genannten Erlöschensgründe erloschen ist. Für die Verwirkung von Säumniszuschlägen kommt es daher allein darauf an, ob die Vollziehung des Steuerbescheids vom Finanzamt - hier der Gemeinde - tatsächlich ausgesetzt oder aufgehoben wurde, nicht jedoch darauf, ob die Vollziehung materiell-rechtlich zu Recht ausgesetzt oder nicht ausgesetzt worden ist.
66Vgl. BFH, Urteil vom 18. April 2006 - VII R 77/04 -, BFHE 212, 29 (34).
67Der Antragsteller wendet sich zu Unrecht gegen die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge von einem Prozent pro angefangenem Monat nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO. Zwar beinhalten Säumniszuschläge - insoweit Zinsen vergleichbar - auch eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern. Sie sind aber in erster Linie ein Druckmittel, um den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung der Steuer anzuhalten. Außerdem werden durch sie auch die Verwaltungsaufwendungen abgegolten, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, dass der Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgerecht zahlt.
68Vgl. BFH, Beschluss vom 2. März 2017 - II B 33/16 -, BFHE 257, 27 (34 f.), Rdnr. 32, und Urteil vom 29. August 1991 - V R 78/86 -, BFHE 165, 178 (183 f.).
69Angesichts dieser mehrfachen Funktion ist die Höhe der Säumniszuschläge mit einem Prozent pro angefangenem Monat keineswegs zu hoch bemessen.
70Auch der weitere Einwand des Antragstellers, aus der Anlage zum Abrechnungsbescheid vom 14. Mai 2020 sei für ihn nicht nachvollziehbar, inwieweit durch die dort aufgelisteten Zahlungen und Verrechnungen nicht auch die streitgegenständlichen Säumniszuschläge reduziert worden seien oder hätten reduziert werden müssen, verfängt nicht.
71Nach § 225 Abs. 1 AO wird, wenn ein Steuerpflichtiger mehrere Beträge schuldet und bei freiwilliger Zahlung der gezahlte Betrag nicht zur Tilgung sämtlicher Schulden ausreicht, die Schuld getilgt, die der Steuerpflichtige bei der Zahlung bestimmt. Im vorliegenden Fall ergibt sich bereits aus der Höhe der Zahlungen des Antragstellers vom 16. Februar, 15. Mai, 15. August, 16. November und 8. Dezember 2011 sowie vom 16. Februar, 16. Mai, 16. August und 16. November 2012, dass hiermit die entsprechenden Gewerbesteuervorauszahlungsschulden des Antragstellers für die Veranlagungsjahre 2011 und 2012 getilgt werden sollten und nicht etwa ältere Säumniszuschläge. Ebenso ergibt sich aus der Höhe der Zahlung vom 20. November 2014 von 1.258,50 €, dass hiermit die Gewerbesteuerrestschuld für das Veranlagungsjahr 2012 in Höhe von 1.258,80 € getilgt werden sollte (festgesetzt mit Gewerbesteuerbescheid vom 1. Oktober 2014: 8.178,80 € - 6.920,- € Vorauszahlungen (4 x 1.730,- €) = 1.258,80 €). Schließlich ergibt sich auch aus der Höhe der Zahlung vom 20. Dezember 2019 von 22.150,30 €, dass damit die noch rückständigen Gewerbesteuerforderungen der Antragsgegnerin für die Veranlagungsjahre 2008 bis 2012 getilgt werden sollten (Summe der rückständigen Gewerbesteuerforderungen für die Veranlagungsjahre 2008 bis 2012 laut Abrechnungsbescheid vom 6. Dezember 2019: 22.150,30 €).
72Nach § 226 Abs. 1 AO i.V.m. § 396 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der aufrechnende Teil die Forderungen bestimmen, die gegeneinander aufgerechnet werden sollen, wenn der eine oder der andere Teil mehrere zur Aufrechnung geeignete Forderungen hat. Im vorliegenden Fall hat die Antragsgegnerin in ihren Aufrechnungserklärungen vom 1. April 2015, 31. Mai 2017 und 30. Mai 2018 erklärt, gegen die dort genannten Erstattungsansprüche des Antragstellers mit ihrer Gewerbesteuerforderung für das Veranlagungsjahr 2008, fällig am 30. Dezember 2013, aufzurechnen. Eine Aufrechnungserklärung vom 13. April 2016 findet sich in den Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin nicht. Falls eine solche nicht erfolgt sein sollte, wäre die Erklärung der Antragsgegnerin im Abrechnungsbescheid vom 6. Dezember 2019, der Betrag des Gewerbesteuersolls für das Veranlagungsjahr 2008 in Höhe von 12.641,20 € sei per Aufrechnung u.a. mit Schreiben vom 13. April 2016 in Höhe von 195,- € reduziert worden, entsprechend zu verstehen.
73Der Vortrag des Antragstellers, er habe im März 2013 eine Stundungsvereinbarung mit dem Mitarbeiter U. der Antragsgegnerin getroffen, ist unglaubhaft. Der Mitarbeiter U. der Antragsgegnerin war für die Gewährung einer Stundung nicht zuständig. Er hat einen Stundungsantrag des Antragstellers vom 11. November 2014 vielmehr an die für die Steuerfestsetzung zuständige Sachbearbeiterin weitergeleitet. Dies ist auch nachvollziehbar, da die Bestimmung der Fälligkeit Teil der Steuerfestsetzung ist, folglich auch deren Stundung, da die Stundung ein Hinausschieben der Fälligkeit ist (vgl. § 222 AO), nicht jedoch Teil der Vollstreckung, für die der Mitarbeiter U. zuständig war. Daher ist es unglaubhaft, dass der Mitarbeiter U. eine Stundung mit dem Antragsteller vereinbart hat.
74Die vor dem 31. Dezember 2014 entstandenen Säumniszuschläge dürften aus den oben zum Säumniszuschlag vom 7. November 2014 genannten Gründen verjährt sein. Soweit die Antragsgegnerin mit dem Schreiben vom 15. November 2019 und dem Abrechnungsbescheid vom 6. Dezember 2019 Säumniszuschläge zu den Gewerbesteuern für die Veranlagungsjahre 2008 bis 2010 geltend gemacht hat, lassen das Schreiben vom 15. November 2019 und der Abrechnungsbescheid vom 6. Dezember 2019 nicht erkennen, welche konkret wann entstandenen Säumniszuschläge damit geltend gemacht werden sollten.
75Daraus, dass die Antragsgegnerin die streitigen Säumniszuschläge über einen längeren Zeitraum nicht gegenüber dem Antragsteller geltend gemacht hat, lässt sich nicht folgern, dass die Antragsgegnerin stillschweigend auf diese verzichtet hätte. Hierzu hätte es einer entsprechenden, zumindest konkludenten Erklärung der Antragsgegnerin bedurft, die der Antragsteller entsprechend hätte verstehen dürfen. In der bloßen Untätigkeit der Antragsgegnerin liegt eine solche Erklärung nicht.
76Eine Verwirkung der streitigen Säumniszuschläge durch die Antragsgegnerin legt der Antragsteller nicht schlüssig dar. Verwirkt ist ein Anspruch, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die spätere Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment). Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser seinen Anspruch nach längerer Zeit nicht mehr geltend machen würde, und wenn er sich infolge seines Vertrauens so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde.
77Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. August 2018 - 3 B 24.18 -, juris, Rdnr. 16.
78Der Antragsteller legt kein Verhalten der Antragsgegnerin schlüssig dar, aufgrund dessen er darauf vertrauen durfte, die Antragsgegnerin werde die streitigen Säumniszuschläge nicht mehr geltend machen. Allein längere Untätigkeit reicht hierfür nicht aus. Das Bestehen einer Stundungsabrede mit dem Mitarbeiter U. legt der Antragsteller nicht schlüssig dar. Ferner legt der Antragsteller nicht schlüssig dar, dass er darauf vertraut hat, die Antragsgegnerin werde die Säumniszuschläge nicht mehr geltend machen, und sich infolge dieses Vertrauens so eingerichtet hat, das heißt solche Dispositionen getroffen hat, dass ihm durch die nunmehrige Durchsetzung der Säumniszuschläge ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde.
79Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Antragsgegnerin ist nur in einem ganz geringen, für die Kosten des Verfahrens unerheblichen Umfang unterlegen.
80Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes - GKG -.
81Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Das Amtsgericht Peine ist zuständig für die Entscheidung über die Einwendungen des Verletzten gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft Hildesheim vom 23. Dezember 2019.
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht Peine hat den Verurteilten am 24. Juli 2018 rechtskräftig wegen Betruges in 19 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und die Einziehung des Wertes des durch die Taten Erlangten angeordnet. Der Verurteilte verbüßt seit dem 3. Januar 2019 Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt ...
2
Am 2. Dezember 2019 hat der Verletzte F. einen Anspruch auf Auskehrung des Verwertungserlöses angemeldet. Mit Bescheid vom 23. Dezember 2019 hat die Staatsanwaltschaft Hildesheim die Anmeldung als verspätet zurückgewiesen. Hiergegen hat der Verletzte mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 10. Februar 2020 Einwendungen erhoben.
3
Die Strafvollstreckungskammer 14 des Landgerichts Hildesheim hat sich durch Beschluss vom 9. April 2020 für unzuständig erklärt. Das Amtsgericht Peine, dem daraufhin die Akten zugeleitet worden sind, hat mit Beschluss vom 23. April 2020 die Einwendungen des Verletzten zurückgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde des Verletzten hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Hildesheim mit Beschluss vom 9. Juni 2020 den Beschluss des Amtsgerichts Peine aufgehoben, weil nicht dieses, sondern die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim für die Entscheidung zuständig gewesen sei.
4
Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim hat sich mit Verfügung vom 8.7.2020 erneut für unzuständig erklärt und die Akten dem Amtsgericht zurückgesandt.
5
Hierauf hat das Amtsgericht Peine die Akten dem Oberlandesgericht Celle zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
II.
6
Die Vorlage ist zulässig; das Oberlandesgericht Celle hat entsprechend §§ 14, 19 StPO als gemeinschaftliches oberes Gericht den Zuständigkeitsstreit zu entscheiden.
7
Zuständig für die Entscheidung über die Einwendungen des Verletzten gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft Hildesheim vom 23. Dezember 2019 ist das Amtsgericht Peine.
8
1. Nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. 18/11640, S. 90) ist das Gericht des ersten Rechtszuges gemäß § 462a Abs. 2 Satz 1 StPO zuständig für die bei Zweifeln an der Anspruchsberechtigung nach § 459k Abs. 2 Satz 2 StPO erforderliche gerichtliche Entscheidung über die Zulassung der Auskehrung des Verwertungserlöses (so auch MüKoStPO/Nestler § 459k Rn. 1, § 459j Rn. 10; BeckOK StPO/Coen § 459k Rn. 1, § 459j Rn. 16). Denn im Zweifelsfall kann nur das Gericht des ersten Rechtszuges aufgrund seiner Sachnähe zum Erkenntnisverfahren hinreichend beurteilen, ob der angemeldete Anspruch berechtigt ist. Dementsprechend muss aufgrund des systematischen Zusammenhangs und zur Vermeidung divergierender Entscheidungen verschiedener Gerichte auch die nach § 459o StPO zu treffende Entscheidung über Einwendungen des Verletzten gegen die Ablehnung der Auskehrung durch die Vollstreckungsbehörde dem Gericht des ersten Rechtszuges obliegen. Eine Unterscheidung danach, ob die Ablehnung aus sachlichen oder – wie hier – verfahrensrechtlichen Gründen erfolgt ist, wäre weder sachgerecht noch praktikabel (vgl. zu diesem Gesichtspunkt bei der Auslegung von Pauschalverweisungen: BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020 – 5 ARs 17/19, NStZ-RR 2020, 254).
9
2. Dem steht § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO nicht entgegen.
10
Zwar begründet die Verweisung in § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO auf § 462 Abs. 1 Satz 1 StPO grundsätzlich auch für Entscheidungen nach § 459k und § 459o StPO die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, wenn gegen den Verurteilten Freiheitsstrafe vollstreckt wird (vgl. KK-Appl StPO 8. Aufl. § 459o Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 459o Rn. 5). Dies gilt jedoch nicht für Entscheidungen über die Opferentschädigung (vgl. HK-StPO-Pollähne 6. Aufl. § 459o Rn. 4).
11
Die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer besteht nur für die Entscheidungen, welche die Person betreffen, gegen die eine Freiheitsstrafe vollzogen wird; hingegen sind Entscheidungen, die auch andere Personen wie Mitverurteilte und Nebenbeteiligte betreffen, nach der Systematik des Gesetzes und dem Sinn und Zweck des § 462a StPO von der Pauschalverweisung über § 462 Abs. 1 StPO auf die §§ 458 bis 461 StPO ausgenommen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. April 1987 – 2 ARs 16/87, NStZ 1987, 428; LR-Graalmann-Scheerer StPO 26. Aufl. § 462a Rn. 4; KK-Appl § 462a Rn. 4; MüKoStPO/Nestler § 462a Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt § 462a Rn. 3). Letzteres ist hier der Fall. In erster Linie betrifft die Entscheidung den Verletzten. Es geht zwar im weiteren Sinne um die Vollstreckung einer Nebenfolge, die zu einer Geldzahlung verpflichtet(§ 459g Abs. 2 StPO), woraus zum Teil die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer abgeleitet wird (vgl. OLG Celle, 2. Strafsenat, Beschluss vom 10. Juli 2020 – 2 Ws 56/20; ebenso OLG Hamburg Beschluss vom 15. Juni 2020 – 2 Ws 152/19, juris). Der Zusammenhang mit der Vollstreckung von Freiheitsstrafe, der erforderlich ist, um die besondere Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer zu rechtfertigen (BGH aaO), besteht indes nicht. Der Verurteilte ist nur dadurch in seiner Rechtsposition berührt, dass er Adressat der Einziehungsanordnung ist. Nur in dieser Eigenschaft ist er auch gemäߧ 459k Abs. 3 Satz 1 StPO vor der Entscheidung über die Auskehrung zu hören.
12
Hinzu kommt, dass von der Entscheidung über die Auskehrung des Verwertungserlöses zugleich auch Mitverurteilte betroffen sein können, wenn sich nämlich die Einziehungsanordnung gegen mehrere Beteiligte als Gesamtschuldner richtet (vgl. dazu Fischer StGB 67. Aufl. § 73 Rn. 29 mwN). Wird gegen mehrere Einziehungsadressaten Freiheitsstrafe in verschiedenen Landgerichtsbezirken vollstreckt, lässt sich bei Annahme einer funktionalen Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer nicht mehr bestimmten, welches Landgericht im Einzelfall für die Entscheidung nach §§ 459k, 459o StPO örtlich zuständig ist. Nur die Anwendung von § 462a Abs. 2 Satz 1 StPO führt auch in dieser Fallkonstellation zu einem sachgerechten Ergebnis.
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Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 26.11.2018 und deren Widerspruchsbescheid vom 23.04.2019 werden aufgehoben.Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Tatbestand
1 Die Klägerin wendet sich gegen ihre Heranziehung zu einem Fremdenverkehrsbeitrag für das Jahr 2014.2 Die Klägerin war im Jahr 2014 und ist weiterhin Kommanditistin der M. GmbH & Co. KG (im Folgenden „Klinikbetreiberin“). Diese betreibt eine Rehabilitationsklinik in Bad M., in der insbesondere auch nicht aus dem Gemeindegebiet kommende Patienten behandelt werden.3 Eigentümerin des Betriebsgrundstücks war und ist die Kurverwaltung Bad M. GmbH. Die Klägerin war Eigentümerin eines Erbbaurechts an diesem Grundstück sowie an der sich auf dem Grundstück befindenden Immobilie. Zum Betrieb der Rehabilitationsklinik vermietete die Klägerin das Betriebsgrundstück samt der Immobilie an die Klinikbetreiberin. Im Jahr 2014 veräußerte die Klägerin das Erbbaurecht samt der Immobilie an die M. S.à.r.l. (im Folgenden „Erwerberin“) und erzielte dabei einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 7.114.538,79 EUR.4 Im Anschluss an den Erwerb des Erbbaurechts vermietete die Erwerberin das Grundstück samt der Immobilie an die R. B.V. & Co. KG. Letztere wiederum schloss mit der Klinikbetreiberin einen Unterpachtvertrag zum Zweck der Fortführung der Rehabilitationsklinik.5 Die R. B.V. & Co. KG verschmolz aufgrund eines Verschmelzungsvertrags vom 11.05.2016 als Ganzes auf die X B.V. & Co. KG, die seit dem 26.09.2016 unter dem Namen M. B.V. KG firmiert.6 Die Beklagte ist ein anerkannter Kur- und Heilort. Sie erhebt von allen natürlichen und juristischen Personen, die eine selbstständige Tätigkeit ausüben und denen in der Stadt Bad M. aus dem Kurbetrieb oder Fremdenverkehr unmittelbar oder mittelbar besondere wirtschaftliche Vorteile erwachsen, einen Fremdenverkehrsbeitrag. Grundlage dafür ist die Satzung über die Erhebung eines Beitrags zu Förderung des Kurbetriebs und Fremdenverkehrs (Fremdenverkehrsbeitragssatzung – nachfolgend FVBS) vom 29.03.2001 in der Fassung der 1. Änderung der Satzung vom 17.07.2008, in Kraft getreten am 01.01.2009. Der Beitrag beläuft sich auf 10 % des Messbetrags. Der Messbetrag ist der Teil der Einkünfte des Beitragspflichtigen, der aus Kurbetrieb und Fremdenverkehr herrührt (Kuranteil). Er wird durch Schätzung ermittelt.7 Der Einschätzungsausschuss für den Fremdenverkehrsbeitrag, ein beschließender Ausschuss des Gemeinderats, setzte am 19.11.2012 den Vorteilssatz für die Klinikbetreiberin mit Wirkung ab dem Jahr 2012 durch Schätzung auf 40 % fest. Für die Klägerin soll eine entsprechende Festsetzung für das Jahr 2014 in der nächsten Sitzung des Einschätzungsausschusses am 28.09.2020 erfolgen.8 Mit Bescheid vom 26.11.2018 zog die Beklagte die Klägerin zu einem Fremdenverkehrsbeitrag in Höhe von 284.581,55 EUR heran. Bei der Berechnung nahm die Beklagte den Veräußerungsgewinn der Klägerin als Grundlage und legte einen Vorteilssatz in Höhe von 40 % sowie einen Hebesatz von 10 % zugrunde.9 Die Klägerin erhob am 20.12.2018 Widerspruch gegen diesen Bescheid. Sie machte geltend, dass die Veräußerung des Erbbaurechts weder in unmittelbarem noch in mittelbarem Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr stehe, mithin die Festsetzung des Fremdenverkehrsbeitrags rechtswidrig sei. Entscheidend für die Kaufpreisbildung seien allein die Ertrags- und Refinanzierungsaussichten gewesen.10 Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.04.2019 zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass auch die in Rede stehende Veräußerung von Sonderbetriebsvermögen im Rahmen der Festsetzung des Fremdenverkehrsbeitrags zu berücksichtigen sei. Es bestehe jedenfalls ein mittelbarer Zusammenhang zwischen der Höhe des Veräußerungsgewinns und dem Fremdenverkehr. Der bestehende und aufrechterhaltende Klinikbetrieb auf dem Grundstück habe den Kaufpreis beeinflusst. Außerdem hätten sich infolge der Veräußerung des Erbbaurechts samt Immobilie die in dem Erbbaurecht und in der Immobilie verkörperten stillen Reserven realisiert. Diese stünden in Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr, weil Fremdenverkehrsbeiträge in der Vergangenheit aufgrund von Abschreibungen in entsprechend geringerer Höhe erhoben worden seien. Die Klägerin sei die richtige Beitragsschuldnerin, weil ihr der mit wirtschaftlichen Vorteilen aus dem Fremdenverkehr behaftete Veräußerungsgewinn zugeflossen sei. Schließlich habe sie auch die Höhe des Vorteilssatzes ordnungsgemäß festgesetzt. Es stehe ihr frei, die Höhe unter Berücksichtigung der in § 4 Abs. 4 FVBS normierten Parameter zu schätzen.11 Am 24.05.2019 hat die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben. Sie macht geltend, dass die Erwerberin des Erbbaurechts ein Immobilieninvestmentfonds sei, der sich auf den Erwerb und die Vermietung von Gesundheitsimmobilien spezialisiert habe. Um die eigene Position am Markt zu stärken, erwerbe diese bundesweit Klinik-Immobilien teilweise zu Preisen, die über dem Marktwert lägen. Vor diesem Hintergrund fehle es selbst an einem mittelbaren Zusammenhang zum Fremdenverkehr. Dies folge schon daraus, dass weder sie noch die Erwerberin unmittelbar am Fremdenverkehr beteiligt seien, was für die Erhebung des Fremdenverkehrsbeitrags vorausgesetzt werde. Vielmehr sei sie als sogenanntes „drittes Kettenglied“ von der Beitragspflicht nicht erfasst. Ihre Heranziehung komme einer Doppelbesteuerung gleich, weil auch die Klinikbetreiberin zum Fremdenverkehrsbeitrag herangezogen werde. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus einer Gesamtschau der vertraglichen Beziehungen. Namentlich stehe ihre wirtschaftliche Betätigung in keinerlei direktem Zusammenhang zum Fremdenverkehr, was für eine Beitragspflicht jedoch zwingend sei. Außerdem würden sich auch keine Vorteile aus dem Fremdenverkehr realisieren, die bisher aufgrund von Abschreibungen unberücksichtigt geblieben seien. Zum einen könne die durch Abschreibungen bedingte Gewinnminderung konkret belegt werden, zum anderen müssten diese aber ohnehin unberücksichtigt bleiben, weil die Erwerberin aufgrund der Stärkung ihrer bundesweiten Position ungeachtet der Abschreibungen einen deutlich über dem Verkehrswert der Immobilie liegenden Kaufpreis bezahlt habe. Es sei auch inkonsequent, dass die Kurverwaltung Bad M. GmbH als Erbbaurechtseigentümerin nicht mit Fremdenverkehrsbeiträgen belastet werde.12 Schließlich entspreche die angesetzte Höhe des Vorteilssatzes von 40 % nicht dem tatsächlichen Fremdenverkehrsanteil. Die Beklagte habe von vornherein weder Tatsachengrundlagen ermittelt, noch habe sie diese korrekt eingeschätzt. Nur 4,3% der Patienten der Klinik seien Privatpatienten, die über die Wahl der Klinik frei entscheiden könnten. Hierbei sei vor allem zu sehen, dass sich die Klinik auf die Behandlungsgebiete Orthopädie und Geriatrie spezialisiert habe. Den Patienten sei es aufgrund ihrer körperlichen Verfassung nahezu unmöglich, die Einrichtungen der Beklagten zu nutzen. Letztlich gehe es nicht um Erholung, wie beispielsweise bei einer Kur, sondern einzig um die Heilbehandlung als solche. Dies werde auch dadurch belegt, dass 84,72% der behandelten Patienten aus einem Umkreis von 100 km kämen. Unerheblich sei, dass die Klinikbetreiberin den Vorteilssatz von 40% akzeptiert habe. Dies entfalte gegenüber der Klägerin keine Bindungswirkung.13 Die Klägerin beantragt,14 den Bescheid der Beklagten vom 26.11.2018 und deren Widerspruchsbescheid vom 23.04.2019 aufzuheben,15 sowie die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.16 Die Beklagte beantragt,17 die Klage abzuweisen.18 Sie trägt vor, der Veräußerungsgewinn der Klägerin zähle zu deren steuerlichen Einkünften und sei bei der Bemessung des Fremdenverkehrsbeitrags zu berücksichtigen. Das Erbbaurecht samt Immobilie habe zum Sonderbetriebsvermögen der Klägerin gehört. Infolge der Veräußerung sei der Veräußerungsgewinn der Klägerin zugeflossen. In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass der Fremdenverkehrsbeitrag den Veräußerungsgewinn aus der Veräußerung von Gesellschaftsanteilen erfasse. Dasselbe müsse für den vorliegenden Fall gelten, wenn ein Gesellschafter ein einzelnes Wirtschaftsgut aus seinem Sonderbetriebsvermögen veräußere und der Kaufpreis durch den Fremdenverkehr in einer Gemeinde beeinflusst werde. Es gebe keinen Grundsatz, nach dem ein sogenanntes „drittes Kettenglied“ von der Fremdenverkehrsbeitragspflicht nicht erfasst werde. Vielmehr müsse auf den jeweiligen Einzelfall abgestellt werden. Des Weiteren sei zu sehen, dass sich der Kaufpreis zumindest auch mit Blick auf die auf den Fremdenverkehr bezogene Weiternutzung der Immobilie gebildet habe. Zudem hänge die Wertsteigerung von Grundstücken in einer Kurgemeinde auch von der Fremdenverkehrsförderung durch die Gemeinde ab. Ferner habe die Klägerin besondere wirtschaftliche Vorteile aus der Veräußerung des Erbbaurechts samt Immobilie gezogen, weil der Fremdenverkehrsbeitrag in den Vorjahren aufgrund von Abschreibungen geringer ausgefallen sei, sich die dabei gebildeten stillen Reserven nunmehr aber realisiert hätten. Entgegen dem klägerischen Vorbringen werde die Kurverwaltung Bad M. GmbH sehr wohl zum Fremdenverkehrsbeitrag veranlagt. Sie mache jedoch durchgängig Verluste, so dass es an einer positiven Bemessungsgrundlage für den Fremdenverkehrsbeitrag fehle.19 Schließlich sei die Höhe des Vorteilssatzes angemessen. Dieser entspreche dem wirtschaftlichen Nutzen, den die Klägerin durch die Veräußerung von Erbbaurecht samt Immobilie erzielt habe. Es sei zudem derselbe Vorteilssatz wie bei der Klinikbetreiberin in den Jahren zuvor angesetzt worden. Insoweit gebe es keinen Einschätzungsspielraum, weil der Vorteilssatz eines mittelbar Bevorteilten sich zwingend am Vorteilssatz des unmittelbar Bevorteilten zu orientieren habe, wenn sich der mittelbare Vorteil aus der Überlassung einer Immobilie an den unmittelbar Bevorteilten zur Ausübung seiner beitragspflichtigen Tätigkeit ergebe. Der überwiegende Teil der Patienten der Klinik sei nicht bettlägerig und könne die Kureinrichtungen der Beklagten nutzen. Unabhängig davon würden die Patienten auch durch Familienangehörige oder Freunde besucht, die die Einrichtungen der Beklagten nutzen könnten. Die Klinik werbe auf ihrer Internetseite gerade mit der „reizvollen Landschaft“, dem „historischen Stadtzentrum“ und der „Lage direkt neben einem der zehn schönsten Kurparks“.20 Mit Beschluss vom 20.07.2020 ist der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.21 Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die angefallenen Gerichtsakten und auf die dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
22 Die als Anfechtungsklage statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Fremdenverkehrsbeitragsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar unterliegt der Gewinn aus der Veräußerung des Erbbaurechts dem Grunde nach der Fremdenverkehrsbeitragspflicht (1.), doch erweist sich die Bemessung des Vorteilssatzes als rechtswidrig (2.).23 1. a) Rechtsgrundlage für die Heranziehung zu einem Fremdenverkehrsbeitrag ist die auf § 44 KAG basierende, im Veranlagungszeitraum geltende Satzung der Beklagten über die Erhebung eines Beitrags zur Förderung des Kurbetriebs und Fremdenverkehrs (FVBS) vom 29.03.2001 in der Fassung der 1. Änderung der Satzung vom 17.07.2008, in Kraft getreten am 01.01.2009.24 b) Gegen die Gültigkeit der Satzung bestehen keine Bedenken. Die FVBS vom 29.03.2001 stimmt mit den Voraussetzungen der Ermächtigungsnorm des § 44 KAG überein. Nach § 44 Abs. 1 KAG können Kurorte, Erholungsorte und sonstige Fremdenverkehrsgemeinden zur Förderung des Fremdenverkehrs und des Erholungs- und Kurbetriebs für jedes Haushaltsjahr Fremdenverkehrsbeiträge von allen natürlichen Personen, die eine selbstständige Tätigkeit ausüben und von allen juristischen Personen erheben, soweit ihnen in der Gemeinde aus dem Fremdenverkehr oder dem Kurbetrieb unmittelbar oder mittelbar besondere wirtschaftliche Vorteile erwachsen. Der Fremdenverkehrsbeitrag bemisst sich dabei nach den besonderen wirtschaftlichen Vorteilen, die dem Beitragspflichtigen aus dem Fremdenverkehr oder dem Kurbetrieb erwachsen (vgl. § 44 Abs. 2 Satz 1 KAG). Der Beitrag wird auf Grund einer Satzung erhoben, die insbesondere den Kreis der Abgabenschuldner, den Gegenstand, den Maßstab und den Satz der Abgabe, sowie die Entstehung und die Fälligkeit der Abgabenschuld bestimmen soll (§ 2 Abs. 1 Satz 2 KAG).25 Diesen Maßgaben entspricht die Fremdenverkehrsbeitragssatzung der Beklagten: Die Beklagte ist als Kurort berechtigt, einen Fremdenverkehrsbeitrag zu erheben. Der Fremdenverkehrsbeitrag wird von allen natürlichen und juristischen Personen erhoben, die eine selbstständige Tätigkeit ausüben und denen in der Stadt Bad M. aus dem Kurbetrieb oder Fremdenverkehr unmittelbar oder mittelbar besondere wirtschaftliche Vorteile erwachsen (§ 1 FVBS). Der Beitrag bemisst sich nach den besonderen wirtschaftlichen Vorteilen, die dem Beitragspflichtigen aus dem Kurbetrieb oder Fremdenverkehr in Bad M. erwachsen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 FVBS). Als besondere wirtschaftliche Vorteile gelten die aus Kurbetrieb oder Fremdenverkehr stammenden Einkünfte des Veranlagungsjahrs (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 und 3 FVBS - sog. Messbetrag). Für die Ermittlung des Messbetrags sind zunächst die nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes oder des Körperschaftsteuergesetzes ermittelten, in Bad M. erzielten Einkünfte des Beitragspflichtigen festzustellen (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 1 FVBS). Von diesen Einkünften ausgehend wird durch Schätzung ermittelt, welcher Teil aus Kurbetrieb und Fremdenverkehr in Bad M. herrührt (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 FVBS). Der sich hierbei ergebende Kuranteil wird in Prozenten ausgedrückt (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 2 FVBS). Aus der Anwendung des Kuranteils auf die in Bad M. erzielten Einkünfte ergibt sich der Messbetrag (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 3 FVBS). Bei der Schätzung des Kuranteils sind insbesondere Art und Umfang der Tätigkeit, Lage und Größe der Geschäfts- oder Beherbergungsräume, die Betriebsweise und die Zusammensetzung des Kundenkreises zu berücksichtigen (vgl. § 4 Abs. 4 FVBS). Der Beitrag beläuft sich schließlich nach § 5 Abs. 1 FVBS auf 10 % des Messbetrags.