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Tenor
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller sämtliche Staatsangehörigkeiten des beschuldigten fünfundzwanzigjährigen Hannoveraners, der am 20.09.2020 in A-Stadt am Ae...platz an einem illegalen Autorennen beteiligt gewesen sein soll, mitzuteilen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der sinngemäß gestellte Antrag,
2
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller sämtliche Staatsangehörigkeiten des beschuldigten fünfundzwanzigjährigen Hannoveraners, der am 20.09.2020 in A-Stadt am Ae...platz an einem illegalen Autorennen beteiligt gewesen sein soll, mitzuteilen,
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hat Erfolg.
4
Der zulässige Antrag ist begründet.
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Gem. § 123 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint, § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
6
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung i.S.d. § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest auf einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in einem (etwaigen) Hauptsacheverfahren. Das Vorliegen eines derartigen Anordnungsgrundes und Anordnungsanspruchs ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
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Dem Wesen und Zweck des Verfahrens nach § 123 Abs. 1 VwGO entsprechend, kann das Gericht im Wege der einstweiligen Anordnung grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon das gewähren, was Ziel eines entsprechenden Hauptsacheverfahrens wäre. Begehrt der Antragsteller, wie hier, die Vorwegnahme der Hauptsache, kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur dann in Betracht, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und den Rechtsschutzsuchenden andernfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 17. Oktober 2017 – OVG 3 S 84.17 und OVG 3 M 105.17 – juris, Rn. 2; sowie vom 28. April 2017 – OVG 3 S 23.17 u.a. – juris, Rn. 1; vgl. ferner Kopp/Schenke, VwGO, 25. Auflage 2019, § 123 Rn. 13 ff. m.w.N.).
8
Vorliegend hat der Antragsteller das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (I.) und eines Anordnungsgrundes (II.) auf eine die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigende Weise glaubhaft gemacht.
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I. Nach der in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung ist mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Antragsteller einen Anspruch auf die vorliegend begehrte Auskunftserteilung hat.
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Ein solcher Anspruch ergibt sich aus § 4 Abs. 1 Niedersächsisches Pressegesetz (NPresseG). Hiernach sind die Behörden verpflichtet, den Vertretern der Presse die der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgabe dienenden Auskünfte zu erteilen. Gem. § 3 NPresseG erfüllt die Presse eine öffentliche Aufgabe, wenn sie in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse Nachrichten beschafft und verbreitet, Stellung nimmt, Kritik übt oder auf andere Weise an der Meinungsbildung mitwirkt.
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Die vorliegend begehrte Auskunft hinsichtlich der Saatsangehörigkeit(en) des in Rede stehenden Beschuldigten dient der Erfüllung besagter „öffentlicher Aufgabe“ der Presse im Sinne des § 3 NPresseG, welche konkret darin besteht, sich in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse publizistisch zu betätigen. Zu berücksichtigen hierbei ist, dass die Bewertung des Informationsanliegens der Presse selbst obliegt. Die Pressefreiheit umfasst sowohl die freie Entscheidung darüber, was berichtenswert erscheint und was nicht, als auch die Freiheit, selbst zu beurteilen, welche Informationen vonnöten sind, um ein bestimmtes Thema zum Zweck einer möglichen Veröffentlichung aufzubereiten (vgl. BVerwG, ZUM 2016, 794 Rn. 19; OVG Lüneburg, ZUM-RD 2015, 32 (33 f.)).
12
Zunächst besteht an Berichterstattungen über die Teilnahme an verbotenen Kraftfahrzeugrennen ein öffentliches Informationsinteresse. Exemplarisch wird diesbezüglich nur auf den sogenannten „Ku’damm-Raser-Fall“ beziehungsweise die vom Antragsteller als Anlage „A8“ zu seiner Antragsschrift beigefügten entsprechenden medialen Berichterstattungen Bezug genommen. Aufgrund der in den letzten Jahren stetig steigenden Anzahl solcher verbotener Kraftfahrzeugrennen sah sich zudem der Gesetzgeber veranlasst, durch die zum 13.10.2017 erfolgte Implementierung des neuen § 315d Strafgesetzbuch (StGB) entsprechende Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen (vgl. hierzu Kulhanek, in: BeckOK StGB, 47. Edition vom 01.08.2020, § 315d StGB, Rn. 4 ff.).
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Neben dem generellen öffentlichen Interesse an besagter medialer Berichterstattung besteht darüber hinaus auch ein konkretes Informationsinteresse in Bezug auf die Staatsangehörigkeit(en) der in Rede stehenden Beschuldigten. Diesbezüglich hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass der soziokulturelle Hintergrund im Hinblick auf die Feststellung etwaiger Häufungen in Rede stehender Verhaltensweisen bei bestimmten Tätergruppen von Bedeutung sein kann. Sofern die Antragsgegnerin diesbezüglich vorträgt, es gebe keine polizeiliche Erfahrung, dass es sich bei den Teilnehmern an illegalen Autorennen häufig um Menschen mit Migrationshintergrund handele, das Phänomen sei keinem besonderen Kulturkreis zuzurechnen, ist dem nicht zu folgen. Zur Glaubhaftmachung dieses Umstandes hat der Antragsteller – als Anlage „A11“ – mehrere Berichterstattungen vorgelegt, nach denen es sich bei den Teilnehmern an besagten verbotenen Kraftfahrzeugrennen meist um junge Männer, die häufig einen Migrationshintergrund aufwiesen und hochmotorisierte Fahrzeuge führen, handele. In Bezug auf die Frage, ob sich in A-Stadt ebenfalls eine entsprechende „Raser-Szene“ etabliere, besteht ein schutzwürdiges öffentliches Informationsinteresse, welches vorliegend einen entsprechenden Auskunftsanspruch des Antragstellers rechtfertigt.
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Dem Auskunftsanspruch steht auch kein Auskunftsverweigerungsrecht der Antragsgegnerin entgegen. Ein solches Recht ergibt sich nicht aus dem, vorliegend einzig in Betracht kommenden, § 4 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 NPresseG. Hiernach können Auskünfte verweigert werden, soweit sie ein schutzwürdiges privates Interesse verletzen würden.
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Die Schutzwürdigkeit wird im Wege einer „umfassenden Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und den entgegenstehenden privaten Interessen“ ermittelt (vgl. OVG Lüneburg, ZUM-RD 2015, 32 (34); Löffler/Burkhardt LPG, § 4 Rn. 121 m.w.N). Hierbei werden das publizistische Interesse der Presse und das private Vertraulichkeitsinteresse je für sich und im Verhältnis zueinander bewertet (Fiedler, in: BeckOK InfoMedienR, 29. Edition vom 01.08.2020, § 4 NPresseG, Rn. 34).
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Zwar stellt die (Offenbarung der) Staatsangehörigkeit, welche dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Sinne des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) unterfällt, ein grundsätzlich schutzwürdiges privates Interesse des in Rede stehenden Beschuldigten dar. Vorliegend überwiegt jedoch das öffentliche Informationsinteresse das private Interesse des Beschuldigten. Denn nicht nur hinsichtlich der Berichterstattung über verbotene Straßenrennen als solcher, sondern insbesondere auch in Bezug auf den soziokulturellen Hintergrund des jeweils in Rede stehenden Beschuldigten besteht, wie bereits ausgeführt, ein besonderes öffentliches Informationsinteresse.
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Der begehrten Auskunft steht auch nicht Ziff. 12.2 des „Pressekodex“ entgegen. Hiernach ist in der Berichterstattung über Straftaten darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
18
Besagte Regelung vermag vorliegend ebenfalls keine Auskunftsverweigerung der Antragsgegnerin zu rechtfertigen, da der „Pressekodex“ kein Auskunftsverweigerungsrecht einer Behörde statuiert, sondern es sich bei ihm vielmehr um eine rechtlich nicht bindende freiwillige Selbstverpflichtung handelt, welcher der Antragsteller als Vertreter der Presse unterliegt. Wie zuvor konstatiert, obliegt die Bewertung des Informationsanliegens allein der Presse selbst. Der Pressekodex vermag insofern einzig die persönliche Abwägungsentscheidung des Pressevertreters in Bezug auf den konkreten Inhalt seiner beabsichtigten Berichterstattung zu beeinflussen.
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II. Neben einem Anordnungsanspruch kann sich der Antragsteller zudem auf das Bestehen eines Anordnungsgrundes in einer die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden Weise berufen. Die erforderliche Eilbedürftigkeit ergibt sich hier aus dem Umstand, dass der Antragsteller ein schutzwürdiges, legitimes Interesse an einer möglichst zeitnahen Berichterstattung hat, an welcher, wie bereits ausgeführt, ein gesteigertes öffentliches Informationsinteresse besteht. Die ausnahmsweise zulässige Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigt sich vorliegend daraus, dass effektiver Rechtsschutz im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG einzig in dieser Weise zu erlangen ist.
20
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Höhe des Streitwertes folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG, wobei hier eine Reduzierung des Streitwertes auf die Hälfte des für ein Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts in Höhe von 5.000,00 EUR unterbleiben musste, da der Erlass der begehrten Anordnung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Hauptsache faktisch vorwegnimmt, vgl. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11).
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Tenor
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen der Aufnahmegesuche sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium - Nationales Dublin-Referat - diesem gegenüber für die Asylverfahren der Antragsteller für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die beiden Antragsteller begehren von Griechenland aus die Durchführung ihres Asylverfahrens in Deutschland bzw. den Nachzug zusammen mit zwei weiteren Antragstellern im Parallelverfahren AN 17 E 20.50327, ihren Geschwistern, zu dem in Deutschland lebenden volljährigen Bruder aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO).
Der Antragsteller zu 1), ..., ist eigenen Angaben nach … 2004 in Afghanistan geboren. Die Antragstellerin zu 2), ..., ist eigenen Angaben nach … 2008 ebenfalls in Afghanistan geboren. Die Antragsteller sind ihren Angaben zufolge Geschwister, zwei weitere Geschwister, ... (geb. …2002) und ... (geb. …2002) sind Antragsteller im Parallelverfahren AN 17 E 20.50327. Der Antragsteller zu 1) lebt derzeit im „…“ in der Straße …, …, Griechenland, die Antragstellerin zu 2) im „…“ unter der Adresse …, …, …, Griechenland. Der Antragsteller zu 1) steht aufgrund seiner Minderjährigkeit unter der Vormundschaft der griechischen Rechtsanwältin ... (Bestellung vom 19.5.2020), die Antragstellerin zu 2) unter der Vormundschaft der griechischen Rechtsanwältin ... (Bestellung vom 28.5.2020). Die Referenzperson, zu der zugezogen werden soll, ist der volljährige Bruder ... Dieser lebt in Deutschland unter der Adresse …, ..., und verfügt über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG gültig bis 23. Juli 2022 (Nummer ...). Der Vater aller Kinder lebt noch in Afghanistan, die Mutter ist … 2017 im Iran aufgrund einer Erkrankung verstorben. Ein Kontakt zum Vater besteht seit mehreren Jahren nicht mehr. Der Antragsteller zu 1) stellte am 12. August 2019 seinen Asylantrag in Griechenland, die Antragstellerin zu 2) am 6. August 2019.
Hinsichtlich des Antragstellers zu 1) ersuchte Griechenland die Antragsgegnerin am 25. Oktober 2019 die Zuständigkeit für dessen Asylverfahren gestützt auf Art. 8 Dublin III-VO zu übernehmen. Das Gesuch enthielt in den Anlagen eine englischsprachige Zustimmungserklärung vom 12. August 2019, in der sich der Antragsteller zu 1) mit der Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland und mit der Zusammenführung mit seinem in Deutschland lebenden Bruder ... einverstanden erklärte. Es folgte ein Datenblatt in griechischer Sprache mit Porträtfoto, das den Antragsteller zu 1) zeigen soll. Weiter das „Best Interests Assessment Form for the Purposes of Implementing the Dublin Regulation” vom 24. Oktober 2019. In diesem ist der Name der Mutter mit „…“ und der Name des Vaters mit „…“ angegeben. Die Beziehung zu dem in Deutschland lebenden Bruder …, zu dem zugezogen werden soll, wird als von häufiger Kommunikation geprägt beschrieben. Zuletzt habe er ihn vor viereinhalb Monaten in der Türkei gesehen (Datum des Best Interests Assessments: 24. Oktober 2019), davor habe es vier Jahre gedauert, bis sie sich seit der Einreise des … nach Deutschland gesehen hätten. Viele Erinnerungen von früher habe er an seinen Bruder nicht. Mit dem Bruder … (Antragsteller zu 2) im Verfahren AN 17 E 20.50327) lebe er in einer Schutzeinrichtung in Athen zusammen und würde sich unsicher fühlen, würde dieser woanders leben. Zu den Schwestern … (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327) und … (Antragstellerin zu 2)) bestehe täglicher Kontakt per Telefon und persönlicher Kontakt zwei bis drei Mal pro Woche, sie kümmerten sich jeweils umeinander. Nach dem Best Interests Assessment folgten ein weiteres Porträtfoto sowie ein Dokument in arabischer Sprache ebenfalls mit einem Porträtfoto. Zudem enthielt das Übernahmegesuch eine Kopie des afghanischen Passes des Antragstellers zu 1) sowie ein Foto, das ihn mit seinen Geschwistern zeigen soll. Zudem eine Kopie eines bis 24. August 2020 gültigen Aufenthaltstitels des ... nach § 25 Abs. 3 AufenthG (Nummer ...) sowie eine Kopie dessen afghanischen Reisepasses, gültig vom 4. Juli 2018 bis zum 4. Juli 2023 (Nummer ...) und dessen schriftliche Zustimmungserklärung in englischer Sprache zum gemeinsamen Leben aller Geschwister in Deutschland. Daran anschließend eine Kopie einer Übersetzung der Geburtsurkunde des Antragstellers zu 1) mit Ausstellungsdatum 9. April 2018, in der der Name des Vaters mit „…“ angegeben ist. Weiterhin ein Tabellenauszug in griechischer Sprache, in dem das Datum 3. August 2019 gelb hinterlegt ist. Und schließlich ein „Psychological Report“ der ..., die darin als „Psychologist of Shelter“ bezeichnet ist. Im Bericht wird über den Antragsteller zu 1) ausgeführt, dass er und ... im Iran, nicht in Afghanistan geboren seien, da die Familie in den Iran vor dem Krieg und finanziellen Schwierigkeiten in Afghanistan geflohen sei. Der Antragsteller zu 1) habe keine psychologischen Probleme oder eine Persönlichkeitsstörung. Er habe aber eine sehr enge Beziehung zu seiner verstorbenen Mutter gehabt. Für seine soziale Integration werde ein Kontakt mit Familienmitgliedern empfohlen.
Die Bundesrepublik Deutschland lehnte das griechische Aufnahmegesuch mit Schreiben vom 12. November 2019 mit der Begründung ab, dass die familiären Beziehungen zwischen dem Antragsteller zu 1) und dem in Deutschland lebenden ... nicht ausreichend nachgewiesen seien.
Gegen diese Ablehnung remonstrierten die griechischen Behörden mit Schreiben vom 3. Dezember 2019 und führten aus, dass der Antragsteller und seine Geschwister keine Dokumente zum Nachweis der familiären Verbindung hätten, jedoch bereit seien, sich einem DNA-Test zu unterziehen.
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2019 lehnte die Antragsgegnerin eine Zuständigkeitsübernahme für den Antragsteller zu 1) erneut mit Verweis auf den fehlenden Nachweis verwandtschaftlicher Verhältnisse ab.
Hiergegen wandten sich die griechischen Behörden mit Schreiben vom 19. Dezember 2019, welches am 23. Dezember 2019 vollständig vorlag, und teilten mit, dass die Antragsteller (auch die im Verfahren AN 17 E 20.50327) bereits einen DNA-Test in die Wege geleitet hätten. Weiterhin werde auf Art. 12 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) verwiesen, nach dem die Dauer der Verfahren im Zusammenhang mit der Unterbringung von Minderjährigen über die Fristen gemäß Art. 18 Abs. 1 und Abs. 6 und Art. 19 Abs. 4 der Dublin III-VO hinausgehen könnten und dieser Umstand nicht zwangsläufig dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates oder der Durchführung der Überstellung entgegenstehe. Insofern werde um mehr Zeit gebeten, um den DNA-Test fertigstellen und übersenden zu können.
Mit weiterem Schreiben vom 5. März 2020 übersandten die griechischen Behörden die Ergebnisse des DNA-Tests an die Antragsgegnerin. In dem DNA-Test der Firma … vom 28. Februar 2020 ist festgestellt, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9981% ... (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327) und ... (Antragsteller zu 2) im Verfahren AN 17 E 20.50327) Vollgeschwister sind. Weiter, dass ... (in Deutschland lebend) mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99,9999% Vollbruder der Vollgeschwister ... und ... ist. Und weiter mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99,9999%, dass ... (Antragsteller zu 1)) Vollbruder der Vollgeschwister ..., ... und ... ist. Und schließlich mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99,9999%, dass ... (Antragstellerin zu 2)) Vollschwester der Vollgeschwister …, …, … und ... ist.
Die Bundesrepublik Deutschland reagierte hierauf mit Schreiben vom 23. April 2020 und lehnte eine erneute Überprüfung des Übernahmegesuchs mit dem Argument ab, dass das zeitliche Limit der Dublin III-VO überschritten sei.
Hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) ersuchte Griechenland die Antragsgegnerin am 25. Oktober 2019 die Zuständigkeit für deren Asylverfahren gemäß Art. 8 Dublin III-VO zu übernehmen. Das Aufnahmegesuch enthielt in den Anlagen zunächst einen Tabellenauszug in griechischer Sprache, in dem das Datum 25. Juli 2019 gelb hinterlegt war. Sodann folgten eine Übersetzung der Geburtsurkunde der ... (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327) und daran anschließend eine Kopie des afghanischen Reisepasses der ..., gültig vom 2. Mai 2018 bis zum 2. Mai 2013 (Nummer ...). Weiterhin die englischsprachige Zustimmungserklärung vom 12. August 2019, dass die Antragstellerin zu 2) mit der Prüfung ihres Asylantrages durch die Bundesrepublik Deutschland einverstanden sei sowie die Zusammenführung mit dem in Deutschland lebenden ... wünsche und die englischsprachige Zustimmungserklärung des ... vom 8. Oktober 2019, dass alle Geschwister zusammen in Deutschland leben wollten. Dem schloss sich ein Porträtfoto, das die Antragstellerin zu 2) zeigen soll, an. Zudem war das „Best Interests Assessment Form for the Purposes of Implementing the Dublin Regulation” vom 24. Oktober 2019 enthalten, allerdings das der ... (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327). Dem folgend schloss sich eine Kopie eines bis 24. August 2020 gültigen Aufenthaltstitels des ... nach § 25 Abs. 3 AufenthG (Nummer ...) sowie eine Kopie dessen afghanischen Reisepasses, gültig vom 4. Juli 2018 bis zum 4. Juli 2023 (Nummer ...), an.
Die Bundesrepublik Deutschland lehnte das griechische Aufnahmegesuch mit Schreiben vom 12. November 2019 mit der Begründung ab, dass die familiären Beziehungen zwischen der Antragstellerin zu 2) und dem in Deutschland lebenden ... nicht ausreichend nachgewiesen seien. Zudem habe letzterer in seiner Anhörung behauptet, über keine Tazkira zu verfügen. Im Übrigen werde darauf hingewiesen, dass einige der übermittelten Dokumente ... und nicht die Antragstellerin zu 2) beträfen.
Gegen diese Ablehnung remonstrierten die griechischen Behörden mit Schreiben vom 3. Dezember 2019 und führten aus, dass die Antragstellerin zu 2) und ... keine Dokumente zum Nachweis ihrer familiären Verbindung beschaffen könnten, sie aber bereit seien, sich einem DNA-Test zu unterziehen.
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2019 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme der Zuständigkeit für die Antragstellerin zu 2) erneut unter Verweis auf die nicht nachgewiesene verwandtschaftliche Beziehung ab.
Hiergegen wandten sich die griechischen Behörden mit Schreiben vom 19. Dezember 2019, welches am 23. Dezember 2019 vollständig vorlag, und teilten mit, dass die Antragsteller (auch die im Verfahren AN 17 E 20.50327) bereits einen DNA-Test in die Wege geleitet hätten. Weiterhin werde auf Art. 12 Abs. 2 der VO (EG) Nr. … (Dublin-DurchführungsVO) verwiesen, nach dem die Dauer der Verfahren im Zusammenhang mit der Unterbringung von Minderjährigen über die Fristen gemäß Art. 18 Abs. 1 und Abs. 6 und Art. 19 Abs. 4 der Dublin III-VO hinausgehen könnten und dieser Umstand nicht zwangsläufig dem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates oder der Durchführung der Überstellung entgegenstehe. Insofern werde um mehr Zeit gebeten, um den DNA-Test fertigstellen und übersenden zu können.
Mit weiterem Schreiben vom 5. März 2020 übersandten die griechischen Behörden die Ergebnisse des DNA-Tests an die Antragsgegnerin, aus dem hervorging, dass alle Antragsteller und der in Deutschland lebende ... Vollgeschwister sind (s.o).
Die Bundesrepublik Deutschland reagierte hierauf mit Schreiben vom 10. März 2020 und lehnte eine erneute Überprüfung des Übernahmegesuchs mit dem Argument ab, dass das zeitliche Limit der Dublin III-VO überschritten sei.
Daran anschließend wandten sich die griechischen Behörden mit Schreiben vom 26. März 2020 nochmals an die Antragsgegnerin an führten aus, dass die Durchführung eines DNA-Tests nur ausnahmsweise und als letztes Mittel zum Nachweis eines Verwandtschaftsverhältnisses in Betracht komme. Dieser sei eine langwierige Prozedur, insbesondere wenn Proben von Personen aus anderen Mitgliedstaaten beschafft werden müssten. Zudem gebe es zwischen den Dublineinheiten der Mitgliedstaaten eine inoffizielle Vereinbarung, ein Übernahmegesuch sechs Monate offen zu halten, wenn ein DNA-Test in Auftrag gegeben worden sei. Des Weiteren werde insbesondere auf die besondere Verankerung der Rechte und Interessen von Kindern in Art. 24 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) und in Art. 6, Art. 8 Abs. 1, Art. 9 und Art. 27 der UN-Kinderrechtskonvention hingewiesen, die durch die Ablehnung der Zuständigkeitsübernahme durch die Antragsgegnerin verletzt würden. Nun läge das Ergebnis vor und sei bereits am 5. März 2020 übersandt worden. Eine Rückantwort Deutschlands erfolgte nicht mehr.
Laut der Seiten 63 ff. der Behördenakte der Antragstellerin zu 2), ..., verfügte das Bundesamt über das Anhörungsprotokoll der Anhörung nach § 25 AsylG des ... am 18. Januar 2017. Darin äußerte dieser, dass der Name seines Vaters ... und der Name seiner Mutter ... seien und dass er zwei Brüder und zwei Schwester habe, die allesamt jünger als er seien und im Iran lebten.
Mit am 29. September 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten haben die Antragsteller einen Antrag nach § 123 VwGO gestellt und beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium - Nationales Dublin Referat für die Asylanträge der Antragstellenden zu 1) bis 4) für zuständig zu erklären und auf ihre Überstellung hinzuwirken.
Zur Begründung führen sie im Wesentlichen aus, dass die Antragsteller unter Zugrundelegung der in Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und Art. 24 GRCh niedergelegten Grundrechtsgarantien zur Wahrung der Familieneinheit und des Kindeswohls gegen die Antragsgegnerin einen Anspruch auf Durchführung ihrer Asylverfahren in Deutschland gemäß Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO haben. Diese, Geburtsjahr 2004 und 2008, seien zum nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung in Griechenland unbegleitete Minderjährige gewesen. Das Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Antragstellern und ... sei hinreichend nachgewiesen und zwar nicht erst durch den DNA-Test, sondern bereits durch die Übersendung der Übernahmegesuche mitsamt ihrer Anlagen. Für den Nachweis der Familienbindung könne eine Zuständigkeit auch alleine aufgrund von kohärenten und nachprüfbaren Indizien erfolgen, wenn keine förmlichen Beweismittel zur Verfügung stünden. Da sich mehrere Geschwister der Antragsteller in verschiedenen Mitgliedstaaten aufhielten, sei nach Art. 8 Abs. 3 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nach dem Kindeswohl zu bestimmen. Dem Kindeswohl diene es am meisten, eine Zusammenführung mit dem ältesten Bruder in Deutschland zu organisieren. Dies ergebe sich aus dem Gutachten des griechischen Dublin-Referats und einem psychologischen Gutachten hinsichtlich des Antragstellers zu 1). Demnach fehle es diesem an Stabilität und Sicherheit, er habe sich deswegen bereits mehrfach selbst verletzt und in Folge ins Krankenhaus begeben müssen. Hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) sei ihr Alter von gerade erst zwölf Jahren zu bedenken. Dem Kindeswohl entspreche es am ehesten, wenn sie mit ihrem ältesten Bruder, der bereits gut in Deutschland integriert sei, zusammenleben könne. Zudem entspreche das Zusammenleben mit ... in Deutschland dem ausdrücklichen Wunsch der Antragsteller. Ein Zuständigkeitsübergang auf Griechenland folge auch nicht aus der Regelung des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1, Unterabs. 3 Dublin III-VO, da bereits das Aufnahmegesuch ausreichende Nachweise der Familienbindung enthalten habe. Im Übrigen komme den Verfahrensfristen keine absolute Wirkung zu, die Dublin III-VO sei im Lichte des Art. 24 GRCh auszulegen. Ob eine Zusammenführung dem Kindeswohl entspreche, könne sich gerade bei Minderjährigen nicht an Fristfragen orientieren, was auch aus Art. 12 Abs. 2 Dublin-DurchführungsVO und Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO folge. Jedenfalls aber folge ein Anspruch der Antragsteller auf Durchführung ihrer Asylverfahren in Deutschland aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO und den genannten humanitären Gründen. Die Anwesenheit der beiden volljährigen Geschwister der Antragsteller (die Antragsteller des Verfahrens AN 17 E 20.50327) in Griechenland reiche nicht aus, eine Stabilisierung sei nur durch eine Zusammenführung mit ... in Deutschland zu erwarten. Eine Ermessensreduzierung auf Null folge zudem daraus, dass bereits eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO bestehe, die nur an der Fristproblematik scheitern könnte. Andernfalls würde das Menschenrecht auf Familienzusammenführung durch eine Fristversäumnis versagt.
Der Anordnungsgrund folge daraus, dass kurzfristig mit einem Anhörungstermin durch die griechischen Asylbehörden zu rechnen sei und nach einer Entscheidung in der Sache die Antragsteller aus dem Anwendungsbereich der Dublin III-VO herausfielen. Daher sei hier auch eine Vorwegnahme der Hauptsache geboten.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Anträge abzulehnen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Verfahrensakte.
Das Gericht hat für die Verfahren nach § 123 VwGO der ursprünglich vier Antragsteller (Antragsschriftsatz vom 29.9.2020) zwei Aktenzeichen vergeben: AN 17 E 20.50328 für die ursprünglichen Antragsteller zu 3) und 4) und AN 17 E 20.50327 für das vorliegende Verfahren mit den ursprünglichen Antragstellern zu 1) und 2).
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogenen elektronischen Akten der Antragsteller beim Bundesamt sowie die Gerichtsakten, jeweils auch die der Antragsteller im Verfahren AN 17 E 20.50327, verwiesen.
II.
Die Antragsteller begehren bei verständiger Würdigung (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO) ihres Begehrens im Hauptantrag die Verpflichtung der Antragsgegnerin, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium - Nationales Dublin-Referat - diesem gegenüber für die Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären. Denn ohne eine Mitteilung der Zuständigkeitsübernahme an die zuständigen griechischen Behörden würde die begehrte Familienzusammenführung der sich noch in Griechenland befindlichen Antragsteller mit dem in Deutschland lebenden Bruder nicht in Gang gesetzt (so auch der Tenor bei VG Ansbach, B.v. 13.8.2020 - AN 17 E 20.50216 - juris).
Das zusätzlich beantragte Hinwirken der Antragsgegnerin auf die Überstellung ist lediglich als unselbstständiger Annex zu betrachten, da bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen ist, dass die Antragsgegnerin die in ihrer Sphäre liegenden Folgemaßnahmen der Zuständigkeitsübernahme ergreifen wird und dem Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller durch die Zuständigkeitserklärung Genüge getan ist.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig (2.) und begründet (3.). Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber auch zuständig (1.).
1. Die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Ansbach ergibt sich hier aus § 52 Nr. 2 Satz 3, Nr. 3 Satz 3 Halbsatz 2, Nr. 5 VwGO, da sich sämtliche Antragsteller in Griechenland aufhalten. Die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 -1 AV 2/19 - juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO und auch § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 2, Nr. 3 Satz 2 VwGO greift daher nicht, denn die Antragsteller haben weder i.S.d. § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO ihren Aufenthalt nach den Vorschriften des Asylgesetzes zu nehmen noch verfügen sie über einen Wohnsitz im Bundesgebiet (§ 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO), weshalb für die örtliche Zuständigkeit nur die Auffangregelung des § 52 Nr. 3 Satz 3, Nr. 5 VwGO in Betracht kommt. Danach ist dasjenige Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Antragsgegnerin ihren Sitz hat. Wird der Antrag gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet, ist auf den Sitz der handelnden Behörde abzustellen. Im vorliegenden Fall ist dies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), das seinen Sitz in Nürnberg und mithin nach Art. 1 Abs. 2 Nr. 4 AGVwGO im Bezirk des Verwaltungsgerichts Ansbach hat (zum Ganzen BVerwG, B.v. 2.7.2019 - 1 AV 2/19 - juris Rn. 6). Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Person, zu der zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftritt und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.
Die Antragssteller sind entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt, wofür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts ausreicht. Eine solche ergibt sich für die Antragsteller jedenfalls aus der humanitären Ermessensklausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, auch soweit sie sich aus dem Ausland auf sie berufen (VG Freiburg, B.v. 18.6.2020 - A 3 K 1718/20 - juris Rn. 27; VG Ansbach, B.v. 26.11.2019 - AN 18 E 19.50958 - juris Rn. 23; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 - 23 L 706.18 A - juris Rn. 20; s.a. BVerwG, B.v. 2.7.2019 - 1 AV 2/19 - juris Rn. 12). Ebenfalls können die Antragsteller eine mögliche Verletzung des sowie einen möglichen Anspruch aus Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO geltend machen (VG Münster, B.v. 20.12.2018 - 2 L 989/18.A - juris Rn. 21 m.w.N.).
Der Antrag nach § 123 VwGO ist auch nicht aus anderen Gründen unstatthaft. Zwar sieht die Dublin III-VO in deren Art. 27 nur Rechtsmittel gegen Überstellungsentscheidungen vor, allerdings ist im Lichte des Art. 47 GRCh als Primärrecht (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV) auch ein Rechtsbehelf für die vorliegende Konstellation bereitzustellen. Ein Verweis auf die griechischen Gerichte trägt insofern nicht, als diese nicht das Bundesamt als Behörde der Bundesrepublik zur Zuständigkeitsübernahme verpflichten könnten (so VG Berlin, B.v. 15.3.2019 - 23 L 706.18 A - juris Rn. 21; a.A. etwa VG Bayreuth, B.v. 17.02.2020 - B 8 E 19.50589, BeckRS 2020, 15734 Rn. 50 ff.; offenlassend VG Düsseldorf, B.v. 28.1.2020 - 15 L 3299/19.A - BeckRS 2020, 1383 Rn. 35). Dies überzeugt auch angesichts der Erwägungsgründe der Dublin III-VO, insbesondere der Erwägungsgründe 13, der die Mitgliedstaaten insbesondere auf die Berücksichtigung der Belange von Minderjährigen verpflichtet, 14, der die Achtung des Familienlebens als vorrangige Erwägung bei der Anwendung der Dublin III-VO definiert, 15, der eine gemeinsame Bearbeitung der Anträge von Familienmitgliedern zur Vermeidung einer Trennung anmahnt, sowie 16 und 17, die das Fundament für die Art. 8 ff. und 17 Abs. 2 Dublin III-VO legen. Zudem ist, auch wenn sich der Europäische Gerichtshof soweit ersichtlich noch nicht explizit zur Frage der Rechtsschutzmöglichkeit gegen eine ablehnende Übernahmeentscheidung des Zielstaates auf Basis der Art. 8 ff. Dublin III-VO geäußert hat, angesichts seiner Entscheidungen zum drittschützenden Charakter sowohl der in Kapitel III der Dublin-III VO festgelegten Zuständigkeitskriterien (Art. 7 ff. Dublin III-VO) sowie des Ablaufs von Antrags-, Antwort- und Überstellungsfristen nach der Dublin III-VO, etwa nach Art. 21 Abs. 1 oder Art. 29 Dublin III-VO, und der Möglichkeit sich im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung hierauf zu berufen (EuGH, U.v. 7.6.2016 - Ghezelbash, C-63/15 - NVwZ 2016, 1157; EuGH, U.v. 7.6.2016 - Karim, C-155/15 - NVwZ 2016, 1155; EuGH, U.v. 25.10.2017 - Shiri, C-201/16 - NVwZ 2018, 43 Ls. 2 u. Rn. 35 ff.; EuGH, U.v. 26.7.2017 - Mengesteab, C-670/16 - NVwZ 2017, 1601; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 42 m.w.N.), davon auszugehen, dass der Europäische Gerichtshof die rechtswidrige Ablehnung eines auf die Art. 8 ff. Dublin III-VO gestützten Übernahmegesuchs ohne die Möglichkeit des Rechtsschutzes hiergegen nicht akzeptieren würde.
3. Der zulässige Antrag ist auch begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnten. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 47 GRCh) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 - 6 VR 3/13 - juris Rn. 5, 7).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch (a) und einen Anordnungsgrund (b) glaubhaft gemacht. Die Vorwegnahme der Hauptsache war ausnahmsweise geboten (c).
a) Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch auf Zuständigkeitsübernahme gegen die Antragsgegnerin aus Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO glaubhaft gemacht.
Nach Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO ist, wenn es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des unbegleiteten Minderjährigen rechtmäßig aufhält, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient.
aa) Sowohl der Antragsteller zu 1), ..., als auch die Antragstellerin zu 2), haben ihre Minderjährigkeit im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO glaubhaft gemacht. Minderjährig ist nach Art. 2 Buchst. i Dublin III-VO ein Drittstaatsangehöriger unter 18 Jahren. Der Antragsteller zu 1) hat sein Geburtsdatum mit dem … 2004 angegeben, die Antragstellerin zu 2) mit dem … 2008. Hinsichtlich des Antragstellers zu 1) war zudem eine Übersetzung der Geburtsurkunde sowie eine Kopie des Reisepasses im Anhang des Übernahmegesuchs enthalten, die beide ebenfalls das Geburtsdatum … 2004 ausweisen. Diese sind jeweils als Beweis im Sinne des Art. 21 Abs. 3 Unterabs. 1, Art. 22 Abs. 3 Buchst. a Dublin III-VO i.V.m. Anhang II Verzeichnis A I. 1. der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) anzusehen. Dazu treten als Indizien (Anhang II Verzeichnis B I. 1. Dublin-Durchführungs-VO) die ebenfalls als Teil des Übernahmegesuchs enthaltenen Porträtfotos des Antragstellers zu 1), die den optischen Eindruck eines minderjährigen jungen Mannes vermitteln und damit, wenn auch angesichts der vorherrschenden gravierenden Mängel bei der präzisen Erfassung von Geburtsdaten in Afghanistan (s. etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juni 2020, S. 25 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Stand 13.11.2019, S. 360 ff.) nicht das konkrete Geburtsdatum, so doch die Glaubhaftmachung der Minderjährigkeit des Antragstellers zu 1) stützen. Auch hat das Bundesamt die Minderjährigkeit des Antragstellers zu 1) nicht in Frage gestellt. Ähnliches gilt für die Antragstellerin zu 2), bezüglich derer im Übernahmegesuch allerdings nur eine Kopie des afghanischen Reisepasses mit dem Geburtsdatum … 2008 und nicht zusätzlich eine Kopie der Geburtsurkunde enthalten war. Allerdings ergibt auch hier eine Zusammenschau mit dem Porträtfoto der Antragstellerin zu 2), dass sie jedenfalls minderjährig ist. Auch bezüglich ihr hat das Bundesamt die Minderjährigkeit nicht in Frage gestellt.
Hinsichtlich der Minderjährigkeit kann hier dahinstehen, ob als Zeitpunkt für das Vorliegenmüssen der Minderjährigkeit gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO derjenige der erstmaligen Antragstellung auf internationalen Schutz oder etwa derjenige der Stellung des Aufnahmegesuchs im Sinne des Art. 21 Dublin III-VO oder gar derjenige der gerichtlichen Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen eine verweigerte Aufnahme maßgeblich ist, da hier selbst im letztmöglichen Zeitpunkt die Minderjährigkeit der Antragsteller glaubhaft gemacht ist.
bb) Bei den Antragstellern handelt es sich auch um unbegleitete Minderjährige im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO. Unbegleitet ist ein Minderjähriger gemäß Art. 2 Buchst. j Dublin III-VO, wenn er ohne Begleitung eines für ihn nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet.
Die Antragsteller sind glaubhaft ohne Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen nach Griechenland eingereist. Selbst wenn man eine Volljährigkeit der Geschwister der Antragsteller (dies sind die Antragsteller im Verfahren AN 17 E 20.50327, … und ...*) bei Einreise annehmen würde, wären diese nicht als verantwortliche Erwachsene nach griechischem Recht gemäß Art. 2 Buchst. j Dublin III-VO anzusehen, da selbst nach deren mittlerweile jedenfalls eingetretener Volljährigkeit durch den griechischen Staat die Bestellung der temporären Vormundschaft für die Antragsteller durch zwei griechische Rechtsanwältinnen nicht aufgehoben worden ist bzw. die volljährigen Geschwister nicht als Vormund bestellt worden sind. Zudem befinden sich die Antragsteller nicht im Sinne des Art. 2 Buchst. j Dublin III-VO in tatsächlicher Obhut eines solchen Erwachsenen, sie bewohnen derzeit je eine Schutzeinrichtung für Minderjährige. Daran ändern auch die durch den „Prosecutor of the First Instance Court of Athens“ am 19. Mai und 28. Mai 2020 für die Antragsteller als gesetzliche Vormundinnen bestellten Rechtsanwältinnen nichts. Diese übernehmen zwar die Vertretung in rechtlichen Angelegenheiten, insbesondere was das Asylverfahren anbelangt, nehmen die Antragsteller aber nicht in ihre Obhut oder üben gar die elterliche Sorge (abgesehen von rechtlichen Angelegenheiten) aus.
cc) Mit ... hält sich ein Vollbruder der Antragsteller, die untereinander Vollgeschwister sind, rechtmäßig in Deutschland auf, Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO.
Das Geschwisterverhältnis zwischen den Antragstellern und der Referenzperson ..., zu der zugezogen werden soll, ist im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO hinreichend glaubhaft gemacht. Hinsichtlich des Maßstabes für die Glaubhaftmachung gilt im Allgemeinen der Grundsatz des Art. 22 Abs. 2 Dublin III-VO, dass das Beweiserfordernis nicht über das für eine ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung erforderliche Maß hinausgehen soll. Dies geht einher mit der Zielsetzung der Dublin III-VO, wie sie aus deren Erwägungsgrund 5 ersichtlich wird, möglichst rasch den zuständigen Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zu bestimmen. Für den Fall, dass und soweit keine förmlichen Beweismittel im Sinne des Art. 22 Abs. 3 Buchst. a Dublin III-VO zum Beweis der verwandtschaftlichen Beziehungen verfügbar sind, bestimmt Art. 22 Abs. 5 Dublin III-VO, dass der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit anerkennt, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um die Zuständigkeit zu überprüfen. Förmliche Beweismittel im Sinne des Art. 22 Abs. 3 Buchst. a Dublin III-VO und Anhang II Verzeichnis A. I. 1. der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) liegen hier nur insoweit vor, als die Identität des Antragstellers zu 1) durch eine Kopie seiner Geburtsurkunde sowie seines Reisepasses ausgewiesen ist und die Identität der Antragstellerin zu 2) durch eine Kopie ihres Reisepasses. Zusätzlich enthält die Geburtsurkunde des Antragstellers zu 1) den Namen seines Vaters, „…“. Schließlich ist auch die Identität der Referenzperson ... durch die in den Aufnahmegesuchen enthaltene Kopie eines bis 24. August 2020 gültigen Aufenthaltstitels des ... nach § 25 Abs. 3 AufenthG (Nummer ...) sowie eine Kopie dessen afghanischen Reisepasses, gültig vom 4. Juli 2018 bis zum 4. Juli 2023 (Nummer ...), nachgewiesen. Ein Verwandtschaftsverhältnis als Geschwister zwischen den genannten Personen ist alleine dadurch noch nicht belegt.
Jedoch kann zunächst als Indiz für eine Geschwisterbeziehung im Sinne des Art. 22 Abs. 3 Buchst. b Dublin III-VO und Anhang II, Verzeichnis B I. 1. Dublin-DurchführungsVO gewertet werden, dass die Antragsteller und die Referenzperson ... je den gleichen Nachnamen tragen (VG Bremen, B.v. 7.2.2020 - 5 V 2557/19 - juris Rn. 33; VG Ansbach, B.v. 24.9.2020 - AN 17 E 20.50307 - n.v.). Dieses Indiz wird weiter dadurch verstärkt, dass in den englischsprachigen Zustimmungserklärungen des Antragstellers zu 1) und der Antragstellerin zu 2) vom 12. August 2019 jeweils als Name des Vaters „…“ und der Mutter „…“ vermerkt ist. Dies deckt sich hinsichtlich des Vaters zum einen mit der Geburtsurkunde des Antragstellers zu 1), in der der Vater als „…“ bezeichnet ist; das fehlende „y“ dürfte plausibel mit Unterschieden bei der Transkription zu erklären sein. Die Bezeichnung des Vaters als „…“ findet sich überdies in den Geburtsurkunden der ... (Antragstellerin zu 1) im Verfahren AN 17 E 20.50327) und des ... (Antragsteller zu 2) im Verfahren AN 17 E 20.50327), die als Teil deren Aufnahmegesuche dem Bundesamt übermittelt wurden. Die sich so darstellende Indizienlage verklammert sich mit den Angaben der Referenzperson ... in dessen Anhörung vor dem Bundesamt nach § 25 AsylG bereits am 18. Januar 2017, die als Teil des Anhangs des Aufnahmegesuchs der Antragstellerin zu 2) der Antragsgegnerin vorlag. Damals äußerte ..., dass der Name seines Vaters ... und der Name seiner Mutter ... seien und dass er zwei Brüder und zwei Schwester habe, die allesamt jünger als er seien und im Iran lebten. Die Unterschiede beim genannten Namen der Mutter sind, wenn man sie mit den Angaben des Antragstellers zu 1) in dessen „Best Interests Assessment Form for the Purposes of Implementing the Dublin Regulation” vom 24. Oktober 2019 abgleicht, damit erklärbar, dass „…“ der Vorname der Mutter ist und „…“ zumindest ein Teil des Nachnamens.
Damit ist das Geschwisterverhältnis zwischen den Antragstellern und der Referenzperson ..., zu der zugezogen werden soll, im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO und des Art. 22 Abs. 2 bis Abs. 5 Dublin III-VO i.V.m. Anhang II der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) hinreichend glaubhaft gemacht. Die beigebrachten Beweismittel zur Identität der Antragsteller und des ... und die übrigen Indizien erreichen hier aggregiert die Schwelle des Art. 22 Abs. 5 Dublin III-VO, nämlich, dass sie kohärent sind, überprüfbar jedenfalls durch wechselseitigen Abgleich der Informationen, und hinreichend detailliert.
Damit kommt es nicht mehr auf eine mögliche Verfristung hinsichtlich der Übermittlung des Ergebnisses des DNA-Tests nach Art. 21 Abs. 1, Abs. 3 Dublin III-VO und Art. 5 Abs. 2 Dublin-DurchführungsVO an, der im Übrigen das Geschwisterverhältnis bestätigt hat.
dd) Die Referenzperson ... hält sich im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO rechtmäßig in Deutschland auf. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bemisst sich mangels europarechtlicher Definition - Art. 2 Buchst. l Dublin III-VO, „Aufenthaltstitel“, passt hier nicht - nach nationalem Recht (so auch Thomann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 5. Ed. 1.7.2020, Art. 8 Dublin III-VO Rn. 13). ... verfügt über eine bis 23. Juli 2022 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, mithin über einen nach deutschem Recht rechtmäßigen Aufenthalt.
ee) Eine Auswahl des zuständigen Mitgliedstaats nach Art. 8 Abs. 3 Dublin III-VO war vorliegend nicht zu treffen, da die Antragsteller zwar neben ... in Deutschland weitere zwei Geschwister in Griechenland haben (die Antragsteller im Verfahren AN 17 E 20.50327), allerdings befinden sich diese noch im griechischen Asylverfahren und verfügen nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nur bis zum Abschluss des Asylverfahrens in der ersten Beschwerdeinstanz über ein Aufenthaltsrecht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland, Stand 4.10.2019, S. 8), was der deutschen Rechtslage nach § 55 AsylG ähnelt. Damit steht jedenfalls in einem für die Glaubhaftmachung erforderlichen Maß fest, dass während der Dauer des griechischen Asylverfahrens kein verfestigter rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO besteht (ein verfestigtes Aufenthaltsrecht fordert auch Günther in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 26. Ed. 1.7.2020, § 29 AsylG Rn. 41), sondern nur ein temporäres Aufenthaltsrecht gewährt wird.
ff) Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland als Antragsgegnerin für das Asylverfahren der Antragsteller dient auch deren Wohl gemäß Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO. Diese Voraussetzung ist im Allgemeinen bei der Zusammenführung von Minderjährigen mit ihren Eltern aber auch sonstigen Familienangehörigen, wie Geschwistern, zu bejahen. Allenfalls Fälle von Gewalt, Missbrauch oder sonstigen außergewöhnlichen Umständen können eine andere Beurteilung rechtfertigen (Günther in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 26. Ed. 1.7.2020, § 29 AsylG Rn. 41; Thomann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 5. Ed. 1.7.2020, Art. 8 Dublin III-VO Rn. 14; VG Ansbach, B.v. 28.5.2020 - AN 17 E 20.51065 - n.v., unter II. 3.: Regelvermutung). Im vorliegenden Fall sprechen im Hinblick auf das Wohl der Minderjährigen keine konkreten Anhaltspunkte gegen eine Zusammenführung der Antragsteller mit ihrem in Deutschland lebenden Bruder ... Ganz im Gegenteil haben alle ihre schriftliche Zustimmung mit einer Zusammenführung erklärt und dementsprechende Wünsche geäußert.
gg) Eine abweichende Zuständigkeit Griechenlands ergibt sich auch nicht aus dem Fristenregime der Art. 21 ff. Dublin III-VO oder Art. 5 Dublin-DurchführungsVO. Insbesondere hat Griechenland gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1, Abs. 3 Dublin III-VO fristgerechte Aufnahmegesuche gestellt, die wie aus den obigen Ausführungen ersichtlich auch hinreichende Beweismittel, Indizien und sachdienliche Angaben zur Zuständigkeitsbestimmung enthielten. Nicht erforderlich für ein form- und fristgerechtes Aufnahmegesuch im Sinne des Art. 21 Dublin III-VO war, bereits mit diesem einen DNA-Test vorzulegen (s. Anhang II Verzeichnis A. I. 1. 5. Spiegelstrich).
b) Der Anordnungsgrund besteht in der Gefahr des unmittelbar drohenden Rechtsverlustes. Durch den Fortgang des Asylverfahrens in Griechenland ist für die Antragsteller ein zeitnaher und dauerhafter Verlust des geltend gemachten Nachzugsrechts zu ihrem in Deutschland lebenden Bruder ernsthaft zu befürchten. Wenn das Asylverfahren in Griechenland durchgeführt und abgeschlossen ist, greifen in der Folge die Regelungen der Dublin III-VO nicht mehr ein (vgl. Art. 1 Dublin III-VO) und die Familienzusammenführung nach der Dublin III-VO wird auf Dauer ausgeschlossen (vgl. auch VG Münster, B. v. 20.12.2018 - 2 L 989/18.A - juris Rn. 69; VG Berlin, B. v. 15.3.2019 - 23 L 706.18 A - juris Rn. 36; VG Wiesbaden, B. v. 25.4.2019 - 4 L 478/19.WI.A). Hierfür ist es insbesondere nicht zwingend erforderlich, dass den Antragstellern bereits ein Anhörungstermin bekannt ist. Auch ohne einen solchen ist hier grundsätzlich mit einer jederzeitigen Sachentscheidung der griechischen Behörden über die Asylanträge zu rechnen. Dies gilt umso mehr, als die letztmaligen Ablehnungen der Übernahme der Antragsteller durch die Antragsgegnerin bereits etwa sechs Monate zurückliegt (VG Ansbach, B.v. 13.8.2020 - AN 17 E 20.50216 - juris Rn. 44).
c) Aus denselben Gründen ist hier vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 47 GRCh ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache zulässig. Im Fall der Sachentscheidung über die Asylanträge droht den Antragstellern ein unumkehrbarer Zuständigkeitsübergang auf Griechenland. Dieser ist den Antragstellern auch nicht zuzumuten, da in diesem Fall eine Wiederherstellung der Familieneinheit auf Grundlage der Dublin III-VO endgültig nicht mehr in Betracht kommt. Zuletzt besteht - wie oben dargelegt - ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für ein Obsiegen in einer gedachten Hauptsache (VG Ansbach, B.v. 13.8.2020 - AN 17 E 20.50216 - juris Rn. 45).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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Tenor
1. Das Vollstreckungsverfahren wird eingestellt.
2. Die Vollstreckungsschuldnerin und Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Vollstreckungsgläubiger haben ihren am 12. Oktober 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenen Antrag auf Androhung eines Zwangsgeldes nach § 172 VwGO mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 14. Oktober 2020 für erledigt erklärt und beantragt, der Vollstreckungsschuldnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Die Vollstreckungsschuldnerin hat sich der Erledigungserklärung mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2020 angeschlossen und die Kostenentscheidung in das Ermessen des Gerichts gestellt.
Damit war das Vollstreckungsverfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes über die Kosten des Verfahrens durch Beschluss zu entscheiden. Die Vorschrift des § 161 Abs. 2 VwGO ist auch im Vollstreckungsverfahren anwendbar (VG Ansbach, B.v. 24.9.2019 - AN 18 V 19.50750 - juris Rn. 2 m.w.N.).
Dem billigen Ermessen entspricht es in der Regel, demjenigen Beteiligten die Kosten aufzuerlegen, der ohne die Erledigung voraussichtlich, nach summarischer Prüfung, unterlegen wäre oder der das erledigende Ereignis aus eigenem Willensentschluss herbeigeführt hat (BVerwG, B.v. 2.2.2006 - 1 C 4/05 - BeckRS 2006, 21285 Rn. 2; BeckOK VwGO/Zimmermann-Kreher, 51. Edition 2019, § 161 Rn. 13 f.). Eine eingehende Prüfung der Erfolgsaussichten des Antrags ist hingegen nicht mehr vorzunehmen (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 161 Rn. 16).
Vorliegend hat das Verwaltungsgericht Ansbach die Vollstreckungsschuldnerin mit unanfechtbarem Beschluss vom 24. September 2020 (AN 17 E 20.50307) verpflichtet, sich für das Asylverfahren der Vollstreckungsgläubiger gegenüber Griechenland für zuständig zu erklären. Der Beschluss wurde den Vollstreckungsgläubigern und der Vollstreckungsschuldnerin am 25. September 2020 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt. Bis zum Eingang des Schriftsatzes der Bevollmächtigten der Vollstreckungsgläubiger mit dem Antrag auf Androhung eines Zwangsgeldes nach § 172 VwGO am 12. Oktober 2020 hatte die Vollstreckungsschuldnerin den Beschluss des Gerichts noch nicht umgesetzt. Erst mit Schriftsatz vom 13. Oktober 2020 erklärte die Vollstreckungsschuldnerin dem gerichtlichen Beschluss nachzukommen und fügte die entsprechende Übernahmemitteilung an die griechischen Behörden vom 13. Oktober 2020 bei. Darin liegt das erledigende Ereignis. Damit kommt es für die Frage, wer ohne das erledigende Ereignis obsiegt hätte, darauf an, wann die Vollstreckungsgläubiger berechtigt waren, einen Antrag nach § 172 VwGO zu stellen.
Die Frage, wann die Vollstreckungsgläubiger berechtigt sind, einen Antrag auf Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung zu stellen, ist in § 172 VwGO nicht klar geregelt. Allerdings sieht etwa Art. 5 Abs. 2 Satz 3 der VO (EG) 1560/2003 (Dublin-DVO) eine Zweiwochenfrist zur Antwort des ersuchten Mitgliedstaates auf ein Überprüfungsverlangen des ersuchenden Mitgliedstaates vor. Daraus lässt sich entnehmen, dass eine Reaktion der Vollstreckungsschuldnerin durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf einen sie verpflichtenden Beschluss nach § 123 VwGO binnen zwei Wochen ab dessen Zugang eine angemessene Erfüllungsfrist darstellt. Für die Angemessenheit einer Erfüllungsfrist von zwei Wochen spricht in der vorliegenden Konstellation auch, dass angesichts der Unanfechtbarkeit des Beschlusses nach § 80 AsylG keine weitere Überprüfung oder Ermessensausübung durch die Vollstreckungsschuldnerin nötig war. Schließlich ist hinsichtlich der Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO die nicht disponible Vollzugsfrist des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 929 Abs. 2 ZPO von einem Monat ab Zustellung des Beschlusses an den Vollstreckungsgläubiger zu beachten, nach deren Ablauf die einstweilige Anordnung gegenstandslos wird (VG Ansbach, B.v. 24.9.2019 - AN 18 V 19.50750 - juris Rn. 4; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 83 f.).
Angesichts dessen lässt eine Antragstellung nach § 172 VwGO zwei Wochen und drei Tage nach der Zustellung der einstweiligen Anordnung an die Vollstreckungsschuldnerin und die Vollstreckungsgläubiger am 25. September 2020 der Vollstreckungsschuldnerin eine angemessene Erfüllungsfrist und begründet umgekehrt bei deren Verstreichenlassen eine als besondere Vollstreckungsvoraussetzung erforderliche grundlose Säumnis; auf ein Verschulden der Säumnis kommt es nicht an (Schmidt-Kötters in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 54. Ed. 1.10.2019, § 172 Rn. 21; OVG NW, B.v. 15.6.2010 - 13 E 201/10 - NVwZ-RR 2010, 750). Dazu tritt, dass die Bevollmächtigte der Vollstreckungsgläubiger bereits mit Schriftsatz vom 28. September 2020 die Vollstreckungsschuldnerin mit Frist bis zum 9. Oktober 2010 aufgefordert hatte, sich in Umsetzung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 24. September 2020 gegenüber den griechischen Behörden für zuständig zu erklären. Den Vollstreckungsgläubigern war auch nicht zuzumuten, bis zum Ablauf der Vollziehungsfrist des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 929 Abs. 2 ZPO von einem Monat abzuwarten. Ansonsten würde man sie einem schwer kalkulierbaren Risiko aussetzen: Stellen sie den Antrag nach § 172 VwGO zu früh, laufen sie Gefahr, dass er als unzulässig abgewiesen wird. Am anderen Ende der Zeitschiene hingegen droht nach dem Ablauf der Monatsfrist das Gegenstandsloswerden der einstweiligen Anordnung (hierzu Pietzner/Möller in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 38. EL Januar 2020, § 172 Rn. 36). Hinsichtlich der Angemessenheit des beantragten anzudrohenden Zwangsgeldes in Höhe von 10.000,00 EUR bestehen keine Bedenken (Schmidt-Kötters in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 54. Ed. 1.10.2019, § 172 Rn. 26). Gleiches gilt für die beantragte Fristsetzung zur Erfüllung bis zum 19. Oktober 2020.
Dahinstehen kann hingegen, ob maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Vollstreckungsantrages und damit auch für die Frage, ob der Vollstreckungsantrag verfrüht gestellt wurde, derjenige der Antragstellung ist (so VG Freiburg (Breisgau), B.v. 24.4.2014 - A 4 K 807/14, juris Rn. 6 ff.) oder ob es der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der Sache bzw. der des Eintritts des erledigenden Ereignisses ist (so VG Freiburg (Breisgau), B.v. 7.6.2017 - A 7 K 2879/17 - juris Rn. 5 ff.), denn bereits im Zeitpunkt der Antragstellung war der Antrag, wie bereits ausgeführt, nicht verfrüht (so VG Ansbach, B.v. 24.9.2019 - AN 18 V 19.50750 - juris Rn. 4).
Nach alldem hätten nach summarischer Prüfung ohne den Eintritt des erledigenden Ereignisses die Vollstreckungsgläubiger mit ihrem Antrag nach § 172 VwGO obsiegt, weswegen der Vollstreckungsschuldnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen sind.
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 28. Mai 2020 - 4 K 8139/19 - geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 26. Oktober 2018 wird angeordnet.Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Antragsteller wenden sich im Wege vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Logistikzentrums.
2 Sie sind Miteigentümer der Grundstücke Flst. Nr. ..., ... und ..., Gemarkung ..., ..., .... Auf den Grundstücken befindet sich unter anderem das Wohnhaus der Antragsteller, ein Reihenmittelhaus. Die im Miteigentum der Antragsteller stehenden Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans „O...-...-... (I)", zuletzt geändert mit Satzungsbeschluss vom 7. Juli 2015 (2. Änderung). Der Bebauungsplan weist den Bereich, in dem die Grundstücke der Antragsteller liegen, als allgemeines Wohngebiet aus. Darüber hinaus sieht der Bebauungsplan folgende Vorkehrungen gegen schädliche Umwelteinwirkungen vor:
3 „1.7.1 Schallschutz durch Lärmschutzwand
4 [...]In der Planzeichnung ist im südlichen Bereich (nördlich der K...-Straße) eine Lärmschutzwand mit 65 m Länge und 2,50 m Höhe zum Schutz vor Lärmeinwirkungen (Gewerbe- und Verkehrslärm) eingetragen. Gebäudeteile(,) die über die 2,50 m hohe Lärmschutzwand hinausragen(,) sind dem Lärmpegelbereich III zugeordnet.[...]
5 1.7.2 Schallschutz durch Schalldämmung von Außenbauteilen.
6 Aufenthaltsräume in Wohnungen sind mit passiven Schallschutzmaßnahmen entsprechend dem Lärmpegelbereich III nach DIN 4109, Tab. 8 zuzuordnen. [...]
7 In den gekennzeichneten Baufeldern sind Bauvorhaben nur zulässig, wenn Schlafräume oder zum dauerhaften Aufenthalt bestimmte Räume zur von der K... Straße abgewandten Seite ausgerichtet sind. Von der K... Straße abgewandt sind solche Außenwände/Fassaden, bei denen der Winkel zwischen Straßenachse und Außenwand mindestens 90 Grad beträgt. Die nachfolgend beschriebenen Erfordernisse müssen erfüllt werden:
8 - Bauvorhaben mit Schlafräumen oder zum dauerhaften Aufenthalt bestimmte Räume zur K... Straße hin sind nur zulässig, wenn die Außenbauteile die Anforderungen an die Luftschalldämmung gemäß DIN 4109 Tab. 8 erfüllen.
9 - Der Nachweis der Einhaltung der schalltechnischen Anforderungen ist im baurechtlichen Verfahren zu erbringen.
10 - Zum Schlafen genutzte Räume, die nur über die zur K... Straße orientierten Fassaden belüftet werden können, müssen mit mechanischen, schallgedämmten Lüftungseinrichtungen ausgestattet werden. [...]“
11 Das Baugrundstück (FIst.Nrn. ... und ...) liegt im Geltungsbereich des mit Satzungsbeschluss vom 22. Oktober 2013 beschlossenen Bebauungsplans „E..." und befindet sich - räumlich getrennt durch die in west-/östlicher Richtung verlaufende K... Straße - südlich der Grundstücke der Antragsteller. Der Bebauungsplan setzt für den Bereich des Baugrundstücks ein Industriegebiet fest. Erstmals öffentlich bekannt gemacht wurde der Bebauungsplan am 3. April 2014. Infolge eines angenommenen Ausfertigungsmangels wegen eines fehlenden Hinweises auf Einsehbarkeit einer DIN-Norm erfolgte eine erneute öffentliche Bekanntmachung am 19. Oktober 2018. Gegen den Bebauungsplan „E..." ist vor dem beschließenden Senat ein Normenkontrollverfahren anhängig (5 S 2743/19), über das noch nicht entschieden ist.
12 Im August 2018 beantragte die Beigeladene beim Landratsamt Karlsruhe eine Genehmigung zum Bau eines Distributionsparks (bestehend aus drei Hallen) mit Büro- und Sozialbereichen wie auch Sprinkler- und Pförtnergebäude. Mit dem Bauantrag legte die Beigeladene unter anderem eine schalltechnische Untersuchung des Planungsbüros für Lärmschutz ... vom Juli 2018 wie auch ein Verkehrsgutachten der ..., ebenfalls vom Juli 2018, vor. Auf die Angrenzerbenachrichtigung erklärten die Antragsteller, durch das Bauvorhaben würden ihr Grundstück und ihr Wohnhaus unzumutbar mit Schallimmissionen belastet. Die Immissionen ergäben sich insbesondere auch aus der vorhabenbedingten Zunahme des LKW-Verkehrs auf der K... Straße.
13 Mit Bescheid vom 26.10.2018 erteilte das Landratsamt der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung. Zu Bestandteilen dieser Baugenehmigung erklärte es unter anderem die als Anlage beigefügten Nebenbestimmungen wie auch die schalltechnische Untersuchung des Planungsbüros für Lärmschutz ...-... vom Juli 2018. In den Nebenbestimmungen heißt es unter anderem:
14 „17. Das Schalldämm-Maß der Hallenaußenbauteile muss mind. R'w = 25 dB entsprechen. Siehe Schallgutachten S. 23. [...]
15 18. Eventuelle haustechnische Anlagen (z. B. Hallenlüftung), Raumlufttechnische Anlagen, Abluftkamin der Feuerungsanlage, Klimaanlagen oder Produktionstätigkeiten u.ä. dürfen keine Lärmemissionen verursachen, die in der Nachbarschaft zu wahrnehmbaren Lärmimmissionen führen. Vgl. Schallgutachten S. 23.
16 19. Folgende Immissionswerte für den Beurteilungspegel dürfen an den jeweiligen Immissionsorten durch den Betrieb der Anlage nicht überschritten werden (vgl. Schallgutachten S. 23):
17 Industriegebiet tags 70 dB(A) nachts 70 dB(A)Gewerbegebiet tags 65 dB(A) nachts 50 dB(A)urbane Gebiete tags 63 dB(A) nachts 45 dB(A)Misch-/Kern-/Dorfgebiet tags 60 dB(A) nachts 45 dB(A)allgemeines Wohngebiet tags 55 dB(A) nachts 40 dB(A)reines Wohngebiet tags 50 dB(A) nachts 34 dB(A)
18 Am 22. November 2018 legten die Antragsteller Widerspruch gegen die ihnen am 30. Oktober 2018 zugestellte Baugenehmigung ein. Dieser wurde mit Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 1. August 2019, den Antragstellern zugestellt am 6. August 2019, zurückgewiesen. Am 5. September 2019 haben die Antragsteller eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe (4 K 5866/19) erhoben und am 17. Dezember 2019 einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt.
19 Mit Beschluss vom 28. Mai 2020 hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt. Dieser sei zwar zulässig, aber unbegründet.
20 Die Antragsteller seien analog § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt, denn sie könnten sich auf eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme berufen. Fehler der Umweltverträglichkeitsprüfung nach § 6 und § 50 UVPG könnten sie hingegen nicht geltend machen, da diese Vorschriften nicht zumindest auch dem Schutz der Antragsteller dienten. An diesem Ergebnis könne auch § 4 Abs. 3 UmwRG nichts ändern, da dieser nur den Umfang der sachlichen Prüfung eines zulässigen Rechtsbehelfs regele.
21 Bei der im Rahmen der Begründetheitsprüfung gebotenen Abwägung überwiege das öffentlichen Interesse und das Interesse der Beigeladenen am Vollzug der Baugenehmigung das Aussetzungsinteresse der Antragsteller. Denn das Rücksichtnahmegebot werde durch die Baugenehmigung mit Blick auf die Antragsteller nicht verletzt. Dabei könne dahinstehen, ob der Bebauungsplan „E...“ nichtig sei, da auch für diesen Fall nur eine Verletzung des in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BauGB enthaltenen Rücksichtnahmegebotes in Betracht komme. Ein allgemeiner Anspruch auf Erhaltung des Außenbereichs bestehe nicht. Es sei nicht zu erwarten, dass von dem Bauvorhaben unvermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen ausgingen, die zu einer Rücksichtslosigkeit führten. Dabei könnten technische Regelwerke wie die TA Lärm lediglich als Orientierungshilfe herangezogen werden. Dass mit dem Bauvorhaben keine unzumutbaren Lärmimmissionen verbunden seien, folge insbesondere aus der von der Beigeladenen vorgelegten schalltechnischen Untersuchung des Planungsbüros für Lärmschutz ... vom Juli 2018, die schlüssig sei. Insbesondere lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Lärmgutachter in Bezug auf die Berücksichtigung von Verkehrsgeräuschen die Vorgaben von Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm verkannt habe. Der Gutachter habe im Hinblick auf den in unmittelbarer Nähe zum Flurstück der Antragsteller liegenden Immissionsort festgestellt, dass dort zwar kumulativ alle Voraussetzungen von Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm erfüllt seien. Für diesen Ort sehe aber - worauf auch der Gutachter hingewiesen habe - bereits der Bebauungsplan „O...- ...“ in der Fassung seiner zweiten Änderung in Nr. 1.7.1 und 1.7.2 ausreichende Lärmschutzvorkehrungen vor. Dass es sich bei diesen Vorgaben nicht um organisatorische Maßnahmen handele, sei entgegen der Ansicht der Antragsteller unschädlich. Nr. 7.4. Abs. 2 TA Lärm schließe andere Maßnahmen nicht ausdrücklich aus, ein entsprechender Ausschluss wäre auch sinnwidrig. Die planungsrechtlichen Festsetzungen in Nr. 1.7.1 seien auch hinreichend bestimmt. Dass die nach der TA Lärm maßgeblichen Immissionsorte gegebenenfalls vor den Fenstern schutzwürdiger Räume liegen, rechtfertige mit Blick auf die erforderliche Unzumutbarkeit nichts anderes. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass die im Zuge des Baugenehmigungsverfahrens vorgelegte schalltechnische Untersuchung auf die entsprechende Begründung des Bebauungsplans Bezug nehme. Soweit die Antragsteller geltend machten, die Anwendung der Anforderungen der DIN 4109 zur Luftschalldämmung der Außenbauteile für den maßgeblichen Lärmpegelbereich III (61 bis 65 dB(A)) sei deshalb unzureichend, weil eine Berechnung lediglich nach Maßgabe der 16. BImSchV vorgenommen worden sei, obwohl eine Berechnung nach der Industrienorm, die eine Addition von 3 dB(A) zum berechneten Lärmpegel vorsehe, hätte vorgenommen werden müssen, rechtfertige dies nichts anderes. Denn die Antragsteller ließen die hohe Komplexität der Berechnung des maßgeblichen Außenlärmpegels nach der DIN 4109 außer Acht. Insgesamt erscheine die Wertung des Sachverständigen, dass die bereits im Bebauungsplan „O...-...“ in der Fassung seiner zweiten Änderung festgesetzten Vorgaben ausreichten, um die Anwohner vor unzumutbaren Geräuscheinwirkungen zu schützen, plausibel und sei nicht zu beanstanden. Schließlich gehe die schalltechnische Untersuchung vom Juli 2018 auch nicht von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen aus, weil bezüglich der zu erwartenden Fahrzeugbewegungen die Angaben der Beigeladenen zugrundegelegt worden seien. Diese wichen zwar von den nach allgemeinen Maßstäben zu erwartenden Fahrzeugzahlen ab. Der Antragsgegner habe jedoch die schalltechnische Untersuchung vom Juli 2018, der die von der Beigeladenen prognostizierte verkehrstechnische Untersuchung zugrunde liege, zum Bestandteil der Baugenehmigung gemacht und damit den Umfang der Gestattung hinreichend bestimmt festgelegt.
22 Gegen den am 4. Juni 2020 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am 16. Juni 2020 Beschwerde eingelegt und diese am 6. Juli 2020, einem Montag, begründet.
23 Der Antragsgegner hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt, jedoch zur Sache ausgeführt.
24 Dem Senat liegen die Akten des Ausgangsverfahrens und des Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht, die vom Verwaltungsgericht beigezogenen Behördenakten des Antragsgegners (ein Band, ein Ordner) und des Regierungspräsidiums Karlsruhe (ein Band) vor. Auf diese Akten sowie die zwischen den Beteiligten im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen wird wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen.
II.
25 1. Die Beschwerde ist zulässig (dazu a)) und begründet (dazu b)).
26 a) Die fristgerecht (§ 147 VwGO) eingelegte Beschwerde ist auch sonst zulässig, insbesondere sind die formellen Anforderungen nach § 146 Abs. 4 Satz 1 bis 3 VwGO gewahrt. Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit Schriftsatz an den beschließenden Gerichtshof begründet worden (§ 146 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwGO). Diese Begründung legt auch dar, warum der angefochtene Beschluss abzuändern ist, und setzt sich im Wesentlichen mit dem angefochtenen Beschluss auseinander (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO).
27 b) Die Beschwerde ist auch begründet. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe erschüttern die tragenden Erwägungen des angegriffenen Beschlusses (dazu aa). Aufgrund der folglich gebotenen uneingeschränkten Überprüfung durch den Senat, ob vorläufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist (vgl. Senatsbeschluss vom 30.1.2019 - 5 S 1913/18 - juris Rn. 32; VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 14.3.2013 - 8 S 2504/12 - juris Rn. 11, vom 27.2.2014 - 8 S 2146/13 - juris Rn. 14 und vom 11.4.2016 - 11 S 393/16 - juris Rn. 8, jeweils m. w. N.), ist der angefochtene Beschluss zu ändern (dazu bb).
28 aa) Die Antragsteller erschüttern tragende Erwägungen des angegriffenen Beschlusses. Denn das Vorhaben dürfte entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts jedenfalls das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme verletzen (dazu (1)). Auf die Frage, ob sich die Antragsteller auch auf einen Verfahrensfehler im Sinne des § 4 Abs. 1 UmwRG berufen können, kommt es mithin nicht an (dazu (2)).
29 (1) Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, dürfte die angegriffene Baugenehmigung entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts wegen der Verletzung nachbarschützender Vorschriften rechtswidrig und die rechtshängige Klage der Antragsteller damit erfolgreich sein. Denn angesichts der mit dem An- und Abfahrtsverkehr auf öffentlichen Verkehrsflächen verbundenen und dem Bauvorhaben zurechenbaren Geräusche und des Fehlens möglicher Maßnahmen zu deren Verminderung dürfte die Baugenehmigung gegen das zugunsten der Antragsteller zu berücksichtigende Rücksichtnahmegebot verstoßen. Dabei kann dahinstehen, ob dieses - bei unterstellter Wirksamkeit des Bebauungsplans - aus § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO oder anderenfalls aus § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB herzuleiten ist. Unterschiedliche Anforderungen an das Gebot der Rücksichtnahme dürften sich hieraus nicht ergeben. Auf die Wirksamkeit des Bebauungsplans kommt es damit jedenfalls im gegen die Baugenehmigung gerichteten Eilverfahren nicht an.
30 (a) Für die Beantwortung der Frage, ob von dem Bauvorhaben unzumutbare Belästigungen oder Störungen im Sinne des Gebots der Rücksichtnahme ausgehen, ist - worauf die Antragsteller zutreffend hinweisen - auf die grundsätzlich verbindlichen Festlegungen der Sechsten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung [TA] Lärm) zurückzugreifen, soweit diese anwendbar ist (vgl. Nr. 1 TA Lärm) und für Geräusche den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwirkung konkretisiert. Denn für Belästigungen und Störungen durch Umwelteinwirkungen, hier die von dem genehmigten Vorhaben hervorgerufenen und diesem zurechenbaren Lärmimmissionen, legt das Bundesimmissionsschutzgesetz das Maß der gebotenen Rücksichtnahme mit Wirkung auch für das Baurecht grundsätzlich allgemein fest (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.9.1983 - 4 C 74.78 - juris Rn. 13, Urteil vom 23.9.1999 - 4 C 6.98). Zur Bestimmung kann damit auf technische Regelwerke - wie die TA Lärm - zurückgegriffen werden, die in typischen nachbarlichen Konfliktsituationen objektivierbare Maßstäbe zur Konkretisierung des Schutzanspruchs bieten (vgl. Senatsbeschluss vom 30.1.2019 - 5 S 1913/18 - juris Rn. 55; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 4.8.2016 - 8 S 136/14 - juris Rn. 69; BVerwG, Urteil vom 29.11.2012 - 4 C 8.11 - juris Rn. 18; jeweils m. w. N.). Der TA Lärm kommt somit - anders als vom Verwaltungsgericht seiner Bewertung zugrunde gelegt - eine im gerichtlichen Verfahren zu beachtende Bindungswirkung zu. Ihre normative Konkretisierung ist abschließend, soweit sie bestimmte Gebietsarten und Tageszeiten entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit bestimmten Immissionsrichtwerten zuordnet und das Verfahren der Ermittlung und Beurteilung der Geräuschimmissionen vorschreibt. Für eine einzelfallbezogene Beurteilung der Schädlichkeitsgrenze lässt das normkonkretisierende Regelungskonzept der TA Lärm nur Raum, soweit es Spielräume insbesondere durch Kann-Vorschriften (z. B. Nr. 6.5 Satz 3 und 7.2 TA Lärm) und Bewertungsspannen (z. B. Nr. A 2.5.3 des Anhangs zur TA Lärm) eröffnet (BVerwG, Urteil vom 29.8.2007 - 4 C 2.07 - juris Rn. 12 m. w. N.).
31 (b) Gemessen daran liegen mit den vorhandenen Schallgutachten gewichtige Indizien dafür vor, dass die Nutzung des genehmigten Bauvorhabens mit unzumutbaren Geräuschimmissionen auf das Grundstück der Antragsteller einwirkt.
32 Nach Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm sollen Geräusche des An- und Abfahrtsverkehrs auf öffentlichen Verkehrsflächen in einem Abstand von bis zu 500 Metern von dem Betriebsgrundstück in Gebieten nach Nummer 6.1 Buchstaben c bis f durch Maßnahmen organisatorischer Art soweit wie möglich vermindert werden, soweit sie den Beurteilungspegel der Verkehrsgeräusche für den Tag oder die Nacht rechnerisch um mindestens 3 dB(A) erhöhen, keine Vermischung mit dem übrigen Verkehr erfolgt ist und die Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung (16. BImSchV) erstmals oder weitergehend überschritten werden. Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm in der Fassung vom 26.9.1998 (GMBl. 1998, 503) konkretisiert und bestätigt die in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bereits zuvor gewonnene Erkenntnis, dass auch der unter Inanspruchnahme einer öffentlichen Straße abgewickelte Zu- und Abgangsverkehr der Anlage, durch deren Nutzung er ausgelöst wird, zuzurechnen ist, sofern er sich innerhalb eines räumlich überschaubaren Bereichs bewegt und vom übrigen Straßenverkehr unterscheidbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.9.1998 - 4 C 5/98 - juris Rn. 37; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 5.3.1996 - 10 S 2830/95 - juris Rn. 18, jeweils m. w. N.).
33 Danach dürfte es der angefochtenen Baugenehmigung an der Festlegung von möglichen und notwendigen Maßnahmen organisatorischer - und ggf. betrieblicher - Art zur Minderung der Geräusche des An- und Abfahrtsverkehrs auf der K... Straße mangeln.
34 (aa) Der Anwendungsbereich von Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm ist bezogen auf die Nutzung der K... Straße für den An- und Abfahrtsverkehr zum genehmigten Distributionszentrum eröffnet, denn bei der K... Straße handelt es sich um einen für den allgemeinen Straßenverkehr gewidmeten und damit öffentlichen Verkehrsweg und nicht um einen Privatweg, bei dem der Lärm durch Vorgänge, die einen erkennbaren Bezug zum Betrieb der Anlage haben, dieser stets zuzurechnen wäre. Keine Zweifel bestehen unter Berücksichtigung des im Baugenehmigungsverfahrens von der Beigeladenen vorgelegten Verkehrsgutachtens (..., Verkehrsgutachten, Juli 2018, S. 14) auch dahingehend, dass (mindestens) in dem dort bezeichneten Umfang über die K...-... Straße An- und Abfahrtsverkehr zum genehmigten Distributionspark abgewickelt werden wird, mithin solche Verkehrsvorgänge, mit denen Personen oder Sachen zu der Anlage transportiert oder von ihr abgeholt werden und in einem funktionalen Zusammenhang mit dem Betrieb der Anlage stehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.8.1998 - 4 C 5/98 - juris Rn. 37). Auch befindet sich das Grundstück der Antragsteller in einem als allgemeines Wohngebiet festgesetzten Bereich, mithin einem solchen im Sinne von Nr. 6.1 Buchst. e TA Lärm.
35 (bb) Die zu erwartenden Geräusche dürften dem Betrieb des Distributionsparks als Anlage auch zuzurechnen sein.
36 (aaa) Zum einen weist die K... Straße in Höhe des Wohnhauses der Antragsteller zu allen Bereichen des genehmigten Distributionsparks eine Entfernung von weniger als 500 Metern auf. Zu dem für die Ein- und Ausfahrt zum Distributionspark vorgesehenen Bereich besteht eine Luftlinienentfernung von etwa 260 Metern.
37 (bbb) Zum zweiten dürfte auch die von Nr. 7.4 Abs. 2 Spiegelstrich 1 TA Lärm geforderte Erhöhung des Beurteilungspegels von mindestens 3 dB(A) nachgewiesen sein. Die Berechnung wird dabei nach den in Absätzen 3 und 4 aufgeführten Richtlinien unter Beachtung der Verkehrslärmschutzverordnung (16. BImSchV) vorgenommen. Damit sind die Beurteilungspegel sowohl der vorhandenen Verkehrsgeräusche als auch die des An- und Abfahrtsverkehrs nicht nach der TA Lärm zu ermitteln. Entsprechende Zu- und Abschläge entfallen. Das Berechnungsverfahren nach der 16. BImSchV schreibt zudem in Anlage 1 zu § 3 vor, dass die Ergebnisse auf ganze dB(A) aufzurunden sind (vgl. Feldhaus/Tegeder, TA Lärm, 1. Auflage 2015, Nr. 7.4 TA Lärm Rn 47; Hansmann in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 92. EL Februar 2020, Nr. 7.7 TA Lärm Rn. 52).
38 Danach ergeben sich hier unter Berücksichtigung der im Baugenehmigungsverfahren vorgelegten schalltechnischen Untersuchung (Planungsbüro Lärmschutz ..., Juli 2018, Unterlage 4.2, S. 1) für den dieser Untersuchung zugrunde gelegten Immissionsort (IO) 1, der sich hinter der Schallschutzwand an der Baugrenze des allgemeinen Wohngebiets befindet, unter Berücksichtigung des Neuverkehrs Pegelerhöhungen von bis zu 2,9 dB(A) und damit aufgerundet von mindestens 3 dB(A). Lediglich für den Messpunkt in einer Höhe von 3,1 Metern wurde für die Nachtstunden ein Wert von weniger als 2 dB(A) prognostiziert. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass sich unmittelbar an den in östlicher und westlicher Richtung gelegenen Fassaden des Hauses der Antragsteller in einer Entfernung von deutlich weniger als 10 Metern zur Baugrenze und damit zur K... Straße in südlicher Richtung im Ergebnis maßgeblich abweichende Messwerte ergeben könnten, die eine Pegelerhöhung von aufgerundet weniger als 3 dB(A) belegen würden, liegen nicht vor. Im Übrigen läge es insoweit im Verantwortungsbereich der Beigeladenen, eine lärmtechnische Untersuchung vorzulegen, die die tatsächlich maßgeblichen Immissionsorte vor dem Wohnhaus der Antragsteller in den Blick nimmt und für diese belastbare Werte liefert.
39 Entgegen der Ansicht der Beigeladenen dürfte es zudem für die nach Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm maßgebliche Berechnung der Erhöhung des Beurteilungspegels nach der 16. BImSchV nicht darauf ankommen, ob den nach diesem Regelwerk festgestellten unzulässigen Immissionen mit Mitteln des (passiven) baulichen Schallschutzes nach Maßgabe der 24. BImSchV und § 42 BImSchG begegnet werden kann. Entsprechende Fragen der Konfliktbewältigung stellen sich vielmehr erst in der Rechtsfolge, nicht schon bei der für Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm allein maßgeblichen Berechnung der Beurteilungspegel. Insoweit ist es auch nicht sinnwidrig, trotz im Bebauungsplan wegen der Verkehrszunahme festgesetzter passiver Schallschutzmaßnahmen in Form der Errichtung einer Lärmschutzwand und möglicher Auflagen zur Nutzung schalldämmender Außenbauteile bei der Zulassung konkreter Vorhaben nach Maßgabe der TA Lärm organisatorische Maßnahmen zur aktiven (weiteren) Lärmminimierung vorzusehen und Betroffenen einen entsprechenden Anspruch zuzubilligen. Insoweit ergänzen sich der straßenbezogene und der anlagenbezogene Lärmschutz.
40 Unabhängig davon ist - ohne dass es hierauf entscheidend ankommen dürfte - die im Bebauungsplan „O...“ im Zusammenhang mit dem Bebauungsplan „E...“ nach Maßgabe der damaligen schalltechnischen Untersuchung festgesetzte Lärmschutzwand voraussichtlich nur geeignet, die Freibereiche auf dem Grundstück der Antragsteller und den Bereich des Erdgeschosses vor nach der 16. BImSchV unzulässigen Lärmeinwirkungen zu schützen, während im 1. und 2. Obergeschoss weiterhin eine Überschreitung der Grenzwerte zu erwarten ist (vgl. ..., Schalltechnische Untersuchung vom 15.7.2011, Anhang 3.4). Auch dürfte nach Maßgabe der Festsetzung Nr. 1.7.2 des Bebauungsplans „O...- ...“ keine Verpflichtung der Antragsteller bestehen, die nach Osten und Westen gerichteten und mit Fenstern versehenen Fassaden ihres Reihenmittelhauses mit schalldämmenden Außenbauteilen auszustatten, da diese nicht im Sinne der Festsetzung zur K... Straße hin gerichtet sind. Vielmehr dürften die Fassaden von der Straße abgewandt sein, da der Winkel zwischen Straßenachse und Außenwand mindestens 90 Grad beträgt. Nach diesem Maßstab dürften im Sinne der Festsetzungen des Bebauungsplans auch alle zum dauerhaften Aufenthalt bestimmten Räume zur von der K...-... Straße abgewandten Seite ausgerichtet sein, ohne dass hierdurch eine wesentliche Verbesserung in Bezug auf die Lärmeinwirkung vor den Fenstern erzielt worden sein dürfte. Der Gutachter der schalltechnischen Untersuchung zum Bebauungsplan „E...“ ging auch davon aus, dass - anders als tatsächlich verwirklicht - im südlichen Bereich des Bebauungsplans „O...“ eine verkettete Bebauung als Schallschutzbebauung vorgesehen ist (vgl. ..., Schalltechnische Untersuchung vom 15.7.2011, S. 25) und legte seiner Begutachtung damit letztlich fehlerhafte Erwartungen zugrunde.
41 Die von den Antragstellern aufgeworfene Frage, ob der IO 1 zur Bestimmung der nach der DIN 4109 erforderlichen Anforderungen an die Luftschalldämmung der Außenbauteile tatsächlich dem Lärmpegelbereich III (vgl. S. 11 der Begründung zur 2. Änderung des Bebauungsplans „O...“) zugeordnet werden konnte oder angesichts eines zu addierenden Zuschlags von 3 dB(A) (vgl. Nr. 5.5.6 DIN 4109) dem Lärmpegelbereich IV hätte zugeordnet werden müssen, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Beantwortung.
42 Weil damit bereits durch das von der Beigeladenen konkret im Bebauungsplanverfahren prognostizierte Verkehrsaufkommen ein mit Blick auf Nr. 7.4 TA Lärm hinreichender Lärmzuwachs zu erwarten ist, kommt es auf die Frage, ob diese Prognose belastbar ist oder ob vielmehr das regelmäßig abzuschätzende Verkehrsaufkommen, das bei einem üblichen Distributionszentrum deutlich höher läge (..., Verkehrsgutachten, Juli 2018, S. 9 Nr. 4.2), dem Gutachten zugrunde zu legen wäre, nicht an. Auch bedarf es keiner Klärung, ob die Baugenehmigung das von der Beigeladenen konkret prognostizierte und dem Lärmgutachten zugrunde gelegte Verkehrsaufkommen hinreichend bestimmt dadurch festschreibt, dass die diesem zugrunde gelegte schalltechnische Untersuchung (Planungsbüro für Lärmschutz ..., Schalltechnische Untersuchung, Juli 2018) zum Bestandteil der Baugenehmigung (Nebenbestimmung Nr. 5, S. 190 der Verwaltungsakte des Antragsgegners) gemacht wurde.
43 (ccc) Zum dritten dürfte im westlichen Bereich der K... Straße in Höhe des Wohnhauses der Antragsteller noch keine Vermischung des An- und Abfahrtsverkehrs des Distributionsparks mit dem sonstigen Verkehr erfolgt sein. Voraussetzung für die Zurechenbarkeit des An- und Abfahrtsverkehrs ist, dass dieser als Quell- und Zielverkehr erkennbar in Erscheinung treten muss, die Betroffenen mithin nicht (nur) den Verkehrslärm allgemein als belästigend empfinden (vgl. auch LAI-Hinweise zur Auslegung der TA Lärm in der Fassung des Beschlusses vom 22. und 23. März 2017, Nr. 7.4 Abs. 2, S. 14). Daran kann es - wohl auch bei Erhöhung der maßgeblichen Beurteilungspegel um 3 dB(A) (a.A.: Feldhaus/Tegeder, TA Lärm, 1. Auflage 2014, Nr, 7.4 Rn. 49) - fehlen, wenn sich das Verkehrswegenetz in kurzer Entfernung von der Anlage verzweigt und nicht zu prognostizieren ist, welchen Weg die Fahrzeuge nehmen. Die Vermischung kann dabei frühestens an der nächsten Kreuzung ab dem Zufahrts- und Abfahrtsbereich des Betriebsgrundstücks eintreten und ist abgeschlossen, wenn das anlagenbedingte Verkehrsaufkommen nicht mehr erkennbar in Erscheinung tritt (vgl. zum Ganzen Hansmann in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 92. EL Februar 2020, TA Lärm Nr. 7.4 Rn. 54).
44 Nach dieser Maßgabe dürfte das mit dem genehmigten Distributionspark verbundene Verkehrsaufkommen im westlichen Teil der K... Straße noch erkennbar in Erscheinung treten und noch nicht mit dem allgemeinen Verkehr vermischt sein. Dies ergibt sich zum einen aus dem von der Beigeladenen vorgelegten Verkehrsgutachten, ausweislich dessen es dort (QS 2 – K...-... Straße West) im Prognosefall im Zeitraum von 6 Uhr bis 22 Uhr zu einer Gesamtbelastung von 851 PKW und 542 LKW kommen soll, was einer Erhöhung um 198 PKW und 293 LKW entspricht. Hinsichtlich der Belastung durch LKW ist mithin mehr als eine Verdoppelung der Fahrzeugzahlen zu erwarten. Für die Nachtzeit von 22 Uhr bis 6 Uhr wird immerhin eine Erhöhung um 50 Fahrzeuge, davon 7 LKW erwartet (..., Verkehrsgutachten, Juli 2018, S. 14 Nr. 4.5.2). Diese Steigerung wird von den betroffenen Anliegern als eigenständige neue Belastung - insbesondere gegenüber dem bisher aus südlicher Richtung stammenden gewerblichen Verkehr - wahrgenommen werden, was sich auch bereits aus der deutlichen Erhöhung der Beurteilungspegel ergibt. Für die Zurechenbarkeit des Neuverkehrs spricht dabei auch, dass der An- und Abfahrtsverkehr des Distributionsparks nach dem Verlassen des Betriebsgeländes zwar zwei Kreuzungsbereiche, insbesondere auch den Kreuzungsbereich O... Weg/K... Straße, passieren muss, jedoch keine variablen An- und Abfahrtsrouten bestehen. Vielmehr stellt die K...-Straße für die Nutzer des genehmigten Distributionsparks und die untergeordneten südlich gelegenen Gewerbebetriebe im Grunde die einzige Verbindung zur östlich verlaufenen P... Straße (L ...) dar, die wiederum die Anbindung an Bundesfernstraßen gewährleistet. Eine Befahrung des O... Wegs in nördlicher oder südlicher Richtung ist hingegen nicht zielführend.
45 (ddd) Schließlich sind entsprechend Nr. 7.4 Abs. 2 Spiegelstrich 3 TA Lärm auch die Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV erstmals oder weitergehend überschritten, wie sich aus der schalltechnischen Untersuchung ohne Weiteres ergibt (Planungsbüro für Lärmschutz ..., Schalltechnische Untersuchung, Juli 2018, Unterlage 4.2).
46 (cc) In der Rechtsfolge der Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm sind Maßnahmen zur Verminderung der Geräusche des An- und Abfahrtsverkehrs im Baugenehmigungsverfahren in Betracht zu ziehen. In Betracht kommen dabei vornehmlich organisatorische Maßnahmen wie die Konzentration des Lieferverkehrs auf bestimmte Zeiten oder Anweisungen zur Geschwindigkeitsverminderung, wobei unter Umständen auch betriebliche Maßnahmen wie die Verlegung einer Werkseinfahrt in die Überlegungen einzubeziehen sind (vgl. Hansmann in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 92. EL Februar 2020, Nr. 7.4 TA Lärm Rn. 57). Entsprechende Lärmminderungsmaßnahmen als Nebenbestimmungen zur Baugenehmigung, die der Sicherstellung dienen, dass von dem Vorhaben keine unzumutbaren Einwirkungen ausgehen und damit die gesetzlichen Voraussetzungen eingehalten werden, stehen grundsätzlich im Ermessen der Baurechtsbehörde (vgl. § 58 Abs. 1 LBO i. V. m. § 36 Abs. 2 Alt. 2 LVwVfG). Allerdings ist Nr. 7.4 Abs. 2 TA Lärm die Wertung zu entnehmen, dass ein Vorhaben jedenfalls dann die gebotene Rücksichtnahme gegenüber den betroffenen Nachbarn vermissen lässt, wenn sachlich und rechtlich mögliche sowie gegenüber dem Anlagenbetreiber verhältnismäßige Maßnahmen unterbleiben (vgl. OVG NRW, Urteil vom 13.9.2010 - 7 A 1186/08 - juris Rn. 79; vgl. auch Hansmann in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 92. EL Februar 2020, Nr. 7.4 TA Lärm Rn. 58). Die der Beigeladenen erteilte angefochtene Baugenehmigung des Antragsgegners sieht hingegen derartige Maßnahmen nicht vor, obwohl keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese von vornherein ausgeschlossen wären. Vielmehr ist ersichtlich, dass der Antragsgegner entsprechende potentielle Maßnahmen im Sinne eines Ermessensausfalls und damit unter Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot überhaupt nicht in Betracht gezogen hat. Das ergibt sich schon daraus, dass er entsprechend der - nach dem Vorgenannten rechtlich unzutreffenden - Zusammenfassung zum vorhabenbezogenen Verkehrslärm in der schalltechnischen Untersuchung (Planungsbüro für Lärmschutz ..., Schalltechnische Untersuchung Juli 2018, S. 25) davon ausgegangen sein dürfte, dass Verkehrsgeräusche auf öffentlichen Verkehrsflächen nicht zu berücksichtigen seien.
47 (2) Auf die Frage, ob sich die Antragsteller nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 UmwRG im Rahmen der Begründetheit ihres Rechtsbehelfs auch darauf berufen können, dass es an einer ihres Erachtens im Baugenehmigungsverfahren durchzuführenden Umweltverträglichkeitsprüfung mangelt, kommt es damit nicht entscheidungserheblich an. Allerdings kann die diesbezügliche Prüfung entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts jedenfalls nicht deshalb unterbleiben, weil die Vorschriften des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung nicht drittschützend sind. Auch kommt es nicht auf die Frage an, ob § 4 Abs. 3 UmwRG eine Klagebefugnis begründet. Vielmehr können sich die Kläger gegenüber der angegriffenen Baugenehmigung bereits klagebefugnisbegründend auf das Gebot der Rücksichtnahme berufen. Für ihren Rechtsbehelf ist damit eine Begründetheitsprüfung eröffnet, deren Maßstab durch § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 UmwRG auf objektive Rechtsverstöße im Sinne des § 4 Abs. 1 UmwRG erweitert wird.
48 bb) Sind mit der voraussichtlichen Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme durch die angegriffene Baugenehmigung tragende Erwägungen des Verwaltungsgerichts erschüttert und trägt die Begründung des Verwaltungsgerichts die Ablehnung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz nicht, hat der Senat zwar grundsätzlich in eine umfassende Prüfung einzutreten. Der nach § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO sowie § 212a BauGB statthafte Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes der Antragsteller ist danach hier allerdings zulässig und ohne Weiteres begründet. Denn mit Blick auf die feststellbare Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung, eine daraus folgende Verletzung der Antragsteller in eigenen Rechten und die damit bestehenden Erfolgsaussichten der Klage überwiegt das Aufschubinteresse der Antragsteller (§ 80 Abs. 1 VwGO) das Interesse der Beigeladenen an einer sofortigen Vollziehung. Raum für eine weitergehende Folgenabwägung - unter Einbeziehung der wirtschaftlichen Folgen für die Beigeladene und der Auswirkungen auf die Antragsteller - bleibt damit nicht, da an dem Vollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsakts schon aus Gründen der Rechtstaatlichkeit kein öffentliches Interesse bestehen kann (vgl. Saurenhaus/Buchheister in Wysk, VwGO, 2. Auflage 2016, § 80 Rn. 50).
49 cc) Damit ist unter Abänderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 26. Oktober 2018 anzuordnen.
50 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3 VwGO. Der in der Sache unterlegenen Beigeladenen, die keinen Antrag gestellt hat, können keine Kosten auferlegt werden.
51 Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 und folgt der nicht beanstandeten Wertfestsetzung im ersten Rechtszug.
52 Der Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
1
Die Parteien streiten im Rahmen eines Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Verfügung um die Lage der Arbeitszeit der Verfügungsklägerin (Klägerin).
2
Die Klägerin ist auf der Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrags (Anlage K 1) seit dem 13.10.2008 als Kassiererin in Vollzeit bei der Verfügungsbeklagten (Beklagten) beschäftigt. Zur Arbeitszeit regelt Ziff. 12 des Arbeitsvertrags auszugsweise:
3
„…Die Lage der täglichen Arbeitszeit erfolgt in Abstimmung mit dem Abteilungsleiter. Eine Änderung der Arbeitszeit im Rahmen des Tarifvertrages bzw. geltender Betriebsvereinbarungen ist möglich. Andere Punkte dieses Vertrages werden hiervon nicht berührt.“
4
Die Klägerin befand sich bis zum 30.4.2020 in Elternzeit, seit dem 1.5.2020 ist sie wieder bei der Beklagten tätig. Das Kind der Klägerin wird werktags bis 14.30 Uhr bei einer Tagesmutter betreut, einen Platz in einer Kindertagesstätte hat die Klägerin nicht. Der Ehemann der Klägerin ist selbständiger Friseur mit einem eigenen Salon, der Montag bis Freitag von 9:00 Uhr bis 19:00 Uhr geöffnet ist, am Samstag von 9:00 Uhr bis 18:00 Uhr. Das höchste Kundenaufkommen besteht am Nachmittag und abends sowie freitags und samstags. Dem Ehemann der Klägerin ist es möglich, das gemeinsame Kind um 14.30 Uhr von der Tagesmutter abzuholen und solange zu betreuen, bis die Klägerin nach Ende der Frühschicht nach Hause kommt. Eine andere Betreuungsmöglichkeit für das Kind gibt es – nach Vortrag der Klägerin – derzeit nicht.
5
Die Beklagte betreibt ein Einzelhandelsgeschäft. Sie beschäftigt über 70 Kassiererinnen. Die Mitarbeiter der Beklagten arbeiten montags bis samstags in einem Schichtsystem. Die Frühschicht beginnt um 07:00 Uhr und endet um 15:30 Uhr. Die Spätschicht beginnt um 13:00 Uhr und endet um 20:00 Uhr, donnerstags um 22:00 Uhr.
6
Im Betrieb der Beklagten besteht eine „Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit/ Reduzierung von Überstunden“ (Anlage B 1). Darin finden sich u.a. folgende Regelungen:
7
4. Arbeitszeit
…
4.2 Die Verteilung der individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Werktage ergibt sich aus den einzelvertraglichen Vereinbarungen. Die einzelvertraglichen Vereinbarungen müssen folgende Bedingungen einhalten:
a) Die Arbeit wird an Werktagen geleistet.
b) Die Beschäftigten arbeiten wechselschichtig an fünf bzw. maximal sechs Werktagen je Woche.
c) Die regelmäßige Arbeitszeit darf pro Arbeitstag nicht weniger als 3 Stunden und nicht mehr als 8 Stunden betragen. Einzelvertraglich ist auf Wunsch des Mitarbeiters eine Regelung bis zu den gesetzlichen Grenzen möglich.
d)…
e) Die Arbeitszeit wird an den einzelnen Werktagen zusammenhängend erbracht. Pro Tag ist grundsätzlich nur ein Arbeitseinsatz zulässig. Auf Wunsch des Mitarbeiters und mit Zustimmung des Betriebsrates kann von dieser Regelung abgewichen werden.
4.3 …
4.4. Wenn auf Veranlassung des Arbeitgebers Änderungen der einzelvertraglich vereinbarten Arbeitszeiten vorgenommen werden sollen, bedarf es zu ihrer Wirksamkeit der Zustimmung des Betriebsrates. Soweit die einzelvertraglichen Veränderungen der Arbeitszeiten den vorstehend definierten Mindestbedingungen nicht entsprechen, kann der Betriebsrat ihnen schriftlich binnen einer Woche widersprechen, ansonsten gilt die Zustimmung als erteilt.
8
Die Klägerin hat behauptet, auf Grund der fehlenden Kinderbetreuung sei es ihr nicht möglich, abends und am Samstag zu arbeiten. Ihr Ehemann könne das Kind nicht betreuen, während er Kunden bediene. Die Beklagte müsse sie ausschließlich in der Frühschicht und nicht an Samstagen beschäftigen. Zwar unterliege die Bestimmung der Arbeitszeit dem Direktionsrecht des Arbeitgebers. Jedoch sei auch auf ihre Verpflichtung zur Personensorge für ihr Kind Rücksicht zu nehmen. Daher ergebe eine Abwägung, dass ihre durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition die Beklagte verpflichte, sie nur zu den im Antrag genannten Bedingungen zu beschäftigen. Die Beklagte beschäftige eine Vielzahl von Verkäuferinnen und es gebe auch andere Mitarbeiterinnen, die ausschließlich in der Vormittagsschicht arbeiten. Weshalb sie, die Klägerin, zwingend auch in der Spätschicht und samstags arbeiten müsse, erschließe sich nicht. Die Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit stehe ihrem Begehren zudem nicht entgegen. Gemäß Ziffer 4.4. der Betriebsvereinbarung müsse der Betriebsrat nur dann bei Änderungen der einzelvertraglich vereinbarten Arbeitszeit zustimmen, wenn diese auf Veranlassung des Arbeitgebers erfolgen sollen. Dies sei hier nicht der Fall, da hier die Änderungen auf Veranlassung der Arbeitnehmerin erfolgten.
9
Ohne Erlass der einstweiligen Verfügung könne sie die Betreuung ihres Kindes ab dem 1.5.2020 nicht sicherstellen.
10
Die Klägerin hat beantragt,
11
die Antragsgegnerin zu verurteilen, sie ab dem 01.05.2020 bis zu einer erstinstanzlichen Entscheidung über den zwischen den Parteien beim Arbeitsgericht am 10.03.2020 anhängig gemachten Rechtsstreit mit den folgenden Arbeitszeiten zu beschäftigen:
12
Montag bis Freitag in der Zeit von 07:00 Uhr bis 15:30 Uhr (Frühschicht)
13
Die Beklagte hat beantragt,
14
den Antrag zurückzuweisen.
15
Sie hat die Auffassung vertreten, es fehle schon am Verfügungsgrund, weil die Klägerin die Eilbedürftigkeit des Verfahrens selbst herbeigeführt habe. Im Übrigen fehle es an einem Verfügungsanspruch, weil die Arbeitszeiten in ihrem Markt durch eine Betriebsvereinbarung abschließend geregelt seien, von der nur mit Zustimmung des Betriebsrats abgewichen werden könne. Die Klägerin müsse ihre Wünsche zur Arbeitszeitgestaltung über den Betriebsrat anmelden und durchsetzen. Auch sei ihr Direktionsrecht bei der Festlegung der Arbeitszeit nicht auf die von der Klägerin gewünschten Arbeitszeiten reduziert. Die Klägerin lege die Notwendigkeit der begehrten Arbeitszeitregelung nicht ausreichend dar. Der meiste Kundenandrang sei bei ihr in den Abendstunden und am Wochenende zu verzeichnen. Hier müsse die Mehrheit der Beschäftigten im Einsatz an der Kasse sein. Dies gehe im Sinne eines geordneten Geschäftsbetriebs den Interessen der Klägerin vor.
16
Das Arbeitsgericht hat durch Urteil dem Antrag in vollem Umfang entsprochen. Zur Begründung hat es ausgeführt, bei der Ausübung ihres Direktionsrechts habe die Beklagte gemäß den §§ 241 Abs. 2, 242 BGB auf die Interessen der Klägerin Rücksicht zu nehmen, was im konkreten Fall nach entsprechender Abwägung dazu führe, dass sie die Klägerin nur zu den von ihr beantragten Zeiten einsetzen dürfe. Dem stehe die Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit nicht entgegen. Der erforderliche Verfügungsgrund liege ebenfalls vor. Wegen der weiteren Einzelheiten der Entscheidung wird auf die angefochtene Entscheidung verwiesen.
17
Gegen das am 22.05.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22.06.2020 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung bis zum 24.8.2020 am 24.08.2020 begründet.
18
Sie wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag wie folgt: Zu Unrecht gehe das Arbeitsgericht davon aus, dass sich ihr Ermessen bei der Arbeitszeitbestimmung auf Null reduziert habe. So habe das Arbeitsgericht die Möglichkeit der Betreuung des Kindes durch den Ehemann gar nicht in den Blick genommen. Dieser könne als selbständiger Unternehmer seinen Betrieb so organisieren, dass die Wochenendschichten und die Nachmittagsschichten von seinem Personal übernommen würden. Hierzu habe die Klägerin nicht ausreichend vorgetragen. Sie habe durch ihr Arbeitszeitkonzept, das in der Betriebsvereinbarung hierzu zum Ausdruck komme, eine feste betriebliche Organisationsentscheidung getroffen, die einheitlich angewandt werden müsse. Sollte die Klägerin mit ihrem Arbeitszeitwunsch durchkommen, sei zu befürchten, dass in der Folgezeit auch Kolleginnen mit der Obliegenheit zur Kindererziehung einen entsprechenden Arbeitszeitwunsch äußern würden. Die Interessen der Klägerin würden durch die Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit ausreichend geschützt. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei die Klägerin in der Verpflichtung ihre Schutzbedürfnisse dem Betriebsrat mitzuteilen, der die Dienstpläne genehmigen müsse. Im Wesentlichen werde die Klägerin mit ihren Wünschen voll durchdringen. Eine Ausnahme könne es in Zeiten hoher Auslastung wie im Weihnachtsgeschäft geben. Diese kurzzeitigen Einschränkungen seien für die Klägerin hinnehmbar. Schließlich bleibe es dabei, dass es an einem Verfügungsgrund fehle.
19
Die Beklagte hat zunächst den Antrag angekündigt,
20
das Urteil des Arbeitsgerichts Kiel vom 30.04.2020 zum Az. 1 Ga 5 d/20 abzuändern und die Klage abzuweisen.
21
Mit Urteil vom 11.08.2020 hat das Arbeitsgericht der Klage der Klägerin in der Hauptsache stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit den folgenden Arbeitszeiten zu beschäftigen: Montag bis Freitag in der Zeit von 07:00 Uhr bis 15:30 Uhr (Frühschicht).
22
Darauf haben die Parteien das Berufungsverfahren übereinstimmend für erledigt erklärt.
II.
23
Nachdem die Parteien das Berufungsverfahren übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist in entsprechender Anwendung des § 91 a ZPO nunmehr nur noch über die Kosten des Berufungsverfahren zu entscheiden. Dabei entspricht es billigem Ermessen die Kosten der Berufung der Klägerin aufzuerlegen.
24
1. Die Parteien können nicht nur die Hauptsache in der Rechtsmittelinstanz für erledigt erklären, sondern auch das Rechtsmittel selbst (BAG v. 2.1.2018 – 6 AZR 235/17 – juris; weitere Nachweise bei Zöller, Komm. zur ZPO, 33. Aufl. § 91 a, Rn. 19). Eine solche Erledigungserklärung kommt in Betracht, wenn ein ursprünglich zulässiges und begründetes Rechtsmittel nachträglich unzulässig oder unbegründet wird (Zöller, aaO). Bei übereinstimmender Erledigungserklärung ist dann nur noch über die Kosten des Rechtsmittels zu entscheiden. Voraussetzung ist allerdings, dass das Rechtsmittel statthaft und zulässig ist. Das unzulässige Rechtsmittel ist auch bei beiderseitiger Erledigungserklärung zu verwerfen (Zöller, aaO, Rn. 20).
25
2. Die Berufung der Beklagten war gemäß § 64 Abs. 2 lit. b) ArbGG statthaft und form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden und damit zulässig.
26
3. Mit Schriftsatz vom 12.10.2020 hat die Beklagte das Berufungsverfahren für erledigt erklärt. Dem hat sich die Klägerin mit Schriftsatz vom 19.10.2020 angeschlossen. Ob tatsächlich ein erledigendes Ereignis eingetreten ist, ist bei übereinstimmender Erledigungserklärung der Parteien nicht vom Gericht zu prüfen.
27
Vielmehr ist entsprechend § 91 a Abs. 1 S. 1 ZPO über die Kosten der Berufung unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen durch Beschluss zu entscheiden. Billigem Ermessen entspricht es, die Kosten des Berufungsverfahrens der Klägerin aufzuerlegen, denn die Berufung der Beklagten wäre aller Voraussicht nach erfolgreich gewesen.
28
4. Für das Begehren der Klägerin fehlte es am Verfügungsanspruch. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die Klägerin ausschließlich zu den im Antrag bezeichneten Arbeitszeiten zu beschäftigen. Eine entsprechende Verpflichtung folgt weder aus dem Arbeitsvertrag der Klägerin, noch ist das Ermessen der Beklagten hinsichtlich der Lage der Arbeitszeit auf Null reduziert.
29
a) Aus ihrem Arbeitsvertrag ergibt sich für die Klägerin nichts für ihr Begehren.
30
aa) Der Arbeitsvertrag der Klägerin bestimmt, dass die Lage der täglichen Arbeitszeit in Abstimmung mit dem Abteilungsleiter „erfolgt“. Darüber hinaus gilt für die Klägerin gemäß § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG die Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Diese legt fest, dass die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Werktage sich aus den einzelvertraglichen Vereinbarungen ergibt. Die Arbeitszeit liegt dabei nach Ziff. 4.2. d) BV Arbeitszeit montags bis freitags zwischen 5.30 Uhr und 21.00 Uhr und samstags zwischen 5.30 Uhr und 20.30 Uhr. Die konkrete Zuweisung der Arbeitszeit wird durch die regelmäßig von der Beklagten aufgestellten, vom Betriebsrat mitbestimmten Dienstpläne vorgenommen.
31
bb) Ein vertraglicher Anspruch auf die von der Klägerin begehrte Arbeitszeit besteht damit unzweifelhaft nicht. Vielmehr ist nach dem Vertrag eine Tätigkeit an allen Werktagen – auch samstags – sowie auch in der Spätschicht ab 13.00 Uhr vorgesehen. Eine Vertragsänderung hat die Klägerin nicht behauptet. Sie hat im vorliegenden Verfahren auch keinen vertraglichen Anspruch geltend gemacht.
32
b) Die Beklagte ist auch nicht verpflichtet, bei der Ausübung ihres Direktionsrechts bei der Zuweisung der Lage der Arbeitszeit durch Einteilung in die Dienstpläne gemäß § 106 S. 1 GewO die Klägerin dauerhaft nur zu den von ihr beantragten Zeiten einzusetzen. Das durch die Vorschrift begründete Ermessen der Beklagten ist nicht dahin reduziert, dass die Klägerin stets nur zu den von ihr gewünschten Zeiten eingesetzt werden darf und jede andere Arbeitszeitzuweisung ermessenswidrig wäre.
33
aa) Eine Leistungsbestimmung im Sinne des § 106 S. 1 GewO entspricht billigem Ermessen, wenn die wesentlichen Umstände des Falles abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt worden sind. Geht es um die Bestimmung der Lage der Arbeitszeit, sind bei der vorzunehmenden Interessenabwägung auch die Verpflichtungen des Arbeitnehmers zur Personensorge zu berücksichtigen. Geht es um die Personensorge für ein Kind, hat der Arbeitnehmer eine durch Art. 6 GG geschützte Rechtsposition, was seine Rechtsposition in der Abwägung verstärkt (LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 26.11.2008 – 2 Sa 217/08 – juris; LAG Köln, Urt. v. 27.03.2012 – 12 SA 987/11 – juris).
34
bb) Maßgeblich für die Abwägung ist die Interessenlage im Zeitpunkt der Ausübung des Direktionsrechts (std. Rspr., z.B.: BAG v. 23.09.2004 – 6 AZR 567/03 – juris).
35
cc) Nach diesen Grundsätzen kann nicht festgestellt werden, dass das Ermessen der Beklagten zukünftig bei der Erstellung jedes neuen Dienstplans darauf reduziert ist, dass die Klägerin nur zu den von ihr beantragten Zeiten eingesetzt werden darf. Der Klägerin geht es darum, bereits jetzt ein Abwägungsergebnis vorzugeben, bei dem die konkreten Umstände der Abwägung noch gar nicht feststehen. Denn maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Arbeitszeitzuweisung ist der Zeitpunkt der Aufstellung der jeweiligen Dienstpläne, da erst zu jenem Zeitpunkt die Beklagte ihr Ermessen gegenüber der Klägerin ausübt. Erst bei Einteilung in den jeweiligen Dienstplan kann daher überprüft werden, ob dem grundsätzlich schützenswerten Interesse der Klägerin im Einzelfall betriebliche Interessen der Beklagten oder Interessen anderer Arbeitnehmer entgegenstehen (ebenso: LAG Köln, aaO, Rn. 45). Die Beklagte hat insoweit etwa auf das Weihnachtsgeschäft hingewiesen, das den Einsatz der Klägerin zwingend auch an einem Nachmittag oder dem Samstag erfordern könnte. Ob Interessen der Beklagten das zweifellos erhebliche Interesse der Klägerin an der Nichtbeschäftigung zu diesen Zeiten überwiegt, kann jeweils nur in der konkreten Situation unter Berücksichtigung und Abwägung der dann konkreten Interessen entschieden werden, nicht – wie mit dem Antrag geltend gemacht – jetzt generell-abstrakt für alle zukünftigen Einsätze. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von der Konstellation, die dem LAG Mecklenburg-Vorpommern zur Entscheidung vorgelegen hat. Dort ging es nur um die einmalige Festlegung der Lage der Arbeitszeit, nicht um die sich regelmäßig wiederholende Einteilung der Arbeitnehmer in wechselnde Schichten.
36
Die Beklagte hat auch bereits darauf hingewiesen, dass die Klägerin ihre Interessen an der Dienstplangestaltung über den Betriebsrat einbringen kann, dessen Einwände regelmäßig berücksichtigt werden. Sollte dies der Klägerin nicht erfolgreich gelingen, bleibt es ihr unbenommen, gegen die jeweiligen konkreten Dienstpläne – ggf. im Rahmen einer einstweiligen Verfügung – vorzugehen.
37
5. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde kommt im einstweiligen Verfügungsverfahren nicht in Betracht (BAG v. 22.1.2003 – 9 AZB 7/03 – juris, Rn. 4).
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen trägt der Kläger.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt die Aufhebung einer von dem Beklagten erteilten glücksspielrechtlichen Erlaubnis zugunsten des Beigeladenen.2 Der Kläger ist Betreiber der Spielhalle „...“ in der S. S.... in B. B.. Eine Erlaubnis nach § 33i GewO zum Betrieb dieser Spielhalle wurde ihm am 15. Januar 1998 erteilt. In weniger als 500 m Entfernung (H....) betreibt der Beigeladene spätestens seit 2007 alleine die Spielhalle „P.“.3 Am 14. Juni 2017 wurde dem Kläger auf seinen Antrag vom 24. Februar 2016 von dem Landratsamt B. (Landratsamt) eine Erlaubnis nach § 41 Abs. 1 Landesglücksspielgesetz (LGlüG) unter Anerkennung eines Härtefalls gemäß § 51 Abs. 5 LGlüG für die von ihm betriebene Spielhalle befristet bis zum 28. Februar 2021 erteilt. Die erteilte Erlaubnis umfasste zusätzlich eine Befreiung von der Einhaltung des Abstandsgebotes gemäß § 42 Abs. 1 LGlüG. Das Landratsamt führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass angesichts des bis 28. Februar 2021 laufenden Mietvertrages eine unbillige Härte vorliege. Gegen die Verweigerung der beantragten (unbefristeten) Erlaubnis nach § 41 Abs. 1 LGlüG und gegen die Befristung seiner Härtefallerlaubnis legte der Kläger am 6. Juli 2017 Widerspruch ein. Dabei bezog er seinen Widerspruch auch auf erteilte glücksspielrechtliche Erlaubnisse im Umkreis von 500m Luftlinie um die klägerische Spielhalle herum.4 Ebenfalls am 14. Juni 2017 erteilte das Landratsamt dem Beigeladenen für dessen Spielhalle „P.“ eine Erlaubnis nach § 41 Abs. 1 LGlüG unter Anerkennung eines Härtefalls nach § 51 Abs. 5 LGlüG befristet bis zum 30. Juni 2021. Begründet wurde die Erteilung der Härtefallerlaubnis an den Beigeladenen mit dessen laufenden Pachtzahlungen bis zum Ende der Laufzeit des Pachtvertrages. Der von dem Beigeladenen gegen die Befristung seiner Erlaubnis erhobene Widerspruch ist Gegenstand eines weiteren Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht (Az. 3 K 6070/17).5 Das Regierungspräsidium Tübingen wies mit Schreiben vom 15. Mai 2019 darauf hin, dass das Optionsrecht auf Verlängerung des Mietvertrages im Februar 2015, und damit nach dem Inkrafttreten des Landesglücksspielgesetzes, ausgeübt worden sei und zudem ein Kündigungsrecht – mit einer Kündigungsfrist von 12 Monaten – bestehe.6 Das Landratsamt entschied in der Folge mit Bescheid vom 24. Juni 2019 über den klägerischen Antrag dergestalt, dass unter Abänderung der Entscheidung vom 14. Juni 2017 der Antrag des Klägers auf eine glückspielrechtliche Erlaubnis insgesamt abgelehnt wurde. Der Betrieb der Spielhalle über den 31. Juli 2019 hinaus wurde dem Kläger untersagt. Zur Begründung bezog sich das Landratsamt auf die vom Regierungspräsidium ausgeführten Argumente, ein Härtefall liege nicht vor. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 25. Juli 2019 Widerspruch erhoben und nach zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 7. August 2020 Klage erhoben und begehrt die Erteilung einer glückspielrechtlichen Erlaubnis (Verfahren 3 K 2934/20).7 Der Drittwiderspruch des Klägers gegen die glücksspielrechtliche Erlaubnis zugunsten des Beigeladenen wurde mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 2019 zurückgewiesen und eine Gebühr von 150,00 Euro festgesetzt.8 Das Regierungspräsidium begründete die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Widerspruch bereits unzulässig sei. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg seien die dem Konkurrenten erteilten Härtefallbefreiungen nicht im Drittwiderspruchsverfahren des Antragstellers zu überprüfen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. April 2018 – 6 S 2250/17, juris Rn. 10). Im Falle des Nebeneinanders von Bestandsspielhallen mit und ohne Härtefallbefreiung bleibe dem unberücksichtigten Spielhallenbetreiber nach dem gesetzgeberischen Willen nur die Möglichkeit, selbst einen Antrag auf Befreiung nach § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG zu stellen. Eine Auswahlentscheidung unter Einbeziehung der Neubewerber finde insoweit nicht statt. Somit schließe eine auf Basis eines Härtefalls erteilte Spielhallenerlaubnis alle anderen im Umkreis von 500 Metern liegenden Spielhallen, denen kein Härtefall erteilt werden könne, von einer Erlaubniserteilung aus. Ungeachtet dessen sei auch eine drittschützende Norm, deren Verletzung der Kläger geltend machen könne, vorliegend nicht ersichtlich. Insbesondere eine Klagebefugnis aus Art. 12 GG könne nicht abgeleitet werden. § 51 Abs. 5 LGlüG solle erkennbar nur die Interessen des jeweiligen Spielhallenbetreibers an der Abwendung einer unbilligen Härte schützen, nicht aber die Interessen eines Konkurrenten. Die dem Beigeladenen erteilte Härtefallerlaubnis sei angesichts des noch bis zum 28. Februar 2022 laufenden Pachtvertrages und der damit verbundenen Mietzinsverpflichtungen nicht zu beanstanden. Eine Anpassung des Betriebes sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Mit Vertrag vom 24. März 2010 seien die Räumlichkeiten der Spielhalle „P.“ von dem Beigeladenen angemietet und eine Laufzeit über 12 Jahre bis zum 28. Februar 2022 festgelegt worden. Die Räumlichkeiten seien als Spielhalle vermietet worden, ein Sonderkündigungsrecht sei nicht eingeräumt worden.9 Der Kläger verfolgt sein Begehren mit seiner Klage vom 2. August 2019 weiter. Er ist der Auffassung, dass ein transparentes und chancengleiches Auswahlverfahren und eine ordnungsgemäße Auswahlentscheidung gerichtet auf die Frage, welcher der konkurrierenden Betreiber seine Spielhalle langfristig weiter betreiben dürfe, bisher nicht durchgeführt worden sei. Es bestehe der Verdacht, dass der Pachtvertrag des Beigeladenen nicht vor dem Stichtag des 18. November 2011 geschlossen worden sei, insbesondere der handschriftlichen Ergänzung des Pachtvertrages sei im Verwaltungsverfahren nicht nachgegangen worden. Die bisher unterbliebene Auswahlentscheidung zwischen den konkurrierenden Betreibern verletze den Bewerberverfahrensanspruch des Klägers als dem abgelehnten Betreiber. Die diesbezügliche Rechtsprechung des 6. Senats des VGH Baden-Württemberg sei verfassungswidrig. Die Erteilung einer Härtefallerlaubnis stehe einer Auswahlentscheidung nicht entgegen. Die derzeitige Praxis verstoße offensichtlich gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die Grundrechte der Betreiber aus Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 und Art. 3 GG sowie gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren. Die Durchführung eines Auswahlverfahrens könne nicht durch „Härtefallentscheidungen“ ersetzt und umgangen werden. Der Pachtvertrag des Beigeladenen, der einen Schriftformmangel aufweise, könne keinen Härtefall begründen, da im Falle einer behördlichen Schließung seiner Halle ein außerordentliches Kündigungsrecht bestehe.10 Der Kläger beantragt,11 1. die dem Beigeladenen am 14. Juni 2017 für die Spielhalle „P.“, H.... in ... B. B., erteilte Erlaubnis bis zum 30. Juni 2021 in der Gestalt des Widerspruchbescheids des Regierungspräsidiums Tübingen vom 2. Juli 2019 wird aufgehoben,12 2. die Beklagte wird verpflichtet, zwischen der Spielhalle „...“ des Klägers in der S. S.... in ... B. B. und der Spielhalle „P.“ des Beigeladenen in der H.... in ... B. B. ein transparentes und chancengleiches Auswahlverfahren durchzuführen und eine ordnungsgemäße Auswahlentscheidung über die Erteilung einer langfristigen (15 Jahre) Spielhallenerlaubnis nach § 41 Abs. 1 LGlüG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu treffen.13 Der Beklagte beantragt,14 die Klage abzuweisen.15 Der Beklagte ist der Auffassung, dass eine Auswahlentscheidung erst in Betracht komme, nachdem das Vorliegen eines Härtefalls geprüft sei. Die Interessen von Spielhallenbetreibern, die sich nicht auf die Härtefallregel berufen können, müssten vor dem Hintergrund des gesetzgeberischen Zwecks, eine möglichst geringe Spielhallendichte zu erreichen, zurückstehen.16 Der Beigeladene beantragt,17 die Klage abzuweisen.18 Der Beigeladene trägt vor, dass der Pachtvertrag von den Vertragsparteien am 24. März 2010 persönlich unterzeichnet worden sei. Die handschriftliche Ergänzung sei auf einem Irrtum hinsichtlich der Verfügungsberechtigung zurückzuführen. Der bei der Antragstellung dem Landratsamt vorgelegte Pachtvertrag vom 24. März 2010 mit einer unkündbaren Vertragslaufzeit bis 28. Februar 2022 sei maßgeblich und wirksam. Die Klage sei unzulässig, da der Kläger sich nicht auf eine drittschützende Norm berufen könne. Ihm fehle es angesichts der Regelung des § 51 Abs. 5 LGlüG auch an einem Rechtsschutzbedürfnis. § 51 Abs. 5 LGlüG habe, wie sich aus der Gesetzesbegründung bereits ergebe, allein nur die betroffene Spielhalle im Blick, nicht aber eine eventuell mit ihr konkurrierende Nachbarspielhalle. Ebenso wenig lasse sich Art. 19 Abs. 4 GG ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch zugunsten des Klägers entnehmen, der unabhängig von der Verletzung eigener Rechte zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Erlaubnis verpflichten würde. Entgegen der Ansicht des Klägers sei die Zulassung mehrerer Spielhallen innerhalb eines 500 m Abstandes durchaus möglich, sofern hinsichtlich den Spielhallen jeweils ein Fall einer unbilligen Härte vorliegen sollte. Die Prüfung einer unbilligen Härte müsse im konkreten Einzelfall stets vorrangig durchgeführt werden. Die dem Beigeladenen erteilte Spielhallenerlaubnis sei rechtmäßig, da in seinem Fall eine unbillige Härte nachgewiesen sei.19 Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die beigezogenen Behördenakten und Gerichtsakten (u.a. 3 K 6070/17 und 3 K 2934/20) verwiesen und ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
20 Die vorliegende Drittanfechtungsklage hat keinen Erfolg, denn sie ist bereits unzulässig.21 Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Aufhebung der dem Beigeladenen erteilten Erlaubnis und der damit verbundenen Teilnahme und Durchführung an einem den gesetzlichen Anforderungen genügenden Auswahlverfahren zwischen den konkurrierenden Spielhallen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.22 Nach § 42 Abs. 2 Alt. 1 VwGO ist – soweit wie hier gesetzlich nichts anderes bestimmt ist – eine Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den angegriffenen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Demnach muss nach dem substantiierten Vorbringen des Klägers eine Rechtswidrigkeit des jeweiligen Hoheitsaktes gerade mit Blick auf die (Grund-)Rechte des Klägers möglich erscheinen. Dem geht die Frage voraus, ob die Rechtssphäre des Klägers überhaupt betroffen ist. Hierzu müssen Bestehen und Reichweite seiner subjektiv-öffentlichen Rechte geklärt und festgestellt werden, ob der im Streit stehende Hoheitsakt diese Rechte berührt oder aber unberührt lässt. Die Entstehung eines subjektiv-öffentlichen Rechts setzt dabei in personeller Hinsicht voraus, dass der Kläger Träger des normativ geschützten Interesses, also vom personellen Schutzzweck der Norm erfasst ist. Ein bloßer Rechtsreflex vermag indes ebenso wenig eine Rechtsposition bzw. eine Klagebefugnis zu begründen wie eine rein faktisch ermittelte „Betroffenheit“ (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. November 2019 – 6 S 199/19, juris Rn. 21; Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 5 ff.).23 Nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 7 ff. und Beschluss vom 16. April 2018 – 6 S 2250/17, juris Rn. 8 f.), der sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, vermittelt § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG einem unberücksichtigten Spielhallenbetreiber kein subjektiv-öffentliches Recht, so dass der Kläger die dem Beigeladenen erteilte Erlaubnis nicht anzugreifen vermag.24 Demnach kann gem. § 51 Abs. 5 LGlüG die zuständige Erlaubnisbehörde zur Vermeidung unbilliger Härten in den Fällen des Absatzes 4 Satz 1 befristet für einen angemessenen Zeitraum auf Antrag von der Einhaltung der Anforderungen des § 42 Absätze 1 und 2 befreien; dabei sind der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis nach § 33 i der Gewerbeordnung sowie der Schutzzweck dieses Gesetzes zu berücksichtigen. Der Mindestabstand zu einer anderen Spielhalle darf dabei 250 m Luftlinie, gemessen von Eingangstür zur Eingangstür, nicht unterschreiten. Dem Antrag sind sämtliche für die Entscheidung erforderlichen Unterlagen und Nachweise beizufügen. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer unbilligen Härte sind insbesondere dann gegeben, wenn eine Anpassung des Betriebs an die gesetzlichen Anforderungen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich oder mit einer wirtschaftlichen Betriebsführung nicht vereinbar ist und Investitionen, die im Vertrauen auf den Bestand der nach Maßgabe des bisher geltenden Rechts erteilten Erlaubnis getätigt wurden, nicht abgeschrieben werden konnten. § 42 Absatz 3 gilt nur für Spielhallen, für die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes eine Erlaubnis nach § 33 i der Gewerbeordnung noch nicht erteilt worden ist.25 Der Vorschrift des § 51 Abs. 5 LGlüG ist der von dem Kläger geltend gemachte Dritt- und Individualschutz nicht zu entnehmen. In der hierzu ergangenen Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber maßgeblich ausgeführt, dass „im Rahmen des Ausführungsgesetzes bei der Ausfüllung der Härteklausel des Artikel 1 § 29 Absatz 4 Erster GlüÄndStV adäquate Lösungen des Konflikts zwischen der Notwendigkeit, aus Suchtpräventionsgründen die Zahl der Spielhallen zu begrenzen, und den Interessen der Betreiber zu finden“ sind (vgl. den § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG zugrundeliegenden Art. 1 § 29 Abs. 4 GlüÄndStV: LT-Drucks. 15/1570 S. 2; LT-Drucks. 15/2431 S. 3; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 10).26 Gegenteiliges lässt sich auch der ausdrücklichen Gesetzesbegründung für das Landesglücksspielgesetz, spezifisch § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG, nicht entnehmen, da insoweit ausgeführt wird:27 „Für ältere Erlaubnisse ist in Absatz 5 eine Härtefallklausel vorgesehen, die je nach den Verhältnissen im Einzelfall eine befristete Suspendierung von den Vorgaben des Verbots der Mehrfachkonzessionen und des Abstandsgebots zu anderen Spielhallen ermöglicht. Damit sollen die betroffenen Gewerbetreibenden in die Lage versetzt werden, eine Anschlussnutzung der Betriebsräume zum Beispiel als Gaststätte oder mit anderer Zielrichtung zu realisieren. Die Härtefallklausel ermöglicht bei Mehrfachspielhallen zum Beispiel auch einen stufenweisen Rückbau. Soweit die Betriebsräume angemietet wurden, besteht zudem die Möglichkeit der Anpassung der Mietverträge. Was die Nutzung der Geldspielgeräte anbetrifft, sind diese ohnehin nach den einschlägigen Bestimmungen nach vier Jahren und damit vor Ablauf der Übergangsfrist abgeschrieben. Eine Härtefallentscheidung setzt einen entsprechenden Antrag des Betreibers voraus, dem sämtliche entscheidungserheblichen Unterlagen beizufügen sind.“ (vgl. LT-Drucks. 15/2431 S. 113; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 10).28 Soweit die Formulierung sich lediglich auf „betroffene“ Spielhallen und Gewerbetreibende bezieht, ist dem nicht ohne Weiteres zu entnehmen, dass sich entsprechende Konkurrenten auf einen Drittschutz und damit einer erforderlichen Klagebefugnis berufen könnten und ein Individualschutz beabsichtigt wäre. Die Vorschrift des § 51 Abs. 5 LGlüG vermag nach der derzeitigen Gestaltung einen Individualinteressensschutz von Betreibern benachbarter Spielhallen nicht zu begründen.29 Ein solcher – von dem Kläger berühmter – Drittschutz würde insoweit auch erheblich den in § 1 LGlüG und § 1 Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV) normierten Zielen entgegenstehen, nämlich insbesondere das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen sowie durch ein begrenztes, eine geeignete Alternative zum nicht erlaubten Glücksspiel darstellendes Glücksspielangebot den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken sowie der Entwicklung und Ausbreitung von unerlaubten Glücksspielen in Schwarzmärkten entgegenzuwirken. Ersichtlich – wie insbesondere im Rahmen von § 42 Abs. 1 LGlüG deutlich wird – hat der Landesgesetzgeber mit der Umsetzung dieser Maßgaben beabsichtigt, eine Reduzierung der Spielhallendichte zu erreichen.30 Es ist auch nicht ersichtlich, dass im Zuge der in dem Landesglücksspielgesetz getroffenen Systematik ein Drittschutz für konkurrierende Spielhallen beabsichtigt gewesen wäre. Zwar befindet sich die maßgebliche Norm des § 51 LGlüG nicht in dem Abschnitt 7 (Spielhallen), sondern in dem Abschnitt 9 (Schlussvorschriften), was allerdings maßgeblich auf die Natur der Übergangsregelung zurückzuführen ist. Erkennbar handelt es sich um eine in ihrem Anwendungsbereich im Ergebnis zeitlich eingeschränkte Norm, sodass das Fehlen der Norm in dem maßgeblichen Spielhallenabschnitt nicht zu der Annahme führen kann, es handele sich nicht um das wesentliche, gesetzliche Prüfungsprogramm. Die von dem Kläger vertretene Auffassung, es sei eine Auswahlentscheidung zu treffen, und erst dann den unterliegenden Spielhallen einen Härtefall (sofern hierfür die Voraussetzungen vorliegen) zuzusprechen, würde insoweit gerade nicht dazu führen, dass die beabsichtigte Gesamtkonzentration und -dichte von Spielhallen reduziert wird. Insofern verweist § 51 Abs. 5 Satz 1 Hs. 2 LGlüG ausdrücklich auf den Schutzzweck des Gesetzes (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. April 2018 – 6 S 2250/17, juris Rn. 9).31 Es ist auch nicht erkennbar, dass sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch zugunsten des Kläger herleiten lassen könnte, der unabhängig von der Verletzung eigener Rechte zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts verpflichten würde, denn die Vorschrift gewährleistet Rechtsschutz nur bei der Verletzung eigener Rechte. Darin liegt eine Strukturentscheidung zu Gunsten des Individualrechtsschutzes. Über den Schutz individueller Rechte wird die objektive Rechtskontrolle gesichert (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. März 2014 – 2 BvE 6/12, BVerfGE 135, 317-433, juris Rn. 130; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09. Dezember 2013 – 13 A 476/08, juris Rn. 143).32 Eine Klagebefugnis ergibt sich auch nicht in Hinblick auf die in Art. 12 GG gewährleistete Berufsfreiheit. Der Schutz des Grundrechts der Berufsfreiheit ist einerseits umfassend angelegt, schützt aber andererseits nur vor solchen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Tätigkeit bezogen sind. Der Schutzbereich ist daher nicht schon dann eröffnet, wenn eine Rechtsnorm, ihre Anwendung oder andere hoheitliche Maßnahmen unter bestimmten Umständen Rückwirkung auf die Berufsfreiheit entfalten. Die Berufsfreiheit ist aber dann berührt, wenn sich die Maßnahmen zwar nicht auf die Berufstätigkeit selbst beziehen, aber die Rahmenbedingungen der Berufsausübung verändern und infolge ihrer Gestaltung in einem so engen Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs stehen, dass sie objektiv eine berufsregelnde Tendenz haben. Dabei ist der Grundrechtsschutz nicht auf Eingriffe im herkömmlichen Sinne beschränkt. Vielmehr kann der Abwehrgehalt auch bei faktischen oder mittelbaren Beeinträchtigungen betroffen sein, wenn diese in der Zielsetzung und in ihren Wirkungen Eingriffen gleichkommen. Durch die Wahl eines solchen funktionalen Äquivalents eines Eingriffs entfällt die Grundrechtsbindung nicht. An der für die Grundrechtsbindung maßgeblichen eingriffsgleichen Wirkung einer staatlichen Maßnahme fehlt es jedoch, wenn mittelbare Folgen ein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten gesetzlichen Regelung sind (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 31. August 2009 – 1 BvR 3275/07, juris Rn. 10 f.; Nichtannahmebeschluss vom 14. Oktober 2008 – 1 BvR 928/08, juris Rn. 21; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 23).33 Soweit die Prozessbevollmächtigten des Klägers insbesondere in der mündlichen Verhandlung insoweit sinngemäß geltend gemacht haben, es bestehe ein grundrechtlich schutzwürdiges Interesse daran, gewerbliche Betätigungen weiterhin an bestehenden, selbst gewählten Orten auszuüben, da erzwungene Verlagerungen mit erheblichen Kosten und weiteren Nachteilen verbunden seien und darüber hinaus anerkannt sei, dass in Konstellationen, in denen es mehrere Interessenten für ein knappes Gut gebe, die Begünstigung des einen gegenüber den Unterlegenen eine eingriffsgleiche und damit rechtfertigungsbedürftige Wirkung habe, weshalb Begünstigungen anderer mit Konkurrentenklagen angegriffen werden könnten, kann dem hier nicht gefolgt werden. Zwar mag die Erteilung der glückspielrechtlichen Erlaubnis zugunsten des Beigeladenen als mittelbare Beeinträchtigung des Klägers zu qualifizieren sein, diese kommt in ihrer Zielsetzung und in ihrer Wirkung jedoch nicht einem Eingriff im herkömmlichen Sinne gleich. Denn es ist nicht bereits die Erlaubniserteilung an die Beigeladene als solche, die die Rahmenbedingungen der Berufsausübung des Klägers verändert, sondern es bedarf hierzu vielmehr eines weiteren Hoheitsaktes in Form einer an § 42 Abs. 1 LGlüG anknüpfenden Versagung einer Erlaubnis zum Betrieb einer Spielhalle bzw. einer glücksspielrechtlichen Untersagungsverfügung nach Maßgabe des § 9 Abs. 1 GlüStV in Verbindung mit § 42 Abs. 1 LGlüG (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 26). Dass dem Kläger eine Klagebefugnis in Hinblick auf Art. 3 GG oder der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG für sich beanspruchen könnte, ist – vor dem Hintergrund, dass ein Härtefall nicht unmittelbar mit einer gem. § 41 Abs. 1 LGlüG erteilten Spielhallenerlaubnis vergleichbar ist, nicht ersichtlich (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 27).34 Insofern kann der Kläger mit dem Argument, dem Beigeladenen wäre zu Unrecht eine bis zum 30. Juni 2021 befristete Härtefallgenehmigung erteilt worden, da der Umstand, dass dieser möglicherweise im Vertrauen auf die alte Rechtslage einen langfristigen Mietvertrag abgeschlossen habe und dies nicht die Annahme eines Härtefalls im Sinne des § 51 Abs. 5 LGlüG rechtfertige, in dem hier maßgeblichen dreipoligen Verhältnis nicht durchdringen. Vielmehr verbleibt dem Kläger nach dem gesetzgeberischen Willen nur die Möglichkeit, seinerseits glaubhaft zu machen, dass ihm ein Anspruch auf Befreiung von den Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 LGlüG zusteht (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. April 2018 – 6 S 2250/17, juris Rn. 10).35 Diese Möglichkeit verfolgt der Kläger bereits ausdrücklich in dem Klageverfahren 3 K 2934/20, in dem er sich gegen die Versagung seiner eigenen glückspielrechtlichen Erlaubnis wendet, sodass – nach sachdienlicher Auslegung insbesondere vor dem Hintergrund der Angaben der Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung – der in diesem Verfahren gestellte Antrag auf Erteilung der begehrten glückspielrechtlichen Spielhallenerlaubnis – und nicht der hier als Ziffer 2 gestellte Verpflichtungsantrag – als maßgeblich erachtet wird.36 Nach alldem bleibt die Klage damit insgesamt ohne Erfolg.37 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO.