§ 3 FVBS regelt die Entstehung der Beitragsschuld und § 9 Abs. 2 FVBS die Fälligkeit des Beitrags.26 c) Gegen den in Anwendung dieser Satzungsregelungen von der Beklagten festgesetzten Fremdenverkehrsbeitrag ist dem Grunde nach nichts einzuwenden.27 aa) Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides werden nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.28 bb) Die Klägerin unterliegt mit dem im Jahr 2014 erzielten Veräußerungsgewinn in Höhe von 7.114.538,79 EUR der Fremdenverkehrsbeitragspflicht.29 Die Klägerin übt als juristische Person (§ 13 Abs. 1 GmbHG) eine selbstständige Tätigkeit i.S.d § 1 FVBS aus. Der Begriff des „selbstständig Tätigen“ geht weiter als der im Steuerrecht. Sinn und Zweck ist es, unselbstständig tätige Arbeitnehmer von der Beitragspflicht auszunehmen. Der Begriff „selbstständig“ umfasst neben Freiberuflern auch Gewerbetreibende und kann selbst nichtgewerbsmäßige Tätigkeiten umfassen, die steuerrechtlich der privaten Vermögensverwaltung zuzurechnen sind (BayVGH, Urt. v. 27.03.2013 - 4 B 98.2772 -, BayVBl 2003, 725; Gössl in Gössl/Reif, KAG, Stand November 2015, § 44 Anm. 2.1). Beitragspflichtig sind nicht nur diejenigen, die in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgezählt sind, sondern auch jene Personen, die eine gewerbliche Tätigkeit i.S.d. Einkommensteuerrechts ausüben, also Einkünfte nach § 15 Abs. 1 EStG erzielen und nach § 2 Abs. 1 GewStG der Gewerbesteuerpflicht unterliegen (BayVGH, Urt. v. 27.09.1988 - 4 B 87.01844 -, juris). Ob eine selbstständige und damit die Beitragspflicht auslösende Tätigkeit vorliegt, ist nach abgabenrechtlichen Grundsätzen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Wichtige Kriterien sind dabei das Ausmaß der Weisungsabhängigkeit, die Arbeitszeitregelung sowie Art und Weise der Vertragsgestaltung. Selbst private Vermieter von Ferienwohnungen und sonstige Privatpersonen, die Kurgäste, Erholungssuchende oder Touristen gegen Entgelt beherbergen, sind insoweit i.S.d. Fremdenverkehrsbeitragsrechts „selbstständig tätig“. Denn diese Vermietungen stellen sich ihrer Art nach nicht nur als schlichte „normale“ private Vermögensverwaltungen, sondern als nachhaltige Tätigkeiten zur gezielten, auf dem Fremdenverkehr beruhenden Einnahmeerwirtschaftung dar (Lichtenfeld in Driehaus, KAG, Stand März 2011, § 11 Rn. 83).30 Vorliegend war die Klägerin selbstständig im fremdenverkehrsrechtlichen Sinn tätig. Dies würde selbst dann gelten, wenn sie nicht gewerblich tätig wäre, sondern ihr Tätigwerden sich lediglich als private Vermögensverwaltung darstellen würde, denn der Begriff der selbstständigen Tätigkeit des Fremdenverkehrsbeitragsrechts umfasst auch Tätigkeiten, die steuerrechtlich der privaten Vermögensverwaltung zuzurechnen sind (Gössl in Gössl/Reif, KAG, Stand November 2015, § 44 Anm. 2.1).31 Der Klägerin erwachsen aus dem Kurbetrieb der Beklagten mittelbar besondere wirtschaftliche Vorteile. Diese Vorteile bestehen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in den erhöhten Verdienst- und Gewinnmöglichkeiten, die dem Beitragspflichtigen aus dem Fremdenverkehr oder dem Kurbetrieb erwachsen (vgl. u. a. Urteile vom 15.01.2009 - 2 S 952/08 -, BWGZ 2009, 406 f., vom 15.01.2009 - 2 S 875/08 -, BWGZ 2009, 404 ff., vom 30.11.2000 - 2 S 2061/98 -, KStZ 2001, 78 ff., Beschluss vom 10.08.1998 - 2 S 2753/97 -, MedR 1999, 377 ff.). Der besondere wirtschaftliche Vorteil im Sinne des Fremdenverkehrsbeitragsrechts kann unmittelbar oder mittelbar sein (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.08.2003 - 2 S 2192/03 -, VBlBW 2004, 103 ff.). Allerdings muss zwischen den erhöhten Verdienst- und Gewinnmöglichkeiten einerseits und dem Fremdenverkehr und dem Kurbetrieb der Standortgemeinde andererseits ein konkreter Zusammenhang bestehen. Denn der Fremdenverkehrsbeitrag ist keine Steuer, sondern eine Gegenleistung des Beitragspflichtigen für spezielle Leistungen der Gemeinde, nämlich für die Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der systematischen Förderung des Fremdenverkehrs oder des Kurbetriebs entstehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 30.11.2000 - 2 S 2061/98 -, a.a.O.). Folglich müssen bei der Vorteilsbemessung diejenigen Umsätze der Beitragspflichtigen ausscheiden, die entweder durch Geschäfte mit nicht vom Fremdenverkehr unmittelbar bevorteilten Ortsansässigen oder mit Ortsfremden ohne dem Tourismus unterfallende Aufenthaltsgründe erwirtschaftet werden (vgl. NdsOVG, Urteil vom 13.12.2006 - 9 KN 180.04 -, juris).32 Das Tätigwerden der Klägerin war darauf gerichtet, nachhaltig und dauerhaft auf dem Fremdenverkehr beruhende Einnahmen zu erzielen. Sie konnte sowohl in ihrer Eigenschaft als Kommanditistin an dem Gewinn der Klinikbetreiberin partizipieren, als auch infolge des Mietvertrags mit der Klinikbetreiberin eigene Gewinne aus Mietzinsen erwirtschaften. Zugleich traf sie das hiermit stets verbundene unternehmerische Risiko.33 Die Beklagte hat den Maßstab des Beitrags i.S.v. § 4 Abs. 1 FVBS zutreffend bestimmt. Zur Bestimmung der besonderen wirtschaftlichen Vorteile dient nach Maßgabe des § 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 FVBS der einkommen- und körperschaftssteuerpflichtige Gewinn. Infolge der Veräußerung des Erbbaurechts samt Immobilie erzielte die Klägerin einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 7.114.538,79 EUR, der als einkommensteuerrechtlicher Gewinn nach § 8 Abs. 1 KStG, § 4 Abs. 1 EStG unter den Begriff der „Einkünfte“ i.S.d. § 4 Abs. 1 und Abs. 2 FVBS fällt und daher bei der Ermittlung eines möglichen Fremdenverkehrsbeitrags zu berücksichtigen ist (BayVGH, Beschluss vom 26.05.2020 - 4 ZB 19.1934 -, juris; VG München, Urt. v. 08.08.2019 - M 10 K 18.570 -, juirs).34 Der Klägerin erwuchs infolge der Veräußerung des Erbbaurechts auch ein gemäß §§ 1, 4 Abs. 1 FVBS jedenfalls mittelbar im Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr stehender besonderer wirtschaftlicher Vorteil. Der besondere wirtschaftliche Vorteil besteht dabei in der erhöhten Verdienst- und Gewinnmöglichkeit, die dem Beitragspflichtigen aus dem Fremdenverkehr oder dem Kurbetrieb erwächst. Es genügt die objektive Möglichkeit höherer Gewinne, der die Chance gleichsteht, Verluste aus dem Geschäftsbetrieb zu verringern. Das Entstehen von Vorteilen aus dem Fremdenverkehr wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Unternehmer tatsächlich keine Gewinne erzielt oder sogar Verluste macht (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 06.11.2008 - 2 S 669/07 -, BWGZ 2009, 60). Denn der Sache nach handelt es sich beim Fremdenverkehrsbeitrag um eine Gegenleistung des Beitragspflichtigen für spezielle Leistungen der Gemeinde, nämlich für Aufwendungen, die der Gemeinde im Zusammenhang mit der Förderung des Kurbetriebs und/oder Fremdenverkehrs entstehen.35 Entgegen der Auffassung der Klägerin liegt es fern, dass sich der Kaufpreis unabhängig von der vom Kurbetrieb profitierenden Tätigkeit der Klinikbetreiberin auf dem Betriebsgrundstück gebildet hat. Wie die Klägerin selbst vorträgt, sei die Erwerberin ein Immobilieninvestmentfonds, der sich auf den Erwerb von klinikbetriebenen Grundstücken spezialisiert habe. Mit Blick auf diese wirtschaftliche Ausrichtung der Erwerberin ist fragwürdig, ob die Erwerberin überhaupt ein Interesse an dem Erwerb gehabt hätte, wenn es den Klinikbetrieb nicht gäbe. Vielmehr dürfte die Erwerberin sogar ein gesteigertes Interesse daran gehabt haben, dass der Klinikbetrieb nach ihrem Erwerb des Erbbaurechts samt Immobilie fortgeführt wird. Untermauert wird dieses Verständnis jedenfalls dadurch, dass der Klinikbetrieb anschließend durch den Abschluss neuer Miet- bzw. Pachtverträge fortgeführt wurde. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Erwerberin das Betriebsgrundstück nach dem Erwerb nicht unmittelbar an die Klinikbetreiberin vermietete, sondern die M. B.V. KG als Hauptmieterin zwischengeschaltet worden ist. Denn es drängt sich in keiner Weise auf, dass die Erwerberin das Betriebsgrundstück an die M. B.V. KG ohne besondere Absicht vermietet und diese wiederum rein zufällig die auf dem Betriebsgrundstück tätige Klinikbetreiberin als Vertragspartnerin ausgewählt hat.36 Darüber hinaus fehlt entgegen dem klägerischen Vortrag auch nicht deshalb der mittelbare Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr, weil die Klägerin ein Geschäft als sogenanntes „drittes Kettenglied“ getätigt habe, das nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Münchens (Urt. v. 08.12.2016 - M 10 K 15.5363 -, juris) von der Beitragspflicht grundsätzlich nicht mehr erfasst werde. Denn wie das Verwaltungsgericht München in seinem Urteil ausführt, gibt es Ausnahmekonstellationen, bei denen gleichwohl ein Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr bestehen kann. Abgesehen davon ging es dort um die Veräußerung von neutralen, nicht bereits vor der Veräußerung dem Fremdenverkehr zugeordneter Räume. Vorliegend handelt es sich hingegen um die Veräußerung des Erbbaurechts samt Immobilie, in der die Klinikbetreiberin nach wie vor den im Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr stehenden Klinikbetrieb unterhält. Richtigerweise hängt die Beurteilung, ob ein Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr besteht, stets von einer Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls ab. Ein fremdenverkehrsbedingter Vorteil kann selbst dann vorliegen, wenn ein Beitragspflichtiger durch eine Kette von Zwischenverträgen von der unmittelbar dem Fremdenverkehr zuzurechnenden Tätigkeit getrennt ist (BayVGH, Urt. v. 21.12.1998 - 4 B 95.2560 -, BayVBl 1998, 599; Urt. v. 14.01.2016 - 4 B 14.2227 -, juris; VG München, Urt. v. 08.08.2019 - M 10 K 18.570 -, juris Rn. 49).37 Vorliegend war das durch die Klägerin veräußerte Erbbaurecht samt Immobilie mit Vorteilen behaftet, die aus dem Fremdenverkehr herrühren. Zusätzlich zu dem bereits angesprochenen Einfluss der Tätigkeit im Fremdenverkehr auf die Kaufpreisbildung, haben sich im Zeitpunkt der Veräußerung stille Reserven zugunsten der Klägerin realisiert, die über die vorausgegangenen Jahre aufseiten der Klägerin durch Abschreibungen entstanden waren. Auch diese sind bei der Festsetzung des Fremdenverkehrsbeitrags zu berücksichtigen. Geklärt worden ist dies in der Rechtsprechung bereits für den Fall eines Betriebsaufgabegewinns (BayVGH, Urt. v. 10.10.2005 - 4 BV 04.1306 -, juris) sowie den Fall der Veräußerung von Gesellschaftsanteilen (VG Stuttgart, Urt. v. 24.01.2019 - 1 K 5634/15 und 1 K 5639/15 -, n.v.). Eine andere Bewertung lässt auch der vorliegende Fall nicht zu. Denn die Abschreibungen standen in sachlichem Zusammenhang mit der auf dem Betriebsgrundstück stehenden Immobilie, die an die Klinikbetreiberin zum Klinikbetrieb vermietet war. Sähe man dies anders, bestünde die Gefahr, dass die Fremdenverkehrsbeitragspflicht umgangen würde. Gesellschafter könnten sich gezielt der Fremdenverkehrsbeitragspflicht entziehen, indem sie gezielt Gesellschaftsanteile oder sonstige im Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr stehende Vermögensbestandteile veräußern würden. Weil der Veräußerungsgewinn unmittelbar den Gesellschaftern und nicht der im Fremdenverkehr unmittelbar tätigen Betriebsgesellschaft zugute käme, käme eine Fremdenverkehrsbeitragspflicht nicht in Betracht. Letztendlich widerspräche das dem Sinn und Zweck des Fremdenverkehrsbeitrags, sämtliche aus dem Fremdenverkehr herrührende Vorteile der Beitragspflicht zu unterwerfen.38 2. Die Festsetzung des Vorteilssatzes (Kuranteil) mit 40 % hält jedoch einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.39 Der Kuranteil bezeichnet den Teil der Einkünfte (vgl. § 4 Abs. 3 FVBS), für den die speziellen fremdenverkehrsbezogenen Leistungen der Gemeinde zumindest mitursächlich waren. Die fremdenverkehrsbedingten Einkünfte müssen im Rahmen der Beitragsbemessung somit von den sonstigen allgemein erzielten Einkünften abgegrenzt werden. Da die durch den Fremdenverkehr ermöglichte Steigerung des Umsatzes bzw. Gewinns nicht genau anhand eines Wirklichkeitsmaßstabes festgestellt werden kann, kann die Bemessung der die Beitragserhebung rechtfertigenden Vorteile nur nach einem an der Wahrscheinlichkeit orientierten Maßstab vorgenommen werden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg besteht für die Gemeinden die Möglichkeit, dass der Ortsgesetzgeber in der Satzung selbst regelt, welche Beitragspflichtigen bzw. welche Gruppen der Beitragspflichtigen mit welchen Vorteilssätzen zu veranlagen sind (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.01.2009 - 2 S 875/08 -, a.a.O.; Normenkontrollurteil vom 06.11.2008 - 2 S 669/07 -, ZKF 2009, 141 f.). Zulässig ist aber auch, dass der Gemeinderat oder auch die Verwaltung auf der Grundlage einer ausreichend bestimmten Satzungsregelung den Vorteilssatz des jeweiligen Beitragspflichtigen individuell bestimmt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 29.04.2010 - 2 S 2160/09 -, VBlBW 2010, 440 ff., und vom 06.02.1987 - 14 S 2497/85 -, ZKF 1987, 204 ff.; Beschluss vom 01.04.2016 - 2 S 1129/15 -). Da der Vorteil für die verschiedenen Abgabepflichtigen unterschiedlich ist, gebietet es zudem der Grundsatz der Abgabengerechtigkeit, die Abgabepflichtigen auch unterschiedlich zu belasten. Diejenigen, die in etwa den gleichen Vorteil haben, sollen auch nach Maßstab und Abgabensatz gleichgestellt werden und diejenigen, die vom Fremdenverkehr größere Vorteile haben, sollen aufgrund des Maßstabes des Abgabensatzes auch höhere Abgaben zahlen müssen als die Pflichtigen mit wahrscheinlich geringeren Vorteilen.40 Darüber hinaus kann die Bestimmung des Vorteilssatzes im Bereich des Fremdenverkehrsbeitrags nur im Wege einer Schätzung erfolgen, weil die Ermittlung der Bemessungsgrundlagen für den Fremdenverkehrsbeitrag immer mit gewissen Unwägbarkeiten verbunden ist. Die Schätzung ist im Gegensatz zur Ermessensausübung eine besondere Art der Tatsachenfeststellung, ohne die gerade im Abgabenrecht nicht auszukommen ist. Schätzungen als eine Form der Tatsachenfeststellung unterliegen grundsätzlich nur eingeschränkt der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung. Aus dem Wesen der Schätzung folgt, dass der Behörde ein Schätzungsspielraum zugebilligt werden muss, innerhalb dessen sie die Schätzung zwar mehr oder weniger genau, aber noch nicht fehlerhaft vornimmt. Fehlerhaft ist nur die Überschreitung der Grenzen dieses Schätzungsspielraums und rechtswidrig ist daher auch nur ein Verwaltungsakt, der auf einer Überschreitung dieser Grenzen beruht (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.02.1987 - 14 S 2497/85 -, a.a.O.). Die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Grenzen des Schätzungsspielraums bedingt es, dass der Einschätzungsausschuss der Beklagten dokumentiert, welche Tatsachen er seiner Schätzung zugrunde gelegt hat und welches Gewicht er den einzelnen zu berücksichtigenden Kriterien beigemessen hat. Fehlerhaft ist eine Schätzung insbesondere dann, wenn sie auf falschen oder offenbar unsachlichen Erwägungen beruht, wenn wesentliche Tatsachen nicht ermittelt oder außer Acht gelassen oder wenn der Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt worden sind.41 Vor diesem rechtlichen Hintergrund hat sich die Beklagte - in auch vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg nicht beanstandeter Weise - für eine individuelle Vorteilsbestimmung durch den Gemeinderat bzw. den Einschätzungsausschuss für den Fremdenverkehrsbeitrag auf der Grundlage von § 4 Abs. 4 FVBS entschieden. Danach sind bei der Schätzung des Kuranteils insbesondere Art und Umfang der Tätigkeit, Lage und Größe der Geschäfts- oder Beherbergungsräume, die Betriebsweise und die Zusammensetzung des Kundenkreises zu berücksichtigen. Die Satzung legt damit die wesentlichen Kriterien der Schätzung hinreichend bestimmt fest.42 a) Nicht zu beanstanden ist es im Ausgangspunkt, dass der Vorteilssatz für die Klägerin als mittelbar Bevorteilte nicht gesondert ermittelt und festgesetzt werden muss, sondern sich an dem für die Klinikbetreiberin als unmittelbar Bevorteilte festgesetzten Satz orientieren kann. Gerade wenn eine Fremdenverkehrsbeitragspflicht aufgrund mittelbaren Zusammenhangs mit einer Tätigkeit im Fremdenverkehr besteht, liegt es in der Regel nahe, sich bei der Bestimmung des Vorteilssatzes an dem Vorteilsatz der Betriebsgesellschaft zu orientieren (vgl. VG München, Urt. v. 29.10.2015 - M 10 K 15.2764 -, juris).43 b) Richtig ist weiter, dass der Umstand, dass die Klinikbetreiberin den Vorteilssatz bislang nicht angegriffen hat, für die zutreffende Einschätzung des fremdenverkehrsbedingten Vorteils spricht (BayVGH, Urteil vom 09.05.2016 - 4 B 15.2338 -, KStZ 2016, 194). Die bestandskräftige Festsetzung von Fremdenverkehrsbeiträgen gegenüber der Klinikbetreiberin entfaltet indes keine Bindungswirkung zulasten der Klägerin, vielmehr kommt ihr lediglich indizielle Bedeutung zu. Wird - wie vorliegend - die Höhe des Vorteilssatzes von dem mittelbar Bevorteilten substantiiert angegriffen, ist daher zu prüfen, ob die Grenzen des Schätzungsspielraums eingehalten worden sind.44 c) Hier folgt die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides bereits daraus, dass der Einschätzungsausschuss der Beklagten nicht einmal in den Grundzügen dokumentiert hat, von welchen Tatsachen er ausgegangen ist und wie er die nach der Satzung zu berücksichtigenden Kriterien (Art und Umfang der Tätigkeit, Lage und Größe der Geschäfts- oder Beherbergungsräume, Betriebsweise, Zusammensetzung des Kundenkreises) gewichtet hat. Der vorgelegten Niederschrift über die Sitzung des Einschätzungsausschusses vom 19.11.2012 lässt sich hierzu nichts entnehmen. Wie der Vorteilssatz von 40% zustande gekommen ist, erschließt sich nicht einmal ansatzweise. Die Niederschrift enthält hierzu lediglich die nicht weiterführende Bemerkung, dass der zuvor festgesetzte Vorteilssatz von 87% rechtlich nicht mehr haltbar gewesen sei. Soweit in der Klageerwiderung der Versuch unternommen wird, den festgesetzten Vorteilssatz zu plausibilisieren, vermag dies diese grundlegenden Mängel schon deshalb nicht zu heilen, weil der Einschätzungsspielraum nicht der Beklagten oder deren Prozessbevollmächtigten, sondern dem Einschätzungsausschuss des Gemeinderats zusteht.45 d) Unabhängig davon ist der Bescheid auch deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte die Grenzen des Schätzungsspielraums überschritten hat, indem sie für die Schätzung erhebliche Tatsachen nicht ermittelt hat. Mag den Mitgliedern des Einschätzungsausschusses Lage und Größe der Klinik und deren Betriebsweise möglicherweise bekannt gewesen sein, so gilt dies nicht für die Zusammensetzung des Kundenkreises, d.h. die Patientenstruktur, die nach der Satzung ebenfalls ein zwingend zu berücksichtigendes Kriterium ist. Hierzu wäre es erforderlich gewesen, zu ermitteln, in welchem Umfang in der Klinik im Jahr 2014 Privatpatienten und in welchem Umfang Kassenpatienten behandelt worden sind, wie sich die Einkünfte auf diese Patientengruppen verteilen und wie hoch der Anteil der Patienten ist, die sich nicht allein aufgrund von Ortsnähe oder fachlichem Renommee der Klinik, sondern zumindest auch aufgrund des Kurbetriebs und/oder der Fremdenverkehrseinrichtungen der Beklagten für einen Aufenthalt dort entschieden haben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.04.2010 - 2 S 2160/09 -, VBlBW 2010, 440 juris Rn. 38 f.). Mangels Erhebung entsprechender Daten bei der Betreibergesellschaft konnte die Patientenstruktur als ein maßgebliches Kriterium überhaupt nicht berücksichtigt werden. Die mit der Klageerwiderung vorgelegte Übersicht über den Anteil kurtaxepflichtiger Übernachtungstage vermag diesen Mangel nicht zu heilen. Erstens hat sie dem Einschätzungsausschuss nicht vorgelegen. Zweitens bezieht sich nicht auf das Jahr 2014, sondern auf die Jahre 2017 bis 2019. Drittens ist diese Übersicht bezogen auf die zu ermittelnden relevanten Parameter nur von begrenzter Aussagekraft. Sie erlaubt keinen Schluss darauf, wie hoch der Anteil der Patienten ist, die sich nicht allein aufgrund von Ortsnähe oder fachlichem Renommee der Klinik, sondern zumindest auch aufgrund des Kurbetriebs und/oder der Fremdenverkehrseinrichtungen der Beklagten für einen Aufenthalt dort entschieden haben.46 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren durch die Klägerin ist gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig zu erklären, denn ein verständiger Beteiligter in der Lage der Klägerin durfte im Zeitpunkt der Zuziehung der Verfahrensbevollmächtigten (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.05.2000 - 7 C 8.99 -, Buchholz 428 § 38 VermG Nr. 5) mit Blick auf die Bedeutung und Schwierigkeit der Sache vernünftigerweise die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für erforderlich halten.47 Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht gemäß §§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO liegen nicht vor.
Gründe
22 Die als Anfechtungsklage statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Fremdenverkehrsbeitragsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar unterliegt der Gewinn aus der Veräußerung des Erbbaurechts dem Grunde nach der Fremdenverkehrsbeitragspflicht (1.), doch erweist sich die Bemessung des Vorteilssatzes als rechtswidrig (2.).23 1. a) Rechtsgrundlage für die Heranziehung zu einem Fremdenverkehrsbeitrag ist die auf § 44 KAG basierende, im Veranlagungszeitraum geltende Satzung der Beklagten über die Erhebung eines Beitrags zur Förderung des Kurbetriebs und Fremdenverkehrs (FVBS) vom 29.03.2001 in der Fassung der 1. Änderung der Satzung vom 17.07.2008, in Kraft getreten am 01.01.2009.24 b) Gegen die Gültigkeit der Satzung bestehen keine Bedenken. Die FVBS vom 29.03.2001 stimmt mit den Voraussetzungen der Ermächtigungsnorm des § 44 KAG überein. Nach § 44 Abs. 1 KAG können Kurorte, Erholungsorte und sonstige Fremdenverkehrsgemeinden zur Förderung des Fremdenverkehrs und des Erholungs- und Kurbetriebs für jedes Haushaltsjahr Fremdenverkehrsbeiträge von allen natürlichen Personen, die eine selbstständige Tätigkeit ausüben und von allen juristischen Personen erheben, soweit ihnen in der Gemeinde aus dem Fremdenverkehr oder dem Kurbetrieb unmittelbar oder mittelbar besondere wirtschaftliche Vorteile erwachsen. Der Fremdenverkehrsbeitrag bemisst sich dabei nach den besonderen wirtschaftlichen Vorteilen, die dem Beitragspflichtigen aus dem Fremdenverkehr oder dem Kurbetrieb erwachsen (vgl. § 44 Abs. 2 Satz 1 KAG). Der Beitrag wird auf Grund einer Satzung erhoben, die insbesondere den Kreis der Abgabenschuldner, den Gegenstand, den Maßstab und den Satz der Abgabe, sowie die Entstehung und die Fälligkeit der Abgabenschuld bestimmen soll (§ 2 Abs. 1 Satz 2 KAG).25 Diesen Maßgaben entspricht die Fremdenverkehrsbeitragssatzung der Beklagten: Die Beklagte ist als Kurort berechtigt, einen Fremdenverkehrsbeitrag zu erheben. Der Fremdenverkehrsbeitrag wird von allen natürlichen und juristischen Personen erhoben, die eine selbstständige Tätigkeit ausüben und denen in der Stadt Bad M. aus dem Kurbetrieb oder Fremdenverkehr unmittelbar oder mittelbar besondere wirtschaftliche Vorteile erwachsen (§ 1 FVBS). Der Beitrag bemisst sich nach den besonderen wirtschaftlichen Vorteilen, die dem Beitragspflichtigen aus dem Kurbetrieb oder Fremdenverkehr in Bad M. erwachsen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 FVBS). Als besondere wirtschaftliche Vorteile gelten die aus Kurbetrieb oder Fremdenverkehr stammenden Einkünfte des Veranlagungsjahrs (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 und 3 FVBS - sog. Messbetrag). Für die Ermittlung des Messbetrags sind zunächst die nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes oder des Körperschaftsteuergesetzes ermittelten, in Bad M. erzielten Einkünfte des Beitragspflichtigen festzustellen (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 1 FVBS). Von diesen Einkünften ausgehend wird durch Schätzung ermittelt, welcher Teil aus Kurbetrieb und Fremdenverkehr in Bad M. herrührt (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 FVBS). Der sich hierbei ergebende Kuranteil wird in Prozenten ausgedrückt (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 2 FVBS). Aus der Anwendung des Kuranteils auf die in Bad M. erzielten Einkünfte ergibt sich der Messbetrag (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 3 FVBS). Bei der Schätzung des Kuranteils sind insbesondere Art und Umfang der Tätigkeit, Lage und Größe der Geschäfts- oder Beherbergungsräume, die Betriebsweise und die Zusammensetzung des Kundenkreises zu berücksichtigen (vgl. § 4 Abs. 4 FVBS). Der Beitrag beläuft sich schließlich nach § 5 Abs. 1 FVBS auf 10 % des Messbetrags.§ 3 FVBS regelt die Entstehung der Beitragsschuld und § 9 Abs. 2 FVBS die Fälligkeit des Beitrags.26 c) Gegen den in Anwendung dieser Satzungsregelungen von der Beklagten festgesetzten Fremdenverkehrsbeitrag ist dem Grunde nach nichts einzuwenden.27 aa) Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides werden nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.28 bb) Die Klägerin unterliegt mit dem im Jahr 2014 erzielten Veräußerungsgewinn in Höhe von 7.114.538,79 EUR der Fremdenverkehrsbeitragspflicht.29 Die Klägerin übt als juristische Person (§ 13 Abs. 1 GmbHG) eine selbstständige Tätigkeit i.S.d § 1 FVBS aus. Der Begriff des „selbstständig Tätigen“ geht weiter als der im Steuerrecht. Sinn und Zweck ist es, unselbstständig tätige Arbeitnehmer von der Beitragspflicht auszunehmen. Der Begriff „selbstständig“ umfasst neben Freiberuflern auch Gewerbetreibende und kann selbst nichtgewerbsmäßige Tätigkeiten umfassen, die steuerrechtlich der privaten Vermögensverwaltung zuzurechnen sind (BayVGH, Urt. v. 27.03.2013 - 4 B 98.2772 -, BayVBl 2003, 725; Gössl in Gössl/Reif, KAG, Stand November 2015, § 44 Anm. 2.1). Beitragspflichtig sind nicht nur diejenigen, die in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgezählt sind, sondern auch jene Personen, die eine gewerbliche Tätigkeit i.S.d. Einkommensteuerrechts ausüben, also Einkünfte nach § 15 Abs. 1 EStG erzielen und nach § 2 Abs. 1 GewStG der Gewerbesteuerpflicht unterliegen (BayVGH, Urt. v. 27.09.1988 - 4 B 87.01844 -, juris). Ob eine selbstständige und damit die Beitragspflicht auslösende Tätigkeit vorliegt, ist nach abgabenrechtlichen Grundsätzen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Wichtige Kriterien sind dabei das Ausmaß der Weisungsabhängigkeit, die Arbeitszeitregelung sowie Art und Weise der Vertragsgestaltung. Selbst private Vermieter von Ferienwohnungen und sonstige Privatpersonen, die Kurgäste, Erholungssuchende oder Touristen gegen Entgelt beherbergen, sind insoweit i.S.d. Fremdenverkehrsbeitragsrechts „selbstständig tätig“. Denn diese Vermietungen stellen sich ihrer Art nach nicht nur als schlichte „normale“ private Vermögensverwaltungen, sondern als nachhaltige Tätigkeiten zur gezielten, auf dem Fremdenverkehr beruhenden Einnahmeerwirtschaftung dar (Lichtenfeld in Driehaus, KAG, Stand März 2011, § 11 Rn. 83).30 Vorliegend war die Klägerin selbstständig im fremdenverkehrsrechtlichen Sinn tätig. Dies würde selbst dann gelten, wenn sie nicht gewerblich tätig wäre, sondern ihr Tätigwerden sich lediglich als private Vermögensverwaltung darstellen würde, denn der Begriff der selbstständigen Tätigkeit des Fremdenverkehrsbeitragsrechts umfasst auch Tätigkeiten, die steuerrechtlich der privaten Vermögensverwaltung zuzurechnen sind (Gössl in Gössl/Reif, KAG, Stand November 2015, § 44 Anm. 2.1).31 Der Klägerin erwachsen aus dem Kurbetrieb der Beklagten mittelbar besondere wirtschaftliche Vorteile. Diese Vorteile bestehen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in den erhöhten Verdienst- und Gewinnmöglichkeiten, die dem Beitragspflichtigen aus dem Fremdenverkehr oder dem Kurbetrieb erwachsen (vgl. u. a. Urteile vom 15.01.2009 - 2 S 952/08 -, BWGZ 2009, 406 f., vom 15.01.2009 - 2 S 875/08 -, BWGZ 2009, 404 ff., vom 30.11.2000 - 2 S 2061/98 -, KStZ 2001, 78 ff., Beschluss vom 10.08.1998 - 2 S 2753/97 -, MedR 1999, 377 ff.). Der besondere wirtschaftliche Vorteil im Sinne des Fremdenverkehrsbeitragsrechts kann unmittelbar oder mittelbar sein (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.08.2003 - 2 S 2192/03 -, VBlBW 2004, 103 ff.). Allerdings muss zwischen den erhöhten Verdienst- und Gewinnmöglichkeiten einerseits und dem Fremdenverkehr und dem Kurbetrieb der Standortgemeinde andererseits ein konkreter Zusammenhang bestehen. Denn der Fremdenverkehrsbeitrag ist keine Steuer, sondern eine Gegenleistung des Beitragspflichtigen für spezielle Leistungen der Gemeinde, nämlich für die Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der systematischen Förderung des Fremdenverkehrs oder des Kurbetriebs entstehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 30.11.2000 - 2 S 2061/98 -, a.a.O.). Folglich müssen bei der Vorteilsbemessung diejenigen Umsätze der Beitragspflichtigen ausscheiden, die entweder durch Geschäfte mit nicht vom Fremdenverkehr unmittelbar bevorteilten Ortsansässigen oder mit Ortsfremden ohne dem Tourismus unterfallende Aufenthaltsgründe erwirtschaftet werden (vgl. NdsOVG, Urteil vom 13.12.2006 - 9 KN 180.04 -, juris).32 Das Tätigwerden der Klägerin war darauf gerichtet, nachhaltig und dauerhaft auf dem Fremdenverkehr beruhende Einnahmen zu erzielen. Sie konnte sowohl in ihrer Eigenschaft als Kommanditistin an dem Gewinn der Klinikbetreiberin partizipieren, als auch infolge des Mietvertrags mit der Klinikbetreiberin eigene Gewinne aus Mietzinsen erwirtschaften. Zugleich traf sie das hiermit stets verbundene unternehmerische Risiko.33 Die Beklagte hat den Maßstab des Beitrags i.S.v. § 4 Abs. 1 FVBS zutreffend bestimmt. Zur Bestimmung der besonderen wirtschaftlichen Vorteile dient nach Maßgabe des § 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 FVBS der einkommen- und körperschaftssteuerpflichtige Gewinn. Infolge der Veräußerung des Erbbaurechts samt Immobilie erzielte die Klägerin einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 7.114.538,79 EUR, der als einkommensteuerrechtlicher Gewinn nach § 8 Abs. 1 KStG, § 4 Abs. 1 EStG unter den Begriff der „Einkünfte“ i.S.d. § 4 Abs. 1 und Abs. 2 FVBS fällt und daher bei der Ermittlung eines möglichen Fremdenverkehrsbeitrags zu berücksichtigen ist (BayVGH, Beschluss vom 26.05.2020 - 4 ZB 19.1934 -, juris; VG München, Urt. v. 08.08.2019 - M 10 K 18.570 -, juirs).34 Der Klägerin erwuchs infolge der Veräußerung des Erbbaurechts auch ein gemäß §§ 1, 4 Abs. 1 FVBS jedenfalls mittelbar im Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr stehender besonderer wirtschaftlicher Vorteil. Der besondere wirtschaftliche Vorteil besteht dabei in der erhöhten Verdienst- und Gewinnmöglichkeit, die dem Beitragspflichtigen aus dem Fremdenverkehr oder dem Kurbetrieb erwächst. Es genügt die objektive Möglichkeit höherer Gewinne, der die Chance gleichsteht, Verluste aus dem Geschäftsbetrieb zu verringern. Das Entstehen von Vorteilen aus dem Fremdenverkehr wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Unternehmer tatsächlich keine Gewinne erzielt oder sogar Verluste macht (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 06.11.2008 - 2 S 669/07 -, BWGZ 2009, 60). Denn der Sache nach handelt es sich beim Fremdenverkehrsbeitrag um eine Gegenleistung des Beitragspflichtigen für spezielle Leistungen der Gemeinde, nämlich für Aufwendungen, die der Gemeinde im Zusammenhang mit der Förderung des Kurbetriebs und/oder Fremdenverkehrs entstehen.35 Entgegen der Auffassung der Klägerin liegt es fern, dass sich der Kaufpreis unabhängig von der vom Kurbetrieb profitierenden Tätigkeit der Klinikbetreiberin auf dem Betriebsgrundstück gebildet hat. Wie die Klägerin selbst vorträgt, sei die Erwerberin ein Immobilieninvestmentfonds, der sich auf den Erwerb von klinikbetriebenen Grundstücken spezialisiert habe. Mit Blick auf diese wirtschaftliche Ausrichtung der Erwerberin ist fragwürdig, ob die Erwerberin überhaupt ein Interesse an dem Erwerb gehabt hätte, wenn es den Klinikbetrieb nicht gäbe. Vielmehr dürfte die Erwerberin sogar ein gesteigertes Interesse daran gehabt haben, dass der Klinikbetrieb nach ihrem Erwerb des Erbbaurechts samt Immobilie fortgeführt wird. Untermauert wird dieses Verständnis jedenfalls dadurch, dass der Klinikbetrieb anschließend durch den Abschluss neuer Miet- bzw. Pachtverträge fortgeführt wurde. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Erwerberin das Betriebsgrundstück nach dem Erwerb nicht unmittelbar an die Klinikbetreiberin vermietete, sondern die M. B.V. KG als Hauptmieterin zwischengeschaltet worden ist. Denn es drängt sich in keiner Weise auf, dass die Erwerberin das Betriebsgrundstück an die M. B.V. KG ohne besondere Absicht vermietet und diese wiederum rein zufällig die auf dem Betriebsgrundstück tätige Klinikbetreiberin als Vertragspartnerin ausgewählt hat.36 Darüber hinaus fehlt entgegen dem klägerischen Vortrag auch nicht deshalb der mittelbare Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr, weil die Klägerin ein Geschäft als sogenanntes „drittes Kettenglied“ getätigt habe, das nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Münchens (Urt. v. 08.12.2016 - M 10 K 15.5363 -, juris) von der Beitragspflicht grundsätzlich nicht mehr erfasst werde. Denn wie das Verwaltungsgericht München in seinem Urteil ausführt, gibt es Ausnahmekonstellationen, bei denen gleichwohl ein Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr bestehen kann. Abgesehen davon ging es dort um die Veräußerung von neutralen, nicht bereits vor der Veräußerung dem Fremdenverkehr zugeordneter Räume. Vorliegend handelt es sich hingegen um die Veräußerung des Erbbaurechts samt Immobilie, in der die Klinikbetreiberin nach wie vor den im Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr stehenden Klinikbetrieb unterhält. Richtigerweise hängt die Beurteilung, ob ein Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr besteht, stets von einer Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls ab. Ein fremdenverkehrsbedingter Vorteil kann selbst dann vorliegen, wenn ein Beitragspflichtiger durch eine Kette von Zwischenverträgen von der unmittelbar dem Fremdenverkehr zuzurechnenden Tätigkeit getrennt ist (BayVGH, Urt. v. 21.12.1998 - 4 B 95.2560 -, BayVBl 1998, 599; Urt. v. 14.01.2016 - 4 B 14.2227 -, juris; VG München, Urt. v. 08.08.2019 - M 10 K 18.570 -, juris Rn. 49).37 Vorliegend war das durch die Klägerin veräußerte Erbbaurecht samt Immobilie mit Vorteilen behaftet, die aus dem Fremdenverkehr herrühren. Zusätzlich zu dem bereits angesprochenen Einfluss der Tätigkeit im Fremdenverkehr auf die Kaufpreisbildung, haben sich im Zeitpunkt der Veräußerung stille Reserven zugunsten der Klägerin realisiert, die über die vorausgegangenen Jahre aufseiten der Klägerin durch Abschreibungen entstanden waren. Auch diese sind bei der Festsetzung des Fremdenverkehrsbeitrags zu berücksichtigen. Geklärt worden ist dies in der Rechtsprechung bereits für den Fall eines Betriebsaufgabegewinns (BayVGH, Urt. v. 10.10.2005 - 4 BV 04.1306 -, juris) sowie den Fall der Veräußerung von Gesellschaftsanteilen (VG Stuttgart, Urt. v. 24.01.2019 - 1 K 5634/15 und 1 K 5639/15 -, n.v.). Eine andere Bewertung lässt auch der vorliegende Fall nicht zu. Denn die Abschreibungen standen in sachlichem Zusammenhang mit der auf dem Betriebsgrundstück stehenden Immobilie, die an die Klinikbetreiberin zum Klinikbetrieb vermietet war. Sähe man dies anders, bestünde die Gefahr, dass die Fremdenverkehrsbeitragspflicht umgangen würde. Gesellschafter könnten sich gezielt der Fremdenverkehrsbeitragspflicht entziehen, indem sie gezielt Gesellschaftsanteile oder sonstige im Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr stehende Vermögensbestandteile veräußern würden. Weil der Veräußerungsgewinn unmittelbar den Gesellschaftern und nicht der im Fremdenverkehr unmittelbar tätigen Betriebsgesellschaft zugute käme, käme eine Fremdenverkehrsbeitragspflicht nicht in Betracht. Letztendlich widerspräche das dem Sinn und Zweck des Fremdenverkehrsbeitrags, sämtliche aus dem Fremdenverkehr herrührende Vorteile der Beitragspflicht zu unterwerfen.38 2. Die Festsetzung des Vorteilssatzes (Kuranteil) mit 40 % hält jedoch einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.39 Der Kuranteil bezeichnet den Teil der Einkünfte (vgl. § 4 Abs. 3 FVBS), für den die speziellen fremdenverkehrsbezogenen Leistungen der Gemeinde zumindest mitursächlich waren. Die fremdenverkehrsbedingten Einkünfte müssen im Rahmen der Beitragsbemessung somit von den sonstigen allgemein erzielten Einkünften abgegrenzt werden. Da die durch den Fremdenverkehr ermöglichte Steigerung des Umsatzes bzw. Gewinns nicht genau anhand eines Wirklichkeitsmaßstabes festgestellt werden kann, kann die Bemessung der die Beitragserhebung rechtfertigenden Vorteile nur nach einem an der Wahrscheinlichkeit orientierten Maßstab vorgenommen werden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg besteht für die Gemeinden die Möglichkeit, dass der Ortsgesetzgeber in der Satzung selbst regelt, welche Beitragspflichtigen bzw. welche Gruppen der Beitragspflichtigen mit welchen Vorteilssätzen zu veranlagen sind (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.01.2009 - 2 S 875/08 -, a.a.O.; Normenkontrollurteil vom 06.11.2008 - 2 S 669/07 -, ZKF 2009, 141 f.). Zulässig ist aber auch, dass der Gemeinderat oder auch die Verwaltung auf der Grundlage einer ausreichend bestimmten Satzungsregelung den Vorteilssatz des jeweiligen Beitragspflichtigen individuell bestimmt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 29.04.2010 - 2 S 2160/09 -, VBlBW 2010, 440 ff., und vom 06.02.1987 - 14 S 2497/85 -, ZKF 1987, 204 ff.; Beschluss vom 01.04.2016 - 2 S 1129/15 -). Da der Vorteil für die verschiedenen Abgabepflichtigen unterschiedlich ist, gebietet es zudem der Grundsatz der Abgabengerechtigkeit, die Abgabepflichtigen auch unterschiedlich zu belasten. Diejenigen, die in etwa den gleichen Vorteil haben, sollen auch nach Maßstab und Abgabensatz gleichgestellt werden und diejenigen, die vom Fremdenverkehr größere Vorteile haben, sollen aufgrund des Maßstabes des Abgabensatzes auch höhere Abgaben zahlen müssen als die Pflichtigen mit wahrscheinlich geringeren Vorteilen.40 Darüber hinaus kann die Bestimmung des Vorteilssatzes im Bereich des Fremdenverkehrsbeitrags nur im Wege einer Schätzung erfolgen, weil die Ermittlung der Bemessungsgrundlagen für den Fremdenverkehrsbeitrag immer mit gewissen Unwägbarkeiten verbunden ist. Die Schätzung ist im Gegensatz zur Ermessensausübung eine besondere Art der Tatsachenfeststellung, ohne die gerade im Abgabenrecht nicht auszukommen ist. Schätzungen als eine Form der Tatsachenfeststellung unterliegen grundsätzlich nur eingeschränkt der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung. Aus dem Wesen der Schätzung folgt, dass der Behörde ein Schätzungsspielraum zugebilligt werden muss, innerhalb dessen sie die Schätzung zwar mehr oder weniger genau, aber noch nicht fehlerhaft vornimmt. Fehlerhaft ist nur die Überschreitung der Grenzen dieses Schätzungsspielraums und rechtswidrig ist daher auch nur ein Verwaltungsakt, der auf einer Überschreitung dieser Grenzen beruht (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.02.1987 - 14 S 2497/85 -, a.a.O.). Die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Grenzen des Schätzungsspielraums bedingt es, dass der Einschätzungsausschuss der Beklagten dokumentiert, welche Tatsachen er seiner Schätzung zugrunde gelegt hat und welches Gewicht er den einzelnen zu berücksichtigenden Kriterien beigemessen hat. Fehlerhaft ist eine Schätzung insbesondere dann, wenn sie auf falschen oder offenbar unsachlichen Erwägungen beruht, wenn wesentliche Tatsachen nicht ermittelt oder außer Acht gelassen oder wenn der Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt worden sind.41 Vor diesem rechtlichen Hintergrund hat sich die Beklagte - in auch vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg nicht beanstandeter Weise - für eine individuelle Vorteilsbestimmung durch den Gemeinderat bzw. den Einschätzungsausschuss für den Fremdenverkehrsbeitrag auf der Grundlage von § 4 Abs. 4 FVBS entschieden. Danach sind bei der Schätzung des Kuranteils insbesondere Art und Umfang der Tätigkeit, Lage und Größe der Geschäfts- oder Beherbergungsräume, die Betriebsweise und die Zusammensetzung des Kundenkreises zu berücksichtigen. Die Satzung legt damit die wesentlichen Kriterien der Schätzung hinreichend bestimmt fest.42 a) Nicht zu beanstanden ist es im Ausgangspunkt, dass der Vorteilssatz für die Klägerin als mittelbar Bevorteilte nicht gesondert ermittelt und festgesetzt werden muss, sondern sich an dem für die Klinikbetreiberin als unmittelbar Bevorteilte festgesetzten Satz orientieren kann. Gerade wenn eine Fremdenverkehrsbeitragspflicht aufgrund mittelbaren Zusammenhangs mit einer Tätigkeit im Fremdenverkehr besteht, liegt es in der Regel nahe, sich bei der Bestimmung des Vorteilssatzes an dem Vorteilsatz der Betriebsgesellschaft zu orientieren (vgl. VG München, Urt. v. 29.10.2015 - M 10 K 15.2764 -, juris).43 b) Richtig ist weiter, dass der Umstand, dass die Klinikbetreiberin den Vorteilssatz bislang nicht angegriffen hat, für die zutreffende Einschätzung des fremdenverkehrsbedingten Vorteils spricht (BayVGH, Urteil vom 09.05.2016 - 4 B 15.2338 -, KStZ 2016, 194). Die bestandskräftige Festsetzung von Fremdenverkehrsbeiträgen gegenüber der Klinikbetreiberin entfaltet indes keine Bindungswirkung zulasten der Klägerin, vielmehr kommt ihr lediglich indizielle Bedeutung zu. Wird - wie vorliegend - die Höhe des Vorteilssatzes von dem mittelbar Bevorteilten substantiiert angegriffen, ist daher zu prüfen, ob die Grenzen des Schätzungsspielraums eingehalten worden sind.44 c) Hier folgt die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides bereits daraus, dass der Einschätzungsausschuss der Beklagten nicht einmal in den Grundzügen dokumentiert hat, von welchen Tatsachen er ausgegangen ist und wie er die nach der Satzung zu berücksichtigenden Kriterien (Art und Umfang der Tätigkeit, Lage und Größe der Geschäfts- oder Beherbergungsräume, Betriebsweise, Zusammensetzung des Kundenkreises) gewichtet hat. Der vorgelegten Niederschrift über die Sitzung des Einschätzungsausschusses vom 19.11.2012 lässt sich hierzu nichts entnehmen. Wie der Vorteilssatz von 40% zustande gekommen ist, erschließt sich nicht einmal ansatzweise. Die Niederschrift enthält hierzu lediglich die nicht weiterführende Bemerkung, dass der zuvor festgesetzte Vorteilssatz von 87% rechtlich nicht mehr haltbar gewesen sei. Soweit in der Klageerwiderung der Versuch unternommen wird, den festgesetzten Vorteilssatz zu plausibilisieren, vermag dies diese grundlegenden Mängel schon deshalb nicht zu heilen, weil der Einschätzungsspielraum nicht der Beklagten oder deren Prozessbevollmächtigten, sondern dem Einschätzungsausschuss des Gemeinderats zusteht.45 d) Unabhängig davon ist der Bescheid auch deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte die Grenzen des Schätzungsspielraums überschritten hat, indem sie für die Schätzung erhebliche Tatsachen nicht ermittelt hat. Mag den Mitgliedern des Einschätzungsausschusses Lage und Größe der Klinik und deren Betriebsweise möglicherweise bekannt gewesen sein, so gilt dies nicht für die Zusammensetzung des Kundenkreises, d.h. die Patientenstruktur, die nach der Satzung ebenfalls ein zwingend zu berücksichtigendes Kriterium ist. Hierzu wäre es erforderlich gewesen, zu ermitteln, in welchem Umfang in der Klinik im Jahr 2014 Privatpatienten und in welchem Umfang Kassenpatienten behandelt worden sind, wie sich die Einkünfte auf diese Patientengruppen verteilen und wie hoch der Anteil der Patienten ist, die sich nicht allein aufgrund von Ortsnähe oder fachlichem Renommee der Klinik, sondern zumindest auch aufgrund des Kurbetriebs und/oder der Fremdenverkehrseinrichtungen der Beklagten für einen Aufenthalt dort entschieden haben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.04.2010 - 2 S 2160/09 -, VBlBW 2010, 440 juris Rn. 38 f.). Mangels Erhebung entsprechender Daten bei der Betreibergesellschaft konnte die Patientenstruktur als ein maßgebliches Kriterium überhaupt nicht berücksichtigt werden. Die mit der Klageerwiderung vorgelegte Übersicht über den Anteil kurtaxepflichtiger Übernachtungstage vermag diesen Mangel nicht zu heilen. Erstens hat sie dem Einschätzungsausschuss nicht vorgelegen. Zweitens bezieht sich nicht auf das Jahr 2014, sondern auf die Jahre 2017 bis 2019. Drittens ist diese Übersicht bezogen auf die zu ermittelnden relevanten Parameter nur von begrenzter Aussagekraft. Sie erlaubt keinen Schluss darauf, wie hoch der Anteil der Patienten ist, die sich nicht allein aufgrund von Ortsnähe oder fachlichem Renommee der Klinik, sondern zumindest auch aufgrund des Kurbetriebs und/oder der Fremdenverkehrseinrichtungen der Beklagten für einen Aufenthalt dort entschieden haben.46 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren durch die Klägerin ist gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig zu erklären, denn ein verständiger Beteiligter in der Lage der Klägerin durfte im Zeitpunkt der Zuziehung der Verfahrensbevollmächtigten (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.05.2000 - 7 C 8.99 -, Buchholz 428 § 38 VermG Nr. 5) mit Blick auf die Bedeutung und Schwierigkeit der Sache vernünftigerweise die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für erforderlich halten.47 Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht gemäß §§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO liegen nicht vor. | {
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger wendet sich gegen eine denkmalschutzrechtliche Beseitigungsverfügung.2 Der Kläger ist seit 2015 Eigentümer des Grundstücks X-Str. 11c (frühere Xstr. 2), FlSt.-Nr. X, Stadtteil X, Gemarkung der Beklagten. Das dortige Gebäude wurde vom Voreigentümer auf Grundlage einer Nachtragsbaugenehmigung vom 14.04.2015, die ohne Beteiligung der unteren Denkmalschutzbehörde erteilt worden war, umgebaut („Umbau und Sanierung eines ehemaligen Ausstellungs- und Lagerraums“) und liegt innerhalb des Bebauungsplans Nr. X“ von 1970.X3 Das (heutige) Anwesen des Klägers liegt in unmittelbarer räumlicher Nähe der Anlage des ehemaligen Adelssitzes „X“. Die Gebäude werden westlich von der Xstraße, nördlich von der X-Straße und im Osten von der Straße X begrenzt. Das Haus des Klägers verfügt über eine Nutzfläche von 42,87 m², die sich über das Erdgeschoss und einen ausgebauten Dachboden erstreckt. Es grenzt südlich an ein Wohnhaus und östlich an ein zweistöckiges Fachwerkhaus, Nr. 11a. Zwischen diesem Gebäude und der östlich belegenen Nr. 11 besteht eine etwa 1,5 m breite Lücke, die einen Durchgang zum Hinterhof bildet. Diese Lücke überspannt eine hölzerne Gebäudebrücke. Die drei Gebäude bilden nach Norden, mit Ausnahme des Durchgangs zum Hinterhof, eine (fast) geschlossene Fassade, die in einem vergleichbaren Rotton angestrichen ist. Auch sind alle Dächer mit roten Biberschwanzziegeln gedeckt, wobei an der Nr. 11a auf beiden Dachseiten oberhalb der nachträglich angebrachten Schleppgauben mit denkmalrechtlicher Genehmigung ein an den First heranreichende Lamellendachflächenfenster eingebaut worden ist; auch die Nr. 11c hat in westlicher Richtung seit dem Umbau ein Dachflächenfenster. Zudem verfügen die Gebäude auf den Grundstücken Nr. 11a und 11c jeweils über nach Norden zeigende und in weißer Farbe angestrichene Giebel in Fachwerkoptik. Das Gebäude auf dem Grundstück Nr. 11 ist ein zweistöckiges Steinhaus mit Stufengiebeln an der westlichen und östlichen Seite; dessen Dachflächen verlaufen rechtwinklig zu den beiden anderen Häusern.4 Bereits am 05.05.1965 wurde in Bezug auf das damals noch ungeteilte Grundstück FlSt.-Nr. X ein „weithin sichtbares“ „Wohngebäude mit danebenliegender Zehntscheuer“ in das Denkmalbuch eingetragen. In der Begründung heißt es: „Der X ist ein alter Adelssitz, der 873 erwähnt wird, als die Ortschaft X (jetzt zu X und X gehörig) in den Besitz der Abtei St. Gallen überging. Später gehörte der Hof zum Kloster X (1233 und 1344 in Urkunden bestätigt). Bis zur Säkularisation 1803 Sitz eines Meiers, dann bis um 1900 selbstständiger Bauern. Heutiger Bau zweistöckiges Steinhaus mit seitlichen Staffelgiebeln, früher östlich durch einen Torbogen mit weiteren Nebengebäuden verbunden (jetzt Straße). Fenster im oberen Stock und Giebel mit Holzgewanden, teilweise vergrößert. Eingang an der W.-Seite mit Steingewände, im Eselrücken-Sturz: Rebmesser, Pflug und 1581. Steinerne Wendeltreppe. Im 1. Obergeschoss in holzgeschnitztem, profiliertem Türrahmen mit Eselrücken: ‚M 1581 B‘ (Matthäus Bechtold). [...] Eichener Dachstuhl, mit handgestrichenen Biberschwanzziegeln gedeckt. Westlich durch Holztür verbundenen ehem. Zehntscheuer mit Fachwerkgiebel zur Straße; später Gemeinde-Trotte, oben Fruchtspeicher; als Werkstatt 1948 ausgebaut, nicht unterkellert; nach hinten anschließend Scheune und Stallung, 1952 aufgestockt und zu Atelier und Wohnung ausgebaut. Am Hauptgebäude 1960 Dach umgedeckt und Verputz erneuert mit Zuschuß der Staatlichen Denkmalpflege.“5 Auch die Übertragungsverfügung vom 01.10.1980 bezeichnet die Anlage als „Wohngebäude mit danebenliegender Zehntscheuer“. In einer weiteren Beschreibung („alt“) aus den Jahren 1982 bzw. 1983 heißt es: „DSchG-Status: § 2 [...] Sogenannter ‚X‘, bestehend aus einem Staffelgiebelhaus, einem Bau mit Zierfachwerkgiebel und mehreren kleinen Nebengebäuden. Erste Erwähnung 1233 in einer päpstlichen Bulle über die Besitzungen des Klosters X. Die Hofanlage war ursprünglich von einer Mauer umschlossen. Die heutige Anlage weist im wesentlichen Formen des 16. und 17. Jahrhunderts auf. Wegen ihrer ortsgeschichtlichen und baugeschichtlichen Bedeutung sowie wegen ihrer gestalterischen Qualität besteht aus wissenschaftlichen, künstlerischen und heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse an der Erhaltung der Anlage. Dies schließt auch den archäologischen Bodenbereich mit ein.“6 Laut einer Beschreibung vom 17.12.2004 in den Akten der höheren Denkmalbehörde („neu“) bildet das spätmittelalterliche Gehöft eine Sachgesamtheit aus einem Wohnhaus (Staffelgiebelhaus), einer ehemaligen Zehntscheune (später Trotte, seit 1948 Werkstatt), Scheune, Stallung und Brunnentrog.7 Aufgrund einer Beanstandung des Eigentümers des Anwesens X-Straße Nr. 11a hörte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 05.06.2018 zur beabsichtigten Beseitigungsanordnung für die von ihm angebrachten in östlicher Richtung orientierten (sieben) Photovoltaikmodule an. Sie führte aus, dass eine denkmalschutzrechtliche Genehmigung für die Photovoltaikanlage nicht beantragt worden sei. Nach der Beurteilung des Landesamts für Denkmalpflege stelle die Anlage eine erhebliche Beeinträchtigung des Erscheinungsbilds der denkmalgeschützten Sachgesamtheit dar und könne daher auch nicht nachträglich genehmigt werden.8 Mit Schreiben vom 13.06.2018 und 12.07.2018 teilte der Kläger mit, dass ihm die Eintragung als Kulturdenkmal bislang unbekannt sei. Auch im Rahmen des Abschlusses des Kaufvertrags sei dies kein Thema gewesen. Eine Eintragung im Denkmalbuch bestehe nicht. Vor Durchführung des Vorhabens habe er sich gemeinsam mit seinem Bauleiter, Herr X, dessen Gedächtnisprotokoll er vorlegte, am 08.03.2018 beim Beratungszentrum Bauen der Beklagten erkundigt. Dort habe man ihm erklärt, dass sein Vorhaben genehmigungsfrei sei. Im Nachgang zu diesem Gespräch habe er per Email um eine Bestätigung gebeten. Daraufhin habe er lediglich eine automatische Eingangsnachricht erhalten, die er als Bestätigung des Gesprächsinhalts aufgefasst habe. Aus den vorhandenen Unterlagen ergebe sich nicht, warum die Sachgesamtheit unter besonderem Schutz stehe. Jedenfalls sei sein Gebäude nicht Teil dieser Sachgesamtheit. Dieses sei erst vor etwa 100 Jahren als Lagergebäude eines Glasers, dessen Werkstatt im „X“ belegen gewesen sei, errichtet worden und habe nichts mit dem mittelalterlichen Gebäudekomplex zu tun. Die Photovoltaikanlage befinde sich zudem auf der von der Straßenseite abgewandten Gartenseite seines Anwesens. Vor dem Hintergrund der bereits vorhandenen baulichen Veränderungen und des verfassungsrechtlich gebotenen Einsatzes von Energiesparmaßnahmen sei auch fraglich, ob die Schutzwürdigkeit der Sachgesamtheit noch bestehe. Vorsorglich beantrage er die Erteilung einer denkmalschutzrechtlichen Genehmigung sowie die Löschung der Eintragung seines Gebäudes im Denkmalbuch.9 Am 30.07.2018 gab das Landesamt für Denkmalpflege – Regierungspräsidium Stuttgart – auf Bitte der Beklagten eine Stellungnahme ab: Das ehemalige kleine Werkstattgebäude (X-Straße 11c) gehöre historisch gesehen zur Anlage des „X“, werde jedoch in der ausführlichen Beschreibung des Objekts zur Denkmalbucheintragung 1965 nicht mit aufgeführt. Bei dessen jüngstem Umbau sei historische Substanz verloren gegangen. Aufgrund des heutigen Zustandes könne man das Gebäude allenfalls als Teil der Sachgesamtheit ansehen, ihm selbst komme aber keine Kulturdenkmaleigenschaft (mehr) zu. Es werde daher das gesamte Objekt als Kulturdenkmal angesehen. Dies ergebe sich aus wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen aber auch aus künstlerischen Gründen, da ein gesteigertes Maß an ästhetischer bzw. gestalterischer Qualität vorliege. Die Photovoltaikanlage trete aus dem Straßenraum betrachtet sehr deutlich in Erscheinung. Auch sei der historische Zusammenhang der Einzelgebäude zu dem Gebäudeensemble selbst für den nicht sachkundigen Betrachter durch die Gebäudereihung zwischen zwei Stichstraßen quer zur X-Straße, die Farbgebung der Gebäude, Fachwerk (konstruktiv bzw. vorgesetzt) sowie Dachformen offenkundig. Vor diesem Hintergrund sei die Photovoltaikanlage deutlich augenfällig als störender Fremdkörper zwischen den intakten Biberschwanzdachflächen wahrnehmbar. Auch sei dem Umweltschutzgedanken nicht regelmäßig der Vorrang vor denkmalschutzrechtlichen Belangen einzuräumen. Käme eine erneute Überprüfung des Denkmalwerts des Gebäudekomplexes zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Gebäude aufgrund der baulichen Veränderungen nicht mehr um einen Teil der Sachgesamtheit „X“ handele, würde § 15 Abs. 3 DSchG zur Anwendung kommen. Denn das Nebengebäude falle unter den dort geregelten Umgebungsschutz. Insoweit werde durch die Photovoltaikanlage das Erscheinungsbild erheblich beeinträchtigt, da der Gegensatz zwischen den naturroten, matten, patinierten Biberschwanzziegeln und der anthrazit-schwarz spiegelnden Kollektorfläche als belastend wahrgenommen werde.10 Mit Bescheid vom 02.10.2018 ordnete die Beklagte die Beseitigung der „Solaranlage“ innerhalb von zwei Monaten nach Bestandskraft an. Bei dem Gebäude des Klägers handele es sich um einen Teil der Sachgesamtheit Kulturdenkmal „X“. Die Photovoltaikanlage sei formell rechtswidrig errichtet worden. Eine Zusicherung habe – unabhängig von dem nicht mehr aufklärbaren Gesprächsinhalt und einer möglichen Email des Klägers – jedenfalls mangels Schriftform nicht vorgelegen. Vor allem aber sei die Anlage nicht genehmigungsfähig. Die Erteilung einer Genehmigung stehe in ihrem Ermessen, wobei der Schwere der Beeinträchtigung des Erscheinungsbilds im Verhältnis zum Denkmalwert von besonderer Bedeutung sei. Unter Zugrundelegung der Ausführungen des Landesamts für Denkmalpflege könne eine Genehmigung daher nicht erteilt werden. Auch unter Berücksichtigung der Belange des Umweltschutzes sei ein anderes Abwägungsergebnis nicht geboten. Soweit der Kläger hilfsweise die Löschung seines Gebäudes aus dem Denkmalbuch beantrage, sei die Beklagte hierfür nicht zuständig. Das Ergebnis einer solchen Überprüfung könne jedoch dahinstehen, da sich die denkmalschutzrechtliche Zulässigkeit dann jedenfalls nach § 15 Abs. 3 DSchG richte. Auch falle das Gebäude des Klägers aufgrund seiner geringen Größe nicht in den Anwendungsbereich des baden-württembergischen Gesetzes zur Nutzung erneuerbarer Wärmeenergie. Im Übrigen sei der Denkmalschutz im Verhältnis zum Umweltschutz verfassungsrechtlich gleichrangig. Schließlich sei dem Kläger die Beseitigung zumutbar und ohne größeren Aufwand möglich. Unabhängig vom genauen Inhalt des Beratungsgesprächs, auf das sich der Kläger berufe, habe sie jedenfalls nicht verbindlich zugesagt, dass das Vorhaben denkmalschutzrechtlich genehmigungsfrei sei, eine (nur) mündliche Auskunft könne keinen Bestandsschutz bewirken. Dies sei ihm auch bekannt gewesen, da er per Email gerade um eine „verbindliche und eindeutige Antwort“ gebeten habe.11 Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 18.10.2018 Widerspruch ein und trug vor: Im Baugenehmigungsverfahren hätten denkmalschutzrechtliche Gesichtspunkte keine Rolle gespielt. Aus den Akten ergebe sich allerdings, dass es bei der Vorsprache am 08.03.2018 um die Frage der Denkmalschutzeigenschaft gegangen sei. Es handele sich beim Anwesen des Klägers lediglich um ein Nebengebäude der schützenswerten Gesamtanlage „X“. Näheres sei darüber nicht bekannt. Die Photovoltaikanlage sei nur von einem seitlichen Winkel von der Straße aus erkennbar. Auch seien die baulichen Gestaltungselemente, auf welche die Beklagte zur Begründung der Sachgesamtheit abhebe, zufällig; sie fänden keinen Niederschlag in der Baugenehmigung. Vor allem aber habe die Beklagte schon in der Vergangenheit Beeinträchtigungen hingenommen. So seien am „X“ selbst bauliche Veränderungen vorgenommen worden, etwa sei ein Dach im südlichen Grundstücksteil mit Eternit-Platten eingedeckt und ein Freisitz/Wintergarten mit einer Bedachung aus einer Stahlkonstruktion mit Glasflächen errichtet worden. Vor diesem Hintergrund erscheine das Bestehen auf den Denkmalschutz im Falle der klägerischen Photovoltaikanlage als reine „Förmelei“. Weiterhin befinde sich unmittelbar hinter dem geschützten Gebäude ein modernes Wohnhaus, das im optischen Kontrast zum rotgestrichenen „X“ durch seinen hellblauen Anstrich stehe. Im Verhältnis hierzu falle die Photovoltaikanlage weniger ins Gewicht. Schließlich sei bei der Güterabwägung das gewichtige öffentliche Anliegen des Umweltschutzes einzustellen. Insgesamt verstoße die Beklagte bei ihrer Ermessensausübung gegen den Gleichheitssatz.12 Mit Widerspruchsbescheid vom 29.04.2019 wies das Regierungspräsidium X den Widerspruch zurück. Auch heute liege – unabhängig von der Grundstückseinteilung – noch eine denkmalschutzrechtliche Sachgesamtheit vor, da tatsächlich übergreifende Komponenten (etwa Farbgebung und Dacheindeckung) bestünden. Im Ergebnis könne dies jedoch offenbleiben. Jedenfalls nämlich falle das Gebäude des Klägers unter § 15 Abs. 3 DSchG, da es für das Kulturdenkmal „X“ von erheblicher Bedeutung sei. Die Photovoltaikanlage beeinträchtige dessen Bild und sei von der „Schauseite“ aus deutlich sichtbar. Bereits vorhandene Belastungen, die im Übrigen optisch weniger ins Gewicht fielen und teilweise bereits vor der Unterschutzstellung erfolgten, rechtfertigten keine zusätzlichen Beeinträchtigungen. Soweit der Kläger etwaige Amtshaftungsansprüche wegen falscher Auskunft in den Raum stelle, betreffe dies nicht die Rechtmäßigkeit der Beseitigungsanordnung.13 Der Kläger hat am 29.05.2019 Klage erhoben. Ergänzend trägt er vor: Sein Anwesen könne nicht der Sachgesamtheit zugeordnet werden. Es habe nie zu dem ursprünglichen Funktionszusammenhang gehört. Die Gebäudereihung vermittele nicht den Eindruck einer geschlossenen Anlage. Sie spreche eher für das Gegenteil, da das geschützte Hauptgebäude mit seinem Stufengiebel rechtwinklig zur Firstrichtung der anderen beiden Gebäude angeordnet sei. Die Gebäude seien weiterhin hinsichtlich ihrer Bemaßung „völlig unterschiedlich“ und auch von ihrer Baustruktur her gäben sie kein einheitliches Bild ab. So habe das Stufengiebelgebäude kein Fachwerk, das mittlere Gebäude hingegen eine konstruktive Fachwerkfassade mit Schaufachwerk und sein Gebäude ein „Pseudofachwerk“. Die (einheitliche) Farbgebung, die im Übrigen nur für eine ausgesprochen kleine Fläche bestehe, sei nicht Gegenstand bauordnungsrechtlicher Verpflichtungen, sondern lediglich aus ästhetischen Gründen gewählt worden; sie könne jederzeit verändert werden. Gleiches gelte für die Biberschwanzeindeckung. Auch sei nicht nachvollziehbar, warum nach den bereits bestehenden Beeinträchtigungen des Kulturdenkmals nun ausgerechnet die Photovoltaikanlage Abwehrmaßnahmen erforderlich mache, insbesondere da solche Anlagen heutzutage überall zu sehen seien. So habe auch der Eigentümer des mittleren Gebäudes Dachflächenfenster bzw. möglicherweise eine Solaranlage einbauen lassen. Die Beseitigungsanordnung sei unter Berücksichtigung der Investitionskosten von etwa 15.000,- EUR unverhältnismäßig. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sei schließlich auch zu berücksichtigen, dass dem Kläger die Auskunft erteilt worden sei, das Vorhaben sei verfahrensfrei zulässig.14 Der Kläger beantragt,15 den Bescheid der Beklagten vom 02.10.2018 sowie den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums X vom 29.04.2019 aufzuheben.16 Die Beklagte beantragt,17 die Klage abzuweisen.18 Sie trägt vor: Der Gebäudekomplex „X“ stelle in seiner Sachgesamtheit nach wie vor ein Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung dar. Er sei entsprechend ins Denkmalbuch eingetragen; diese Eintragung gelte auch gegenüber dem Rechtsnachfolger. Weiterhin erfülle der Gebäudekomplex die materiellen Voraussetzungen für ein Kulturdenkmal. Nicht erforderlich sei, dass jedes Objekt für sich ein Kulturdenkmal darstelle. Selbst für den nicht sachkundigen Betrachter sei der historische Zusammenhang erkennbar. Der Gebäudekomplex sei in seinem authentischen Überlieferungszustand ein prägnanter „Blickfang“ mit wissenschaftlichem, künstlerischem und heimatgeschichtlichem Wert. Dies werde auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Gebäude unterschiedliche Firstrichtungen hätten und sich auch sonst unterschieden. Insofern sei auf die tatsächlichen Gegebenheiten abzustellen. Jedoch gehe bereits die Denkmalbeschreibung von einem Gebäudeensemble bestehend aus mehreren kleinen Nebengebäuden aus. Im Übrigen sei die Änderung der Farbgebung sowie der Dacheindeckung zwar bauordnungs- nicht aber denkmalschutzrechtlich verfahrensfrei. Die Photovoltaikanlage beeinträchtige das Erscheinungsbild der Sachgesamtheit „X“ auch erheblich. Denn das originalgetreue Erscheinungsbild werde hierdurch stark gestört und die Veränderung als belastend empfunden. Insoweit sei eine „kategorienadäquate“ Bewertung vorzunehmen: Bei einem Kulturdenkmal an dessen Erhaltung aus künstlerischen Gründen ein öffentliches Interesse bestehe, habe eine möglichst umfassende und ungestörte Erhaltung der Identität seiner Substanz und seines Erscheinungsbildes eine überragende Bedeutung. Im Übrigen gelte nichts anderes, wenn man das Gebäude selbst als nicht mehr zur Sachgesamtheit gehörig ansehe. Die bereits vorgenommenen Veränderungen führten nicht zu einem Verlust der Denkmaleigenschaft oder dazu, dass weitere bauliche Änderungen zu akzeptieren wären. Die im mittleren Gebäude angebrachten Dachfenster seien denkmalschutzrechtlich abgestimmt und auf die Mindestbelichtungsfläche dimensioniert worden. Für die Solaranlage liege eine Genehmigung jedenfalls nicht vor und sei – unabhängig vom konkreten Inhalt – auch nicht durch das Beratungsgespräch bzw. die sich daran anschließende Email erteilt worden. Im Übrigen sei das gesamte Grundstück im Bebauungsplan mit dem Vermerk „D“ (Denkmalschutz) versehen. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Umweltschutzes rechtfertige kein abweichendes Ergebnis, da dieser dem Denkmalschutz nicht allgemein vorgehe. Einen entsprechenden Vorrang habe der Gesetzgeber bislang nicht geregelt. Auch führe die geringe Menge denkmalgeschützter Gebäude (etwa 3 % des Gesamtbaubestands) nicht dazu, dass das Ziel allgemein nicht erreicht werden könnte. Es sei nicht erforderlich, Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien gerade auf denkmalgeschützten Grundstücken zu verwirklichen.19 Wegen weiterer Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten und des Regierungspräsidiums X (je ein Band) verwiesen. In der mündlichen Verhandlung hat die Kammer zudem zwei Vertreterinnen des Landesamts für Denkmalpflege, Regierungspräsidium Stuttgart, informatorisch angehört.
Entscheidungsgründe
I.
20 Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) und auch sonst zulässig.
II.
21 Die Klage ist allerdings unbegründet, denn der Bescheid der Beklagten vom 02.10.2018 sowie der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums X vom 29.04.2019 sind rechtmäßig und der Kläger ist dadurch nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22 1. Ermächtigungsgrundlage für die denkmalschutzrechtliche Beseitigungsanordnung ist § 7 Abs. 1 DSchG. Nach dieser Vorschrift haben die Denkmalschutzbehörden zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihnen nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen, wobei die §§ 6, 7 und 9 PolG sinngemäß Anwendung finden. Nach § 1 Abs. 1 DSchG ist es Aufgabe von Denkmalschutz und Denkmalpflege, die Kulturdenkmale zu schützen und zu pflegen, insbesondere den Zustand der Kulturdenkmale zu überwachen sowie auf die Abwendung von Gefährdungen und die Bergung von Kulturdenkmalen hinzuwirken. Die denkmalschutzrechtliche Generalklausel des § 7 Abs. 1 DSchG umfasst auch die Befugnis, die Beseitigung einer nicht genehmigten und nicht genehmigungsfähigen Beeinträchtigung eines Kulturdenkmals zu dem Zweck anzuordnen, das ursprüngliche Erscheinungsbild wiederherzustellen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.06.1991 - 1 S 2022/90 -, juris Rn. 27, m.w.N.; VG Sigmaringen, Urt. v. 02.04.2008 - 5 K 1038/07 -, juris Rn. 26).
23 2. Die Beseitigungsanordnung ist formell rechtmäßig, insbesondere ist die Beklagte als untere Denkmalschutzbehörde für den Erlass einer solchen zuständig (§ 3 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 DSchG, § 46 Abs. 2 Nr. 1 LBO). Auch hatte diese den Kläger am 05.06.2018 den Vorgaben des § 28 LVwVfG entsprechend angehört.
24 3. Die Beseitigungsanordnung ist auch materiell rechtmäßig. Denn das Vorhaben des Klägers ist genehmigungsbedürftig und in seiner jetzigen Form nicht genehmigungsfähig. Daher ist es nicht nur formell, sondern auch materiell illegal, und mit der Beseitigungsanordnung wird das ursprüngliche, insoweit ungestörte Erscheinungsbild des „X“ wiederhergestellt. Auch sonst hat die Beklagte ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
25 a) Die Photovoltaikanlage bedarf einer denkmalschutzrechtlichen Genehmigung.
26 aa) Insoweit lässt die Kammer offen, ob das Gebäude des Klägers von der Eintragung ins Denkmalbuch erfasst ist (vgl. § 12 Abs. 1 DSchG) oder jedenfalls sonst zur Sachgesamtheit des eingetragenen „X“ gehört (§ 2 DSchG) mit der Folge, dass sich eine Genehmigungspflicht für die Anlage aus § 15 Abs. 1 DSchG bzw. § 8 DSchG ergäbe. Zwar erscheint es nach den Erläuterungen des Landesamts für Denkmalpflege und den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bildern aus dem Stadtarchiv nicht als ausgeschlossen, das Gebäude des Klägers noch der Sachgesamtheit „X“ zuzurechnen und auch anzunehmen, dass der Eintrag in das Denkmalbuch diese Sachgesamtheit (ohne vollständige Aufzählung aller zugehörigen Gebäude) meint. Dabei könnte die für eine schützenswerte Sachgesamtheit erforderliche übergreifende Komponente vorliegen, auf die sich gerade das öffentliche Erhaltungsinteresse beziehen muss (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.03.1998 - 1 S 2072/96 -, juris Rn. 27; vgl. Strobl u.a., DSchG Bad.-Württ., 4. Aufl. 2019, § 2 Rn. 12 ff.). Dagegen sprechen könnte allerdings, dass die Bausubstanz des Gebäudes wohl sehr viel jüngeren Datums ist. Dass, wie die Vertreterin des Landesdenkmalsamts in der mündlichen Verhandlung betont hat, gerade die „ganz andere Materialität“ des Gebäudes des Klägers die Sachgesamtheit begründe, erscheint deshalb zumindest als fragwürdig.
27 bb) Die Genehmigungsbedürftigkeit folgt jedenfalls aus § 15 Abs. 3 Satz 1 DSchG. Nach dieser Vorschrift dürfen bauliche Anlagen in der Umgebung eines eingetragenen Kulturdenkmals, soweit sie für dessen Erscheinungsbild von erheblicher Bedeutung ist, nur mit Genehmigung der Denkmalschutzbehörde errichtet, verändert oder beseitigt werden. Damit stellt § 15 Abs. 3 DSchG ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt auf. Damit schützt diese Vorschrift die Wirkung eines Kulturdenkmals in seiner Umgebung und die optischen Bezüge zwischen Kulturdenkmal und Umgebung, nicht dagegen die Umgebung selbst. Als Umgebung eines Kulturdenkmals ist der Bereich zu sehen, auf den es ausstrahlt und der es in denkmalrechtlicher Hinsicht seinerseits prägt und beeinflusst (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 42, m.w.N.).
28 Der „X“ (jedenfalls) im Umfang des zweistöckigen Steinhauses mit Stufengiebeldach sowie der Zehntscheuer sowie „mehrere kleiner Nebengebäude“ bildet als Sachgesamtheit ein eingetragenes Kulturdenkmal im Sinne des § 12 DSchG. Auch wird das Gebäude des Klägers, eine (zumindest) unmittelbar an das Kulturdenkmal angrenzende bauliche Anlage nach § 2 Abs. 1 LBO, durch die angebrachten sieben Photovoltaikmodule verändert. Schließlich ergibt sich aus dem konkreten Denkmalwert des „X“, dass für sein Erscheinungsbild und seine Ausstrahlungskraft die unmittelbare Umgebung von besonderer Bedeutung ist (vgl. zu diesem Maßstab VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.06.1989 - 1 S 98/88 -, NVwZ-RR 1990, 296). Denn schützenswert sind hier nicht nur künstlerische Gestaltungen am Steinhaus oder im Inneren dessen, sondern besonders die zur X-Straße weisende gewachsene Schauseite der beiden Hauptgebäude des „X“ mit ihrer für die Zeit der Erbauung herausragenden Stattlichkeit sowie der wechselhaften Ansicht der geschlossenen Wandflächen.
29 b) Die Photovoltaikanlage ist nicht genehmigungsfähig. Auch dies kann allein nach § 15 Abs. 3 DSchG beurteilt werden; denn § 15 Abs. 1 DSchG stellt keine niedrigeren Anforderungen.
30 aa) Nach § 15 Abs. 3 Satz 3 DSchG ist eine Genehmigung (nur) zu erteilen, wenn das Vorhaben das Erscheinungsbild des Denkmals nur unerheblich oder nur vorübergehend beeinträchtigen würde oder wenn überwiegende Gründe des Gemeinwohls unausweichlich Berücksichtigung verlangen.
31 Für die Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit ist die Schwere der Beeinträchtigung des Erscheinungsbildes der als eingetragen geltenden Kulturdenkmale, hier der Sachgesamtheit „X“, von Bedeutung. Eine erhebliche Beeinträchtigung liegt nach der auch bei der Anwendung von § 15 Abs. 3 DSchG heranzuziehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zu § 8 Abs. 1 Nr. 2 DSchG vor, wenn der Gesamteindruck von dem Kulturdenkmal empfindlich gestört wird. Sie muss – unterhalb der Schranke einer baurechtlichen Verunstaltung – deutlich wahrnehmbar sein und vom Betrachter als belastend empfunden werden. Diese wertende Einschätzung wird zum einen maßgeblich bestimmt vom Denkmalwert. Danach kann in Relation zur Wertigkeit des Kulturdenkmals die Hinnahme einer Beeinträchtigung seines Erscheinungsbildes in gewissem Umfang geboten sein. Zum anderen hat die Entscheidung immer „kategorienadäquat“ zu erfolgen, d. h. sie muss sich – nicht zuletzt zur Wahrung der durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentümerbefugnisse – an der für das Schutzobjekt maßgeblichen denkmalrechtlichen Bedeutungskategorie orientieren (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 30.10.1981 - 8 S 391/81 -; Urt. v. 27.06.2005 - 1 S 1674/04 -, juris; Urt. v. 10.06.2010 - 1 S 585/10 -, juris; Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 32 und 46, m.w.N.; Beschl. v. 30.03.2020 - 1 S 29/19 -, juris Rn. 24).
32 Hiernach ist bei einem Kulturdenkmal, an dessen Erhaltung aus künstlerischen Gründen ein öffentliches Interesse besteht, eine möglichst umfassende und ungestörte Erhaltung der Identität seiner Substanz und seines Erscheinungsbildes von überragender Bedeutung; die Schwelle zur belastenden Wirkung, die zur Erheblichkeit der Beeinträchtigung führt, ist hier tendenziell bald erreicht. Bei den Schutzgründen der wissenschaftlichen und insbesondere der heimatgeschichtlichen Bedeutung kann die Sache deswegen anders liegen, weil das Kulturdenkmal gerade in seinem dokumentarischen Charakter über sich hinausweist. In dieser Funktion – seinem „Zeugniswert“ – kann es Veränderungen oftmals von vergleichsweise größerem Gewicht unbeschadet überstehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 33).
33 In subjektiver Hinsicht ist für die Beurteilung der Frage, ob das Erscheinungsbild eines Kulturdenkmals erheblich beeinträchtigt wird, das Empfinden eines für Belange des Denkmalschutzes aufgeschlossenen Durchschnittsbetrachters entscheidend. Hingegen ist die Auffassung des Landesamts für Denkmalpflege nicht ausschlaggebend. Bei Anwendung dieses Maßstabs ist zu beachten, dass dieser kein statischer, sondern ein dynamischer ist, weil das Empfinden des Durchschnittsbetrachters sich im Laufe der Zeit wandelt. Demzufolge hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg schon im Jahr 2011 erkannt (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 34), dass dieses Empfinden ganz wesentlich durch die tatsächliche Entwicklung der letzten Jahre beeinflusst sei, die dadurch gekennzeichnet sei, dass Photovoltaikanlagen auf Dächern in so großer Zahl errichtet worden seien, dass derartige Anlagen in ländlich strukturierten Gegenden heute zum normalen Erscheinungsbild gehörten. Diese Entwicklung habe dazu geführt, dass der Durchschnittsbetrachter solche Anlagen nicht mehr als exotische Fremdkörper wahrnehme, die schon per se und erst recht auf einem Kulturdenkmal als störend empfunden würden, wie dies in der Anfangszeit der Nutzung dieser Technik noch der Fall gewesen sein möge. Vielmehr sei ein Gewöhnungseffekt eingetreten, der durch die gewandelten Anschauungen über die Notwendigkeit der vermehrten Nutzung regenerativer Energien und die damit einhergehende positive Grundeinstellung des Durchschnittsbetrachters zu dieser Form der Energiegewinnung noch verstärkt werde. Diese Beurteilung gilt heute umso mehr.
34 Dennoch liegt unter Zugrundlegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung des umfangreichen Bildmaterials im Ergebnis eine nicht nur unerhebliche Beeinträchtigung des Kulturdenkmals „X“ vor.
35 Der Denkmalwert des „x“ liegt, wie auch die Vertreterinnen des Landesamts für Denkmalpflege in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar bekräftigten, sowohl im wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen (ortsbaugeschichtlichen) als vor allem auch im gestalterischen, künstlerischen Bereich. Neben künstlerischen Aspekten, die sich innerhalb des steinernen Hauptgebäudes des „X“ befinden (etwa Steinerne Wendeltreppe, Eichener Dachstuhl, Holztür Eselrücken-Sturz [Kielbogen]), weist auch die Außenansicht des „X“ eindeutige künstlerische Gestaltungselemente auf, die seine Ausstrahlungskraft ausmachen. Besonders auffällig sind hierbei die Staffelgiebel des Steinhauses an der Ost- und Westseite, die wohl aus dem 15./16. Jahrhundert stammen, sowie dessen auffällige Ecklisene. Auch die Zehntscheuer weist insbesondere mit seinen kunstvollen barocken Fachwerkelementen des 19. Jahrhunderts, die in der Region selten sind, an der Außenfassade deutliche künstlerische Elemente auf. Diese Elemente sind in ihrer Wechselhaftigkeit nicht etwa zufällig und daher von geringerem Denkmalwert, sondern gerade Ausdruck eines besonderen Repräsentanzanspruchs.
36 Ausgehend von diesen künstlerischen Gründen, aufgrund derer ein öffentliches Interesse an der weitestgehend ungestörten Erhaltung des „X“ besteht, wirkt die Photovoltaikanlage für das Empfinden eines für Belange des Denkmalschutzes aufgeschlossenen Betrachter als belastend. Zwar sind die Module auf dem Dach des Gebäudes nur von einer Seite wahrnehmbar, der zudem die westliche Dachfläche der Zehntscheuer gegenüberliegt, sodass der Sichtbarkeitswinkel klein ist. Allerdings sind die Module – in ihrer jetzigen Gestaltung – von der Schauseite auffallend sichtbar und werden in der maßgeblichen Sichtachse von der X-Straße, eine Hauptverkehrsstraße, sowie von der dort befindlichen Verkehrsinsel mit Sitzbank deutlich wahrgenommen. Sie verdecken von dieser Seite betrachtet einen Großteil der Dachfläche. Der Einfluss der Photovoltaikanlage auf das Erscheinungsbild der dem „X“ zweifelsfrei zuzurechnenden Gebäude wird dadurch verstärkt, dass das Anwesen des Klägers – das durch seine Gestaltung zumindest den Eindruck der Zusammengehörigkeit zur Sachgesamtheit erweckt – aus dieser Perspektive das einzige Anwesen ist, das sich in derselben Straßeneinrahmung befindet. Auch erzeugen die Photovoltaikmodule mit ihrem anthrazit-schwarzen Farbton und der glatten, (bei Sonneneinstrahlung besonders) spiegelnden Oberfläche einen starken farblichen und strukturellen Kontrast zu den roten Biberschwanzdachziegeln des übrigen „X“. Dies gilt gerade in Verhältnis zu dem rechtwinklig angeordneten steinernen Haupthaus, dessen Dachfläche von der Schauseite vollständig sichtbar ist. Weiterhin verursacht die Anordnung der Kollektoren in einer zur Straßenseite hin abfallenden L-Form und deren Aufständerung mit dem dadurch entstehenden Schattenwurf zusätzliche Unruhe in der Dachlandschaft, die die Module besonders in den Fokus rücken lässt. Schließlich zeigen die Photovoltaikmodule in Richtung des Kulturdenkmals und „bespiegeln“ es, was den Eindruck der Sachgesamtheit – nicht zuletzt bei einem Blick aus dem Denkmal – beeinträchtigt.
37 Das Erscheinungsbild der Sachgesamtheit „X“ ist nicht durch die vom Kläger vorgetragenen Vorbelastungen durch die baulichen Maßnahmen (insbesondere) an den Nebengebäuden, aber auch etwa durch die an der Zehntscheuer eingebauten Schleppgauben und Dachfenster, soweit beeinträchtigt, dass die Photovoltaikanlage des Klägers nicht weiter auffiele (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.05.1983 - 5 S 229/83 -, NVwZ 1984, 191; krit. Bayer. VGH, Urt. v. 09.06.2004 - 26 B 01.1959 -, juris Rn. 16; VG Freiburg, Urt. v. 09.07.2009 - 4 K 1143/08 -, juris; Daydov, in: Hager u.a., Denkmalrecht Bad.-Württ., 2. Aufl. 2016, § 15 DSchG, Rn. 30). Denn der „X“ ist vor allem in seinen Hauptgebäuden in der Außenansicht nach wie vor weitestgehend intakt. Weiterhin fügen sich gerade die vorgenommenen Änderungen der ehemaligen Zehntscheuer im Vergleich besser ein; gerade die eingebauten Lamellendachfenster fallen durch ihre zurückhaltende Gestaltung kaum ins Gewicht. Auch das Gebäude des Klägers stellt keinen so offensichtlichen „Modernisierungsbruch“ dar, als dass die Module nicht weiter ins Gewicht fielen, vielmehr schmälern sie die Ansicht zusätzlich. Vor allem aber sind die baulichen Maßnahmen an den hinten liegenden Nebengebäuden bei der Betrachtung von den frei zugänglichen Verkehrsflächen gar nicht bzw. kaum sichtbar. Das mehrstöckige blau angestrichene Wohnhaus im hinteren Teil der Straße X befindet sich nicht mehr in der unmittelbaren Umgebung der Sachgesamtheit und hat nur einen geringen Einfluss auf deren Erscheinungsbild.
38 Diesem Ergebnis stehen überwiegende Gründe des Gemeinwohls nicht unausweichlich entgegen. Solche ergeben sich auch nicht unter Berücksichtigung der bereits erwähnten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, dass Photovoltaikanlagen inzwischen in ländlichen Regionen in so großer Zahl errichtet werden, dass derartige Anlagen heute zum normalen Erscheinungsbild gehören, was dazu führt, dass sie nicht mehr per se als exotischer Fremdkörper wahrgenommen werden (schon VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 34). In einer Stadt wie die der Beklagten gilt dies erst recht. Dieser Umstand und die einschlägigen Staatszielbestimmungen (Art. 20a GG und Art. 3a LV) führen aber nicht zu einem steten Vorrang vor den Belangen des Denkmalschutzes. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass diese Ziele auf vielfältigen Wegen und vielerorts erreicht werden können (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 40; Bayer. VGH, Urteil v. 18.07.2013 - 22 B 12.1741 -, juris Rn. 33).
39 bb) Weiter hat die Beklagte im Rahmen der angefochtenen Beseitigungsverfügung ihr Genehmigungsermessen fehlerfrei betätigt und dabei die Belange des Umwelt- und Klimaschutzes hinreichend berücksichtigt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 52; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.06.1989 - 1 S 98/88 -, NVwZ-RR 1990, 296).
40 c) Auch sonst hat die Beklagte ihr sich aus § 7 Abs. 1 DSchG ergebendes Ermessen, einzuschreiten, fehlerfrei ausgeübt (vgl. § 114 VwGO; Daydov, in: Hager u.a., Denkmalrecht Bad.-Württ., 2. Aufl. 2016, § 15 DSchG, Rn. 25). Insbesondere entsprechen ihre Erwägungen dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage (§ 40 LVwVfG, § 1 DSchG).
41 Zunächst liegen keine besonderen Umstände vor, die hinsichtlich der Beseitigung der Photovoltaikanlage ausnahmsweise zu einer Ermessensbeschränkung oder -bindung geführt haben. Denn selbst wenn der Kläger im Rahmen seines Kontakts zum Baurechtsamt der Beklagten, zu dem auch die untere Denkmalschutzbehörde gehört, nach seinen glaubhaft erscheinenden Angaben nicht auf eine bestehende denkmalschutzrechtliche Genehmigungspflichtigkeit seines Vorhabens hingewiesen worden sein sollte, führt eine solche formlose Auskunft, die lediglich eine Wissenserklärung beinhaltet, noch nicht zu einer Selbstbindung der Beklagten hinsichtlich der späteren Beseitigung, sondern allenfalls zu einem Schadensersatzanspruch wegen einer Amtspflichtverletzung (vgl. Bayer. VGH, Beschl. v. 18.07.2006 - 14 ZB 03.710 -, juris Rn. 21; OVG Sachs.-Anh., Beschl. v. 26.05.2009 - 2 L 164/08 -, juris; Tiedemann, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, § 38 Rn. 3). Das gilt umso mehr als nicht einmal der Kläger vom – für den Fall der Annahme einer Selbstbindung erforderlichen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.11.2006 - 9 B 17.06 -, juris Rn. 4; Bayer. VGH, Urt. v. 06.07.2006 - 4 B 05.504 -, juris Rn. 34) – Bindungswillen der Erklärung der Beklagten ausgegangen ist und demnach auf die erhaltene Auskunft nicht vertraut hat. Denn er hat bei ihr im Nachgang des Beratungsgesprächs per Email eine „verbindliche und eindeutige Antwort“ angefordert, die er nicht erhalten hat. Hierauf hat auch die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen zurecht abgehoben. Demnach hätte es dem Kläger in Kenntnis der Denkmaleigenschaft der angrenzenden Sachgesamtheit oblegen, sich abzusichern und auf eine entsprechende (verbindliche) Auskunft für sein Vorhaben bei der zuständigen unteren Denkmalschutzbehörde der Beklagten zu bestehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.06.1191 - 1 S 2022/90 -, juris Rn. 31; Beschl. v. 13.09.2011 - 1 S 1451/11 -, unveröffentlicht; Daydov, in: Hager u.a., Denkmalrecht Bad.-Württ., 2. Aufl. 2016, § 7 DSchG, Rn. 18).
42 Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG liegt ebenfalls nicht vor. Die Behörden haben sich in den angefochtenen Bescheiden mit den in der Umgebung des „X“ vorhandenen Beeinträchtigungen (vor allem Modernisierungsmaßnahmen) auseinandergesetzt, gegen die die Beklagte nicht eingeschritten ist oder auch nicht einschreiten will. Diese sind aber in ihrer Art und ihren Auswirkungen bereits nicht vergleichbar. Dass es bei ihrem denkmalschutzrechtlichen Einschreiten gegen Solaranlagen an jedem System fehlte, für die Art des Vorgehens gegen den Kläger keinerlei einleuchtenden Gründe sprächen und die Handhabung deshalb als willkürlich angesehen werden müsste (BVerwG, Beschl. v. 22.04.1995 - 4 B 55.95 -, juris Rn. 5; vgl. auch VG Freiburg, Beschl. v. 08.11.2011 - 4 K 2157/11 -, juris Rn. 14), lässt sich nicht feststellen. So hat sie in der mündlichen Verhandlung vergleichbare Fälle von Photovoltaikanlagen aufgezeigt, in denen sie jeweils auf eine denkmalschonende Gestaltung hingewirkt habe bzw. deren Gestaltung sie nicht hinnehmen wolle. Daraus lässt sich ein einheitliches Konzept des Einschreitens erkennen, das vor allem auf die Sichtbarkeit der Anlagen von der Schauseite des jeweiligen Denkmals ausgerichtet ist.
43 Die Beseitigungsverfügung ist auch nicht unverhältnismäßig. Sie erfasst nur die konkrete Ausgestaltung der Anlage. Der Schutz des Kulturdenkmals überwiegt das wirtschaftliche Interesse am Erhalt der Anlage, in die der Kläger nach seinen Angaben 15.000,- EUR investiert hat, wobei er aus ihr ohnehin bereits seit mehr als zwei Jahren Nutzungen gezogen hat.
III.
44 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.IV.
45 Gründe des § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO, aus denen die Berufung vom Verwaltungsgericht zuzulassen wäre, sind nicht gegeben.
46 Beschluss vom 08.10.2020
47 Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt (vgl. Nr. 12.1 des Streitwertkatalogs 2013).
Gründe
I.
20 Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) und auch sonst zulässig.
II.
21 Die Klage ist allerdings unbegründet, denn der Bescheid der Beklagten vom 02.10.2018 sowie der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums X vom 29.04.2019 sind rechtmäßig und der Kläger ist dadurch nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22 1. Ermächtigungsgrundlage für die denkmalschutzrechtliche Beseitigungsanordnung ist § 7 Abs. 1 DSchG. Nach dieser Vorschrift haben die Denkmalschutzbehörden zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihnen nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen, wobei die §§ 6, 7 und 9 PolG sinngemäß Anwendung finden. Nach § 1 Abs. 1 DSchG ist es Aufgabe von Denkmalschutz und Denkmalpflege, die Kulturdenkmale zu schützen und zu pflegen, insbesondere den Zustand der Kulturdenkmale zu überwachen sowie auf die Abwendung von Gefährdungen und die Bergung von Kulturdenkmalen hinzuwirken. Die denkmalschutzrechtliche Generalklausel des § 7 Abs. 1 DSchG umfasst auch die Befugnis, die Beseitigung einer nicht genehmigten und nicht genehmigungsfähigen Beeinträchtigung eines Kulturdenkmals zu dem Zweck anzuordnen, das ursprüngliche Erscheinungsbild wiederherzustellen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.06.1991 - 1 S 2022/90 -, juris Rn. 27, m.w.N.; VG Sigmaringen, Urt. v. 02.04.2008 - 5 K 1038/07 -, juris Rn. 26).
23 2. Die Beseitigungsanordnung ist formell rechtmäßig, insbesondere ist die Beklagte als untere Denkmalschutzbehörde für den Erlass einer solchen zuständig (§ 3 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 DSchG, § 46 Abs. 2 Nr. 1 LBO). Auch hatte diese den Kläger am 05.06.2018 den Vorgaben des § 28 LVwVfG entsprechend angehört.
24 3. Die Beseitigungsanordnung ist auch materiell rechtmäßig. Denn das Vorhaben des Klägers ist genehmigungsbedürftig und in seiner jetzigen Form nicht genehmigungsfähig. Daher ist es nicht nur formell, sondern auch materiell illegal, und mit der Beseitigungsanordnung wird das ursprüngliche, insoweit ungestörte Erscheinungsbild des „X“ wiederhergestellt. Auch sonst hat die Beklagte ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
25 a) Die Photovoltaikanlage bedarf einer denkmalschutzrechtlichen Genehmigung.
26 aa) Insoweit lässt die Kammer offen, ob das Gebäude des Klägers von der Eintragung ins Denkmalbuch erfasst ist (vgl. § 12 Abs. 1 DSchG) oder jedenfalls sonst zur Sachgesamtheit des eingetragenen „X“ gehört (§ 2 DSchG) mit der Folge, dass sich eine Genehmigungspflicht für die Anlage aus § 15 Abs. 1 DSchG bzw. § 8 DSchG ergäbe. Zwar erscheint es nach den Erläuterungen des Landesamts für Denkmalpflege und den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bildern aus dem Stadtarchiv nicht als ausgeschlossen, das Gebäude des Klägers noch der Sachgesamtheit „X“ zuzurechnen und auch anzunehmen, dass der Eintrag in das Denkmalbuch diese Sachgesamtheit (ohne vollständige Aufzählung aller zugehörigen Gebäude) meint. Dabei könnte die für eine schützenswerte Sachgesamtheit erforderliche übergreifende Komponente vorliegen, auf die sich gerade das öffentliche Erhaltungsinteresse beziehen muss (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.03.1998 - 1 S 2072/96 -, juris Rn. 27; vgl. Strobl u.a., DSchG Bad.-Württ., 4. Aufl. 2019, § 2 Rn. 12 ff.). Dagegen sprechen könnte allerdings, dass die Bausubstanz des Gebäudes wohl sehr viel jüngeren Datums ist. Dass, wie die Vertreterin des Landesdenkmalsamts in der mündlichen Verhandlung betont hat, gerade die „ganz andere Materialität“ des Gebäudes des Klägers die Sachgesamtheit begründe, erscheint deshalb zumindest als fragwürdig.
27 bb) Die Genehmigungsbedürftigkeit folgt jedenfalls aus § 15 Abs. 3 Satz 1 DSchG. Nach dieser Vorschrift dürfen bauliche Anlagen in der Umgebung eines eingetragenen Kulturdenkmals, soweit sie für dessen Erscheinungsbild von erheblicher Bedeutung ist, nur mit Genehmigung der Denkmalschutzbehörde errichtet, verändert oder beseitigt werden. Damit stellt § 15 Abs. 3 DSchG ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt auf. Damit schützt diese Vorschrift die Wirkung eines Kulturdenkmals in seiner Umgebung und die optischen Bezüge zwischen Kulturdenkmal und Umgebung, nicht dagegen die Umgebung selbst. Als Umgebung eines Kulturdenkmals ist der Bereich zu sehen, auf den es ausstrahlt und der es in denkmalrechtlicher Hinsicht seinerseits prägt und beeinflusst (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 42, m.w.N.).