Gründe
20 Die vorliegende Drittanfechtungsklage hat keinen Erfolg, denn sie ist bereits unzulässig.21 Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Aufhebung der dem Beigeladenen erteilten Erlaubnis und der damit verbundenen Teilnahme und Durchführung an einem den gesetzlichen Anforderungen genügenden Auswahlverfahren zwischen den konkurrierenden Spielhallen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.22 Nach § 42 Abs. 2 Alt. 1 VwGO ist – soweit wie hier gesetzlich nichts anderes bestimmt ist – eine Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den angegriffenen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Demnach muss nach dem substantiierten Vorbringen des Klägers eine Rechtswidrigkeit des jeweiligen Hoheitsaktes gerade mit Blick auf die (Grund-)Rechte des Klägers möglich erscheinen. Dem geht die Frage voraus, ob die Rechtssphäre des Klägers überhaupt betroffen ist. Hierzu müssen Bestehen und Reichweite seiner subjektiv-öffentlichen Rechte geklärt und festgestellt werden, ob der im Streit stehende Hoheitsakt diese Rechte berührt oder aber unberührt lässt. Die Entstehung eines subjektiv-öffentlichen Rechts setzt dabei in personeller Hinsicht voraus, dass der Kläger Träger des normativ geschützten Interesses, also vom personellen Schutzzweck der Norm erfasst ist. Ein bloßer Rechtsreflex vermag indes ebenso wenig eine Rechtsposition bzw. eine Klagebefugnis zu begründen wie eine rein faktisch ermittelte „Betroffenheit“ (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. November 2019 – 6 S 199/19, juris Rn. 21; Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 5 ff.).23 Nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 7 ff. und Beschluss vom 16. April 2018 – 6 S 2250/17, juris Rn. 8 f.), der sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, vermittelt § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG einem unberücksichtigten Spielhallenbetreiber kein subjektiv-öffentliches Recht, so dass der Kläger die dem Beigeladenen erteilte Erlaubnis nicht anzugreifen vermag.24 Demnach kann gem. § 51 Abs. 5 LGlüG die zuständige Erlaubnisbehörde zur Vermeidung unbilliger Härten in den Fällen des Absatzes 4 Satz 1 befristet für einen angemessenen Zeitraum auf Antrag von der Einhaltung der Anforderungen des § 42 Absätze 1 und 2 befreien; dabei sind der Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis nach § 33 i der Gewerbeordnung sowie der Schutzzweck dieses Gesetzes zu berücksichtigen. Der Mindestabstand zu einer anderen Spielhalle darf dabei 250 m Luftlinie, gemessen von Eingangstür zur Eingangstür, nicht unterschreiten. Dem Antrag sind sämtliche für die Entscheidung erforderlichen Unterlagen und Nachweise beizufügen. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer unbilligen Härte sind insbesondere dann gegeben, wenn eine Anpassung des Betriebs an die gesetzlichen Anforderungen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich oder mit einer wirtschaftlichen Betriebsführung nicht vereinbar ist und Investitionen, die im Vertrauen auf den Bestand der nach Maßgabe des bisher geltenden Rechts erteilten Erlaubnis getätigt wurden, nicht abgeschrieben werden konnten. § 42 Absatz 3 gilt nur für Spielhallen, für die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes eine Erlaubnis nach § 33 i der Gewerbeordnung noch nicht erteilt worden ist.25 Der Vorschrift des § 51 Abs. 5 LGlüG ist der von dem Kläger geltend gemachte Dritt- und Individualschutz nicht zu entnehmen. In der hierzu ergangenen Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber maßgeblich ausgeführt, dass „im Rahmen des Ausführungsgesetzes bei der Ausfüllung der Härteklausel des Artikel 1 § 29 Absatz 4 Erster GlüÄndStV adäquate Lösungen des Konflikts zwischen der Notwendigkeit, aus Suchtpräventionsgründen die Zahl der Spielhallen zu begrenzen, und den Interessen der Betreiber zu finden“ sind (vgl. den § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG zugrundeliegenden Art. 1 § 29 Abs. 4 GlüÄndStV: LT-Drucks. 15/1570 S. 2; LT-Drucks. 15/2431 S. 3; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 10).26 Gegenteiliges lässt sich auch der ausdrücklichen Gesetzesbegründung für das Landesglücksspielgesetz, spezifisch § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG, nicht entnehmen, da insoweit ausgeführt wird:27 „Für ältere Erlaubnisse ist in Absatz 5 eine Härtefallklausel vorgesehen, die je nach den Verhältnissen im Einzelfall eine befristete Suspendierung von den Vorgaben des Verbots der Mehrfachkonzessionen und des Abstandsgebots zu anderen Spielhallen ermöglicht. Damit sollen die betroffenen Gewerbetreibenden in die Lage versetzt werden, eine Anschlussnutzung der Betriebsräume zum Beispiel als Gaststätte oder mit anderer Zielrichtung zu realisieren. Die Härtefallklausel ermöglicht bei Mehrfachspielhallen zum Beispiel auch einen stufenweisen Rückbau. Soweit die Betriebsräume angemietet wurden, besteht zudem die Möglichkeit der Anpassung der Mietverträge. Was die Nutzung der Geldspielgeräte anbetrifft, sind diese ohnehin nach den einschlägigen Bestimmungen nach vier Jahren und damit vor Ablauf der Übergangsfrist abgeschrieben. Eine Härtefallentscheidung setzt einen entsprechenden Antrag des Betreibers voraus, dem sämtliche entscheidungserheblichen Unterlagen beizufügen sind.“ (vgl. LT-Drucks. 15/2431 S. 113; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 10).28 Soweit die Formulierung sich lediglich auf „betroffene“ Spielhallen und Gewerbetreibende bezieht, ist dem nicht ohne Weiteres zu entnehmen, dass sich entsprechende Konkurrenten auf einen Drittschutz und damit einer erforderlichen Klagebefugnis berufen könnten und ein Individualschutz beabsichtigt wäre. Die Vorschrift des § 51 Abs. 5 LGlüG vermag nach der derzeitigen Gestaltung einen Individualinteressensschutz von Betreibern benachbarter Spielhallen nicht zu begründen.29 Ein solcher – von dem Kläger berühmter – Drittschutz würde insoweit auch erheblich den in § 1 LGlüG und § 1 Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV) normierten Zielen entgegenstehen, nämlich insbesondere das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen sowie durch ein begrenztes, eine geeignete Alternative zum nicht erlaubten Glücksspiel darstellendes Glücksspielangebot den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken sowie der Entwicklung und Ausbreitung von unerlaubten Glücksspielen in Schwarzmärkten entgegenzuwirken. Ersichtlich – wie insbesondere im Rahmen von § 42 Abs. 1 LGlüG deutlich wird – hat der Landesgesetzgeber mit der Umsetzung dieser Maßgaben beabsichtigt, eine Reduzierung der Spielhallendichte zu erreichen.30 Es ist auch nicht ersichtlich, dass im Zuge der in dem Landesglücksspielgesetz getroffenen Systematik ein Drittschutz für konkurrierende Spielhallen beabsichtigt gewesen wäre. Zwar befindet sich die maßgebliche Norm des § 51 LGlüG nicht in dem Abschnitt 7 (Spielhallen), sondern in dem Abschnitt 9 (Schlussvorschriften), was allerdings maßgeblich auf die Natur der Übergangsregelung zurückzuführen ist. Erkennbar handelt es sich um eine in ihrem Anwendungsbereich im Ergebnis zeitlich eingeschränkte Norm, sodass das Fehlen der Norm in dem maßgeblichen Spielhallenabschnitt nicht zu der Annahme führen kann, es handele sich nicht um das wesentliche, gesetzliche Prüfungsprogramm. Die von dem Kläger vertretene Auffassung, es sei eine Auswahlentscheidung zu treffen, und erst dann den unterliegenden Spielhallen einen Härtefall (sofern hierfür die Voraussetzungen vorliegen) zuzusprechen, würde insoweit gerade nicht dazu führen, dass die beabsichtigte Gesamtkonzentration und -dichte von Spielhallen reduziert wird. Insofern verweist § 51 Abs. 5 Satz 1 Hs. 2 LGlüG ausdrücklich auf den Schutzzweck des Gesetzes (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. April 2018 – 6 S 2250/17, juris Rn. 9).31 Es ist auch nicht erkennbar, dass sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch zugunsten des Kläger herleiten lassen könnte, der unabhängig von der Verletzung eigener Rechte zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts verpflichten würde, denn die Vorschrift gewährleistet Rechtsschutz nur bei der Verletzung eigener Rechte. Darin liegt eine Strukturentscheidung zu Gunsten des Individualrechtsschutzes. Über den Schutz individueller Rechte wird die objektive Rechtskontrolle gesichert (vgl. BVerfG, Urteil vom 18. März 2014 – 2 BvE 6/12, BVerfGE 135, 317-433, juris Rn. 130; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09. Dezember 2013 – 13 A 476/08, juris Rn. 143).32 Eine Klagebefugnis ergibt sich auch nicht in Hinblick auf die in Art. 12 GG gewährleistete Berufsfreiheit. Der Schutz des Grundrechts der Berufsfreiheit ist einerseits umfassend angelegt, schützt aber andererseits nur vor solchen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Tätigkeit bezogen sind. Der Schutzbereich ist daher nicht schon dann eröffnet, wenn eine Rechtsnorm, ihre Anwendung oder andere hoheitliche Maßnahmen unter bestimmten Umständen Rückwirkung auf die Berufsfreiheit entfalten. Die Berufsfreiheit ist aber dann berührt, wenn sich die Maßnahmen zwar nicht auf die Berufstätigkeit selbst beziehen, aber die Rahmenbedingungen der Berufsausübung verändern und infolge ihrer Gestaltung in einem so engen Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs stehen, dass sie objektiv eine berufsregelnde Tendenz haben. Dabei ist der Grundrechtsschutz nicht auf Eingriffe im herkömmlichen Sinne beschränkt. Vielmehr kann der Abwehrgehalt auch bei faktischen oder mittelbaren Beeinträchtigungen betroffen sein, wenn diese in der Zielsetzung und in ihren Wirkungen Eingriffen gleichkommen. Durch die Wahl eines solchen funktionalen Äquivalents eines Eingriffs entfällt die Grundrechtsbindung nicht. An der für die Grundrechtsbindung maßgeblichen eingriffsgleichen Wirkung einer staatlichen Maßnahme fehlt es jedoch, wenn mittelbare Folgen ein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten gesetzlichen Regelung sind (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 31. August 2009 – 1 BvR 3275/07, juris Rn. 10 f.; Nichtannahmebeschluss vom 14. Oktober 2008 – 1 BvR 928/08, juris Rn. 21; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 23).33 Soweit die Prozessbevollmächtigten des Klägers insbesondere in der mündlichen Verhandlung insoweit sinngemäß geltend gemacht haben, es bestehe ein grundrechtlich schutzwürdiges Interesse daran, gewerbliche Betätigungen weiterhin an bestehenden, selbst gewählten Orten auszuüben, da erzwungene Verlagerungen mit erheblichen Kosten und weiteren Nachteilen verbunden seien und darüber hinaus anerkannt sei, dass in Konstellationen, in denen es mehrere Interessenten für ein knappes Gut gebe, die Begünstigung des einen gegenüber den Unterlegenen eine eingriffsgleiche und damit rechtfertigungsbedürftige Wirkung habe, weshalb Begünstigungen anderer mit Konkurrentenklagen angegriffen werden könnten, kann dem hier nicht gefolgt werden. Zwar mag die Erteilung der glückspielrechtlichen Erlaubnis zugunsten des Beigeladenen als mittelbare Beeinträchtigung des Klägers zu qualifizieren sein, diese kommt in ihrer Zielsetzung und in ihrer Wirkung jedoch nicht einem Eingriff im herkömmlichen Sinne gleich. Denn es ist nicht bereits die Erlaubniserteilung an die Beigeladene als solche, die die Rahmenbedingungen der Berufsausübung des Klägers verändert, sondern es bedarf hierzu vielmehr eines weiteren Hoheitsaktes in Form einer an § 42 Abs. 1 LGlüG anknüpfenden Versagung einer Erlaubnis zum Betrieb einer Spielhalle bzw. einer glücksspielrechtlichen Untersagungsverfügung nach Maßgabe des § 9 Abs. 1 GlüStV in Verbindung mit § 42 Abs. 1 LGlüG (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 26). Dass dem Kläger eine Klagebefugnis in Hinblick auf Art. 3 GG oder der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG für sich beanspruchen könnte, ist – vor dem Hintergrund, dass ein Härtefall nicht unmittelbar mit einer gem. § 41 Abs. 1 LGlüG erteilten Spielhallenerlaubnis vergleichbar ist, nicht ersichtlich (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. Juni 2018 – 6 S 304/18, juris Rn. 27).34 Insofern kann der Kläger mit dem Argument, dem Beigeladenen wäre zu Unrecht eine bis zum 30. Juni 2021 befristete Härtefallgenehmigung erteilt worden, da der Umstand, dass dieser möglicherweise im Vertrauen auf die alte Rechtslage einen langfristigen Mietvertrag abgeschlossen habe und dies nicht die Annahme eines Härtefalls im Sinne des § 51 Abs. 5 LGlüG rechtfertige, in dem hier maßgeblichen dreipoligen Verhältnis nicht durchdringen. Vielmehr verbleibt dem Kläger nach dem gesetzgeberischen Willen nur die Möglichkeit, seinerseits glaubhaft zu machen, dass ihm ein Anspruch auf Befreiung von den Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 LGlüG zusteht (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. April 2018 – 6 S 2250/17, juris Rn. 10).35 Diese Möglichkeit verfolgt der Kläger bereits ausdrücklich in dem Klageverfahren 3 K 2934/20, in dem er sich gegen die Versagung seiner eigenen glückspielrechtlichen Erlaubnis wendet, sodass – nach sachdienlicher Auslegung insbesondere vor dem Hintergrund der Angaben der Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung – der in diesem Verfahren gestellte Antrag auf Erteilung der begehrten glückspielrechtlichen Spielhallenerlaubnis – und nicht der hier als Ziffer 2 gestellte Verpflichtungsantrag – als maßgeblich erachtet wird.36 Nach alldem bleibt die Klage damit insgesamt ohne Erfolg.37 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO. | {
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwältin I. aus T. wird abgelehnt.
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 3.7.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1Gründe:
2Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung des Klägers aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
3Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
4Die ausschließlich geltend gemachte Gehörsrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG in Verbindung mit § 138 Nr. 3 VwGO) greift nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) nicht dadurch verletzt, dass es in seiner Abwesenheit über die Klage verhandelt und diese abgewiesen hat. Es liegt nämlich keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, wenn die Partei es unterlässt, Gebrauch von den ihr verfahrensrechtlich gebotenen Möglichkeiten zu machen, sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
5Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 14.11.2006 – 10 B 48.06 –, juris, Rn. 5, und vom 27.5.2003 – 9 BN 3.03 –, NVwZ-RR 2003, 774 = juris, Rn. 18, sowie Urteil vom 3.7.1992 – 8 C 58.90 –, NJW 1992, 3185 = juris, Rn. 9.
6So liegt der Fall hier. Der Kläger macht geltend, dass er gerne weitere Ausführungen zu seinen Asylgründen gemacht hätte, aber ihn die Ladung zum Termin – obwohl von seiner Prozessbevollmächtigten ordnungsgemäß weitergeleitet – wegen einer Corona-Quarantäne nicht erreicht habe.
7Der anwaltlich vertretene Kläger war unabhängig davon ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen, ob er selbst vor dem anberaumten Termin von der Ladung erfahren hat. Für die Wirksamkeit der Ladung kommt es darauf an, dass der Rechtsanwalt selbst Kenntnis vom Zugang der Ladung genommen hat.
8Vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.7.2015 – 9 B 33.15 –, DVBl. 2015, 1381 = juris, Rn. 5.
9Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Ladung ausweislich des aktenkundigen Empfangsbekenntnisses am 18.6.2020 erhalten und an der mündlichen Verhandlung am 3.7.2020 teilgenommen, ohne geltend zu machen, dass eine persönliche Anhörung des Klägers erforderlich sei, und ohne auf eine intensivere Erörterung der Sach- und Rechtslage zu drängen. Ein etwaiges Verschulden seiner Bevollmächtigten muss sich der Kläger gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.
10Auch wenn die Rechtsanwältin in der irrtümlichen Annahme gehandelt haben sollte, der Kläger sei nicht an einem persönlichen Erscheinen interessiert gewesen, hielt sie selbst jedenfalls ebenso wenig wie das Verwaltungsgericht, das das persönliche Erscheinen nicht angeordnet hatte, eine persönliche Anhörung des Klägers für erforderlich. Andernfalls hätte es nahegelegen, dass die Prozessbevollmächtigte, die eigenen Angaben zufolge einen Termin zur mündlichen Verhandlung bereits frühzeitig mit dem Kläger besprochen hatte, die Notwendigkeit der persönlichen Anhörung des Klägers mit der Beantragung einer Terminsänderung geltend gemacht hätte. Selbst wenn der Kläger unverschuldet nicht vom Verhandlungstermin erfahren hatte, hinderte dies seine Bevollmächtigte nicht, in der mündlichen Verhandlung die Erforderlichkeit seiner persönlichen Anhörung oder einer intensiveren Erörterung geltend zu machen oder ‒ im Fall eines entschuldbaren und nicht erkennbaren Irrtums ‒ wenigstens unmittelbar nach dem Verhandlungstermin Kontakt zum Kläger aufzunehmen und die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu beantragen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat keine dieser Möglichkeiten ergriffen.
11Im Übrigen erfordert die Rüge, das rechtliche Gehör sei verletzt, grundsätzlich die substantiierte Darlegung dessen, was die Prozesspartei bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre.
12Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.8.1997 – 7 B 261.97 –, NJW 1997, 3328 = juris, Rn. 4; OVG NRW, Beschluss vom 1.2.2018 – 4 A 1763/15.A –, juris, Rn. 8, m. w. N.
13Daran fehlt es hier. Der Kläger hat nicht dargelegt, welche weiteren Ausführungen zu seinen Asylgründen er bei einer persönlichen Anhörung hätte machen wollen.
14Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
15Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
1G r ü n d e
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Der von dem Kläger allein gerügte Verfahrensmangel der Versagung rechtlichen Gehörs nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO liegt nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht verletzt, indem es den von dem Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, einen neuen Termin anzuberaumen, abgelehnt und in Abwesenheit des Klägers mündlich verhandelt hat.
4Das Gericht war nicht gehalten, dem Antrag auf Terminvertagung zu entsprechen.
5Nach § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO, der gemäß § 173 Satz 1 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist, kann ein Termin „aus erheblichen Gründen" aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „erheblichen Gründe" ist einerseits dem im Verwaltungsprozess geltenden Gebot der Beschleunigung des Verfahrens (vgl. etwa § 87b VwGO) und der Intention des Gesetzes, die gerichtliche Entscheidung möglichst aufgrund einer einzigen mündlichen Verhandlung herbeizuführen (Konzentrationsgebot, vgl. § 87 Abs. 1 Satz 1 VwGO), und andererseits dem verfassungsrechtlichen Erfordernis des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) Rechnung zu tragen. Letzteres verlangt, dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern und tatsächliche und rechtliche Argumente im Prozess vortragen zu können. Allerdings ist der Beteiligte gehalten, sich im Rahmen des Zumutbaren das rechtliche Gehör zu verschaffen, sodass letztlich nur eine ihm trotz zumutbarem eigenen Bemühen um die Erlangung rechtlichen Gehörs versagte Möglichkeit zur Äußerung eine Gehörsverletzung darstellt. Deshalb sind eine Vertagung rechtfertigende „erhebliche" Gründe im Sinne des § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO nur solche Umstände, die auch und gerade zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eine Zurückstellung des Beschleunigungs- und Konzentrationsgebotes erfordern.
6Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. April 2017– 2 B 69.16 –, juris, Rn. 7.
7Der Regelung des § 102 Abs. 2 VwGO ist zu entnehmen, dass beim Ausbleiben eines (ordnungsgemäß geladenen) Beteiligten auch ohne diesen mündlich verhandelt und entschieden werden kann, wenn in der Ladung – wie im vorliegenden Fall geschehen – auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist. Gleichwohl kann die Ablehnung eines Verlegungs- oder Vertagungsantrages den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen, wenn die begehrte Änderung des Termins aus erheblichen Gründen geboten ist. Dabei erfordert die prozessuale Mitwirkungspflicht jedes Beteiligten, dass ein entsprechender Antrag unverzüglich gestellt wird, also ohne schuldhaftes Zögern.
8Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 20. April 2017– 2 B 69.16 –, juris, Rn. 8 und vom 29. April 2004– 3 B 119.03 –, juris, Rn. 4.
9Ein erheblicher Grund i. S. v § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann u. a. darin liegen, dass ein Beteiligter oder sein Prozessbevollmächtigter erkrankt ist. Jedoch ist nicht jegliche Erkrankung ein ausreichender Grund für eine Verlegung oder Vertagung des Termins; eine solche ist vielmehr nur dann geboten, wenn die Erkrankung so schwer ist, dass die Wahrnehmung des Termins nicht erwartet werden kann.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. November 2019– 4 A 524/19.A –, juris, Rn. 8, und vom 1. Februar 2018 – 4 A 10/18.A –, juris, Rn. 22, jeweils m. w. N.
11Auch im Asylprozess ist ein erheblicher Grund für eine Vertagung nicht bereits dann quasi automatisch anzunehmen, wenn ein anwaltlich vertretener Verfahrensbeteiligter wegen Krankheit oder aus anderen persönlichen Gründen verhindert ist, selbst an der Verhandlung teilzunehmen. Vielmehr ist jeweils nach den Umständen des Falles zu prüfen, ob der Verfahrensbeteiligte ohne Terminsaufhebung bzw. -verlegung in seinen Möglichkeiten beschränkt würde, sich in dem der Sache nach gebotenen Umfang zu äußern; das bloße Anwesenheitsinteresse einer anwaltlich ausreichend vertretenen Partei wird dagegen durch ihren Gehörsanspruch nicht geschützt.
12Vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 2002– 1 B 313.01 –, juris, Rn. 5, m. w. N.
13Dem verhinderten Beteiligten obliegt es dabei, die erheblichen (Hinderungs-)gründe, auf die er sich beruft, schlüssig und substantiiert darzulegen, so dass das Gericht in die Lage versetzt wird, das Vorliegen eines erheblichen Grunds zu beurteilen und gegebenenfalls eine (weitere) Glaubhaftmachung gemäß 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 227 Abs. 2 ZPO zu verlangen.
14Vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 2009– 6 B 32.09 –, juris, Rn. 4, m. w. N.
15Grundsätzlich ist die Verhandlungsunfähigkeit durch Vorlage eines ärztlichen Attestes nachzuweisen, aus dem sich die Unmöglichkeit der Teilnahme an der Verhandlung ergibt. Wird eine Terminverlegung erst unmittelbar vor der anberaumten mündlichen Verhandlung beantragt und mit einer Erkrankung begründet, so muss der Verhinderungsgrund so dargelegt und untermauert sein, dass das Gericht ohne weitere Nachforschungen selbst beurteilen kann, ob Verhandlungs- bzw. Reiseunfähigkeit besteht. Dies erfordert, dass das Gericht aus den Unterlagen Art, Schwere und voraussichtliche Dauer der Erkrankung entnehmen und so die Frage der Verhandlungsunfähigkeit selbst beurteilen kann. Gerade bei kurzfristig gestellten Anträgen auf Aufhebung oder Verlegung des Termins bestehen hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Verhandlungsunfähigkeit.
16Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 6. November 2019 – 4 A 524/19.A –, juris, Rn. 10, vom 1. Februar 2018 – 4 A 10/18.A –, juris, Rn. 24, und vom 5. Juni 2012 – 17 E 196/12 –, juris, Rn. 17, jeweils m. w. N.
17Ausgehend von diesen Grundsätzen kann eine Gehörsverletzung nicht festgestellt werden.
18Das Verwaltungsgericht (UA S. 3 f.) hat den Antrag auf Vertagung des Termins mit der Begründung abgelehnt, erhebliche Gründe, die gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 227 ZPO allein eine Vertagung rechtfertigen könnten, seien nicht erkennbar. Insbesondere lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass eine persönliche Anhörung des Klägers notwendig sei. Dieser sei beim Bundesamt in der Sprache „Songhai“ angehört worden. Anschließend habe er die Erklärung unterzeichnet, dass er ausreichend Gelegenheit gehabt habe, zu seinen Asylgründen vorzutragen, und dass es keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe. Da am Vorbringen des Klägers keine Zweifel bestünden, sei dessen persönliches Erscheinen zum Termin nicht angeordnet worden. Besondere Umstände, die es geboten hätten, die Verhandlung dennoch nur in Anwesenheit des Klägers durchzuführen, seien nicht vorgetragen worden. Die geltend gemachten Kommunikationsschwierigkeiten mit dem Prozessbevollmächtigten genügten hierfür nicht, da die Verständigung mit diesem in den Verantwortungsbereich des Klägers falle. Ungeachtet dessen sei der Kläger ausweislich der Klagebegründung ohnehin in der Lage gewesen, gegenüber seinem Prozessbevollmächtigten sein Verfolgungsgeschehen darzulegen, auch wenn dies in der Sprache „Bambara“ geschehen sei, die er nicht perfekt beherrsche. Hinzu komme schließlich noch, dass der Kläger zwingende Gründe für sein Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung nicht nachgewiesen habe. Denn er habe die – allein der Rechtsanwaltskanzlei gegenüber angezeigte – Erkrankung nicht durch Vorlage eines Attests glaubhaft gemacht.
19Das hiergegen gerichtete Zulassungsvorbringen des Klägers, ihm sei aufgrund seiner Krankheit verwehrt geblieben, zu seinem Verfolgungsschicksal persönlich vorzutragen, zeigt nicht auf, dass die Ablehnung des Antrags auf Vertagung nach Maßgabe der oben dargestellten Grundsätze einen Gehörsverstoß darstellt.
20Die bloße Angabe des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung, der Kläger habe sich am Vortag in seiner Kanzlei krank gemeldet, genügt für eine Glaubhaftmachung der Verhandlungsunfähigkeit ersichtlich nicht. (Ärztliche) Unterlagen, die das Gericht in die Lage hätten versetzen können, die Verhandlungsfähigkeit des Klägers zu prüfen, sind nicht vorgelegt worden, obwohl der Prozessbevollmächtigte den Kläger ausweislich des Sitzungsprotokolls am Vortag der mündlichen Verhandlung noch darauf hingewiesen hat, dass ein Attest, das seine Verhandlungsunfähigkeit nachweist, notwendig ist. Dass der Kläger gehindert gewesen sein könnte, vor dem Sitzungstermin einen Arzt aufzusuchen, um eine entsprechendes Attest zu erhalten, ist weder vorgetragen noch ist solches sonst ersichtlich, zumal die mündliche Verhandlung erst um 14 Uhr begonnen hat, dem Kläger also auch noch der Vormittag des Sitzungstags für einen Arztbesuch zur Verfügung stand. Abgesehen davon hat der Kläger nicht einmal im Zulassungsverfahren eine ärztliche Bescheinigung nachgereicht, die seine Verhandlungsunfähigkeit am Sitzungstag hätte bestätigen können.
21Der Kläger kann einen Gehörsverstoß durch die Ablehnung des Antrags auf Vertagung auch nicht darauf stützen, dass das Verwaltungsgericht ihn nicht persönlich angehört hat. Das Gericht hat – wie ausgeführt – der Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung an den Prozessbevollmächtigten des Klägers den Hinweis beigefügt, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO) und das persönliche Erscheinen des Klägers nicht angeordnet. Angesichts dessen musste der Prozessbevollmächtigte davon ausgehen, dass das Gericht eine persönliche Befragung des Klägers nicht für notwendig erachtet. Daher wäre vom Kläger darzulegen gewesen, dass und gegebenenfalls aus welchen Gründen das Verwaltungsgericht dennoch seine persönliche Anhörung bzw. die Anordnung seines persönlichen Erscheinens für erforderlich hätte halten müssen. Dies ist jedoch weder zwischen der Ladung zum Termin und der mündlichen Verhandlung noch im Termin durch den anwesenden Prozessbevollmächtigten des Klägers geschehen. Den (umfassenden) Ausführungen des Verwaltungsgerichts, weshalb eine persönliche Anhörung nicht notwendig gewesen ist, ist der Kläger im Übrigen auch mit dem Zulassungsvorbringen nicht entgegengetreten.
22Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 83b AsylG.
23Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
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Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Verfügung des Antragsgegners, mit der der Antragstellerin untersagt wurde, Atemschutzmasken auf dem Markt bereitzustellen, und in der die unverzügliche Rücknahme dieser Atemschutzmasken angeordnet wurde.
2
Die Antragstellerin ist ein Großhandelsunternehmen für Geschenkartikel, Trendartikel und Scherzartikel. Seit April 2020 vertreibt sie unter den Artikelnummern F. und G. Atemschutzmasken, die in China hergestellt wurden. Bei diesen Atemschutzmasken soll es sich nach den Angaben der Antragstellerin um sogenannte Filtrierende Halbmasken, nämliche FFP2-Masken, handeln. Die Antragstellerin stellte am 23.03.2020 durch ihren Prokuristen eine Konformitätserklärung aus, wonach die Atemschutzmasken mit der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09.03.2016 über persönliche Schutzausrüstungen und zur Aufhebung der Richtlinie 89/686/EWG des Rates [im Folgenden: VO (EU) 2016/425] konform seien.
3
Im Mai 2020 hatte sich eine Privatperson mit der Frage an den Antragsgegner gewandt, ob es sich bei der von ihr erworbenen Atemschutzmaske um eine FFP2-Maske handele und ob die Konformitätserklärung der Antragstellerin korrekt sei. Sie übersandte dem Antragsgegner zwei Fotos einer in Plastikfolie eingepackten Atemschutzmaske mit der Artikelnummer G.. Auf der Verpackung der Atemschutzmaske befand sich der Name und die Adresse der Antragstellerin. Die Person hatte diese Atemschutzmaske nach eigenen Angaben über eine Versandapotheke im Internet bezogen.
4
Der Antragsgegner wandte sich daraufhin mit E-Mail vom 15.05.2020 an die Antragstellerin und wies darauf hin, dass die Kennzeichnung der Atemschutzmaske nicht der VO (EU) 2016/425 / Norm EN 149 entspreche. Er fragte nach, ob eine Baumusterprüfung durchgeführt worden sei und bat um Stellungnahme. Der Antragsgegner fügte die ihm übermittelten Fotos und die Konformitätserklärung bei.
5
Mit E-Mail vom 18.05.2020 bat die Antragstellerin um Akteneinsicht. Ferner verwies sie auf die Empfehlung (EU) 2020/403 der Kommission vom 13.03.2020 über Konformitätsbewertungs- und Marktüberwachungsverfahren im Kontext der COVID-19-Bedrohung [im Folgenden: Empfehlung (EU) 2020/403], nach deren Ziffer 6. sich die Marktüberwachungsbehörden auf die persönlichen Schutzausrüstungen und Medizinprodukte konzentrieren sollten, „von denen eine schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit und Sicherheit des Benutzers ausgehe“. In diesem Zusammenhang verwies sie auf zwei Prüfberichte des H. mit der Nummer I. vom 12.05.2020 bezüglich der Atemschutzmaske mit der Artikelnummer F. und mit der Nummer J. vom 15.05.2020 bezüglich der Atemschutzmaske mit der Artikelnummer G., wonach diese Atemschutzmasken die Anforderungen der Klassifikation FFP2 nach der Norm EN 149:2001+A1:2009 erfüllten.
6
Nach Akteneinsicht nahm die Antragstellerin mit weiterer E-Mail vom 29.05.2020 Stellung. Sie wies darauf hin, dass die mit E-Mail des Antragsgegners vom 15.05.2020 übermittelten Fotos nicht die von ihr vertriebenen Atemschutzmasken zeigten. Sie seien von ihr ausschließlich in 20er Verpackungseinheiten in den Verkehr gebracht worden, die die erforderliche Kennzeichnung (Herstellerangabe, CE-Zeichen und Gebrauchsanweisung) enthalten hätten. Diese Atemschutzmasken seien nicht dazu bestimmt gewesen, umverpackt zu werden. Sie seien lediglich zur besseren Hygiene einzeln in Folie eingeschweißt gewesen. Die Umverpackung könne ihr daher nicht angelastet werden. Darüber hinaus verwies die Antragstellerin nochmals auf die bereits übermittelten Prüfberichte und auf die Empfehlung (EU) 2020/403 und die von ihr vorgelegten Prüfberichte. Sie bat den Antragsgegner, wegen der Sondersituation der Corona-Krise von behördlichen Maßnahmen abzusehen.
7
Mit Schreiben vom 23.06.2020 informierte der Antragsgegner die Antragstellerin über die Durchführung des Produktsicherheitsgesetzes (ProdSG). Die Atemschutzmasken mit den Artikelnummern F. und G. würden aufgrund ihrer Kennzeichnung als persönliche Schutzausrüstung auf dem Markt bereitgestellt. Für diese Atemschutzmasken der Kategorie III (im Sinn des Anhangs I VO 2016/425) sei nach Artikel 19 VO (EU) 2016/425 ein Konformitätsbewertungsverfahren mit EU-Baumusterprüfung durchzuführen, die durch eine notifizierte Stelle zu erfolgen habe. Die vorgelegten Prüfberichte erfüllten jedoch nicht die Anforderungen einer Baumusterprüfung, weil sie nicht durch eine notifizierte Stelle erfolgt sei. Im Übrigen könnten die Atemschutzmasken auch nicht auf der Grundlage des § 9 der Medizinischer-Bedarf-Versorgungssicherstellungsverordnung (MedBVSV) auf dem Markt bereitgestellt werden. Die darin genannten Anforderungen für die Bereitstellung von persönlichen Schutzausrüstungen „im Kontext der COVID-19-Bedrohung“ seien hier nicht erfüllt. Der Antragsgegner hörte die Antragstellerin im selben Schreiben zur der Absicht an, die sofortige Einstellung der weiteren Bereitstellung der Atemschutzmasken mit den Artikelnummern F. und G. sowie die Rücknahme dieser und weitere Maßnahmen anzuordnen.
8
Hierauf antwortete die Antragstellerin mit Schreiben vom 10.07.2020. Sie teilte mit, dass sie Quasi-Herstellerin der Atemschutzmasken sei und diese als persönliche Schutzausrüstung bereitstelle. Aufgrund einer Konformitätsbewertung durch K. und entsprechender Einstufung des Herstellers in China seien die Atemschutzmasken mit einer CE-Kennzeichnung versehen worden. Deswegen habe sie auch eine Konformitätserklärung erstellt. Weder die belieferten Händler noch die Verwender hätten die Qualität jemals beanstandet. In rechtlicher Hinsicht führte sie aus, dass eine Rücknahme der Atemschutzmasken allenfalls auf § 26 Absatz 2 Satz 2 Nummer 7 ProdSG gestützt werden könnte. Die Voraussetzungen lägen aber nicht vor, weil ein begründeter Verdacht, dass die Atemschutzmasken nicht den Anforderungen des Abschnittes 2 des Produktsicherheitsgesetzes entsprächen, nicht vorliege. Ein Verstoß gegen Artikel 19 VO (EU) 2016/425 und die womöglich nicht rechtskonforme Anbringung der CE-Kennzeichnung sei nicht gegeben. Bei den Atemschutzmasken handele es sich um persönliche Schutzausrüstung im Sinne der VO (EU) 2016/425. Sie erfüllten die für sie geltenden Gesundheitsschutz- und Sicherheitsanforderungen. Dies werde durch die vorgelegten Prüfberichte der Zweigstelle des L., der auch in Deutschland notifizierte Stellen unterhalte, bestätigt. Die Prüfung und Berichterstellung sei im Verantwortungsbereich des L. in Deutschland erfolgt. Daher seien die Berichte einwandfrei und könnten der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Das Fehlen der EU-Baumusterprüfung führe nicht unmittelbar zu einem Verstoß, weil das Erfordernis der Durchführung eines Konformitätsbewertungsverfahrens im Sinne des Artikel 19 VO (EU) 2016/425 nach der Empfehlung (EU) 2020/403 vorübergehend zur Verbesserung der Versorgung mit persönlicher Schutzausrüstung suspendiert worden sei. Eine etwaige Nichtkonformität sei nach dem Willen der Kommission hinzunehmen, sofern ein angemessenes Gesundheit- und Schutzniveau gewährleistet sei. Durch die Prüfberichte sei nachgewiesen worden, dass die Atemschutzmasken das für FFP2-Masken maßgebliche Gesundheit- und Schutzniveau erfüllten. Die Empfehlung der Kommission sei von dem Antragsgegner auch unmittelbar zu berücksichtigen, weil sie nicht an die Mitgliedstaaten, sondern die Marktüberwachungsbehörden gerichtet sei. Unabhängig davon wäre eine Rücknahme unverhältnismäßig. Die Rücknahme würde einen schwerwiegenden Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit darstellen. Formale Verstöße allein könnten eine Rücknahme nicht begründen. Sicherheitsrelevante Verstöße lägen nicht vor. Dies sei durch die Prüfberichte ohnehin widerlegt. Außerdem erfüllten die Atemschutzmasken sogar die Anforderungen der Norm KN95, die höher seien als die der Norm EN 149:2001. Dem Schreiben des Antragsgegners vom 23.06.2020 habe nicht entnommen werden können, ob er im Rahmen seines Auswahlermessens andere Maßnahmen geprüft habe, die ausreichten, um der festgestellten formalen Nichtkonformität der Atemschutzmasken zu begegnen. Auch die Untersagung der Bereitstellung der Atemschutzmasken sei unverhältnismäßig, weil sicherheitsrelevante Risiken nicht zu besorgen seien. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass die Möglichkeit bestehe, die Atemschutzmasken aufgrund eines Bewertungsverfahrens nach § 9 Absatz 2 MedBVSV bereitzustellen. Dies wolle sie angehen. Überdies würde auch eine Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausgehen.
9
Mit E-Mail vom 22.07.2020 bat der Antragsgegner u. a. um Vorlage von Nachweisen zur Konformitätsbewertung durch die K. Außerdem bat er um Mitteilung, ob medizinische Einrichtungen direkt beliefert worden seien bzw. welche Händler beliefert worden seien.
10
Am 27.07.2020 fand eine fernmündliche Besprechung zwischen Vertretern der Antragstellerin und des Antragsgegners statt, in deren Rahmen die Möglichkeiten zur Bereitstellung der Atemschutzmasken auf dem Markt erörtert wurden. Mit E-Mail vom 30.07.2020 fasste der Antragsgegner den Inhalt und die Ergebnisse dieses Gespräches zusammen, wobei die Antragstellerin mit Schreiben vom 03.08.2020 antwortete und deutlich machte, dass die Zusammenfassung der Ergebnisse aus ihrer Sicht in Teilen unzutreffend sei. Hierauf reagierte der Antragsgegner mit Schreiben vom 12.08.2020 und verwies darauf, dass die vorgelegten Prüfberichte nicht ausreichend nachwiesen, dass die materiellen Anforderungen der VO (EU) 2016/425 erfüllt seien. Außerdem könnten die Atemschutzmasken nicht als einfache Mund-Nasen-Bedeckung in den Verkehr gebracht werden, weil diese unter anderem keine „KN95“-Kennzeichnung aufweisen dürften, wie dies bei den dem Antragsgegner mittlerweile vorliegenden Atemschutzmasken der Antragstellerin der Fall sei. Unter Fristsetzung bat der Antragsgegner um Nachweise, dass weitere Atemschutzmasken nicht auf dem Markt bereitgestellt und die Händler hierüber informiert würden.
11
Mit Schreiben vom 20.08.2020 übermittelte die Antragstellerin ein Schreiben der M. vom 04.08.2020, in dem die Echtheit des Prüfberichts I. vom 12.05.2020 sowie des Prüfberichts J. vom 15.05.2020 bestätigt werde.
12
Mit weiterem Schreiben vom 24.08.2020 nahm die Antragstellerin erneut Stellung und verwies abermals darauf, dass die Atemschutzmasken materiell rechtskonform seien. Ferner verwies sie darauf, dass die Bereitstellung der Atemschutzmasken nach der Medizinischer Bedarf Versorgungssicherstellungsverordnung nicht mehr möglich sei, weil die Marktüberwachungsbehörden entschieden hätten, ab dem 30.09.2020 keine Bestätigungen mehr über die Verkehrsfähigkeit von Masken auszustellen. Infolge dieses Beschlusses sei der N. nach deren Angaben nunmehr untersagt, weitere Prüfaufträge anzunehmen, soweit eine abschließende Bearbeitung vor dem 30.09.2020 nicht mehr sichergestellt werden könne. Sie bat den Antragsgegner darum, von Anordnungen abzusehen und eine einvernehmliche Lösung herbeizuführen. Anderenfalls sei sie noch anzuhören, weil die Schreiben des Antragsgegners vom 23.06.2020 und vom 12.08.2020 die Anforderungen an eine Anhörung nicht erfüllten. Sie enthielten keinen konkreten Anordnungsentwurf, zu dem sie hätte Stellung nehmen können. Außerdem gab sie folgende Erklärung ab:
13
[Die Antragstellerin] „wird ab sofort bis zum Abschluss des hiesigen marktüberwachungsbehördlichen Verfahrens keine weiteren Atemschutzmasken mit den Artikelnummern F. und G. aus ihrem Lagerbestand auf dem deutschen Markt bereitstellen.“
14
Mit E-Mail vom 27.08.2020 bat der Antragsgegner die Antragstellerin um Auflistung der belieferten Händler mit Angabe der jeweiligen Liefermenge sowie um Angabe des Lagerbestandes.
15
Nachdem die Antragstellerin Fristverlängerung und erneut Akteneinsicht beantragt hatte und dies vom Antragsgegner abgelehnt worden war, traf dieser in dem Bescheid vom 15.09.2020 folgende Entscheidungen:
16
1. Die Bereitstellung der Atemschutzmasken mit den Artikelnummern: F. (GTIN: O.) und G. (GTIN: P.) auf dem Markt wird ab sofort untersagt.
17
2. Die unverzügliche Rücknahme der Atemschutzmasken mit den Artikelnummern: F. (GTIN: O.) und G. (GTIN: P.) aus dem Handel wird hiermit angeordnet. Die Rücknahme ist mit Frist bis zum 30.09.2020 zu veranlassen. Die ergriffenen Maßnahmen sind dem Staatlichen Gewerbeaufsichtsamt Q. mit Frist bis zum 05.10.2020 schriftlich mitzuteilen.
18
3. Dem Staatlichen Gewerbeaufsichtsamt Q. sind schriftlich, unter Nennung der jeweiligen Stückzahlen, bis zum 30.09.2020 alle Wirtschaftsakteure mitzuteilen, an welche die in Nummer 2.) geregelten Atemschutzmasken geliefert wurden.
19
4. Dem Staatlichen Gewerbeaufsichtsamt Q. ist der Verbleib der Atemschutzmasken (Lagerware und aus dem Handel zurückgenommene Ware) mit Frist bis zum 16.11.2020 schriftlich mitzuteilen.
20
5. Es wird die sofortige Vollziehung der in Nrn. 1) und 2) genannten Regelungen angeordnet.
21
6. Sofern trotz der in Nr. 1) geregelten Untersagung durch die Störerin eine der dort genannten Artenschutzmasken auf dem Markt bereitgestellt wird, drohe ich der R. die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 5.000,00 Euro an.
22
Zur Begründung führte der Antragsgegner im Wesentlichen aus: Die Anordnungen der Nummern 1 und 2 ergingen aufgrund der Artikel 37, 38 und 41 VO (EU) 2016/425 i.V.m. Artikel 16 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nummer 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates [im Folgenden: VO (EU) 765/2008]. Bei den Atemschutzmasken handele es sich um persönliche Schutzausrüstung. Das hierfür erforderliche Konformitätsbewertungsverfahren nach Artikel 19 VO (EU) 2016/425 sei nicht durchgeführt worden. Die vorgelegte Konformitätserklärung sei unvollständig. Die EU-Baumusterprüfung, die eine technische Prüfung eines repräsentativen Musters durch eine notifizierte Stelle vorsehe und auch die Prüfung der technischen Unterlagen beinhalte, sei nicht durchgeführt worden. Von der Antragstellerin seien Prüfberichte des H.. aus China vorgelegt worden, die die Einhaltung der vorgelegten Prüfmuster mit den Anforderungen der Norm EN 149:2001 + A1:2009 belegen sollen. Die Tests seien zu einem nicht unerheblichen Teil von einem anderen Prüflabor, der S., durchgeführt worden. Beide Prüflabore seien keine notifizierten Stellen. Die in EN 149:2001 + A1:2009 aufgeführten Anforderungen zur Kennzeichnung der Atemschutzmasken seien nicht geprüft worden und die danach geforderten Angaben fehlten vollständig. Die vorgelegten Berichte seien kein belastbarer Nachweis für die Einhaltung der Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen. Außerdem habe keine Überwachung während der Serienproduktion stattgefunden. Auf der Verpackung der Atemschutzmasken seien die Angaben „CE0194“, „FFP2“ und „EN 149:2001 + A1:2009“ aufgedruckt. Die Anbringung des CE-Kennzeichens sei nicht zulässig, weil das erforderliche Konformitätsbewertungsverfahren zunächst durchlaufen werden müsste. Zudem liege kein Nachweis dafür vor, dass die notifizierte Stelle, deren Nummer angegeben worden sei, am Konformitätsbewertungsverfahren beteiligt gewesen sei. Auch die Angaben „FFP2“ und „EN 149“ seien nicht zulässig. Sie suggerierten dem Verwender, dass es sich um persönliche Schutzausrüstung handele, die den erhöhten Schutzanforderungen gerecht werde.
23
Die Atemschutzmasken erfüllen daher weder die formellen noch die materiellen Anforderungen, dürften nicht auf dem Markt bereitgestellt werden und seien zurückzunehmen. Maßnahmen zur Herstellung der Konformität seien von der Antragstellerin nicht getroffen worden. Die abgegebene Erklärung der Antragstellerin reiche nicht aus, eine Rücknahme sei durch sie nicht erfolgt. Dem Gesundheitsschutz sei durch die Anordnungen bestmöglich Rechnung getragen worden und der zusätzliche wirtschaftliche Aufwand der Antragstellerin sei abgewogen worden. Es solle verhindert werden, dass die Atemschutzmasken den Endverbraucher erreichten. Dieser könne mittlerweile auf Atemschutzmasken zurückgreifen, die die Anforderungen erfüllten. Es könne nicht hingenommen werden, dass die Atemschutzmasken, für die kein Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt worden sei, weiterhin im Handel verkauft würden. Die CE-Kennzeichnung sei irreführend. Es müsse sichergestellt werden, dass der Endverbraucher die persönliche Schutzausrüstung erhalte, die den Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen entspreche.
24
Es sei derzeit auch nicht mehr möglich, die Atemschutzmasken nach § 9 Absätze 2 und 3 MedBVSV bereitzustellen. Eine Prüfung durch die Prüfstellen würde nicht mehr durchgeführt und eine behördliche Bestätigung würde nicht mehr ausgestellt werden. Die Marktüberwachungsbehörden der Länder hätten am 06.08.2020 beschlossen, den Prüfungsgrundsatz für Atemschutzmasken mit Ablauf des 30.09.2020 von der Internetseite zu nehmen. Auch als einfache Mund-Nasen-Bedeckung könnten die Atemschutzmasken der Antragstellerin nicht bereitgestellt werden, weil sie mit dem Aufdruck „KN95“ versehen seien.
25
Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin mit Schreiben vom 30.09.2020 Widerspruch.
26
Am selben Tag hat die Antragstellerin einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Zu dessen Begründung macht sie geltend:
27
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei nicht ausreichend begründet. Der Antragsgegner habe nicht dargelegt, aus welchen Gründen er nach vier Monaten einen Sofortvollzug für gerechtfertigt halte. Außerdem habe er nicht dargestellt, weshalb ein Sofortvollzug wegen formeller Mängel und eines nur behaupteten Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sei.
28
Die Regelungen in den Nummern 1 und 2 des Bescheides des Antragsgegners seien schon formell rechtswidrig, weil sie nicht ordnungsgemäß begründet worden seien. Es werde nicht hinreichend deutlich, auf welchen Rechtsgrund der Antragsgegner seine Anordnungen stütze. Die von dem Antragsgegner angewandten Normen seien falsch zitiert worden und auch in der Anwendung werde nicht klar, welcher Sachverhalt unter welche Voraussetzungen der genannten Normen zur Bereitstellungsuntersagung und zur Rücknahmeanordnung geführt habe. Überdies könne sich ein marktüberwachungsbehördlicher Verwaltungsakt nicht unmittelbar auf die genannten Verordnungen stützen. Die Marktüberwachung auf nationalem Gebiet richte sich vielmehr nach dem Produktsicherheitsgesetz.
29
Auch in materieller Hinsicht erwiesen sich die Anordnungen als rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für eine Bereitstellungsuntersagung nach § 26 Absatz 2 Satz 2 Nummer 6 ProdSG i.V.m. Artikel 38 bzw. 41 VO (EU) 2016/425 nicht vorlägen. Danach könnten hier in Betracht kommende vorliegende formelle Verstöße eine solche Untersagung nicht rechtfertigen. Die Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen an die Atemschutzmasken seien erfüllt. Die vorgelegten Prüfberichte belegten dies. Der Antragsgegner verkenne, dass nicht jede Testung durch eine notifizierte Stelle vorzunehmen sei. Eigene Untersuchungen bzw. Testungen habe der Antragsgegner nicht durchgeführt. Außerdem sei die Untersagung mit Blick auf die abgegebene Erklärung der Antragstellerin nicht erforderlich gewesen. Außerdem sei sie nicht angemessen, weil der Untersagung eine konkrete Gefährdungsbeurteilung nicht zugrunde liege. Trotz der vorliegenden Prüfberichte würde unterstellt, dass die Atemschutzmasken die Anforderungen an Gesundheit und Sicherheit nicht einhalten würden. Außerdem treffe es nicht zu, dass die Atemschutzmasken nicht die „KN95“-Kennzeichnung aufweisen dürften, denn entsprechende Regelungen hierzu gebe es nicht. Vielmehr böten Masken mit solcher Kennzeichnung einen vergleichbaren Schutz, wie aus einem Faktenblatt der Arbeitsschutzbehörde des Freistaates Sachsen vom 04.06.2020 hervorgehe. Ferner erweise sich das Bereitstellungsverbot als ermessensfehlerhaft, weil die Empfehlung (EU) 2020/403 nicht beachtet worden sei. Auch die Empfehlung des Bundesministeriums für Gesundheit vom 13.03.2020, wonach im Einzelfall die Verkehrsfähigkeit durch geeignete Stellen, z. B. notifizierte Stellen nach der VO (EU) 2016/425, dahingehend überprüft werden müsse, ob die Güter den EU-Schutzstandards entsprächen, sei vom dem Antragsgegner nicht beachtet worden, obwohl das Nds. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung dies den Marktüberwachungsbehörden mit Schreiben vom 16.03.2020 nahegelegt hätten.
30
Auch die Rücknahmeanordnung sei materiell rechtswidrig, weil die Voraussetzungen des § 26 Absatz 2 Satz 2 Nummer 7 ProdSG i.V.m. Artikel 38 VO (EU) 2016/425 nicht vorlägen. Die Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen an die Atemschutzmasken seien nach den vorgelegten Prüfberichten erfüllt. Eine Nachprüfung durch den Antragsgegner habe nicht stattgefunden. Formelle Verstöße allein könnten auch eine Rücknahme nicht stützen. Außerdem sei die Rücknahmeanordnung nicht mehr erforderlich gewesen. Die Antragstellerin habe dem Antragsgegner Proben der Atemschutzmasken zur Verfügung gestellt und hätte im Falle des Vorliegens materieller Verstöße Weiteres veranlasst. Außerdem sei die Rücknahmeanordnung nicht angemessen, weil keine konkrete Gefährdungsbeurteilung zugrunde liege. Ein lediglich vermutetes Risiko für Gesundheit und Sicherheit wiege hier nicht schwerer als die Verletzung der wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin, die bei Rücknahme eintreten würden. Die Kosten der Rücknahme und die damit einhergehenden wirtschaftlichen Schäden würden den Wert der Atemschutzmasken um ein Vielfaches überschreiten. Im Übrigen habe das Handeln der Antragstellerin zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung beigetragen, weil durch sie die Unterversorgung habe behoben werden können. Es sei auch zu berücksichtigen, dass die nicht waschbaren und nur begrenzt wiederverwendbaren Atemschutzmasken der Antragstellerin mehrheitlich bereits gebraucht bzw. mittlerweile auch schon entsorgt sein dürften.
31
Die Rücknahmeanordnung sei aber auch deswegen ermessensfehlerhaft, weil der Antragsgegner die Regelungen in § 9 Absatz 2 und 3 MedBVSV nicht angewandt habe. Vor dem Hintergrund der Empfehlung (EU) 2020/403, die die Anwendung der VO (EU) 2016/425 suspendiere, habe das Bundesministerium der Gesundheit die Regelungen in § 9 Absatz 2 und 3 der MedBVSV erlassen. Diese hätten trotz des Beschlusses der Marktüberwachungsbehörden der Länder noch Bestand und seien anzuwenden. Es bestehe weder im Infektionsschutzgesetz, auf deren Grundlage die Verordnung erlassen worden sei, noch in der Verordnung selbst eine Rechtsgrundlage, wonach ein Arbeitsausschuss der Marktüberwachungsbehörden der Länder dazu ermächtigt werde, die Regelung in § 9 Absatz 2 MedBVSV außer Kraft zu setzen.
32
Ungeachtet der Rechtswidrigkeit der Regelungen in den Nummern 1 und 2 des Bescheides würde eine Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausfallen. Im Raum stünden allenfalls formelle Mängel, die materiell keinen Nachteil für die menschliche Gesundheit darstellten. Dieser werde von dem Antragsgegner lediglich unterstellt. Die Atemschutzmasken böten ausreichenden Schutz, was durch die vorgelegten Prüfberichte belegt werde. Es sei zu berücksichtigen, dass die Atemschutzmasken bereits seit Monaten im Verkehr seien. Sie seien somit schon mehrfach genutzt und bereits entsorgt worden. Eine Internetrecherche habe gezeigt, dass nur wenige Masken der Antragstellerin noch im Handel verfügbar seien. Sie würden nur noch von einem Online-Händler angeboten werden. Der Gesundheitsschutz könne damit nicht erreicht werden. Hingegen würde die Antragstellerin wirtschaftlich ruiniert werden. Sie müsste sämtliche Händler über die Rücknahme informieren, selbst wenn dort keine Atemschutzmasken mehr angeboten würden. Die Kosten der Rücknahme und Vernichtung würden den Wert der Atemschutzmasken bei Weitem übersteigen. Zudem sehe sie sich Schadensersatzansprüchen der Händler ausgesetzt, die sie in die Insolvenz führen könnten. Außerdem sei mit der Rücknahme ein Imageverlust der Antragstellerin verbunden, weil die Händler aufgrund des Vertrauensverlustes keine Produkte mehr von der Antragstellerin beziehen würden. Diese Nachteile seien nicht wiedergutzumachen und wögen schwerer als ein lediglich auf Vermutungen und Formalien gestützter Gesundheitsschutz.
33
Die Antragstellerin beantragt,
34
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 30.09.2020 gegen die Regelung in den Nummern 1 und 2 der Verwaltungsverfügung des Antragsgegners vom 15.09.2020 wiederherzustellen.
35
Der Antragsgegner beantragt,
36
den Antrag abzulehnen.
37
Er verweist auf die Ausführungen in dem Bescheid und führt ergänzend aus:
38
Die erforderliche Anhörung sei mit Schreiben vom 23.06.2020 durchgeführt worden.
39
Er könne nicht beeinflussen, inwieweit Bewertungsverfahren im Sinne des § 9 Absatz 2 MedBVSV durchgeführt würden. Grundlage des Beschlusses der Marktüberwachungsbehörden der Länder vom 06.08.2020 sei ein Beschluss des Arbeitsausschusses Marktüberwachung der Länder. Denn ausgehend von der Erkenntnislage des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sei aktuell von keinem Versorgungsengpass für partikelfiltrierende Halbmasken auszugehen, sodass keine neuen Prüfaufträge angenommen und somit keine Prüfbescheinigungen für das erstmalige Bereitstellen ausgestellt würden. Sollte sich eine neue Mangelsituation einstellen, sei von einer Rückkehr zu den Regelungen in § 9 MedBVSV auszugehen.
40
Unabhängig davon seien die Voraussetzungen nach diesen Regelungen nicht erfüllt. Die Atemschutzmasken seien in den in § 9 Absatz 2 MedBVSV genannten Ländern nicht verkehrsfähig. Außerdem liege eine Bestätigung über das erfolgreiche Bestehen im verkürzten Prüfverfahren für die Atemschutzmasken nicht vor. Es könne daher gar nicht festgestellt werden, ob die Atemschutzmasken ein vergleichbares Gesundheits- und Sicherheitsniveau böten. Die vorgelegten Unterlagen belegten dies nicht.
41
Die Empfehlung (EU) 2020/403 vom 13.03.2020 stehe den Eingriffsmaßnahmen hier nicht entgegen. Sie begründe keine Rechtsansprüche und diene nicht als Rechtsgrundlage für die Bereitstellung persönlicher Schutzausrüstung. Ebenso begründe auch die Empfehlung des Bundesministeriums für Gesundheit vom 13.03.2020 keinen Rechtsanspruch.
42
Mit gerichtlicher Verfügung vom 02.10.2020 ist die Antragstellerin durch das Gericht gebeten worden, bis zum 09.10.2020 glaubhaft zu machen, dass sie die betreffenden Atemschutzmasken aus ihrem Lagerbestand auf den deutschen Markt bereitstellt, wie hoch der Lagerbestand aktuell ist und wie viele dieser Masken bisher vertrieben worden sind. Hierauf hat die Antragstellerin bis zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht geantwortet.
43
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge (BA 001) Bezug genommen.
II.
44
Der Antrag ist zulässig.
45
Statthaft ist der von der Antragstellerin formulierte Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Absatz 5 Satz 1 Alternative 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Er richtet sich gegen die in der Ziffer 5 des Bescheides des Antragsgegners vom 15.09.2020 getroffene Anordnung des Sofortvollzuges der Untersagung der Bereitstellung von Atemschutzmasken auf dem Markt (Ziffer 1) sowie der angeordneten unverzüglichen Rücknahme der Atemschutzmasken aus dem Handel (Ziffer 2). Hiergegen richtet sich u. a. der Widerspruch der Antragstellerin, dessen aufschiebende Wirkung sie wiederhergestellt haben möchte.
46
In der Sache hat der Antrag keinen Erfolg.
47
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell rechtmäßig. Nach § 80 Absatz 3 Satz 1 VwGO ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Das hat den Zweck, dass sich die Behörde den Ausnahmecharakter der Vollzugsanordnung vor Augen führt und sorgfältig prüft, ob tatsächlich ein überwiegendes Interesse erfordert, den Sofortvollzug anzuordnen. Der Antragsgegner ist der Auffassung, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Untersagung der Bereitstellung von Atemschutzmasken sowie der unverzüglichen Rücknahme dem überwiegenden öffentlichen Interesse entspricht. Denn das öffentliche Interesse am Kauf anforderungskonformer oder getesteter Masken wiege höher als das Eigeninteresse der Antragstellerin am wirtschaftlichen Vorteil. Der Gesundheitsschutz von Personen, die diese Masken nutzen oder damit anders in Berührung kommen, stehe weit über den finanziellen Interessen der Antragstellerin. Diese Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung genügt den formalen Anforderungen des § 80 Absatz 3 Satz 1 VwGO. Sie zeigt, dass sich der Antragsgegner des Ausnahmecharakters der Vollzugsanordnung bewusst ist, und enthält die Erwägungen, die für die Anordnung des Sofortvollzugs maßgeblich waren. Ob die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung inhaltlich vollständig überzeugt, wäre jedenfalls keine Frage des § 80 Absatz 3 Satz 1 VwGO.
48
Die aufschiebende Wirkung ist nicht wiederherzustellen.
49
Nach § 80 Absatz 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage wiederherstellen, wenn die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes nicht im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt. Das ist dann der Fall, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt nach der im Rahmen des § 80 Absatz 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden summarischen Überprüfung aller Wahrscheinlichkeit nach als nicht rechtmäßig darstellt, da an der sofortigen Vollziehung einer rechtswidrigen Verfügung kein überwiegendes öffentliches Interesse anerkannt werden kann. Andererseits ist das überwiegende öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Verfügung dann anzunehmen, wenn sich diese mit großer Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig darstellt und ein besonderes Vollzugsinteresse besteht. Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache respektive die Rechtmäßigkeit angegriffener behördlicher Maßnahmen offen, insbesondere wenn aufgrund besonderer Dringlichkeit oder Komplexität der Rechtsfragen keine verlässliche Abschätzung der Erfolgsaussichten vorgenommen werden kann, bleiben die gegenläufigen Interessen unter Berücksichtigung der mit einer aufschiebenden Wirkung einerseits bzw. deren Ablehnung andererseits verbundenen Folgen zu gewichten (BVerwG, Beschluss vom 22. März 2010, 7 VR 1.10, juris Rn. 13).