28 Der „X“ (jedenfalls) im Umfang des zweistöckigen Steinhauses mit Stufengiebeldach sowie der Zehntscheuer sowie „mehrere kleiner Nebengebäude“ bildet als Sachgesamtheit ein eingetragenes Kulturdenkmal im Sinne des § 12 DSchG. Auch wird das Gebäude des Klägers, eine (zumindest) unmittelbar an das Kulturdenkmal angrenzende bauliche Anlage nach § 2 Abs. 1 LBO, durch die angebrachten sieben Photovoltaikmodule verändert. Schließlich ergibt sich aus dem konkreten Denkmalwert des „X“, dass für sein Erscheinungsbild und seine Ausstrahlungskraft die unmittelbare Umgebung von besonderer Bedeutung ist (vgl. zu diesem Maßstab VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.06.1989 - 1 S 98/88 -, NVwZ-RR 1990, 296). Denn schützenswert sind hier nicht nur künstlerische Gestaltungen am Steinhaus oder im Inneren dessen, sondern besonders die zur X-Straße weisende gewachsene Schauseite der beiden Hauptgebäude des „X“ mit ihrer für die Zeit der Erbauung herausragenden Stattlichkeit sowie der wechselhaften Ansicht der geschlossenen Wandflächen.
29 b) Die Photovoltaikanlage ist nicht genehmigungsfähig. Auch dies kann allein nach § 15 Abs. 3 DSchG beurteilt werden; denn § 15 Abs. 1 DSchG stellt keine niedrigeren Anforderungen.
30 aa) Nach § 15 Abs. 3 Satz 3 DSchG ist eine Genehmigung (nur) zu erteilen, wenn das Vorhaben das Erscheinungsbild des Denkmals nur unerheblich oder nur vorübergehend beeinträchtigen würde oder wenn überwiegende Gründe des Gemeinwohls unausweichlich Berücksichtigung verlangen.
31 Für die Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit ist die Schwere der Beeinträchtigung des Erscheinungsbildes der als eingetragen geltenden Kulturdenkmale, hier der Sachgesamtheit „X“, von Bedeutung. Eine erhebliche Beeinträchtigung liegt nach der auch bei der Anwendung von § 15 Abs. 3 DSchG heranzuziehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zu § 8 Abs. 1 Nr. 2 DSchG vor, wenn der Gesamteindruck von dem Kulturdenkmal empfindlich gestört wird. Sie muss – unterhalb der Schranke einer baurechtlichen Verunstaltung – deutlich wahrnehmbar sein und vom Betrachter als belastend empfunden werden. Diese wertende Einschätzung wird zum einen maßgeblich bestimmt vom Denkmalwert. Danach kann in Relation zur Wertigkeit des Kulturdenkmals die Hinnahme einer Beeinträchtigung seines Erscheinungsbildes in gewissem Umfang geboten sein. Zum anderen hat die Entscheidung immer „kategorienadäquat“ zu erfolgen, d. h. sie muss sich – nicht zuletzt zur Wahrung der durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentümerbefugnisse – an der für das Schutzobjekt maßgeblichen denkmalrechtlichen Bedeutungskategorie orientieren (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 30.10.1981 - 8 S 391/81 -; Urt. v. 27.06.2005 - 1 S 1674/04 -, juris; Urt. v. 10.06.2010 - 1 S 585/10 -, juris; Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 32 und 46, m.w.N.; Beschl. v. 30.03.2020 - 1 S 29/19 -, juris Rn. 24).
32 Hiernach ist bei einem Kulturdenkmal, an dessen Erhaltung aus künstlerischen Gründen ein öffentliches Interesse besteht, eine möglichst umfassende und ungestörte Erhaltung der Identität seiner Substanz und seines Erscheinungsbildes von überragender Bedeutung; die Schwelle zur belastenden Wirkung, die zur Erheblichkeit der Beeinträchtigung führt, ist hier tendenziell bald erreicht. Bei den Schutzgründen der wissenschaftlichen und insbesondere der heimatgeschichtlichen Bedeutung kann die Sache deswegen anders liegen, weil das Kulturdenkmal gerade in seinem dokumentarischen Charakter über sich hinausweist. In dieser Funktion – seinem „Zeugniswert“ – kann es Veränderungen oftmals von vergleichsweise größerem Gewicht unbeschadet überstehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 33).
33 In subjektiver Hinsicht ist für die Beurteilung der Frage, ob das Erscheinungsbild eines Kulturdenkmals erheblich beeinträchtigt wird, das Empfinden eines für Belange des Denkmalschutzes aufgeschlossenen Durchschnittsbetrachters entscheidend. Hingegen ist die Auffassung des Landesamts für Denkmalpflege nicht ausschlaggebend. Bei Anwendung dieses Maßstabs ist zu beachten, dass dieser kein statischer, sondern ein dynamischer ist, weil das Empfinden des Durchschnittsbetrachters sich im Laufe der Zeit wandelt. Demzufolge hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg schon im Jahr 2011 erkannt (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 34), dass dieses Empfinden ganz wesentlich durch die tatsächliche Entwicklung der letzten Jahre beeinflusst sei, die dadurch gekennzeichnet sei, dass Photovoltaikanlagen auf Dächern in so großer Zahl errichtet worden seien, dass derartige Anlagen in ländlich strukturierten Gegenden heute zum normalen Erscheinungsbild gehörten. Diese Entwicklung habe dazu geführt, dass der Durchschnittsbetrachter solche Anlagen nicht mehr als exotische Fremdkörper wahrnehme, die schon per se und erst recht auf einem Kulturdenkmal als störend empfunden würden, wie dies in der Anfangszeit der Nutzung dieser Technik noch der Fall gewesen sein möge. Vielmehr sei ein Gewöhnungseffekt eingetreten, der durch die gewandelten Anschauungen über die Notwendigkeit der vermehrten Nutzung regenerativer Energien und die damit einhergehende positive Grundeinstellung des Durchschnittsbetrachters zu dieser Form der Energiegewinnung noch verstärkt werde. Diese Beurteilung gilt heute umso mehr.
34 Dennoch liegt unter Zugrundlegung dieser Maßstäbe und unter Auswertung des umfangreichen Bildmaterials im Ergebnis eine nicht nur unerhebliche Beeinträchtigung des Kulturdenkmals „X“ vor.
35 Der Denkmalwert des „x“ liegt, wie auch die Vertreterinnen des Landesamts für Denkmalpflege in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar bekräftigten, sowohl im wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen (ortsbaugeschichtlichen) als vor allem auch im gestalterischen, künstlerischen Bereich. Neben künstlerischen Aspekten, die sich innerhalb des steinernen Hauptgebäudes des „X“ befinden (etwa Steinerne Wendeltreppe, Eichener Dachstuhl, Holztür Eselrücken-Sturz [Kielbogen]), weist auch die Außenansicht des „X“ eindeutige künstlerische Gestaltungselemente auf, die seine Ausstrahlungskraft ausmachen. Besonders auffällig sind hierbei die Staffelgiebel des Steinhauses an der Ost- und Westseite, die wohl aus dem 15./16. Jahrhundert stammen, sowie dessen auffällige Ecklisene. Auch die Zehntscheuer weist insbesondere mit seinen kunstvollen barocken Fachwerkelementen des 19. Jahrhunderts, die in der Region selten sind, an der Außenfassade deutliche künstlerische Elemente auf. Diese Elemente sind in ihrer Wechselhaftigkeit nicht etwa zufällig und daher von geringerem Denkmalwert, sondern gerade Ausdruck eines besonderen Repräsentanzanspruchs.
36 Ausgehend von diesen künstlerischen Gründen, aufgrund derer ein öffentliches Interesse an der weitestgehend ungestörten Erhaltung des „X“ besteht, wirkt die Photovoltaikanlage für das Empfinden eines für Belange des Denkmalschutzes aufgeschlossenen Betrachter als belastend. Zwar sind die Module auf dem Dach des Gebäudes nur von einer Seite wahrnehmbar, der zudem die westliche Dachfläche der Zehntscheuer gegenüberliegt, sodass der Sichtbarkeitswinkel klein ist. Allerdings sind die Module – in ihrer jetzigen Gestaltung – von der Schauseite auffallend sichtbar und werden in der maßgeblichen Sichtachse von der X-Straße, eine Hauptverkehrsstraße, sowie von der dort befindlichen Verkehrsinsel mit Sitzbank deutlich wahrgenommen. Sie verdecken von dieser Seite betrachtet einen Großteil der Dachfläche. Der Einfluss der Photovoltaikanlage auf das Erscheinungsbild der dem „X“ zweifelsfrei zuzurechnenden Gebäude wird dadurch verstärkt, dass das Anwesen des Klägers – das durch seine Gestaltung zumindest den Eindruck der Zusammengehörigkeit zur Sachgesamtheit erweckt – aus dieser Perspektive das einzige Anwesen ist, das sich in derselben Straßeneinrahmung befindet. Auch erzeugen die Photovoltaikmodule mit ihrem anthrazit-schwarzen Farbton und der glatten, (bei Sonneneinstrahlung besonders) spiegelnden Oberfläche einen starken farblichen und strukturellen Kontrast zu den roten Biberschwanzdachziegeln des übrigen „X“. Dies gilt gerade in Verhältnis zu dem rechtwinklig angeordneten steinernen Haupthaus, dessen Dachfläche von der Schauseite vollständig sichtbar ist. Weiterhin verursacht die Anordnung der Kollektoren in einer zur Straßenseite hin abfallenden L-Form und deren Aufständerung mit dem dadurch entstehenden Schattenwurf zusätzliche Unruhe in der Dachlandschaft, die die Module besonders in den Fokus rücken lässt. Schließlich zeigen die Photovoltaikmodule in Richtung des Kulturdenkmals und „bespiegeln“ es, was den Eindruck der Sachgesamtheit – nicht zuletzt bei einem Blick aus dem Denkmal – beeinträchtigt.
37 Das Erscheinungsbild der Sachgesamtheit „X“ ist nicht durch die vom Kläger vorgetragenen Vorbelastungen durch die baulichen Maßnahmen (insbesondere) an den Nebengebäuden, aber auch etwa durch die an der Zehntscheuer eingebauten Schleppgauben und Dachfenster, soweit beeinträchtigt, dass die Photovoltaikanlage des Klägers nicht weiter auffiele (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.05.1983 - 5 S 229/83 -, NVwZ 1984, 191; krit. Bayer. VGH, Urt. v. 09.06.2004 - 26 B 01.1959 -, juris Rn. 16; VG Freiburg, Urt. v. 09.07.2009 - 4 K 1143/08 -, juris; Daydov, in: Hager u.a., Denkmalrecht Bad.-Württ., 2. Aufl. 2016, § 15 DSchG, Rn. 30). Denn der „X“ ist vor allem in seinen Hauptgebäuden in der Außenansicht nach wie vor weitestgehend intakt. Weiterhin fügen sich gerade die vorgenommenen Änderungen der ehemaligen Zehntscheuer im Vergleich besser ein; gerade die eingebauten Lamellendachfenster fallen durch ihre zurückhaltende Gestaltung kaum ins Gewicht. Auch das Gebäude des Klägers stellt keinen so offensichtlichen „Modernisierungsbruch“ dar, als dass die Module nicht weiter ins Gewicht fielen, vielmehr schmälern sie die Ansicht zusätzlich. Vor allem aber sind die baulichen Maßnahmen an den hinten liegenden Nebengebäuden bei der Betrachtung von den frei zugänglichen Verkehrsflächen gar nicht bzw. kaum sichtbar. Das mehrstöckige blau angestrichene Wohnhaus im hinteren Teil der Straße X befindet sich nicht mehr in der unmittelbaren Umgebung der Sachgesamtheit und hat nur einen geringen Einfluss auf deren Erscheinungsbild.
38 Diesem Ergebnis stehen überwiegende Gründe des Gemeinwohls nicht unausweichlich entgegen. Solche ergeben sich auch nicht unter Berücksichtigung der bereits erwähnten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, dass Photovoltaikanlagen inzwischen in ländlichen Regionen in so großer Zahl errichtet werden, dass derartige Anlagen heute zum normalen Erscheinungsbild gehören, was dazu führt, dass sie nicht mehr per se als exotischer Fremdkörper wahrgenommen werden (schon VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 34). In einer Stadt wie die der Beklagten gilt dies erst recht. Dieser Umstand und die einschlägigen Staatszielbestimmungen (Art. 20a GG und Art. 3a LV) führen aber nicht zu einem steten Vorrang vor den Belangen des Denkmalschutzes. Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass diese Ziele auf vielfältigen Wegen und vielerorts erreicht werden können (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 40; Bayer. VGH, Urteil v. 18.07.2013 - 22 B 12.1741 -, juris Rn. 33).
39 bb) Weiter hat die Beklagte im Rahmen der angefochtenen Beseitigungsverfügung ihr Genehmigungsermessen fehlerfrei betätigt und dabei die Belange des Umwelt- und Klimaschutzes hinreichend berücksichtigt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 01.09.2011 - 1 S 1070/11 -, juris Rn. 52; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.06.1989 - 1 S 98/88 -, NVwZ-RR 1990, 296).
40 c) Auch sonst hat die Beklagte ihr sich aus § 7 Abs. 1 DSchG ergebendes Ermessen, einzuschreiten, fehlerfrei ausgeübt (vgl. § 114 VwGO; Daydov, in: Hager u.a., Denkmalrecht Bad.-Württ., 2. Aufl. 2016, § 15 DSchG, Rn. 25). Insbesondere entsprechen ihre Erwägungen dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage (§ 40 LVwVfG, § 1 DSchG).
41 Zunächst liegen keine besonderen Umstände vor, die hinsichtlich der Beseitigung der Photovoltaikanlage ausnahmsweise zu einer Ermessensbeschränkung oder -bindung geführt haben. Denn selbst wenn der Kläger im Rahmen seines Kontakts zum Baurechtsamt der Beklagten, zu dem auch die untere Denkmalschutzbehörde gehört, nach seinen glaubhaft erscheinenden Angaben nicht auf eine bestehende denkmalschutzrechtliche Genehmigungspflichtigkeit seines Vorhabens hingewiesen worden sein sollte, führt eine solche formlose Auskunft, die lediglich eine Wissenserklärung beinhaltet, noch nicht zu einer Selbstbindung der Beklagten hinsichtlich der späteren Beseitigung, sondern allenfalls zu einem Schadensersatzanspruch wegen einer Amtspflichtverletzung (vgl. Bayer. VGH, Beschl. v. 18.07.2006 - 14 ZB 03.710 -, juris Rn. 21; OVG Sachs.-Anh., Beschl. v. 26.05.2009 - 2 L 164/08 -, juris; Tiedemann, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, § 38 Rn. 3). Das gilt umso mehr als nicht einmal der Kläger vom – für den Fall der Annahme einer Selbstbindung erforderlichen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.11.2006 - 9 B 17.06 -, juris Rn. 4; Bayer. VGH, Urt. v. 06.07.2006 - 4 B 05.504 -, juris Rn. 34) – Bindungswillen der Erklärung der Beklagten ausgegangen ist und demnach auf die erhaltene Auskunft nicht vertraut hat. Denn er hat bei ihr im Nachgang des Beratungsgesprächs per Email eine „verbindliche und eindeutige Antwort“ angefordert, die er nicht erhalten hat. Hierauf hat auch die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen zurecht abgehoben. Demnach hätte es dem Kläger in Kenntnis der Denkmaleigenschaft der angrenzenden Sachgesamtheit oblegen, sich abzusichern und auf eine entsprechende (verbindliche) Auskunft für sein Vorhaben bei der zuständigen unteren Denkmalschutzbehörde der Beklagten zu bestehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.06.1191 - 1 S 2022/90 -, juris Rn. 31; Beschl. v. 13.09.2011 - 1 S 1451/11 -, unveröffentlicht; Daydov, in: Hager u.a., Denkmalrecht Bad.-Württ., 2. Aufl. 2016, § 7 DSchG, Rn. 18).
42 Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG liegt ebenfalls nicht vor. Die Behörden haben sich in den angefochtenen Bescheiden mit den in der Umgebung des „X“ vorhandenen Beeinträchtigungen (vor allem Modernisierungsmaßnahmen) auseinandergesetzt, gegen die die Beklagte nicht eingeschritten ist oder auch nicht einschreiten will. Diese sind aber in ihrer Art und ihren Auswirkungen bereits nicht vergleichbar. Dass es bei ihrem denkmalschutzrechtlichen Einschreiten gegen Solaranlagen an jedem System fehlte, für die Art des Vorgehens gegen den Kläger keinerlei einleuchtenden Gründe sprächen und die Handhabung deshalb als willkürlich angesehen werden müsste (BVerwG, Beschl. v. 22.04.1995 - 4 B 55.95 -, juris Rn. 5; vgl. auch VG Freiburg, Beschl. v. 08.11.2011 - 4 K 2157/11 -, juris Rn. 14), lässt sich nicht feststellen. So hat sie in der mündlichen Verhandlung vergleichbare Fälle von Photovoltaikanlagen aufgezeigt, in denen sie jeweils auf eine denkmalschonende Gestaltung hingewirkt habe bzw. deren Gestaltung sie nicht hinnehmen wolle. Daraus lässt sich ein einheitliches Konzept des Einschreitens erkennen, das vor allem auf die Sichtbarkeit der Anlagen von der Schauseite des jeweiligen Denkmals ausgerichtet ist.
43 Die Beseitigungsverfügung ist auch nicht unverhältnismäßig. Sie erfasst nur die konkrete Ausgestaltung der Anlage. Der Schutz des Kulturdenkmals überwiegt das wirtschaftliche Interesse am Erhalt der Anlage, in die der Kläger nach seinen Angaben 15.000,- EUR investiert hat, wobei er aus ihr ohnehin bereits seit mehr als zwei Jahren Nutzungen gezogen hat.
III.
44 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.IV.
45 Gründe des § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO, aus denen die Berufung vom Verwaltungsgericht zuzulassen wäre, sind nicht gegeben.
46 Beschluss vom 08.10.2020
47 Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- EUR festgesetzt (vgl. Nr. 12.1 des Streitwertkatalogs 2013).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
1Gründe:
2Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
3Die von der Antragstellerin angeführten Gründe, auf deren Überprüfung der beschließende Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), geben keine Veranlassung, den Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern.
4Das Verwaltungsgericht hat es abgelehnt, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, der Antragstellerin zum 1. August 2020 vorläufig einen Betreuungsplatz in einem Betreuungsumfang von 35 Wochenstunden in der Städtischen Kindertagesstätte K.---straße in X. nachzuweisen. Die Antragstellerin habe die Voraussetzungen für die begehrte, eine Vorwegnahme der Hauptsache beinhaltende Regelungsanordnung nicht glaubhaft gemacht. Für den geltend gemachten Anspruch aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII sei die Antragsgegnerin nicht passiv legitimiert. Denn der Anspruch sei nach §§ 85 Abs. 1, 86 Abs. 1 Satz 1, 69 Abs. 1 SGB VIII, § 1a Abs. 1 AG KJHG NRW gegen die kreisfreie Stadt T. als den örtlich und sachlich zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu richten (§ 3 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII); gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sei der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt - hier seit September 2019 T. - haben. Dem stehe das Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, das sich nur an den örtlich zuständigen Jugendhilfeträger richte, nicht entgegen. Hinsichtlich des begehrten Betreuungsplatzes in der Kindertagesstätte K.---straße sei der Anordnungsanspruch auch deshalb nicht glaubhaft gemacht, weil der Antragsteller keinen Anspruch auf Förderung gerade in dieser Einrichtung habe. Anspruchsinhalt nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII könne unabhängig von einer konkreten Wunscheinrichtung vielmehr nur ein zumutbarer und bedarfsgerechter Betreuungsplatz sein, entgegen. Auch aus der mit der Antragsgegnerin geschlossenen Reservierungsvereinbarung, die ausdrücklich keinen Anspruch begründe und zudem die Auflösung bei wichtigem Grund (z. B. Umzug) vorsehe, folge kein Anordnungsanspruch. Ansatzpunkte für Vertrauensschutzgesichtspunkte bestünden daher nicht.
5Das Beschwerdevorbringen führt nicht zum Erfolg des Antrags.
6Die Antragstellerin beruft sich mit der Beschwerde allein auf den wirksam geschlossenen "Betreuungsvorvertrag" (Reservierungsvereinbarung) für die streitgegenständliche Kindertagesstätte. Dabei mag insoweit die Passivlegitimation der Antragsgegnerin, mit der im Jahr 2019 die fragliche Reservierungsvereinbarung getroffen worden ist, gegeben sein. Mit ihrer Beschwerde dringt die Antragstellerin aber mangels eines Anordnungsanspruchs gleichwohl nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr zutreffend festgestellt, dass aus dieser Vereinbarung - ungeachtet ihrer Rechtsnatur - kein Anspruch der Antragstellerin auf Betreuung in der streitgegenständlichen Kindertagesstätte ab dem 1. August 2020 folgt.
7Das ergibt sich eindeutig auf der Grundlage einer entsprechend §§ 133, 157 BGB am objektiven Empfängerhorizont orientierten Auslegung der Vereinbarung, für die der geäußerte Wille des Erklärenden, wie er aus der Erklärung und sonstigen Umständen für den Erklärungsempfänger erkennbar wird, maßgebend ist. In dem "Betreuungsangebot" vom 14. August 2019, das die Antragstellerin mit ihrer "Reservierungszusage" bestätigt hat, wird bereits einleitend darauf hingewiesen, dass eine Bindung an das Betreuungsangebot nur "vorbehaltlich der Zustimmung der Jugendhilfeplanung" bestehe. Ferner ist ausdrücklich festgehalten, dass im Fall der Bestätigung der angebotenen Reservierung der "Reservierungsvertrag noch keinen endgültigen Rechtsanspruch auf das oben genannte Betreuungsangebot" begründe, und der Rechtsanspruch "erst mit Zustandekommen des Betreuungsvertrages" entstehe. Schließlich ist vorgesehen, dass sich beide Seiten von der Reservierungsvereinbarung (nur) aus wichtigem Grund lösen können; dabei wird gerade die hier streitgegenständliche Fallkonstellation eines Umzugs ausdrücklich als Beispiel aufgeführt. Für die von der Antragstellerin vertretene Auffassung, aus der Reservierungsvereinbarung ergebe sich ein vorbehaltloser, verbindlicher und nicht auflösbarer Anspruch auf den begehrten Betreuungsplatz, besteht vor diesem Hintergrund kein Raum.
8Nichts Abweichendes folgt aus dem Einwand der Antragstellerin, die Reservierungsvereinbarung habe für sie keinen "Mehrwert" und bedürfe auch keines Kündigungsrechts aus wichtigem Grund, wenn man - wie das Verwaltungsgericht - einen Anspruch auf ein Betreuungsverhältnis auf der Grundlage der Vereinbarung verneine. Mit dieser Sichtweise verkennt die Antragstellerin, dass der Reservierungsvereinbarung - ungeachtet der Einzelheiten ihrer rechtlichen Qualifikation - grundsätzlich eine Bindungswirkung für beide Parteien zukommt; aus der Vereinbarung lassen sich lediglich keine vorbehaltlosen und unauflösbaren Ansprüche ableiten. Namentlich kann die Antragstellerin sich nach Wegfall der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Aufnahme in eine Kindertageseinrichtung der Antragsgegnerin nicht auf eine Fortgeltung der Reservierung berufen. Auch der geltend gemachte Umstand, dass für die Antragstellerin die Vereinbarung vor diesem Hintergrund mit dem Umzug in das Gebiet einer Nachbargemeinde "keinen Mehrwert" habe, macht die eingeschränkte Reservierungszusage nicht rechtswidrig und begründet insbesondere keinen Anspruch auf den begehrten Kindertagesstättenplatz. Die nach der Vereinbarung ausdrücklich gerade für den Fall eines Umzugs vorgesehene "Lösung" von der Reservierungsvereinbarung hat die Antragsgegnerin unter dem 9. Juli 2020 mit der "Kündigung" ausgesprochen. Für darüber hinausgehende "Rücksichtnahmepflichten", die einer Loslösung von der Vereinbarung im Fall des Umzugs entgegenstehen könnten, ist danach entgegen der Auffassung der Antragstellerin - auch unter Berücksichtigung des Gebots von Treu und Glauben - hier kein Raum. Dieses Gebot macht die ausgesprochene Kündigung nicht "gleichermaßen unwirksam". Das gilt auch für den Fall, dass bei der Antragstellerin möglicherweise zunächst den Eindruck entstanden sein sollte, die Antragsgegnerin werde die Betreuung im Kindergartenjahr 2020/2021 durchführen, weil sie trotz (unterstellter) Kenntnis von dem Umzug der Familie der Antragstellerin in das Gebiet der Nachbargemeinde die Vereinbarung nicht unmittelbar gekündigt habe. Angesichts der - wie oben dargestellt - eindeutigen Formulierungen insbesondere für den Fall eines Umzugs, durfte die Antragstellerin auf eine davon abweichende Handhabung nicht vertrauen. Die Verpflichtung, der Antragstellerin eine Betreuungsmöglichkeit in einer anderen Kindertageseinrichtung der Antragsgegnerin zu verschaffen, kommt daher ebenfalls nicht in Betracht.
9Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
10Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
1. Die Entschädigung des Antragstellers für die Erstellung des Gutachtens vom 03.06.2020 bezüglich des N. K. wird auf
1.169,18 €(i. W. Eintausendeinhundertneunundsechzig Euro, 18 Cent)
festgesetzt.
2. Dieser Beschluss ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
1
Im Hauptsacheverfahren, in dem die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung umstritten ist, wurde der Antragsteller gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens nach Untersuchung des Klägers beauftragt.
2
Der Antragsteller, der beim SG Mainz einen Vertrag nach § 14 Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz (JVEG) besitzt, macht neben dem Honorar für die Begutachtung auch einen Zuschlag für einen erhöhten Hygieneaufwand veranlasst durch die COVID-19-Pandemie geltend. Hierzu beruft er sich auf eine analoge Anwendung der Nr. 245 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Nach den Abrechnungsempfehlungen zur Berechnung von ärztlichen Leistungen der Bundesärztekammer, des Verbandes der Privaten Krankenversicherung e.V. und den Trägern der Kosten in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen nach beamtenrechtlichen Vorschriften des Bundes und der Länder können mit dieser Analog-Ziffer erhöhte Hygienemaßnahmen im Rahmen der COVID-19-Pandemie bis zum 2,3 fachen Satz i.H.v. 14,75 € berechnet werden. Die Ziffer ist einmal je Sitzung und nur bei einem unmittelbaren persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt berechnungsfähig. Sie gilt rückwirkend vom 09.04.2020 bis zum 30.09.2020.
3
Der Sachverständige setzt den erhöhten Hygieneaufwand Nr. A245GOÄ mit 6,41 € an, zuzüglich Umsatzsteuer i.H.v. 19 % ergibt sich ein Gesamtbetrag von 7,63 €, der streitig ist.
4
Die mit der Angelegenheit befasste Kostenbeamtin lehnte eine entsprechende Entschädigung ab. Die GOÄ finde nur im Rahmen des § 10 Abs. 2 JVEG Anwendung, wenn es sich um eine Leistung handele, die in Abschnitt O der GOÄ oder nach Vorbemerkung 4 Abs. 2 Satz 1 der Anlage 2 zu § 10 Abs. 1 JVEG aufgeführt sei, wenn es sich um Leistungen nach Abschnitt III 13 GOÄ handele. Insgesamt sehe das JVEG keine Vergütung des beantragten Hygienezuschlags vor.
5
Der Antragsteller hat hiergegen Erinnerung eingelegt, der nicht abgeholfen worden ist, und anschließend einen Antrag nach § 4 Absatz 1 JVEG auf richterliche Festsetzung gestellt.
II.
6
Auf den zulässigen (§ 4 Abs. 1 JVEG) Antrag auf richterliche Festsetzung ist die Entschädigung des Antragstellers für sein dem Sozialgericht Mainz am 04.06.2020 zugegangenes Gutachten vom 03.06.2020 auf insgesamt 1.169,18 € festzusetzen, wie ursprünglich auch von ihm geltend gemacht.
7
Anspruchsgrundlage für den Vergütungsanspruch ist die zwischen dem Land Rheinland-Pfalz und dem Sachverständigen nach § 14 JVEG geschlossene Vereinbarung über die Entschädigung von Sachverständigenleistungen vom 29.07.2004 in der Fassung der Änderungsvereinbarungen vom 14.11.2013, 03.12.2013 und 12.08.2019.
8
Danach erhält der Sachverständige für jedes vom Gericht geforderte, von ihm erstattete schriftliche Gutachten nach ambulanter oder stationärer Untersuchung ohne Rücksicht auf dessen Umfang und den Zeitaufwand als Entschädigung einen Grundbetrag von 900 €. Damit ist der erforderliche Zeitaufwand abgegolten für vorbereitende Arbeiten, Erhebung der Vorgeschichte, körperliche Untersuchung, Auswertung, Beurteilung und Zusammenfassung aller für die Beantwortung des Beweisthemas erheblichen Fremdbefunde, Abfassung, Diktat und Korrektur des Gutachtens. Im Übrigen erfolgt die Feststellung der Entschädigung nach den gesetzlichen Bestimmungen. Dabei ist insbesondere auf die in § 10 JVEG und § 12 JVEG getroffenen Regelungen sowie auf die im Abschnitt 2 enthaltenen gemeinsamen Vorschriften über Fahrtkostenersatz (§ 5 JVEG) und Ersatz für sonstige Aufwendungen (§ 7 JVEG) hinzuweisen (IV. der Vereinbarung).
9
Die Vereinbarung ersetzt insoweit die §§ 8 ff. JVEG. Nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 JVEG würde der Sachverständige als Vergütung ein Honorar für seine Leistungen, das nach Stundensätzen bemessen ist, erhalten. Medizinische und psychologische Sachverständige erhalten nach § 9 Abs. 1 JVEG für jede Stunde ein Honorar in Höhe von 65,00 €, 75,00 € oder 100,00 €, je nachdem, welcher Honorargruppe (M 1 bis M 3) das von ihnen erstattete Gutachten nach der Anlage 1 des JVEG zuzuordnen ist. § 8 Abs. 2 Satz 1 JVEG bestimmt insoweit ergänzend, dass das Honorar, das nach Stundensätzen zu bemessen ist, für jede Stunde der erforderlichen Zeit einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten gewährt wird.
10
Aus der Zusammenschau dieser Regelungen ergibt sich für das Gericht, dass der Sachverständige über den in der Vereinbarung festgesetzten Pauschalbetrag von 900,00 € abgesehen von Laborkosten, Schreibauslagen, Portokosten und der gesetzlichen Umsatzsteuer keine weiteren Leistungen oder Positionen abrechnen kann.
11
Die Abrechnung des geltend gemachten Hygieneaufwandes ist nicht über § 10 JVEG möglich. Gemäß § 10 Abs. 1 JVEG bemisst sich das Honorar oder die Entschädigung nach der Anlage 2 zum JVEG, soweit ein Sachverständiger Leistungen erbringt, die in der Anlage 2 bezeichnet sind. Diese Anlage betrifft folgende Leistungen: Leichenschau und Obduktion (Abschnitt 1), Befund (Abschnitt 2), Untersuchungen, Blutentnahme (Abschnitt 3) und Abstammungsgutachten (Abschnitt 4). Leistungen der Anlage 2 sind durch den Antragsteller in Bezug auf den Hygieneaufwand nicht erbracht worden. Unabhängig hiervon wäre ein Rückgriff auf Nr. A245 GOÄ nicht eröffnet.
12
§ 10 Abs. 2 JVEG lässt die Abrechnung von Leistungen der in Abschnitt O des Gebührenverzeichnisses für ärztliche Leistungen (Anlage zur Gebührenordnung für Ärzte) bezeichneten Art zu. Dieser Abschnitt der GOÄ betrifft ausschließlich radiologische Leistungen (Strahlendiagnostik, Nuklearmedizin, Magnetresonanztomographie und Strahlentherapie), die hier nicht in Rede stehen.
13
Nach der Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass § 10 JVEG abschließend regelt, wann die Gebührenordnung für Ärzte zur Anwendung kommt. Die Leistungsmerkmale in der Anlage 2 und in Abschnitt O der GOÄ sind als Spezialregelungen eng auszulegen. Eine entsprechende oder analoge Anwendung scheidet aus (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.10.2018 – L 10 KO 2806/18 – juris Rn. 11; Meyer/Höver/Bach/Oberlack/Jahnke, JVEG, 27. Aufl. 2018, § 10 Rn. 3). Der Wortlaut des Gesetzes ist insoweit eindeutig. Nebenleistungen, die nicht gemäß § 10 JVEG über die GOÄ abgerechnet werden können, sind über den Zeitaufwand zu berücksichtigen. Dies führt im Fall des Antragstellers jedoch nicht weiter, da dieser eine Pauschalvereinbarung mit dem Land abgeschlossen hat.