50
Dies zugrunde gelegt ist der Antrag nicht begründet.
51
Die Erfolgsaussichten des Widerspruchs sind offen. Denn eine verlässliche Abschätzung der Erfolgsaussichten des Widerspruchs gegen die für sofort vollziehbar erklärte und ab sofort geltende Untersagung der Bereitstellung der Atemschutzmasken und die ebenso für sofort vollziehbar erklärte angeordnete unverzügliche Rücknahme der Atemschutzmasken aus dem Handel, übersteigt unter Beachtung der Dringlichkeit und der Komplexität der aufgeworfenen Rechtsfragen den zumutbaren Aufwand im Eilverfahren.
52
Unabhängig davon, ob sich der Bescheid als formell rechtmäßig erweisen würde, wären Fragen im Zusammenhang mit dem erforderlichen Konformitätsbewertungsverfahren, insbesondere ob die von der Antragstellerin vorgelegten Prüfberichte ausreichend sind und ob die im Raum stehenden formellen Mängel, und auch eine womöglich fehlerhafte Kennzeichnung der Atemschutzmasken, die Untersagung der Bereitstellung sowie die Rücknahme der Atemschutzmasken rechtfertigen. Dabei sind nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Frage zu klären, insbesondere die Beteiligungen der verschiedenen (ausländischen) Firmen. Ebenso ist offen, ob die getroffenen Maßnahmen mit Blick auf die in Betracht zu ziehende Möglichkeit erforderlich sind, die Atemschutzmasken nach § 9 Absatz 2 Satz 1 MEdBVSV auf dem Markt bereitzustellen. Ob eine Bereitstellung nach § 9 Absatz 2 Satz 1 MedBVSV derzeit nicht erfolgen kann, wie der Antragsgegner meint, ist ebenso von vielen zu klärenden Fragen abhängig. Denn die allein in § 9 Absatz 1 MedBVSV als Voraussetzung genannte Mangelsituation müsste sich zum einen auch auf die Möglichkeit der Bereitstellung nach § 9 Absatz 2 MedBVSV beziehen und zum anderen wäre zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen und wer überhaupt feststellt, dass eine solche Mangelsituation besteht. Es ist nämlich auch nicht nachzuvollziehen, dass dies durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die die Medizinischer-Bedarf-Versorgungssicherstellungsverordnung nicht erlassen haben, geschehen kann. Hinzu kommt die von dem Antragsgegner geschaffene unklare Situation, dass er auf der einen Seite ausführt, dass er eine Bestätigung im Sinne des § 9 Absatz 3 MedBVSV nicht mehr erteilen könne, andererseits aber in der Antragserwiderung bemängelt, dass eine Bewertung im Sinne des § 9 Absatz 2 MedBVSV von der Antragstellerin bisweilen nicht vorgelegt worden ist. Außerdem stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Antragsgegner bzw. die Marktüberwachungsbehörden der Länder überhaupt entscheiden dürfen, ob eine Bereitstellung auf dem Markt nach § 9 Absatz 2 Satz 1 MedBVSV „ausgesetzt“ wird, indem sie entsprechende Bescheinigungen nicht mehr ausstellen. Denn nach § 9 Absatz 2 Satz 2 MedBVSV kontrollieren die Marktüberwachungsbehörden die Verkehrsfähigkeit. Die Befugnis zur Lenkung des Marktes, die hier offensichtlich stattfindet, ist dort nicht geregelt. Ebenso offen bleibt die Frage, ob die Atemschutzmasken als einfache Mund-Nasen-Bedeckung bereitgestellt werden könnten und inwieweit die vorhandene Kennzeichnung dem entgegensteht.
53
Die deswegen vorzunehmende Interessenabwägung unter Berücksichtigung der mit einer aufschiebenden Wirkung einerseits bzw. deren Ablehnung andererseits verbundenen Folgen geht zu Lasten der Antragstellerin aus. Es ist kein überwiegendes Interesse der Antragstellerin an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs feststellbar.
54
Für die Antragstellerin streitet durchaus ein wirtschaftliches Interesse. Das Gericht erkennt an, dass es bei Ablehnung ihres Antrages zu wirtschaftlichen Nachteilen, insbesondere finanziellen Einbußen, kommen kann, wenn sie die Atemschutzmasken bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens (respektive bis zum rechtskräftigen Abschluss eines sich anschließenden gerichtlichen Verfahrens) nicht mehr auf dem Markt bereitstellen darf. Es ist für das Gericht aber nicht nachvollziehbar, inwieweit sie die Untersagung der Bereitstellung der Atemschutzmasken, wirtschaftlich bzw. finanziell trifft. Die Antragstellerin hat in diesem Zusammenhang nicht dargelegt, in welchem Ausmaß sie dies treffen würde. Auf die gerichtliche Verfügung vom 02.10.2020, wie auch auf eine entsprechende Nachfrage des Antragsgegners vor Erlass des Bescheides, wie hoch ihr Lagerbestand derzeit sei, reagierte die Antragstellerin ohne Nennung von Gründen bis zum Zeitpunkt dieser Entscheidung nicht. Vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin nur mitgeteilt hatte, dass sie bereit sei, die Masken jedenfalls nicht auf dem deutschen Markt anzubieten, ist auch nicht klar, ob und inwieweit die Antragstellerin die Atemschutzmasken in anderen Ländern vertreiben möchte oder dies bereits getan hat und zwar unabhängig davon, ob ihr dies durch die Untersagung noch erlaubt ist oder nicht. Die Antragstellerin hat auch nicht dargelegt, dass sie die Atemschutzmasken nicht später wirtschaftlich verwerten kann. Es handelt sich bei den Atemschutzmasken nicht um verderbliche Produkte und die Antragstellerin kann diese zu einem späteren Zeitpunkt noch vertreiben, sollte sich die Untersagung als rechtswidrig erweisen. Ein Bedarf an FFP2-Masken besteht nach vorläufiger Auffassung des Gerichts grundsätzlich auch nach einem – bisher nicht absehbareren – Ende der Corona-Epidemie. Dass die Antragstellerin die Atemschutzmasken dann eventuell nicht so schnell verkaufen könnte, wie dies jetzt der Fall sein dürfte, ist aus Sicht des Gerichts hinzunehmen, weil die Antragstellerin dies ohnehin nach wirtschaftlicher Betrachtung einzukalkulieren hätte. Daran ändert es auch nichts, dass die Antragstellerin gerade in dem Zeitpunkt mit dem Vertrieb der Masken begann, als entsprechende Atemschutzmasken schwer zu beschaffen und knapp waren. Im Übrigen vertreibt die Antragstellerin zur Kenntnis des Gerichts und ausweislich ihrer Internetseite diverse andere Waren, sodass nicht ersichtlich ist, dass der Handel mit den betreffenden Atemschutzmasken ihr Kerngeschäft ist, welches sie einstweilen nicht mehr durchführen könnte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin ihren seit Jahren betriebenen Großhandel wie vor weiter betreiben könnte. Ebenso hat die Antragstellerin eine von ihr behauptete Existenzgefährdung nicht dargelegt.
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Soweit die Antragstellerin anführt, dass die Rücknahme der Atemschutzmasken sie wirtschaftlich ruinieren würde, so hat sie dies trotz entsprechender Nachfrage durch das Gericht und den Antragsgegner nicht dargelegt. Die Antragstellerin hat nicht darauf reagiert, wie viele Atemschutzmasken überhaupt von ihr vertrieben worden sind. Damit kann das Ausmaß einer Rücknahme überhaupt nicht eingeschätzt werden und rechtlich bewertet werden. Allein die theoretische Möglichkeit des Eintretens wirtschaftlicher Schäden reicht nicht aus. Überdies ist auch nicht ersichtlich, dass es der Antragstellerin unzumutbar sein könnte, ihre Abnehmer entsprechend zu informieren, sollte sich die Rücknahme als rechtswidrig erweisen. Außerdem ist in diesem Zusammenhang beachtlich, dass der Handel mit Atemschutzmasken nicht das Kerngeschäft der Antragstellerin ist und sie zahlreiche andere Waren, wie Geschenkartikel oder Dinge des täglichen Lebens, vertreibt. Es ist nicht ersichtlich, dass sie diese Waren an dieselben Abnehmer vertreibt, die sie wegen einer Rücknahme der Atemschutzmasken zu kontaktieren hätte. Ihr weiteres Geschäft könnte ungestört weiterlaufen, ohne dass dort Beeinträchtigungen wegen einer Rücknahme von Waren aus einem völlig anderem Wirtschaftsbereich zu erwarten sind.
56
Den nicht dargelegten erheblichen oder schwerwiegenden wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin treten der Gesundheitsschutz der gesamten Bevölkerung und der Verbraucherschutz entgegen. Dieser fällt schwerer ins Gewicht. Sollte sich herausstellen, dass die von der Antragstellerin vertriebenen Atemschutzmasken nicht die materiellen Anforderungen erfüllen, die an FFP2-Masken zu stellen sind oder diese Atemschutzmasken auch kein vergleichbares Schutzniveau haben, so wären all diejenigen, die sich diese Atemschutzmasken beschafften und zukünftig beschaffen, nicht in der Weise geschützt, wie dies bei FFP2-Masken zu erwarten ist. Dies wäre nicht nur der Verbraucher, der aus persönlichen Gründen auf den besonderen Schutz solcher Atemschutzmasken vertraut und im Einzelfall darauf angewiesen ist, sondern möglicherweise auch Personal aus dem Gesundheitsbereich bzw. Menschen, die auf das Tragen dieser Atemschutzmasken besonders angewiesen sind, weil sie beispielsweise mit besonders ansteckungsgefährdeten und schutzbedürftigen Personen zu tun haben. Gerade in der Zeit der Corona-Epidemie wie auch sonst kann nicht hingenommen werden, dass Atemschutzmasken als FFP2-Masken auf den Markt gelangen bzw. weiter auf dem Markt erhältlich sind, ohne dass sie entsprechenden oder vergleichbaren Schutz aufweisen bzw. ein solcher verlässlich nachzuvollziehen ist. Hieran ändert es auch nichts, dass die von der Antragstellerin vorgelegten Prüfberichte nach Auffassung der Antragstellerin bescheinigten, dass die besonderen Anforderungen an FFP2-Masken erfüllt seien und es sich vorliegend nur um formelle Mängel handele. Es ist gerade unklar, ob die Stelle, die dies bescheinigt, derart vertrauenswürdig ist, dass von der Richtigkeit ihrer Prüfung und Ergebnisse ausgegangen werden kann.
57
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Absatz 1 VwGO, wonach die Antragstellerin als unterlegene Partei die Kosten zu tragen hat.
58
Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 53 Absatz 2 Nummer 2, 52 Absatz 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) unter Berücksichtigung der Nummer 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Danach ist der mangels Angaben der Antragstellerin anzunehmende Streitwert von 5.000,00 Euro zu halbieren.
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Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert. Die dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen vom 30. Dezember 2011 und 28. Juni 2013 werden aufgehoben.
Unter Einbeziehung des unanfechtbar gewordenen Teils der Kostenentscheidung des Urteils erster Instanz wird die Kostenentscheidung wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte und der Beigeladene tragen jeweils ein Sechstel der erstinstanzlichen Gerichtskosten und jeweils zur Hälfte die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens sowie die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 3. in beiden Rechtszügen.
Darüber hinaus tragen die Beklagte und der Beigeladene jeweils ein Drittel ihrer außergerichtlichen Kosten für das erstinstanzliche Verfahren sowie ihre außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren selbst.
Die Kläger zu 1. und 2. sowie die Kläger zu 4. und 5. tragen jeweils als Gesamtschuldner jeweils ein Drittel der erstinstanzlichen Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
Der Beschluss ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die jeweiligen Vollstreckungsschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 von Hundert des jeweils auf Grund des Beschlusses vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 von Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Gründe:
2I.
3Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen der Beklagten vom 30. Dezember 2011 sowie vom 28. Juni 2013 für den Umbau und die Restaurierung der Gebäude H. 14 und 15 in E. für einen gastronomischen Betrieb (im Folgenden: Vorhaben). Die Klägerin zu 3. ist Eigentümerin des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks B. 1 in E., das sie selbst bewohnt. Ihr Wohnhaus steht teilweise unmittelbar an der Grenze zum Grundstück H. 15, teilweise bis zu 80 cm davon entfernt. Auf den Grundstücken H. 14 und 15 betrieb der Beigeladene auf der Grundlage der besagten Baugenehmigungen bis zum 30. Juni 2017 zwei Gaststätten. Alle genannten Grundstücke liegen im Plangebiet des Bebauungsplans, Blatt 4, der Stadt E., der die Grundstücke unter anderem als Allgemeines Wohngebiet festsetzt.
4Nach dem von dem Beigeladenen vorgelegten Betriebskonzept soll im Erdgeschoss des Hauses H. 14 eine Gaststätte im Brauhaus-Stil mit Vereinszimmer betrieben werden. Der Eingang ist an der Gebäudeecke zu den Straßen B./L. vorgesehen. Im vorderen Bereich, der sogenannten „Schwemme“, sowie in dem abtrennbaren Vereinszimmer finden jeweils 37 Besucher Platz. Im Haus H. 15 ist ein Speiselokal mit 246 Sitzplätzen genehmigt. Dessen Eingänge sollen zum H1. und zur Straße B. ausgerichtet sein. Beide Gaststätten sind unter anderem durch eine Öffnung der Gebäudetrennwand als Durchlass für die Gäste baulich miteinander verbunden. Eine Außengastronomie ist nicht Bestandteil der Baugenehmigung, wurde aber zwischenzeitlich betrieben. Die Betriebszeit ist an allen Tagen auf 9:00 Uhr bis 1:00 Uhr beschränkt. Die Betriebsbeschreibung enthält zu den Themen Immissionsschutz und Geräusche keine Angaben. Der Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 sind Nebenbestimmungen beigefügt, wonach gemäß 5.7 des Schallschutznachweises alle Eingangstüren des Restaurants und der Schwemme mit Schleusen zu erstellen sind. Unter anderem für das Grundstück der Klägerin zu 3. sind die Immissionsrichtwerte für ein Allgemeines Wohngebiet einzuhalten.
5Unter dem 8. Mai 2018 genehmigte die Beklagte einem anderen Bauherrn den „Umbau und die Verkleinerung“ der Gaststätte. Die Baugenehmigung gestattet insgesamt 250 Sitzplätze bei unveränderten Öffnungszeiten. Die Klägerin zu 3. hat auch gegen diese Baugenehmigung Klage vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf erhoben (4 K 5787/18).
6Wegen des Sach- und Streitstandes bis zum Erlass des angefochtenen Urteils wird entsprechend § 130b Satz 1 VwGO auf dessen Tatbestand Bezug genommen.
7Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Kläger zu 1. bis 5. mit Urteil vom 30. Juli 2015 abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, die Baugenehmigungen vom 30. Dezember 2011 und vom 28. Juni 2013 verstießen nicht gegen Rechte der Kläger. Insbesondere sei deren Anspruch auf Wahrung der Gebietsart nicht verletzt. Das Vorhaben diene der Versorgung des Gebiets im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO. In dem Gebiet, dem die Gaststätte funktional zugeordnet sei, gebe es in einem Radius von teilweise mehr als 700 m Wohnbebauung in beträchtlichem Umfang. Die Kläger selbst gingen davon aus, dass in dem Einzugsbereich des Vorhabens bei realistischer Betrachtung mehr als 3.200 Personen wohnten. Bei dieser Sachlage könne es letztlich offenbleiben, wo im Einzelnen die Grenzen des Einzugsbereichs zu ziehen seien.
8Das Vorhaben sei trotz seiner beträchtlichen Größe nach Lage, Art und Ausstattung objektiv geeignet, von den Bewohnern dieses Gebiets in einem ins Gewicht fallenden Umfang aufgesucht zu werden. Dass Gaststättenbesucher auch außerhalb des maßgeblichen Gebiets wohnten, sei unschädlich, solange die funktionale Zuordnung des Vorhabens zu dem Gebiet objektiv erhalten bleibe. Es seien keine betrieblichen Besonderheiten erkennbar, die eine eindeutige Ausrichtung des Vorhabens auf ein überörtliches Publikum belegten und damit dessen Gebietsversorgungscharakter in Frage stellen könnten. Es stehe außer Frage, dass § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO die in einem Allgemeinen Wohngebiet zulässigen Schank- und Speisewirtschaften nicht auf die traditionelle kleine Speisegaststätte mit Mittag‑ und Abendessen beschränke. Auch eine mehr auf das kommunikative Zusammentreffen der Gäste bei Getränken und Speisen ausgerichtete Gaststätte könne ohne Weiteres den Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO genügen. Die Nebenbestimmungen zu der Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 seien geeignet, die Nachbarn vor unzumutbaren Emissionen ausreichend zu schützen. Die Nutzung des Vorhabens dürfe nur so erfolgen, dass die Immissionsrichtwerte von tagsüber 55 dB(A) und nachts 40 dB(A) nicht überschritten würden. Dies gelte auch für Sonderveranstaltungen, da die Baugenehmigung insofern keine Ausnahmen vorsehe.
9Zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung der Klägerin zu 3. hat diese weiterhin geltend gemacht, dass das Vorhaben ihren Anspruch auf Wahrung der Gebietsart verletze und es darüber hinaus zu ihren Lasten gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoße.
10Die Klägerin zu 3. hat beantragt,
11das angefochtene Urteil zu ändern und die dem Beigeladenen von der Beklagten am 30. Dezember 2011 und 28. Juni 2013 erteilten Baugenehmigungen zur Nutzungsänderung beziehungsweise zum Umbau und zur Restaurierung von zwei Restaurants auf den Grundstücken H. 14 und 15 in E. aufzuheben.
12Die Beklagte hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt. Sie hat vorgetragen, dass in der Umgebung des Vorhabens in einem Umkreis von 700 m circa 8.000 Personen, im Umkreis von 1.000 m circa 14.000 Personen und im Umkreis von 2.000 m circa 31.000 Personen mit Hauptwohnsitz gemeldet seien. In einem dicht bebauten und besiedelten Stadtteilzentrum einer Großstadt sei es sachgerecht, auch einer Gaststätte wie dem Vorhaben eine der Versorgung des Gebiets dienende Funktion zuzubilligen.
13Der Beigeladene hat beantragt,
14die Berufung zurückzuweisen.
15Zur Begründung hat er sein erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft. Er habe in der Zeit von Anfang April bis Mai 2017 eine Befragung der Gäste durchgeführt. Nach deren Ergebnis wohnten 80 % der Gäste in der näheren Umgebung und zwar weit überwiegend in einem Umkreis von deutlich unter 1.000 m, der nahezu den gesamten Stadtteil H2. ausmache, soweit dieser von Wohnbebauung geprägt sei. Die von dem Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung zugrunde gelegte Einwohnerzahl in der Umgebung sei deutlich zu niedrig. Wie sehr das Vorhaben von den umliegend wohnenden Menschen geschätzt und benötigt werde, zeigten deren Reaktionen auf eine „online-Petition“. In dem im historischen Ortskern des Stadtteils gelegenen Gebäude, in dem das Vorhaben umgesetzt werden solle, habe sich früher ein Tanzsaal befunden. Das Vorhaben sei zudem als Treffpunkt für die in H2. ansässigen Vereine und die Brauchtumspflege erforderlich und diene auch aus diesem Grund in besonderem Maße der Versorgung des Gebiets. Die Gebietsverträglichkeit werde durch das eingeholte Lärmschutzgutachten belegt, nach dessen Prognose beim Betrieb der Gaststätten die Werte für ein Allgemeines Wohngebiet eingehalten würden.
16Mit Beschluss vom 1. August 2017, auf dessen Gründe Bezug genommen wird, hat der Senat das angefochtene Urteil geändert und die angefochtenen Baugenehmigungen aufgehoben.
17Das Bundesverwaltungsgericht hat auf die von ihm zugelassene Revision der Beklagten und des Beigeladenen mit Urteil vom 20. März 2019 – 4 C 5.18 – den Beschluss des Senats aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Baugenehmigung vom 8. Mai 2018 für den Umbau und die Verkleinerung der Gaststätte habe keine von Amts wegen zu prüfende Sachentscheidungsvoraussetzung entfallen lassen. Die jüngste Baugenehmigung lasse die vorherigen in ihrem Regelungsgehalt unberührt. Eine Schank- und Speisewirtschaft, die im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO der Versorgung des Gebiets diene, könne nicht wegen der von ihrem Betrieb ausgehenden Störungen gebietsunverträglich sein.
18Die Klägerin zu 3. trägt weiterhin vor, dass sich die angefochtenen Baugenehmigungen erledigt hätten.
19Sie beantragt,
20das angefochtene Urteil zu ändern und die dem Beigeladenen von der Beklagten am 30. Dezember 2011 und 28. Juni 2013 erteilten Baugenehmigungen zur Nutzungsänderung beziehungsweise zum Umbau und zur Restaurierung von zwei Restaurants auf den Grundstücken H. 14 und 15 in E. aufzuheben.
21Die Beklagte hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dass das von ihr für maßgeblich gehaltene zusammenhängende Gebiet, dessen Versorgung das Vorhaben diene, durch eine homogene Wohnnutzung geprägt sei und im Osten durch das Naturschutzgebiet Q. und die davor gelegenen Kleingartenanlagen, im Norden durch das T. Krankenhaus H2. und die M-Schulanlagen und im Süden, östlich der I.-straße, durch die Jugendarrestanstalt, den Sportplatz sowie eine Kleingartenanlage begrenzt werde. Die Eingrenzung des Gebiets erfolge zudem unter Berücksichtigung des fußläufigen Einzugsbereichs des Vorhabens. In dem so eingegrenzten, dichtbesiedelten Gebiet lebten 15.602 Anwohner, davon 13.276 volljährige Personen. Das Vorhaben könne sich daher grundsätzlich allein mit Gästen aus dem Gebiet tragen. Seine Ausrichtung und sein Angebot ließen auch nicht auf einen übergebietlichen Einzugsbereich schließen, wie es zum Beispiel bei einem Luxusrestaurant der Fall sein könnte. Im Übrigen wiederholt die Beklagte den Vortrag des Beigeladenen.
22Der hält es für maßgeblich, dass das Vorhaben auch tatsächlich von Gästen aus dem Gebiet aufgesucht werde. Trotz seiner Größe könne es ausschließlich von Gästen aus der näheren Umgebung leben. Eine Befragung von Gästen habe ergeben, dass die weit überwiegende Anzahl aus der näheren Umgebung stammten. Auch das Betriebskonzept ziele auf die Bewohner des Stadtteils H2., die örtlichen Sportvereine, die Vereine der Brauchtumspflege sowie die Kirchengemeinden. Wegen der Attraktivität der E1. Altstadt, die nahezu alle von außerhalb nach E. kommenden Gäste anziehe, wären ein Betriebskonzept, das auf auswärtige Gäste setze, und ein Vorhaben, das von diesen leben müsse, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Vorhabengrundstück liege im historischen Ortskern des Stadtteils H2. In dem Gebäude, mit dem es bebaut sei, habe sich früher ein Tanzsaal für die Bürger des Stadtteils befunden. In einem Umkreis von weniger als 100 m gebe es weitere gastronomische Betriebe und Einzelhandelsgeschäfte. Die Gebietsverträglichkeit des Vorhabens ergebe sich aus den im gaststättenrechtlichen Verfahren eingeholten Lärmschutzgutachten. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme könne bei einem Betrieb, der der Versorgung des Gebiets diene, nur unter sehr engen atypischen Voraussetzungen vorliegen. Dem Schutz der Klägerin werde danach durch die Nebenbestimmungen zu der Baugenehmigung vom 28. Juni 2013 ausreichend Rechnung getragen. Sogenannte seltene Ereignisse seien nicht Gegenstand der Baugenehmigung.
23Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
24II.
25Der Senat entscheidet gemäß § 130a Satz 1 VwGO, Art. 6 Abs. 1 EMRK durch Beschluss über die Berufung, da er diese einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind nach § 130a Satz 2 in Verbindung mit § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO gehört worden. Sie haben keine Einwände erhoben, die die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebieten. Der Senat teilt nicht die Einschätzung des Beigeladenen, dass die Sache außergewöhnliche Schwierigkeiten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht aufweise.
26Die zulässige Berufung ist begründet. Der Senat geht entsprechend den Ausführungen in dem Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts davon aus, dass sich die angefochtenen Baugenehmigungen nicht erledigt haben. Zwar könnten, wie die Klägerin zu 3. ausgeführt hat, Umbaumaßnahmen in Ausnutzung der Baugenehmigung vom 8. Mai 2018 grundsätzlich zum Erlöschen der Baugenehmigungen führen, doch haben die Beteiligten dazu nichts vorgetragen.
27Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Klägerin zu 3. zu Unrecht als unbegründet abgewiesen.
28Die dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigungen verletzen die Klägerin zu 3. in ihren subjektiven öffentlichen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
29Die Klägerin zu 3. hat einen bauplanungsrechtlichen Abwehranspruch gegen das Vorhaben unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Gebietsart. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan nachbarschützende Funktion zu Gunsten der Eigentümer von Grundstücken im jeweiligen Baugebiet hat.
30Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. August 1996 – 4 C 13.94 −, juris, Rn. 53; Beschluss vom 2. Februar 2000 – 4 B 87.99 –, juris, Rn. 9.
31Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen.
32Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Mai 1989 – 4 C 1.88 –, juris, Rn. 43.
33Durch die Festsetzungen eines Bebauungsplans zur Art der baulichen Nutzung werden die Planbetroffenen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbunden. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundstückseigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind. Im Rahmen dieses nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll daher jeder, dessen Grundstück in einem festgesetzten Baugebiet liegt, das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung in dieses Baugebiet und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können.
34Der Klägerin zu 3. steht danach ein Abwehranspruch gegenüber dem Vorhaben zu. Es dient nicht der Gebietsversorgung im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO.
35Das Tatbestandsmerkmal „die der Versorgung des Gebiets dienenden“ soll nicht nur die Zulassung gebietsunverträglicher störender Nutzungen verhindern, sondern trägt nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts zugleich zum Zweck eines Allgemeinen Wohngebiets bei. Ein solches Gebiet diene nach § 4 Abs. 1 BauNVO vorwiegend dem Wohnen. Die Nutzungen nach § 4 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 BauNVO seien der Wohnnutzung zugeordnet, damit im Wohngebiet selbst eine Versorgungsinfrastruktur entstehen könne, mit der sich die Grundbedürfnisse der dortigen Bevölkerung befriedigen ließen. Zu diesen Grundbedürfnissen gehöre die Möglichkeit, in fußläufiger Entfernung eine Schank- oder Speisewirtschaft aufzusuchen.
36Ob eine Gaststätte im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO der Versorgung des Gebiets dient, ist anhand objektiver Kriterien unter Berücksichtigung des Betriebskonzepts typisierend, aber für jeden Einzelfall unter Würdigung der konkreten Umstände zu ermitteln. Indizien hierfür können die gebietsangemessene Betriebsgröße, die sonstige Beschaffenheit und der Zuschnitt des Betriebs, die Erfordernisse einer wirtschaftlich tragfähigen Ausnutzung, die örtlichen Gegebenheiten, insbesondere die demografischen und sozialen Verhältnisse im Gebiet sowie die typischen Verhaltensweisen in der Bevölkerung sein.
37Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. September 2014 – 10 A 2909/12 –; Beschluss vom 16. März 2005 – 10 B 1350/04 –, juris, Rn. 8; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Dezember 2011 – 10 S 29.10 –, juris, Rn. 15.
38Eine Gaststätte dient danach nicht schon dann im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO der Gebietsversorgung, wenn sie in untergeordnetem Maß auf die Wohnbevölkerung des sie umgebenden Wohngebiets zielt, sondern muss diesem nach ihrem Betriebskonzept vielmehr funktional zugeordnet sein. Das ist beispielsweise nicht der Fall, wenn sie von gebietsfremder Laufkundschaft oder von den im Wohngebiet lediglich arbeitenden Personen aufgesucht, von den dort wohnenden Personen hingegen allenfalls gelegentlich besucht wird.
39Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Januar 1993 – 4 B 230.92 –, juris, Rn. 5, und vom 3. September 1998 – 4 B 85.98 –, juris, Rn. 10; Urteil vom 29. Oktober 1998 – 4 C 9.97 –, juris, Rn. 11.
40Im Vordergrund steht die Beurteilung, ob die Größe der Gaststätte erwarten lässt, dass ihre Kapazität in einem erheblichen Umfang mit der Bewirtung von Gästen aus dem Gebiet, in dem sie liegt, ausgelastet sein wird. Das Betriebskonzept hat insoweit nur eine indizielle Bedeutung, etwa im Hinblick auf sich abzeichnende künftige Entwicklungen für die wirtschaftliche Tragfähigkeit der Gaststätte oder für sich ändernde Verhaltensweisen in der Bevölkerung.
41Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1998 – 4 C 9.97 –juris, Rn 11.
42Lässt die Kapazität einer Gaststätte nicht erwarten, dass die Bewohner der Umgebung in einem ins Gewicht fallenden Umfang zu ihrer Auslastung beizutragen vermögen, fehlt es regelmäßig an dem in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO vorausgesetzten Merkmal der Gebietsversorgung. Geht die Dimensionierung der Gaststätte ersichtlich weit über das Gästepotential hinaus, das sich in dem maßgeblichen Gebiet mobilisieren lässt, kann man daraus schließen, dass nicht die Bewohner dieses Gebiets die Zielgruppe von Gästen darstellen, aus der ihr Umsatz generiert werden soll. Wie groß eine Gaststätte sein darf, um nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO zulassungsfähig zu sein, lässt sich nicht nach der Zahl der verfügbaren Steh- oder Sitzplätze entscheiden, sondern hängt maßgebend von den jeweiligen demographischen und sozialen Gegebenheiten in der Umgebung ab, zu denen eine angemessene Relation gewahrt bleiben muss. Dabei können auch regionale Unterschiede von Bedeutung sein.
43Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. März 2019 – 4 C 5.18 –, juris, Rn. 16; Beschluss vom 3. September 1998 – 4 B 85.98 –, juris, Rn. 8 f.
44Der Gebietsbezug in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO soll den gebietstypischen Schutz der Wohnruhe gewährleisten und dient insbesondere der Vermeidung einer durch den anlagenbedingten Verkehr erzeugten, sich nicht mit einem Allgemeinen Wohngebiet vertragenden Unruhe, insbesondere, wenn sie von außen in das Gebiet getragen wird. Die Grenze des Gebiets, dessen Versorgung die Gaststätte dienen muss, bestimmt sich nach den jeweiligen konkreten städtebaulichen Verhältnissen und ist unabhängig von etwa festgesetzten Baugebietsgrenzen.
45Bei der – nicht von vornherein auf das festgesetzte Baugebiet beschränkten – Abgrenzung sind jedenfalls Gebiete außer Betracht zu lassen, die durch eine andere Nutzungsart als Wohnen gekennzeichnet sind, und solche Gebiete, die von der Gaststätte so weit entfernt sind, dass der vom Verordnungsgeber vorausgesetzte Funktionszusammenhang nicht mehr gewahrt ist. Ein solcher Funktionszusammenhang fehlt, wenn die Gaststätte auf einen Personenkreis ausgerichtet ist, der nahezu zwangsläufig An- und Abfahrtverkehr mit den damit verbundenen gebietsinadäquaten Begleiterscheinungen verursacht.
46Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. März 2019 – 4 C 5.18 –, juris, Rn. 16.
47Nach diesen Grundsätzen dient das Vorhaben nicht der Gebietsversorgung. Entscheidend hierfür sind sowohl die Größe des Vorhabens als auch das Betriebskonzept des Beigeladenen, das ersichtlich nicht auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bewohner des umliegenden Gebiets zielt.
48Die Größe des Vorhabens lässt bei realistischer Betrachtung nicht erwarten, dass ihre Kapazität in einem erheblichen Umfang von Bewohnern aus dem umgebenden Gebiet, gedeckt wird. Bei der gebotenen typisierenden Betrachtung und nach allgemeiner Lebenserfahrung handelt es sich bei dem Vorhaben um eine Gaststätte, die aufgrund ihrer Attraktivität, Größe und auch Öffnungszeiten nicht in erster Linie auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen der Bewohner, die in fußläufiger Entfernung wohnen und dort gelegentlich eine Schank- und Speisewirtschaft aufsuchen wollen, angelegt ist. Hiervon geht auch der Beigeladene nicht aus. Er hat im Genehmigungsverfahren auf die exponierte Lage des Vorhabens unmittelbar gegenüber der C. N., eingefasst durch H3. und den von der Straße B. umschlossenen Platz verwiesen und ausgeführt, dass der Standort geradezu dazu einlade, dass dort Vereinsveranstaltungen und Familienfeiern wie Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen oder Firmenveranstaltungen als geschlossene Gesellschaften stattfänden. Insoweit ist in einem vorgelegten Realisierungskonzept auch von einer „Versammlungsstätte“ die Rede.
49Der Beigeladene hat hierzu im Verwaltungsverfahren nachvollziehbar geschildert, dass die Höhe der in Rede stehenden Investitionen nur bei einem angemessenen Nutzungskonzept vertretbar sei, bei dem den vorhandenen Risiken entsprechende Ertragsaussichten gegenüber stünden. In einem in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Artikel aus einem Stadtteilmagazin ist beispielsweise davon die Rede, dass der Beigeladene in E. die äußerst beliebte und regional sehr bekannte „Fuchsjagd“ betreibe und er dieses Konzept eines modernen Brauhauses nun auch in H2. etablieren wolle. In diesem Artikel ist von einer Gesamtinvestition von drei Millionen Euro – möglicherweise einschließlich des geplanten Umbaus des an dem Standort früher betriebenen Hotels in Mietwohnungen – die Rede. Es erscheint als lebensfremd, dass ein vernünftiger Gastwirt ein Vorhaben dieser Größenordnung mit geplant 60 Beschäftigten in Angriff nehmen würde, um in erster Linie die Grundbedürfnisse der umliegenden Wohnbevölkerung zu befriedigen. Dies gilt besonders mit Blick auf die Lage des Vorhabengrundstücks am Rande des im Rahmenplan Einzelhandel 2016 so bezeichneten großen Stadtteilzentrums H2. In dem Rahmenplan Einzelhandel 2016 heißt es zu diesem Zentrum, dass der historische Marktbereich im alten Ortskern, an dem das Vorhabengrundstück liegt, Ausgangspunkt für die Entwicklung des Zentrums am O. und L. Tor mit der Erweiterung entlang der C1.-straße gewesen sei. Hier gebe es ein großes ausgewogenes Angebot von Läden mit zentren- und nahversorgungsrelevanten Sortimenten. Wegen der starken Identifikation der H4. mit ihrem Stadtteil erfreue sich das Zentrum großer Beliebtheit. Durch den Umbau der C2.‑straße sei die Aufenthaltsqualität im Zentrum entlang dieser Straße erhöht worden. Wie die Beklagte im Berufungsverfahren dargelegt hat, existieren in fußläufiger Entfernung zum Vorhabengrundstück neben anderen gastronomischen Angeboten wie Cafés, Eisdielen und Imbissen bereits vier Gaststätten mit mehr als 100 Sitzplätzen, sieben Gaststätten mit 30 bis 100 Sitzplätzen und eine Gaststätte mit weniger als 30 Sitzplätzen. Diese Zahlen belegen die Attraktivität des Zentrums von H2. unter anderem hinsichtlich eines gastronomischen Angebots, das ersichtlich nicht allein oder auch nur schwerpunktmäßig auf die umliegende Wohnbevölkerung ausgerichtet ist.
50Nichts anderes kann sich aus den Gästebefragungen ergeben, die der Beigeladene durchgeführt hat. Das Baurecht knüpft an objektive Merkmale baulicher Anlagen an, die sich vor allem in Maß und Zahl ausdrücken lassen. Wenn, wie in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO, eine besondere Nutzungsart durch eine gebietsbezogene Versorgungsfunktion bestimmt wird, lässt sich diese für ein konkretes Bauvorhaben baurechtlich nicht aus einer Befragung von Gästen oder Kunden herleiten, sondern es kann nur – typisierend und aufgrund allgemeiner Erfahrung – aus der Größe und der sonstigen baulichen Beschaffenheit des Bauvorhabens sowie aus dem Umfang und der Struktur der es umgebenden Wohnbebauung auf den zu erwartenden Kreis von Gästen oder Kunden geschlossen werden.
51Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1998 – 4 C 9.97 –, juris, Rn. 14.
52Vor diesem Hintergrund bedarf es hier keiner abschließenden Klärung, wie weit hier das maßgebliche Gebiet im Sinne des § 4 Abs. 2 BauNVO genau reicht.
53Ist das Vorhaben danach keine Schank- und Speisewirtschaft, die der Gebietsversorgung dient, ist sie in dem festgesetzten Allgemeinen Wohngebiet planungsrechtlich unzulässig und verletzt den Gebietswahrungsanspruch der Klägerin zu 3.
54Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen würde das Vorhaben auch gegen § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verstoßen. Danach sind bauliche und sonstige Anlagen auch unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden.
55Anders als der Beigeladene und die Beklagte meinen, kann ein solcher Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme bei einer Gaststätte, die der Versorgung des Gebiets dient, nicht nur unter sehr engen, atypischen Voraussetzungen angenommen werden.
56Das Maß der nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO gebotenen Rücksichtnahme hängt vielmehr nach ständiger Rechtsprechung von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. Gegeneinander abzuwägen sind die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist. Feste Regeln lassen sich dabei nicht aufstellen. Erforderlich ist eine Gesamtschau der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen.
57Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Januar 2013 – 4 B 48.12 –, juris, Rn. 7.
58Ausgehend von diesen Grundsätzen stellt die Baugenehmigung nicht hinreichend sicher, dass die für den Schutz des Wohngebäudes der Klägerin zu 3. maßgeblichen Immissionsrichtwerte für ein Allgemeines Wohngebiet eingehalten werden.
59Die Baugenehmigung schreibt lediglich vor, dass die mit den genehmigten Nutzungen zusammenhängenden Geräuschimmissionen „in dem Bereich der am meisten betroffenen Wohnungen am H1., C3. und B.“, in dem auch das Grundstück der Klägerin zu 3. liegt, einen Beurteilungspegel von 55 dB(A) tagsüber und 40 dB(A) nachts nicht überschreiten dürfen, und legt für diese Grundstücke insoweit den Schutzanspruch für ein Allgemeines Wohngebiet nach der TA Lärm zugrunde.
60Ob durch die für ein Bauvorhaben erteilte Baugenehmigung ausreichender Schutz der Nachbarn vor vorhabenbedingten Immissionen gewährleistet ist, muss anhand des Umfangs der genehmigten Nutzungen ermittelt werden. Dabei ist nicht von einer rein fiktiven Belastung der benachbarten Grundstücke auszugehen, sondern eine realistische (Lärm-)Prognose zugrunde zu legen. Der Bauherr hat im Baugenehmigungsverfahren nachzuweisen, dass die künftige Nutzung des zur Genehmigung gestellten Bauvorhabens den einschlägigen Anforderungen der TA Lärm genügt. An die dazu erforderliche prognostische Einschätzung sind insoweit hohe Anforderungen zu stellen, als sie in jedem Fall „auf der sicheren Seite“ liegen muss. Andernfalls würden die regelmäßig nicht zu vermeidenden Unsicherheiten bei der nachträglichen Kontrolle, ob der bei der Baugenehmigung vorausgesetzte Schutz benachbarter Grundstücke vor schädlichen Umwelteinwirkungen tatsächlich gewahrt ist, zu Lasten der zu schützenden Grundstückseigentümer oder sonstigen Berechtigten gehen. Diese Sichtweise ist angesichts des hohen Wertes der Güter, die durch die Vermeidung schädlicher Umwelteinwirkungen geschützt werden sollen, auch mit Blick auf die in erster Linie wirtschaftlichen Interessen des Bauherrn gerechtfertigt.
61In der Rechtsprechung ist geklärt, dass es in der Regel nicht ausreicht, in einer Baugenehmigung lediglich vorzugeben, dass die genehmigte Nutzung bestimmte Immissionsrichtwerte auf den benachbarten Grundstücken nicht überschreiten darf. Eine solche Regelung würde den Nachbarn unangemessen benachteiligen, da er im Regelfall die Einhaltung der Immissionsrichtwerte auf seinem Grundstück nicht selbst überprüfen kann. Deshalb genügt die Festlegung von maximal zulässigen Immissionsrichtwerten zur Sicherung von Nachbarrechten grundsätzlich nur dann, wenn feststeht, dass die bei der künftigen Nutzung entstehenden Immissionen auf den Nachbargrundstücken die jeweils maßgebliche Zumutbarkeitsgrenze tatsächlich nicht überschreiten.
62Ist dies – wie hier – nicht der Fall, muss sich grundsätzlich aus der Baugenehmigung ergeben, welche konkreten Tätigkeiten und Nutzungen zugelassen sind, um zu gewährleisten, dass die Begrenzung der durch das Bauvorhaben bedingten Immissionen auf den Nachbargrundstücken nicht nur auf dem Papier steht.
63Vgl. hierzu OVG NRW, Beschlüsse vom 28. März 2018 – 10 B 163/18 –, juris, Rn. 15 ff., und vom 16. Mai 2013 – 8 A 2893/12 –, juris, Rn. 17 ff. (für das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren); Urteil vom 22. Februar 2017 – 7 A 2289/15 –, juris, Rn. 40; Beschluss vom 14. November 2014 – 2 A 767/14 –, juris, Rn. 16.
64Der von dem Beigeladenen im Genehmigungsverfahren vorgelegte „Nachweis des Schallschutzes“ des Büros für Schallschutz I1. I2. vom 25. Juni 2012 genügt weder den Anforderungen, die an eine gutachterliche Lärmprognose, die nach der auf der Hand liegenden kritischen Lärmsituation zur Beurteilung des Vorhabens im Sinne des § 1 Abs. 2 BauPrüfVO erforderlich war, zu stellen sind, noch war er als eine solche gedacht. Dieser Nachweis enthält lediglich allgemeine Umschreibungen des Auftrags sowie der baulichen Situation und legt nach der VDI Richtlinie 3726 zum Schallschutz bei Gaststätten und Kegelbahnen, Ausgabe 1991 ohne jegliche Erläuterung oder konkrete Bewertung des zu erwartenden Lärmgeschehens bestimmte Ausgangspegel zu Grunde. Weshalb der Gutachter zu der Einschätzung gelangt, dass die maßgeblichen Immissionsrichtwerte eingehalten werden, lässt sich so nicht nachvollziehen. Erst für die hier nicht zu beurteilende Baugenehmigung vom 8. Mai 2018 ist ein entsprechendes schalltechnisches Gutachten vom 26. Januar 2018 vorgelegt worden. Die von dem Beigeladenen angesprochenen Lärmschutzgutachten aus den Jahren 2016 und 2017 sind den angefochtenen Baugenehmigungen nicht zugrunde gelegt geworden.
65Bei realistischer Betrachtung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die einem Allgemeinen Wohngebiet entsprechende Wohnruhe für das Gebäude der Klägerin zu 3. gewährleistet ist. Es geht insoweit nicht, wie die Beklagte unterstellt, nur um ein Szenario, bei dem 300 Gäste auf einmal die Gaststätte verlassen. Bislang fehlt jegliche Bewertung dazu, mit welchem Lärm zu rechnen ist, wenn etwa kleinere Gruppen von Gästen, insbesondere in der Nachtzeit den in der Nähe des Wohnhauses der Klägerin gelegenen Ausgang zum Verlassen der Gaststätte nutzen.
66Hinzu kommt, dass auch das Verhalten von Gästen, die sich, um beispielsweise dort zu rauchen, vorübergehend vor der Gaststätte im Freien aufhalten, in die Bewertung des vorhabenbedingten Lärms einzubeziehen ist. Das schalltechnische Gutachten vom 26. Januar 2018 legt insoweit ausgehend von den Angaben des Umweltamtes der Beklagten vom 15. Dezember 2017 den Fall zugrunde, dass bei (nur) 250 genehmigten Sitzplätzen circa 63 Raucher zu berücksichtigen seien und sich die Hälfte davon zuzüglich Begleitpersonen zeitweise draußen aufhalten könnten. Regelungen, wie auch insoweit der notwendige Immissionsschutz gewährleistet werden soll, enthalten die angefochtenen Baugenehmigungen nicht. Von dem Szenario des Rauchens abgesehen ist es jedenfalls in der warmen Jahreszeit gerade bei länger dauernden geschlossenen Veranstaltungen keinesfalls ausgeschlossen, dass Gäste die Gasträume, deren Türen und Fenster nach dem Inhalt der Baugenehmigung vom 26. Januar 2018 geschlossen gehalten werden müssen, für eine gewisse Zeit verlassen, um sich im Freien aufzuhalten.
67Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 5. Juli 2017 – 7 A 2432/15 –, Rn. 107 ff., juris.
68Unabhängig davon wären die angefochtenen Baugenehmigungen auch deshalb wegen eines Verstoßes gegen § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO zu Lasten der Klägerin zu 3. rechtswidrig, weil es in Bezug auf die in Rede stehenden größeren Veranstaltungen, wie zum Beispiel Karnevalsveranstaltungen, Halloweenpartys, Silvesterfeiern, Tanz in den Mai, Hochzeiten, Familien- und Betriebs- sowie Geburtstagsfeiern, für die das Vorhaben nach der Darstellung der Beklagten und des Beigeladenen in H2. benötigt wird, an jeglichen eingrenzenden Regelungen fehlt, die den Schutz der Wohnruhe in dem Allgemeinen Wohngebiet gewährleisten. Die Annahme der Beklagten, derartige Veranstaltungen seien nicht Gegenstand der angefochtenen Baugenehmigungen und bedürften als seltene Ereignisse einer Genehmigung im Einzelfall, geht fehl.
69Nach Nr. 7.2 Absatz 1 TA Lärm kann eine Überschreitung der Richtwerte zugelassen werden, wenn wegen voraussehbarer Besonderheiten beim Betrieb einer Anlage zu erwarten ist, dass in seltenen Fällen oder über eine begrenzte Zeitdauer, aber an nicht mehr als zehn Tagen oder Nächten eines Kalenderjahres und nicht an mehr als an jeweils zwei aufeinander folgenden Wochenenden, die Immissionsrichtwerte nach den Nrn. 6.1 und 6.2 TA Lärm auch bei Einhaltung des Standes der Technik zur Lärmminderung nicht eingehalten werden können.
70Bei den aufgeführten Veranstaltungen handelt es sich schon nicht um seltene Ereignisse im Sinne der TA-Lärm. Danach sind seltene Ereignisse nur solche, die als Besonderheiten beim Betrieb der Anlage gelten können, die mit dem bestimmungsgemäßen – typischen – Anlagenbetrieb zusammenhängen, als solche vorhersehbar und von einer gewissen Dauer sind und die zu einem Lärm verursachenden Betrieb führen. Bloße Schwankungen innerhalb des Normalbetriebs der Anlage, die bei wertender Betrachtung nicht als außergewöhnlicher Betriebszustand angesehen werden können, stellen keine seltenen Ereignisse dar. Die Nrn. 6.3 und 7.2 TA Lärm sind keine voraussetzungslosen Ausnahmebestimmungen zur Zulassung gewöhnlicher Richtwertüberschreitungen beim Betrieb der Anlage, um diese möglichst umfassend auslasten zu können.
71Vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. Mai 2013 – 2 A 3010/11 –, juris, Rn. 56.
72Die in Rede stehenden Veranstaltungen gehören für das Vorhaben nach dem Betriebskonzept des Beigeladenen zum normalen Betrieb.
73Im Übrigen ist in der Rechtsprechung geklärt, dass das Rücksichtnahmegebot eine regelnde Eingrenzung der zulässigen seltenen Ereignisse in der Baugenehmigung erfordert.
74Lärmbeeinträchtigungen, die bei so genannten seltenen Ereignissen auftreten, stellen typische, mit der Nutzung in der konkreten baulichen Situation verbundene Immissionen dar. Dementsprechend muss bereits die Baugenehmigung sicherstellen, dass durch die mit ihr zugelassene Nutzung keine Lärmimmissionen hervorgerufen werden, die nach dem Gebot der Rücksichtnahme unzumutbar wären. Sie muss die mit Rücksicht auf schutzwürdige nachbarliche Belange gegebenenfalls erforderlichen Beschränkungen selbst klar und im sachlich gebotenen Umfang regeln. Unabhängig davon, dass bei bestimmten Veranstaltungen, die als seltene Ereignisse einzustufen sind, eine gaststättenrechtliche oder sicherheitsrechtliche Genehmigung einzuholen ist, hat die Baugenehmigungsbehörde unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall einzuschätzen, in welcher Weise bei der Festsetzung der zulässigen Art und Zahl der seltenen Ereignisse den Belangen der Anwohner unter Berücksichtigung der gebotenen gegenseitigen Rücksichtnahme Rechnung getragen werden muss.
75Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2011 – 4 B 3.11 –, juris, Rn. 6.
76Nur so werden die nachbarrechtsrelevanten Charakteristika des Bauvorhabens hinreichend klar offen gelegt, so dass alle Beteiligten wissen, was für ein Betrieb zulässig und bis zu welcher Grenze von dessen Rechtmäßigkeit im Hinblick auf die Rechte Dritter auszugehen ist.
77Vgl. OVG NRW, Urteile vom 16. August 2019 – 7 A 1276/18 –, juris, Rn. 34 f., und vom 15. Mai 2013 – 2 A 3010/11 –, juris, Rn. 53.
78Da die angefochtenen Baugenehmigungen hierzu – anders als die Baugenehmigung vom 8. Mai 2018 – keine Aussagen treffen, leiden sie, auch soweit sie als seltene Ereignisse zu beurteilen wären, an einem Rechtsfehler zu Lasten der Klägerin zu 3.
79Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.
80Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 ff. ZPO.
81Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
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Tenor
1. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b), Abs. 2 AEUV folgende Frage zur Auslegung der Handlungen der Organe der Union vorgelegt:
Ist der in dem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache AT.39824 – Lastkraftwagen) ergangene Beschluss der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 19. Juli 2016 - C(2016) 4673 final - dahingehend auszulegen, dass auch Sonder- / Spezialfahrzeuge, insbesondere Müllfahrzeuge, von den Feststellungen dieser Kommissionsentscheidung erfasst sind.
2. Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Vorlagefrage zu 1. ausgesetzt.
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Gründe
1
1. Die Vorlage zum Europäischen Gerichtshof erfolgt gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b), Abs. 2 AEUV.
2
a. Dem vorgelegten Verfahren liegt folgender Sachverhalt zu Grunde (Art. 94 lit. a) EuGHVerfO):
3
Der Kläger ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und erwarb nach jeweils vorausgegangenen öffentlichen Ausschreibungen von der Beklagten, einem weltweit tätigen Automobilkonzern, der unter anderem Lastkraftwagen entwickelt, produziert und vermarktet, mit Auftrag vom 19. Juni 2006 ein komplettes Müllfahrzeug zum Preis von 146.740,00 € und mit Auftrag vom 10. Dezember 2007 ein komplettes Müllfahrzeug zum Preis von 146.586,58 €.
4
Mit dem Beschluss vom 19. Juli 2016, der unter anderem an die Beklagte gerichtet ist (vgl. dazu in der Zusammenfassung des Beschlusses der Kommission, Amtsblatt der Europäischen Union 2017/C 108/05 – DE – vom 06. April 2017 unter 1. Einleitung (2)), stellte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ein kartellrechtswidriges Verhalten verschiedener Unternehmen, unter anderem auch der Beklagten fest (vgl. dazu in der Zusammenfassung des Beschlusses der Kommission, Amtsblatt der Europäischen Union C 108/6 – DE – vom 06. April 2017 unter 2.2. Adressaten und Dauer (7)). Dort heißt es:
5
„2.3. Zusammenfassung der Zuwiderhandlung:“
6
„Von der Zuwiderhandlung betroffen sind Lastkraftwagen zwischen 6 und 16 Tonnen („mittelschwere Lastkraftwagen“) sowie Lastkraftwagen über 16 Tonnen („schwere Lastkraftwagen“), wobei es sich sowohl um Solofahrzeuge als auch um Sattelzugmaschinen handelt (im Folgenden werden mittelschwere und schwere Lastkraftwagen gemeinsam als „Lastkraftwagen“ bezeichnet) (1 Ausgenommen Lastkraftwagen für militärische Zwecke). Nicht betroffen sind der Kundendienst, andere Dienstleistungen und Garantien für Lastkraftwagen, der Verkauf von gebrauchten Lastkraftwagen und jegliche anderen Waren oder Dienstleistungen.“
7
Im englischen Text des Beschlusses (veröffentlicht am 30. Juni 2020 unter https://ec.europa.eu/competition/elojade/isef/case_details.cfm?proc_code=1 _ 39824) heißt es insofern:
8
„1. THE INDUSTRY SUBJECT TO THE PROCEEDINGS,
9
1.1. The product:“
10
„The products concerned by the infringement are trucks weighing between 6 and 16 tonnes ("medium trucks") and trucks weighing more than 16 tonnes ("heavy trucks") both as rigid trucks as well as tractor trucks (hereinafter, medium and heavy trucks are referred to collectively as "Trucks") (5 Excluding trucks for military use). The case does not concern aftersales, other services and warranties for trucks, the sale of used trucks or any other goods or services sold by the addressees of this Decision.“
11
Der Kläger behauptet, dass ihm durch das von der Kommission festgestellte Lastkraftwagen-Kartell beim Erwerb seiner beiden Müllfahrzeuge aufgrund kartellbedingt überhöhter Preise wirtschaftliche Schäden entstanden seien, deren Ersatz er von der Beklagten mit der Klage in diesem Verfahren begehrt.
12
Er ist der Ansicht, dass die von ihm angeschafften Müllfahrzeuge unter den Lastkraftwagen-Begriff der Kommissionsentscheidung fallen und beruft sich dabei auf den Wortlaut des Beschlusses, demzufolge Sonderfahrzeuge nicht ausdrücklich ausgenommen worden seien.
13
Die Beklagte ist hingegen der Ansicht, dass die streitgegenständlichen Müllfahrzeuge als Sonderfahrzeuge nicht von der Kommissionsentscheidung erfasst seien. Hierzu beruft sie sich darauf, dass die Kommission im Vorfeld des Beschlusses vom 19. Juli 2016 in einem an die Beklagte gerichteten - als Anlage GL 10 vorgelegten - Auskunftsersuchen vom 30. Juni 2015, dort Seite 8 lit. ii, den Umfang der Untersuchungen präzisiert und dabei mitgeteilt habe, dass der Begriff des Lastkraftwagens gebrauchte Lastkraftwagen, Sonder-/Spezialfahrzeuge (z.B. Militärfahrzeuge, Feuerwehrfahrzeuge), weiterverkaufte Aufbauten (sogenannte „add ons“), After-Sales-Leistungen sowie sonstige Dienstleistungen und Garantieleistungen nicht erfasse.
14
b. Der Wortlaut der auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschrift (aa.) und die einschlägige nationale Rechtsprechung (bb.) werden wie folgt mitgeteilt (Art. 94 lit. b) EuGHVerfO):
15
aa. Die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebende Bestimmung des deutschen Rechts in der hier anwendbaren Fassung lautet:
16
„§ 33 GWB - Unterlassungsanspruch, Schadensersatzpflicht…
17
(4) 1Wird wegen eines Verstoßes gegen eine Vorschrift dieses Gesetzes oder Artikel 81 oder 82 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Schadensersatz begehrt, ist das Gericht insoweit an die Feststellung des Verstoßes gebunden, wie sie in einer bestandskräftigen Entscheidung der Kartellbehörde, der Kommission der Europäischen Gemeinschaft oder der Wettbewerbsbehörde oder des als solche handelnden Gerichts in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft getroffen wurde. 2Das Gleiche gilt für entsprechende Feststellungen in rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen, die infolge der Anfechtung von Entscheidungen nach Satz 1 ergangen sind. 3Entsprechend Artikel 16 Abs. 1 Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 gilt diese Verpflichtung unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Artikel 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft.“
18
(§ 33 Abs. 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung vom 15. Juli 2005, gültig vom 13. Juli 2005 bis 29. Juni 2013, Fundstelle: BGBl I 2005, S. 2114, 2122)
19
Dabei geht das vorlegende Gericht davon aus, dass gemäß den allgemeinen Regeln des intertemporären Rechts Schuldverhältnisse grundsätzlich nach demjenigen Recht zu beurteilen sind, welches zur Zeit der Entstehung des Schuldverhältnisses galt. Für den - hier streitgegenständlichen - gesetzlichen Schadensersatzanspruch, der aufgrund eines Kartellverstoßes entsteht, gilt insofern nichts Abweichendes. Angesichts der vom Kläger behaupteten Kartellverstöße der Beklagten im Zusammenhang mit den streitgegenständlichen Fahrzeugen, denen die Aufträge des Klägers vom 19. Juni 2006 und 16. Oktober 2007 zugrunde liegen, ist daher die zu diesen Zeitpunkten geltende Fassung des § 33 Abs. 4 GWB anzuwenden.
20
Zudem ist darauf hinzuweisen, dass diese nationale Vorschrift eine deklaratorische Wiedergabe des ohnehin unionsrechtlich geltenden Art. 16 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 darstellt, zumindest soweit diese unionsrechtliche Regelung reicht (vgl. zur heute aktuellen Nachfolgeregelung des § 33b GWB: Franck in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2020, § 33b GWB Rn. 4).
21
bb. In der hier bekannten einschlägigen nationalen Rechtsprechung wird die Vorlage-Frage bislang nur selten thematisiert.
22
Das vorlegende Gericht ist - in anderer Besetzung - in einem früheren Urteil vom 17. Juni 2019 – 13 O 9/19 –, juris Rn. 49, ohne nähere Begründung davon ausgegangen, dass Sonderfahrzeuge nicht Gegenstand der Feststellungen im Beschluss der Kommission vom 19.07.2016 seien.
23
Das Oberlandesgericht Stuttgart geht in seinem Urteil vom 04. April 2019 – 2 U 101/18 –, juris Rn. 139, 141, davon aus, dass der Beschluss der Kommission zwar Lastkraftwagen für den militärischen Gebrauch, den Aftersales-Bereich, andere Dienstleistungen und Garantien für Lastkraftwagen, den Verkauf von gebrauchten Lastkraftwagen und sämtlichen anderen, von den Adressatinnen dieses Beschlusses verkauften Waren oder Dienstleistungen nicht erfasse, indes eine weitere Einschränkung für andere Sonderfahrzeuge nicht enthalte. Denn entscheidend für die Frage, welche Lastkraftwagen Gegenstand der Entscheidung der Kommission waren, sei der Kommissionsbeschluss selbst, nicht aber ein Auskunftsersuchen im Vorfeld dieser Entscheidung.
24
Das Landgericht Stuttgart geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass, soweit die Kommission im Laufe ihres Ermittlungsverfahrens in einem Schreiben geäußert hat, „Sonder-Spezialfahrzeuge (z.B. Militärfahrzeuge, Feuerwehrfahrzeuge)“ seien vom Begriff „Lkw“ nicht betroffen, dies keinen Eingang in die Kommissionsentscheidung vom 19. Juli 2016 gefunden habe. Dort seien nur der Aftersales-Bereich, andere Dienstleistungen und Garantien für Lkw, der Verkauf von gebrauchten Lkw und sämtliche anderen, von den Adressatinnen der Entscheidung verkauften Waren oder Dienstleistungen sowie in einer Fußnote „Lkw für den militärischen Gebrauch" ausgenommen. Feuerwehrfahrzeuge oder sonstige nicht militärische Sonderfahrzeuge seien hingegen nicht ausgenommen worden (vgl. LG Stuttgart, Urteil vom 23. Dezember 2019 – 30 O 132/18 –, juris Rn. 35 m.w.N).
25
c. Aus den nachstehenden Gründen hat das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung des Beschlusses der Kommission vom 19. Juli 2016 im Sinne der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage (aa.) und es ergibt sich insofern ein entscheidungsrelevanter Zusammenhang zwischen dem Beschluss der Kommission und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht (bb.) (Art. 94 lit. c) EuGHVerfO):
26
aa. Zweifel an der Auslegung des Beschlusses der Kommission ergeben sich zunächst aus dem Umstand, dass die wörtliche Formulierung des Beschlusses der Kommission vom 19. Juli 2016
27
„Von der Zuwiderhandlung betroffen sind Lastkraftwagen zwischen 6 und 16 Tonnen („mittelschwere Lastkraftwagen“) sowie Lastkraftwagen über 16 Tonnen („schwere Lastkraftwagen“), wobei es sich sowohl um Solofahrzeuge als auch um Sattelzugmaschinen handelt (im Folgenden werden mittelschwere und schwere Lastkraftwagen gemeinsam als „Lastkraftwagen“ bezeichnet) (1 Ausgenommen Lastkraftwagen für militärische Zwecke). Nicht betroffen sind der Kundendienst, andere Dienstleistungen und Garantien für Lastkraftwagen, der Verkauf von gebrauchten Lastkraftwagen und jegliche anderen Waren oder Dienstleistungen.“
28
(vgl. deutsche Zusammenfassung des Beschlusses im Amtsblatt der Europäischen Union 2017/C 108/5, 108/7 – DE – vom 06.04.2017)
29
allgemein nur von Lastkraftwagen spricht und dabei ausschließlich Lastkraftwagen für militärische Zwecke ausdrücklich ausnimmt, so dass in der Folge verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bezüglich anderer Spezialfahrzeuge denkbar sind. Einerseits könnte diese Formulierung so verstanden werden, dass grundsätzlich nur „normale“ Lastkraftwagen - ohne solche für militärische Zwecke - erfasst sein sollen und damit Sonderfahrzeuge mangels ausdrücklicher Erwähnung dem Begriff „andere Waren“ unterfallen und von dem Begriff der „Lastkraftwagen“ ausgenommen sein sollen. Andererseits könnte diese Formulierung auch so verstanden werden, dass mit dem Begriff der „Lastkraftwagen“ jedwede Art von Lastkraftwagen, also auch alle Arten von Sonderfahrzeuge - außer Militärfahrzeuge - gemeint sein sollen.
30
Weiterhin ergeben sich Zweifel an der Auslegung des Beschlusses der Kommission aus dem von der Beklagten angeführten Umstand, dass die Kommission im Vorfeld des Beschlusses vom 19. Juli 2016 in einem an die Beklagte gerichteten Auskunftsersuchen vom 30. Juni 2015 den Umfang der Untersuchungen präzisiert und dabei mitgeteilt hat, dass der Begriff des Lastkraftwagens „Sonder-/Spezialfahrzeuge (z.B. Militärfahrzeuge, Feuerwehrfahrzeuge)“ nicht erfasse.
31
Sollte ein Beschluss der Kommission denselben Auslegungsmethoden zugänglich sein wie ein Gesetz, könnte ein Auslegungsergebnis unter Heranziehung der Entstehungsgeschichte des Beschlusses erzielt werden; dann wären unter Umständen Äußerungen der Kommission im Vorfeld der Beschlussfassung im Rahmen der Auslegung des Wortlautes des Beschlusses zur Bestimmung der Reichweite seiner Wirkung heranzuziehen.
32
Unklar ist insofern, ob im Rahmen des Auskunftsersuchens vom 30. Juni 2015 seitens der Kommission möglicherweise schon im Vorfeld der späteren Beschlussfassung klargestellt worden ist, dass Sonder-/Spezialfahrzeuge generell nicht dem Begriff der Lastkraftwagen unterfallen sollen, und der in diesem Auskunftsersuchen enthaltene Klammerzusatz mit dem Hinweis „z.B. Militärfahrzeuge, Feuerwehrfahrzeuge“ nur eine beispielhafte, nicht jedoch abschließende Aufzählung enthält.
33
Mangels einer entsprechenden expliziten Formulierung in dem Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2016 ist weiterhin unklar, ob nicht nach dem Auskunftsersuchen vom 30. Juni 2015 im Rahmen der endgültigen Willensbildung zur Fassung des Beschlusses möglicherweise eine vor der Beschlussfassung zunächst noch erwogenen Außerachtlassung von Sonderfahrzeugen wieder fallen gelassen worden ist und bei endgültiger Beschlussfassung eine Einbeziehung von Sonderfahrzeugen (außer Militärfahrzeugen) gewollt und gemeint war.
34
Nimmt man des Weiteren in den Blick, dass der Beschluss der Kommission im sogenannten Settlement-Verfahren zustande gekommen ist, steht zudem im Raum, dass hier die letztlich von der Kommission gewählten sprachliche Formulierungen „weicher“ ausgefallen sein könnten, um überhaupt eine Settlement-Entscheidung zu erreichen. Unklar ist auch vor diesem Hintergrund, welche Folge eine solche möglicherweise „weichere“ Formulierung für die Reichweite der rechtlichen Wirkungen des Beschlusses vom 19. Juli 2016 in Bezug auf Sonderfahrzeuge haben sollte.
35
bb. Der entscheidungsrelevante Zusammenhang zwischen dem Beschluss der Kommission und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht ergibt sich daraus, dass nach dem deutschen Recht gemäß der vorstehend bereits zitierten Vorschrift § 33 Abs. 4 GWB a.F. eine Bindungswirkung der deutschen Gerichte an die von der Kommission getroffenen Feststellungen des Kartellrechtsverstoßes besteht.
36
Das exakte - im Wege der Auslegung zu präzisierende - Verständnis des Wortlauts des Beschlusses der Kommission vom 19. Juli 2016 hat damit Bedeutung für die Reichweite der nach nationalem Recht vorgesehenen Bindungswirkung. Insofern muss das vorlegende nationale Gericht in dem hier anhängigen Verfahren des Kartellschadensrecht klar bestimmen können, in welchem Umfang der Beschluss der Kommission vom 19. Juli 2020 Bindungswirkung hat. Dies ist derzeit nicht möglich.