14
Der Antragsteller kann ebenso wenig einen Ersatz für besondere Aufwendungen gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG verlangen. Nach § 12 Abs. 1 JVEG sind, soweit im Gesetz nichts anderes bestimmt ist, mit der Vergütung nach den §§ 9 bis 11 JVEG auch die üblichen Gemeinkosten sowie der mit der Erstattung des Gutachtens üblicherweise verbundene Aufwand abgegolten. Es werden jedoch nach § 12 Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG die für die Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens oder der Übersetzung aufgewendeten notwendigen besonderen Kosten, einschließlich der insoweit notwendigen Aufwendungen für Hilfskräfte, sowie die für eine Untersuchung verbrauchten Stoffe und Werkzeuge gesondert ersetzt.
15
Es ist im Ausgangspunkt davon auszugehen, dass mit dem Honorar grundsätzlich auch die allgemeinen Geschäfts-, Praxis- und Bürokosten des Sachverständigen und der mit der Erstattung des Gutachtens üblicherweise verbundene Aufwand abgegolten sind. Nur soweit vom Sachverständigen darüber hinaus für die Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens notwendigerweise zusätzliche Kosten aufgewendet werden müssen, können ihm diese nach den §§ 5-7 und 12 JVEG neben der Vergütung ersetzt werden (Meyer/Höver/Bach/Oberlack/Jahnke, JVEG, 27. Aufl. 2018, § 12 Rn. 1). Das JVEG spricht - in Abgrenzung zu den üblichen Gemeinkosten - ausdrücklich von dem Ersatz für "verbrauchte" Stoffe und Werkzeuge. Nur unter diesem Blickwinkel steht dem Sachverständigen überhaupt ein Aufwendungsersatzanspruch zu. Zu den üblichen Gemeinkosten zählen demgegenüber unter anderem Aufwendungen, die sich aus einer angemessenen Ausstattung mit technischen Geräten ergeben (vgl. BT-Drucks 15/1971, S. 184). Dementsprechend kann ein Sachverständiger für die bloße Benutzung und fortlaufende Abnutzung von Werkzeugen, Geräten und technischen Einrichtungen keine Entschädigung nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG erhalten (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.10.2019 – L 15 SB 285/19 B –, juris Rn. 13; Meyer/Höver/Bach/Oberlack/Jahnke, JVEG, 27. Aufl. 2018, § 12 Rn. 23).
16
Nach Auffassung des Gerichts zählen auch Hygienemittel zu den Stoffen und Werkzeugen, die der Sachverständige in seiner Praxis in jedem Falle auch ohne aktuelle Pandemie vorhält und benutzt. Es ist also davon auszugehen, dass Hygieneverbrauchsmaterial zu den Gemeinkosten zählt. Für die Richtigkeit dieser Ansicht spricht, dass auch nach der GOÄ Desinfektionsmittel nicht gesondert berechnungsfähig sind (vergleiche § 10 Abs. 2 Nr. 3 GOÄ). Ansonsten hätte es des Rückgriffs auf eine Analog-Ziffer auch nicht bedurft.
17
Im Übrigen sieht diese Bestimmung des JVEG eine pauschale Berechnung, wie sie Nr. A245GOÄ zugrunde liegt, nicht vor. So ist anerkannt, dass eine pauschale Abgeltung von Nebenkosten über § 12 JVEG nicht möglich ist (Meyer/Höver/Bach/Oberlack/Jahnke, JVEG, 27. Aufl. 2018, § 12 Rn. 2).
18
Weiterhin ergibt sich ein Anspruch auf Erstattung von Kosten für den erhöhten Hygieneaufwand auch nicht aus § 7 Abs. 1 JVEG. Ein Ersatz für sonstige Aufwendungen bezieht sich nach dieser Vorschrift nur auf die in den §§ 5, 6 und 12 JVEG nicht besonders genannten baren Auslagen (§ 7 Abs. 1 Satz 1 JVEG), z. B. für die Anfertigung von Fotokopien, Aufwendungen für ein ärztliches Zeugnis, Post- und Telekommunikationsaufwendungen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Sachverständige für den bei der Untersuchung des Klägers angefallenen erhöhten Hygieneaufwand tatsächlich auf den einzelnen Kläger bezogene, bezifferbare bare Auslagen hatte. Im Übrigen gibt auch § 7 Abs. 1 JVEG keine Handhabe, Nr. A245GOÄ anzuwenden.
19
Letztlich kann sich der Antragsteller auch nicht auf eine ergänzende Vertragsauslegung bzw. Anpassung des Vertrages nach § 313 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) berufen. § 313 Abs. 1 BGB bestimmt als Kodifikation des Gedankens von Treu und Glauben bezüglich des Wegfalls der Geschäftsgrundlage die näheren Voraussetzungen hierzu: Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
20
Mag es im Ausgangspunkt noch zur Geschäftsgrundlage des Vertrages gehören, dass keine Erschwerungen oder gar Störungen durch Krieg oder grundlegende Änderungen der politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnisse eintreten, und mag man - bei großzügiger Betrachtung – auch eine Pandemie wie die jetzige noch unter diese „große Geschäftsgrundlage“ subsumieren, ist doch bereits zweifelhaft, ob – zumindest bezogen auf den erhöhten Hygieneaufwand – eine „schwerwiegende“ Veränderung eingetreten ist und dem Sachverständigen das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. Unzumutbar ist das Festhalten am Vertrag, wenn dies zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit nicht zu vereinbarenden Ergebnissen führen würde (BGH, Urteil vom 26.09.1996 – I ZR 265/95 –, juris). Es kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass angesichts eines monetären Aufwandes von maximal 14,75 EUR (beim 2,3-fachen Satz der GOÄ) die Weigerung des Landes, Nr. A245GOÄ im Rahmen von Sachverständigengutachten zu erstatten, zu mit Recht und Gerechtigkeit unvereinbaren Ergebnissen führen würde. Trotz höherer Aufwendungen für gesteigerte Hygienemaßnahmen erscheint das Festhalten am Vertrag zumutbar und wird beim Antragsteller nicht zu einer wirtschaftlichen Krise führen, selbst wenn man berücksichtigt, dass dieser eine nennenswerte Zahl an Gutachten für das SG Mainz anfertigt.
21
Die Entscheidung über die Gebühren und Kosten beruht auf § 4 Abs. 8 Satz 1 und 2 JVEG.
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Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung ihres Bescheids vom 27. Juni 2019 über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Plangenehmigung gemäß § 18 AEG i. V. m. § 74 Abs. 6 VwVfG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen eine Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Plangenehmigung für den Abriss eines vorhandenen und die Errichtung eines neuen Verkaufspavillons neben dem Bahnsteig 1 des Bahnhofs L. Q. -X. .
3Der Bahnhof L. Q. -X. verfügt über drei Bahnsteige (1, 3 und 4) und dient dem Halt dreier S-Bahn-Linien (S 12, S 13 und S 19). Der Bahnsteig 1 ist auf seiner gesamten Länge frei zugänglich. Auf dem östlich angrenzenden Grund befindet sich ein Verkaufspavillon mit einer Fläche von 17 m2. Daran schließen sich nach Osten eine Busstation mit acht Bussteigen A bis H, die Straße „Am C. “, Parkplätze sowie eine Bebauung mit Wohn- und Bürogebäuden an. Der bisherige Pavillon ist ausweislich der von der Klägerin im Verwaltungsverfahren vorgelegten Lichtbilder zur Busstation ausgerichtet. Nach dorthin befinden sich ein Verkaufsschalter sowie ein Schild mit der Aufschrift „C. -Grill“. Die zum Bahnsteig 1 gerichtete Wand ist geschlossen.
4Wegen der Einzelheiten der Örtlichkeit wird auf den nachstehenden Kartenausschnitt verwiesen:
5Unter dem 22. Februar 2005 erteilte die Beklagte der Klägerin eine Plangenehmigung nach § 18 Abs. 2 AEG in der Fassung vom 27. Dezember 2004 (AEG a. F.) für die Aufstellung eines typengeprüften Containers als Verkaufsstand für kioskübliche Waren am C. L. Q. -X. . Zur Begründung führte die Beklagte aus, sie sei für die Erteilung der Genehmigung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 BEVVG zuständig, da es sich um den Bau einer Betriebsanlage der Eisenbahn des Bundes handele. Die Errichtung des typengeprüften Containers als Verkaufsstand für kioskübliche Waren sei aus betrieblichen und wirtschaftlichen Gründen vernünftigerweise geboten, da hiermit eine Verbesserung der Einkaufsmöglichkeiten der Reisenden/Umsteigenden zur Deckung ihres Reisebedarfs geschaffen werde. Dies steigere die Attraktivität des Haltepunktes. Planung und Ausführung des Vorhabens lägen insofern im öffentlichen Interesse. Zu den Betriebsanlagen der Eisenbahn i. S. v. § 18 Abs. 1 AEG gehörten insbesondere auch Bahnhofshallen und Empfangsgebäude sowie Bahnhofsgaststätten und Anlagen der Servicebetriebe innerhalb von Bahnanlagen. Entscheidend für derartige Anlagen sei, dass sie mit dem Eisenbahnbetrieb räumlich und funktional im Zusammenhang stünden. Dies sei vorliegend erfüllt.
6Am 11. Juni 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Erteilung einer planungsrechtlichen Zulassungsentscheidung gemäß § 18 Abs. 1 AEG für den Abbruch des bestehenden Verkaufspavillons und die Errichtung eines neuen Verkaufspavillons mit einer Fläche von 65 m2.
7Mit Bescheid vom 27. Juni 2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Ein planungsrechtliches Verfahren nach den §§ 18 ff. AEG i. V. m. §§ 72 ff. VwVfG sei nicht durchzuführen. Das abzureißende und das neu zu errichtende Gebäude seien jeweils keine Betriebsanlage der Eisenbahn i. S. d. § 18 Abs. 1 AEG. Ihnen fehle ein räumlicher und funktionaler Zusammenhang mit dem Eisenbahnbetrieb. Unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse seien die Pavillons jeweils nicht zur Abwicklung oder Sicherung des Reise- oder Güterverkehrs erforderlich. Insbesondere handele es sich nicht um eine Nebenbetriebsanlage zur Deckung des unmittelbaren Reisebedarfs. Zwar würden sich dort auch wartende Bahnreisende mit Nahrungsmitteln, Zeitschriften und ähnlichen Produkten versorgen. Es sei aber damit zu rechnen, dass das Angebot auch von anderen Personen genutzt werde, denn in unmittelbarer Nähe befänden sich Bushaltestellen und Parkplätze sowie Wohn- und Geschäftsgebäude. Der Pavillon sei auch weder Teil eines Bahnhofsempfangsgebäudes noch werde er auf dem Bahnsteig errichtet. Eine Sicherheitsrelevanz für den Bahnverkehr bestehe nicht. Ferner sei nicht erkennbar, dass der Kiosk von der Eisenbahn des Bundes betrieben werde oder werden solle.
8Am 29. Juli 2019 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie trägt vor:
9Der bisherige Pavillon sei planfestgestellt worden. Dadurch habe die Beklagte die Eisenbahnbetriebsbezogenheit selbst anerkannt. Seit dieser Entscheidung hätten sich weder die maßgeblichen gesetzlichen Rahmenbedingungen noch die entsprechende Verwaltungsgerichtsrechtsprechung geändert. Insofern müsse sich die Beklagte an ihrer vorherigen Einordnung des Kiosks als Betriebsanlage der Eisenbahn festhalten lassen, zumal der neue Pavillon an der Stelle des bisherigen Verkaufsstands errichtet werden solle. Der Rückbau des alten und der Neubau des geplanten Pavillons seien einheitlich als Änderung der bisherigen planfestgestellten Anlage zu beurteilen, die ihrerseits der Planfeststellung bedürfe.
10Der neue Pavillon solle unter der Bezeichnung „Service Store DB“ betrieben werden. Ziel der Maßnahme sei ein vielfältigeres und verbessertes Angebot für die Reisenden. Das vorgesehene Sortiment umfasse frisch zum Verzehr zubereitete Speisen und (Heiß-)Getränke, Frischeprodukte, abgepackte Snacks und Süßwaren, ein Presse- und Buchsortiment sowie Tabakwaren. Damit handele es sich bei dem Vorhaben um eine (Neben-)Betriebsanlage der Eisenbahn nach § 18 Abs. 1 AEG, nämlich um eine Verkaufsstätte zur Deckung des Reisebedarfs. Auf Bahnanlagen errichtete Gastronomie- und Einzelhandelsbetriebe unterfielen dem Fachplanungsprivileg, soweit sie der Versorgung von Fahrgästen und deren Abholern sowie zur Überbrückung von Wartezeit dienten. Dies sei nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu bestimmen und bei einem Verkaufspavillon mit einer Größe von 65 m2, der in unmittelbarer Nähe zum Bahnsteig gelegen sei und Waren des Reisebedarfs anbiete, offensichtlich zu bejahen. Durch die unmittelbare Nähe zum Bahnsteig sei eine Nutzung durch Bahnreisende beabsichtigt und zu erwarten. Schon dieser Umstand begründe einen funktionalen Zusammenhang mit dem Eisenbahnbetrieb. Dass möglicherweise auch andere Personen das Angebot nutzten, sei unschädlich. Dadurch, dass der Verkaufsstand unmittelbar an den Bahnsteig angrenze, sei sein räumlicher Zusammenhang zum Bahnbetrieb ebenfalls offenkundig. Auch nach den Richtlinien über den Erlass von Planrechtsentscheidungen für Betriebsanlagen der Eisenbahn des Bundes nach § 18 Abs. 1 AEG sowie Magnetschwebebahnen nach § 1 MBPlG (sog. Planfeststellungsrichtlinien) des Eisenbahn-Bundesamts sei der Verkaufspavillon als Bahnanlage zu qualifizieren. Diese erfassten in Anhang 2 Ziffer 1 (Begriff der Betriebsanlagen) auch Nebenbetriebsanlagen, die der Deckung des unmittelbaren Reisebedarfs dienten. Eine Indizwirkung hätten bei gemischt genutzten Eisenbahnbetriebsanlagen ferner die Vorschriften des Ladenschlussgesetzes zum Reisebedarf. Die dort genannten Lebens- und Genussmittel in kleineren Mengen sowie Tabakwaren und Zeitschriften bildeten das Hauptsortiment des geplanten Verkaufspavillons. Auch deshalb sei von einer Verkaufsstelle für Reisebedarf auszugehen und der funktionelle Zusammenhang mit dem Eisenbahnbetrieb nachgewiesen. Diese Einordnung werde schließlich durch das Bauplanungsrecht bestätigt. Der Flächennutzungsplan der Stadt L. weise die in Rede stehende Fläche als „Fläche für Bahnanlagen“ aus. Der maßgebliche Bebauungsplan Nr. 76360/05 setze den Bereich als Verkehrsfläche, konkret als „Busbahnhof und S-Bahnstation X. (Vorplatz)“ fest.
11Die Klägerin beantragt,
12die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 27. Juni 2019 zu verpflichten, über ihren Antrag auf Plangenehmigung gemäß § 18 AEG i. V. m. § 74 Abs. 6 VwVfG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie trägt vor: Die erteilte Plangenehmigung entfalte für das streitgegenständliche Plangenehmigungsverfahren keine Präzedenzwirkung und die Klägerin könne daraus auch keinen Anspruch auf Erlass einer neuen Plangenehmigung ableiten. Sollte es sich doch um eine Eisenbahnbetriebsanlage handeln, dann bedürfe es hierfür keines Rückgriffs auf den Altbescheid. Wenn das Gericht allerdings ihre Ansicht zur fehlenden Zuständigkeit teile, so könne der Altbescheid daran auch nichts ändern. Sie habe seit Erlass des Bescheids im Jahr 2005 in Bezug auf ihre Zuständigkeit, insbesondere die Bahnbetriebsanlageneigenschaft des Vorhabens, aus den Gründen des angefochtenen Bescheids ihre Rechtsauffassung geändert. Für den Erlass des Altbescheids wäre sie daher ebenfalls unzuständig gewesen. Auf den Erlass oder gar die Wiederholung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes bestehe kein Anspruch.
16Entscheidendes Kriterium für die Einordnung als Eisenbahnbetriebsanlage nach § 18 Abs. 1 AEG sei die Eisenbahnbetriebsbezogenheit. Diese setze einen technisch-funktionalen Bezug zum Eisenbahnbetrieb voraus. Ein solcher fehle, wenn ein Gebäude einem Unternehmen oder einer Einrichtung dienen solle, das bzw. die weder Eisenbahnverkehrsdienstleitungen erbringe noch Eisenbahninfrastruktur betreibe. Allein dass das Gebäude sich auf dem Bahnhofsgelände befinde genüge nicht. Der von der Klägerin geplante Verkaufskiosk weise keinen technisch-funktionalen Bezug zum Eisenbahnbetrieb auf. Er befinde sich weder in einem Bahnhofsgebäude noch auf einem Bahnsteig. In seiner unmittelbaren Nähe liege nicht nur der Bahnsteig, sondern auch die Busstation. In 50 m Entfernung schließe sich ferner dichte Geschäfts- und Wohnbebauung an. Ebenso wie an Bahnreisende richte sich der Pavillon daher an Menschen, die ausschließlich den Bus nutzten oder in der Arbeitspause einen Snack zu sich nehmen wollten. Das Sortiment entspreche dem eines gängigen Zeitungskiosks oder einer Imbissstube, die auch an einem beliebigen anderen Ort stehen könnten. Die zufällige Nähe zum Bahnsteig und der Umstand, dass auch Bahnreisende dort einkauften, könnten keinen Betriebsbezug zur Eisenbahn herstellen. Der Begriff des Reisebedarfs nach dem Ladenschlussgesetz führe – unabhängig davon, dass das Ladenschlussgesetz anderen Zwecken diene als § 18 AEG – nicht weiter, weil er nicht auf Bahnreisen beschränkt sei und gerade am fraglichen Standort auch die (nur) Busreisenden erfasse. Auch die Bezugnahme auf den Flächennutzungsplan der Stadt L. gehe fehl, da die Belegenheit auf einer gewidmeten Fläche allein noch nicht für die Begründung der Betriebsanlageneigenschaft genüge.
17Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe:
20Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
21I. Die auf Neubescheidung gerichtete Klage ist statthaft. Die Sache ist nicht spruchreif, da die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer planungsrechtlichen Zulassungsentscheidung nach § 18 AEG nach Ablehnung der Statthaftigkeit eines planungsrechtlichen Verfahrens nicht (abschließend) geprüft hat.
22Vgl. hierzu Vallendar, in: Hermes/Sellner, Beck’scher AEG Kommentar, 2. Auflage 2014, § 18 Rn. 354.
23II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrte Neubescheidung (§ 113 Abs. 5 Sätze 1 und 2 VwGO).
24Der Abriss des bestehenden Verkaufspavillons und die beabsichtigte Errichtung des neuen Verkaufspavillons bedürfen einer Plangenehmigung nach § 18 Abs. 1 Satz 1 AEG. Nach dieser Vorschrift dürfen Betriebsanlagen einer Eisenbahn nur gebaut oder geändert werden, wenn der Plan vorher festgestellt ist. Mit dem Neubau des neuen Verkaufspavillons anstelle des zu beseitigenden Bestandspavillons hat die Klägerin die Änderung einer solchen Betriebsanlage zur Plangenehmigung gestellt.
251. Der ursprünglich errichtete Verkaufspavillon ist eine Betriebsanlage der Eisenbahn i. S. d. § 18 Abs. 1 Satz 1 AEG.
26a) Die – zwischen den Beteiligten streitige – Frage, ob der ursprünglich errichtete Pavillon den notwendigen technisch-funktionalen Bezug zum Eisenbahnbetrieb aufweist, bedarf keiner Entscheidung. Denn durch die Erteilung der Plangenehmigung nach § 18 Abs. 2 AEG a. F. vom 22. Februar 2005 für die Aufstellung des vorhandenen typengeprüften Containers als Verkaufsstand für kioskübliche Waren hat die Beklagte den Pavillon jedenfalls als Betriebsanlage der Eisenbahn gewidmet und damit einen öffentlich-rechtlichen Sonderstatus begründet mit der Folge, dass die gewidmete Anlage dem Fachplanungsvorbehalt nach § 18 AEG unterliegt.
27Das Eisenbahnrecht regelt die Widmung einer Eisenbahnbetriebsanlage nicht ausdrücklich. Daher umfasst die Gestaltungswirkung der Planfeststellung – bzw. der Plangenehmigung – auch die Widmung der Anlage für den öffentlichen Eisenbahnverkehr. Eine gesonderte Widmungsverfügung kennt das Eisenbahnrecht nicht.
28Vgl. OVG NRW, Urteil vom 9. Oktober 2019 - 11 D 34/15.AK -, juris, Rn. 30; Vallendar, in: Hermes/Sellner, Beck’scher AEG Kommentar, 2. Auflage 2014, § 18 Rn. 38.
29Grundsätzlich setzt die Widmung einer Eisenbahnbetriebsanlage einen nach außen erkennbaren und nachweisbaren Rechtsakt voraus, hinzukommen muss die tatsächliche Indienststellung für den in Rede stehenden Zweck.
30Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. Februar 2019 - 7 A 2206/17 -, juris, Rn. 51, m. w. N.
31Nach diesen Maßgaben liegt eine Widmung der Anlage für den öffentlichen Eisenbahnverkehr vor. Mit der ursprünglichen Plangenehmigung vom 22. Februar 2005 hat die Beklagte die Betriebsanlageneigenschaft des Verkaufspavillons nach außen erkennbar positiv festgestellt. In der Planbegründung hat sie ausdrücklich ausgeführt, sie sei für die Erteilung der Genehmigung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 BEVVG zuständig, da es sich um den Bau einer Betriebsanlage der Eisenbahn des Bundes handele. Die Voraussetzungen nach § 18 Abs. 2 AEG a. F. seien erfüllt, insbesondere sei der erforderliche räumliche sowie technisch-funktionale Bezug zum Eisenbahnbetrieb gegeben. Auch eine Indienststellung der Anlage als Verkaufsstand für kioskübliche Waren zur Deckung des Reisebedarfs an dem Haltepunkt entsprechend der Plangenehmigung ist unstreitig erfolgt.
32b) Die ursprüngliche Plangenehmigung hat – entgegen der Auffassung der Beklagten – Rechtswirkungen für den vorliegenden Rechtsstreit. Eine bloße (interne) Änderung der Rechtsauffassung der Beklagten nach Erteilung der förmlichen Plangenehmigung und tatsächlicher Inbetriebnahme lässt die Rechtswirkungen der Widmung des Verkaufspavillons als Eisenbahnbetriebsanlage nicht entfallen. Der einmal geschaffene öffentlich-rechtliche Sonderstatus der Anlage dauert fort, bis er durch einen „actus contrarius“ – die Entwidmung – außer Kraft gesetzt wird. Die Entwidmung von Betriebs- bzw. Bahnanlagen muss durch eindeutige und bekannt gemachte Erklärungen geschehen, damit für jedermann klare Verhältnisse bestehen.
33Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. November 1996 - 11 A 2.96 -, juris, Rn. 17; OVG NRW, Urteil vom 22. Februar 2019 - 7 A 2206/17 -, juris, Rn. 56; Vallendar, in: Hermes/Sellner, Beck’scher AEG Kommentar, 2. Auflage 2014, § 18 Rn. 38, jeweils m. w. N.
34Insofern hätte die Beklagte ihre geänderte Rechtsauffassung nach außen dokumentieren müssen, indem sie etwa die Plangenehmigung aufgehoben oder eine Freistellungserklärung abgegeben hätte. Eine Aufhebung der ursprünglichen Plangenehmigung vom 22. Februar 2005 (wegen angenommener ursprünglicher Rechtswidrigkeit mangels Eisenbahnbetriebsbezogenheit des Containers) oder eine Freistellungserklärung gemäß § 23 AEG ist aber bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht erfolgt, sodass die Widmung fortwirkt. Insofern steht – entgegen der Annahme der Beklagten – auch nicht der Erlass bzw. die Wiederholung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes in Rede.
352. Das Vorhaben der Kläger ist ferner als genehmigungspflichtige Änderung einer bestehenden Betriebsanlage der Eisenbahn i. S. d. § 18 Abs. 1 Sätze 1 und 4 AEG zu qualifizieren.
36a) Der Planfeststellungsvorbehalt unterscheidet zwischen dem Neubau und der Änderung einer Bahnanlage. Ein Neubau liegt vor, wenn erstmals eine Bahnanlage hergestellt werden soll. Bei einer Änderung ist dagegen bereits eine Bahnanlage (Altanlage) – entweder tatsächlich oder zumindest planungsrechtlich – vorhanden, die lediglich baulich umgestaltet oder erweitert werden soll. Im Rahmen der Abgrenzung zwischen Neubau und Änderung ist zu prüfen, ob auch angesichts der zum Bestand neu hinzukommenden Anlage(n) noch die Identität mit der Altanlage gewahrt bleibt oder ob eine nach Gegenstand, Art und Betriebsweise im Wesentlichen andersartige Anlage hinzugekommen ist. Maßgeblicher Bezugspunkt der Vergleichsbetrachtung hinsichtlich der Anlagenänderung ist dabei der bisher erreichte planungsrechtliche Bestand („Gestattungszustand“).
37Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 1992 - 7 C 18.91 -, juris, Rn. 13; Vallendar, in: Hermes/Sellner, Beck’scher AEG Kommentar, 2. Auflage 2014, § 18 Rn. 75 f., m. w. N.
38Nach diesen Maßgaben handelt es sich bei dem Vorhaben der Klägerin um die Änderung einer bereits planungsrechtlich genehmigten Bestandsanlage und nicht um deren (erstmalige) Neuerrichtung. Der vorhandene Container mit einer Verkaufsfläche von 17 m² soll zwar vollständig beseitigt und durch einen neuen, mit 65 m² deutlich größeren Verkaufspavillon ersetzt werden, dessen äußeres Erscheinungsbild sich nach den Angaben der Klägerin im Verwaltungsverfahren ebenfalls von dem bisherigen Pavillon unterscheiden soll. Darauf kommt es nach den oben genannten Kriterien für eine Vergleichsbetrachtung allerdings nicht entscheidend an. Denn die maßgebliche Identität zwischen der Altanlage und der zur Genehmigung gestellten neuen Anlage in Bezug auf den mit der ursprünglichen Plangenehmigung festgesetzten Nutzungszweck wird gewahrt. Der Gegenstand der Anlage, nämlich der Verkauf von Kioskbedarf im weiteren Sinne einschließlich warmer und kalter Speisen/Getränke an Reisende/Umsteigende zwecks Deckung des Reisebedarfs bleibt derselbe, ebenso wie der Standort unmittelbar neben dem Bahngleis. Auch die Art der Anlage, ein Verkaufspavillon, ändert sich nicht. Die Betriebsweise in Form des direkten Verkaufs von Kioskbedarf zur Mitnahme durch die Reisenden – anstatt etwa eines Imbissbetriebs mit Sitzgelegenheiten vor Ort – ändert sich ebenfalls nicht, auch wenn der neue Verkaufspavillon ein deutlich erweitertes Warensortiment führen soll.
39b) Es handelt sich bei dem Vorhaben der Klägerin ferner um eine genehmigungspflichtige Änderung im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 4 AEG. Danach liegt nur dann eine Änderung im Sinne von § 18 Abs. 1 Satz 1 AEG vor, wenn im Fall der Erneuerung einer bestehenden Betriebsanlage der Eisenbahn der Grundriss der Anlage wesentlich geändert wird. Eine solche wesentliche Änderung des Grundrisses der bestehenden Betriebsanlage ist aufgrund der geplanten (fast) Vervierfachung der Verkaufsfläche von 17 m² auf 65 m² gegeben.
40Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
41Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Sätze 1 und 2 ZPO.
42Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).
3Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die dargelegten Gründe. Diese Gründe rechtfertigen es nicht, dem Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO unter Änderung des angefochtenen Beschlusses stattzugeben. Das Verwaltungsgericht hat einen Anordnungsanspruch zu Recht verneint. Die Antragstellerin hat auch im Beschwerdeverfahren nicht glaubhaft gemacht, dass sie die Zurückstellung ihres am 25. Juli 2014 geborenen Sohnes K. N. vom Schulbesuch beanspruchen kann.
4Nach § 35 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW können schulpflichtige Kinder aus erheblichen gesundheitlichen Gründen für ein Jahr zurückgestellt werden. Das Vorliegen solcher Gründe hat die Antragstellerin auch mit ihrem Beschwerdevorbringen nicht glaubhaft gemacht.
5Erheblich ist ein gesundheitlicher Grund, wenn er so schwerwiegend ist, dass er die Schulfähigkeit des Kindes nach dem Maßstab der Legaldefinition in § 35 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SchulG NRW ausschließt.
6Kampmann, in: Schulgesetz NRW, Gesamtkommentar, Essen, Stand: August 2020, § 35, Anm. 3.2.
7Schulfähigkeit liegt nach § 35 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SchulG NRW vor, wenn das Kind die für den Schulbesuch erforderlichen körperlichen und geistigen Voraussetzungen besitzt und in seinem sozialen Verhalten ausreichend entwickelt ist. Da § 35 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW lediglich auf gesundheitliche Gründe abstellt, kommt es auf die ausreichende Entwicklung des Kindes in seinem sozialen Verhalten nicht an. Ein erheblicher Grund, der eine Zurückstellung zu rechtfertigen vermag, kann mithin nur vorliegen, wenn das Kind die für den Schulbesuch erforderlichen körperlichen oder geistigen Voraussetzungen nicht besitzt.
8OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2017 ‑ 19 B 958/17 ‑, juris, Rn. 3 ff.
9Gesundheitliche Gründe, die auf einer Behinderung oder einer Lern- oder Entwicklungsstörung beruhen, können im Übrigen nur dann „erheblich“ sein und zu einer Zurückstellung führen, wenn selbst mit der intensiven sonderpädagogischen Förderung an einer Förderschule ein Schulbesuch nicht möglich ist.
10OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2017 ‑ 19 B 958/17 ‑, juris, Rn. 6.
11Davon ausgehend ergibt sich auch aus dem Beschwerdevorbringen nicht, dass hier entgegen der Würdigung des Verwaltungsgerichts erhebliche gesundheitliche Gründe i. S. v. § 35 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW für den Sohn der Antragstellerin vorliegen.
12Die von der Antragstellerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen von Frau Dr. F. vom 28. April 2020, 5. Juni 2020 und 13. August 2020, das Schreiben von Frau Dipl.-Päd. C. vom 20. Juli 2020 und die schulärztlichen Gutachten von Frau Dipl.-Med. W. vom 25. Februar 2020 und Frau Dr. S. vom 20. Juli 2020 bescheinigen übereinstimmend Defizite in der psychosozialen bzw. sozio-emotionalen Entwicklung des Sohnes der Antragstellerin. Dagegen lässt sich keinem der vorgelegten Berichte und Bescheinigungen entnehmen, dass der Sohn der Antragstellerin nicht die für den Schulbesuch erforderlichen körperlichen oder geistigen Voraussetzungen besitzt. Dies wird auch von der Antragstellerin nicht geltend gemacht. Erhebliche gesundheitliche Gründe i. S. v. § 35 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW, die eine Zurückstellung zu rechtfertigen vermögen, liegen demnach bereits nach dem eigenen Vorbringen der Antragstellerin nicht vor. Die Antragstellerin geht vielmehr von einem falschen rechtlichen Maßstab aus, wenn sie darauf abstellt, dass eine mangelnde Schulfähigkeit i. S. v. § 35 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SchulG NRW dargetan und glaubhaft gemacht sei.
13Die von Frau Dr. F. formulierte Besorgnis, die Schulsituation könne den Sohn der Antragstellerin überfordern und so zu einer Schädigung seiner seelischen Gesundheit führen, begründet keinen erheblichen gesundheitlichen Grund i. S. v. § 35 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW. Die gesetzliche Regelung des § 35 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW geht davon aus, dass schulpflichtige Kinder, die in ihrem sozialen Verhalten noch nicht ausreichend entwickelt sind, diese Entwicklung am besten in der Schule nachholen können. Die Schuleingangsphase ist darauf ausgelegt, eine Überforderung der Kinder zu vermeiden. In der Bescheinigung von Frau Dr. F. vom 13. August 2020 wird im Übrigen nur allgemein die Gefahr einer möglichen Überforderung beschrieben, aber nicht dargelegt, aus welchem Grund die Entwicklungsdefizite im Fall des Sohnes der Antragstellerin nicht in der Schule aufgeholt werden könnten. Die Feststellung in dem schulärztlichen Gutachten vom 20. Juli 2020, dass die Aufnahme in die Grundschule aus ärztlicher Sicht empfehlenswert sei, weil die sozial-emotionale Retardierung einer Förderung in der Gleichaltrigengruppe bedürfe, um entsprechende Fähigkeiten zu entwickeln, wird dadurch nicht substantiiert in Frage gestellt.
14Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
15Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
16Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
1T a t b e s t a n d
2Streitig ist, ob Erlöse aus dem Verkauf von Gutscheinen als Entgelt für eine steuerbare Leistung des Klägers der Umsatzbesteuerung unterliegen.
3Der Kläger, der in den Streitjahren seine Umsätze nach vereinbarten Entgelten versteuerte, betrieb seit 2008 ein Internetportal (www. … .de). Auf diesem präsentierte er verschiedene Freizeiterlebnisse, die gebucht und in Anspruch genommen werden konnten. Dies setzte jeweils den Erwerb eines Gutscheins voraus (vgl. § … der AGB, Bl. 15 der Gerichtsakte). Die Gutscheine wurden vom Kläger im eigenen Namen und für eigene Rechnung über sein Internetportal verkauft. Zielgruppe des Klägers waren in erster Linie Personen, die ein Geschenk in Form eines besonderen Erlebnisses machen, die endgültige Auswahl des Geschenks aber dem Beschenkten überlassen wollten. Es konnten zum einen Gutscheine für ein konkret ausgewähltes Erlebnis (sog. Erlebnisgutscheine, vgl. Nr. … der Hilfshinweise, Bl. 18 der Gerichtsakte) erworben werden. In diesem Fall reichte bereits der für den Gutschein gezahlte Preis zur Inanspruchnahme des ausgewählten Erlebnisses. Weitere Zahlungen waren für die Inanspruchnahme des Erlebnisses grundsätzlich nicht zu leisten. Zum anderen konnten Gutscheine über einen zu bestimmenden Geldbetrag mit der Möglichkeit, das konkrete Erlebnis später auszuwählen (sog. Wertgutscheine, vgl. Nr. … und Nr. … der Hilfshinweise, Bl. 18R f. der Gerichtsakte), erworben werden. Dem Erwerber eines Erlebnisgutscheins wurden mit Übersendung des Gutscheins alle erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt, um in weiteren Schritten einen Termin für die Inanspruchnahme des ausgewählten Erlebnisses zu vereinbaren (vgl. Nr. … der Hilfshinweise, Bl. 18R der Gerichtsakte). Im Fall des Erwerbs eines sog. Wertgutscheins erhielt der Gutscheininhaber diese Informationen vom Kläger, nachdem er unter Einlösung des Gutscheins ein konkretes Erlebnis ausgewählt hatte. Soweit das gewählte Erlebnis günstiger als der Betrag des verwendeten Gutscheins war, wurde dem Gutscheininhaber der Restbetrag gutgeschrieben. Soweit der Wert des Gutscheins nicht ausreichte, hatte er den Differenzbetrag zu begleichen (vgl. Nr. … der Hilfshinweise, Bl. 18R der Gerichtsakte). Es bestand darüber hinaus die Möglichkeit, erworbene Erlebnisgutscheine umzutauschen und ein anderes Erlebnis als das zunächst ausgewählte Erlebnis in Anspruch zu nehmen (vgl. § … der AGB, Bl. 17 der Gerichtsakte) oder mehrere Wertgutscheine für ein Erlebnis einzulösen (vgl. Nr. … der Hilfshinweise, Bl. 18R der Gerichtsakte).
4Den auf seiner Homepage präsentierten Erlebnissen lagen Vereinbarungen mit den jeweiligen Veranstaltern („…“) zugrunde. Danach stellten diese die vom Kläger zur Präsentation auf seinem Internetportal benötigten Informationen zur Verfügung. Für den Fall der Inanspruchnahme der Erlebnisleistung durch einen Gutscheininhaber vereinbarten der Kläger und der jeweilige Veranstalter, dass der Kläger dem Veranstalter über den für einen Erlebnisgutschein gezahlten Preis oder aber im Fall von verwendeten sog. Wertgutscheinen den für ein Erlebnis veranschlagten Preis abzgl. einer vereinbarten Vermittlungsprovision, in der Regel um die 30% (vgl. § … bzw. § … der exemplarisch eingereichten Vereinbarungen, Bl. 21R, 24R der Gerichtsakte), eine Gutschrift ausstellt und den Betrag auszahlt. Die „Vermittlungsprovision“ rechnete der Kläger dabei gegenüber den Veranstaltern unter Ausweis von Umsatzsteuer in der Gutschrift ab. Der jeweilige Veranstalter konnte die Abrechnung samt Ausstellung der Gutschrift und die Auszahlung des Betrages über ein vom Kläger hierfür zur Verfügung gestelltes Online-Abrechnungssystem veranlassen. Dabei hatte der Veranstalter u.a. eine auf dem Gutschein vermerkte Referenznummer unter seinem Account einzutragen (vgl. § … bzw. § … der exemplarisch eingereichten Vereinbarungen, Bl. 21R, 24R der Gerichtsakte).
5Wegen der weiteren Einzelheiten zum Abrechnungsprozess zwischen dem Kläger und den Veranstaltern wird auf die im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 24.09.2020 vom Kläger eingereichten Ausdrucke Bezug genommen. Darüber hinaus wird wegen der weiteren Einzelheiten zu den Abläufen und Vereinbarungen auf die vom Kläger eingereichten AGB, die Hilfshinweise sowie die exemplarischen Vereinbarungen mit den Veranstaltern Bezug genommen (Bl. 15 ff. der Gerichtsakte).
6Bis zum 31.03.2013 erteilte der Kläger den Erwerbern der Gutscheine Rechnungen mit, seit dem 01.04.2013 ohne gesonderten Umsatzsteuerausweis (vgl. Bericht vom 16.08.2017 über die Umsatzsteuer-Nachschau, Bl. 23 der Betriebsprüfungsakte). Der Kläger behandelte die Zahlungen der Gutscheinerwerber in den Streitjahren nicht als Entgelte für einen steuerbaren Umsatz, sondern nur die den Veranstaltern in Rechnung gestellten Beträge sowie den von den Gutscheinerwerbern gesondert vergüteten Versand der Gutscheine. Der Betrieb des Internetportals wird seit dem 01.07.2014 von der neu gegründeten F GmbH fortgeführt.
7Mit Beginn am 21.03.2017 führte der Beklagte bei dem Kläger für die Jahre 2013 bis 2015 eine Betriebsprüfung durch. Dabei traf die Prüferin folgende Feststellungen: Der Kläger habe mit dem Verkauf der Gutscheine gegenüber den Erwerbern eine sonstige Leistung erbracht. Der Kunde erhalte die Möglichkeit, mithilfe des Gutscheins und der Veranstalterdaten die Erlebnisse zu nutzen. Für diese Leistung erhalte der Kläger die Zahlungen der Gutscheinerwerber als Gegenleistung. Diese unterlägen der Umsatzbesteuerung. Die Zahlungen des Klägers an die Veranstalter im Fall eines eingelösten Gutscheins führe dann zu einer Minderung des mit dem Verkauf erzielten Umsatzes nach § 17 Umsatzsteuergesetz (UStG). Ca. 40% der Gutscheine seien endgültig nicht eingelöst worden. Der Kläger habe in 2013 Erlöse aus dem Verkauf der Gutscheine i.H.v. brutto xxx € (netto xxx €) und in 2014 i.H.v. brutto xxx € (netto xxx €) erzielt. Diese Umsätze seien jeweils um die geleisteten Zahlungen an die Veranstalter zu mindern (2013: xxx €; 2014: xxx €). Danach sei die Umsatzsteuer 2013 um xxx € und die Umsatzsteuer 2014 um xxx € zu erhöhen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Betriebsprüfungsbericht vom 16.05.2017 (Bl. 26 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen.
8Der Beklagte folgte den Feststellungen der Prüferin und setzte jeweils mit nach § 164 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) geänderten Umsatzsteuerbescheiden vom 10.07.2017 die Umsatzsteuer 2013 auf xxx € und die Umsatzsteuer 2014 auf xxx € fest. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde jeweils aufgehoben. Gegen beide Bescheide legte der Kläger Einspruch ein und begehrte, die aus dem Verkauf der Gutscheine erzielten Erlöse als nicht umsatzsteuerbar zu behandeln. Das Einspruchsverfahren ruhte zunächst wegen eines beim Finanzgericht Münster unter dem Az. 5 K 359/16 zwischen den Beteiligten in der gleichen Rechtsfrage die Umsatzsteuer 2012 betreffend geführten Klageverfahrens. Die Klage wurde mit Urteil vom 09.01.2018 abgewiesen, ohne dass über die Frage der Steuerbarkeit der Erlöse aus dem Gutscheinverkauf vom Gericht zu entscheiden war. Nach der Entscheidung habe der Kläger die festgesetzte Umsatzsteuer zumindest nach § 14c UStG geschuldet, denn er habe die jeweilige Umsatzsteuer in den Rechnungen an die Gutscheinerwerber offen ausgewiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil vom 09.01.2018 (Az. 5 K 359/16) Bezug genommen.
9Der Beklagte wies den Einspruch des Klägers mit seiner Entscheidung vom 03.04.2018 als unbegründet zurück. Der EuGH habe in der Rechtssache Astra Zeneca entschieden, dass die Ausgabe von Gutscheinen stets eine umsatzsteuerbare Dienstleistung sei. Der Kläger habe danach mit dem Verkauf der Gutscheine eine umsatzsteuerbare Leistung in Gestalt einer Erlebnisleistung an die Gutscheinerwerber erbracht. Durch diese habe der Gutscheinerwerber die Möglichkeit erhalten, im Zeitpunkt der Zahlung des Gutscheins mithilfe der vom Kläger übermittelten Veranstalterdaten die angebotenen Erlebnisse zu nutzen. Auf die Frage, ob und um welche Art eines Gutscheins es sich handele, komme es daher nicht weiter an. Der Kläger habe keine klassische Vermittlungstätigkeit erbracht, denn das Entgelt sei vom Gutscheinerwerber auch dann geleistet worden, wenn keine Erlebnisleistung in Anspruch genommen worden sei. Ort der Leistung sei der Unternehmenssitz des Klägers. Die Nichteinlösung führe zu keiner nachträglichen Minderung des mit dem Verkauf ausgeführten Umsatzes. Jedoch seien die Zahlungen an die Veranstalter für den Kläger eine nachträgliche Entgeltminderung. Hinsichtlich der bis zum 31.03.2013 ausgeführten Umsätze schulde der Kläger die Umsatzsteuer schon wegen des gesonderten Ausweises der Umsatzsteuer, wie das Finanzgericht Münster in seiner Entscheidung vom 09.01.2018 zu Recht festgestellt habe.
10Mit seiner am 07.05.2018 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
11Der Kläger trägt vor, dass die Gutscheine weder im Zeitpunkt ihrer Ausgabe noch im Zeitpunkt ihres Verfalls eine steuerbare Leistung seien. Die von ihm verkauften Gutscheine seien insgesamt Wertgutscheine. Der Erwerber erwerbe einen Anspruch auf Anerkennung des Gutscheins als Zahlungsmittel bei dem ausgewählten Veranstalter. Der Erwerber erwerbe hingegen keine konkret bezeichnete Ware oder Dienstleistung wie bei einem Waren- oder Sachgutschein. Im Ergebnis handele es sich um multifunktionale Gutscheine im Sinne der Richtlinie (EU) Richtlinie (EU) 2016/1065 des Rates vom 27. Juni 2016 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG hinsichtlich der Behandlung von Gutscheinen (Richtlinie (EU) 2016/1065). Die Behandlung seiner Tätigkeit gegenüber den Gutscheinerwerbern als nicht steuerbar sei auch mit der EuGH-Entscheidung in der Rs. Astra Zeneca vereinbar. Denn er, der Kläger, erhalte von den Gutscheinerwerbern keine Gegenleistung, sondern der Veranstalter des Erlebnisses, von dem der Gutschein letztlich als Zahlung akzeptiert werde, zahle für die mit seiner Tätigkeit bewirkte Absatzförderungsleistung eine Provision. Ferner sei das spätere EuGH-Urteil in der Rs. MacDonalds Resorts Ltd. zu beachten. So sei die spätere Erlebnisleistung zum Zeitpunkt des Verkaufs der Gutscheine noch zu unbestimmt. Der Gutscheinerwerb sei kein eigenständiges Ziel der Erwerber. Es handele sich vielmehr um einen Zwischenschritt für die Inanspruchnahme des späteren Erlebnisses. Erst bei Inanspruchnahme des Erlebnisses erhalte der Gutscheinerwerber die vorgesehene Gegenleistung.
12Er, der Kläger, werde umsatzsteuerlich allein als Vermittler für die Veranstalter und nicht für die Gutscheinerwerber tätig. Das Entgelt hierfür erhalte er von den Veranstaltern. Der Gutscheinerwerber tausche sein Geld nur gegen einen Wertgutschein ein, der wie Bargeld anzusehen sei. Dies übersehe der Beklagte, wenn dieser behaupte, dass er, der Kläger, gegenüber den Gutscheinerwerbern eine Erlebnisleistung erbringe, indem er die Kontaktdaten mitteile. Der Vertrag zwischen dem Veranstalter und dem einlösenden Gutscheininhaber werde auch erst nach Übermittlung der Kontaktdaten geschlossen. Bei Erwerb des Gutscheins bestünde demnach noch nicht die Möglichkeit, die Erlebnisse zu nutzen. Eine andere rechtliche Beurteilung ergebe sich auch nicht aus dem BFH-Urteil vom 08.09.2011 (V R 42/10). Die Zahlung der Gutscheinerwerber sei keine Anzahlung auf eine Vermittlungsleistung. Denn anders als im Urteilsfall sei die Leistung, für die der erworbene Gutschein verwendet werden würde, bei Verkauf des Gutscheins noch zu unbestimmt, um die Zahlung des Erwerbers als Anzahlung für eine Vermittlungsleistung zu besteuern.
13Er beantragt,
14die Umsatzsteuerbescheide 2013 und 2014, jeweils vom 10.07.2017 und in
15Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.04.2018, dahingehend zu
16ändern, dass die Umsatzsteuer 2013 um xxx € und die Umsatzsteuer
172014 um xxx € gemindert wird,
18hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.
19Der Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen,
21hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.
22Er nimmt zur Begründung Bezug auf seine Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, dass die Ausgabe der Gutscheine jeweils bereits eine steuerbare Leistung darstelle, denn der Erwerber erhalte dadurch die Möglichkeit, im Zeitpunkt der Zahlung des Gutscheins die Erlebnisse zu nutzen. Die Zahlung der Gutscheinerwerber sei hierfür das Entgelt. Diese Leistungsbeziehung sei unabhängig von der Leistungsbeziehung der jeweiligen Gutscheinerwerber und der Veranstalter.
23Der Senat hat die Gerichtsakte zu dem Verfahrens 5 K 359/16 beigezogen.
24Die Sache wurde am 17.09.2020 vor dem Senat mündlich verhandelt. Es wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
25E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
26I. Die Klage hat keinen Erfolg.
27Die Umsatzsteuerbescheide 2013 und 2014, jeweils vom 10.07.2017 und in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.04.2018, sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung – FGO).
281. Der Beklagte hat die Zahlungen der Gutscheinerwerber zu Recht als (Brutto‑)Entgelte für steuerbare Leistungen des Klägers behandelt.
29a) Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen der Umsatzsteuer u.a. die sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt.
30Nach ständiger Rechtsprechung muss dazu zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis bestehen, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte bestimmbare Dienstleistung bildet. Dies ist dann der Fall, wenn zwischen der erbrachten Dienstleistung und dem erhaltenen Gegenwert ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Der Leistungsempfänger muss identifizierbar sein. Er muss einen Vorteil erhalten, der zu einem Verbrauch i.S. des gemeinsamen Mehrwertsteuerrechts führt (BFH, Urteil vom 10.04.2019, XI R 4/17, BStBl II 2019, 635, Rn. 16 m.w.N.).
31Es bestimmt sich in erster Linie nach dem der Leistung zugrunde liegenden Rechtsverhältnis, ob eine Leistung des Unternehmers vorliegt, die derart mit der Zahlung verknüpft ist, dass sie sich auf die Erlangung einer Gegenleistung (Zahlung) richtet. Bei Leistungen aufgrund eines gegenseitigen Vertrags, durch den sich eine Vertragspartei zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen und die andere sich hierfür zur Zahlung einer Gegenleistung verpflichtet, sind die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG regelmäßig erfüllt, falls der leistende Vertragspartner Unternehmer ist (BFH, a.a.O., Rn. 17 m.w.N.)
32Ob die Voraussetzungen für einen Leistungsaustausch vorliegen, ist dabei nicht nach zivilrechtlichen, sondern ausschließlich nach den vom Unionsrecht geprägten umsatzsteuerrechtlichen Maßstäben zu beurteilen. Es stellt eine unionsrechtliche, unabhängig von der Beurteilung nach nationalem Recht zu entscheidende Frage dar, ob die Zahlung eines Entgelts als Gegenleistung für die Erbringung von Dienstleistungen erfolgt (BFH, a.a.O., Rn. 18 m.w.N.).
33b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erbrachte der Kläger mit dem Betrieb seines Internetportals an die Nutzer bzw. die Gutscheinerwerber jeweils insgesamt eine steuerbare Leistung gegen Entgelt.
34aa) Bei den mit dem Erwerb eines Gutscheins verbundenen und durch die Tätigkeit des Klägers erhaltenen Möglichkeiten und Rechten handelt es sich um verbrauchsfähige Vorteile. Der Kläger stellte mit dem Betrieb seines Internetportals eine Infrastruktur zur Verfügung, unter deren Nutzung seine Kunden die Möglichkeit hatten, die angebotenen Erlebnisse zu buchen und in Anspruch zu nehmen. Inhalt der Leistung des Klägers war nicht nur die Ausstellung der Gutscheine, sondern umfasste auch den vorangehenden sowie den nachfolgenden Prozess von Informationen und Präsentationen zu den angebotenen Erlebnissen über die Übermittlung der für die Vereinbarung eines Termins erforderlichen Kontaktdaten bis hin zur Durchführung und Organisation des Erlebnisses. Bereits mit dem Erwerb des Gutscheins erlangte der Kunde das Recht, diese Leistungen einzufordern (vgl. § … der AGB, Bl. 15 der Gerichtsakte; Nr. … und … der Hilfshinweise, Bl. 18R der Gerichtsakte).
35bb) Die im Zusammenhang mit dem Erwerb der Gutscheine geleisteten Zahlungen stellten ein Entgelt für die damit erlangten Möglichkeiten und Rechte dar. Sie beruhten auf den zwischen dem Kläger und dem jeweiligen Gutscheinerwerber geschlossenen Vertrag.
36cc) Die Tätigkeit des Klägers erschöpfte sich nicht darin, dass die von ihm ausgestellten Gutscheine von den Veranstaltern als vollständige oder teilweise Gegenleistung für die Organisation und Durchführung der jeweiligen Erlebnisleistung anzunehmen waren. Denn über den Erwerb der Gutscheine erlangten die Kunden des Klägers überhaupt erst Zugang zu den mit dem Internetportal des Klägers verbundenen Möglichkeiten, insbesondere zwischen den einzelnen Erlebnissen zu wählen, Termine hierfür zu vereinbaren und die Erlebnisleistungen in Anspruch zu nehmen. Der Betrieb des Internetportals diente auch nicht allein der Vermittlung der Leistungen der Veranstalter. So sind die aus der Leistungsbeziehung zu den Veranstaltern erzielten Erlöse deutlich geringer als die von den Gutscheinerwerbern insgesamt erlangten Zahlungen. Zwar mindern sich rein wirtschaftlich betrachtet die Erlöse aus dem Geschäft mit den Gutscheinerwerbern, soweit diese die angebotenen Erlebnisse in Anspruch nehmen. Denn dann hat der Kläger den aus dem Verkauf des Gutscheins erzielten Erlös zu verwenden, um diesen an den Veranstalter für die Organisation und Durchführung zu zahlen. Das (erfolgreiche) Geschäftsmodell des Klägers beruht aber u. a. darauf, dass seine Kunden zu einem großen Teil, in den Streitjahren ca. 40 %, zwar Gutscheine erwerben, die damit verbundenen Rechte und Möglichkeiten aber gar nicht bzw. nicht in vollem Umfang in Anspruch nehmen. Diese Gutscheinerwerber zahlen die vom Kläger verlangten Preise jedoch – zumindest aus ihrer Sicht – nicht für eine vom Kläger an die Veranstalter erbrachte Vertriebs- bzw. nicht erbrachte Vermittlungsleistung, sondern für die eigenen durch die Tätigkeit des Klägers erlangten o.g. Vorteile.
372. Dem Kläger sind umsatzsteuerlich die von den Veranstaltern ausgeführten Erlebnisleistungen zuzurechnen.
38a) Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG ist Unternehmer, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Unternehmer ist danach derjenige, der Leistungen gegen Entgelt i. S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG erbringt. Dabei kommt es grundsätzlich darauf an, wer als Unternehmer nach außen hin auftritt (vgl. hier nur BFH, Beschluss vom 29.01.2008, V B 201/06, BFH/NV 2008, 827; Beschluss vom 20.2.2001, V B 191/00, BFH/NV 2001, 1152).
39b) Der Kläger war nach den Umständen des Einzelfalls hinsichtlich der erbrachten Erlebnisleistungen gegenüber den Gutscheininhabern als leistender Unternehmer aufgetreten. Dafür sprechen die Organisationsleistungen des Klägers. Die jeweiligen Erlebnisse wurden auf seinem Internetportal angeboten und konnten nur auf diesem ausgewählt werden. Der Kläger hat die Wertgutscheine auf seiner Internetseite wie folgt beworben: „…“ (Bl. 108 der Bp-Handakte). Die Kontaktaufnahme zur Vereinbarung eines Termins erfolgte nur mithilfe der vom Kläger zur Verfügung gestellten Informationen. Der Zahlungsverkehr wurde über das von ihm bereitgestellte Portal abgewickelt. Der Kläger vereinnahmte sämtliche Zahlungen sowie Zuzahlungen über den eingelösten Gutschein hinaus und leistete seinerseits Zahlungen an die Veranstalter. Der vom jeweiligen Gutscheininhaber dem Veranstalter vor Ort ausgehändigte Gutschein diente in diesem System nur dem Kläger als Instrument zur Kontrolle und Abwicklung des Zahlungsverkehrs mit dem Veranstalter.
40Vor diesem Hintergrund ist es unschädlich, dass der Kläger sich in seinen AGB selbst nur als Vermittler der Erlebnisleistungen bezeichnet hat (§ … AGB, Bl. 15 der Gerichtsakte). Unabhängig davon, ob die AGB vom durchschnittlichen Kunden überhaupt gelesen wurden, ergaben diese hinsichtlich der Frage des leistenden Unternehmers kein eindeutiges Bild. Denn unmittelbar vor dem Hinweis auf seine vermeintliche bloße Vermittlerrolle gab der Kläger an, dass bereits die von ihm ausgestellten Gutscheine zur Durchführung des entsprechenden Erlebnisses beim jeweiligen Veranstalter berechtigten und nicht erst ein mit diesem noch abzuschließender Vertrag (§ … AGB, Bl. 15 der Gerichtsakte). Gegen eine bloße Vermittlerrolle des Klägers spricht auch, dass dieser den vollen Preis für eine Erlebnisleistung vereinnahmte und auch dann behielt, wenn keine Erlebnisleistung durchgeführt bzw. vermittelt wurde. Insoweit spricht auch für den Kläger als Leistungserbringer der durchgeführten Erlebnisleistungen, dass er in den AGB von „unseren“ Preisen und nicht von den Preisen der Veranstalter sprach (§…, Bl. 15R der Gerichtsakte) sowie die Wertgutscheine auf seiner Internetseite damit bewarb, dass diese „…“ konnten (vgl. Bl. 108 der Bp-Handakte). Für eine enge Verknüpfung der Person des Klägers mit der Erbringung der Erlebnisleistung spricht auch, dass der Gutscheinerwerber gegenüber dem Kläger vom Kaufvertrag zurücktreten konnte, sollte die Erlebnisleistung von der Beschreibung auf dem Internetportal des Klägers erheblich abweichen (§ … der AGB, Bl. 16 der Gerichtsakte).
41c) Die Veranstalter erbrachten vor diesem Hintergrund umsatzsteuerlich ihre (Erlebnis‑)Leistungen wiederum an den Kläger. Als Gegenleistung für die Organisation und Durchführung der Erlebnisleistung erhielten sie den von ihnen geforderten Preis. Im Gegenzug zahlten sie an den Kläger für dessen Vertriebsleistung einen Betrag von ca. 30% des Preises der jeweiligen Erlebnisleistung. Die sich gegenüberstehenden Zahlungsansprüche wurden vom Kläger miteinander verrechnet.
423. In Ansehung der danach bestandenen umsatzsteuerlichen Leistungsbeziehungen hat der Kläger grundsätzlich einen Vorsteueranspruch aus den Leistungen der Veranstalter der Erlebnisleistungen. Im Streitzeitraum scheitert dieser jedoch daran, dass die Veranstalter dem Kläger über ihre Leistungen keine ordnungsgemäßen Rechnungen erteilt haben (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG). Die Veranstalter können jedoch ihrerseits, soweit die weiteren Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG vorliegen, aus ihren Zahlungen an den Kläger für dessen Vertriebsleistungen aus den erteilten Gutschriften den Vorsteuerabzug in Anspruch nehmen.
43Danach hat der Beklagte die Zahlungen an die Veranstalter zu Unrecht gem. § 17 UStG als Minderung der aus der Tätigkeit des Klägers gegenüber den Gutscheinerwerbern erzielten Umsätze behandelt. Die Festsetzung eines höheren Umsatzsteuerbetrages durch das Gericht kommt wegen des Verböserungsverbots jedoch nicht in Betracht (vgl. hierzu nur Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 101 m.w.N.).
444. Ob sich nach den Grundsätzen der Art. 30a, 30b, 73a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) eine andere Lösung ergäbe, kann der Senat dahinstehen lassen. Die vorgenannten Richtlinienregelungen sind erst mit Wirkung ab den 01.01.2019 in das deutsche Recht übernommen worden (§ 27 Abs. 23 i. V. m. § 3 Abs. 13-15 UStG).
45II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
1T a t b e s t a n d
2Die Beteiligten streiten über die Ablehnung der Änderung sowie die Ablehnung der abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen der Einkommensteuerfestsetzung 2012. In der Sache geht es um die Höhe der Festsetzung eines fiktiven Veräußerungsgewinns nach § 6 Außensteuergesetz (AStG).
3Die Kläger sind Eheleute, die im Streitjahr 2012 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger hielt 50% der Gesellschaftsanteile an der X GmbH, die Anschaffungskosten der Anteile hatten x € betragen. Im Jahr 2012 zogen die Kläger von Deutschland nach Österreich um, der gemeine Wert der Anteile betrug im Zeitpunkt des Wegzugs unstreitig y €.
4Im Einkommensteuerbescheid 2012 vom 28.03.2014 (Bl. 92 f. der Einkommensteuerakte) setzte der Beklagte einen fiktiven Veräußerungsgewinn in Höhe von z € fest (y € - x €), wovon 40% nach dem Teileinkünfteverfahren gem. § 3 Nr. 40 Einkommensteuergesetz (EStG) als steuerfrei behandelt wurden. Der Beklagte stundete die festgesetzten Abgaben (Einkommensteuer, Kirchensteuer, Solidaritätszuschlag) nach § 6 Abs. 5 AStG zinslos und ohne Sicherheitsleistung.
5Mit notariellem Kaufvertrag vom 18.07.2016 (Bl. 9 ff. der Vertragsakte) veräußerte der Kläger die Anteile für xy € an einen Dritten. Der Kaufpreis war dabei in 121 Raten, beginnend am 01.01.2017, zu zahlen. Die Wertminderung der Anteile war betrieblich bedingt.
6Mit Bescheid vom 01.02.2017 widerrief der Beklagte gem. § 6 Abs. 5 Nr. 1 AStG die Stundung im Hinblick auf die Wegzugsteuer.
7Mit Schreiben vom 17.02.2017 (Bl. 95 der Einkommensteuerakte) beantragten die Kläger die Änderung des Einkommensteuerbescheids 2012 nach § 175 Abs. 1 Satz 2 Abgabenordnung (AO) und beantragten zugleich die Zuflussbesteuerung im Hinblick auf die Kaufpreisraten für die Anteile.
8Der Beklagte lehnte den Änderungsantrag mit Bescheid vom 03.03.2017 ab (Bl. 111 der Einkommensteuerakte).
9Hiergegen legten die Kläger am 21.03.2017 Einspruch ein (Bl. 127 der Einkommensteuerakte). Nach § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG sei der ursprüngliche Steuerbescheid 2012 zu ändern, weil der dort erfasste Vermögenszuwachs nicht erzielt worden sei. Ferner sei das Wahlrecht auf Zuflussbesteuerung, die Rentenzahlungen als nachträgliche Einkünfte aus Gewerbebetrieb nach § 17 EStG i.V.m. § 24 Nr. 2 EStG zu behandeln, anzuwenden (R 17 Abs. 7 Satz 2 EStR i.V.m. R 16 Abs. 11 EStR).
10Am 19.05.2017 beantragten die Kläger einen Teilerlass der Wegzugsabgaben nach §§ 163, 227 AO.
11Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 13.07.2017 ab (Bl. 25 R der Gerichtsakte, Bl. 123 der Einkommensteuerakte). Auch hiergegen legten die Kläger am 05.08.2017 Einspruch ein (Bl. 170 der Einkommensteuerakte). Zur Begründung trugen sie vor, dass die Regelungen über die Wegzugsbesteuerung zu einer unverhältnismäßig hohen Besteuerung führten, weil der Wert im Zeitpunkt der Veräußerung niedriger als im Zeitpunkt des Wegzugs sei. Der Kläger habe im Jahr 2016 keine Einkünfte erzielt, die in Österreich der Besteuerung unterlegen hätten. Da der Kläger lediglich Rentenbezüge erhalte, die nach dem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA)-Österreich in Deutschland zu besteuern seien, und gesundheitlich nicht mehr in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, gehe eine Berücksichtigung der Wertminderung durch Verlustvorträge in Österreich faktisch ins Leere. Auch liege eine persönliche Unbilligkeit vor. Zum Nachweis der Vermögensverhältnisse legten die Kläger eine Erklärung über die Feststellung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, Finanzübersichten, einen Grundbuchauszug und weitere Unterlagen vor, auf die wegen des Inhalts Bezug genommen wird (Bl. 176 der Einkommensteuerakte).
12Mit Einspruchsentscheidung vom 02.10.2017 (Bl. 2 R der Gerichtsakte, Bl. 189 der Einkommensteuerakte) wies der Beklagte die beiden Einsprüche der Kläger gemeinsam als unbegründet zurück.
13Eine Korrektur des Einkommensteuerbescheides 2012 nach § 6 Abs. 6 AStG i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 2 AO komme nicht in Betracht, da nicht alle Voraussetzungen des § 6 Abs. 6 AStG erfüllt seien. Zwar sei der Veräußerungsgewinn in 2016 niedriger als der Vermögenszuwachs nach § 6 Abs. 1 AStG und die Wertminderung sei auch betrieblich bedingt. Allerdings könne und müsse die Wertminderung im Zuzugsstaat berücksichtigt werden. Die Veräußerung im Jahr 2016 sei nach Art. 13 Abs. 5 DBA-Österreich in Österreich zu besteuern. Art. 13 Abs. 2 DBA-Österreich sei im Streitfall nicht einschlägig, da das Aktivvermögen der GmbH nicht überwiegend aus unbeweglichem Vermögen bestanden habe. Es sei insoweit nicht auf den Verkehrswert, sondern den Buchwert des Grundstücks abzustellen.
14Auch eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gem. § 163 AO komme nicht in Betracht. Eine sachliche Unbilligkeit liege nicht vor, denn der Gesetzgeber habe die Problematik des Auseinanderfallens des fiktiven Veräußerungsgewinns bei Wegzug und des tatsächlichen Veräußerungsgewinns bei Beendigung der Stundung in § 6 Abs. 6 AStG geregelt. Danach könne eine Berücksichtigung im Wegzugsstaat nur dann erfolgen, wenn eine Wertminderung bei der Einkommensbesteuerung durch den Zuzugsstaat (hier: Österreich) nicht berücksichtigt werde. Nach § 27 Abs. 6 Ziff. 1 Buchst. e österreichisches Einkommensteuergesetz (öEStG) i.V.m. Art. 13 Abs. 6 Satz 2 DBA-Österreich gelte der gemeine Wert in Höhe von y € als Anschaffungskosten. Es sei auch sachgerecht, dass der Veräußerungsverlust in Österreich anfalle, weil die Wertminderung der Anteile auf Zeiträume entfalle, in denen der Kläger in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig gewesen sei. Auch die Voraussetzungen einer persönlichen Unbilligkeit lägen nicht vor. Die vom Kläger eingereichten Unterlagen stellten bereits keine vollständige Darlegung der Einkommens- und Vermögenslage der Kläger dar. Insbesondere werde ein Schließfach angegeben, dessen Inhalt nicht offenbart werde. Darüber hinaus fehle es an einer Erklärung der Kläger, dass sie nur mit der bestätigenden Bank Geschäftsbeziehungen haben. Ferner sei nicht erkennbar, dass mit der Festsetzung der Steuer der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauerhaft nicht bestritten werden könne. Die offenbarten Vermögenswerte reichten zwar für die vollständige Tilgung der Steuerschuld nicht aus. Der Lebensunterhalt des Klägers sei aber durch die Unterhaltsverpflichtung der Klägerin gewährleistet, zudem werde das Existenzminimum des Klägers durch die Beachtung der gesetzlichen Pfändungsfreigrenzen gewährt.