37
In dem konkret vorgelegten Verfahren hängt daher der Erfolg oder Misserfolg der Klage von der Beantwortung der aufgeworfenen Frage zur Auslegung des Beschlusses der Kommission vom 19. Juli 2016 ab. Ergäbe die Auslegung, dass Sonderfahrzeuge, wie hier die streitgegenständlichen Müllfahrzeuge, nicht von der Wirkung des Beschlusses der Kommission erfasst sein sollen, könnte der Kläger sich nicht auf eine entsprechende unmittelbare Bindungswirkung des Kommissionsbeschlusses berufen und hinsichtlich der dann lediglich noch denkbaren mittelbaren Auswirkungen des Kartells ergäben sich andere, weitergehende prozessuale Anforderungen an die Darlegungslast der Parteien.
38
Dabei hält das vorlegenden Gericht es für prozessökonomisch, die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage bereits jetzt zu klären, weil insbesondere eine im weiteren Klageverfahren ggf. erforderliche werdende wirtschaftliche Bewertung möglicher Kartellschäden, nur mit einem erheblichen prozessualen und kostenmäßigen Aufwand - ggf. unter Einholung ökonomischen Sachverstands - möglich sein wird.
39
Die Beantwortung der Frage hat auch erhebliche Bedeutung über das vorgelegten Verfahren hinaus. Insofern weist das vorlegenden Gericht bereits heute darauf hin, dass bei ihr noch weitere Verfahren mit ähnlich gelagerten Sachverhalten, indes mit zum Teil wesentlich mehr Erwerbsvorgängen (teilweise mehrere hundert Lastkraftwagen), anhängig sind, in denen es ebenfalls - auch - um die Streitfrage geht, ob Müllfahrzeuge oder weitere Arten von Sonder- / Spezialfahrzeugen wie etwa Feuerwehrfahrzeuge, Econic-Fahrzeuge (= Niederflurfahrzeuge), Beton-Fahrmischer, Kehrmaschinen, Winterdienstfahrzeuge, Tank- bzw. Gefahrgutfahrzeuge, Low-Liner, Fahrzeuge ohne Frontunterfahrschutz oder weitere individuelle Spezialanfertigungen von der Bindungswirkung des Beschlusses der Kommission vom 19. Juli 2016 umfasst sind. Aus diesem Grund besteht auch ein grundsätzliches Interesse an der Klärung der vorgelegten Frage.
40
Das vorlegende Gericht merkt schließlich noch an, dass es sich, unabhängig von seinem Recht, zunächst in einem Verfahren nach Art. 15 Abs. 1 VO 1/2003 die Kommission direkt um eine Stellungnahme zu der vorgelegten Auslegungsfrage zu ersuchen (vgl. Ritter in Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Rn. 18), dafür entschieden hat, sogleich den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV im Wege der Vorabentscheidung um die Beantwortung der vorgelegten Frage zu ersuchen, weil nach hiesiger Einschätzung in einem Verfahren nach Art. 15 VO 1/2003 eine von beiden Parteien des zugrundeliegenden Verfahrens abschließend akzeptierte Antwort nicht wird erreicht werden können, während im Verfahren nach Art. 267 AEUV eine verbindliche gerichtliche Klärung erfolgen kann (vgl. Karpenstein in Das Recht der Europäischen Union, 70. EL Mai 2020 Rn. 102 m.w.N.).
41
2. Die Aussetzung des Verfahrens beruht auf § 148 Abs. 1 ZPO und erfolgt im Hinblick auf die mit Ziffer 2. dieses Beschlusses erfolgte Vorlage zum Europäischen Gerichtshof.
42
3. Die Unanfechtbarkeit dieses Beschlusses ergibt sich aus den allgemeinen Prozessgrundsätze, nach denen die Instanzgerichte ihre eigentliche Prozessentscheidung unabhängig und ohne Steuerung von außen - grundsätzlich auch ohne eine solche durch die übergeordnete Instanz - finden und fällen dürfen (vgl. etwa OLG Celle, Beschluss vom 10. Oktober 2008 – 9 W 78/08 –, juris Rn. 1 m.w.N.).
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Tenor
1. Der Antragstellerin wird für das Verfahren erster Instanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt, § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 Abs. 1, 115 ZPO.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 3509/19 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 8. November 2019 wird hinsichtlich der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts wiederhergestellt und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,- € festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Der sinngemäß gestellte Antrag der anwaltlich nicht vertretenen Antragstellerin,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 3509/19 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 8. November 2019 hinsichtlich der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts wiederherzustellen und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen,
4hat Erfolg.
51. Soweit die Antragstellerin die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in der Ordnungsverfügung vom 8. November 2019 getroffene Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts begehrt, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässig, weil die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung dieser Regelung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO gesondert angeordnet hat.
6Der Aussetzungsantrag ist auch begründet.
7Zwar ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts ordnungsgemäß schriftlich begründet worden (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Die Antragsgegnerin hat einzelfallbezogen und nicht nur formelhaft dargelegt, dass ein Abwarten des rechtskräftigen Abschlusses des Hauptsacheverfahrens wegen der nicht gerechtfertigten Belastung des öffentlichen Haushalts infolge des Bezugs öffentlicher Leistungen durch die Antragstellerin seit Beginn ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nicht hingenommen werden könne. Ob diese Begründung auch in der Sache trägt, ist im Rahmen des Begründungserfordernisses, das lediglich eine formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Sofortvollzugsanordnung darstellt, unerheblich.
8Vgl. hierzu: Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 80, Rn. 54.
9Die im Rahmen des Aussetzungsverfahrens vorzunehmende Interessenabwägung fällt jedoch zulasten der Antragsgegnerin aus. Entfällt die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes oder - wie hier - aufgrund behördlicher Anordnung, kann das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Dabei nimmt es eine eigene Interessenabwägung vor, bei der das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs abzuwägen ist. Maßgebliches Kriterium sind hierbei zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig, überwiegt regelmäßig das private Aussetzungsinteresse. Stellt sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig dar, überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse. Lässt sich bei der Prüfung im Eilverfahren eine Offensichtlichkeitsbeurteilung nicht treffen, kommt es entscheidend auf eine Abwägung zwischen den für eine sofortige Vollziehung sprechenden Interessen und dem Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren an. Die Erfolgsaussichten sind dabei auch unabhängig von einer fehlenden Offensichtlichkeit einzubeziehen.
10Davon ausgehend bestehen vorliegend gewichtige Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, die es rechtfertigen, dem Interesse der Antragstellerin, von einem vollendete Tatsachen schaffenden Vollzug vorläufig verschont zu bleiben, Vorrang einzuräumen und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen. Insbesondere besteht in tatsächlicher Hinsicht in mehreren Punkten noch Aufklärungsbedarf, der grundsätzlich dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.
11Die Antragstellerin kann die Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts voraussichtlich nicht auf die hier allein in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU stützen. Nach dieser Vorschrift kann der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht mehr vorliegen.
12Es spricht Einiges dafür, dass schon die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung im Fall der Antragstellerin nicht vorliegen.
13a) Zwar steht der Antragstellerin im maßgeblichen Beurteilungszeitunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) der Richtlinie 2004/38/EG nicht (mehr) zu.
14Nach dieser Vorschrift sind freizügigkeitsberechtigt, d.h. zur Einreise und zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU), u.a. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer im Bundesgebiet aufhalten wollen.
15Die Antragstellerin ist keine Arbeitnehmerin mehr, da sie bereits seit Anfang Juni 2015 krankheitsbedingt keiner unselbständigen Beschäftigung mehr im Bundesgebiet nachgeht.
16Die Eigenschaft als Arbeitnehmerin und damit auch das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU ist ihr auch nicht nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EG erhalten geblieben.
17Danach bleibt das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU für Arbeitnehmer und selbständige Erwerbstätige bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall unberührt.
18Die Regelung enthält in Übereinstimmung mit Art 7. Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EG - und anders als § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 FreizügG/EU - keine besondere Voraussetzung bezüglich der Dauer der von dem Unionsbürger ausgeübten Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer, die erforderlich wäre, um die Arbeitnehmereigenschaft zu behalten. Es genügt, dass der Unionsbürger - wie hier die Antragstellerin laut Rentenversicherungsverlauf - eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausgeübt hat, wobei lediglich Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.
19Vgl. hierzu: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 113.
20Der in § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU verwendete Begriff der „vorübergehenden Erwerbsminderung“ weicht allerdings von Art. 7 Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EG ab. Letzterer spricht - in Übereinstimmung mit anderen Sprachfassungen der Bestimmung - von „vorübergehender Arbeitsunfähigkeit“ („temporarily unable to work“, „incapacité de travail temporaire“). Daher dürfte der Begriff der Erwerbsfähigkeit so auszulegen sein, dass auf eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit abzustellen ist und nicht auf eine vorübergehende Erwerbsminderung im Sinne des deutschen Rentenrechts (§ 43 Abs. 1 SGB VI). Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit ist arbeitsplatzbezogen zu verstehen und nicht wie der der Erwerbsminderung arbeitsmarktbezogen.
21Vgl. Bay LSG, Beschluss vom 20. Juni 2016 - L 16 AS 284/16 B ER -, juris, Rn. 23; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 114 f. m.w.N.
22Nach der Rechtsprechung des EuGH kann ein Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger vorübergehend aufgegeben hat, die Erwerbstätigeneigenschaft nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG und das damit verbundene Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG nur dann behalten, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hierfür zur Verfügung steht. Zum einen betrifft Art. 7 Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EU nämlich Unionsbürger, die infolge einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig wurden, was bedeutet, dass sie wieder eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausüben können, sobald die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit beendet ist. Zum anderen müssen sich nicht erwerbstätige Unionsbürger nach Art. 7 Abs. 3 b) und c) der Richtlinie 2004/38/EG dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellen, während sie nach Art. 7 Abs. 3 d) der Richtlinie 2004/38/EU zu festgelegten Bedingungen eine Berufsausbildung beginnen müssen. Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG betrifft somit Situationen, in denen innerhalb eines angemessenen Zeitraums mit der Wiedereingliederung des Unionsbürgers in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats gerechnet werden kann.
23Vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2018, C-618/16, Prefeta, Rn. 37 f.
24Eine Erwerbsminderung bzw. Arbeitsunfähigkeit i.S.v. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU ist daher nur dann als vorübergehend anzusehen, wenn aufgrund einer ärztlichen Prognose mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in angemessener Zeit gerechnet werden kann (vgl. auch Nr. 2.3.1.1 AVV zum FreizügG/EU vom 3. Februar 2016). Dementsprechend führt eine dauerhafte Erwerbsunfähigkeit wie auch der Eintritt in das Rentenalter, wenn keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt werden soll, zum Wegfall der Rechtsposition aus § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU.
25Vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 111.
26Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin mit Eintritt ihrer Arbeitslosigkeit Anfang Juni 2015 entfallen. Ihre krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit war - und ist - nicht nur vorübergehender Natur. Eine tragfähige ärztliche Prognose, wonach mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Antragstellerin in angemessener Zeit zu rechnen - gewesen - wäre, lag - und liegt - nicht vor. Aus den vorgelegten Attesten der Fachärztin für Allgemeinmedizin K. vom 6. Juli 2017 und vom 1. September 2017 geht hervor, dass die Antragstellerin aufgrund ihrer im Juni 2015 diagnostizierten Krebserkrankung (Gebärmutterhalskrebs) seitdem arbeitsunfähig sei und in den nächsten Monaten auch nicht auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sei. Selbst leichte Tätigkeiten könnten von ihr nicht verrichtet werden. Soweit Frau K. in dem Attest vom 1. September 2017 die Einschätzung geäußert hat, dass die Antragstellerin nach einer weiteren Stabilisierung ggf. in 8 bis 12 Monaten wieder leichte Tätigkeiten von 3 bis 4 Stunden verrichten könne, hat sich diese Prognose - unabhängig von der Frage ob, aus dem so umschriebenen Leistungsumfang überhaupt eine Arbeitsfähigkeit im vorstehenden Sinne folgt - im Nachhinein nicht bestätigt. Der Amtsarzt Dr. A. kommt nämlich in dem vom Jobcenter eingeholten Gutachten des Gesundheitsamtes vom 10. Januar 2019 zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin voraussichtlich bis zu 6 Monate weniger als 3 Stunden täglich leistungsfähig sei. Sie sei aktuell - nach wie vor - nicht in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es sei eine erneute Operation im Februar 2019 in Maastricht vorgesehen. Das Ergebnis sei abzuwarten. Eine Nachuntersuchung sei nach Ablauf von 6 Monaten erforderlich. Die Arbeitsfähigkeit der Antragstellerin konnte bis heute nicht wiederhergestellt werden. Nach der Operation im Februar 2019 (Anlage einer Harnröhrenschließmuskelprothese zur Behebung der Vollinkontinenz) folgten weitere operative Eingriffe, u.a. am 12. September 2019 (Entfernung der Harnblase und Anlage eines Urostoma). Ausweislich des zuletzt vorgelegten Attests von Frau K. vom 23. November 2019 ist die Antragstellerin seit ihrer im Jahr 2015 diagnostizierten Krebserkrankung ‑ immer noch - bis auf weiteres arbeitsunfähig. Eine Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit habe aufgrund von Komplikationen bisher nicht erreicht werden können. Bei einer demnach seit inzwischen über 5 Jahren andauernden Arbeitsunfähigkeit kann jedoch keinesfalls mehr von einer nur vorübergehenden Erwerbsminderung i.S.v. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU gesprochen werden. Die Antragstellerin ist zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt aktuell nicht fähig und steht diesem auch nicht zur Verfügung.
27b) Die Antragstellerin hat auch ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG nicht erworben.
28Nach dieser Vorschrift haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt.
29Dies ist bei der Antragstellerin im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht der Fall, weil sie - wie dargelegt - seit Juni 2015 nicht mehr freizügigkeitsberechtigt ist und sich damit nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
30Die Antragstellerin hat ein Daueraufenthaltsrecht nach dieser Vorschrift auch nicht etwa schon zu diesem Zeitpunkt (Juni 2015) erworben mit der Folge, dass der spätere Wegfall der Arbeitnehmereigenschaft unerheblich wäre. Denn die Antragstellerin hielt sich nach ihrer (erneuten) Einreise zur Arbeitssuche am 25. August 2011 und ihrer ausweislich des Rentenversicherungsverlaufs seit dem 24. April 2012 - mit Unterbrechungen - bis zum 6. Juni 2015 ausgeübten unselbständigen Beschäftigungen noch keine fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet auf.
31c) Es spricht jedoch Vieles dafür, dass die Antragstellerin ein Daueraufenthaltsrecht nach der Ausnahmevorschrift des § 4a Abs. 2 Nr. 2 b) FreizügG/EU i.V.m. Art. 17 Abs. 1 b) Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EU erworben haben könnte.
32Danach haben Unionsbürger nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FreizügG/EU abweichend von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU vor Ablauf von fünf Jahren das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung aufgeben, nachdem sie sich zuvor mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten haben.
33Die Antragstellerin war bis zum Eintritt ihrer krankheitsbedingten Arbeitslosigkeit Anfang Juni 2015 Arbeitnehmerin, da sie bis zum 6. Juni 2015 eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat. Sie hat sich zuvor auch mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten, weil sie - wie dargelegt - am 25. August 2011 (erneut) zur Arbeitssuche ins Bundesgebiet eingereist ist und sich seitdem hier ununterbrochen aufgehalten hat.
34Zwar setzen § 4a Abs. 2 Nr. 2 b) FreizügG/EU sowie Art. 17 Abs. 1 b) Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG nach ihrem Wortlaut die Rechtmäßigkeit des mindestens zweijährigen Voraufenthalts nicht ausdrücklich voraus. Der systematische Zusammenhang der Regelung mit § 4a Abs. 1 FreizügG/EU bzw. mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG, die jeweils einen ständigen bzw. ununterbrochenen rechtmäßigen fünfjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet bzw. Aufnahmemitgliedstaat voraussetzen und von denen § 4a Abs. 2 FreizügG/EU bzw. Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG eine Ausnahme in zeitlicher Hinsicht machen, legt ein solches Verständnis jedoch nahe. Eine bestimmte Mindestzeit der Erwerbstätigkeit verlangt die Vorschrift - anders als etwa § 4a Abs. 2 Nr. 1 oder 3 FreizügG/EU bzw. Art. 17 Abs. 1 a) und c) der Richtlinie 2004/38/EU - hingegen nicht. Die Voraussetzung eines mindestens zweijährigen rechtmäßigen Aufenthalts dürfte im Fall der Antragstellerin jedoch auch erfüllt sein. Nach der Einreise war ihr Aufenthalt zunächst zur Arbeitssuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG rechtmäßig. Nach der Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit am 24. April 2012 ergab sich die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) der Richtlinie 2004/38/EG. Während der Zeiten der vorübergehenden - wohl unfreiwilligen - Arbeitslosigkeit und des Sozialleistungsbezugs (5. Dezember 2012 bis 25. Juni 2014 sowie 1. November 2014 bis 6. Januar 2015) dürfte die Arbeitnehmereigenschaft und damit auch das Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 c) der Richtlinie 2004/38/EG zunächst für sechs Monate fortbestanden haben. In der Phase der ersten Arbeitslosigkeit dürfte danach gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU wieder ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche begründet worden sein. Ab dem 7. Januar 2015 war die Antragstellerin erneut - mit einer nur zweitägigen Unterbrechung - bis zum 6. Juni 2015 als Arbeitnehmerin beschäftigt und ihr Aufenthalt nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) der Richtlinie 2004/38/EG rechtmäßig. Insofern ggf. verbleibenden Zweifel hinsichtlich der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit und damit des Fortbestehens der Arbeitsnehmereigenschaft nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU ist im Hauptsacheverfahren nachzugehen.
35Es spricht auch Überwiegendes dafür, dass die Antragstellerin ihre Erwerbstätigkeit im Juni 2015 infolge einer vollen Erwerbsminderung im Sinne der Vorschrift aufgeben musste. § 4a Abs. 2 Nr. 2 b) FreizügG/EU setzt Art. 17 Abs. 1 b) Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG um. In der Freizügigkeitsrichtlinie wird im Gegensatz zum FreizügG/EU nicht von „voller Erwerbsminderung“, sondern von „dauernder Arbeitsunfähigkeit“ („permanent incapacity to work“, „incapacité permanente de travail“) gesprochen. Daher dürfte der Begriff der Erwerbsfähigkeit auch in diesem Zusammenhang so auszulegen sein, dass auf eine dauernde Arbeitsunfähigkeit abzustellen ist und nicht auf eine volle Erwerbsminderung im Sinne des deutschen Rentenrechts (§ 43 Abs. 2 SGB VI). Dies entspricht zudem dem Sinn und Zweck der Vorschrift, einem erwerbstätigen Unionsbürger ein Daueraufenthaltsrecht schon nach einer kürzeren Aufenthaltszeit als fünf Jahren einzuräumen, wenn er unfreiwillig infolge einer dauerhaften ‑ krankheits- oder unfallbedingten - Arbeitsunfähigkeit aus dem Arbeitsmarkt ausscheidet, sofern er zumindest eine gewisse Mindestvoraufenthaltszeit und damit Integration im Mitgliedstaat aufweisen kann. Der Bezug einer Rente wird demgegenüber allein in Art. 17 Abs. 1 b) Satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG, umgesetzt durch § 4a Abs. 2 Nr. 2 a) FreizügG/EU, unabhängig von einer Mindestvoraufenthaltszeit für den privilegierten Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts vorausgesetzt. Daher liegt es nahe, zur Auslegung des Begriffs der dauernden Arbeitsunfähigkeit die o.a. Rechtsprechung des EuGH zu Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG heranzuziehen. Eine solche ist daher anzunehmen, wenn der Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit aufgibt, in einem angemessenen Zeitraum nicht mehr zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmerkt fähig ist und hierfür nicht zur Verfügung steht.
36Dies dürfte bei der Antragstellerin nach den vorstehenden Ausführungen der Fall sein. Nach der zuletzt vorgelegten Stellungnahme der behandelnden Fachärztin K. vom 23. November 2019 sei die Antragstellerin seit Juni 2015 krankheitsbedingt nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit habe aufgrund von Komplikationen bisher nicht erreicht werden können. Eine Arbeitsunfähigkeit bestehe bis auf weiteres fort. Bei einem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt von demnach inzwischen mehr als fünf Jahren dürfte eine dauernde Arbeitsunfähigkeit im vorgenannten Sinne vorliegen. Jedenfalls bedürfte dies aber weiterer Aufklärung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens.
37d) Ferner spricht Einiges dafür, dass der Antragstellerin darüber hinaus auch ein von ihrer Tochter, Frau L. -N. T. , abgeleitetes Freizügigkeitsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 d) der Richtlinie 2004/38/EG zusteht.
38Nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU sind Familienangehörige eines Unionsbürgers unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger - also u.a. Arbeitnehmer (Nr. 1) - das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU sind Familienangehörige u.a. die Verwandten in gerader aufsteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 FreizügG/EU genannten Personen, denen diese Personen Unterhalt gewähren.
39Diese Voraussetzungen dürften im Fall der Antragstellerin erfüllt sein.
40Die Tochter der Antragstellerin ist gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil sie seit dem 2. Dezember 2019 - mit einer kurzen saisonbedingten Unterbrechung vom 1. April 2020 bis zum 17. Mai 2020 - einer unselbständigen Erwerbstätigkeit als Saisonarbeitnehmerin bei der Firma M. & T1. nachgeht. Ihr aktueller Arbeitsvertrag läuft bis zum 31. März 2021. Auch bei einer Saisonbeschäftigung handelt es sich um eine echte Beschäftigung am Arbeitsmarkt, die geeignet ist, die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen.
41Vgl. zu Saisonarbeitnehmern als Arbeitnehmer i.S.v. Art. 45 AEUV: EuGH Urteil vom 12. Juni 2012, C-611/10 u.a., Hudzinski u.a.
42Ferner „begleitet“ die Antragstellerin ihre freizügigkeitsberechtigte Tochter im Sinne der Vorschrift, auch wenn Letztere erst nach der Antragstellerin ihren rechtmäßigen Aufenthalt in das Bundesgebiet verlagert hat. Der Begriff des „Begleitens“ in Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 7 Abs. 1 d) und Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG erfasst nämlich auch Fälle, in denen die familiäre Lebensgemeinschaft erst im Bundesgebiet hergestellt wurde. Es spielt daher keine Rolle, ob Familienangehörige eines Unionsbürgers vor oder nach diesem in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind oder ob sie vor oder nach der Einreise Familienangehöriger des Unionsbürgers geworden sind, da die Weigerung des Aufnahmemitgliedstaats, ihnen ein Aufenthaltsrecht einzuräumen, gleichermaßen geeignet ist, den betroffenen Unionsbürger davon abzuhalten, sich weiter in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.
43Vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2008, C-127/08, Metock, Rn. 91 ff.; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 3 FreizügG/EU, Rn. 11 f.
44Es spricht schließlich Einiges dafür, dass die Tochter der Antragstellerin dieser als Verwandter in gerader aufsteigender Linie auch Unterhalt i.S.v. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU gewährt. Jedenfalls aber bedarf dies weiterer Aufklärung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens.
45Eine Unterhaltsgewährung i.S.v. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU liegt vor, wenn dem Verwandten tatsächlich Leistungen zukommen, die als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können. Dazu gehört eine fortgesetzte regelmäßige Unterstützung in einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken. Unschädlich ist dabei, wenn der Verwandte ergänzend Sozialleistungen zur Sicherung des Existenzminimums in Anspruch nimmt. Es ist auch nicht erforderlich, dass derjenige, dem Unterhalt gewährt wird, einen Anspruch auf Unterhaltsgewährung hat. Auf die Gründe für die Inanspruchnahme der Unterstützung kommt es ebenfalls nicht an (vgl. auch Nr. 3.2.2.1 der AVV zum FreizügG/EU vom 3. Februar 2016).
46Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 1987, 316/85, Lebon, Rn. 20 ff.
47Erforderlich ist jedoch ein Nachweis des Vorliegens eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses. Diese Abhängigkeit ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle Unterhalt des Familienangehörigen durch den Unionsbürger sichergestellt wird. Um zu ermitteln, ob eine solche Abhängigkeit vorliegt, ist zu prüfen, ob der Familienangehörige in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt.
48Vgl. EuGH, Urteile vom 9. Januar 2007, C-1/05, Jia, Rn. 35 ff; und vom 16. Januar 2014, C-423/12, Reyes, Rn. 20 ff.
49Der Nachweis einer solchen Unterhaltsleistung kann mit jedem dafür geeigneten Mittel geführt werden. Eine Verpflichtungserklärung des Unionsbürgers, dem Betroffenen Unterhalt zu gewähren, genügt dagegen nicht (vgl. Nr. 3.2.2.1 der AVV zum FreizügG/EU vom 3. Februar 2016).
50Ausgehend von diesen Maßstäben spricht hier Einiges dafür, dass der Antragstellerin von ihrer Tochter Unterhalt gewährt wird. In der Person der Antragstellerin liegt aufgrund ihrer seit Juni 2015 bestehenden Krebserkrankung und der daraus folgenden Arbeitsunfähigkeit ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis vor, da sie nicht (mehr) in der Lage ist, für die Deckung ihres Lebensunterhalts selbst aufzukommen. Nach den Angaben der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren hat ihre Tochter im Mai 2018 ihren Wohnsitz auch bewusst mit dem Ziel in das Bundesgebiet verlegt, um der Antragstellerin in der schwierigen krankheitsbedingten Situation beizustehen und sie insbesondere auch finanziell zu unterstützen. Ihre Tochter sei bereit, ihren Unterhalt, ihre freiwillige Krankenversicherung und ihre Miete zu übernehmen. Die Antragstellerin hat zudem nachgewiesen, dass ihre Tochter hierzu wirtschaftlich grundsätzlich auch in der Lage ist. Das Einkommen, das die Tochter der Antragstellerin aus ihrer Saisonbeschäftigung bei der Firma M. & T1. erzielt (2.139,- € brutto), reicht nämlich rechnerisch aus, um sowohl ihren eigenen Lebensunterhalt als auch den der Antragstellerin zu decken: Einem Bedarf i.H.v. insgesamt 1.279,- € (432,- € Regelsatz pro Person, da beide ein eigenes Zimmer in demselben Haus bewohnen, sowie Miete der Tochter i.H.v. 265,- € und Miete der Antragstellerin i.H.v. 150,- €) steht ein (bereinigtes) Einkommen i.H.v. etwa 1.377,87 € gegenüber (etwa 1.477,87 € netto abzüglich Werbungskosten nach § 11b Abs. 2 SGB II i.H.v. 100,- €; ein weiterer Abzug in Form des Erwerbstätigenfreibetrags nach § 11b Abs. 3 SGB II i.H.v. 200,- € kommt im Anwendungsbereich des Unionsrechts hingegen nicht in Betracht). Es fehlt derzeit lediglich an einem Nachweis, dass die Tochter der Antragstellerin auch tatsächlich regelmäßig Unterhalt - sei es in Form von Sachleistungen, sei es in Form von Geldbeträgen - aus ihrem Einkommen zukommen lässt. Auch dies bedarf jedoch näherer Aufklärung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens.
512. Soweit die Antragstellerin die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung begehrt, hat der Aussetzungsantrag ebenfalls Erfolg. Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 112 JustG NRW zulässig und auch begründet.
52Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Abschiebungsandrohung.
53Zwar liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 bis 3 FreizügG/EU vor. Nach Satz 2 dieser Vorschrift soll in dem Bescheid, mit dem die Ausländerbehörde - wie hier - feststellt, dass dem Unionsbürger oder seinem Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht zusteht, die Abschiebung angedroht und eine Ausreisefrist von - wie hier - grundsätzlich einem Monat gesetzt werden.
54Im Rahmen der weiteren Interessenabwägung ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Abschiebungsandrohung eine vollstreckungsrechtliche Annexmaßnahme zu der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts darstellt, die deren Schicksal hinsichtlich der Vollziehbarkeit letztlich teilt.
55Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
56Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Das Antragsinteresse hinsichtlich der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts ist mit Blick auf den lediglich vorläufigen Charakter des vorliegenden Eilverfahrens in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Auffangwertes (5.000,- €) ausreichend bemessen. Die Nebenentscheidung (Abschiebungsandrohung) fällt dabei streitwertmäßig nicht gesondert ins Gewicht.
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Tenor
I. Gegen den Beklagten wird auf die Disziplinarmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis erkannt.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Mit der vorliegenden Disziplinarklage erstrebt der Kläger, den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis aus dem Bürgermeisteramt zu entfernen.
I.
Der am …1953 geborene Beklagte ist ehrenamtlicher erster Bürgermeister der Gemeinde K* … im Landkreis K* … Als solcher ist er nach Art. 1 Abs. 3 Satz 1 KWBG in Verbindung mit Art. 34 Abs. 2 Satz 2 GO Ehrenbeamter, für die nach Art. 1 Abs. 1 BayDG auch das bayerische Disziplinargesetz Anwendung findet. Der Beklagte ist verheiratet, hat einen erwachsenen Sohn und bezog eine monatliche Aufwandsentschädigung nach Art. 53 Abs. 1 und 2 KWBG in Höhe von 2.402,31 EUR monatlich brutto. Daneben betreibt er in K* … zusammen mit seinem Sohn eine Schreinerei. Bis zum 31.12.2016 war er zudem Geschäftsführer der „Dorfladen … UG“. Laut ärztlichen Attest vom 01.03.2016 erlitt der Beklagte am 08.01.2016 einen Schlaganfall der vom 08.01.2016 bis 12.01.2016 stationär und anschließend in einer Rehamaßnahme behandelt wurde. In einem Attest vom 01.03.2016 wurde zudem festgestellt, dass der Beklagte seit ca. einem Jahr unter einer eskalierenden Belastungssituation in seinem Bürgermeisteramt leide und seitdem über zunehmende Schlafstörungen, nervöse Reizzustände und Erschöpfungszustände klage. Mit Schreiben vom 29.08.2016 ließ der Beklagte mitteilen, dass der Schlaganfall mittlerweile auskuriert sei. Im März 2020 wurde der Beklagte zum 1. Bürgermeister der Gemeinde K* … für die Dauer von 6 Jahren wiedergewählt.
II.
Das Landratsamt K … leitete mit Schreiben vom 16. Juni 2016 ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein. Mit Schreiben vom gleichen Tag übertrug es die Disziplinarbefugnisse auf die Landesanwaltschaft B* … als Disziplinarbehörde. Das Amtsgericht R* … übersandte dieser mit Schreiben vom 30. Juni 2016 eine Abschrift eines seit 28. Juni 2016 rechtskräftigen Strafbefehls vom 3. Juni 2016 (Az. …*). Mit diesem wurde gegen den Beklagten eine Freiheitsstrafe von elf Monaten auf Bewährung wegen Untreue und eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 270 Tagessätzen zu je 60 € wegen wettbewerbsbeschränkender Absprache bei Ausschreibungen verhängt. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Gericht legte dem Beklagten folgendes zur Last:
„1. Die „Dorfladen K … UG“ hat den Betrieb und Unterhalt eines Verkaufsladens im Ortszentrum der Gemeinde K* … zum Unternehmensgegenstand. Bauherr und Eigentümer des Dorfladens ist die Gemeinde K* … Sie sind der 1. Bürgermeister der Gemeinde K* … Sie sind zumindest seit Eintragung im Handelsregister B des Amtsgerichts R* … unter HRB … am 04.10.2012 einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer der „Dorfladen K* … UG“ mit Sitz am … in … S* … Mittels einstimmigen Beschlusses des Gemeinderates K* … vom 25.02.2010 wurde der Planungsauftrag für die Errichtung des Dorfladens an den gesondert Verfolgten B* … vergeben. Der gesondert Verfolgte B* … war in seiner Funktion als Architekt mit der nachfolgend beschriebenen Ausschreibung und dem Vergabeverfahren betraut. Dementsprechend waren Sie als 1. Bürgermeister der Gemeinde K* … gemäß Art. 38 Abs. 1 GO gemeinsam mit dem gesondert Verfolgten B* … damit betraut, im Rahmen des Projekts „Dorfladen K* …“ die Vermögensinteressen der Gemeinde K* … wahrzunehmen.
2. Mit Schreiben vom 07.03.2012 reichten Sie in Ihrer Funktion als 1. Bürgermeister der Gemeinde K* … einen Antrag auf Förderung der Baumaßnahme „Dorfladen K* …“ beim Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in R* … ein. Der gesondert Verfolgte B* … unterzeichnete als Inhaber des bauausführenden Planungsbüros die dem Subventionsantrag zugrundeliegende Kostenfeststellung vom 17.11.2011.
Der Finanzierungsplan sieht für das Einzelprojekt „Dorfladen K* …“ insgesamt förderfähige Gesamtausgaben in Höhe von 219.372,06 € vor. Wie von Ihnen bezweckt erging dem Antrag und den zugrundeliegenden subventionserheblichen Angaben entsprechend am 05.02.2013 ein Zuwendungsbescheid mit Antragsnummer … des Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, der insgesamt eine Subvention in Höhe von mindestens 54.843,00 € festsetzt.
Ausweislich Ziffer 5. des vorgenannten Bewilligungsbescheides war Voraussetzung für die Auszahlung der Subvention die Einhaltung der einschlägigen Vergabevorschriften bei der Vergabe der Gewerke zur Erstellung des „Dorfladens K* …“. Entsprechend des Verweises auf Ziffer 3. der ANBest-K greifen die Vergabegrundsätze, die das Staatsministerium des Inneren im Einvernehmen mit dem Staatsministerium der Finanzen auf Grund § 31 Abs. 2 KommHV bekanntgegeben hat, wobei die Vergabevorschriften der VOB/A bzw. VOL/A - wie Sie wussten - unberührt bleiben. Demnach war die Vergabe der jeweiligen Bauaufträge an eine öffentliche Ausschreibung gemäß § 3 Abs. 1 VOB/A geknüpft und entsprechend § 2 VOB/A waren die einzelnen Bauleistungen jeweils nach Erholung von unterschiedlichen Angeboten an das wirtschaftlichste Angebot zu vergeben.
Mit dem Bewilligungsbescheid wurde zugleich mitgeteilt, dass Vergabeverstöße gegen die vorgenannten Auflagen zu einem Widerruf führen und mit einer Rückforderung der Zuwendung einhergehen. Folglich waren Sie verpflichtet, im Rahmen des Vergabeverfahrens die Vergabevorschriften einzuhalten, damit die bewilligte Subvention auch ausbezahlt werden kann.
3. Obgleich Ihnen die Pflicht zur Wahrung der einschlägigen Vergaberichtlinien bekannt war, schränkten Sie durch bewusstes und gewolltes Zusammenwirken mit dem gesondert Verfolgten B* … den Wettbewerb im Rahmen der öffentlichen Ausschreibung durch freihändige Vergabe ohne Wahrung der notwendigen vergaberechtlichen Voraussetzungen unzulässig ein und wirkten erheblich und willkürlich auf das Vergabeverfahren ein.
Aufgrund des gemeinsamen Tatplans von Ihnen und dem gesondert Verfolgten B* … nahmen Sie durch bewusstes und gewolltes Zusammenwirken rechtswidrig Einfluss auf das Vergabeverfahren, indem Sie gemeinschaftlich handelnd mit dem gesondert Verfolgten B* … die unten näher aufgeführten Anbieter dazu veranlassten, Ihren Absprachen entsprechende Angebote abzugeben. Zu diesem Zweck gaben Sie gemeinschaftlich handelnd mit dem gesondert Verfolgten B* … und ihrem gemeinsamen Tatplan entsprechend Angaben über die zu überbietenden Gebote weiter. In der Folge kam es entsprechend Ihres gemeinsamen Tatentschlusses zur Abgabe der aufgeführten Gebote durch die mitbietenden Unternehmen, wobei Sie im Fall a) selbst Bieter waren. Gemäß Ihres gemeinsamen Tatplans erteilte der Gemeinderat der Gemeinde K* … aufgrund der Manipulationen den Unternehmen den Zuschlag, die Sie gemeinsam mit dem gesondert Verfolgten B* … - ohne Einhaltung der vergaberechtlichen Voraussetzungen und insbesondere ohne Wirtschaftlichkeitsprüfung - mit der Realisierung des einzelnen Gewerks beauftragen wollten.
Entgegen den vergaberechtlichen Voraussetzungen wurden insbesondere folgende Gewerke unter Missachtung der vergaberechtlichen Grundsätze wie nachfolgend aufgeführt zu der jeweils benannten Angebotssumme vergeben:
Gewerk
Firma
Angebotssumme
a) Fensterarbeiten
Firma S1* …
15.323,68 €
b) Innenausbau
Firma Wolfgang S2* …
13.883.,25 €
c) Auendämmung und Verputz
Firma A* … Massivholzschreinerei
29.138,34 €
a) Die Vergabepraxis im Hinblick auf das Gewerk „Fensterarbeiten“ unterlag schweren Vergabeverstößen. Die Angebotseröffnung erfolgte am 18.10.2013. Die Zuschlagsfrist endete am 25.10.2013. Die vier mitbietenden Unternehmen (Firma S1* …, Firma Martin B* …, Firma A* … Massivholzschreinerei, Firma S2* …*) gaben folgende Gebote ab:
Unternehmen
Datum der Abgabe
Gebot (brutto)
Firma S1* …
16.10.2013
15.323,68 €
Firma B* …
18.10.2013
16.469,60 €
Firma A* … Massivholzschreinerei
11.10.2013
17.431,12 €
Firma S2* …
17.10.2013
16.095,94 €
Den Zuschlag für die Ausführung der Fensterarbeiten erhielt - wie von Ihnen und dem gesondert Verfolgten B* … beabsichtigt - die Firma S1* …, deren Inhaber Sie sind, bei einem Angebot von 15.323,68 €. Die Angebote der drei mitbietenden Unternehmen (Firma S2* …, Firma A* … Massivholzschreinerei, Firma B* …*) basierten - Ihrem gemeinsamen Tatplan entsprechend - auf Preisabsprachen, wobei stets beabsichtigt und vereinbart war, dass Sie als Inhaber der Firma S1* … den Zuschlag bekommen und die Fensterarbeiten ausführen.
b) Die Vergabepraxis im Hinblick auf das Gewerk „Innenausbau“ unterlag ebenfalls schweren Vergabeverstößen. Die zwei mitbietenden Unternehmen gaben folgende Gebote ab:
Unternehmen
Datum der Abgabe
Gebot (brutto)
Firma S2* …
23.08.2014
13.883,25 €
Firma A* … Massivholzschreinerei
02.05.2014
14.725,77 €
Den Zuschlag für die Ausführung des Innenausbaus erhielt die Firma S2* … bei einem Angebot von 13.883,25 €. Das Angebot basierte auf Preisabsprachen zwischen Ihnen und den gesondert Verfolgten S2* … und A* … und wurde manipuliert, damit die Firma S2* … Ihrem gemeinsamen Tatplan entsprechend den Zuschlag erhält. Den Auftrag gab der gesondert Verfolgte S2* … - wie von Anfang an beabsichtigt - an Sie weiter, wobei Sie eine Provision in Höhe von 10% der Auftragssumme bezahlten.
c) Auch die Vergabe des Gewerks „Außendämmung und Verputz“ basiert auf der willkürlichen Vergabe von Bauleistungen und auf zahlreichen Manipulationen. Die Angebotseröffnung erfolgte am 21.01.2014. Die Zuschlagsfrist endete am 28.01.2014. Die drei mitbietenden Unternehmen (Firma A* … Massivholzschreinerei, Firma D* …, Firma L* …*) gaben folgende Gebote ab:
Unternehmen
Datum der Abgabe
Gebot (brutto)
Firma A* … Massivholzschreinerei
17.01.2014
29.138,34 €
Firma D* …
18.01.2014
32.765,46 €
Firma L* …
18.01.2014
30.196,25 €
Die Bauausführung wurde letztlich - ihrem gemeinsamen Tatplan entsprechend - an die Firma A* … Massivholzschreinerei GmbH vergeben. Die mitbietenden Unternehmen (Firma D* …, Firma L* …, Firma A* … Massivholzschreinerei) gaben ihre Angebote im Zusammenwirken mit Ihnen und den gesondert Verfolgten B* …, D* … und L* … und nach vorherigen Absprachen und Anweisungen der Angebotssummen mit dem Ziel ab, dass die Firma A* … Massivholzschreinerei GmbH von der Gemeinde K* … den Zuschlag erhält.
d) Das dem Projekt Dorfladen zugrundeliegende Vergabeverfahren unterlag damit Preisabsprachen und erheblichen ungerechtfertigten Einschränkungen und Manipulationen des Vergabeverfahrens. Sie verletzten im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit dem gesondert Verfolgten B* … ihre Vermögensbetreuungspflichten, indem Sie bewusst im Rahmen des Vergabeverfahrens den notwendigen Anforderungen und Verpflichtungen zuwider handelten. Die durchgeführten Ausschreibungen führten Sie gemeinschaftlich handelnd mit dem gesondert Verfolgten B* … Ihrem Tatplan entsprechend nur zum Schein durch, um die bewilligte Subvention zu erhalten. Ihrem gemeinsamen Tatplan entsprechend veranlassten Sie den Veranstalter - die Gemeinde K* … - dazu, den Unternehmen den Zuschlag zu erteilen, die Sie und der gesondert Verfolgte B* … mit der Umsetzung von vornherein beauftragen wollten.
4. Zuletzt teilte die für die Auszahlung der Förderungsmittel zuständige Stelle, das Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in R* …, mit Schreiben vom 20.07.2015 mit, dass eine Auszahlung der Zuwendungen aufgrund des laufenden Ermittlungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft R* … nicht erfolgen kann. Indem Sie - wie ausgeführt - durch die gewillkürte Vergabe der Bauleistungen, entgegen der gemäß Ziffer 5. des Zuwendungsbescheids zu wahrenden Vergabevorschriften, erheblich gegen die bei der verfahrensgegenständlichen öffentlichen Ausschreibung zu befolgenden Vergabegrundsätze verstießen, wurden die Voraussetzungen für die Auszahlung der Subvention vereitelt.
Entsprechend den Ausführungen des Bayerischen Staatsministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - die Ihnen bekannt waren - begründen die vorliegend aufgeführten schweren vergaberechtlichen Verstöße einen Widerrufsgrund. Die Nichtauszahlung der bereits bewilligten Subvention in Höhe von 54.843,00 € schädigt die Gemeinde K … in entsprechender Höhe.“
Mit Verfügung vom 22. September 2016 enthob die Landesanwaltschaft den Beklagten mit sofortiger Wirkung vorläufig des Dienstes. Die Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung stützte sie auf Art. 39 Abs. 1 Satz 2 BayDG. Der Beklagte ließ am 28. Oktober 2016 einen Antrag auf Aussetzung der vorläufigen Dienstenthebung stellen, dem das Gericht mit Beschluss vom 5. Dezember 2016 entsprach (Az. …*).
Mit Verfügung vom 11.07.2017 enthob die Landesanwaltschaft den Beklagten erneut mit sofortiger Wirkung vorläufig des Dienstes. Der Antrag des auf Aussetzung der vorläufigen Dienstenthebung wurde vom Verwaltungsgericht R* … mit Beschluss vom 24.10.2017 (Aktenzeichen …) abgewiesen.
Das Verwaltungsgericht R … wies in einem Parallelverfahren die Klage der Gemeinde K* … gegen den Freistaat B* … wegen Widerrufs der Zuwendung mit Urteil vom 2. November 2017 zurück (Az. …*). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ließ die Berufung gegen dieses Urteil mit Beschluss vom 29. März 2019 wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit zu (Az. …). Nach der Begründung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof bestünden ernstliche Zweifel (allein) insoweit, als das Verwaltungsgericht hinsichtlich des Umfangs des Widerrufs von der Rechtmäßigkeit eines vollständigen Widerrufs ausgegangen sei.
Der Beklagte ließ daraufhin am 13.09.2019 erneut Antrag auf Aussetzung der vorläufigen Dienstenthebung stellen. Zur Begründung des Antrags wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass sich die tatsächliche und rechtliche Situation geändert habe. Das Verwaltungsgericht R* … habe mit Urteil vom 02.11.2017 angenommen, dass ein vollständiger Widerruf der mit Zuwendungsbescheid vom 05.02.2013 bewilligten Zuwendung rechtmäßig gewesen sei. Diese Rechtsauffassung unterliege ernstlichen Zweifeln, wie der bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 29.03.2019 festgestellt habe. Bislang stehe nicht fest, in welcher Höhe ein Schaden entstanden sei, weshalb schon aus diesem Grund die Prognose, der Beklagte werde voraussichtlich aus dem Dienst entfernt, nicht haltbar sei. Dieser Antrag wurde vom Verwaltungsgericht R* … mit Beschluss vom 08.10.2019 (Aktenzeichen …*) abgewiesen. Mit Beschluss vom 10.01.2020 wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Aktenzeichen …*) die hiergegen gerichtete Beschwerde zurück. Eine wesentliche Änderung der Sachoder Rechtslage, die sich entscheidungserheblich auf die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Dienstenthebung auswirke, habe sich nicht ergeben. Insbesondere biete hierfür keinen Anlass der Zulassungsbeschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 29.03.2019 im Verfahren …, da hier nur die Richtigkeit des vollständigen Widerrufs der zugesagten, jedoch nicht ausgezahlten Subvention ernstlichen Zweifel gezogen wird. Der Senat habe in dem zitierten Beschluss ausgeführt, der in Bezug genommene Strafbefehl gegen den Beklagten vom 03.06.2016 beziehe sich lediglich auf 3 Gewerke („Fensterbau“, „Innenausbau“ sowie „Außendämmung und Verputz“), während hinsichtlich näher bezeichneter weiterer Gewerke das Strafverfahren nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden sei. Damit bestünden lediglich an der Annahme bei allen Aufträgen im Rahmen der Gesamtmaßnahme sei es zu Vergabeverstößen mit einem Korrekturansatz von 100% gekommen, ernsthafte Zweifel. Bereits die Verfügung der Disziplinarbehörde vom 11.07.2017 stelle aber zentral auf die schwerwiegenden Vergabeverstöße im Zusammenhang mit den dreien Strafbefehl abgeurteilten Gewerken ab. Zu Recht sei insoweit das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Schaden der Gemeinde schon allein in der Vermögensgefährdung begründet liege, was sich daraus ergebe, dass die mit bestandskräftigen Bescheid bewilligte Zuwendung nach Bekanntwerden der Pflichtverletzung des Beklagten im Juli 2015 nicht mehr ausgezahlt worden sei. Der Beklagte habe durch die vorangegangenen Wettbewerbsbeschränkungen Absprachen den Eintritt eines Schadens (Nichtauszahlung der Zuwendung) verursacht. Demgegenüber spiele die weitere rechtliche Folge, dass der Zuwendungsbescheid widerrufen worden sei, weder im Strafverfahren noch im Disziplinarverfahren eine entscheidende Rolle. Die Höhe des eingetretenen Schaden sei auch nicht das entscheidende Kriterium. Auch wenn der für die Gemeinde entstandene Schaden tatsächlich geringer als 50.000 EUR sein sollte, wäre die Prognose der voraussichtlichen Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis nach wie vor zutreffend.
Das Urteil des Verwaltungsgerichtes R* … vom 02.11.2017 wegen Widerrufs der Zuwendung (Az. …*) wurde mit Einstellungsbeschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes im Berufungsverfahren (Az. …*) vom 13.09.2020 rechtskräftig, nachdem die Gemeinde die Berufung zurückgenommen hatte.
III.
Mit der am 11.07.2017 zum Verwaltungsgericht R … erhobenen Disziplinarklage wird beantragt,
den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.
Mit Strafbefehl vom 28.06.2016 sei der Beklagte durch das Amtsgericht R* … wegen Untreue in Tatmehrheit mit wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Ausschreibungen in 3 tatmehrheitlichen Fällen nach § § 266 Abs. 1, 298 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, sowie einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 270 Tagessätzen verurteilt worden. Die tatsächlichen Feststellungen aus dem rechtskräftigen Strafbefehl würden der Disziplinarklage zugrunde gelegt. Diesen Feststellungen lägen umfangreiche Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zugrunde die ferner durch das Amtsgericht vor Erlass des Strafbefehls geprüft worden seien, insoweit würden diese Feststellungen nach Art. 25 Abs. 2 BayDG ohne nochmalige Prüfung im Disziplinarverfahren zugrunde gelegt.
Soweit der Beklagte im Hinblick auf den Tatbestand der Untreue vorträgt, der Gemeinde sei kein Schaden entstanden und es auch offen, ob die Subventionsvoraussetzungen nicht noch bejaht werden könnten und am Ende zumindest eine teilweise Auszahlung der Summe erfolge, sei festzuhalten, dass mit Bescheid des Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten R* … vom 05.02.2013 eine Zuwendung in Höhe von 25% der zuschussfähigen Ausgaben, höchstens jedoch 450.843 EUR als Zuschuss bewilligt wurden. In Ziffer 4. Strafbefehls werde hierzu ausgeführt, dass eine Auszahlung der Zuwendung aufgrund einer Mitteilung des zuständiges Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten nicht erfolgen könne, wegen der Verstöße gegen Vergabegrundsätze. Ferner würden die schweren vergaberechtlichen Verstöße einen Widerrufsgrund rechtfertigen. Der Subventionsbescheid sei auch vollständig widerrufen worden. Soweit noch ein gerichtliches Verfahren diesbezüglich anhängig sei, gehe es nur darum, ob ein voller Widerruf gerechtfertigt war, oder nur ein teilweiser Widerruf hätte erfolgen dürfen. Für die Gemeinde K* … sei damit bereits ein Vermögensnachteil eingetreten, allein durch die Nichtauszahlung der bewilligten Subvention. Als Bürgermeister habe der Beklagte auch eine Vermögensbetreuungspflicht gehabt, weil er die Vermögensinteressen der Gemeinde K* … wahrzunehmen hatte. Ob die rechtswidrigen Vergaben dazu geführt haben, dass unter marktüblichen Preisen die Aufträge vergeben worden sind, sei ebenfalls unerheblich, da auch dann der Untreuetatbestand erfüllt sei. Aus den Akten gehe auch hervor, dass die tatsächlichen Feststellungen bezüglich rechtswidriger Preisabsprachen zutreffen. Der Beklagte habe selbst in seiner Beschuldigtenvernehmung vom 02.12.2015 die Preisabsprachen eingeräumt. Soweit mit Verfügung der Staatsanwaltschaft R* … vom 27.05.2016 von der Verfolgung weiterer Taten nach § 154 Abs. 1 StPO abgesehen wurde (Gewerke „Zimmerarbeiten“, „Heizung“ und „Baumeisterarbeiten“) werde das Verfahren nach Art. 21 Abs. 2 BayDG beschränkt, da diese Handlungen für die Art und Höhe der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme voraussichtlich nicht ins Gewicht fallen würden.
Der Beklagte habe damit ein innerdienstliches Dienstvergehen begangen, indem er die Vermögensinteressen der Gemeinde K* … in schwerwiegender Weise gefährdet habe. Der Beklagte habe vorsätzlich im Rahmen des Vergabeverfahrens den notwendigen Anforderungen und Verpflichtungen zuwider gehandelt. Deshalb sei eine bereits bewilligte Subvention in Höhe von 54.843 EUR nicht an die Gemeinde ausgezahlt worden, und der Zuwendungsbescheid inzwischen widerrufen worden. Dabei habe der Beklagte im Kernbereich seiner Pflichten als 1. Bürgermeister versagt, und sei damit seiner Vorbildfunktion und sei dem in ihn gesetzten Vertrauen nicht gerecht geworden. Auch habe der Beklagte nicht völlig uneigennützig gehandelt, da er bei der manipulierten Ausschreibung für das Gewerk Fensterarbeiten selbst den Zuschlag erhalten habe, und den Auftrag auch ausgeführt habe.
Der Beklagte habe damit gegen seine Pflicht die Gesetze zu beachten verstoßen, indem er innerdienstliches eine strafbare Untreuehandlung beging. Dabei habe er seine besondere Vertrauensstellung in der Gemeinde ausgenutzt. Dieser schwere Verstoß gegen seine Vorbildfunktion auch als gewählter Repräsentant der Gemeindebürger sei in besonderem Maße geeignet, das Vertrauen der Öffentlichkeit in eine gesetzestreue Gemeindearbeit zu beschädigen. Nachdem anerkannte Milderungsgründe nicht ersichtlich seien, komme hier wegen des schweren Vertrauensverlustes nur die disziplinarrechtliche Höchstmaßnahme in Betracht.
Der Beklagte tritt dem entgegen. Auf eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis könne nicht erkannt werden. Der Kläger verkenne, dass ganz offensichtlich der Tatbestand der Untreue mangels Vermögensnachteil schon nicht verwirklicht sei und der Straftatbestand der wettbewerbswidrigen Absprache mangels rechtswidriger Absprache/Verständigung ebenfalls nicht; jedenfalls nicht im behaupteten Umfang. Der Strafbefehl, den der Beklagte - der hier falsch beraten war - nicht angegriffen habe, möge zwar rechtskräftig sein. Bindungswirkung entfalte er allerdings nicht. Unabhängig davon wäre eine solche auch zu überwinden, weil der dort geschilderte Sachverhalt schon den Anforderungen an den straf- und verwaltungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nicht genüge. Auch würden Strafbefehl und Disziplinarverfügung verkennen, dass es ein „Vergabestrafrecht“ nicht gebe. Den Fall einer womöglich vergaberechtswidrigen Ausschreibung regele das geltende Strafrecht gerade nicht. Hierzu werde auf ein von der Beklagtenseite erstelltes, beigelegtes strafrechtliches Gutachten vom 13.06.2019 verwiesen. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass ein atypischer Verstoß gegen den Geheimwettbewerb im Rahmen des § 298 StGB gegeben sei, da Ziel des Verstoßes gerade gewesen sei, dass andere Wettbewerber sich selbst schädigen in dem sie ein höheres Gebot abgeben, damit das günstigste für die Gemeinde zum Tragen kommt. Diesen Verstoß habe der Beklagte für den Veranstalter nicht unterbunden. Eine Rechtsverletzung durch den Beklagten läge mithin vor. Allerdings sei ein Interessenkonflikt des Beklagten ausgeschlossen, da das Interesse des Beklagten ausschließlich darauf abgezielt habe, zu Gunsten der Gemeinde ein möglichst günstiges Angebot zu erhalten bzw. selbst abzugeben. Insbesondere sei sein eigenes Angebot zum Selbstkostenpreis abgegeben worden. Zwar liege ein Vermögensnachteil nach § 266 StGB vor, ein Schädigungsvorsatz diesbezüglich sei jedoch völlig abwegig. Der Beklagte sei ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass sein Verhalten ausschließlich zum Vorteil der Gemeinde sei. Er habe eine ganze Menge unbezahlte Arbeit in das Projekt gesteckt. Es sei völlig abwegig, dass er in Kenntnis der Notwendigkeit der Förderung dieses Projekts zum Gemeinwohl, das ihm so wichtig gewesen sei, nach hohem persönlichen ehrenamtlichen Aufwand vorsätzlich gefährden oder beschädigen habe wollen. Insgesamt sei daher festzuhalten, dass weder eine Strafbarkeit nach § 298 StGB nach § 266 StGB gegeben sei.
Es liege kein Dienstvergehen vor, das die Entfernung aus dem Dienst rechtfertigen könne. Möge sich am Ende herausstellen, dass die Pflicht zum rechtmäßigen Verhalten verletzt wurde, rechtfertige dies keinesfalls die Höchstmaßnahme. Tatsache sei, dass der Beklagte und alle Beteiligten ausschließlich zum Vorteil der Gemeinde gehandelt hätten und niemand in irgendeiner Weise geschädigt worden sei. Tatsache sei auch, dass der Beklagte zusammen mit anderen Mitbürgern völlig uneigennützig es ermöglicht habe, dass die Gemeinde K* … über eine Einkaufsmöglichkeit, den neuen „Dorfladen“, verfüge. Hier hätten alle Beteiligten mitgearbeitet und uneigennützig ihre Leistung unter Wert angeboten. Daran sei überhaupt nichts Verwerfliches. Dies sehe auch ein überwiegender Teil der Bevölkerung so. Von 784 wahlberechtigten Bürgern hätten 562 Bürger für die Rückkehr des Beklagten ins Amt plädiert. Dazu komme, dass mit Schreiben vom 16. Juli 2017 der Gemeinderat (acht Gemeinderäte) sich einstimmig (!) für den Beklagten und sein Verbleiben im Amt ausgesprochen habe, weil man ihm nach wie vor volles Vertrauen schenke. Bei der Kommunalwahl im März 2020 sei der Beklagte zum 1. Bürgermeister der Gemeinde K* … mit 83% wiedergewählt worden.
Der Beklagte habe auch keinen eigenen wirtschaftlichen Vorteil erlangt. Um die Kosten für die Gemeinde so günstig wie möglich zu halten habe er bei dem Gewerk Fensterarbeiten ein weit unter dem üblichen Marktpreis liegendes Angebot abgegeben. Ein Gewinn sei je nach Abzug des Materials und der Arbeitsstunden nicht mehr zu erzielen gewesen. Ein Schädigungsvorsatz sei damit nicht gegeben. Dies könne auch jederzeit durch ein einzuholendes Sachverständigengutachten belegt werden. Ebenso, dass die Angebote zu den einzelnen Gewerken deutlich unter dem Marktwert gelegen hätten, sodass der Gemeinde kein Schaden entstanden sei. Auch könne durch Zeugen bestätigt werden, dass ca. 3000 Arbeitsstunden durch Gemeindebürger in Eigenleistung erbracht worden seien. Allein dadurch seien ca. 150.000 EUR eingespart worden. Nur dadurch sei es überhaupt möglich gewesen, das Gesamtprojekt zu verwirklichen. In der mündlichen Verhandlung vom 19.10.2020 wurde ergänzend ausgeführt, dass nunmehr zwar der Widerruf der Förderung rechtskräftig sei, die Berufung von der Gemeinde jedoch nur zurückgenommen worden sei, da der Auszahlungsantrag verspätet gestellt worden sei, und damit wohl kein Rechtsschutzbedürfnis für die Berufung mehr vorgelegen habe. Dies ändere jedoch nichts daran, dass eine komplette Rückforderung rechtswidrig sei, und eine Schadenshöhe wie von der Klägerseite angenommen, daher nicht vorliege.
Es werde daher beantragt,
die Disziplinarklage abzuweisen,
hilfsweise auf eine geringere Disziplinarstrafe zu erkennen.
Wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten, Strafakten sowie die Gerichtsakte einschließlich der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung am 19.10.2020 Bezug genommen.
Gründe
Die zulässige Disziplinarklage führt zu der Entscheidung, den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, da er wegen eines schweren innerdienstlichen Dienstvergehens das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren hat, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 BayDG. Der Beklagte ist nach Art. 1 Abs. 3 Satz 1 KWBG in Verbindung mit Art. 34 Abs. 2 Satz 2 GO Ehrenbeamter. Damit findet für ihn nach Art. 1 Abs. 1 BayDG auch das Bayerische Disziplinargesetz Anwendung. Auch die Tatsache, dass die Amtszeit während des Disziplinarverfahrens ablief, und der Beklagte erneut zum Bürgermeister gewählt wurde ändert daran nichts. Insbesondere folgt bei einer unmittelbaren Wiederwahl keine Entlassung des Beamten kraft Gesetzes nach Art. 15 Abs. 1 Satz 2 KWBG. Sofern ein kommunaler Wahlbeamter dasselbe Amt nach Ablauf der Amtszeit wieder antritt, kann ein bereits eingeleitetes Disziplinarverfahren fortgeführt werden, ohne dass es einer neuen Einleitung bedarf (Art. 2 Abs. 2 BayDG).
Gegen die Ordnungsgemäßheit der Disziplinarklage bestehen keine Bedenken. Sie entspricht den Anforderungen des Art. 50 Abs. 1 BayDG und gibt in ausreichender Weise den persönlichen und beruflichen Werdegang des Beamten, den bisherigen Gang des Disziplinarverfahrens sowie die für die Entscheidung bedeutsamen Tatsachen und Beweismittel in geordneter Darstellung wieder.
Das Gericht legt der disziplinarrechtlichen Würdigung die Sachverhalte - wie angeklagt - zugrunde:
I.
Das Gericht legt dabei der disziplinarrechtlichen Würdigung in diesem Verfahren die tatsächlichen Feststellungen des seit 28. Juni 2016 rechtskräftigen Strafbefehls des Amtsgerichts R* … vom 3. Juni 2016 (Az. …*) zugrunde.
Die tatsächlichen Feststellungen in einem Strafbefehl sind zwar nicht zwingend bindend (Art. 55, 25 Abs. 1 BayDG), können aber gemäß Art. 25 Abs. 2 BayDG der Entscheidung in der Disziplinarklage zugrunde gelegt werden, auch wenn der Strafbefehl nicht die gleiche Richtigkeitsgewähr wie ein aufgrund einer Hauptverhandlung ergangenes Strafurteil bietet (vgl. BayVGH, U.v. 5.11.2014 - 16a D 13.1568; sowie U.v. 29.6.2016 - 16b D 13.993 zum Bundesdisziplinargesetz; Zängl, Bayerisches Disziplinarrecht, Rn. 20 zu Art. 25 BayDG). Anderes gilt, wenn an der Richtigkeit der Feststellungen berechtigte Zweifel bestehen, etwa weil diese durch den Beamten im Disziplinarverfahren substantiiert bestritten werden (hierzu: BVerwG, U.v. 29.3.2012 - 2 A 11/10, juris; BayVGH, U.v. 28.11.2012 - 16a D 11.958, juris Rn. 28).
Im diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass bereits der Verzicht der Beklagten auf einen Einspruch (wie hier) bzw. dessen Rücknahme gegen den Strafbefehl ein erhebliches Indiz für die Richtigkeit des im Strafbefehl bezeichneten Sachverhalt darstellt (vgl. VGH BW, U.v. 3.7.2002 - DL 17 S 24/01, BayVGH, U.v. 11.7.2007 - 16a D 06.1183, juris).
Die Feststellungen umfassen sowohl den inneren als auch den äußeren Tatbestand, sowie die Schuldfähigkeit.
Das Gericht überzeugt nicht, wenn der Beklagte nunmehr vorbringt, dass der im Strafbefehl dargestellte Sachverhalt falsch und unvollständig ist und er von seinem damaligen Prozessbevollmächtigten falsch beraten wurde. Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren hat er nämlich mit Schreiben seines damaligen Bevollmächtigten vom 18. März 2016 vorbringen lassen, dass mit der anvisierten Lösung im Strafbefehlswege seitens der Verteidigung Einverständnis bestünde. Mit Schreiben vom 29.08.2016 hat der Beklagte gegenüber der Disziplinarbehörde noch ausführen lassen, dass es bei den Vergaben zu relevanten Manipulationen gekommen sei, diese jedoch nur erfolgt seien um die Angebote zu Gunsten der Gemeinde möglichst gering zu halten. Es sei darauf hinzuweisen, dass die Feststellungen des Strafbefehls zu kurz greifen würden. Im Hinblick auf die dienstrechtliche Beurteilung würden weitere substantielle Gründe heranzuziehen sein, die zwar im strafrechtlichen Vorwurf nicht entfallen ließen, gleichwohl disziplinarrechtlich zu berücksichtigen seien, nämlich, dass der Beklagte zu keinem Zeitpunkt eine persönliche Gewinnerzielungsabsicht hatte und das konkrete Vorgehen nur deshalb so gewählt hätte, um den von den Gemeindebürgern und der Kommunalpolitik gewollten Neubau auch tatsächlich kostengünstig realisieren zu können. Gegen den Strafbefehl vom 3. Juni 2016 brachte er keine Einwände vor. Selbst ein juristischer Laie vermag jedoch die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen eines Strafbefehls zu beurteilen. Wenn der Beklagte insoweit Probleme gesehen hätte, wäre es nahegelegen, dass er Einspruch gegen den Strafbefehl erhebt bzw. erheben lässt. Dies ist hier nicht geschehen. Vielmehr hat der Beklagte den Strafbefehl, der zudem auf umfangreichen Ermittlungen basierte, rechtskräftig werden lassen.
Wie vom Gericht bereits in seinen Beschlüssen vom 24. Oktober 2017 und 08.10.2019 festgestellt, weicht der Strafbefehl auch von den Angaben nicht im Wesentlichen ab. Es ist widersprüchlich, wenn der Beklagte im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Sachverhalte einräumen sowie einen Strafbefehl rechtskräftig werden lässt und sich dann im Disziplinarverfahren auf die mangelnde Bindungswirkung beruft.
Im Rahmen der vorliegend gebotenen gerichtlichen Ermessensentscheidung kommt es insbesondere auch darauf an, welche Bedeutung den Feststellungen für das Disziplinarverfahren zukommt und „wie zuverlässig“ die in dem Strafbefehlsverfahren getroffenen Feststellungen sind (Zängl, Bayerisches Disziplinarrecht, Stand: August 2019, Art. 25 Rn. 21).
Die Kammer ist nach Durchsicht der beigezogenen Strafakten, insbesondere der Niederschriften über die Vernehmungen des Beklagten, der weiteren Beschuldigten, weiter über die Vernehmungen verschiedener Zeugen, davon überzeugt, dass der Beklagte an vergabewidrigen Preisabsprachen im angeschuldigten Umfang beteiligt war.
Die tatsächlichen Feststellungen des Strafbefehls decken sich weitgehend mit den Angaben des Beklagten im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Der Beklagte hat in einem gemeinsamen Schreiben der anwaltlichen Bevollmächtigten der Herren B* …, A* …, B1* … und S* … vom 10. Juni 2015 die Sachverhalte auch im Wesentlichen zugestanden und Manipulationen zu Gunsten der Firma S1* … bezüglich des Gewerks Fensterarbeiten einräumen lassen. Vergleichbares lässt sich diesem Schreiben bezüglich des Gewerkes Innenausbau (Seiten 5 f.) und hinsichtlich der Gewerke Außendämmung und Verputz entnehmen (Seiten 8 ff.).