15Mit ihrer am 28.10.2017 erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren gerichtlich weiter.
16Die Vorschrift des § 6 Abs. 6 AStG, die eine Überbesteuerung vermeiden wolle, laufe leer, wenn – wie vom Beklagten vertreten – jede möglich erscheinende Berücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat ausreichen würde, um deren Anwendung auszuschließen. Der Kläger beziehe eine Rente in Höhe von derzeit netto xz € und die Klägerin eine solche in Höhe von yz € netto, die nach dem DBA jeweils in Deutschland steuerpflichtig seien. Aus dem Anteilsveräußerungsgeschäft erhalte der Kläger monatliche Raten in Höhe von zz €, die – wenn eine Zuflussbesteuerung nicht greife – keine steuerpflichtigen Einkünfte darstellten.
17Jedenfalls sei die Steuer wegen unbilliger Härte zu erlassen. Es widerspreche der Besteuerung nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit und dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz –GG–), wenn der im Inland ansässige Bruder des Klägers, der den gleichen Sachverhalt verwirklicht habe, nur seinen tatsächlichen Veräußerungsgewinn nach § 17 EStG versteuern müsse und dabei zudem das Wahlrecht der Zuflussbesteuerung der Kaufpreisraten ausüben könne. Ferner verstoße die vom Finanzamt nicht berücksichtigte Wertminderung in den Anteilen in Anbetracht der Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber einem im Inland ansässigen Veräußerer auch gegen die durch Art. 49 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geschützte Niederlassungsfreiheit. Insoweit seien die Grundsätze der EuGH-Entscheidung „Jacob/Lassus“ auf den Streitfall anwendbar. Der Beklagte habe zudem die Bestimmung des Art. 13 Abs. 6 Satz 2 DBA-Österreich rechtsfehlerhaft angewendet. Der Vorschrift könne keine Verpflichtung des anderen Vertragsstaats (Österreich) entnommen werden, einen Anteilsveräußerungsgewinn tatsächlich besteuern zu müssen. Besteuere der andere Vertragsstaat (Österreich) nicht, so finde § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG Anwendung.
18Die Kläger beantragen,
19den Beklagten unter Aufhebung seines ablehnenden Bescheids vom 03.03.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.10.2017 zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 2012 vom 28.03.2014 nach den Vorschriften des § 6 Abs. 6 AStG i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 2 AO dahingehend zu ändern, dass der fiktive Veräußerungsgewinn gem. § 6 Abs. 1 i.V.m. § 17 EStG auf yy € herabgesetzt wird,
20hilfsweise, unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids des Beklagten vom 13.07.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.10.2017 den Beklagten zu verpflichten, die festgesetzte Einkommensteuer 2012 gem. § 163 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 227 AO insoweit aus sachlicher und persönlicher Billigkeit abweichend festzusetzen bzw. zu erlassen, als dass diese auf die Festsetzung eines fiktiven Veräußerungsgewinns gem. § 6 Abs. 1 i.V.m. § 17 EStG von mehr als yy € entfällt,
21hilfsweise das Verfahren nach § 74 FGO auszusetzen und dem EuGH nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorzulegen,
22hilfsweise, die Revision zuzulassen.
23Der Beklagte beantragt,
24 die Klage abzuweisen.
25hilfsweise, die Revision zuzulassen.
26Der Beklagte ist der Ansicht, der Begriff der Berücksichtigung in § 6 Abs. 6 AStG sei weit auszulegen, es reiche jedwede Berücksichtigung aus, um die Anwendung des § 6 Abs. 6 AStG auszuschließen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 6 Abs. 6 AStG trage der Steuerpflichtige die Feststellungslast dafür, dass die Wertminderung durch den Zuzugsstaat nicht berücksichtigt werde, d.h., dass nach den gesetzlichen Vorschriften des Zuzugsstaates der Veräußerungsgewinn nicht besteuert werde oder der Zuzugsstaat bei der Besteuerung des Veräußerungsgewinns die historischen Anschaffungskosten und nicht den Wertansatz nach § 6 AStG zugrunde gelegt habe. Hieraus könne abgeleitet werden, dass für die Frage, ob die nach dem Wegzug eingetretene Wertminderung durch den Zuzugsstaat berücksichtigt werde, auf dessen abstrakte steuerliche Regelungen abzustellen sei. Anderenfalls sei das dem Wegzugsstaat Deutschland zustehende Besteuerungsvolumen vom Erklärungsverhalten des Steuerpflichtigen im Ausland, von den nach dem Wegzug erzielten anderweitigen Einkünften oder von anderen steuerlichen Vorschriften des Zuzugsstaates, die in keinerlei Zusammenhang mit der maßgeblichen Anteilsveräußerung stünden, abhängig. Nach dem österreichischen Steuerrecht würden auch Substanzverluste berücksichtigt, so dass der Veräußerungsverlust im Rahmen der österreichischen Einkommensbesteuerung zu erfassen gewesen wäre. Nach herrschender Auffassung gelte eine Wertminderung bereits dann als berücksichtigt, wenn sie lediglich im Rahmen eines Verlustvortrags oder Verlustrücktrags Einzug in die Veranlagung im Zuzugsstaat finde. Auf die Frage, in welchem Umfang die auch nach dem Einkommensteuerrecht des Zuzugsstaates anzusetzende Wertminderung tatsächlich zu einer Reduzierung der dortigen Steuerbelastung führe, komme es nicht an. Ein derartiges Korrespondenzprinzip sei weder dem Gesetzeswortlaut noch der Gesetzesbegründung zu § 6 Abs. 6 AStG zu entnehmen. Anders als von den Klägern vertreten, werde durch die DBA-rechtliche Regelung die Anwendung des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG nicht generell ausgeschlossen. Zwar verpflichte Art. 13 Abs. 6 DBA-Österreich den Staat Österreich nicht zu einer Versteuerung der Wertveränderung nach Zuzug, sondern regele lediglich die Konditionen für eine solche Besteuerung. Die steuerliche Berücksichtigung des Gewinnes/Verlustes ergebe sich hingegen aus § 27 öEStG.
27Auch eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen scheide im Streitfall aus. Eine sachliche Unbilligkeit komme nicht in Frage, denn der Gesetzgeber lege für die Frage der Berücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat ausdrücklich die dortigen gesetzlichen Regelungen als Maßstab zugrunde und gerade nicht die sich im Einzelfall ergebenden steuerlichen Auswirkungen. Auch eine persönliche Unbilligkeit komme nicht in Betracht, da weder die Voraussetzungen einer Erlassbedürftigkeit noch einer Erlasswürdigkeit durch eine umfassende Darstellung der aktuellen wirtschaftlichen Situation substantiiert dargelegt worden seien. Zudem könne ggf. anteilig das Wertpapierdepot der Eheleute (Stand 09/2017: xx €) aufgelöst werden.
28Ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit liege ebenfalls nicht vor, da die Wertminderung der Anteile auch im grenzüberschreitenden Fall berücksichtigt werde. Entweder geschehe dies durch Berücksichtigung (ggf. durch Verlustvortrag) im Zuzugsstaat oder es finde § 6 Abs. 6 AStG Anwendung, so dass eine Korrektur des nach § 6 Abs. 1 AStG versteuerten Wertes unter Berücksichtigung des tatsächlichen Veräußerungspreises im Wegzugsstaat erfolge. Die Grundsätze der EuGH-Entscheidung „Jacob/Lassus“ seien nicht auf den Streitfall anwendbar, da diese Entscheidung zu einem Fall des Besteuerungsaufschubs ergangen sei. Im Streitfall handele es sich hingegen um einen Fall des Aufschubs der Steuereinziehung, für diesen Fall habe der EuGH einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit in der Entscheidung „National Grid Indus“ verneint.
29Mit Ausschlussfrist (Bl. 127 f. der Gerichtsakte) gemäß § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat der Berichterstatter die Kläger aufgefordert, bis zum 22.07.2020:
301. dem Gericht mitzuteilen, ob die Kläger für das Jahr 2016 (oder ggf. für ein anderes Jahr) in Österreich eine Steuererklärung abgegeben haben, in der sie die steuerliche Berücksichtigung des Verlusts aus der Veräußerung der Anteile an der Firma X GmbH geltend gemacht/beantragt haben und hierzu ggf. entsprechende Nachweise vorzulegen.
312. Sollte eine solche Erklärung abgegeben worden sein, wurde um Mitteilung gebeten, ob der Verlust berücksichtigt worden ist bzw. mit welcher Begründung eine Verlustberücksichtigung durch die österreichischen Steuerbehörden abgelehnt worden ist und hierzu entsprechende Nachweise vorzulegen.
32Die Kläger haben hierzu mit Schriftsatz vom 13.07.2020 (Bl. 133 der Gerichtsakte) mitgeteilt, dass sie in Österreich keine Steuererklärungen abgegeben haben, weil sie dazu nicht verpflichtet gewesen seien. Daher seien auch keine steuerlichen Verluste beantragt/berücksichtigt worden.
33In der Sache hat am 17.09.2020 eine mündliche Verhandlung vor dem Senat stattgefunden, auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
34E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
35Die Klage hat keinen Erfolg.
36Die Ablehnung der Änderung des Einkommensteuerbescheides 2012 vom 28.03.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.10.2017 ist nicht rechtswidrig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).
371. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Änderung gem. § 6 Abs. 6 AStG i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 2 AO.
38Gem. § 6 Abs. 1 AStG ist bei einer natürlichen Person, die insgesamt mindestens zehn Jahre nach § 1 Abs. 1 des EStG unbeschränkt steuerpflichtig war und deren unbeschränkte Steuerpflicht durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts endet, auf Anteile im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht § 17 EStG auch ohne Veräußerung anzuwenden, wenn im Übrigen für die Anteile zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind.
39Ist der Steuerpflichtige im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 3. Januar 1994 (ABl. EG Nr. L 1 S. 3), zuletzt geändert durch den Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 91/2007 vom 6. Juli 2007 (ABl. EU Nr. L 328 S. 40), in der jeweils geltenden Fassung anwendbar ist (Vertragsstaat des EWR-Abkommens), und unterliegt er nach der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht in einem dieser Staaten (Zuzugsstaat) einer der deutschen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht vergleichbaren Steuerpflicht, so ist die nach Absatz 1 geschuldete Steuer gem. § 6 Abs. 5 Satz 1 AStG zinslos und ohne Sicherheitsleistung zu stunden. Voraussetzung ist, dass die Amtshilfe und die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung der geschuldeten Steuer zwischen der Bundesrepublik Deutschland und diesem Staat gewährleistet sind.
40Die Stundung ist gem. § 6 Abs. 5 Satz 4 Nr. 1 AStG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für die Stundung nach den Sätzen 1 bis 3 nicht mehr vorliegen oder soweit der Steuerpflichtige oder sein Rechtsnachfolger im Sinne des Satzes 3 Nr. 1 Anteile veräußert oder verdeckt in eine Gesellschaft im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 des EStG einlegt oder einer der Tatbestände des § 17 Abs. 4 EStG erfüllt wird.
41Sowohl die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG als auch die Stundungsvoraussetzungen nach § 6 Abs. 5 Satz 1 AStG lagen im Jahr 2012, dem Jahr des Wegzugs von Deutschland nach Österreich, vor. Der Beklagte hat den fiktiven Veräußerungsgewinn gem. § 6 Abs. 1 AStG i.V.m. § 17 EStG im Jahr des Wegzugs zudem zutreffend ermittelt und berechnet, insoweit besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Im Streitjahr 2016 sind mit der Veräußerung der Anteile die Voraussetzungen für den Widerruf der Stundung gem. § 6 Abs. 5 Satz 4 Nr. 1 AStG eingetreten. Auch dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
42Eine Änderung des festgesetzten fiktiven Veräußerungsgewinns nach § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 2 AO scheidet jedoch aus.
43Gem. § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG ist, wenn im Fall des Absatzes 5 Satz 4 Nr. 1 AStG der Veräußerungsgewinn im Sinne des § 17 Abs. 2 EStG im Zeitpunkt der Beendigung der Stundung niedriger ist als der Vermögenszuwachs nach Absatz 1 und die Wertminderung bei der Einkommensbesteuerung durch den Zuzugsstaat nicht berücksichtigt wird, der Steuerbescheid insoweit aufzuheben oder zu ändern; § 175 Abs. 1 Satz 2 AO gilt entsprechend. Dies gilt nur, soweit der Steuerpflichtige nachweist, dass die Wertminderung betrieblich veranlasst ist und nicht auf eine gesellschaftsrechtliche Maßnahme, insbesondere eine Gewinnausschüttung, zurückzuführen ist (§ 6 Abs. 6 Satz 2 AStG). Die Wertminderung ist höchstens im Umfang des Vermögenszuwachses nach Absatz 1 zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 6 Satz 3 AStG).
44Im Streitfall liegen die Voraussetzungen des § 6 Abs. 6 AStG nicht vor. Zwar ist der Veräußerungsgewinn im Streitfall niedriger als der Vermögenszuwachs im Sinne des § 6 Abs. 1 AStG und die Wertminderung ist auch – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – betrieblich veranlasst.
45Allerdings haben die Kläger, die insoweit die Feststellungslast tragen, nicht dargelegt und nachgewiesen, dass die Wertminderung bei der Einkommensbesteuerung durch den Zuzugsstaat Österreich nicht berücksichtigt worden ist.
46a) Nach Auffassung des Senates ist § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG dahingehend auszulegen, dass jedenfalls eine Berücksichtigung des Verlustes im Zuzugsstaat erfolglos beantragt worden sein muss (vgl. Strunk/Kaminski, in: Strunk/Kaminski/Köhler, AStG, § 6 Rdn. 300.1: Steuerpflichtiger sollte gegenüber der deutschen Finanzverwaltung darlegen, dass er alle Maßnahmen zur Berücksichtigung eines Verlusts im Ausland vorgenommen hat).
47aa) Hierfür spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift, denn nur dann, wenn der Zuzugsstaat Kenntnis vom Verlust erlangt hat, kann er eine Entscheidung darüber treffen, ob er den Verlust „bei der Einkommensbesteuerung berücksichtigt“. Eine Berücksichtigung unbekannter Tatsachen im Rahmen der Einkommensbesteuerung scheidet schon denklogisch aus.
48bb) Auch die historische Auslegung spricht für dieses Normverständnis, da nach der Gesetzesbegründung der Steuerpflichtige die Feststellungslast dafür trägt, dass die Wertminderung durch den Zuzugsstaat nicht berücksichtigt wird, d.h., dass nach den gesetzlichen Vorschriften des Zuzugsstaates der Veräußerungsgewinn nicht besteuert wird oder dass dieser Staat bei der Besteuerung des Veräußerungsgewinns die historischen Anschaffungskosten und nicht den Wertansatz der Besteuerung nach § 6 AStG durch die Bundesrepublik Deutschland zugrunde gelegt hat (BT-Drucks. 16/2710, S. 54). Nach der Gesetzesbegründung verlangt der Gesetzgeber damit sogar weitergehend – über eine Beantragung der Verlustberücksichtigung hinaus – den Nachweis durch den Steuerpflichtigen, dass die Verlustberücksichtigung im Zuzugsstaat rechtlich nicht möglich ist. Diesen Nachweis haben die Kläger nicht erbracht. Vielmehr besteht zwischen den Beteiligten kein Streit darüber, dass die Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen mit Verlust in Österreich steuerwirksam ist. Auch der Senat hat hieran keine Zweifel zumal in Österreich seit dem Jahr 2012 Substanzverluste auch im Bereich der Einkünfte aus Kapitalvermögen steuerlich berücksichtigt werden (EStR Österreich: Tz. 20.1.1.2: Stand 14.05.2019).
49cc) Bei einem anderen Verständnis würde die Regelung des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG zudem ihren Ausnahmecharakter verlieren und letztlich ein Wahlrecht des Klägers hinsichtlich der Berücksichtigung des Verlusts im Inland oder Ausland eröffnen, was dem Sinn und Zweck der Regelung widersprechen würde.
50dd) Es kann deshalb im Streitfall dahinstehen, ob eine Anwendung des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG dann zu erfolgen hat, wenn der Zuzugsstaat eine Berücksichtigung zu Unrecht abgelehnt hat (für die Unerheblichkeit des Grundes der Nichtberücksichtigung des Verlustes: Kraft, IStR 2018, 289, 293).
51Die Kläger haben trotz der Ihnen vom Berichterstatter gesetzten Ausschlussfrist nicht dargelegt und nachgewiesen, dass sie die Anerkennung eines Verlustes im Rahmen ihrer österreichischen Einkommensteuererklärung angegeben haben und die Berücksichtigung gleichwohl durch die österreichischen Steuerbehörden abgelehnt worden ist. Selbst wenn – wegen der aus Deutschland bezogenen Renteneinkünfte – in Österreich kein Fall der Pflichtveranlagung bestanden haben sollte, hindert dies die Kläger nicht daran, negative Einkünfte in Österreich zu erklären, um einen entsprechenden Verlustvortrag geltend zu machen. Die Bescheinigung des Finanzamts C (Österreich) vom 02.08.2017 (Bl. 28 der Gerichtsakte), nach der der Kläger im Jahr 2016 im Ansässigkeitsstaat Österreich keine steuerpflichtigen Einkünfte erzielt hat, sagt nichts darüber aus, ob der Kläger die Berücksichtigung des Veräußerungsverlustes beantragt hat und die österreichischen Finanzbehörden daraufhin eine Verlustberücksichtigung abgelehnt haben. Die Kläger haben vielmehr selbst erklärt, in Österreich keine Einkommensteuer-/Feststellungserklärung abgegeben zu haben.
52b) Einer Berücksichtigung steht im Streitfall auch nicht entgegen, dass der Kläger bzw. die Kläger im Veräußerungsjahr 2016 und möglicherweise auch in der Zukunft nur Renteneinkünfte aus Deutschland erzielt haben bzw. erzielen, die in Österreich nicht der Besteuerung unterliegen.
53aa) Der Begriff der „Berücksichtigung der Wertminderung“ ist dabei in qualitativer Hinsicht weit auszulegen. Eine Berücksichtigung ist nach zutreffender Auffassung aufgrund des weiten Wortlauts der Norm insbesondere auch schon dann gegeben, wenn diese im Rahmen eines Verlustvortrags erfolgt (Strunk/Kaminski, in: Strunk/Kaminski/Köhler, AStG, § 6 Rdn. 300.1; Häck, in: Flick/Wassermeyer/Baumhoff, AStG, § 6 Rdn. 633).
54Dabei ist nach Auffassung des Senates nach dem Wortlaut der Norm auch die abstrakte Möglichkeit der Verlustnutzung ausreichend, eine konkrete/tatsächliche Minderung anderer Einkünfte in späteren Veranlagungszeiträumen durch vollständige Nutzung/Aufbrauchen des Verlustvortrages ist nicht erforderlich.
55Für diese Auslegung spricht, dass eine vollständige wirtschaftliche Kompensation der durch einen Gewinn in Deutschland ausgelösten Steuer durch eine Verlustberücksichtigung im Ausland selbst bei Zugrundelegung des fiktiven Veräußerungswertes als Anschaffungskosten bereits wegen des Bestehens von Steuersatzunterschieden und Besteuerungsverfahren (z.B. Teileinkünfteverfahren in Deutschland) im In- und Ausland nicht stattfindet (vgl. zu weiteren Unterschieden: Häck, in: Flick/Wassermeyer/Baumhoff, AStG, § 6 Rdn. 634). Dies war auch dem Gesetzgeber bewusst.
56Selbst wenn man aber – wie von den Klägern vertreten – entgegen der Auffassung des Senates davon ausginge, dass eine „Berücksichtigung der Wertminderung“ eine konkrete Verlustberücksichtigung durch Aufbrauchen des Verlustvortrags voraussetzt, so obläge den Klägern insoweit die Feststellungslast, dass eine solche Berücksichtigung endgültig ausgeschlossen ist. Da Verluste in Österreich grundsätzlich jedenfalls seit dem Jahr 2016 zeitlich unbeschränkt vorgetragen werden können (https://www.bmf.gv.at/themen/steuern/fuer-unternehmen/einkommensteuer/verlustverwertung.html), liegt diese Voraussetzung bis heute nicht vor, da die Höhe der zukünftigen Einkünfte der Kläger in Österreich nicht (abschließend) feststeht.
57bb) Die Streifrage, ob in quantitativer Hinsicht jede (auch nur geringfügige) Berücksichtigung des Verlustes nach Art eines „Alles-oder-Nichts-Prinzips“ schädlich ist oder ob der Gesetzgeber bei einer nur teilweisen Berücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat nur „insoweit“ anteilig eine Sperrwirkung für eine Berücksichtigung der Wertminderung in Deutschland annehmen wollte (hierzu Häck, in: Flick/Wassermeyer/Baumhoff, AStG, § 6 Rdn. 633), kann im Streitfall dahinstehen.
58Auch insoweit hätte es den Klägern zunächst oblegen, die Verlustberücksichtigung in Österreich zu beantragen. Ohne einen solchen Antrag lässt sich nicht beurteilen, ob Österreich den Verlust ganz oder teilweise anerkannt/berücksichtigt hätte. Es bestehen überdies keine Anhaltspunkte dafür, dass Österreich den Verlust nur anteilig berücksichtigt hätte. Vielmehr ist Österreich wegen der Regelung in Art. 13 Abs. 6 Satz 2 DBA-Österreich an den Wert nach § 6 Abs. 1 AStG als Anschaffungskosten gebunden, so dass grundsätzlich von einer vollen Verlustberücksichtigung auszugehen ist.
59c) Es liegt auch kein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) vor, da die Wertminderung der Anteile auch im grenzüberschreitenden Fall berücksichtigt wird. Entweder geschieht dies durch Berücksichtigung (ggf. im Wege des Verlustvortrags) im Zuzugsstaat oder es findet – wenn der Zuzugsstaat die Wertminderung nicht berücksichtigt – § 6 Abs. 6 AStG Anwendung, so dass eine Korrektur des nach § 6 Abs. 1 AStG versteuerten Wertes unter Berücksichtigung des tatsächlichen Veräußerungspreises im Wegzugsstaat erfolgt.
60Entgegen der Auffassung der Kläger sind auch nicht die Grundsätze der EuGH-Entscheidung „Jacob/Lassus“ (EuGH, Urt. vom 22.03.2018 – C-327/16 und C-421/16, BFH/NV 2018, 590) auf den Streitfall übertragbar, da dieser Fall einen Besteuerungsaufschub betraf. Die Regelung des § 6 AStG bewirkt hingegen einen Aufschub der Steuereinziehung, da die Steuer endgültig festgesetzt und lediglich gestundet wird. Für die Fälle des Aufschubs der Steuereinziehung hat der EuGH aber entschieden, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach der Betrag der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen einer Gesellschaft endgültig – ohne Berücksichtigung möglicherweise später eintretender Wertminderungen oder Wertzuwächse – zu dem Zeitpunkt festgesetzt wird, zu dem die Gesellschaft aufgrund der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat aufhört, in dem ersten Mitgliedstaat steuerpflichtige Gewinne zu erzielen (EuGH, Urt. vom 29.11.2011 – C-371/10, HFR 2012, 226 „National Grid Indus“). Die eventuelle Nichtberücksichtigung der Wertminderung durch den Aufnahmemitgliedstaat verpflichtet den Herkunftsmitgliedstaat danach nicht, zum Zeitpunkt der Realisierung der betreffenden Vermögenswerte eine Steuerschuld neu zu bewerten, die zum Zeitpunkt, zu dem die Steuerpflichtigkeit der betreffenden Gesellschaft im Herkunftsmitgliedstaat aufgrund der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes endete, endgültig bestimmt wurde (EuGH, Urt. vom 29.11.2011 – C-371/10, HFR 2012, 226 „National Grid Indus“ Rdn. 62). Diese vorstehende dargestellte Differenzierung zwischen Besteuerungsaufschub und Aufschub der Steuereinziehung hat der EuGH in der Entscheidung „Jacob/Lassus“ (EuGH, Urt. vom 22.03.2018 – C-327/16 und C-421/16, BFH/NV 2018, 590, Rdn. 82) auch ausdrücklich nochmals betont.
61d) Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Änderung der Festsetzung des fiktiven Veräußerungsgewinns wegen der Wahl der Zuflussbesteuerung.
62Ein Wahlrecht zwischen Sofort- und Zuflussbesteuerung hinsichtlich der Besteuerung von wiederkehrenden Bezügen entsprechend R 17 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. R 16 Abs. 11 EStR (vgl. hierzu Schmidt, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 17 Rdn. 182) findet im Rahmen der Wegzugsbesteuerung gem. § 6 AStG keine Anwendung. Hintergrund der Wegzugsbesteuerung ist es, dass nach Wegzug aus Deutschland das Besteuerungsrecht nach dem DBA grundsätzlich in voller Höhe dem Zuzugsstaat (Österreich) zusteht (Art. 13 Abs. 5 DBA-Österreich). Um dem zu begegnen, wird das Besteuerungsrecht hinsichtlich der bis zum Wegzug entstandenen stillen Reserven durch § 6 AStG dem Wegzugsstaat zugeordnet (vgl. Kraft, in: Kraft, AStG, § 6 Rdn. 17). Die Besteuerung gem. § 6 AStG knüpft gerade nicht an die tatsächliche Entstehung eines Veräußerungsgewinns oder dessen Zufluss an. Es wird vielmehr ohne tatsächliche Veräußerung und ohne tatsächlichen Zufluss ein fiktiver Veräußerungsgewinn (Vermögenszuwachs) besteuert (vgl. Kraft, in: Kraft, AStG, § 6 Rdn. 291). Es kann deshalb dahinstehen, ob dem Kläger wegen der Ratenzahlung des Kaufpreises und einer ggf. erforderlichen Abzinsung desselben tatsächlich ein noch niedrigerer Veräußerungsgewinn entstanden ist. Denn jedenfalls wäre ein dementsprechend höherer Veräußerungsverlust nach Wegzug in Österreich zu berücksichtigen. Nur unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 6 AStG wäre die von den Klägern begehrte Änderung des Einkommensteuerbescheides 2012 möglich. Die Kläger haben aber nicht nachgewiesen, dass der entsprechende Veräußerungsverlust in Österreich erklärt, aber trotz Erklärung nicht berücksichtigt worden ist.
632. Die Kläger haben ferner keinen Anspruch auf eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gem. § 163 Abs. 1 Satz 1 AO.
64Der Beklagte hat das ihm für die Entscheidung über eine abweichende Steuerfestsetzung gem. § 163 AO eingeräumte Ermessen entsprechend dem Zweck und innerhalb der Grenzen der Ermächtigung ausgeübt.
65Nach § 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuern unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Man unterscheidet zwischen sachlichen und persönlichen Billigkeitsgründen. Die Entscheidung über eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO), die von den Gerichten nur in den von § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden kann (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971, GmS-OGB 3/70, BStBl. II 1972, 603). Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Nur ausnahmsweise kann das Gericht eine Verpflichtung zum Erlass aussprechen (§ 101 Satz 1 i.V.m. § 121 FGO), wenn der Ermessensspielraum derart eingeschränkt ist, dass nur eine einzige Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (Ermessensreduzierung auf Null; ständige Rechtsprechung BFH, Urt. vom 14.07.2010 – X R 34/08 m.w.N.).
66Im Streitfall liegen weder sachliche noch persönliche Billigkeitsgründe vor, die eine abweichende Steuerfestsetzung oder einen Erlass rechtfertigen würden.
67a) Sachliche Billigkeitsgründe sind dann gegeben, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage – hätte er sie geregelt – im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH, Beschluss vom 28.02.2012 – VIII R 2/08, BFH/NV 2012, 1135) oder wenn angenommen werden kann, dass die Einziehung zwar dem Gesetz entspricht, aber infolge eines Gesetzesüberhangs den Wertungen des Gesetzgebers derart widerspricht, dass sie unbillig erscheint (BFH, Urt. vom 14.07.2010 – X R 34/08 m.w.N.).
68Diesen Grundsätzen folgend ist der Beklagte ermessensfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass keine Regelungslücke bzw. kein Gesetzesüberhang vorliegt. Die Würdigung des Beklagten, dass der Gesetzgeber für die Frage der Berücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat ausdrücklich die dortigen gesetzlichen Regelungen als Maßstab zugrunde gelegt habe und gerade nicht die sich im Einzelfall ergebenden steuerlichen Auswirkungen, ist nach diesen Grundsätzen unter Ermessensgesichtspunkten nicht zu beanstanden. Vielmehr ist auch der Senat davon überzeugt, dass dem Gesetzgeber der Umstand, dass eine Berücksichtigung des Verlustes im Ausland sich nur in Abhängigkeit von der Höhe der im Ausland erzielten positiven Einkünfte wirtschaftlich zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken würde, bekannt war. Gleichwohl hat der Gesetzgeber abstrakt die „Berücksichtigung der Wertminderung bei der Einkommensbesteuerung“ ausreichen lassen, um eine Anwendung des § 6 Abs. 6 AStG auszuschließen.
69b) Eine Billigkeitsmaßnahme aus persönlichen Gründen setzt Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit voraus (Klein/Rüsken, AO, § 15. Aufl. 2020, § 227 Rdn. 27).
70aa) Erlassbedürftigkeit liegt vor, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde (st. Rechtsprechung, vgl. BFH, Urt. vom 26.02.1987 – IV R 298/84, BStBl. II 1987, 612; Fritsch, in: Koenig, AO, 3. Aufl. 2014, § 227 Rdn. 29). Existenzgefährdung liegt vor, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann (BFH, Urt. vom 29.04.1981 – IV R 23/78, BStBl. II 1981, 726; Fritsch, in: Koenig, AO, 3. Aufl. 2014, § 227 Rdn. 30).
71Die persönliche Unbilligkeit muss in der Entscheidung selbst liegen. Ein Erlass ist demnach nur gerechtfertigt, wenn die wirtschaftliche Notlage durch die steuerliche Inanspruchnahme selbst verursacht wurde. Daran fehlt es, wenn das Finanzamt die Steueransprüche ohnehin nicht durchsetzen kann, weil Einkünfte und Vermögen gering sind und im Übrigen dem Pfändungsschutz unterliegen. Ein Erlass würde in diesem Fall nichts an der wirtschaftlichen Notlage ändern, er wäre ohne wirtschaftlichen Vorteil für den Steuerpflichtigen (BFH, Beschluss vom 30.09.1996 – X B 131/96, BFH/NV 1997, 326).
72Es kann dahinstehen, ob die vom Kläger vorgelegte Vermögensübersicht vollständig und ausreichend ist. Denn jedenfalls hat der Beklagte zu Recht ausgeführt, dass es an der Verursachung einer wirtschaftlichen Notlage durch die steuerliche Inanspruchnahme selbst fehlt, da – wenn man von einer vollständigen und zutreffenden Vermögensaufstellung ausgeht – das Finanzamt die Steueransprüche ohnehin nicht durchsetzen kann, weil Einkünfte und Vermögen des Klägers gering sind und im Übrigen dem Pfändungsschutz unterliegen.
73bb) Da es bereits an der Erlassbedürftigkeit fehlt, kann die Frage der Erlasswürdigkeit im Streitfall dahinstehen.
743. Auch ein Erlass aus Billigkeitsgründen gem. § 227 AO scheidet aus den unter Ziff. 2 genannten Gründen aus, da der Begriff der Unbilligkeit in § 227 AO mit dem Begriff der Unbilligkeit in § 163 AO identisch ist (Rüsken, in: Klein, AO, § 227 Rdn. 27).
754. Von einer Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV sieht der Senat ab. Das Finanzgericht ist gemäß § 267 Abs. 3 AEUV nicht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, da gegen seine Entscheidung nach innerstaatlichem Recht die Revision zum Bundesfinanzhof gegeben ist. Durch das vorliegende Urteil wird den unterlegenen Klägern die Revision zum Bundesfinanzhof eröffnet. Dies erscheint deshalb zweckmäßig, weil sich im vorliegenden Fall in erster Linie Fragen der Auslegung und Anwendung innerstaatlichen Rechts stellen. Falls den diesbezüglichen Einwendungen der Klägerseite gefolgt würde, könnte sich die Frage des Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit als nicht entscheidungserheblich erweisen.
765. Die Zulassung der Revision erfolgt wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Es gibt bislang keine (höchstrichterliche) Rechtsprechung zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 6 Abs. 6 AStG und in der Literatur werden hierzu unterschiedliche Auffassungen vertreten.
776. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs.1 FGO.
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