Ferner verweist das Gericht auch auf zahlreiche Protokolle von Zeugeneinvernahmen und TKÜ Niederschriften, welche die Feststellungen des Strafbefehl als schlüssig tragen. Exemplarisch werden genannt:
- Bd. IV der strafrechtlichen Ermittlungs-Hauptakte 156 JS 6970/14:
Aussage B* …, Blatt 1162 (Gefälligkeitsangebot), L* … Blatt 1201, A* … Blatt 1301 (Schutzangebot), S* … Blatt 1311, S2* … Aussage vom 24.04.2015 (Untervergabe, Provision, Abgabe leeres Angebot).
- Blatt 1234-1236, TKÜ Protokolle über Gespräche am 25.02.2015 zwischen den Betroffenen S* …-B* …, B1* …-P* …, B* …-A* …
Unrichtige Feststellungen des Strafbefehls wurden damit nicht zur Überzeugung des Gerichts substantiiert dargelegt.
II.
Das Amtsgericht R* … verhängte gegen den Beklagten eine Freiheitsstrafe von elf Monaten auf Bewährung wegen Untreue und eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 270 Tagessätzen zu je 60 € wegen wettbewerbsbeschränkender Absprache bei Ausschreibungen. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Es steht für das Gericht auch fest, dass der Beklagte diese ihm im Strafbefehl vorgeworfenen Sachverhalte im Rechtssinn begangen hat. Schließlich wurde auch mit rechtskräftigen Urteil des Bayerischen Verwaltungsgericht R* … 2. November 2017 (Az. …*) bestätigt, dass die ursprünglich bewilligten Zuwendungen zu Recht wegen der Vergabeverstöße nicht zur Auszahlung kommen und widerrufen werden durften. Damit ist der Gemeinde ein Vermögensschaden in Höhe von 54.843,00 € entstanden. Das Gericht hat auch keinen Zweifel an einem Vorsatz des Beklagten. Soweit dieser vorbringt, sein einziges Ziel wäre gewesen, den Dorfladen kostengünstig zu erstellen, ändert diese Absicht bzw. Motivation nichts daran, dass hierfür vorsätzlich im Wege einer „aktiven Gestaltung“ bzw. Manipulation der Vergaben die entsprechenden rechtlichen Vorgaben nicht eingehalten wurden. Dem Beklagten musste auch bewusst sein, dass bei einem Verstoß gegen die Kernvorgaben einer rechtmäßigen Vergabe die staatliche Subvention gefährdet ist. Dies hat er zumindest billigend in Kauf genommen.
III.
Der Beklagte hat damit als kommunaler Wahlbeamter durch sein Verhalten ein einheitliches innerdienstliches Dienstvergehen im Sinne des § 47 Abs. 1 Satz 1 des Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) begangen. Bei dem Sachverhaltskomplex „Dorfladen K* …“ handelte der Beklagte als erster Bürgermeister der Gemeinde, so dass er die Dienstpflichtverletzungen innerdienstlich beging. Durch dieses Verhalten hat er vorsätzlich und schuldhaft gegen seine Dienstpflicht verstoßen, die Gesetze zu beachten, seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und sein Amt zum Wohl der Allgemeinheit zu führen, vgl. § 33 Abs. 1 BeamtStG. Ferner liegt hierin ein Verstoß, sich mit vollem Einsatz seinem Amt zu widmen und es uneigennützig nach bestem Gewissen zu verwalten, § 34 Sätze 1 und 2 BeamtStG. Zudem hat er gegen die in § 34 Satz 3 BeamtStG bestimmte Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes verstoßen.
IV.
Die strafgerichtliche Verurteilung ist alleine für sich bereits geeignet, die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu tragen.
Beamte sind gemäß Art. 14 Abs. 2 Satz 1 BayDG aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, wenn sie durch ein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren haben. Die Entscheidung über die Disziplinarmaßnahme ist gemäß Art. 14 Abs. 1 BayDG nach pflichtgemäßen Ermessen, insbesondere nach der Schwere des Dienstvergehens, der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit, dem Persönlichkeitsbild und dem bisherigen dienstlichen Verhalten zu treffen. Das Gewicht der Pflichtverletzung ist Ausgangspunkt und richtungsweisendes Bemessungskriterium für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme (vgl. BVerwG vom 10.12.2015 Az. 2 C 6/14). Dies beruht auf dem Schuldprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die auch im Disziplinarverfahren Anwendung finden (vgl. BVerfG vom 8.12.2004 Az. 2 BvR 52/02). Eine Disziplinarmaßnahme muss unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Umstände des Einzelfalls in einem gerechten Verhältnis zur Schwere des Dienstvergehens und zum Verschulden des Beamten stehen (vgl. BVerwG vom 20.10.2005 Az. 2 C 12.04). Bei der Ausübung des den Gerichten nach Art. 14 Abs. 1 BayDG eröffneten Ermessens, bei dem sie nicht an die Wertungen des Dienstherrn gebunden sind, ist jede Schematisierung zu vermeiden.
Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis als disziplinarrechtliche Höchstmaßnahme ist nur zulässig, wenn der Beamte wegen der schuldhaften Verletzung einer ihm obliegenden Pflicht das für die Ausübung seines Amtes erforderliche Vertrauen endgültig verloren hat, vgl. Art. 14 Abs. 2 Satz 1 BayDG. Ist die Weiterverwendung eines Beamten wegen eines von ihm begangenen schweren Dienstvergehens nicht mehr denkbar, muss er aus dem Beamtenverhältnis entfernt werden. Dabei bewirken schwerwiegende Vorsatzstraftaten generell einen Vertrauensverlust, der unabhängig vom jeweiligen Amt zu einer Untragbarkeit der Weiterverwendung als Beamter führt.
Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG hat die Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zwingend den Verlust der Beamtenrechte zur Folge. Aus der Höhe der verhängten Strafe hat der Gesetzgeber unwiderleglich auf das Ausmaß der Vertrauensbeeinträchtigung geschlossen. Diese Grenze wurde vorliegend noch nicht erreicht.
Da die Schwere des Dienstvergehens maßgebendes Bemessungskriterium für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme ist, muss das festgestellte Dienstvergehen nach seiner Schwere einer der in Art. 6 Abs. 1 BayDG aufgeführten Disziplinarmaßnahme zugeordnet werden. Bei der Auslegung des Begriffs „Schwere des Dienstvergehens“ ist maßgebend auf das Eigengewicht der Verfehlung abzustellen. Hierfür können bestimmend sein objektive Handlungsmerkmale (insbesondere Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung, z.B. Kern- oder Nebenpflichtverletzung und besondere Umstände der Tatbegehung, z.B. Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens), subjektive Handlungsmerkmale (insbesondere Form und Gewicht der Schuld des Beamten, Beweggründe für sein Verhalten) sowie unmittelbare Folgen des Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und für Dritte (vgl. BVerwG vom 20.10.2005 a.a.O.).
1. Das Dienstvergehen wiegt hier so schwer, dass eine Entfernung aus dem Dienst die angemessene disziplinarrechtliche Maßnahme ist. Zur Bestimmung des Ausmaßes des Vertrauensschadens, der durch eine vorsätzlich begangene Straftat hervorgerufen worden ist, hat das Bundesverwaltungsgericht zunächst bei außerdienstlichen Dienstvergehen auf den Strafrahmen zurückgegriffen. Die Ausrichtung der grundsätzlichen Zuordnung eines Dienstvergehens zu einer der Disziplinarmaßnahmen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 BayDG am gesetzlich bestimmten Strafrahmen ist nach der neueren Rechtsprechung jedoch auch bei innerdienstlich begangenen Dienstvergehen geboten (vgl. BVerwG vom 10.12.2015 a.a.O.). Auch bei diesen Dienstvergehen gewährleistet dies eine nachvollziehbare und gleichmäßige disziplinarische Ahndung von Dienstvergehen. So wird verhindert, dass die Disziplinargerichte ihre jeweils eigene Einschätzung des Unwertgehalts eines Delikts an die Stelle der Bewertung des Gesetzgebers setzen. Die Einschätzung des Parlaments bestimmt, welche Straftaten als besonders verwerflich anzusehen sind.
Der hier letztlich abgeurteilte Tatvorwurf beinhaltet eine (nicht eigennützige) Untreue und eine wettbewerbsbeschränkende Absprache bei Ausschreibungen. Die Untreue sieht einen Strafrahmen bis zu fünf Jahren vor. Begeht ein Beamter innerdienstlich unter Ausnutzung seiner Dienststellung eine Straftat, für die das Strafgesetz als Strafrahmen eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht, reicht der Orientierungsrahmen für die mögliche Disziplinarmaßnahme bereits bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis (vgl. BVerwG vom 10.12.2015 a.a.O.).
2. Die Ausschöpfung des Orientierungsrahmens kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn dies auch dem Schweregehalt des Dienstvergehens entspricht. Delikte, die angesichts ihrer möglichen Variationsbreite der Vorgabe einer Regeldisziplinarmaßnahme nicht zugänglich sind, bedürfen einer sorgsamen Würdigung der Umstände des Einzelfalls. Die Disziplinargerichte müssen für eine solche Betrachtung und die Ausschöpfung des Orientierungsrahmens unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Umstände offen sein (vgl. z. B. BVerwG vom 23.7.2013 Az. 2 C 63.11). Zur Bestimmung der Schwere des begangenen Dienstvergehens kann bei (außergerichtlichen) Dienstvergehen auf einer zweiten Stufe zunächst indiziell auf die von Strafgerichten ausgesprochene Sanktion zurückgegriffen werden (vgl. BVerwG vom 10.12.2015 a.a.O.). Dies folgt zunächst aus § 24 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG, der direkt und ausschließlich an den Strafausspruch der Strafgerichte anknüpft. Unterhalb der in dieser Vorschrift genannten Schwelle kommt der strafgerichtlichen Aburteilung zwar regelmäßig keine unmittelbare Verbindlichkeit für die disziplinarrechtliche Beurteilung zu. Auch bei weniger gravierenden Verurteilungen kann der Ausspruch der Strafverfolgungsorgane aber als Indiz für die Schwere einer außerdienstlich begangenen Straftat und für Abstufungen innerhalb des Orientierungsrahmens herangezogen werden. Unbeschadet der unterschiedlichen Zwecke von Straf- und Disziplinarrecht kommt in dem Strafausspruch die Schwere und Vorwerfbarkeit der begangenen Handlung zum Ausdruck, die auch für die disziplinarrechtliche Beurteilung von maßgeblicher Bedeutung ist (vgl. BVerwG vom 10.12.2015 a.a.O. m.w.N.).
Diese Grundsätze bezüglich der „zweiten Stufe“ finden jedoch nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei innerdienstlichen Dienstvergehen keine Anwendung. Bei einem innerdienstlichen Dienstvergehen, bei dem der Beamte gerade nicht wie jeder andere Bürger, sondern in seiner dienstlichen Pflichtenstellung und damit als Garant einer unparteilichen und gesetzestreuen Verwaltung betroffen ist, komme dem ausgeurteilten Strafmaß bei der Bestimmung der konkreten Disziplinarmaßnahme keine „indizielle“ oder „präjudizielle“ Bedeutung zu (vgl. BVerwG vom 5.7.2016 Az. 2 B 24/16). Vielmehr habe das Verwaltungsgericht in der originär dienstrechtlichen Bemessungsentscheidung in Ausübung der ihm übertragenen Disziplinarbefugnis eigenständig und ohne präjudizielle Bindung an strafrechtliche Bemessungserwägungen zu entscheiden, ob der betroffene Beamte durch das innerdienstlich begangene Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat und deshalb aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen ist.
In dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall war ein Beamter im Strafurteil wegen Geheimnisverrats gemäß § 353b StGB in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 75 Tagessätzen verurteilt worden. Sei von den Strafgerichten bei einem außerdienstlich begangenen Dienstvergehen lediglich auf eine Geldstrafe erkannt worden, komme die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nur ausnahmsweise und bei Vorliegen disziplinarrechtlich bedeutsamer Umstände in Betracht (vgl. BVerwG vom 5.7.2016 a.a.O. m.w.N.). In diesem Fall eines innerdienstlichen Dienstvergehens hat das Bundesverwaltungsgericht die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis jedoch für zulässig erachtet. Bei innerdienstlichen Dienstvergehen kann damit selbst die Verhängung einer Geldstrafe - anders als bei außerdienstlichen Dienstvergehen - zu einer Entfernung aus dem Beamtenverhältnis führen.
Zwar mag eine Verurteilung bei innerdienstlichen Dienstvergehen keine „präjudizielle“ Bedeutung entfalten. Allerdings kann sie im Rahmen der Beurteilung des Schweregehalts dieses Dienstvergehens durchaus Berücksichtigung finden. Die Verurteilung des Beklagten bewegt sich hier mit elf Monaten in einem Bereich, der nahe an das Strafmaß heranreicht, das zwingend den Verlust der Beamtenrechte zur Folge hat
3. Die Umstände der Tatbegehung wirken sich zu Lasten des Beklagten aus. Bei innerdienstlichen Pflichtverletzungen wirkt sich die Stellung als Erster Bürgermeister erschwerend aus, da sich die Öffentlichkeit auf eine Recht und Gesetz entsprechende Amtsführung verlassen können muss. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Beamte z. B. in Fällen des innerdienstlichen Betrugs zum Nachteil des Dienstherrn in der Regel aus dem Dienst zu entfernen, wenn im Einzelfall Erschwerungsgründe vorliegen, denen keine Milderungsgründe von solchem Gewicht gegenüberstehen, dass eine Gesamtbetrachtung nicht den Schluss rechtfertigt, der Beamte habe das Vertrauen endgültig verloren. Je gravierender die Erschwerungsgründe in ihrer Gesamtheit zu Buche schlagen, desto gewichtiger müssten die Milderungsgründe sein, um davon ausgehen zu können, dass noch ein Rest an Vertrauen vorhanden ist. Auch aus der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lasse sich der Grundsatz ableiten, dass bei einem Gesamtschaden von über 5.000 € die Entfernung aus dem Dienst ohne Hinzutreten weiterer Erschwerungsgründe gerechtfertigt sein könne. Die Höhe des Gesamtschadens sei danach ein Erschwerungsgrund neben anderen (vgl. BVerwG vom 7.3.2017 a.a.O.). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sieht eine Veruntreuung gemeindlicher Gelder in Höhe von 19.954,40 € bereits für sich genommen als geeignet an, die Prognose der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu rechtfertigen (vgl. BayVGH vom 31.01.2017 Az. 16a DS 16.2489).
Bei einer Untreue zu Lasten der Gemeinde handelt es sich um eine massive Verletzung von Kernpflichten durch den Beklagten (vgl. hierzu BayVGH vom 13.7.2011 Az. 16a D 09.3127 m.w.N.). Dieser hat als Erster Bürgermeister der Gemeinde K* … nach den kommunalrechtlichen Bestimmungen eine besondere Vertrauensstellung inne (vgl. hierzu BayVGH vom 1.6.2005 Az. 16a D 04.3502). Ein Erster Bürgermeister als kommunaler Wahlbeamter besitzt weitreichende Befugnisse in der Gemeinde. Dem stehen hohe Anforderungen an seine Führungsqualitäten und seine persönliche Integrität gegenüber. In der Gemeindeverwaltung besitzt er eine Vorbildfunktion für nachgeordnete Bedienstete. Außerdem steht er als gewählter Repräsentant seiner Gemeinde unter besonderer Beobachtung der Gemeindebürger. Sein Fehlverhalten ist demgemäß in besonderem Maße geeignet, das Vertrauen der Öffentlichkeit in eine gesetzestreue Gemeindearbeit zu beschädigen (vgl. BayVGH vom 5.2.2014 Az. 16a D 12.2494).
Dabei ist die Höhe des entstandenen Schadens nicht allein entscheidendes Kriterium für die Maßnahmenbemessung. Es kommt nämlich auf das bisher in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts maßgebliche (deutliche) Übersteigen der Schwelle der Geringwertigkeit, nicht (mehr) an (vgl. BVerwG vom 10.12.2015 a.a.O.). Wie sich dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bezüglich des Zuwendungswiderrufs vom 29. März 2019 entnehmen lässt, bestanden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (allein) insoweit, ob ein vollständiger Widerruf rechtmäßig sei. Das Verwaltungsgericht sei nicht auf das Vorbringen eingegangen, dass sich der Widerruf auf den Teilbetrag beschränken müsse, der die vom Strafbefehl inkriminierten Werke betreffe. Auch bei einer Beschränkung auf diese Gewerke wäre der der Gemeinde K* … entstandene tatsächliche Schaden bereits mehr als nur unerheblich, sowie eine Vermögensgefährdung in voller Höhe gegeben gewesen. Nach Rücknahme der Berufung durch die Gemeinde K* … ist diese Entscheidung des Verwaltungsgerichtes jedoch nunmehr auch in Rechtskraft erwachsen. Der für die Gemeinde K* … durch die strafrechtlich relevanten Handlungen des Beklagten entstandene tatsächliche Schaden beträgt damit 54.843 EUR. Soweit die Beklagtenseite hierzu einwendet, dieser Schaden sei nicht zugrunde zu legen, da dieser auf einer auf einer anderen Motivation beruhenden Rücknahme der Berufung durch die Gemeinde, mithin im Wege einer „überholenden Kausalität“ dem Beklagten nicht zurechenbar, entstanden wäre, folgt dem die Kammer nicht. Bei dieser Auffassung wird zum einen übersehen, dass durch das Verwaltungsgericht R* … mit rechtskräftigen Urteil festgestellt wurde, dass der Komplettwiderruf aufgrund der manipulierten Ausschreibung rechtmäßig ist, und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof anderes nicht bindend und rechtskräftig feststellte, als die Berufung wegen „Zweifel“ zugelassen worden war. Schließlich hat das Verhalten des Beklagten zum Widerruf der bewilligten Subvention geführt, und die Rechtmäßigkeit des Widerrufes wurde durch ein Kollegialorgan mit rechtskräftigem Urteil bestätigt.
In diesem Verfahren geht zusätzlich zulasten des Beklagten, dass er nicht „völlig uneigennützig“ handelte. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Strafbefehls hat der Beklagte auch durchaus im eigenen Interesse bzw. dem seiner Firma gehandelt. Bei den Fensterarbeiten erhielt seine Firma den Zuschlag. Das Gewerk Innenausbau führte diese zum Teil für die Firma S2* … aus. Vor diesem Hintergrund treten auch der „gute Zweck“, nämlich der Bau eines Dorfladens in K* … und der vorgebrachte persönliche und evtl. finanzielle Einsatz des Beklagten, zurück. Selbst wenn er das zu seinen Gunsten vorgebrachte finanzielle und tatsächliche Engagement erbracht haben sollte, befreit ihn dies nicht von seiner Verpflichtung die Vergabevorschriften zu beachten. Zu den Kernpflichten eines Ersten Bürgermeisters gehört insbesondere die strikte Beachtung der Gesetze. Der (gute) Zweck kann nicht die Mittel heiligen. Daher wirkt sich auch der Umstand nicht entlastend aus, dass der Dorfladen mit erheblichem Engagement von Bürgern verwirklicht wurde. Eine solche Mitwirkung und die Beachtung einschlägiger Vorschriften schließen sich zum einen nicht aus. Insbesondere ist für das Gericht auch nicht ersichtlich, weshalb die Anbieter bei einem korrekten Ausschreibungsverfahren gehindert gewesen wären, die gleichen, angeblich „günstigen“ Angebote zu machen. Vielmehr hätte hier auch noch die Möglichkeit bestanden, dass ein Dritter gegebenenfalls ein noch günstigeres Angebot abgibt, und damit den von der Gemeinde so gewünschten Bau des Dorfladens noch kostengünstiger ermöglicht.
Zum anderen reicht auch bereits der Anschein, dass der Beklagte mit seiner Firma als Auftragnehmer von einer Ausschreibung „profitierte“, welche er selbst als 1. Bürgermeister unter massiver Missachtung der einschlägigen Vergaberichtlinien als Auftraggeber vornahm. Dieser (zumindest) Anschein der Vermengung von kommunalen und privaten Interessen führt schon deshalb zu einem massiven Vertrauensverlust in die Integrität der öffentlichen Verwaltung, weil der Verdacht einer korruptiven Beziehung im Raum steht, selbst wenn der Beklagte tatsächlich aus dieser Geschäftsbeziehung keinen Gewinn bezogen haben sollte. Hierin liegt auch ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG und Art. 79 Abs. 1 BayBG. Der Beklagte hätte als Bürgermeister aufgrund der offensichtlichen Interessenkonflikte nicht für die Gemeinde tätig werden dürfen, soweit er auch als „Mietbieter“ direkt oder indirekt im Vergabeverfahren involviert war.
Gerade die korrekte Einhaltung der entsprechenden Vergaberichtlinien hat u.a. den Zweck die Rechtmäßigkeit sowie die Uneigennützigkeit einer Vergabe zu gewährleisten und zu dokumentieren, sowie eine entsprechende Transparenz diesbezüglich auch im Hinblick auf eine spätere Überprüfbarkeit zu schaffen. Wenn nun ein maßgeblicher Vertreter der Behörde die Aufträge „selbstherrlich“ mitvergibt, systematisch bewusst und vorsätzlich die einschlägigen Regeln außer Acht lässt um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, das bei Einhaltung der Regeln vielleicht so nicht erreichbar wäre, verstößt dieser in schwerwiegender Weise gegen seine Verpflichtungen. Dem Beklagten wurde strafrechtlich weder Bestechlichkeit noch Vorteilsnahme zur Last gelegt. Gleichwohl liegt es in der Natur der selbstgeschaffenen Intransparenz und der offensichtlichen Interessenkonflikte zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer im obigen Sinne bei einer Vergabe, dass der Anschein eines Korruptionsdeliktes bzw. einer korruptiven Verbindung entsteht, sofern auch der Beklagte persönlich „Nutznießer“ der rechtswidrigen Vergabeentscheidung ist. Der damit realisierte schwere Verstoß gegen die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten kann auch nicht dadurch geheilt werden, dass im Nachhinein erklärt wird, die Leistungen wären zu einem weit unter dem üblichen Marktpreis stehenden Preis ausgeführt worden, und letztlich wäre dadurch der Gemeinde ein wirtschaftlicher Vorteil entstanden, unabhängig davon, dass diese Behauptung weder belegt worden ist, noch für das Gericht auf der Hand liegt, nachdem der Beklagte als Subunternehmer der Firma S2* … 10% „Provision“ für die Weitergabe der Aufträge der Firma S2* … gewährte und der Inhaber der Firma S2* … in seiner Beschuldigten-Vernehmung angegeben hatte, sein Angebot wäre zu marktüblichen Konditionen erstellt worden. Diese Provision, welche über die Gesamtauftragssumme letztlich von der Gemeinde mit bezahlt wurde, und für die keine konkrete Gegenleistung erbracht wurde, passt nicht zum grundsätzlichen Vorbringen des Beklagten, eventuell entstandene Fehler seien ausschließlich deshalb begangen worden, weil man für die Gemeinde möglichst günstig bauen wollte. Auch der vom Beklagten behauptete „Nichtgewinn“ könnte zudem einen wirtschaftlichen Vorteil darstellen, etwa weil aufgrund einer fehlenden Auftragslage fixkostenbedingte Ausgaben zum Teil gedeckt und damit auflaufende betriebliche Verluste minimiert werden können. Inwieweit beim Beklagten ein Verstoß gegen § 42 Abs. 1 BeamtStG (Annahme eines Vorteils für sich in Bezug auf das ausgeübte Amt) tatsächlich vorliegt, kann jedoch offenbleiben. Alleine der, durch das vorsätzlich rechtswidrige Verhalten des Beklagten entstandene, schuldhaft herbeigeführte Verdacht reicht bereits für die Annahme der entsprechenden Dienstpflichtverletzungen aus. Der Beklagte wusste auch um diesen Interessenkonflikt. Dies geht unter anderem aus entsprechenden Warnungen von Mitgliedern der Gemeindeverwaltung hervor (vergleiche Zeugenaussagen von S3* … vom 09.07.2015, Sonderband Vernehmung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens).
Der Beklagte hat durch sein Verhalten das Vertrauen der Allgemeinheit deshalb endgültig verloren. Zwar mag es bei der Bevölkerung vor Ort und im Gemeinderat breite Unterstützung für ihn geben. Dies ergibt sich auch aus der Wiederwahl des Beklagten als 1. Bürgermeister im März 2020. Allerdings geht der Begriff der „Allgemeinheit“ über den jeweiligen Ort hinaus. Entscheidungsmaßstab ist insoweit, in welchem Umfang die Allgemeinheit dem Beamten noch Vertrauen in eine zukünftig pflichtgemäße Amtsausübung entgegenbringen kann, wenn ihr das Dienstvergehen einschließlich der belastenden und entlastenden Umstände bekannt würde (vgl. BVerwG vom 28.2.2013 Az. 2 C 62/11). Nach den hierbei anzusetzenden objektiven Kriterien ist wegen der oben dargelegten Umstände von einem endgültigen Vertrauensverlust auszugehen. Auch aus der Wiederwahl des Beklagten ergibt sich keine andere Bewertung in dem Sinne, dass die Bürger die Gemeinde mit dem Beklagten und den getroffenen Entscheidungen einverstanden wären, und diese insoweit dadurch gerechtfertigt sind. Zwar werden kommunale Wahlbeamte wie der Beklagte nicht nach beamtenrechtlichen Kriterien ernannt, sondern auf Grund einer demokratischen Wahl in ihr Amt berufen. In ihrer wesentlichen Funktion als Teil der vollziehenden Gewalt unterscheiden sie sich aber nicht von den Berufsbeamten (vgl. auch BayVerfGH, Entscheidung vom 19. April 1989 - Vf. 1 - VI/88 -, NVwZ 1990, S. 357). Die Bindung an Recht und Gesetz als Element der Rechtsstaatlichkeit sowie die Gemeinwohlorientierung sind Direktiven jeder staatlichen Verwaltung, auch der Kommunalverwaltung. Im Hinblick auf ihre Rechtsstellung als Beamte darf der Gesetzgeber anordnen, dass die Amtstätigkeit der kommunalen Wahlbeamten auf der Grundlage des für alle Beamten geltenden Disziplinarrechts überprüft und gegebenenfalls als Dienstpflichtverletzung geahndet werden kann. Weder das Demokratieprinzip noch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gebieten es, die kommunalen Wahlbeamten von einer solchen Rechtskontrolle freizustellen und es allein dem Wähler zu überlassen, durch Abwahl oder Wiederwahl über ihre bisherige Amtstätigkeit zu entscheiden. Angesichts des Zwecks des Disziplinarrechts - die Sicherstellung einer leistungsfähigen Verwaltung - ist seine Anwendung auf kommunale Wahlbeamte nicht zu beanstanden (vgl. zum Ganzen aus der Perspektive der Bayerischen Verfassung auch BayVerfGH, Entscheidung vom 19. April 1989 - Vf. 1 - VI/88 -, a.a.O.).
V.
Anerkannte (klassische) Milderungsgründe, die typisierend Beweggründe oder Verhaltensweisen erfassen, die regelmäßig Anlass für eine noch positive Persönlichkeitsprognose geben, sind nicht erkennbar. Das Verhalten des Beklagten stellt sich nicht als unbedachte persönlichkeitsfremde Gelegenheitstat in einer besonderen Versuchungssituation dar (vgl. hierzu BVerwG vom 24.2.1999 Az. 1 D 31.98). Vielmehr geschahen die Handlungen über einen längeren Zeitraum hinweg. Der Milderungsgrund der freiwilligen Offenbarung des Fehlverhaltens oder der Wiedergutmachung des Schadens vor der Tatentdeckung liegt erkennbar auch nicht vor. Anhaltspunkte für das Vorliegen sonstiger Milderungsgründe sind nicht ersichtlich.
VI.
Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis ist auch verhältnismäßig. Sie verfolgt neben der Wahrung des Vertrauens in die pflichtgemäße Aufgabenerfüllung durch die öffentliche Verwaltung auch die Zwecke der Generalprävention, der Gleichbehandlung und der Wahrung des Ansehens des öffentlichen Dienstes. Ist - wie hier - durch das Gewicht des Dienstvergehens und mangels durchgreifender Milderungsgründe das Vertrauen endgültig zerstört und kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, der Beamte werde dem Gebot, seine Aufgaben pflichtgemäß zu erfüllen, Rechnung tragen, erweist sich seine Entfernung aus dem Dienst daher als die erforderliche sowie geeignete Maßnahme, den aufgezeigten Zwecken des Disziplinarrechts Geltung zu verschaffen. Abzuwägen sind dabei das Gewicht des Dienstvergehens und der dadurch eingetretene Vertrauensschaden einerseits und die mit der Verhängung der Höchstmaßnahme für den Beamten einhergehende Belastung andererseits. Ist das Vertrauensverhältnis endgültig zerstört, stellt die Entfernung aus dem Dienst die angemessene Reaktion auf das Dienstvergehen dar. Die Auflösung des Dienstverhältnisses beruht dann nämlich auf der schuldhaften Pflichtverletzung durch den Beamten und ist diesem als für alle öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnisse vorhersehbare Folge bei derartigen Pflichtverletzungen zuzurechnen.
Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis ist auch nicht wegen der damit einhergehenden Härten für den Beklagten unverhältnismäßig. Ein Beamter, der das Vertrauensverhältnis zu seinem Dienstherrn durch sein Verhalten zerstört hat, kann grundsätzlich schon nicht verlangen, dass sein Beamtenverhältnis zur Vermeidung sozialer oder gesellschaftlicher Härten unverändert beibehalten wird. Er darf dadurch zwar nicht unter das Existenzminimum fallen. Ihn davor zu bewahren, ist jedoch allein Aufgabe der sozialrechtlichen Vorschriften und Leistungen (vgl. BayVGH vom 24.5.2017 Az. 16a D 15.2267 m.w.N.). Dies gilt vorliegend umso mehr, als es sich beim Beklagten um einen Bürgermeister im Ehrenamt mit einer Aufwandsentschädigung handelt. Hier steht der gesellschaftliche Ansehensverlust im Vordergrund, eine Existenzsicherung soll mit der Aufwandsentschädigung nicht gewährleistet werden. Diesen hat der Beklagte letztlich durch sein strafrechtlich relevantes, vorsätzliches Fehlverhalten selbst verursacht.
Die Kostenentscheidung folgt aus Art. 72 Abs. 1 Satz 1 BayDG. Gerichtsgebühren werden nicht erhoben, Art. 73 Abs. 1 Satz 1 BayDG.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
1Tatbestand:
2Der Kläger ist seit Februar 2006 unter der Beitragsnummer Y. bei dem Beklagten als Rundfunkteilnehmer erfasst.
3Mit Schreiben vom 19. März 2016 wurde der Kläger durch den Beklagten auf die Fälligkeit der Rundfunkbeiträge für den Zeitraum Anfang April bis Ende Juni 2016 in Höhe von 52,50 € hingewiesen. Mit Schreiben vom 1. Juli 2016 wurde er an die Zahlung des Betrages erinnert.
4Mit Schreiben vom 5. August 2016 wurde er erneut auf die Fälligkeit der Rundfunkbeiträge am 15. August 2016 hingewiesen. Zwischenzeitlich hatte der Kläger am 19. Juli 2016 50,- € gezahlt. In dem Schreiben wurde er auf den aktuell offenen Gesamtbetrag von noch 55,- Euro hingewiesen und mit weiterem Schreiben vom 1. Oktober 2016 an die Zahlung erinnert.
5Mit dem streitgegenständlichen Festsetzungsbescheid vom 2. Dezember 2016 wurden die noch offenen Beiträge für den Zeitraum vom 1. April 2016 bis zum 30. September 2016 in Höhe von 63,00 € (55,- € offener Beitrag zuzüglich 8,- € Säumniszuschlag) festgesetzt. Der Bescheid wurde am 12. Dezember 2016 zur Post gegeben.
6Mit Schreiben vom 15. Dezember 2016 legte der Kläger Widerspruch gegen diesen Bescheid ein. Im Wesentlichen machte er zur Begründung geltend, der Rundfunkbeitrag greife in seine durch die Grundrechte geschützten Rechtspositionen ein. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei massiv überfinanziert, die Berichterstattung sei inhaltlich unausgewogen und überschreite inhaltlich auch die gesetzlich vorgesehene Grundversorgung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.Er werde die Beiträge und Säumniszuschläge begleichen, allerdings lediglich zur Abwendung einer Zwangsvollstreckung, ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die den Beteiligten bekannte Begründung dieses Widerspruchsschreibens Bezug genommen.
7Mit Widerspruchsbescheid vom 23. April 2018 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Auf die Begründung dieses den Beteiligten bekannten Bescheides wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
8Der Kläger hat am 22. Mai 2018 Klage erhoben.
9Zur Begründung rügt er einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot, da die Zahlungsmodalitäten unklar sein. Die Fälligkeit des Rundfunkbeitrags sei lediglich mit der „Mitte eines Drei -Monats-Zeitraums“ definiert. Dies sei zu unbestimmt, da weder klar sei wann dieser Drei Monats Zeitraum beginne noch die Mitte des Zeitraums rechnerisch zu bestimmen sei. Im Übrigen verstoße der Rundfunkbeitrag gegen das Übermaßverbot bzw. das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie weitere Grundrechte. Hierzu wiederholt und vertieft er die Begründung seines Widerspruchs.
10Der Kläger beantragt,
11den Festsetzungsbescheid vom 2. Dezember 2016 ersatzlos aufzuheben.
12Der Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Zur Begründung nimmt er Bezug auf den Widerspruchsbescheid und vertritt ergänzend die Ansicht, der Rundfunkbeitrag sei insgesamt - auch hinsichtlich der Grundrechte des Klägers - rechtmäßig und verfassungsgemäß. Dies betreffe sowohl die Höhe als auch die Art und Weise der Erhebung.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere der Einzelheiten der Rechtsausführungen der Beteiligten, wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten einschließlich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (Beiakten Heft 1)
16Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
17Entscheidungsgründe:
18Die Entscheidung erfolgt gemäß Beschluss der Kammer vom 12. Juni 2018 durch den Berichterstatter als Einzelrichter (§ 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung ‑ VwGO -) ohne mündliche Verhandlung, auf welche die Beteiligten verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
19Die zulässige Klage ist unbegründet.
20Der angefochtene Beitragsbescheid vom 2. Dezember 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger weder in seinen einfachgesetzlich geschützten Rechtspositionen noch in seinen Grundrechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
21Rechtsgrundlage für die Erhebung und Festsetzung des Rundfunkbeitrags von - seit dem 1. April 2015 - monatlich 17,50 € sind die Regelungen in §§ 2, 3, 7 Abs. 1, S. 1 Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) i.V.m. § 8 Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag (RFinStV), in der jeweils gültigen Fassung, der durch Zustimmungsgesetz des nordrheinwestfälischen Landtags nach Art. 66 Satz 2 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zum 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 13. Dezember 2011 (GV.NRW.2011 S. 675) mit Wirkung ab 1. Januar 2013 formell nordrhein-westfälisches Landesrecht geworden ist.
22Rechtsgrundlage für den Erlass eines Beitragsbescheids als Festsetzungsbescheid ist § 10 Abs. 5 RBStV. Nach dieser Vorschrift werden rückständige Rundfunkbeiträge durch die zuständige Landesrundfunkanstalt festgesetzt.
23Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig.
24Die für den Erlass eines Beitragsbescheids als Festsetzungsbescheid notwendigen Voraussetzungen des § 10 Abs. 5 RBStV lagen vor.
25Nach § 2 Abs. 1 RBStV ist im privaten Bereich für jede Wohnung von deren Inhaber ein Rundfunkbeitrag zu entrichten. Der Kläger ist, dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig, Inhaber einer Wohnung im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 RBStV.
26Der Kläger hat die mit dem Bescheid geltend gemachten Beiträge nicht zum Fälligkeitszeitpunkt gezahlt, die festgesetzten Beiträge waren daher bei Erlass des Bescheides rückständig.
27Die Fälligkeit der vom Kläger geschuldeten Beitragszahlung ist auch hinreichend bestimmt.Die Pflicht zur Entrichtung des Rundfunkbeitrages beginnt mit dem Ersten des Monats, in dem der Beitragsschuldner erstmals die Wohnung innehat, § 7 Abs. 1 RBStV. Der Rundfunkbeitrag ist monatlich geschuldet. Er ist in der Mitte eines Dreimonatszeitraumes für jeweils drei Monate zu entrichten, § 7 Abs. 3 RBStV und damit zu diesem Zeitpunkt fällig.
28Diese Fälligkeitsbestimmung in § 7 Abs. 3 RBStV ist zwar nicht in dem Sinne bestimmt, dass in der Norm selbst ein festes Datum für die Fälligkeit genannt ist. Dies ist auch nicht erforderlich. Es ist in der Rechtsprechung und Lehre allgemein anerkannt, dass Gesetze auch sogenannte „unbestimmte Rechtsbegriffe“ verwenden können, wenn sie hinreichend bestimmbar sind. Dies ist bei der Angabe der Fälligkeit in § 7 Abs. 3 RBStV der Fall, auch wenn, wie der Kläger zutreffend anmerkt, dass ‑ was jedem durchschnittlich gebildeten und mit dem System des gregorianischen Kalenders vertrauten Menschen bekannt ist - die Monate eine unterschiedliche Dauer zwischen 28 und 31 Tagen aufweisen. Um die Berechnung von Zeiträumen zu vereinfachen, haben sich in der Geschäftswelt deshalb allgemein die Grundsätze durchgesetzt, dass bei der Bestimmung eines Zeitraums, wenn er sich nach Monaten oder nach Jahren bestimmt, der halbe Monat zu 15, der Monat zu 30 und das Jahr zu 365 Tagen gerechnet werden und die Monatsmitte stets der 15. des Monats ist. Diese, seit dessen Inkrafttreten im Jahr 1900, auch in §§ 189, 191 und 192 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) kodifizierten Grundsätze sind nach allgemeiner Auffassung auch analog auf vergleichbare Konstellationen anzuwenden.
29Vgl. Münchener Kommentar zum BGB / Grothe, 8. Aufl. 2018, Kommentierung zu §§ 189, 191 und 192, LG Berlin, Urteil vom 2. September 1999 - 62 S 107/99 -, NJW-RR 2000,157
30Mithin ist die Mitte des in § 7 Abs. 3 RBStV angegebenen Dreimonatszeitraums hinreichend bestimmbar. Die Vorschrift verstößt somit nicht gegen den Bestimmtheitsgrundsatz.
31Soweit der Kläger im Übrigen die Überfinanzierung des öffentlich- rechtlichen Rundfunksystems und den Programminhalt rügt, tragen diese Monita sein Klagebegehren ebenfalls nicht.
32Es ist insoweit sowohl in der Rechtsprechung der Kammer, als auch in der ober- und höchstgerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass der Rundfunkbeitrag an sich, die Art und Weise seiner Erhebung sowie das Verfahren zur Bestimmung seiner Höhe und die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bezüglich der Programminhalte grundrechtskonform sind.
33Die gesamte Argumentation des Klägers bietet insoweit keinerlei neue Argumentationsansätze, so dass auf eine Auseinandersetzung mit diesen hinlänglich bekannten und in der Rechtsprechung seit langem geklärten Argumenten hier verzichtet und statt dessen auf die dazu ergangene Rechtsprechung vollinhaltlich Bezug genommen werden kann.
34Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteile vom 10. Dezember 2014 ‑ 14 K 322/14 ‑; ‑ 14 K 395/14 ‑ und ‑ 14 K 3068/14 ‑, jeweils m.w.N.; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein - Westfalen, Urteile vom 12. März 2015 - 2 A 2311/14 -, - 2 A 2422/14 - und - 2 A 2423/14 -; sämtlich veröffentlicht unter www.nrwe.de; Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 7. November 2016 - 1 A 25/15 -, juris; Bundesverwaltungsgericht, Urteile vom 18. März 2016, 6 C 6.15 / 7.15 / 8.15 / 22.15 / u.a., veröffentlicht unter www.bverwg.de; Bundesverfassungsgericht, Urteile vom 22. Februar 1994 - 1 BvL 30/88 _, BVerfGE 90,60ff und vom 11. September 2007 - 1 BvR 2270 - 1 BvR 2270/05 u.a., BVerfGE 119 ff und vom 18. Juli 2018 ‑ 1 BvR 1675/16 - u.a., abzurufen über die Internetseite des Bundesverfassungsgerichts; Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13. Dezember 2018 - C-492/17 -, NJW 2019, Seite 577ff.
35Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
36Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
37Rechtsmittelbelehrung:
38Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
391. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
402. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
413. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
424. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
435. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
44Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV), bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, einzureichen.
45Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
46 Herfort
47Beschluss
48Der Streitwert wird auf die Stufe bis 500,- € festgesetzt.
49Gründe:
50Die Entscheidung beruht auf § 52 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes und richtet sich nach dem in dem streitgegenständlichen Bescheid festgesetzten Rundfunkbeitrag.
51Rechtsmittelbelehrung:
52Gegen diesen Beschluss findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
53Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV), beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.
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Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 5, vom 31. August 2020 aufgehoben und die Sache an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die zugehörigen notwendigen Auslagen des Untergebrachten trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
1
Gegen den Beschwerdeführer hat das Landgericht Hamburg mit Urteil vom 24. August 2010 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren verhängt sowie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Entscheidung ist seit dem 1. September 2010 rechtskräftig, seitdem wird die Maßregel in der Klinik für forensische Psychiatrie der Asklepios-Klinik N.-O. vollstreckt. Zuvor war dort bereits ab dem 13. August 2010 eine gegen den Beschwerdeführer ergangene Anordnung der einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vom 10. August 2010 vollzogen worden.
2
Das Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 5 als Strafvollstreckungskammer, hat mit Entscheidungen vom 31. August 2011, vom 31. August 2012, vom 30. August 2013, vom 19. August 2014, vom 1. September 2015, vom 18. August 2016, vom 1. August 2017, vom 2. August 2018, vom 28. August 2019 und zuletzt vom 31. August 2020 die Fortdauer der Unterbringung angeordnet.
3
Gegen die Entscheidung vom 31. August 2020, auf richterliche Verfügung vom selben Tage der mit Beschluss vom 20. Juli 2020 für das laufende Überprüfungsverfahren beigeordneten Verteidigerin des Untergebrachten zugestellt am 14. September 2020, hat letztere für den Untergebrachten am 21. September 2020 sofortige Beschwerde eingelegt.
4
Mit Stellungnahme vom 8. Oktober 2010 hat die Generalstaatsanwaltschaft auf Verwerfung der sofortigen Beschwerde angetragen.
II.
5
Die sofortige Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig erhoben. In der Sache hat sie vorläufigen Erfolg.
6
1. Die sofortige Beschwerde gegen die Anordnung der Fortdauer der Maßregel und ihrer Vollstreckung, mithin zugleich gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollstreckung und der Erklärung der Maßregel für erledigt, ist nach § 67d Abs. 6 StGB i.V.m. §§ 463 Abs. 1 und Abs. 6 Satz 1, 462 Abs. 3 Satz 1 StPO, § 67d Abs. 2 StGB i.V.m. §§ 463 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1, 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt worden, § 311 Abs. 2 StPO.
7
2. Die angefochtene Entscheidung leidet an einem schwerwiegenden Verfahrensfehler, der zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer führt. Die von der Kammer gem. § 463 Abs. 4 Satz 1 Satz StPO eingeholte gutachterliche Stellungnahme der Asklepios-Klinik N.-O., in der der Verurteilte untergebracht ist, ist, vom 16. Juni 2020, genügt den an solche Stellungnahmen zu stellenden inhaltlichen Anforderungen nicht.
8
a) Nach § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO ist im Rahmen der nach § 67e StGB erforderlichen Überprüfung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB eine gutachterliche Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung einzuholen, in der der Verurteilte untergebracht ist.
9
Die Vorschrift ist durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB und zur Änderung anderer Vorschriften vom 8. Juli 2016 (BGBl. I. S. 1610, 1611; vgl. hierzu BT-Drucks. 18/7244) neu gefasst worden. Ausweislich der Begründung des Gesetzesentwurfs verfolgt die Änderung unter anderem das Ziel, die prozessualen Sicherungen zur Vermeidung unverhältnismäßig langer Unterbringungen in § 463 Abs. 4 und 6 StPO durch Konkretisierung der Anforderungen an die jährlichen gutachterlichen Stellungnahmen der Klinik auszubauen (BT-Drucks. 18/7244 Bl. 13).
10
In der konkreten Begründung zur Neufassung des § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO (BT-Drucks. 18/7244 Bl. 36 f.) heißt es unter anderem:
11
„Es wird gesetzlich klargestellt, dass auch diejenigen Fortdauerentscheidungen, denen kein (externes) Sachverständigengutachten zugrunde liegt, auf einer fundierten fachlichen Bewertung beruhen müssen. Aus der freiheitssichernden Funktion des Artikel 2 Absatz 2 GG folgt, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben müssen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2014, 2 BvR 1795/12 u. a., bei juris Rn. 37).
12
Durch die ausdrückliche Normierung wird der Stellenwert der gutachterlichen Stellungnahmen der Maßregelvollzugseinrichtung als Grundlage der gerichtlichen Fortdauerentscheidung betont. Den Staatsanwaltschaften und Gerichten soll die Neuregelung verdeutlichen, dass sie gehalten sind, der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entsprechende Anforderungen an Qualität und Belastbarkeit der Stellungnahmen zu stellen.
13
Durch die Begrifflichkeit „gutachterliche Stellungnahme“ soll diese in zwei Richtungen abgegrenzt werden: Auf der einen Seite genügt ein bloßer „Arztbrief“ als Grundlage für die gerichtliche Fortdauerentscheidung nicht. Vielmehr müssen in der Stellungnahme Ausführungen dazu enthalten sein, ob und welche Art rechtswidrige Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz), wie hoch die Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist und inwieweit im Falle einer Aussetzung der Maßregel zur Bewährung im Rahmen der Führungsaufsicht Maßnahmen der Aufsicht und Hilfe (§§ 68a, 68b StGB) als weniger belastende Maßnahmen ausreichen können, um den Zweck der Maßregel zu erreichen (BVerfG, a. a. O., bei juris Rn. 40, 41).
14
Zudem sollten sich in der Stellungnahme Ausführungen dazu finden, welche Behandlungsmaßnahmen durchgeführt wurden, wie der aktuelle Behandlungsverlauf ist, welche (weiteren) Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten in Betracht gezogen werden sollten, welche Vollzugslockerungen gewährt werden konnten, ob sie erfolgreich waren und welche Lockerungen anstehen bzw. anzuraten sind. Gegebenenfalls sollte sich die Stellungnahme auch zu möglichen Alternativen zur aktuellen Behandlungs- und Unterbringungsform äußern sowie einen Zeitplan für eine etwaige Entlassungsvorbereitung enthalten....
15
Trotz dieser Anforderungen können seitens der Gerichte an die Stellungnahmen der Maßregelvollzugseinrichtungen nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie an ein Sachverständigengutachten. Wird seitens der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts zur Beurteilung der Voraussetzungen für die Fortdauer und um der Sachaufklärungspflicht zu genügen, ein solches für erforderlich erachtet, so muss dieses ausdrücklich beauftragt ... werden.“
16
Hiernach gliedern sich die gesetzgeberischen Anforderungen an die Stellungnahmen nach § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO in erforderliche Inhalte, die darin enthalten sein „müssen“, sowie weitere, mindestens wünschenswerte Inhalte, die in der Stellungnahme enthalten sein „sollen“.
17
Die hiernach erforderlichen Inhalte schließen jedenfalls Ausführungen dazu ein, ob und welche Art rechtswidrige Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung im Hinblick auf „Häufigkeit und Rückfallfrequenz“ ist, wie hoch die Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist und inwieweit im Falle einer Aussetzung der Vollstreckung weniger belastende Maßnahmen ausreichen können, um den Zweck der Maßregel zu erreichen (Senat, Beschl. v. 15. November 2016, Az.: 2 Ws 175-176/16; Senat, Beschl. v. 21. Oktober 2019, Az.: 2 Ws 108/19; KG Beschl. v. 20. Februar 2017, Az.: 5 Ws 17/17 (juris); Meyer-Goßner/Schmitt § 463 Rn. 10a). Dass eine aussagekräftige prognostische Würdigung der Gefährlichkeit des Untergebrachten, sofern diese zu seinen Ungunsten ausfällt, zu Konflikten zwischen dem behandelnden Personal und dem Untergebrachten führen und auf diese Weise die therapeutische Arbeit erheblich belasten kann, hat der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO offenbar in Kauf genommen.
18
b) Den dargestellten (Mindest-)Anforderungen genügt die Stellungnahme der Asklepios-Klinik N.-O. vom 16. Juni 2020 nicht. Abgesehen davon, dass diese – was wünschenswert wäre – keinen der Frage der Gefährlichkeitsprognose ausdrücklich gewidmeten Abschnitt enthält, lässt sich der Stellungnahme auch unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Darstellung praktisch keine fachliche Einschätzung des Risikos künftiger Straftaten des Untergebrachten aus forensisch-psychiatrischer Sicht entnehmen.
19
aa) Die Stellungnahme beschränkt sich im Eingang auf eine Darstellung der mit der Bewertung des Sachverständigen Dr. B. aus dem Jahr 2019 übereinstimmenden diagnostischen Beurteilung des Untergebrachten. Hieran schließt sich eine – beschreibend abgefasste und Wertungen in aller Regel vermeidende – Darstellung des im Vergleich zu früheren Zeiträumen zumindest tendenziell günstigeren Behandlungsverlaufs im seit der vorangehenden Stellungnahme vergangenen Zeitraum an. Abschließend wird ohne nähere Erläuterung oder Begründung mitgeteilt, dass „aus dem dargestellten Verlauf“ eine Aussetzung der Maßregel derzeit aus therapeutischer Sicht nicht befürwortet werden könne. Das Protokoll der mündlichen Anhörung des Verurteilten unter Beteiligung des Diplom-Psychologen ... als Vertreters der Maßregelvollzugseinrichtung am 31. August 2020 enthält im Hinblick auf die Beurteilung der Gefährlichkeit des Untergebrachten keine wesentlichen Ergänzungen.
20
bb) Der Stellungnahme fehlt eine aussagekräftige forensisch-psychiatrische Würdigung des Behandlungsverlaufs einschließlich der offenbar jedenfalls in geringem Umfang erzielten Behandlungsfortschritte des Untergebrachten ebenso wie eine am aktuellen Behandlungsstand orientierte Gesamtbeurteilung der von ihm ausgehenden Gefahren.
21
Letztlich haben die Ausführungen des Klinikum schon nicht den Charakter einer „gutachterlichen Stellungnahme“ i. S. d. § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO, da ein begutachtendes Element praktisch vollständig fehlt. Weder die Frage, ob und gegebenenfalls welche Straftaten mit welcher Wahrscheinlichkeit von dem Verurteilten zu erwarten sind, noch diejenige, welche Faktoren dabei aus aktueller psychiatrischer Sicht eine maßgebliche Rolle spielen, finden in der Stellungnahme Erwähnung. Auch eine konkrete Bezugnahme auf frühere Ausführungen, die gegebenenfalls ausreichend sein kann, wenn nachvollziehbar begründet ist, dass sich an der Einschätzung durch die aktuelle Entwicklung nichts geändert hat, fehlt.
22
Lediglich beispielhaft wird auf verschiedene sich aus dem dargestellten Behandlungsverlauf ergebende Umstände hingewiesen, denen für die aktuelle prognostische Beurteilung Bedeutung zukommen dürfte, deren fachlicher prognostischer Bewertung sich die Stellungnahme aber enthält.
23
Dazu gehört etwa der Umstand, dass der Untergebrachte über Gewaltphantasien gegenüber Mitpatienten und Behandlern berichtet hat, in die er sich „flüchte“, wenn er sich in bestimmten Situationen oder Konflikten unterlegen fühle und verbal nicht weiterwisse, und die er nur kontrollieren könne, wenn er aus der Situation „herausgehe“. Inwiefern im Falle der Entlassung des Untergebrachten mit einer erfolgreichen, die tatsächliche Ausübung von Gewalt vermeidenden Kontrolle solcher Phantasien zu rechnen ist, wird in der Stellungnahme nicht beurteilt.
24
Vergleichbares gilt für die Darstellung, wonach der Untergebrachte im Rahmen einer Vollzugslockerung einen „alkoholisierten Bettler“ und Alkoholauslagen im Schaufenster eines Kiosks gesehen und dies ihn nach eigenen Angaben „getriggert“ habe. Auch insoweit findet sich in der Stellungnahme eine lediglich beschreibende Darstellung, aus der keine prognoserelevante Schlüsse, etwa im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit eines Alkohol- oder Drogenkonsums des Untergebrachten im Falle der Entlassung aus der Unterbringung und die dann zu erwartenden weiteren Folgen, insbesondere im Hinblick auf eine dadurch möglicherweise gesteigerte Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten, gezogen werden. Nichts anderes gilt für den von dem Untergebrachten beklagten Suchtdruck und dem von ihm geäußerten Wunsch nach einer Substitutionsbehandlung.
25
Soweit die Stellungnahme außerdem offenbar – insoweit sind die verwendeten Formulierungen etwas unklar – von einem Fortbestehen der im Ursprungsverfahren angenommenen psychiatrischen Diagnosen des Untergebrachten einschließlich eines sexuellen Sadismus (nach DSM IV: 302.84, mittlerweile veraltet) ausgeht, enthält sie zur Entwicklung der verschiedenen Erkrankungen ebenso wenig konkrete Ausführungen wie zu etwaigen Auswirkungen auf die Gefährlichkeit des Verurteilten. Auch dazu, in welcher Weise die aktuelle Medikamentengabe sich auf die bei dem Untergebrachten vorliegenden Störungen auswirkt, enthält die Stellungnahme keine Angaben. Sie lässt daher auch keine Beurteilung der Frage zu, welchen Einfluss die – vorübergehende – Verweigerung der Einnahme der Medikation durch den Untergebrachten auf seine Gefährlichkeit hat.
26
Schließlich wird auch der Umstand, dass eine „tiefgreifende inhaltliche Auseinandersetzung“ des Untergebrachten mit seinen „kriminogenen Einstellungen“ (nur) „zum Teil erfolgt“ sei, weder hinsichtlich der insofern offenbar erzielten Teilergebnisse näher erläutert, noch einer prognostischen Würdigung unterzogen.
27
In der Gesamtbetrachtung lässt sich der Stellungnahme lediglich entnehmen, dass der Untergebrachte nach Auffassung der behandelnden Ärzte „aus therapeutischer Sicht" noch in erheblichem Umfang weiterer Behandlung bedarf. Eine aussagekräftige Beurteilung der Gefährlichkeit des Untergebrachten im vorstehend dargestellten Sinne ergibt sich daraus nicht.
28
Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch die Mitteilung der Ergebnisse aus der Anwendung statistischer Prognoseinstrumente ohne eine ergänzende klinische, am konkreten Zustand und Behandlungsverlauf orientierte Würdigung den an die gutachterliche Stellungnahme nach § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO zu stellenden Anforderungen in der Regel nicht gerecht werden dürfte.
29
2. Der Verfahrensfehler führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht, das nach – kurzfristiger – Einholung einer den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechenden gutachterlichen Stellungnahme gem. § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO erneut den Verurteilten mündlich anzuhören und in der Sache zu entscheiden haben wird.
30
a) Zwar hat nach § 309 Satz Abs. 2 StPO bei Vorliegen einer für begründet erachteten Beschwerde grundsätzlich das Beschwerdegericht selbst die in der Sache erforderliche Entscheidung zu treffen. Eine Zurückverweisung der Sache an das in der Vorinstanz entscheidende Gericht ist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig (vgl. nur: Meyer-Goßner/Schmitt § 309 Rn. 7).
31
Die Zurückverweisung kommt aber in Fällen durch das Beschwerdegericht nicht behebbarer Verfahrensmängel in Betracht (Schmitt aaO. Rn. 8). Ein solcher liegt vor, wenn das weitere Verfahren eine mündliche Anhörung des Verurteilten nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO erfordert, die vor der Strafvollstreckungskammer stattzufinden hat (OLG Hamm Beschl. v. 7. Juli 2011, Az.: 1 Ws 247/11; KK-StPO/Zabeck § 309 Rn. 7 m.w.N.; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 454 Rn. 46).
32
b) So liegt der Fall hier. Da die neu einzuholende oder jedenfalls um eine fachlich fundierte prognostische Würdigung der von dem Untergebrachten ausgehenden Gefährlichkeit zu ergänzende Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung für die sachliche Entscheidungsgrundlage des Gerichts von zentraler Bedeutung sein wird, wird im weiteren Verfahren der Untergebrachte dazu gem. §§ 463 Abs. 3 Satz 1, 454 Abs. 1 Satz 3 StPO (erneut) mündlich anzuhören sein.
33
Ob darüber hinaus auch ein Vertreter der Maßregelvollzugseinrichtung erneut mündlich anzuhören sein wird, wird die Strafvollstreckungskammer unter Gesichtspunkten der nach Ergänzung der Stellungnahme der Klinik erforderlichen Sachaufklärung zu entscheiden haben. Die aus § 463 Abs. 4 Satz 7, 454 Abs. 2 Satz 3 StPO folgende Verpflichtung gilt nicht generell auch für die Verfasser von Stellungnahmen nach § 463 Abs. 4 Satz 1 StPO (Senat, Beschl. v. 2. September 2020, Az.: 2 Ws 106/20; OLG Hamm Beschl. v. 13. Februar 2020, Az.: III-3 Ws 7/20 (juris)).
III.
34
Die Kosten- und Auslagenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO. Wenngleich ein Fall des § 309 Abs. 2 StPO, in dem das Beschwerdegericht zugleich die in der Sache abschließend erforderliche Entscheidung trifft, nicht vorliegt und die Beschwerde deshalb nur vorläufigen Erfolg hat, hat eine Kosten- und Auslagenentscheidung zu ergehen. Da der weitere Fortgang des Verfahrens nicht vorherzusehen ist, ist kosten- und auslagenrechtlich insoweit bereits ein Verfahrensabschluss im Sinne des § 464 StPO gegeben (Senat, Beschl. v. 21. September 2016, Az.: 2 Ws 186/16).
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20. Mai 2020 - 17 K 13739/17 - wird abgelehnt.Der Kläger trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Zulassungsverfahrens.
Gründe
1 Der Kläger wendet sich unter Hinweis auf die unangemessene Dauer des Eilverfahrens gegen ein Urteil, mit dem das Verwaltungsgericht wegen der Unmöglichkeit der Überstellung infolge der Corona-Pandemie die Anordnung der Abschiebung nach Bulgarien sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots aufgehoben, die Klage im Übrigen - das heißt, soweit sie sich gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG richtet - aber abgewiesen hat. Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.
2 1. Zur Begründung seines auf grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) und Verfahrensmängel (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) gestützten Zulassungsantrags führt der Kläger aus, es sei die Frage zu klären, wie lange die angemessene Entscheidungsfrist im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO sei, ob sich der Kläger auf die Überschreitung der Frist berufen könne mit der Folge, dass die Überstellungsentscheidung aufzuheben sei, und schließlich, ob diese Aufhebung dann zur Folge habe, dass der ersuchende Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig werde. Der Kläger verweist in dem Zusammenhang darauf, dass sein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erst nach ungefähr zwei Jahren mit Beschluss vom 19.07.2019 (A 12 K 13738/17) abgelehnt worden sei, ein angemessenes gerichtliches Verfahrens aber nicht länger dauern dürfe als die Überstellungsfrist selbst, wobei sogar eine 18monatige Frist wegen Flucht abgelaufen wäre. Aus der Entscheidung des EuGH vom 26.07.2017 - C-670/16 - (Mengesteab) ergebe sich, dass Dublin-Fristen grundsätzlich individualschützend seien. Die Gehörsverletzung ergebe sich daraus, dass das Gericht den entsprechenden Vortrag aus dem Schriftsatz vom 08.05.2020 nicht zur Kenntnis genommen habe. Mit diesem Schriftsatz übermittelte der Kläger die Begründung seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Eilbeschluss vom 19.07.2019 und den nachfolgenden Beschluss über die Zurückweisung der Anhörungsrüge vom 04.09.2019 (A 12 K 5226/19); die Ausführungen decken sich hinsichtlich Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO im Wesentlichen mit der Begründung des Zulassungsantrags.
3 2. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache liegt nicht vor. Sie ist dann gegeben, wenn mit ihr eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung nicht geklärte Frage von allgemeiner, d.h. über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung aufgeworfen wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war und sich im Berufungsverfahren stellen würde und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 26.04.2019 - A 12 S 2038/18 -, Juris Rn. 2). Die Klärungsbedürftigkeit einer Rechts- oder Tatsachenfrage ist unter anderem dann zu verneinen, wenn die Frage bereits geklärt ist, wenn sie aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.10.2019 - 11 S 1835/19 -, Juris Rn. 11). Dies ist hier der Fall.
4 Zwar erscheint eine Dauer von ungefähr zwei Jahren für ein Eilverfahren schwerlich als „angemessene Frist“ im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO. Nach Auffassung des Senats kommt es darauf jedoch nicht an, weil sich die daran anknüpfende Frage zur Relevanz einer Fristüberschreitung - aus der allein sich ein (weitergehender) Erfolg der Klage ergeben könnte - auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten lässt. Der Kläger weist im Ausgangspunkt zu Recht auf das Urteil des EuGH vom 26.07.2017 - C-670/16 - hin, wonach Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahin auszulegen ist, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf den Ablauf einer in Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO genannten Frist berufen kann (vgl. in diesem Sinne schon EuGH, Urteil vom 07.06.2016 - C-63/15 - [Ghezelbash] und Urteil vom 25.10.2017 - C-201/16 - [Shiri]). Der EuGH hebt in Bezug auf die mit der Verordnung verfolgten Ziele insbesondere hervor, dass mit ihr angesichts der bisherigen Erfahrungen die notwendigen Verbesserungen nicht nur hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems vorgenommen werden sollen, sondern auch hinsichtlich des Schutzes der Antragsteller, der insbesondere durch einen ihnen gewährten effektiven und vollständigen gerichtlichen Rechtsschutz sichergestellt wird, und dass eine restriktive Auslegung des Umfangs des in Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Rechtsbehelfs der Erreichung dieses Ziels entgegenstehen könnte (EuGH, Urteil vom 26.07.2017 - C-670/16 - [Mengesteab], Juris Rn. 46 f.). Der EuGH weist insoweit allerdings ausdrücklich auch darauf hin, „dass der Unionsgesetzgeber die Auswirkungen des Ablaufs dieser Fristen ... geregelt hat“ (Juris Rn. 52). Dem Aspekt, welche Wirkungen der Unionsgesetzgeber im Falle eines Fristablaufs vorgesehen hat, misst der EuGH auch in anderem Zusammenhang entscheidende Bedeutung bei (vgl. EuGH, Urteil vom 25.01.2018 - C-360/16 - [Hasan], Juris Rn. 87 ff. zu Art. 24 Abs. 2 und 3 Dublin III-VO sowie EuGH, Urteil vom 13.11.2018 - C-47/17 und C-48/17 - [X und X], Juris Rn. 60 f., 78 zu Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003).
5 Dies ist der entscheidende Unterschied zu Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO. Nicht nur ist - im Unterschied zu Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO - eine konkrete Fristdauer nicht bestimmt. Vor allem und entscheidend hat der Verordnungsgeber für die Nichteinhaltung der Frist des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Satz 3 Dublin III-VO keinen Übergang der Zuständigkeit angeordnet. Die Dublin III-VO dient der Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Art. 1 Dublin III-VO) anhand eines komplexen, wenn auch nicht lückenlosen Systems zahlreicher Kriterien. Eine Regelungslücke ergibt sich für den Senat aus den Darlegungen des Klägers nicht. Dieser möchte vielmehr einen Zuständigkeitsübergang annehmen, ohne dass eine dies stützende Norm existiert. Dies kommt bei einem ausdifferenzierten Regelwerk wie der Dublin III-VO jedoch nicht in Betracht. Zur Gewährleistung zeitnahen Rechtsschutzes ist der Kläger vielmehr auf die prozessualen Möglichkeiten wie etwa die Verzögerungsrüge (§ 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 3 GVG) zu verweisen.
6 3. Die Berufung ist auch nicht nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
7 Das Gebot rechtlichen Gehörs (vgl. Art. 103 Abs. 1 GG) gibt einem Prozessbeteiligten das Recht, alles aus seiner Sicht Wesentliche vortragen zu können, und verpflichtet das Gericht, dieses Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in seine Entscheidungserwägungen einzustellen. Es gebietet hingegen insbesondere nicht, dass sich das Gericht in seinen schriftlichen Entscheidungsgründen mit jeder Einzelheit ausdrücklich und in ausführlicher Breite auseinandersetzt oder seine Rechtsauffassung vor seinem Urteil offenbart und rechtliche Hinweise erteilt. Eine Ausnahme hiervon gilt dann, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt oder auf eine bestimmte Bewertung des Sachverhalts abstellen will, mit dem oder mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht. Art. 103 Abs. 1 GG ist grundsätzlich erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen bzw. bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.12.2006 - 2 BvR 722/06 -; BVerwG, Beschlüsse vom 26.05.1999 - 6 B 65.98 - und vom 04.06.2020 - 2 B 26.19 -; jeweils Juris).
8 Eine Verletzung rechtlichen Gehörs setzt weiter voraus, dass die angegriffene Entscheidung auf dem Fehlen des rechtlichen Gehörs beruht. Dies ist nur dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die zur Kenntnisnahme von tatsächlichem Vorbringen eines Beteiligten zu einer anderen und für ihn günstigeren Entscheidung geführt hätte. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich nur auf entscheidungserhebliches Vorbringen. Demzufolge muss vom Zulassungsantragsteller auch in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz dargelegt werden, was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, weshalb mithin der geltend gemachte Gehörsverstoß entscheidungserheblich ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.02.1998 - 4 B 2.98 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.09.2017 - A 11 S 2067/17 -; beide Juris).
9 Dergleichen kann hier nicht angenommen werden. Vielmehr ergibt sich aus den obigen Ausführungen, dass die Klage auch dann nicht in weitergehendem Umfang Erfolg gehabt hätte, wenn das Verwaltungsgericht die Argumentation des Klägers zur nicht mehr angemessenen Dauer des Eilverfahrens aufgegriffen hätte.
10 Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (vgl. § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
11 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
12 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Das Verfahren wird eingestellt.
Der ablehnende Beiladungsbeschluss vom 11. August 2020 ist unwirksam geworden.
Eine Kostenentscheidung ist entbehrlich.
Gründe
1
Das Verfahren ist aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen – nachdem sich das Verfahren über die vom Verwaltungsgericht abgelehnte und vom Oberverwaltungsgericht im Verfahren 5 MB 28/20 inzwischen nachgeholte Beiladung der Beschwerdeführerin zu 2. erledigt hat – in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO durch den Berichterstatter (§ 87 a Abs. 1 Nr. 3, Nr. 5, Abs. 3 VwGO) einzustellen.
2
Die erstinstanzliche Entscheidung war deklaratorisch für unwirksam zu erklären (§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO analog).
3
Eine Kostenentscheidung ist entbehrlich, da die Beschwerde bis zu ihrer Erledigung Erfolg gehabt hätte (dazu sogleich) und die Beschwerdeentscheidung damit nur eine unselbstständige Zwischenentscheidung in dem noch anhängigen Rechtsstreit (Az. 5 MB 28/20) dargestellt hätte (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 29. August 2016 – 4 E 409/16 –, Rn. 215, juris; VGH München, Beschluss vom 9. Juli 2001 – 1 C 01.970 –, Rn. 12, juris; VGH Mannheim, Beschluss vom 19. September 2000 – 5 S 1843/00 –, Rn. 7, juris).
4
Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Beiladung zum Verfahren 3 B 64/20 abgelehnt. Gemäß § 65 Abs. 1 VwGO kann das Gericht, solange das Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen oder in höherer Instanz anhängig ist, von Amts wegen oder auf Antrag andere, deren rechtliche Interessen durch die Entscheidung berührt werden, beiladen.
5
Für die einfache Beiladung einer dritten Person genügt, dass deren rechtliche Interessen durch die Entscheidung des Gerichts berührt werden. Die Anforderungen, die an die Zulässigkeit einer einfachen Beiladung zu stellen sind, erreichen danach nicht einmal den Grad der Anforderungen, die nach § 42 Abs. 2 VwGO an die Zulässigkeit einer Klage zu stellen wären. Sie sind deshalb bereits gegeben, wenn im Zeitpunkt der Beiladung die Möglichkeit besteht, dass die Entscheidung in der Hauptsache auf rechtliche Interessen des Beizuladenden einwirken kann, d.h. wenn sich seine Rechtsposition durch das Unterliegen einer der Parteien in dem anhängigen Prozess verbessern oder verschlechtern könnte (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 1995 – 8 B 68.95 –, juris, Rn. 3).
6
Diese Voraussetzung war hier erfüllt; denn in dem anhängigen Verwaltungsrechtsstreit geht es um die aufschiebende Wirkung bzw. die Anordnung des Sofortvollzugs der Rücknahme der Genehmigung gegenüber der Antragstellerin. Die Rechtsposition der Beschwerdeführerin zu 2. als von dem Antragsgegner designierte Genehmigungsinhaberin und unmittelbare Konkurrentin der Antragstellerin könnte sich durch den Ausgang des Verfahrens insofern verbessern oder verschlechtern. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich eine sofort vollziehbare Rücknahme der Genehmigung gegenüber der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Genehmigung als eine stärkere Rechtsposition darstellt.
7
Ist der Tatbestand des § 65 Abs. 1 VwGO erfüllt, entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen über die Beiladung. Die Entscheidung über die Beschwerde gegen die Ablehnung trifft das Beschwerdegericht ebenfalls nach eigenem Ermessen, ohne auf die Nachprüfung des Ermessens der Vorinstanz beschränkt zu sein (OVG Münster, Beschluss vom 28. Juni 2018 – 15 E 424/18 –, juris, Rn. 8).
8
Für den Senat war – im Rahmen der inzwischen im Verfahren 5 MB 28/20 nachgeholten Beiladung – maßgeblich und ermessensleitend, dass in dem ohnehin eng verflochtenen Streitgefüge zwischen Antragstellerin, Antragsgegner und Beschwerdeführerin eine erhebliche Verfahrensverzögerung durch die Beiladung der Beschwerdeführerin in diesem Verfahren nicht zu erwarten ist.
9
Für die hier gegenständliche Frage, ob die auf eine Beiladung gerichtete Beschwerde erfolgreich gewesen wäre, kommt es auf die mit der Beschwerde weiterhin aufgeworfene Frage nach einer notwendigen Beiladung nicht mehr an. Der Senat merkt jedoch an – und hat dies durch die einfache Beiladung nach § 65 Abs. 1 VwGO bereits erkennen lassen –, dass hier die Voraussetzungen für eine Beiladung gemäß § 65 Abs. 2 VwGO – entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer – nicht vorliegen. Wie insoweit zutreffend vom Verwaltungsgericht ausgeführt, ist die Beschwerdeführerin zu 2. nicht derart an dem streitigen Rechtsverhältnis über die Rücknahme der Genehmigung beteiligt, dass die Entscheidung auch ihr gegenüber nur einheitlich ergehen könnte. Auch die Beschwerdeführerin zu 2. kommt in ihrer Beschwerdebegründung zu § 65 Abs. 2 VwGO zu dem Ergebnis (Seite 5 der Beschwerdeschrift vom 23. August 2020 am Ende), dass die Aufhebungsentscheidung des Antragsgegners eine Rechtsposition der Beschwerdeführerin begründe, welche mit der Aufhebung des Sofortvollzugs der Aufhebungsentscheidung (zulasten der Antragstellerin) beeinträchtigt bzw. berührt werde. Damit begründet sie die Voraussetzungen für eine einfache, nicht aber eine notwendige Beiladung.
10
Auch die Ausführungen des Antragsgegners und Beschwerdeführers zu 1. führen zu keiner anderen Bewertung. Auch wenn eine „Vorwirkung“ der Genehmigung erhebliche Auswirkungen auf die Frage hat, wem die einstweilige Erlaubnis zu erteilen ist, ist die Frage gleichwohl davon unabhängig zu beantworten und wird nicht bereits durch die Entscheidung über die Genehmigung bzw. deren Rücknahme beantwortet.
11
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1, 158 Abs. 2, 92 Abs. 3 Satz 2
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Tenor
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage 19 K 1882/20 gegen den Entlassungsbescheid des Antragsgegners vom 5. März 2020 wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf die Wertstufe bis 5.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe verlangen die Abänderung des angefochtenen Beschlusses.
3Die Sachentscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO fällt zugunsten des Antragstellers aus, wenn dessen Interesse daran, von der Vollziehung der angefochtenen Verfügung vorerst verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit überwiegt. Für diese Interessenabwägung ist maßgeblich, ob sich der streitgegenständliche Verwaltungsakt bei der im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage als offensichtlich rechtmäßig oder rechtswidrig erweist. Erweist sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Vollziehungsinteresse. Erweist sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit (Gesetzeswortlaut: Vollziehung) noch die Feststellung eines besonderen Vollziehungsinteresses erforderlich, das regelmäßig über das Interesse hinausgehen muss, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt.
4Nach diesen Maßgaben bleibt der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage 19 K 1882/20 gegen die Entlassungsverfügung vom 5. März 2020 ohne Erfolg.
5I. Nach summarischer Prüfung erweist sich die auf § 23 Abs. 4 BeamtStG i. V. m. § 13 Abs. 1 VAPPol II Bachelor und § 28 Abs. 2 LBG NRW gestützte Entlassungsverfügung vom 5. März 2020 entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts als offensichtlich rechtmäßig. Die Einschätzung des Antragsgegners, es seien Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers für den Polizeivollzugsdienst gegeben, ist unter Berücksichtigung des dem Dienstherrn zukommenden Beurteilungsspielraums rechtlich nicht zu beanstanden.
6Gemäß § 23 Abs. 4 Satz 1 BeamtStG können Beamte
7- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für beide Geschlechter -
8auf Widerruf jederzeit entlassen werden. Es genügt jeder sachliche, d.h. nicht willkürliche Grund, auch die Annahme mangelnder charakterlicher Eignung. Hierfür ist die Einschätzung entscheidend, inwieweit der Beamte der von ihm zu fordernden Loyalität, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Dienstauffassung gerecht werden wird. Dies erfordert eine wertende Würdigung aller Aspekte des Verhaltens des Beamten, die einen Rückschluss auf die für die charakterliche Eignung relevanten persönlichen Merkmale zulassen. Die Einschätzung der charakterlichen Eignung ist dem Dienstherrn vorbehalten.
9Vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 20. Juli 2016 - 2 B 17.16 -, NVwZ-RR 2016, 831 = juris Rn. 26; OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2019 - 6 B 1551/18 -, juris Rn. 5; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 7. Mai 2020 - 1 M 51/20 -, juris Rn. 5 m. w. N.
10Insoweit können bereits berechtigte Zweifel der Entlassungsbehörde genügen, ob der Beamte auf Widerruf die persönliche Eignung für sein Amt besitzt. Die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf ist aus diesem Grund nicht von dem Nachweis eines konkreten Dienstvergehens abhängig. Eignungszweifel können sich dabei sowohl aus dem dienstlichen als auch dem außerdienstlichen Verhalten ergeben.
11Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 7. Mai 2020 - 1 M 51/20 -, a. a. O. Rn. 5 m. w. N.
12Generell muss nach § 34 Satz 3 BeamtStG das Verhalten von Beamten innerhalb und außerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordern. Bei Beamten im Polizeivollzugsdienst darf der Dienstherr die Fähigkeit und innere Bereitschaft voraussetzen, die dienstlichen Aufgaben nach den Grundsätzen der Verfassung wahrzunehmen, insbesondere die Freiheitsrechte der Bürger zu wahren und rechtsstaatliche Regeln einzuhalten.
13Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 1995 - 1 BvR 1397/93 -, BVerfGE 92, 140 = juris Rn. 44; VGH BW, Beschluss vom 10. März 2017 - 4 S 124/17 -, juris Rn. 6.
14Die Verhinderung sowie Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten gehört zu den Kernaufgaben des Polizeivollzugsdienstes, so dass eigene Verstöße in diesem Bereich grundsätzlich geeignet sind, Zweifel an der persönlichen Eignung des Beamten zu begründen.
15Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. September 2018 - 6 B 1176/18 -, juris Rn. 12, und vom 17. August 2017 - 6 B 751/17 -, juris Rn. 12; SächsOVG, Beschluss vom 20. September 2017 - 2 B 180/17 -, juris Rn. 13, jeweils m. w. N.
16Ausgehend hiervon erscheinen im Streitfall aufgrund des Verhaltens des Antragstellers in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober 2019 die Zweifel des Antragsgegners an der persönlichen Eignung des Antragstellers begründet. Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens besteht kein Anhalt dafür, dass der Antragsgegner von einem unrichtigen oder unvollständig festgestellten Sachverhalt ausgegangen ist (dazu 1.). Dass der Antragsgegner aufgrund seiner Feststellungen zu der Einschätzung gelangt ist, im Fall des Antragstellers bestünden Zweifel an der an der charakterlichen Eignung, die seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf vor Abschluss des Vorbereitungsdienstes rechtfertigen, ist rechtlich nicht zu beanstanden (2.).
171. Der Antragsgegner hat der Entlassungsverfügung zugrunde gelegt, dass sich folgendes Geschehen zugetragen hat: Der Antragsteller habe in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober 2019 kurz nach 3:00 Uhr unter Alkoholeinfluss den Geschädigten N. I. ohne ersichtlichen Grund vor der Diskothek "Q. T. " in M. als "Hurensohn" beleidigt, diesen sodann unvermittelt ins Gesicht geschlagen und ihn anschließend bespuckt. Herr I. habe gegenüber den hinzugerufenen Polizeibeamten angegeben, er habe mit seinem Bekannten T1. V. auf einer Bank gesessen und darauf gewartet, von dessen Mutter abgeholt zu werden. Auf einer weiteren Bank rechts daneben hätten mehrere Personen gesessen, unter anderem der Antragsteller und sein Begleiter N1. I1. . Der Antragsteller habe mehrere Male in ihre Richtung geschaut. Kurze Zeit später sei er aufgestanden und herübergekommen. Er sei sehr aggressiv gewesen. Herr I. habe versucht, ihn zu beruhigen und unter anderem gefragt, ob alles in Ordnung sei. Der Antragsteller sei weiterhin verbal aggressiv gewesen und habe Herrn I. als „Hurensohn“ bezeichnet. Letzterer habe auf sein Mobiltelefon geschaut, um nicht auf das aggressive Verhalten einzugehen; da habe ihm der Antragsteller unvermittelt mit der Hand ins Gesicht geschlagen. Darauf sei Herr I1. gekommen, habe den Antragsteller weggezogen und beruhigend auf ihn eingeredet. Der Antragsteller habe sich zunächst zu ihm auf die Bank gesetzt, sei einige Minuten später aber erneut auf Herrn I. zugekommen und habe ihn bespuckt. Herr I. habe den hinzugerufenen Beamten einen Fleck auf seinem T-Shirt gezeigt, der von dem Speichel des Antragstellers stamme. Auf Befragen der Polizeibeamten habe der Antragsteller zunächst angegeben, es sei nichts passiert und er sei fertig ausgebildeter Polizeibeamter. Einige Minuten später habe er diese Angabe revidiert und erklärt, er sei Kommissaranwärter im dritten Ausbildungsjahr. Herr I1. habe angegeben, er sei ebenfalls Kommissaranwärter. Er habe mit ein paar Freunden draußen auf der Bank gesessen. Der Antragsteller sei aufgestanden und zu zwei Personen auf der Nebenbank gegangen. Er habe weiter nichts mitbekommen, bis es etwas lauter geworden sei. Er, Herr I1. , sei dann sofort aufgestanden und habe den Antragsteller von Herrn I. weggezogen. Was zuvor passiert sei, habe er nicht mitbekommen. Bei Herrn I. sei ärztlicherseits eine Halswirbelsäulenprellung festgestellt worden.
18Daran, dass sich das Geschehen wie zugrunde gelegt zugetragen hat, bestehen keinerlei vernünftige Zweifel. Es wird nicht nur in den Aussagen des Herrn I. und des Herrn V. übereinstimmend so geschildert, sondern diese Schilderungen werden darüber hinaus durch die Aufnahmen der Überwachungskamera des Clubs "Q. T. " belegt. Auf den entsprechenden Ausdrucken ist unter anderem zu sehen, dass
19- der Antragsteller zunächst vor einer Bank steht, auf welcher Herr I1. und eine weitere Person sitzen, während Herr I. und Herr V. auf einer anderen Bank in einiger Entfernung - räumlich durch eine Treppe und einen Pflanztopf getrennt - sitzen;
20- der Antragsteller ohne erkennbaren Anlass zu letzterer Bank hinübergeht und ein Gespräch beginnt;
21- der Antragsteller zu einem Zeitpunkt mit der Hand gegen den Kopf des Herrn I. schlägt, als dieser auf sein Mobiltelefon schaut;
22- Herr I1. das Gespräch und den Schlag beobachtet, zum Antragsteller herübergeht und diesen nur mit Mühe von Herrn I. wegbewegen kann.
23Der Antragsteller hat keinerlei durchgreifende Zweifel daran geweckt, dass sich das Geschehen wie angenommen zugetragen hat. Dies gilt zunächst in Bezug auf die Ereignisse im unmittelbaren Zusammenhang mit der Körperverletzung. Der Antragsteller hat zugestanden, Herrn I. geschlagen zu haben (wobei ein Bestreiten angesichts der Videoaufnahmen auch sinnlos gewesen wäre), und auch, - was auf der Aufzeichnung nicht mehr zu sehen ist - in dessen Richtung gespuckt zu haben. Ob er Herrn I. bei dem Spucken letztlich getroffen hat oder nicht, ist nicht von entscheidender Bedeutung; allerdings ist auch dies nach dessen und der Aussage des Herrn V. sowie dem vorgewiesenen Fleck auf dem T-Shirt anzunehmen.
24Ob der Antragsteller Herrn I. darüber hinaus als "Hurensohn" beleidigt hat, kann gleichfalls auf sich beruhen, da dieser Umstand von seinem Gewicht her hinter die Körperverletzung zurücktritt und der Antragsgegner dementsprechend die mangelnde Eignung auf "die Begehung eines Körperverletzungsdelikts unter Alkoholeinfluss" gestützt hat. Angesichts der Schilderungen des Herrn I. und des Herrn V. besteht aber auch kein Anlass, daran zu zweifeln, dass der Körperverletzung eine Beleidigung vorausgegangen ist. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller bestreite dies, ist im Übrigen zumindest ungenau. Denn auf Vorhalt hat der Antragsteller erklärt, dies nicht mehr genau zu wissen.
25Es besteht ferner keinerlei Anhalt dafür, dass der Antragsteller einige Zeit oder kurz vor der Körperverletzung von Herrn I. provoziert worden ist. Im Hinblick auf die insoweit möglicherweise missverständlichen Formulierungen des Verwaltungsgerichts ist zunächst klarzustellen, dass auch solche Provokationen, selbst wenn sie erfolgt wären, für den Antragsteller - selbstverständlich - nicht "Anlass" hätten sein dürfen, Herrn I. später zu schlagen. Es spricht aber auch nichts dafür, dass es Provokationen von dessen Seite überhaupt gegeben hat. Der Antragsteller hat zwar in dem am 17. Oktober 2019 geführten Gespräch zunächst behauptet, er sei immer wieder von Mitstudierenden darauf angesprochen worden, Herr I. beleidige und provoziere sie permanent. Auf der Tanzfläche sei er, der Antragsteller, dann auch von diesem angerempelt worden. Dass diese Behauptungen zutreffen, ist jedoch nicht glaubhaft. Denn zunächst hat der Antragsteller auf die Nachfrage, ob es seitens Herrn I. ihm gegenüber zu einer Beleidigung gekommen sei, seine Darstellung dahin revidiert, das provozierende Verhalten sei ihm lediglich von Mitstudierenden zugetragen worden. Was letzteres angeht, hat er allerdings nicht einen der Mitstudierenden, die ihn auf permanente Provokationen durch Herrn I. angesprochen haben sollen, namentlich benannt, obgleich sich dies - wäre die Behauptung wahr - aufgedrängt hätte. Ähnliches gilt für eine Provokation im unmittelbaren Zusammenhang mit der Körperverletzung: Auf den Vorhalt, er sei auf Herrn I. zugegangen, ohne dass dieser zuvor etwas getan habe, hat der Antragsteller erklärt, dies nicht mehr genau in Erinnerung zu haben. Überdies hat er hinsichtlich des Geschehens teils unzutreffende Angaben gemacht: So wird die Behauptung, er habe sich selbständig von Herrn I. entfernt, durch die Bilder der Überwachungskamera widerlegt. Ferner hat der mit dem Antragsteller bekannte Herr I1. Provokationen irgendeiner Art nicht bestätigt, wobei ins Gewicht fällt, dass er - jedenfalls, was die Beobachtung des erfolgten Schlags angeht - offensichtlich bereit war, zur Vermeidung der Belastung des Antragstellers falsche Angaben zu machen.
26Weiter bestehen keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Antragsteller gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten U. , G. und M1. zunächst angegeben hat, bereits ausgebildeter Polizeibeamter zu sein. Dafür, dass und warum die entsprechenden Angaben in der Sachverhaltsdarstellung der Polizeikommissarin M1. falsch sein sollten, ist nichts erkennbar. Der Antragsteller hingegen hat ersichtlich ein erhebliches Interesse daran, dass seiner abweichenden Darstellung geglaubt wird. Es steht zudem fest, dass er in diesem Zusammenhang teils unzutreffende Angaben gemacht hat. Seine Glaubhaftigkeit zieht es weiter in Zweifel, dass er sich im Hinblick auf das Geschehen um die Körperverletzung auf alkoholbedingte Gedächtnislücken beruft, andererseits aber behauptet, den nachfolgenden Vorgang detailgetreu im Gedächtnis zu haben.
27Zur Entlastung des Antragstellers kann schließlich nicht angenommen werden, es handele sich bei dem Vorfall um eine "persönlichkeitsfremde Augenblickstat". Die hierzu allein angeführte Behauptung des Antragstellers, er trinke sonst kaum Alkohol, entbehrt jeder Substanz und ist durch nichts belegt.
282. Ausgehend von alldem ist ein Ausnahmefall gegeben, der die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf vor Abschluss des Vorbereitungsdienstes rechtfertigt. Der Antragsgegner hat mit der Annahme der mangelnden Eignung des Antragstellers für den Polizeivollzugsdienst die Grenzen des ihm insoweit zukommenden Beurteilungsspielraums nicht überschritten. Zu den grundlegenden Anforderungen an die charakterliche Eignung eines Polizeivollzugsbeamten gehört es, dass der Beamte die Gewähr dafür bietet, sich zu jeder Zeit rechtstreu zu verhalten und insbesondere die Rechte Dritter zu wahren und - erst recht - nicht rechtswidrig in diese einzugreifen. Das oben geschilderte Ereignis zeigt, dass dies beim Antragsteller nicht der Fall ist.
29Die Entlassungsverfügung erweist sich auch nicht deshalb als unverhältnismäßig, weil die darin ausgesprochene Entlassung aus dem Polizeivollzugsdienst dem Antragsteller die Gelegenheit zur Beendigung des Vorbereitungsdienstes und Ablegung der Prüfung nimmt. Allerdings bestimmt § 23 Abs. 4 Satz 2 BeamtStG, dass Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst in der Regel die Möglichkeit erhalten sollen, den Vorbereitungsdienst zu beenden und die Prüfung abzulegen. Die genannte Vorschrift schränkt die Möglichkeit der Entlassung nicht nur dort ein, wo der Vorbereitungsdienst als allgemeine Ausbildungsstätte im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu qualifizieren ist, sondern auch dort, wo - wie hier - ein Vorbereitungsdienst für eine Beamtenlaufbahn abgeleistet wird, dessen Abschluss nicht den Zugang zu einer Beschäftigung außerhalb des Beamtenverhältnisses ermöglicht.
30Näher OVG NRW, Beschluss vom 16. August 2016 - 6 B 656/16 -, juris Rn. 4 ff. m w. N., sowie OVG Bremen, Beschluss vom 13. Juli 2018 - 2 B 174/18 -, juris Rn. 9, und OVG SH, Beschluss vom 5. Januar 2018 - 14 MB 2/17 -, NVwZ-RR 2018, 742 = juris Rn. 5; a. A. etwa BayVGH, Beschluss vom 12. Dezember 2011 - 3 CS 11.2397 -, juris Rn. 34.
31§ 23 Abs. 4 Satz 2 BeamtStG steht jedoch im Streitfall der Entlassung des Antragstellers vor Ende des Vorbereitungsdienstes nicht entgegen. Eine Entlassung kann danach gerechtfertigt sein, wenn der Beamte das Ziel des Vorbereitungsdienstes, nämlich den Erwerb der Befähigung für die angestrebte Laufbahn, aufgrund nachhaltig unzureichender Leistungen auch bei wohlwollender Betrachtung aller Voraussicht nach nicht erreichen wird und die Fortsetzung der Ausbildung damit sinnlos ist, oder wenn begründete Zweifel an seiner gesundheitlichen oder persönlichen Eignung gegeben sind.
32Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 2010 - 2 B 47.09 -, juris Rn. 6, und Urteil vom 9. Juni 1981 - 2 C 48.78 -, BVerwGE 62, 267 = juris Rn. 21; OVG NRW, Beschluss vom 20. August 2012 - 6 B 776/12 -, juris Rn. 13, und Urteil vom 3. September 2009 - 6 A 3083/06 -, NWVBl 2010, 183 = juris Rn. 117.
33Bei einem Vorbereitungsdienst, der - wie hier, s.o. - keine allgemeine Ausbildungsstätte im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG darstellt, sondern mit dem der Staat für seinen eigenen Bedarf ausbildet, darf der Dienstherr dabei die persönliche Eignung an den Maßstäben messen, die er für die Übertragung eines Amtes auf Lebenszeit zugrunde legt.
34OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2019 - 6 B 1551/18 -, a. a. O. Rn. 22, und Urteil vom 3. September 2009 - 6 A 3083/06 -, a. a. O. Rn. 121; OVG Bremen, Beschluss vom 13. Juli 2018 - 2 B 174/18 -, a. a. O. Rn. 9; v. Roetteken, in: v. Roetteken/Rothländer, BeamtStG, Losebl. Stand Juli 2015, § 23 BeamtStG Rn. 439.
35Hiervon ausgehend ist im Streitfall die Entlassung auch vor Ende des Vorbereitungsdienstes möglich. Der Antragsgegner hegt - wie dargelegt - berechtigterweise Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers, die seiner Übernahme in ein Beamtenverhältnis auf Probe bzw. auf Lebenszeit entgegenstehen würden. Dann ist es gerechtfertigt, dem Beamten die Möglichkeit der Ableistung des Vorbereitungsdienstes im Sinne des § 23 Abs. 4 Satz 2 BeamtStG zu verwehren. Dies eröffnet ihm zugleich die Möglichkeit einer beruflichen Neuorientierung.
36II. Der Antrag hat auch nicht aus anderen Gründen Erfolg.
371. Die Entlassungsverfügung ist formell rechtmäßig. Die gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG NRW erforderliche Anhörung ist durch das Schreiben des Antragsgegners vom 15. Januar 2020 erfolgt. Personalrat (§ 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 LPVG NRW) und Gleichstellungsbeauftragte (§ 17 Abs. 1 LGG) sind unter dem 17. Februar 2020 beteiligt worden.
382. Ferner genügt die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung dem formalen Erfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, wonach das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen ist.
39Dieses Begründungserfordernis soll neben der Information des Betroffenen und des mit einem eventuellen Aussetzungsantrag befassten Gerichts vor allem die Behörde selbst mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dazu anhalten, sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst zu werden und die Frage des Sofortvollzuges besonders sorgfältig zu prüfen. Die Anforderungen an den erforderlichen Inhalt einer solchen Begründung dürfen hierbei aber nicht überspannt werden. Diese muss allein einen bestimmten Mindestinhalt aufweisen. Dazu gehört es insbesondere, dass sie sich - in aller Regel - nicht lediglich auf eine Wiederholung der den Verwaltungsakt tragenden Gründe, auf eine bloße Wiedergabe des Textes des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO oder auf lediglich formelhafte, abstrakte und letztlich inhaltsleere Wendungen, namentlich solche ohne erkennbaren Bezug zu dem konkreten Fall, beschränken darf. Demgegenüber verlangt § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht, dass die für das besondere Vollzugsinteresse angeführten Gründe auch materiell überzeugen, also auch inhaltlich die getroffene Maßnahme rechtfertigen.
40Einen in diesem Sinne nur formelhaften Charakter weist die hier gegebene Begründung nicht auf. Der Antragsgegner hat ausgeführt, die Durchsetzung der Entlassung im Wege des Sofortvollzugs sei geboten, weil die Weiterbeschäftigung eines Widerrufsbeamten, dessen Ungeeignetheit für den Polizeiberuf aufgrund charakterlicher Mängel offenkundig geworden sei, die Funktionsfähigkeit der Polizei beeinträchtige und dem Ansehen der Polizei nachhaltigen Schaden zufügen könne. Sie sei auch anderen Polizeibeamten nicht zumutbar und setze ein falsches Zeichen für die polizeiliche Ausbildung. Auch im Hinblick auf die Schonung der für die Ausbildungsvergütung zu verwendenden Mittel erscheine die weitere Alimentierung durch den Dienstherrn unverhältnismäßig.
413. Namentlich der genannte Hinweis auf die drohende Ansehensbeeinträchtigung der Polizei begründet schließlich auch in der Sache ein besonderes Vollziehungsinteresse. Der Antragsgegner hat hierzu zu Recht darauf hingewiesen, auch Beamte auf Widerruf im Polizeivollzugsdienst seien Angehörige der Polizei und würden von der Allgemeinheit als solche wahrgenommen; sie trügen in Praxisphasen - wenn auch unter Aufsicht - Uniform und Waffe und würden hoheitlich tätig.
42Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG.
43Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme etwaiger außergerichtlicher Kosten des Beigeladenen, welche dieser selbst trägt.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 30.814 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet.
3Die gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts fristgerecht vorgebrachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat im Beschwerdeverfahren nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen es nicht, den Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und auf den Antrag des Antragstellers
4der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, den Dienstposten eines Unterabteilungsleiters für die Unterabteilung X. im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) mit einem Mitbewerber des Antragstellers zu besetzen, bis über die Bewerbung des Antragstellers auf den vorbezeichneten Dienstposten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts bestandskräftig neu entschieden worden ist.
5Zur Begründung seiner ablehnenden Entscheidung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Sein Bewerbungsverfahrensanspruch sei nicht verletzt. Die Antragsgegnerin habe ihre Auswahlentscheidung nicht auf dienstliche Beurteilungen stützen dürfen, weil für einen der Bewerber um die streitige Stelle, Herrn T. , keine dienstliche Beurteilung vorgelegen habe und für ihn als langjährig freigestelltes Personalratsmitglied auch nicht habe erstellt werden können. Daher seien allein die Ergebnisse des Auswahltages maßgeblich. Im Auswahlvermerk habe die Antragsgegnerin festgehalten, dass sie aufgrund uneinheitlicher obergerichtlicher Rechtsprechung vorhandene dienstliche Beurteilungen der Bewerber im Wege einer Art Plausibilitätskontrolle bei der Auswahl berücksichtigen wolle. Die Antragsgegnerin habe festgestellt, dass die Beurteilungen das Ergebnis des Auswahltages stützten. Die Beurteilungen hätten sich nicht auf das Ergebnis des Auswahltages und die Auswahlentscheidung ausgewirkt. Selbst wenn die Berücksichtigung der Beurteilungen fehlerhaft gewesen sei, sei der Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers nicht verletzt. Dies setze voraus, dass sich der Fehler zum Nachteil des übergangenen Bewerbers ausgewirkt habe. Der Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers sei auch nicht deshalb verletzt, weil die Auswahlentscheidung vom Abteilungsleiter X1. getroffen worden sei. Dieser sei für die Auswahlentscheidung zuständig gewesen. Die vom Antragsteller angeführte Regelung des § 6 Abs. 2 Satz 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO), nach dem die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre in Verwaltungsangelegenheiten in der Regel abschließend entschieden, betreffe wohl (lediglich) die Abgrenzung der Kompetenzen der Ministerin oder des Ministers in Verwaltungsangelegenheiten von denen der Staatssekretärinnen und -sekretäre. Jedenfalls stehe sie einer Delegation der Entscheidungsbefugnis der Staatssekretärin oder des Staatssekretärs an nachgeordnete Organisationseinheiten innerhalb des Ministeriums nicht entgegen. Eine solche Delegation sei durch den Geschäftsverteilungsplan erfolgt, der dem Leiter der Zentralabteilung die Personalangelegenheiten zuweise. Die beamtete Staatssekretärin sei auch nicht verpflichtet gewesen, die Auswahlentscheidung selbst zu treffen, sondern habe sich auf eine Zustimmung beschränken dürfen. Eine solche Zustimmung habe die Staatssekretärin ausweislich ihrer dienstlichen Erklärung vom 13. Dezember 2019 erteilt. In diesem Zusammenhang sei der Einwand des Antragstellers ohne Belang, eine dienstliche Erklärung eines Beamten sei im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zugelassen, es bedürfe zur Glaubhaftmachung einer eidesstattlichen Versicherung. Der Antragsteller übersehe, dass es nicht der Antragsgegnerin, sondern ihm obliege, die tatsächlichen Voraussetzungen seines Anspruchs glaubhaft zu machen. Im Übrigen stünden dem Gericht für die weitere Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes alle geeigneten Erkenntnismittel, insbesondere auch dienstliche Erklärungen, zur Verfügung. Auch habe es einer Dokumentation dieser Zustimmung im Auswahlvorgang nicht bedurft. Nach der Rechtsprechung sei der Dienstherr (lediglich) verpflichtet, die seiner Entscheidung zugrunde liegenden Auswahlerwägungen schriftlich niederzulegen und dem unterlegenen Bewerber im Wege der Akteneinsicht zugänglich zu machen. Zudem fehle es einem etwaigen Dokumentationsmangel an der für den Erfolg des Eilantrags erforderlichen Kausalität für eine Beeinträchtigung der Rechtsposition des Antragstellers. Aus dem vom Antragsteller behaupteten Verstoß gegen § 2 der Registraturrichtlinie könne er schon deshalb nichts für sich herleiten, weil diese Vorschrift nicht seinem Schutz diene und im Übrigen nicht über die vorgenannten Dokumentationspflichten hinausgehe. Auch die Rügen des Antragstellers betreffend die Besetzung des Auswahlgremiums griffen nicht durch. In Anbetracht des Umstandes, dass der Abteilungsleiter X1. zum Zeitpunkt des Auswahltages am 26. August 2019 seit gut einem halben Jahr (auch) mit der Leitung der Abteilung X2. betraut gewesen sei, sei davon auszugehen, dass bei ihm die erforderlichen Kenntnisse vorhanden gewesen seien. Von einem Beamten in einer solchen Spitzenposition sei zu erwarten, dass er sich auch in kurzer Zeit in neue Gebiete einarbeiten könne. Im Übrigen sei der Abteilungsleiter X1. vor seinem Wechsel in das BMFSFJ über zehn Jahre lang als zuständiger Unterabteilungsleiter im Bundesministerium der Finanzen für den Einzelplan X3. (Familie, Senioren, Frauen und Jugend) zuständig gewesen und aufgrund dessen mit den fachpolitischen Fragen des BMFSFJ vertraut. Dass nicht auch die Referenten des Personalreferates, die ebenfalls dem Auswahlgremium angehört hätten, über eigene Führungserfahrung verfügt hätten, sei unschädlich. Der Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers sei auch nicht deshalb verletzt, weil die Antragsgegnerin die Anforderungen an die Dokumentation ihrer Auswahlerwägungen verfehlt hätte. Die Antragsgegnerin habe in der Anlage zum Auswahlvermerk festgehalten, dass sie, um den bestgeeigneten Kandidaten zu ermitteln, einen Auswahltag durchgeführt habe, der aus einem Kurzvortrag mit einem anschließenden strukturierten Auswahlgespräch bestanden habe. Die Antragsgegnerin habe die den Bewerbern für die Bearbeitung des Kurzvortrages und die Beantwortung der Fragen zur Verfügung stehende Zeit ebenso schriftlich fixiert wie die Bewertungsskala einschließlich der textlichen Festsetzungen der fünf Notenstufen, die Gewichtung der einzelnen Aufgabenteile, die Aufgabenstellung für den Kurzvortrag und die den Bewerbern gestellten Fragen. Ferner finde sich dort ein detaillierter Erwartungshorizont für den Kurzvortrag und die Fragen. Auch habe die Antragsgegnerin die im Kurzvortrag von den Bewerbern erbrachten Leistungen sowie den Verlauf der Gespräche und die für die Bewertung der Antworten maßgeblichen Erwägungen hinreichend dokumentiert. Nicht zu beanstanden sei ferner die Bewertung der vom Antragsteller exemplarisch herausgegriffenen Frage 3 betreffend die Zielerreichung unter hohem Zeitdruck. Dafür, dass der Antragsteller nähere Ausführungen zu organisatorischen Abläufen gemacht habe, sei nichts Belastbares erkennbar. Dass die Mitglieder des Auswahlgremiums – bewusst oder versehentlich – Ausführungen des Antragstellers unberücksichtigt gelassen hätten, sei ebenfalls nicht ersichtlich. Der Einwand des Antragstellers, aus dem Besetzungsvorgang sei nicht nachvollziehbar, welche Personen zu welchem Zeitpunkt die Einzelbewertungen der erbrachten Leistungen vorgenommen hätten, greife ebenfalls nicht durch. Die abschließende Bewertung liege beim Abteilungsleiter X1.. Ob dieser sie bereits am Auswahltag selbst oder aber erst später im Zusammenhang mit der Zeichnung des Auswahlvermerks vorgenommen habe, sei ohne Belang. Schließlich seien der Kurzvortrag und die Fragen des Auswahlgesprächs auch inhaltlich nicht zu beanstanden. Die grundsätzliche Eignung solcher Instrumente zum Zwecke der Bewerberauswahl stehe außer Frage. Bei ihrer Ausgestaltung habe der Dienstherr einen weiten Spielraum, den die Antragsgegnerin vorliegend nicht überschritten habe. Sowohl der Kurzvortrag als auch sämtliche Fragen hätten einen sachlichen Bezug zu dem ausgeschriebenen Amt und erschienen geeignet, Aufschluss über Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Bewerber zu geben. Namentlich seien die Fragen zu den drei sogenannten Fachthemen nicht zu beanstanden. Dem Dienstherrn sei nicht untersagt, Fragen zu stellen, die am Anforderungsprofil des konkret zu besetzenden Dienstpostens orientiert seien. Die Erwartungen der Antragsgegnerin seien in weiten Teilen auch nicht an den auf dem zu besetzenden Dienstposten anfallenden Aufgaben orientiert gewesen, sondern allein am zu vergebenden Statusamt. Die Fachthemen seien insoweit lediglich Aufhänger gewesen, um statusamtsbezogene Kompetenzen zu ermitteln. So seien etwa Kenntnisse der Arbeit mit den parlamentarischen Gremien, kommunikative Kompetenz, Argumentationsstärke, Verhandlungsgeschick und die Fähigkeit zu konzeptionellem Denken und Handeln erwartet worden. Dieser Erwartungshorizont belege zugleich, dass für die Beantwortung der Fachfragen keine speziellen, über ein von einem Unterabteilungsleiter zu erwartendes allgemeines Interesse an politischen Fragen hinausgehenden Vorkenntnisse erforderlich gewesen seien. Schon deshalb sei nicht erkennbar, dass dem Beigeladenen aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit ein unzulässiger Vorteil zugekommen sei. Im Übrigen fehle es auch hier an der erforderlichen Kausalität eines – unterstellten – Fehlers im Auswahlvorgang. Auch bei Ausblendung der Antworten auf die Fachfragen bliebe auf der Grundlage des Kurzvortrages und der allein statusamtsbezogenen Fragen ein Vorsprung des Beigeladenen gegenüber dem Antragsteller von 45 zu 39 Punkten bestehen.
6Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen greift in der Sache nicht durch. Darauf, dass der Antrag in zeitlicher Hinsicht auch zu weit gefasst ist, kommt es daher nicht an.
71. Der Antragsteller rügt, die Antragsgegnerin habe nicht – wie nach der Rechtsprechung des Senats erforderlich – seine Auswahlentscheidung allein anhand von Hilfskriterien, hier auf der Grundlage der Ergebnisse des Auswahltages, getroffen. Ausweislich des Auswahlvermerks vom 12. September 2019 seien die dienstlichen Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen sehr wohl berücksichtigt worden. Die Antragsgegnerin habe in ihren schriftsätzlichen Äußerungen immer wieder selbst angeführt, man habe sich gezwungen gesehen, sowohl die Rechtsprechung des Senats als auch die des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg zu berücksichtigen, und habe daher die Beurteilungen der Beteiligten nicht gänzlich außer Betracht gelassen. Damit stehe fest, dass die vorhandenen Beurteilungen gerade nicht ohne Auswirkungen auf die Auswahlentscheidung geblieben seien.
8Dieses Vorbringen stellt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers sei nicht verletzt, nicht durchgreifend infrage. Zwar hat die Antragsgegnerin die Beurteilungen der Beteiligten bei der Auswahlentscheidung ergänzend berücksichtigt. Dies belegt der Auswahlvermerk vom 12. September 2019, in dem die Beurteilungen unter der Überschrift „Einbeziehung dienstlicher Beurteilungen in die Auswahl“ gewürdigt werden. Auch ist dort unter „Ergebnis“ festgehalten, dass die dienstlichen Beurteilungen der Beteiligten die von ihnen jeweils am Auswahltag gezeigten Leistungen stützten. Ob diese Berücksichtigung zulässig ist, kann jedoch offenbleiben. Selbst wenn die Beurteilungen fehlerhaft berücksichtigt worden wären, hätte die Beschwerde keinen Erfolg.
9Der im Auswahlverfahren unterlegene Bewerber kann im Falle einer fehlerbehafteten, sein subjektives Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG verletzenden Auswahlentscheidung nur unter der weiteren Voraussetzung eine – mittels einer einstweiligen Anordnung sicherungsfähige – erneute Entscheidung über seine Bewerbung beanspruchen, wenn er glaubhaft macht oder sich in Würdigung unstreitiger Sachumstände ergibt, dass seine Aussichten, in einem zweiten, rechtmäßigen Auswahlverfahren ausgewählt zu werden, offen sind, d. h. wenn seine Auswahl möglich erscheint. Daran fehlt es, wenn die gebotene wertende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls klar erkennbar ergibt, dass der Rechtsschutzsuchende auch im Fall einer nach den Maßstäben der Bestenauslese fehlerfrei vorgenommenen Auswahlentscheidung im Verhältnis zu den Mitbewerbern chancenlos sein wird.
10Vgl. zu diesem Erfordernis BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24. September 2002 – 2 BvR 857/02 –, juris, Rn. 13 f., und vom 25. November 2015 – 2 BvR 1461/15 –, juris, Rn. 19 f.; ferner etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 23. Mai 2017 – 1 B 99/17 –, juris, Rn. 9 bis 13 und vom 23. Oktober 2018– 1 B 666/18 –, juris, Rn. 32 f.
11Auch ohne die – unterstellt fehlerhafte – Berücksichtigung der Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen wäre eine Auswahl des Antragstellers bei einer Wiederholung der Auswahlentscheidung ausgeschlossen. Dies folgt, worauf auch bereits das Verwaltungsgericht zu Recht hinweist, aus der Bewertung der Leistungen der Beteiligten am Auswahltag. Während der Beigeladene insgesamt 58 Punkte erreichte, wurde die Leistung des Antragstellers lediglich mit 50 Punkten bewertet. Auch ohne eine Berücksichtigung der Beurteilungen besteht daher ein deutlicher Leistungsvorsprung des Beigeladenen, der für sich die getroffene Auswahlentscheidung trägt. Von einer „Kausalität zwischen dem fehlerhaften Verhalten der Antragsgegnerin und der negativen Auswahlentscheidung“ kann daher keine Rede sein.
12Der Vortrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin sei verpflichtet gewesen, ihm aufgrund der bestehenden Dienstvereinbarung eine aktuelle Anlassbeurteilung zu erteilen, genügt nicht den Darlegungsanforderungen. Eine solche Pflicht folgt insbesondere nicht ohne Weiteres aus dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juli 2012 – OVG 6 S 23.12 –, der sich ausschließlich auf bereits vorliegende dienstliche Beurteilungen bezieht. Dass der Antragsteller eine Anlassbeurteilung verlangt, ist im Übrigen mit Blick auf seinen übrigen Vortrag nicht nachvollziehbar. Der Antragssteller hat unter Ziff. 1. seiner Beschwerdebegründung vom 4. Mai 2020 ausdrücklich bemängelt, dass die Antragsgegnerin neben der Bewertung der Leistungen am Auswahltag fehlerhaft auch Beurteilungen berücksichtigt habe.
132. Die Bewertung der Leistungen am Auswahltag begegnet auch im Lichte des übrigen Beschwerdevortrags keinen durchgreifenden Bedenken.
14a. Weder die Annahme des Antragstellers, das Auswahlgremium sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, noch die Einschätzung, nicht der Abteilungsleiter X1. , sondern das Personalreferat habe über die Benotung der Leistungen der Beteiligten im Auswahlgespräch entschieden, treffen zu. Auch wenn der Abteilungsleiter X1. zum Zeitpunkt des Auswahltages am 26. August 2019 die Funktion des Abteilungsleiters X2. erst seit rund sechs Monaten (vertretungsweise) wahrgenommen hat, ist ohne weiteres davon auszugehen, dass er sich in dieser Zeit mit den Anforderungen dieser Abteilung soweit vertraut gemacht hat, dass er die Leistungen der Bewerber im Auswahlgespräch einschätzen konnte. Jedenfalls durch Zeichnung des Auswahlvermerks vom 12. September 2019, der auch die abschließende Bewertung der Leistungen der Beteiligten am Auswahltag enthält, hat der Abteilungsleiter X1. sich auch die dort niedergelegten Bewertungen zu eigen gemacht und damit die Leistungen des Antragstellers und des Beigeladenen abschließend selbst bewertet.
15b. Auch die Rüge, der Abteilungsleiter X1. sei für die Auswahlentscheidung nicht zuständig gewesen, greift im Ergebnis nicht durch. Selbst wenn der Abteilungsleiter X1. unzuständig gewesen sein sollte, was offenbleiben kann, erscheint eine Auswahlentscheidung der dann zuständigen Staatssekretärin zugunsten des Antragstellers ausgeschlossen. Die Staatssekretärin hat die Auswahlentscheidung des Abteilungsleiters X1. in Kenntnis der Auswahlvorlage nebst Anlagen gebilligt. Dies folgt aus ihrer dienstlichen Erklärung vom 13. Dezember 2019, die aus den bereits vom Verwaltungsgericht ausgeführten Gründen auch im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beachtlich ist.
16c. Das Vorbringen des Antragstellers, die Antragsgegnerin habe die Mitwirkung der Staatssekretärin nicht dokumentiert, genügt ebenfalls schon nicht den Darlegungsanforderungen. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, einer Dokumentation der Zustimmung der Staatssekretärin im Auswahlvorgang habe es nicht bedurft. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei der Dienstherr lediglich verpflichtet, die seiner Entscheidung zugrunde liegenden Auswahlerwägungen schriftlich niederzulegen. Mit dem Ansatz des Verwaltungsgerichts, die Zustimmung der Staatssekretärin sei keine (materielle) dokumentationsbedürftige Auswahlerwägung, setzt sich der Antragsteller nicht auseinander. Gleiches gilt für den vom Antragsteller behaupteten Verstoß gegen § 2 der Registraturrichtlinie.
17d. Auch soweit der Antragsteller die Konzeption des Auswahltages im Allgemeinen und die Entwicklung der Prüfungsthemen im Besonderen durch die Referenten des Personalreferates rügt, greift das Beschwerdevorbringen nicht durch. Bereits das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, der Antragsgegnerin stehe bei der Ausgestaltung von Auswahlgesprächen zum Zwecke der Bewerberauswahl ein weiter Spielraum zu. Dass die Antragsgegnerin diesen Spielraum überschritten hätte, legt der Antragsteller mit der Beschwerdebegründung nicht dar. Gleiches gilt, soweit der Antragsteller die Bewertung seiner Antwort zu Frage 3 rügt. Er stellt der Beurteilung durch die Antragsgegnerin lediglich seine eigene Bewertung seiner Antwort entgegen, ohne aufzuzeigen, inwieweit der Antragsgegnerin ein Beurteilungsfehler unterlaufen sein soll.
18e. Schließlich hat auch die Rüge keinen Erfolg, der Beigeladene habe aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit in der Abteilung X2. sowohl bei der Beantwortung der Fragen als auch bei dem Kurzvortrag Wissens- und Erfahrungsvorteile gegenüber dem Antragsteller gehabt, die das Auswahlgremium zugunsten des Antragstellers hätte berücksichtigen müssen. Soweit sich der Antragsteller auf den Kurzvortrag bezieht, hat sich ein etwaiger Wissens- und Erfahrungsvorsprung des Beigeladenen jedenfalls nicht ausgewirkt. Die Kurzvorträge sowohl des Antragstellers als auch des Beigeladenen sind jeweils mit vier Punkten bewertet worden. Hinsichtlich der Fragen 1 bis 9 ist ein Wissens- und Erfahrungsvorsprung des Beigeladenen ausgeschlossen. Diese Fragen zielten ausschließlich auf die Führungsqualitäten des jeweiligen Bewerbers ab. Ob der Beigeladene hinsichtlich der Fragen 10 bis 12 über einen solchen Vorsprung verfügte, kann offenbleiben, da schon aufgrund der Bewertungen der Kurzvorträge und der Antworten auf die Fragen 1 bis 9 ein klarer Leistungsvorsprung des Beigeladenen bestand.
19Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht nicht der Billigkeit, die etwaigen außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, weil diese im Beschwerdeverfahren jeweils keinen Antrag gestellt hat und damit kein Kostenrisiko eingegangen ist (§ 162 Abs. 3 VwGO).
20Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG sowie § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 4 i. V m. Satz 1 Nr. 1, Satz 2 und 3 GKG. Auszugehen ist nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 GKG von dem Jahresbetrag der Bezüge, die dem jeweiligen Antragsteller nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung (hier: 17. April 2020) bekanntgemachten, für Beamtinnen und Beamte des Bundes geltenden Besoldungsrechts fiktiv für das angestrebte Amt im Kalenderjahr der Beschwerdeerhebung zu zahlen sind. Nicht zu berücksichtigen sind dabei die nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 GKG ausgenommenen Besoldungsbestandteile. Der nach diesen Maßgaben zu bestimmende Jahresbetrag ist wegen § 52 Abs. 6 Satz 4 GKG und wegen der im Eilverfahren nur begehrten vorläufigen Sicherung auf ein Viertel zu reduzieren. Der nach den vorstehenden Grundsätzen zu ermittelnde Jahresbetrag beläuft sich hier angesichts des angestrebten Amtes der Besoldungsgruppe B 6 für das maßgebliche Jahr 2020 auf 123.256 Euro (Januar und Februar jeweils noch 10.181,40 Euro, für die übrigen Monate jeweils 10.289,32 Euro). Die Division des o. g. Jahresbetrages mit dem Divisor 4 führt auf den im Tenor festgesetzten Streitwert von 30.814 Euro.
21Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Tenor
Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt, die ausgeschriebenen (Beförderungs-)Stellen für das Amt einer Oberstudienrätin bzw. eines Oberstudienrates (Besoldungsgruppe A14 SHBesO) vor Ablauf von zwei Wochen nach Bekanntgabe einer erneuten Auswahlentscheidung mit den Beigeladenen zu besetzen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 17.718,36 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag des Antragstellers,
2
dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, die ausgeschriebenen (Beförderungs-)Stellen für das Amt einer Oberstudienrätin bzw. eines Oberstudienrates (Besoldungsgruppe A14 SHBesO) mit den Beigeladenen endgültig zu besetzen,
3
den die Kammer entsprechend dem Beschlusstenor gefasst hat, hat Erfolg.
4
Er ist zulässig und begründet.
5
Nach der Bestimmung des § 123 Abs. 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Dazu hat der Antragsteller Tatsachen glaubhaft zu machen, aus denen sich ergibt, dass ihm ein Anspruch, ein Recht oder ein sonstiges schützenswertes Interesse zusteht (sog. Anordnungsanspruch) und ferner, dass dieser Anordnungsanspruch in Folge einer Gefährdung durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss, somit eine Eilbedürftigkeit besteht (sog. Anordnungsgrund, § 123 Abs. 3 VwGO iVm §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
6
Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Nur im Wege einer gerichtlichen Eilentscheidung kann sichergestellt werden, dass sein Anspruch auf eine rechtsfehlerfreie Auswahlentscheidung gewahrt bleibt. Ein Abwarten bis zu einer neuen Auswahlentscheidung ist ihm nicht zumutbar. Der Antragsgegner beabsichtigt, die Beigeladenen auf die streitbefangenen Stellen zu befördern. Durch die Ernennung der Beigeladenen würde die Bewerbung des Antragstellers gegenstandslos, weil die Ernennung – außer im Fall der Verhinderung effektiven Rechtsschutzes zur Durchsetzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs – nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte (Grundsatz der Ämterstabilität; vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 04.07.2016 – 2 MB 10/16 – juris Rn. 16).
7
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Im Rahmen von beamtenrechtlichen Stellenbesetzungsverfahren besteht ein Anordnungsanspruch, wenn die Auswahlentscheidung den Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers verletzt und seine Aussichten, im Falle eines ordnungsgemäßen Auswahlverfahrens zum Zuge zu kommen, offen sind (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 22.08.2018 – 2 MB 16/18 – juris Rn. 6 m.w.N.).
8
Zwar besteht kein Anspruch auf Übertragung einer bestimmten Stelle, Bewerber können aber verlangen, dass der Dienstherr über ihre Bewerbung ermessens- und beurteilungsfehlerfrei nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung entscheidet, Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz (GG). Hierbei handelt es sich um Gesichtspunkte, die darüber Aufschluss geben, in welchem Maße die Bewerberinnen und Bewerber den Anforderungen des Amtes genügen und sich in einem höheren Amt voraussichtlich bewähren werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.10.2011 – 2 VR 4.11 – juris Rn. 14 sowie Beschluss vom 19.12.2014 – 2 VR 1.14 – juris Rn 21).
9
Die inhaltlichen Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG für die Vergabe höherwertiger Ämter machen eine Bewerberauswahl notwendig. Der Dienstherr muss Bewerbungen von Beamten um das höherwertige Amt zulassen und darf das Amt nur demjenigen Bewerber verleihen, den er aufgrund eines den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG entsprechenden Qualifikationsvergleichs als den am besten Geeigneten ausgewählt hat (vgl. Beschluss der Kammer vom 26.07.2018 – 12 B 49/17 – juris Rn. 22). Ist unter mehreren Bewerbern eine Auswahl für die Besetzung eines (Beförderungs-) Dienstpostens zu treffen, so sind Feststellungen über Eignung, Befähigung und Leistung in erster Linie auf dienstliche Beurteilungen zu stützen. Erst wenn alle unmittelbar leistungsbezogenen Erkenntnisquellen ausgeschöpft sind und die Bewerber in leistungsmäßiger Hinsicht als gleich einzustufen sind, können Hilfskriterien herangezogen werden (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 27.02.2003 – 2 C 16/02 – juris Rn. 15).
10
Ausgehend von diesen Maßstäben hat der Antragsgegner den sog. Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers verletzt. Die der Auswahlentscheidung maßgeblich zugrundeliegenden dienstlichen Beurteilungen der Bewerber sind nicht frei von Rechtsfehlern.
11
Dienstliche Beurteilungen sind von den Verwaltungsgerichten nur eingeschränkt überprüfbar. Denn die Entscheidung des Dienstherrn darüber, ob und in welchem Grad ein Beamter die für sein Amt und für seine Laufbahn erforderliche Befähigung und fachlichen Leistungen aufweist, ist ein dem Dienstherrn von der Rechtsordnung vorbehaltener Akt wertender Erkenntnis. Die verwaltungsgerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle hat sich deshalb darauf zu beschränken, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat. Hat der Dienstherr Richtlinien für die Abgabe dienstlicher Beurteilungen erlassen (wie hier die Beurteilungsgrundsätze für die Besetzung von Beförderungsstellen der Bes.Gr. A 14 SHBesO/Eingruppierungen in die Entgeltgruppe 14 TV-L vom 06.02.2020, im Folgenden: Beurteilungsgrundsätze), dann sind die Beurteilenden an diese Richtlinien hinsichtlich des anzuwendenden Verfahrens und der einzuhaltenden Maßstäbe nach dem Gleichheitsgrundsatz gebunden; das Gericht kann insoweit nur prüfen, ob die Richtlinien eingehalten sind und ob sie mit den gesetzlichen Regelungen in Einklang stehen (BVerwG, Urteil vom 30.01.2003 – 2 A 1.02 – juris Rn. 11; OVG Lüneburg, Beschluss vom 29.07.2015 – 5 ME 107/15 – juris Rn. 8; OVG Schleswig, Urteil vom 06. 09. 2000 – 3 L 221/98 – juris Rn. 54). Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung kann dagegen nicht dazu führen, dass das Gericht die fachliche und persönliche Beurteilung des Beamten durch seinen Dienstvorgesetzten in vollem Umfang nachvollzieht oder diese gar durch eine eigene Beurteilung ersetzt (BVerwG, Urteil vom 26.07.1980 – 2 C 8.78 - juris Rn. 18; OVG Lüneburg, Beschluss vom 12.04.2016 – 5 ME 14/16 – juris Rn. 20).
12
Gegen diese Beurteilungsgrundsätze ist mehrfach verstoßen worden.
13
Die Kammer folgt dem Antragsteller allerdings nicht in seiner Einschätzung, wonach die Beurteilungen der Beigeladenen schon deshalb rechtswidrig sind, weil sie ein ausreichendes bzw. ordnungsgemäßes Gesamturteil vermissen lassen.
14
Nach Nr. 6 der Beurteilungsgrundsätze des Antragsgegners vom 06.02.2020 sind die getroffenen Leistungs- und die Befähigungsbewertungen mit einem Gesamturteil in einer Note zusammenzufassen. Zusätzlich muss eine gesonderte Begründung dieser abschließenden Gesamtnote gegeben werden.
15
Dem ist der Schulleiter des xxxxx bei den Beurteilungen der Beigeladenen (noch) in hinreichendem Maße gerecht geworden. Bei allen drei Beigeladenen hat der Schulleiter das abschließende Gesamturteil durch eine – wenn auch knappe, jedoch ausreichende – Würdigung, Gewichtung und Abwägung der auf die Bestenauswahl bezogenen Gesichtspunkte gebildet (vgl. zu dieser Voraussetzung BVerwG, Beschluss vom 21.12.2016 – 2 VR 1.16 – juris Rn. 39). Insgesamt ist er auf die individuellen Besonderheiten der Bewerber eingegangen und hat dementsprechend auch in seiner Begründung einzelfallbezogen auf die gezeigten Leistungen des jeweiligen Bewerbers abgestellt. Das gilt auch für die Beigeladene zu 1, deren Gesamturteil zwar nur in einem Satz besteht, dieses indes – entgegen der Auffassung des Antragstellers – eine (noch) ausreichende Würdigung der maßgeblichen leistungsbezogenen Gesichtspunkte enthält.
16
Indes sind die Beurteilungen der Beigeladenen zu 2. und 3. fehlerhaft. Zutreffend weist der Antragsteller in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der für den Beigeladenen zu 2. eingeholte Beurteilungsbeitrag des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur vom 30.04.2020 nicht den Beurteilungsgrundsätzen entspricht. Nach der dortigen Nr. 3 Abs. 4 ist ein Beurteilungsbeitrag von dem Vorgesetzten anzufordern, bei dem Lehrkräfte mit einem Teil ihrer Arbeitszeit außerhalb der Stammschule eingesetzt sind. Dieser Beurteilungsbeitrag muss sich, das ergibt sich aus dem Kontext, insbesondere aus dem vorangehenden Absatz 3, zu Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung der Lehrkraft verhalten, darf sich nicht in einem Gesamturteil erschöpfen, sondern muss zu den Einzelmerkmalen der späteren Beurteilung Stellung beziehen. Das bedeutet indes, dass ein Beurteilungsbeitrag grundsätzlich nach den Vorgaben einer „normalen“ Beurteilung gemäß den Beurteilungsgrundsätzen zu fertigen ist. Insbesondere ist ein Tätigkeitsprofil voranzustellen, eine Leistungsbewertung vorzunehmen und sind die im Einzelnen in Nr. 5 der Beurteilungsgrundsätze aufgeführten Beurteilungsmerkmale zu bewerten. Dem entspricht der Beurteilungsbeitrag vom 30.04.2020 nicht. Er enthält lediglich die Nennung der Beurteilungsgrundlage, beschreibt das Tätigkeitsspektrum des Beigeladenen zu 2. und enthält eine zusammenfassende Bewertung. Damit genügt dieser Beurteilungsmaßstab den einschlägigen Beurteilungsgrundsätzen nicht.
17
Hinsichtlich der Beigeladenen zu 3. ist festzustellen, dass diese erst ab dem 01.08.2017 am xxxxx tätig ist. Gleichwohl hat sie eine Beurteilung erhalten, die den Zeitraum von Mai 2017 bis Mai 2020 umfasst.
18
Das ist fehlerhaft.
19
Auch der in der Erwiderung des Antragsgegners enthaltene Hinweis, dass der Schulleiter „weitere Erkenntnisse eingeholt (habe)“ ist nicht ausreichend. Zum einen ist bereits nicht klar, welche Erkenntnisse dies sein sollen, insbesondere ob es sich um solche dienstlicher Art gehandelt hat. Maßgeblich ist nämlich, dass die dienstlichen Leistungen der Beigeladenen zu 3. erst ab dem 01.08. vom Schulleiter beurteilt werden konnten. Wenn er gleichwohl einen Zeitraum davor, namentlich ab Mai 2017, in seine Beurteilung aufnehmen wollte, hätte es ihm oblegen, einen Beurteilungsbeitrag gemäß Nr. 3 Abs. 3 der Beurteilungsgrundsätze von dem früheren Vorgesetzten der Beigeladenen zu 3. (Schulleiter der xxx) einzuholen. Dies ist indes nicht geschehen; jedenfalls nicht in der dafür erforderlichen (schriftlichen) Form.
20
Erweisen sich die Beurteilungen des Beigeladenen zu .2 und der Beigeladenen zu 3. bereits aus den o.g. Gründen als fehlerhaft, braucht nicht mehr der Frage nachgegangen zu werden, ob ein Beurteilungszeitraum – entgegen der in den Beurteilungsgrundsätzen enthaltenen Vorgabe – von 37 Monaten zu Grunde gelegt werden durfte (der Schulleiter ist offensichtlich einem Irrtum erlegen, wenn er den Zeitraum von Mai/Juni 2017 bis Mai/Juni 2020 mit drei Jahren, d.h. mit 36 Monaten ansetzt; tatsächlich sind dies 3 Jahre und ein Monat).
21
Abschließend (und entscheidend) kommt hinzu, dass auch die Beurteilung des Antragstellers rechtlichen Bedenken begegnet. Diese ergeben sich zwar noch nicht daraus, dass – wie der Antragsteller meint – der Schulleiter bei ihm den Unterricht hätte besuchen können, weil er – der Antragsteller – im Zeitraum Juni 2019 bis Januar 2020 in der Schule unterrichtet hat. Denn er übersieht, dass die hier maßgebliche Ausschreibung vom 26.02.2020 und seine Bewerbung erst vom 18.03.2020 und damit zeitlich nachgelagert datieren.
22
Indes rügt der Antragsteller zu Recht, dass der Beurteilungsbeitrag der Hochschule I-Stadt, der ausweislich der ihm unter dem 23.04.2019 erteilten Beurteilung in diese eingeflossen ist, keinen ordnungsgemäßen Niederschlag (mehr) in der maßgeblichen dienstlichen Beurteilung des Antragstellers vom 30.06.2020 (sog. Aktualisierungsvermerk, vgl. Nr. 7 der Beurteilungsgrundsätze) gefunden hat. Denn der Antragsteller war auch im Zeitraum Juni 2019 bis Januar 2020 mit 50 % seiner Arbeitskraft an die Hochschule I-Stadt abgeordnet. Für diesen Zeitraum hätte (ebenfalls) ein Beurteilungsbeitrag gefertigt werden müssen (vgl. Nr. 3 Abs. 4 der Beurteilungsgrundsätze), Ein solcher, ggf. „aktualisierter“ Beurteilungsbeitrag fehlt indes. Insoweit ist der Aktualisierungsvermerk vom 30.06.2020 im Ergebnis fehlerhaft.
23
Da die Aussichten des Antragstellers bei Vermeidung der aufgeführten Mängel zum Zuge zu kommen, offen sind, war die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen.
24
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 2 VwGO.
25
Der Wert des Streitgegenstandes ist gemäß §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 6 Satz 4 iVm Satz 1 Nr. 1 GKG festgesetzt worden. Er beträgt ein Viertel der Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge des angestrebten Amtes (Besoldungsgruppe A14 ab 01.01.2020) mit Ausnahme nicht ruhegehaltfähiger Zulagen (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 29.06.2018 – 2 MB 3/18 -).
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 23. Januar 2020 gegen den Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 wird angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf … € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen einen von dem Antragsgegner festgesetzten Haftungsbescheid betreffend Gewerbesteuerforderungen gegenüber der „….“ (im Folgenden: …).
2
Im Zuge der Errichtung der GmbH war deren alleiniger Gründungsgesellschafter und zugleich Geschäftsführer Herr .... ..... (4 B 33/20). Neben dem Vater, Herrn........, waren auch dessen Söhne Herr........(4 B 32/20) und der Antragsteller für das Unternehmen tätig. Bei der........handelte es sich um ein Unternehmen, welches den An- und Verkauf von Schrott und Metallen sowie deren Bearbeitung zur Wiederverwendung in der industriellen Produktion zum unternehmerischen Gegenstand hatte. Die Eintragung in das Handelsregister (HRB 7867 Pl) erfolgte am 4. März 2009.
3
Für die Jahre 2009 bis 2014 reichte der Vater des Antragstellers für die........Gewerbesteuererklärungen über seinen Steuerberater ein. Auf Antrag eröffnete das Amtsgericht........mit Beschluss vom 29. Dezember 2015 das Insolvenzverfahren gegenüber der........, wobei bereits am 29. November 2015 die Kündigung der Arbeitnehmer des Unternehmens erfolgte.
4
Nach Prüfungsanordnung vom 12. August 2012 durch das Finanzamt........fand im Zuge von Ermittlungen eine Außenprüfung des Unternehmens statt. Zudem vernahm die Steuerfahndung Zeugen, die im direkten Zusammenhang zu der.... standen.
5
Nach der Schlussbesprechung zur Betriebsprüfung vom 12. Februar 2016 stellte die Betriebsprüfungsstelle des Finanzamtes........als Ergebnis in dem Bericht über die Außenprüfung vom 22. Juni 2016 unter Prüfungsanmerkung Nr. 1 fest, dass im Jahr 2008 und in den Vorjahren unter den Vorgängerfirmen der Familie....der Einkauf größtenteils nicht belegt sei. Auch einer Aufforderung an den Gesellschafter-Geschäftsführer vom17. Februar 2010, Wareneinkaufbelege vorzulegen und Empfänger der Betriebsausgaben zu benennen, sei dieser nicht nachgekommen. Für einen Teil der Betriebsausgaben sei der GmbH daraufhin der Betriebsausgabenabzug versagt worden. Für einen großen Teil der Wareneinkäufe (10 % in 2011 bis 51 % in 2014) seien Gutschriften von sogenannten Schrottschreibern unterschrieben. Diese hätten auf Zuruf eines Drahtziehers ohne Abgabe einer späteren Steuererklärung ein Gewerbe angemeldet und Unterschriften gegen Entgelt geleistet. Die Lieferung des Schrotts sei tatsächlich von anderen Personen ausgeführt worden und der Schreiber nie im Besitz der Ware gewesen.
6
Der Prüfbericht kommt hier zu dem Ergebnis, dass Wareneinkäufe, die die........getätigt habe, zum Großteil über Abdeckrechnungen (Schrottschreiber und ausgedachte Identitäten) als Betriebsausgaben in der Buchführung berücksichtigt worden seien. Der Geschäftsführer, Herr........, habe gewusst, dass die Schrottschreiber nicht die tatsächlichen Lieferanten gewesen seien. Ihm sei bekannt gewesen, dass die Anlieferung von anderen, dem Finanzamt unbekannter Personen/Firmen erfolgt sei und dass der Schrottschreiber nur Unterschriften geleistet habe. Wären die Personen der Ablieferer geprüft worden, wäre es nicht zur Adressierung der Gutschriften an nichtexistierende Personen bzw. Anschriften gekommen. Die Feststellungen der Betriebsprüfung ließen darauf schließen, dass der tatsächliche Empfänger die erhaltenen Gelder hätte versteuern müssen.
7
Der Vater des Antragstellers, wie auch sein Steuerberater, räumten sämtliche Tatsachenfeststellungen der Betriebsprüfung bzw. der Steuerfahndung und des Zolls ein. Herr....erklärte, er wisse, dass die Schrottschreiber nicht die Altmetalle geliefert hätten. Der Antragsteller unterzeichnete ebenso Lieferungen durch die vorgenannten Schrottschreiber und Abhollisten. Er kannte zudem die Ermittlungsergebnisse der Betriebsprüfung gegen die........und seinen Vater.
8
Unter Berücksichtigung der Ermittlungsergebnisse fand eine Gewerbesteuerneuberechnung für den Zeitraum 2009 bis 2014 statt (Bescheide vom 30.Juni 2016 in Höhe von insgesamt............€ (........€ Gewerbesteuer +........€ Nachzahlungszinsen). Die daraus resultierenden Forderungen wurden am 25. Juli 2016 zur Insolvenztabelle angemeldet.
9
Am 21. November 2017 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Verdachts der vorsätzlichen Verkürzung der Körperschafts- und Gewerbesteuer gem. § 170 Abs. 2 StPO gegen den Vater des Antragstellers ein.
10
Das Insolvenzgericht des Amtsgerichts........stellte die Gewerbesteuerforderungen am 9. Februar 2018 fest. Gegen die Forderungen legte der Antragsteller keine Rechtsbehelfe ein. Die Schlussverteilung erfolgte am 13. März 2018. Nach Barmittelverteilung wurde das Insolvenzverfahren am 27. August 2018 aufgehoben.
11
Unter Fristsetzung bis zum 20. Dezember 2019 ging dem Antragssteller ein Anhörungsbogen des Antragsgegners wegen beabsichtigter Inanspruchnahme als Haftungsschuldner und Steuervergehen am 16. Dezember 2019 zu.
12
Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2019 zeigte die Verfahrensbevollmächtigte die Vertretung der rechtlichen Interessen des Antragstellers an. Die anliegende Vollmacht unterschrieb „.........“. Die anwaltliche Vollmacht hinsichtlich des Antragstellers versicherte die Verfahrensbevollmächtigte zunächst und erklärte, diese nachzureichen. Eine von dem Antragsteller unterschriebene Vollmacht war erstmalig dem Antrag auf Akteneinsicht mit Schriftsatz vom 7. Januar 2020 beigefügt.
13
Der Antragsteller beantwortete die Fragen aus dem Anhörungsbogen nicht.
14
Mit Zugang des Schreibens vom 23. Dezember 2019 erließ der Antragsgegner einen Haftungsbescheid. Der Antragsgegner forderte einen Gesamtbetrag in Höhe von........€ zur Zahlung ein.
15
Zur Begründung führte der Antragsgegner an, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der persönlichen Haftung gemäß § 191 Abs. 1 AO i. V. m. §§ 69, 35 AO sowie wegen Steuerhinterziehung gemäß §§ 71 AO i. V. m. § 370 AO gegeben seien.
16
Die Gewerbesteuerforderungen seien gegen die Erstschuldnerin rechtskräftig festgesetzt worden und eine Verwirklichung der Ansprüche wegen Insolvenz der Erstschuldnerin nicht möglich. Ein Haftungsanspruch aus § 69 AO i. V. m. § 35 AO i. V. m. § 35 GmbHG ergebe sich daraus, dass der Antragsteller auch als faktischer Geschäftsführer gemäß § 35 AO die der Erstschuldnerin obliegenden Pflichten zu erfüllen habe. In der Funktion als faktischer Geschäftsführer hätte der Antragsteller dafür Sorge tragen müssen, dass die zur Entrichtung der Gewerbesteuerzahlungen nötigen finanziellen Mittel vorhanden und entrichtet werden könnten. Diese Pflichten habe der Antragsteller nicht erfüllt. Der Steuerausfall sei dadurch entstanden, dass nicht rechtzeitig vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Steueranspruch habe festgesetzt werden können. Aus Erklärungen des Antragstellers und der Buchhalterin der Erstschuldnerin ergebe sich, dass das Finanzamt den Kostenansatz im Bereich des Warenbezugs als nicht nachgewiesen erachte bzw. nicht anerkenne. Mangels anderweitiger Informationen seien verschiedene Handlungsverläufe, die jeweils eine Pflichtverletzung als faktischer Geschäftsführer bestätigen würden, bestätigt. Dem Antragsteller sei auch ein Verschulden zur Last zu legen. Er habe bewusst fehlerhaft den korrekten Warenansatz und die Betriebsausgaben in den Gewerbesteuererklärungen nicht deklariert. In Ermangelung der Mitwirkung des Antragstellers im Anhörungsverfahren sei von diesem vorstehenden subjektiven Tatbestand auszugehen.
17
Aus denselben Erwägungen sei auch eine Haftung gemäß § 71 AO i. V. m. § 370 AO begründet. Der Antragsteller hafte in vollem Umfang für die Abgabenschulden der Erstschuldnerin.
18
Mit Schreiben vom 23. Januar 2020 hat der Antragsteller Widerspruch eingelegt und stellte zugleich einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung. Zur Begründung führte er an, dass der Haftungsbescheid formell und materiell rechtswidrig sei. Insbesondere treffe der Antragsgegner keine Feststellungen, warum es zu der Annahme einer faktischen Geschäftsführung gemäß § 69 AO gekommen sei. Vielmehr werde diese einfach unterstellt. Aus den- selben Erwägungen sei eine Haftung gemäß § 71 AO i. V. m. § 370 AO ebenfalls nicht gegeben. Er sei lediglich mit Außendiensttätigkeiten betraut gewesen. Zu keinem Zeitpunkt sei er für buchhalterische und/oder steuerrechtliche Angelegenheiten zuständig gewesen. Dies habe im alleinigen Verantwortungsbereich des Vaters gelegen. Die vorstehenden Tatsachen hätten sich daher seiner Kenntnis bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens entzogen. Zudem sei Verjährung eingetreten.
19
Mit Schreiben vom 5. März 2020 wies der Antragsgegner den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zurück und begründete dies näher. Eine Entscheidung über den Widerspruch erfolgte nicht. Ferner forderte der Antragsgegner den Antragsteller unter erneuter Möglichkeit zur Stellungnahme bis 31. März 2020 auf, zu den im Anhörungsverfahren vom 16. Dezember 2019 gestellten Fragen Stellung zu nehmen.
20
Mit Schriftsatzeingang vom 16. Juni 2020 hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht gestellt.
21
Zur Begründung des Antrags trägt der Antragsteller im Wesentlichen die im Widerspruchsverfahren erhobenen Einwände vor. Ergänzend führt er an, dass für eine Beantwortung der Fragen im Anhörungsverfahren keine Möglichkeit für ihn bestehe, auf die begehrten Unterlagen zuzugreifen. Auf diese habe nur sein Vater Zugriff oder sie befänden sich zum Teil noch in den Händen des damaligen Insolvenzverwalters. Eine fristgerechte Stellungnahme sei daher zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen. Ferner sei auch eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung gegeben. Bereits mit eingereichtem Widerspruch vom 23. Januar 2020 sei die auf den 21. Januar 2020 datierte und von ihm unterzeichnete Prozessvollmacht beigefügt worden.
22
Der Antragsteller beantragt,
23
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 23. Januar 2020 gegen den Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 wegen Haftung gem. § 69 AO i. V. m. § 35 AO sowie wegen Haftung wegen Steuerhinterziehung gem. § 71 i. V. m. § 370 AO anzuordnen.
24
Der Antragsgegner beantragt,
25
den Antrag des Antragstellers auf Gewährung auf Aussetzung der Vollziehung abzulehnen.
26
Der Antragsgegner verteidigt die im Verwaltungsverfahren dargestellten Argumente und wiederholt diese im Wesentlichen.
27
Ergänzend führt der Antragsgegner an, dass der Vortrag, der Antragsteller sei nur als Außendienstmitarbeiter tätig gewesen, nachdrücklich bestritten werde. Aufgaben und Verantwortung für das Unternehmen seien gemeinschaftlich durch den Antragsteller, dessen Bruder und Vater wahrgenommen worden. Alle drei seien zudem Kunden und Lieferanten gegenüber als „Entscheider“ aufgetreten, die das „Sagen“ hätten. Hinsichtlich der Sachverhaltsermittlung habe er – der Antragsgegner – zeitaufwendig Ermittlungen aufgenommen. Neben Informationsgesprächen, Anforderung von Berichten des Insolvenzverwalters und Zusendung des Anhörungsbogens, habe er zusätzlich Akteneinsicht zu den Feststellungen der Außenprüfung beim Finanzamt........beantragt. In Bezug auf die fehlende Bevollmächtigung im Widerspruchsverfahren präzisiert der Antragsgegner, dass die Vollmacht lediglich undatiert und als Vollmachtgegenstand „......... wg Steuerverfahren“ ausgewiesen habe. Die Vollmacht umfasse daher nicht das Anhörungsverfahren wegen des beabsichtigten Haftungsbescheides oder das Widerspruchsverfahren. Auch nach Rüge habe die........ eine Originalvollmacht für den Streitstand der Anhörung und das Haftungsverfahren nicht vorgelegt, wozu sie gemäß § 80 Abs. 1 Satz 3 AO verpflichtet gewesen wäre.
28
Darüber hinaus seien die Verfahrensanträge auch unbegründet. Die Untersuchungspflicht werde durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 1 und 2 AO ergänzt. Die Grenze der Ermittlungspflicht sei dann erreicht, wenn es sich um Sachverhalte handle, zu denen alleine der Beteiligte Beweisnähe besitze. Aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Antragstellers bei Tatsachen, die dem alleinigen Verantwortungsbereich des Mitwirkungspflichtigen unterfielen, könne er, der Antragsgegner, zu dessen Nachteil von einem Sachverhalt ausgehen, wenn für den unter Berücksichtigung der Beweisnähe des Steuerpflichtigen und seiner Verantwortung für die Aufklärung eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehe. Die fehlende Mitwirkung führe zu einer Beweislastumkehr oder zumindest Beweismaßerleichterung zu Gunsten des die Beweislast tragenden Antragsgegners. Dementsprechend könne der durch ihn ermittelte Sachverhalt unterstellt werden. Dies betreffe insbesondere den Sachverhalt zur faktischen Geschäftsführung des Antragstellers.
29
Der Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 sei nicht verjährt. Es sei im Rahmen der Fristberechnung auf die Bekanntgabe des Steuerbescheides abzustellen.
30
Eine Haftung des Antragstellers sei auch wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung gemäß §§ 191 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 i. V. m. §§ 71, 370 Abs. 1 AO, § 27 StGB gegeben. Dabei müssten nur die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung vorliegen, einer Verurteilung bedürfe es nicht. Die Einstellung des Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO stelle auch keinen Freispruch dar. Als Haupttat hätte der Vater des Antragstellers den Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt, indem dieser den in der Betriebsprüfung ermittelten Sachverhalt eingestanden habe. Der Antragsteller habe durch falsche Dokumentation der Scheinlieferungen und Verschleierung der wahren Lieferanten sowie Geldempfänger die vom Vater gewollte Steuerverkürzung gefördert.
31
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze sowie auf den beigefügten Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
II.
32
Der Antrag ist zulässig und begründet.
33
Statthafte Verfahrensart im einstweiligen Rechtsschutz ist vorliegend ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, § 80 Abs. 5 Satz 1, Alt. 1 VwGO. Der Antragsteller ist Adressat eines belastenden Verwaltungsakts, dessen Vollziehung droht. Zudem ist der Hauptsacherechtsbehelf in Form des Widerspruchs vom 23. Januar 2020 eingelegt worden. Der Rechtsbehelf hat auch keine aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO. Hiernach entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten. Die Haftungsschuld tritt dabei an die Stelle der uneinbringlichen Steuerschuld – hier Gewerbesteuern für den Zeitraum 2009 bis 2014 –, so dass auch die Haftungsschuld dem Finanzierungszweck der öffentlichen Hand dient und daher eine öffentliche Abgabe im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO darstellt (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 04. Juni 2019 – 4 B 37/19 –, juris; VG München, Beschluss vom 23. Oktober 2018 – M 10 S 18.4681 -, juris).
34
Gleiches gilt hinsichtlich der vom Haftungsbescheid umfassten Nebenleistungen gem. §§ 69, 37, 3 Abs. 4 Nr. 4, 233a AO (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 04. Juni 06.2019– 4 B 37/19 –, juris). Der Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 fordert neben der Gewerbesteuer auch Nachzahlungszinsen ein. Diese sind als streng akzessorische Nebenleistung wie die zugrundeliegende Abgabe zu behandeln. Dies bedeutet, dass der Wegfall der aufschiebenden Wirkung gegen den Steuerbescheid (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) sich auch auf die Festsetzung von Nachzahlungszinsen erstreckt (so auch OVG NRW, Beschluss vom 14. September 2017 – 14 B 939/17 -, juris; Beschluss vom 25. Februar 2019 – 14 B 1759/18 -, juris; VG Schleswig, Beschlüsse vom 26. April 2019, – 4 B 1/19 und 4 B 2/19 -,juris, Beschluss vom 4. Juni 2019 – 4 B 37/19 -, juris; a. A. VG Göttingen, Beschluss vom 18. April 2019 – 2 B 487/18 –, juris).
35
Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig.
36
Der Antragsteller ist als Adressat eines belastenden Verwaltungsakts antragsbefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog).
37
Des Weiteren ist auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Diesem steht keine offensichtliche Unzulässigkeit des Hauptsacherechtsbehelfs entgegen. Das Vorverfahren ist durch wirksame (fristgerechte) Einlegung des Widerspruchs eingeleitet worden. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners lag eine wirksame Bevollmächtigung der Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers im Zeitpunkt der Einlegung des Widerspruchs vor.
38
Nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 AO gelten für die Realsteuern – zu denen auch die Gewerbesteuern zählen (§ 3 Abs. 2 AO) – die Vorschriften des Dritten Abschnitts mit Ausnahme der §§ 82 bis 84 (Allgemeine Verfahrensvorschriften) entsprechend. Gemäß dem damit anwendbaren § 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO kann sich ein Beteiligter durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Vollmacht ermächtigt zu allen das Verwaltungsverfahren betreffenden Verfahrenshandlungen, sofern sich aus ihrem Inhalt nicht etwas anderes ergibt. Die Erteilung der Vollmacht erfolgt nach § 167 Abs. 1 BGB durch eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Die Bevollmächtigungserklärung muss nach außen hin für einen objektiven Empfänger den Willen zur Vollmachtserteilung erkennen lassen (BFH, Beschluss vom 5. Februar 1975 – II B 29/74; BStBl. II 1975, 465; FG Brandenburg, Urteil vom 15. September 1998 – 4 K 1305/97 H, EFG 1999, 203; BeckOK AO/Kobor, 13. Ed. 1.7.2020, AO § 80 Rn. 12 m.w.N.).
39
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen liegt eine wirksame Bevollmächtigung durch den Antragsteller im Zeitpunkt der Einlegung des Widerspruchs vor.
40
Spätestens mit Schriftsatz vom 7. Januar 2020 – damit vor Einlegung des Widerspruchs am 23. Januar 2020 – legte der Verfahrensbevollmächtigte eine vom Antragsteller unterschriebene Vollmacht vor. Der Umstand, dass diese nicht datiert ist, ändert an der Wirksamkeit derselben nichts. Die Vollmacht, welche als Gegenstand „........wg. Steuerstrafverfahren“ ausweist, umfasst nach der tabellarischen Aufzählung auch die Vertretung in sonstigen Verfahren und damit das Widerspruchsverfahren. Aus dem Gesamtzusammenhang, insbesondere dem zur Vollmacht gehörenden Schreiben zur Beantragung von Akteneinsicht („Verwaltungsverfahren gegen....“), lässt sich ebenfalls erkennen, dass die Vollmacht das Widerspruchsverfahren miteinschließt.
41
Im Übrigen ist vorliegend § 80 Abs. 7 Satz 1 und 2, Abs. 10 AO zu berücksichtigen. Soweit ein Bevollmächtigter geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen leistet, ohne dazu befugt zu sein, ist er mit Wirkung für alle anhängigen und künftigen Verwaltungsverfahren des Vollmachtgebers im Zuständigkeitsbereich der Finanzbehörde zurückzuweisen. Die Zurückweisung ist dem Vollmachtgeber und dem Bevollmächtigten bekannt zu geben. Ohne entsprechende Zurückweisung sind die Handlungen des Bevollmächtigten wirksam (arg ex § 80 Abs. 10 AO). Nach dem eigenen Vortrag des Antragsgegners wurde der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers nur auf eine fehlerhafte Vollmacht hingewiesen. Eine Zurückweisung durch Verwaltungsakt im Sinne der vorgenannten Vorschrift erfolgte indes nicht.
42
Der Zulässigkeit steht § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO, wonach in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig ist, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat, ebenfalls nicht entgegen, da der Antragsgegner den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung mit Schriftsatz vom 5. März 2020 vollständig abgelehnt hat.
43
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ergibt sich eine Unzulässigkeit auch nicht aus § 80 Abs. 4 Satz 3 Alt. 2 VwGO. Hierbei handelt es sich um eine materielle Voraussetzung, die keinen Einfluss auf die Zulässigkeit des Antrags hat.
44
Der Antrag ist zudem begründet.
45
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, Alt. 1 VwGO ist begründet, wenn das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Interesse am Vollzug der in der Hauptsache angegriffenen Entscheidung überwiegt. Dies ist regelmäßig nach Durchführung einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage in Abhängigkeit von den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu beurteilen.
46
Den Maßstab für die gerichtliche Entscheidung bei der Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, die sich gegen die Anforderung öffentlicher Abgaben oder Kosten (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) richtet, stellt der Maßstab dar, den das Gesetz für das vorgelagerte behördliche Aussetzungsverfahren vorsieht. Nach § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO soll die Aussetzung des Sofortvollzuges bei Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten dann erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes liegen vor, wenn der Erfolg der Klage ebenso wahrscheinlich ist, wie deren Misserfolg (vgl. std. Rspr. OVG Schleswig, Beschluss vom 5. Dezember 2018 – 2 MB 26/18 –, juris m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 3. Juli 1981 – 8 C 83.81 –, juris).
47
Gemessen daran spricht nach einer summarischen Prüfung mehr dafür, dass der Widerspruch vom 23. Januar 2020 Erfolg haben wird. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts.
48
Der Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 beruht auf §§ 191 Abs. 1 Satz 1, 69 AO i.V.m. § 35 AO, sowie §§ 191 Abs. 1 Satz 1, 71 i.V.m. § 370 AO.
49
Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten u.a. nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden. Nach § 35 AO hat die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters (§ 34 Abs. 1 AO), wer als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann.
50
Ein Auftreten im eigenen oder fremden Namen als sog. „faktischer Geschäftsführer“ lässt sich nach der bisherigen Sach- und Rechtslage nicht feststellen. Für dieses haftungsbegründende Tatbestandsmerkmal ist der Antragsgegner beweisbelastet.
51
Faktischer Geschäftsführer ist, wer nach dem Gesamterscheinungsbild seines Auftretens die Geschicke der Gesellschaft – über die interne Einwirkung auf die satzungsmäßige Geschäftsführung hinaus – durch eigenes Handeln im Außenverhältnis maßgeblich in die Hand genommen und ihre Geschäfte wie ein Geschäftsführer geführt hat (FG Hamburg, Urteil vom 29. März 2017 – 3 K 183/15 –, juris, Rn. 29; FG München, Urteil vom 25. November 2014 – 2 K 40/12 –, juris, Rn. 25). Die faktische Geschäftsführereigenschaft wird in der Rechtsprechung anhand eines Kriterienkatalogs näher konkretisiert. Nach dem klassischen Kriterienkatalog (Bestimmung der Unternehmenspolitik, Unternehmensorganisation, Einstellung von Mitarbeitern, Gestaltung der Geschäftsbeziehungen zu Vertragspartnern, Verhandlung mit Kreditgebern, Gehaltshöhe, Entscheidung der Steuerangelegenheiten, Steuerung der Buchhaltung) liegt eine faktische Geschäftsführung vor, wenn das Handeln des potentiellen faktischen Geschäftsführers sechs von den acht klassischen Kernbereichen der Geschäftsführung umfasst (FG Hamburg, Urteil vom 29. März 2017 – 3 K 183/15 –, juris, Rn. 29). Dies kann hier nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Ein Nachweis durch den Antragsgegner über entsprechende Anknüpfungstatsachen hierzu fehlt. Insbesondere sind solche nicht aus den angeforderten Verwaltungsvorgängen ersichtlich.
52
Einziger tatsächlicher Anhaltspunkt für eine faktische Geschäftsführereigenschaft des Antragstellers sind die durch ihn (und durch seinen Bruder und Vater) unterzeichneten Abhollisten. Da die Abhollisten von allen benannten Personen gleichsam unterzeichnet wurden, kann dies u. U. für eine Gleichwertigkeit der Personen im Unternehmensgeflecht sprechen. Gleichwohl ist es auch denkbar, dass der Antragsteller als Arbeitnehmer bei der Abwicklung des Tagesgeschäfts Listen der dargestellten Art unterzeichnete. Ein hinreichender Schluss auf eine faktische Geschäftsführereigenschaft bietet dies nicht.
53
Ferner wird der Antragsteller nicht im Prüfbericht zur Außenprüfung des Unternehmens erwähnt. Vielmehr zeigt der Prüfbericht, dass die Nachforschungen und Ergebnisse alleine auf den Vater des Antragstellers bezogen sind. Zudem erfolgten keine anderweitigen Ermittlungen durch z. B. die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Antragsteller. Dieser war zu keinem Zeitpunkt – zumindest ausweislich der vorgelegten Unterlagen – im Fokus der Ermittlungsbehörden. Aus dem bloßen Umstand, dass der Antragsteller Kenntnis von den Ermittlungen gegenüber seinem Vater hatte, lässt sich Gegenteiliges nicht ableiten.
54
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners lässt sich vorliegend auch keine Beweislastumkehr oder Beweismaßerleichterung aus § 90 Abs. 1 und 2 AO herleiten.
55
Grundsätzlich ist der Sachverhalt von Amts wegen gemäß § 88 Abs. 1 Satz 1 AO zu ermitteln. Die Beteiligten sind aber zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts verpflichtet (§ 90 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie kommen der Mitwirkungspflicht insbesondere dadurch nach, dass sie die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenlegen und die ihnen bekannten Beweismittel angeben (§ 90 Abs. 1 Satz 2 AO). Der Umfang dieser Pflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (§ 90 Abs. 1 Satz 3 AO). Dieser Einzelfallbezug folgt letztlich bereits aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und knüpft das Ausmaß der Mitwirkungspflicht an die Beweisnähe des Beteiligten (Klein/Rätke, 15. Aufl. 2020, AO § 90 Rn. 7; Koenig/Wünsch, 3. Aufl. 2014, AO § 90 Rn. 12). Je tiefer die aufzuklärenden Sachverhaltsumstände in der Sphäre des Beteiligten liegen, umso größer und weitreichender ist wegen der Beweisnähe die Verantwortung des Beteiligten für die Aufklärung dieser Umstände (BFH, Urteil vom 16. September 1987 – II R 237/84, BFH/NV 1988, 690; BFH, Urteil vom 15. Februar 1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462; BFH, Urteil vom 9. Juni 2005 – IX R 75/03, BFH/NV 2005, 1765). Verletzt der Beteiligte seine allgemeine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 1 AO, entbindet dies die Finanzbehörde zwar nicht von der Verpflichtung zur weiteren Sachverhaltsaufklärung nach....§ 88 AO, der Verstoß kann jedoch zumindest eine Reduzierung der behördlichen Ermittlungspflicht zur Folge haben (BeckOK AO/Kobor, 13. Ed. 1.7.2020, AO § 90 Rn. 18 m.w.N.). Dies gilt umso mehr, je weiter die aufzuklärenden Umstände in der Privatsphäre des Beteiligten liegen und dieser der alleinige Wissensträger ist (BFH, Beschluss vom 03. Mai 1999 – VII S 1/99, BFH/NV 2000, 1; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. November .2010 – 10 K 43/10, EFG 2011, 804). Gemessen an diesen Voraussetzungen ist keine Beweislastumkehr oder Beweismaßerleichterung anzunehmen.
56
Die Annahme einer Beweisnähe des Antragstellers würde voraussetzen, dass dieser zu den für die Besteuerung relevanten unternehmensinternen Unterlagen vollständigen Zugriff hatte. Da es sich bei derartigen Informationen um sensible Daten unternehmerischer Tätigkeit handelt, ist nach lebensnaher Sachverhaltsauslegung davon auszugehen, dass nur die Unternehmensleitung bzw. die Geschäftsführer Zugriff auf alle Dokumente haben. Gleichwohl können die für die Gewerbesteuer relevanten Unterlagen auch dem Zugriff für die Bearbeitung zuständiger Angestellter ausgesetzt sein. Hier ist aber bereits zweifelhaft, welche konkrete Funktion der Antragsteller im Unternehmen ausgeübt hat. Die generelle Zugriffmöglichkeit des Antragstellers kann nicht unterstellt werden. Selbst wenn ein Anstellungsverhältnis angenommen werden will, ist nicht ersichtlich, woraus sich das konkrete Zugriffsrecht ergeben soll. Weder ist der Arbeitsvertrag des Antragstellers vorgelegt (entgegen dem Vortrag mit Schriftsatz vom 07.Oktober 2020 ist dieser nicht im Verwaltungsvorgang als Anlage zum Widerspruch vom 23. Januar 2020 enthalten oder der Antragsschrift beigefügt gewesen), aus dem sich der Aufgabenbereich des Arbeitnehmers ergeben kann, noch sind andere Anhaltspunkte vorgetragen. Ebenso wenig kann hier davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller im oben genannten Sinne alleiniger Wissensträger ist.
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Ebenso wenig ergibt sich nach der summarischen Prüfung für die Kammer eine Haftung aus §§ 191 Abs. 1 AO, 71 i. V. m. § 370 AO. Entsprechendes hat der insoweit ebenfalls beweispflichtige Antragsgegner nicht dargelegt.
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Gemäß § 191 Abs. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach § 71 AO haftet, wer eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt. Teilnehmer einer Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei sind der Anstifter i. S. d. § 26 StGB sowie der Gehilfe i. S. d. § 27 StGB (BFH, Urteil vom 15. Januar 2013 – VIII R 22/10 –, BFHE 240, 195, BStBl II 2013, 526 –, juris, Rn. 23). Die Haftung des Gehilfen setzt voraus, dass der Täter die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO verwirklicht hat. Eine Verurteilung wegen einer Steuerstraftat muss nicht erfolgt sein (BFH, Urteil vom 10. Oktober 1972 – VII R 117/69 –, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68 –, juris, Rn. 17). Hilfeleistung ist jede Handlung, die die Herbeiführung des Taterfolgs des Haupttäters objektiv fördert, ohne dass sie für den Erfolg selbst ursächlich sein muss (FG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 07. Januar 2015 – 5 V 2068/14 –, juris, Rn. 30). Eine Steuerhinterziehung liegt insbesondere vor, wenn unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen gemacht werden (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO). Ob jemand Täter oder Teilnehmer einer Steuerhinterziehung ist, hat die für die Inanspruchnahme des Haftenden zuständige Finanzbehörde zu prüfen und festzustellen. Die Finanzbehörde trägt daher die Feststellungslast für alle haftungsbegründenden Merkmale des § 71 AO einschließlich des Vorliegens einer Straftat (FG Hamburg, Beschluss vom 03. Mai 2018 – 4 V 271/17 –, juris, Rn. 9). Nicht ausreichend ist der bloße Hinweis im Haftungsbescheid auf die Ermittlungsergebnisse der Steuerfahndung (VG Magdeburg, Urteil vom 24. Mai 2017 – 2 A 373/15 –, juris, Rn. 27).
59
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Antragsgegner in Bezug auf den Antragsteller nicht dargelegt.
60
Die von dem Antragsgegner vorgelegte Begründung, insbesondere im Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019, geht nicht über bloße Behauptungen hinaus. Es fehlt bereits an Tatsachen, die eine vorsätzliche, rechtswidrige Haupttat begründen. Einziger Anhaltspunkt sind die gegen den Vater erfolgten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Das Verfahren ist aber gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Zwar ist das Gericht hieran nicht gebunden, doch hätten gegen dieses starke Indiz für eine fehlende Haupttat Tatsachen vorgebracht werden müssen, die eine andere Wertung zulassen. Dies ist nicht erfolgt.
61
Des Weiteren fehlt es an einer Beihilfehandlung durch den Antragssteller. Alleine aus dem Umstand, dass eine Mitwirkung im Anhörungsverfahren nicht erfolgte, kann nicht auf eine Beihilfe zur Steuerhinterziehung geschlossen werden. Es bedarf zumindest rudimentärer Anknüpfungstatsachen. Auch die vermeintlichen Aussagen des Antragstellers und Zeugen gegenüber dem Insolvenzverwalter liegen dem Gericht zur Entscheidung nicht vor. Woraus sich die darauffolgende Feststellung („Aufgrund der bisherigen Ermittlungen muss davon ausgegangen werden, dass Sie die Betriebsausgaben bewusst falsch (…) erklärt haben“) ergibt, wird nicht dargestellt. Weitere Anhaltspunkte ergeben sich hierzu für das Gericht nicht.
62
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
63
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG, wobei die Kammer in ständiger Rechtsprechung in einstweiligen Rechtsschutzverfahren in Abgabensachen ein Viertel des geforderten Abgabenbetrages (.... ) als Streitwert festsetzt.
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche vom 23. Januar 2020 gegen die Haftungsbescheide vom 23. Dezember 2019 wird angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf......€ festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen zwei von dem Antragsgegner festgesetzte Haftungsbescheide betreffend Gewerbesteuerforderungen gegenüber der „…“ (im Folgenden: ...).
2
Im Zuge der Errichtung der GmbH war deren alleiniger Gründungsgesellschafter und zugleich Geschäftsführer Herr... (4 B 33/20). Neben dem Vater,..., waren auch dessen Söhne Herr....... (4 B 31/20) und der Antragsteller für das Unternehmen tätig. Bei der... handelte es sich um ein Unternehmen, welches den An- und Verkauf von Schrott und Metallen sowie deren Bearbeitung zur Wiederverwendung in der industriellen Produktion zum unternehmerischen Gegenstand hatte. Die Eintragung in das Handelsregister (HRB 7867 Pl) erfolgte am 4. März 2009.
3
Für die Jahre 2009 bis 2014 reichte der Vater des Antragstellers für die...Gewerbesteuererklärungen über seinen Steuerberater ein. Auf Antrag eröffnete das Amtsgericht... mit Beschluss vom 29. Dezember 2015 das Insolvenzverfahren gegenüber der..., wobei bereits am 29. November 2015 die Kündigung der Arbeitnehmer des Unternehmens erfolgte.
4
Nach Prüfungsanordnung vom 12. August 2012 durch das Finanzamt...fand im Zuge von Ermittlungen eine Außenprüfung des Unternehmens statt. Zudem vernahm die Steuerfahndung Zeugen, die im direkten Zusammenhang zu der... standen.
5
Nach der Schlussbesprechung zur Betriebsprüfung vom 12. Februar 2016 stellte die Betriebsprüfungsstelle des Finanzamtes...als Ergebnis in dem Bericht über die Außenprüfung vom 22. Juni 2016 unter Prüfungsanmerkung Nr. 1 fest, dass im Jahr 2008 und in den Vorjahren unter den Vorgängerfirmen der Familie...der Einkauf größtenteils nicht belegt sei. Auch einer Aufforderung an den Gesellschafter-Geschäftsführer vom 17. Februar 2010, Wareneinkaufbelege vorzulegen und Empfänger der Betriebsausgaben zu benennen, sei dieser nicht nachgekommen. Für einen Teil der Betriebsausgaben sei der...daraufhin der Betriebsausgabenabzug versagt worden. Für einen großen Teil der Wareneinkäufe (10 % in 2011 bis 51 % in 2014) seien Gutschriften von sogenannten Schrottschreibern unterschrieben. Diese hätten auf Zuruf eines Drahtziehers ohne Abgabe einer späteren Steuererklärung ein Gewerbe angemeldet und Unterschriften gegen Entgelt geleistet. Die Lieferung des Schrotts sei tatsächlich von anderen Personen ausgeführt worden und der Schreiber nie im Besitz der Ware gewesen.
6
Der Prüfbericht kommt hier zu dem Ergebnis, dass Wareneinkäufe, die die... getätigt habe, zum Großteil über Abdeckrechnungen (Schrottschreiber und ausgedachte Identitäten) als Betriebsausgaben in der Buchführung berücksichtigt worden seien. Der Geschäftsführer, Herr..., habe gewusst, dass die Schrottschreiber nicht die tatsächlichen Lieferanten gewesen seien. Ihm sei bekannt gewesen, dass die Anlieferung von anderen, dem Finanzamt unbekannter Personen/Firmen erfolgt sei und dass der Schrottschreiber nur Unterschriften geleistet habe. Wären die Personen der Ablieferer geprüft worden, wäre es nicht zur Adressierung der Gutschriften an nichtexistierende Personen bzw. Anschriften gekommen. Die Feststellungen der Betriebsprüfung ließen darauf schließen, dass der tatsächliche Empfänger die erhaltenen Gelder hätte versteuern müssen.
7
Der Vater des Antragstellers, wie auch sein Steuerberater, räumten sämtliche Tatsachenfeststellungen der Betriebsprüfung bzw. der Steuerfahndung und des Zolls ein. Herr.... erklärte, er wisse, dass die Schrottschreiber nicht die Altmetalle geliefert hätten. Der Antragsteller unterzeichnete ebenso Lieferungen durch die vorgenannten Schrottschreiber und Abhollisten. Er kannte zudem die Ermittlungsergebnisse der Betriebsprüfung gegen die......und seinen Vater.
8
Unter Berücksichtigung der Ermittlungsergebnisse fand eine Gewerbesteuerneuberechnung für den Zeitraum 2009 bis 2014 statt (Bescheide vom 30.Juni 2016 in Höhe von insgesamt......€ (......€ Gewerbesteuer +......€ Nachzahlungszinsen). Die daraus resultierenden Forderungen wurden am 25. Juli 2016 zur Insolvenztabelle angemeldet.
9
Am 21. November 2017 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Verdachts der vorsätzlichen Verkürzung der Körperschafts- und Gewerbesteuer gem. § 170 Abs. 2 StPO gegen den Vater des Antragstellers ein.
10
Das Insolvenzgericht des Amtsgerichts... stellte die Gewerbesteuerforderungen am 9. Februar 2018 fest. Gegen die Forderungen legte der Antragsteller keine Rechtsbehelfe ein. Die Schlussverteilung erfolgte am 13. März 2018. Nach Barmittelverteilung wurde das Insolvenzverfahren am 27. August 2018 aufgehoben.
11
Unter Fristsetzung bis zum 20. Dezember 2019 gingen dem Antragssteller zwei Anhörungsbögen des Antragsgegners wegen beabsichtigter Inanspruchnahme als Haftungsschuldner und Steuervergehen am 16. Dezember 2019 zu.
12
Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2019 zeigte die Verfahrensbevollmächtigte die Vertretung der rechtlichen Interessen des Antragstellers an. Die anliegende Vollmacht unterschrieb „...“.
13
Der Antragsteller beantwortete die Fragen aus dem Anhörungsbogen nicht.
14
Mit Zugang des Schreibens vom 23. Dezember 2019 erließ der Antragsgegner zwei Haftungsbescheide. Der Antragsgegner forderte einen Gesamtbetrag in Höhe von......€ zur Zahlung ein.
15
Zur Begründung des ersten Haftungsbescheids führte der Antragsgegner an, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der persönlichen Haftung gemäß § 191 Abs. 1 AO i. V. m. §§ 69, 35 AO sowie wegen Steuerhinterziehung gemäß §§ 71 AO i. V. m. § 370 AO gegeben seien.
16
Die Gewerbesteuerforderungen seien gegen die Erstschuldnerin rechtskräftig festgesetzt worden und eine Verwirklichung der Ansprüche wegen Insolvenz der Erstschuldnerin nicht möglich. Ein Haftungsanspruch aus § 69 AO i. V. m. § 35 AO i. V. m. § 35 GmbHG ergebe sich daraus, dass der Antragsteller auch als faktischer Geschäftsführer gemäß § 35 AO die der Erstschuldnerin obliegenden Pflichten zu erfüllen habe. In der Funktion als faktischer Geschäftsführer hätte der Antragsteller dafür Sorge tragen müssen, dass die zur Entrichtung der Gewerbesteuerzahlungen nötigen finanziellen Mittel vorhanden und entrichtet werden könnten. Diese Pflichten habe der Antragsteller nicht erfüllt. Der Steuerausfall sei dadurch entstanden, dass nicht rechtzeitig vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Steueranspruch habe festgesetzt werden können. Aus Erklärungen des Antragstellers und der Buchhalterin der Erstschuldnerin ergebe sich, dass das Finanzamt den Kostenansatz im Bereich des Warenbezugs als nicht nachgewiesen erachte bzw. nicht anerkenne. Mangels anderweitiger Informationen seien verschiedene Handlungsverläufe, die jeweils eine Pflichtverletzung als faktischer Geschäftsführer bestätigen würden, bestätigt. Dem Antragsteller sei auch ein Verschulden zur Last zu legen. Er habe bewusst fehlerhaft den korrekten Warenansatz und die Betriebsausgaben in den Gewerbesteuererklärungen nicht deklariert. In Ermangelung der Mitwirkung des Antragstellers im Anhörungsverfahren sei von diesem vorstehenden subjektiven Tatbestand auszugehen.
17
Aus denselben Erwägungen sei auch eine Haftung gemäß § 71 AO i. V. m. § 370 AO begründet. Der Antragsteller hafte in vollem Umfang für die Abgabenschulden der Erstschuldnerin.
18
Zur Begründung des zweiten Haftungsbescheids führt der Antragsgegner an, dass die Voraussetzungen des Haftungstatbestands gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 AO wegen Haftung gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB gegeben seien.
19
Das Einzelunternehmen des Antragstellers unter der Firma „......“ sei als Nachfolgeunternehmen unmittelbar nach der Beantragung der Insolvenz auf dem Firmengelände der insolventen GmbH gegründet und als Rechtsnachfolger für den Kunden- und Lieferantenkreis erkennbar fortgeführt worden. Das Handelsgeschäft habe nicht nur die Betriebs- und Geschäftsausstattung der insolventen Gesellschaft übernommen, sondern auch alle bisherigen bei der Erstschuldnerin tätigen Schlüsselmitarbeiter wie die Buchhalterin,......, und weitere ehemalige faktische Geschäftsführer. In dem Internet-Auftritt werde durch Verweis auf den übernommenen Unternehmenssitz, sowie der Kontaktdaten die Firmenübernahme aus der Sicht Dritter deutlich. Die Kunden könnten den Antragsteller auf der Homepage als „...“ wiederfinden.
20
Eine Unternehmensfortführung liege hier vor, da der Betrieb für den maßgeblichen Verkehrskreis in seinem wesentlichen Bestand unverändert weitergeführt, der Tätigkeitsbereich, die innere Organisation und die Räumlichkeiten ebenso wie Kunden- und Lieferantenbeziehungen jedenfalls im Kern beibehalten und Teile des Personals übernommen worden seien.
21
Ferner sei auch eine Firmenfortführung anzunehmen. Für die Verwirklichung von § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB spreche die Identität bzw. große Ähnlichkeit des Betätigungsfeldes (Recycling – bundesweiter Schrotthandel), des Geschäftssitzes, der Telefonnummer und der E-Mail-Adresse sowie die Selbstdarstellung des Unternehmens im Internet, die auf eine seit 2015 zurückreichende Unternehmensgeschichte abstelle.
22
Mit Schreiben vom 23. Januar 2020 hat der Antragsteller Widerspruch gegen beide Haftungsbescheide eingelegt und stellte zugleich einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung.
23
Zur Begründung der Widersprüche führte er an, dass der Haftungsbescheid formell und materiell rechtswidrig sei. Insbesondere treffe der Antragsgegner keine Feststellungen, warum es zu der Annahme einer faktischen Geschäftsführung gemäß § 69 AO gekommen sei. Vielmehr werde diese einfach unterstellt. Aus denselben Erwägungen sei eine Haftung gemäß § 71 AO i. V. m. § 370 AO ebenfalls nicht gegeben. Er sei lediglich mit Außendiensttätigkeiten betraut gewesen. Zu keinem Zeitpunkt sei er für buchhalterische und/oder steuerrechtliche Angelegenheiten zuständig gewesen. Dies habe im alleinigen Verantwortungsbereich des Vaters gelegen. Die vorstehenden Tatsachen hätten sich daher seiner Kenntnis bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens entzogen. Zudem sei Verjährung eingetreten.
24
Hinsichtlich einer Haftung gem. § 25 Abs. 1 HGB sei der Sachverhalt ebenfalls fehlerhaft erfasst worden. Die Geschäfte der GmbH seien ausweislich der Anklageschrift gegen den Vater des Antragstellers zum 31. Oktober 2015 stillgelegt worden. Das neue Gewerbe des Antragstellers sei auch nicht unter der bisherigen Firmenadresse angemeldet worden, sondern unter der Privatadresse des Antragstellers. Erst später habe sich der Antragsteller entschieden, den ehemaligen Recyclinghof zu nutzen und ehemalige Arbeitnehmer anzusprechen.
25
Eine Haftung nach § 25 Abs. 1 HGB sei nicht anzunehmen. Es fehle bereits an einem Erwerb des Unternehmens. Es seien nur kleine Teile des stillgelegten Unternehmens mit zeitlichem Verzug erworben worden. Auch sei keine Fortführung des Unternehmens erkennbar, was durch die Stilllegung und Gründung der neuen Firma unter der Privatadresse des Antragstellers nach außen zu erkennen sei. Zudem fehle es an einer Fortführung der Firma. Die Verwendung des Familiennamens liege in der Natur der Sache und durch den Zusatz des Vornamens werde eine ausreichende Abgrenzung geschaffen. Die Verwendung des Begriffs Schrotthandel zeige den geänderten Unternehmensschwerpunkt. Selbst die Verwendung der alten Firmenhomepage sei unschädlich.
26
Mit Schreiben vom 5. März 2020 wies der Antragsgegner die Anträge auf Aussetzung der Vollziehung zurück und begründete dies näher. Eine Entscheidung der Widersprüche erfolgte nicht. Ferner forderte der Antragsgegner den Antragsteller unter erneuter Möglichkeit zur Stellungnahme bis 31. März 2020 auf, zu den im Anhörungsverfahren vom 16. Dezember 2019 gestellten Fragen Stellung zu nehmen.
27
Mit Schriftsatzeingang vom 16. Juni 2020 hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht gestellt.
28
Zur Begründung des Antrags trägt der Antragsteller im Wesentlichen die im Widerspruchsverfahren erhobenen Einwände vor. Ergänzend führt er an, dass für eine Beantwortung der Fragen im Anhörungsverfahren keine Möglichkeit für ihn bestehe, auf die begehrten Unterlagen zuzugreifen. Auf diese habe nur sein Vater Zugriff oder sie befänden sich zum Teil noch in den Händen des damaligen Insolvenzverwalters. Eine fristgerechte Stellungnahme sei daher zu keinem Zeitpunkt möglich gewesen. Ferner sei auch eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung gegeben. Bereits mit eingereichten Widerspruch vom 23. Januar 2020 sei die auf den 21. Januar 2020 datierte und von ihm unterzeichnete Prozessvollmacht beigefügt worden.
29
Der Antragsteller beantragt,
30
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 23. Januar 2020 gegen den Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 wegen Haftung gem. § 69 AO i. V. m. § 35 AO sowie wegen Haftung wegen Steuerhinterziehung gem. § 71 i. V. m. § 370 AO sowie die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 23. Januar 2020 gegen den Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 wegen Haftung gem. § 25 HGB anzuordnen.
31
Der Antragsgegner beantragt,
32
die Anträge des Antragstellers abzulehnen.
33
Der Antragsgegner verteidigt die im Verwaltungsverfahren dargestellten Argumente und wiederholt diese im Wesentlichen.
34
Ergänzend führt der Antragsgegner an, dass der Vortrag, der Antragsteller sei nur als Außendienstmitarbeiter tätig gewesen, nachdrücklich bestritten werde. Aufgaben und Verantwortung für das Unternehmen seien gemeinschaftlich durch den Antragsteller, dessen Bruder und Vater wahrgenommen worden. Alle drei seien zudem Kunden und Lieferanten gegenüber als „Entscheider“ aufgetreten, die das „Sagen“ hätten. Hinsichtlich der Sachverhaltsermittlung habe er – der Antragsgegner – zeitaufwendig Ermittlungen aufgenommen. Neben Informationsgesprächen, Anforderung von Berichten des Insolvenzverwalters und Zusendung des Anhörungsbogens, habe er zusätzlich Akteneinsicht zu den Feststellungen der Außenprüfung beim Finanzamt...beantragt. In Bezug auf die fehlende Bevollmächtigung im Widerspruchsverfahren präzisiert der Antragsgegner, dass die Vollmacht lediglich undatiert und als Vollmachtgegenstand „......wg Steuerverfahren“ ausgewiesen habe. Die Vollmacht umfasse daher nicht das Anhörungsverfahren wegen des beabsichtigten Haftungsbescheides oder das Widerspruchsverfahren. Auch nach Rüge habe die......eine Originalvollmacht für den Streitstand der Anhörung und das Haftungsverfahren nicht vorgelegt, wozu sie gemäß § 80 Abs. 1 Satz 3 AO verpflichtet gewesen wäre.
35
Darüber hinaus seien die Verfahrensanträge auch unbegründet. Die Untersuchungspflicht werde durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 1 und 2 AO ergänzt. Die Grenze der Ermittlungspflicht sei dann erreicht, wenn es sich um Sachverhalte handle, zu denen alleine der Beteiligte Beweisnähe besitze. Aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Antragstellers bei Tatsachen, die dem alleinigen Verantwortungsbereich des Mitwirkungspflichtigen unterfielen, könne er, der Antragsgegner, zu dessen Nachteil von einem Sachverhalt ausgehen, wenn für den unter Berücksichtigung der Beweisnähe des Steuerpflichtigen und seiner Verantwortung für die Aufklärung eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehe. Die fehlende Mitwirkung führe zu einer Beweislastumkehr oder zumindest Beweismaßerleichterung zu Gunsten des die Beweislast tragenden Antragsgegners. Dementsprechend könne der durch ihn ermittelte Sachverhalt unterstellt werden. Dies betreffe insbesondere den Sachverhalt zur faktischen Geschäftsführung des Antragstellers.
36
Der Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 sei nicht verjährt. Es sei im Rahmen der Fristberechnung auf die Bekanntgabe des Steuerbescheides abzustellen.
37
Eine Haftung des Antragstellers sei auch wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung gemäß §§ 191 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 i. V. m. §§ 71, 370 Abs. 1 AO, § 27 StGB gegeben. Dabei müssten nur die Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung vorliegen, einer Verurteilung bedürfe es nicht. Die Einstellung des Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO stelle auch keinen Freispruch dar. Als Haupttat hätte der Vater des Antragstellers den Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt, indem dieser den in der Betriebsprüfung ermittelten Sachverhalt eingestanden habe. Der Antragsteller habe durch falsche Dokumentation der Scheinlieferungen und Verschleierung der wahren Lieferanten sowie Geldempfänger die vom Vater gewollte Steuerverkürzung gefördert.
38
Darüber hinaus sei eine Haftung gem. § 25 Abs. 1 HGB gegeben. Der Antragsteller habe das Unternehmen fortgeführt. Zu einer tatsächlichen Stilllegung sei es nie gekommen. Vielmehr sei das Unternehmen fortlaufend für Kunden und Lieferanten erreichbar gewesen. Der Antragsteller habe zudem die Betriebs- und Geschäftsausstattung weiter genutzt. Auch sei eine Firmenfortführung gegeben, da der prägende Teil der Firma erhalten geblieben sei. Die moderne Bezeichnung „Recycling“ sei schlicht durch den altmodischen Begriff „Schrotthandel“ ersetzt worden.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze sowie auf den beigefügten Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
II.
40
Der Antrag ist zulässig und begründet.
41
Statthafte Verfahrensart im einstweiligen Rechtsschutz ist vorliegend ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, § 80 Abs. 5 Satz 1, Alt. 1 VwGO. Der Antragsteller ist Adressat belastender Verwaltungsakte, deren Vollziehung droht. Zudem ist der Hauptsacherechtsbehelf in Form der Widersprüche vom 23. Januar 2020 eingelegt worden. Die Rechtsbehelfe haben auch keine aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO. Hiernach entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten. Die Haftungsschuld tritt dabei an die Stelle der uneinbringlichen Steuerschuld – hier Gewerbesteuern für den Zeitraum 2009 bis 2014 –, so dass auch die Haftungsschuld dem Finanzierungszweck der öffentlichen Hand dient und daher eine öffentliche Abgabe im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO darstellt (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 04. Juni 2019 – 4 B 37/19 –, juris; VG München, Beschluss vom 23. Oktober 2018 – M 10 S 18.4681 -, juris).
42
Gleiches gilt hinsichtlich der vom Haftungsbescheid umfassten Nebenleistungen gem. §§ 69, 37, 3 Abs. 4 Nr. 4, 233a AO (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 04. Juni 2019 – 4 B 37/19 –, juris). Der Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 fordert neben der Gewerbesteuer auch Nachzahlungszinsen ein. Diese sind als streng akzessorische Nebenleistung wie die zugrundeliegende Abgabe zu behandeln. Dies bedeutet, dass der Wegfall der aufschiebenden Wirkung gegen den Steuerbescheid (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) sich auch auf die Festsetzung von Nachzahlungszinsen erstreckt (so auch OVG NRW, Beschluss vom 14. September 2017 – 14 B 939/17 – juris; Beschluss vom 25. Februar 2019 – 14 B 1759/18 – juris; VG Schleswig, Beschlüsse vom 26. April 2019, – 4 B 1/19 und 4 B 2/19 – juris, Beschluss vom 4. Juni 2019 – 4 B 37/19-, juris; a. A. VG Göttingen, Beschluss vom 18. April 2019 – 2 B 487/18 –, juris).
43
Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig.
44
Der Antragsteller ist als Adressat eines belastenden Verwaltungsakts antragsbefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog).
45
Des Weiteren ist auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Diesem steht keine offensichtliche Unzulässigkeit der Hauptsacherechtsbehelfe entgegen. Das Vorverfahren ist durch wirksame (fristgerechte) Einlegung der Widersprüche eingeleitet worden. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners lag eine wirksame Bevollmächtigung der Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers im Zeitpunkt der Einlegung der Widersprüche vor.
46
Nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 AO gelten für die Realsteuern – zu denen auch die Gewerbesteuern zählen (§ 3 Abs. 2 AO) – die Vorschriften des Dritten Abschnitts mit Ausnahme der §§ 82 bis 84 (Allgemeine Verfahrensvorschriften) entsprechend. Gemäß dem damit anwendbaren § 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO kann sich ein Beteiligter durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Vollmacht ermächtigt zu allen das Verwaltungsverfahren betreffenden Verfahrenshandlungen, sofern sich aus ihrem Inhalt nicht etwas anderes ergibt. Die Erteilung der Vollmacht erfolgt nach § 167 Abs. 1 BGB durch eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Die Bevollmächtigungserklärung muss nach außen hin für einen objektiven Empfänger den Willen zur Vollmachtserteilung erkennen lassen (BFH, Beschluss vom 5. Februar 1975 – II B 29/74; BStBl. II 1975, 465; FG Brandenburg, Urteil vom 15. September 1998 – 4 K 1305/97 H, EFG 1999, 203; BeckOK AO/Kobor, 13. Ed. 1.7.2020, AO § 80 Rn. 12 m.w.N.).
47
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen liegt eine wirksame Bevollmächtigung im Zeitpunkt der Einlegung der Widersprüche vor.
48
Bereits mit Schreiben vom 18. Dezember 2019 legitimierte sich der Verfahrensbevollmächtigte des Antragsstellers für das Anhörungsverfahren. Die anliegende Vollmacht ist von „...“ unterzeichnet. Die Vollmacht, welche als Gegenstand „... wg. Steuerstrafverfahren“ ausweist, umfasst nach der tabellarischen Aufzählung auch die Vertretung in sonstigen Verfahren und damit das Widerspruchsverfahren. Zwar benennt die Vollmacht als Verfahrensgegenstand nicht das Anhörungsverfahren explizit, doch lässt sich auch aus dem Gesamtzusammenhang erkennen, dass dieses mit umfasst sein soll, da die Legitimation gerade in Ansehung des Anhörungsverfahrens (Betreff: „Anhörung zum Haftungsbescheid vom 16.12.2019;...“) erfolgte. Gleiches gilt für das Widerspruchsverfahren. Mit Schreiben vom 07.01.2020 zeigte die Verfahrensbevollmächtigte auch die Vertretung im „Verwaltungsverfahren gegen...“ an.
49
Im Übrigen ist vorliegend § 80 Abs. 7 Satz 1 und 2, Abs. 10 AO zu berücksichtigen. Soweit ein Bevollmächtigter geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen leistet, ohne dazu befugt zu sein, ist er mit Wirkung für alle anhängigen und künftigen Verwaltungsverfahren des Vollmachtgebers im Zuständigkeitsbereich der Finanzbehörde zurückzuweisen. Die Zurückweisung ist dem Vollmachtgeber und dem Bevollmächtigten bekannt zu geben. Ohne entsprechende Zurückweisung sind die Handlungen des Bevollmächtigten wirksam (arg ex § 80 Abs. 10 AO). Nach dem eigenen Vortrag des Antragsgegners wurde der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers nur auf eine fehlerhafte Vollmacht hingewiesen. Eine Zurückweisung durch Verwaltungsakt im Sinne der vorgenannten Vorschrift erfolgte indes nicht.
50
Der Zulässigkeit steht § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO, wonach in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig ist, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat, ebenfalls nicht entgegen, da der Antragsgegner den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung mit Schriftsatz vom 5. März 2020 vollständig abgelehnt hat.
51
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ergibt sich eine Unzulässigkeit auch nicht aus § 80 Abs. 4 Satz 3 Alt. 2 VwGO. Hierbei handelt es sich um eine materielle Voraussetzung, die keinen Einfluss auf die Zulässigkeit des Antrags hat.
52
Der Antrag ist zudem begründet.
53
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, Alt. 1 VwGO ist begründet, wenn das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Interesse am Vollzug der in der Hauptsache angegriffenen Entscheidung überwiegt. Dies ist regelmäßig nach Durchführung einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage in Abhängigkeit von den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu beurteilen.
54
Den Maßstab für die gerichtliche Entscheidung bei der Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, die sich gegen die Anforderung öffentlicher Abgaben oder Kosten (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) richtet, stellt der Maßstab dar, den das Gesetz für das vorgelagerte behördliche Aussetzungsverfahren vorsieht. Nach § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO soll die Aussetzung des Sofortvollzuges bei Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten dann erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes liegen vor, wenn der Erfolg der Klage ebenso wahrscheinlich ist, wie deren Misserfolg (vgl. std. Rspr. OVG Schleswig, Beschluss vom 5. Dezember 2018 – 2 MB 26/18 – juris m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 3. Juli 1981 – 8 C 83.81 –, juris).
55
Gemessen daran spricht nach einer summarischen Prüfung mehr dafür, dass die Widersprüche vom 23. Januar 2020 Erfolg haben werden. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verwaltungsakte.
56
Der erste Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 beruht auf §§ 191 Abs. 1 Satz 1, 69 AO i.V.m. § 35 AO, sowie §§ 191 Abs. 1 Satz 1, 71 i.V.m. § 370 AO.
57
Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten u.a. nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden. Nach § 35 AO hat die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters (§ 34 Abs. 1 AO), wer als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann.
58
Ein Auftreten im eigenen oder fremden Namen als sog. „faktischer Geschäftsführer“ lässt sich nach der bisherigen Sach- und Rechtslage nicht feststellen. Für dieses haftungsbegründende Tatbestandsmerkmal ist der Antragsgegner beweisbelastet.
59
Faktischer Geschäftsführer ist, wer nach dem Gesamterscheinungsbild seines Auftretens die Geschicke der Gesellschaft – über die interne Einwirkung auf die satzungsmäßige Geschäftsführung hinaus – durch eigenes Handeln im Außenverhältnis maßgeblich in die Hand genommen und ihre Geschäfte wie ein Geschäftsführer geführt hat (FG B-Stadt, Urteil vom 29. März 2017 – 3 K 183/15 –, juris, Rn. 29; FG München, Urteil vom 25. November 2014 – 2 K 40/12 –, juris, Rn. 25). Die faktische Geschäftsführereigenschaft wird in der Rechtsprechung anhand eines Kriterienkatalogs näher konkretisiert. Nach dem klassischen Kriterienkatalog (Bestimmung der Unternehmenspolitik, Unternehmensorganisation, Einstellung von Mitarbeitern, Gestaltung der Geschäftsbeziehungen zu Vertragspartnern, Verhandlung mit Kreditgebern, Gehaltshöhe, Entscheidung der Steuerangelegenheiten, Steuerung der Buchhaltung) liegt eine faktische Geschäftsführung vor, wenn das Handeln des potentiellen faktischen Geschäftsführers sechs von den acht klassischen Kernbereichen der Geschäftsführung umfasst (FG Hamburg, Urteil vom 29. März 2017 – 3 K 183/15 –, juris, Rn. 29). Dies kann hier nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Ein Nachweis durch den Antragsgegner über entsprechende Anknüpfungstatsachen hierzu fehlt. Insbesondere sind solche nicht aus den angeforderten Verwaltungsvorgängen ersichtlich.
60
Einziger tatsächlicher Anhaltspunkt für eine faktische Geschäftsführereigenschaft des Antragstellers sind die durch ihn (und durch seinen Bruder und Vater) unterzeichneten Abhollisten. Da die Abhollisten von allen benannten Personen gleichsam unterzeichnet wurden, kann dies u. U. für eine Gleichwertigkeit der Personen im Unternehmensgeflecht sprechen. Gleichwohl ist es auch denkbar, dass der Antragsteller als Arbeitnehmer bei der Abwicklung des Tagesgeschäfts Listen der dargestellten Art unterzeichnete. Ein hinreichender Schluss auf eine faktische Geschäftsführereigenschaft bietet dies nicht.
61
Ferner wird der Antragsteller nicht im Prüfbericht zur Außenprüfung des Unternehmens erwähnt. Vielmehr zeigt der Prüfbericht, dass die Nachforschungen und Ergebnisse alleine auf den Vater des Antragstellers bezogen sind. Zudem erfolgten keine anderweitigen Ermittlungen durch z. B. die Staatsanwaltschaft gegenüber dem Antragsteller. Dieser war zu keinem Zeitpunkt – zumindest ausweislich der vorgelegten Unterlagen – im Fokus der Ermittlungsbehörden. Aus dem bloßen Umstand, dass der Antragsteller Kenntnis von den Ermittlungen gegenüber seinem Vater hatte, lässt sich Gegenteiliges nicht ableiten. Als weiteres Indiz gegen eine faktische Geschäftsführung erweist sich der vom Antragsteller vorgelegte Arbeitsvertrags vom 31. Oktober 2008. Dieser lässt erkennen, dass dieser „(…) als Kraftfahrer und Einkäufer eingestellt (wurde).“
62
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners lässt sich vorliegend auch keine Beweislastumkehr oder Beweismaßerleichterung aus § 90 Abs. 1 und 2 AO herleiten.
63
Grundsätzlich ist der Sachverhalt von Amts wegen gemäß § 88 Abs. 1 Satz 1 AO zu ermitteln. Die Beteiligten sind aber zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts verpflichtet (§ 90 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie kommen der Mitwirkungspflicht insbesondere dadurch nach, dass sie die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenlegen und die ihnen bekannten Beweismittel angeben (§ 90 Abs. 1 Satz 2 AO). Der Umfang dieser Pflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (§ 90 Abs. 1 Satz 3 AO). Dieser Einzelfallbezug folgt letztlich bereits aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und knüpft das Ausmaß der Mitwirkungspflicht an die Beweisnähe des Beteiligten (Klein/Rätke, 15. Aufl. 2020, AO § 90 Rn. 7; Koenig/Wünsch, 3. Aufl. 2014, AO § 90 Rn. 12). Je tiefer die aufzuklärenden Sachverhaltsumstände in der Sphäre des Beteiligten liegen, umso größer und weitreichender ist wegen der Beweisnähe die Verantwortung des Beteiligten für die Aufklärung dieser Umstände (BFH, Urteil vom 16. September 1987 – II R 237/84, BFH/NV 1988, 690; BFH, Urteil vom 15. Februar 1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462; BFH, Urteil vom 9. Juni 2005 – IX R 75/03, BFH/NV 2005, 1765). Verletzt der Beteiligte seine allgemeine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 1 AO, entbindet dies die Finanzbehörde zwar nicht von der Verpflichtung zur weiteren Sachverhaltsaufklärung nach § 88 AO, der Verstoß kann jedoch zumindest eine Reduzierung der behördlichen Ermittlungspflicht zur Folge haben (BeckOK AO/Kobor, 13. Ed. 1.7.2020, AO § 90 Rn. 18 m.w.N.). Dies gilt umso mehr, je weiter die aufzuklärenden Umstände in der Privatsphäre des Beteiligten liegen und dieser der alleinige Wissensträger ist (BFH, Beschluss vom 03. Mai 1999 – VII S 1/99, BFH/NV 2000, 1; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. November .2010 – 10 K 43/10, EFG 2011, 804). Gemessen an diesen Voraussetzungen ist keine Beweislastumkehr oder Beweismaßerleichterung anzunehmen.
64
Die Annahme einer Beweisnähe des Antragstellers würde voraussetzen, dass dieser zu den für die Besteuerung relevanten unternehmensinternen Unterlagen vollständigen Zugriff hatte. Da es sich bei derartigen Informationen um sensible Daten unternehmerischer Tätigkeit handelt, ist nach lebensnaher Sachverhaltsauslegung davon auszugehen, dass nur die Unternehmensleitung bzw. die Geschäftsführer Zugriff auf alle Dokumente haben. Gleichwohl können die für die Gewerbesteuer relevanten Unterlagen auch dem Zugriff für die Bearbeitung zuständiger Angestellter ausgesetzt sein. Hier ist aber bereits zweifelhaft, welche konkrete Funktion der Antragsteller im Unternehmen ausgeübt hat. Die generelle Zugriffmöglichkeit des Antragstellers kann nicht unterstellt werden. Unter Berücksichtigung des im Widerspruchsverfahren vorgelegten Arbeitsvertrags vom 31. Oktober 2008 lässt sich kein konkretes Zugriffsrecht des Antragstellers erkennen. Vielmehr beschränkt der Arbeitsvertrag den Tätigkeitsbereich darauf, dass „der Mitarbeiter als Kraftfahrer und Einkäufer eingestellt (wird).“ Ebenso wenig kann hier davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller im oben genannten Sinne alleiniger Wissensträger ist.
65
Ferner ergibt sich nach der summarischen Prüfung für die Kammer keine Haftung aus §§ 191 Abs. 1 AO, 71 i. V. m. § 370 AO. Entsprechendes hat der insoweit ebenfalls beweispflichtige Antragsgegner nicht dargelegt.
66
Gemäß § 191 Abs. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach § 71 AO haftet, wer eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt. Teilnehmer einer Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei sind der Anstifter i. S. d. § 26 StGB sowie der Gehilfe i. S. d. § 27 StGB (BFH, Urteil vom 15. Januar 2013 – VIII R 22/10 –, BFHE 240, 195, BStBl II 2013, 526 –, juris, Rn. 23). Die Haftung des Gehilfen setzt voraus, dass der Täter die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO verwirklicht hat. Eine Verurteilung wegen einer Steuerstraftat muss nicht erfolgt sein (BFH, Urteil vom 10. Oktober 1972 – VII R 117/69 –, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68 –, juris, Rn. 17). Hilfeleistung ist jede Handlung, die die Herbeiführung des Taterfolgs des Haupttäters objektiv fördert, ohne dass sie für den Erfolg selbst ursächlich sein muss (FG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 07. Januar 2015 – 5 V 2068/14 –, juris, Rn. 30). Eine Steuerhinterziehung liegt insbesondere vor, wenn unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen gemacht werden (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO). Ob jemand Täter oder Teilnehmer einer Steuerhinterziehung ist, hat die für die Inanspruchnahme des Haftenden zuständige Finanzbehörde zu prüfen und festzustellen. Die Finanzbehörde trägt daher die Feststellungslast für alle haftungsbegründenden Merkmale des § 71 AO einschließlich des Vorliegens einer Straftat (FG Hamburg, Beschluss vom 03. Mai 2018 – 4 V 271/17 –, juris,Rn. 9). Nicht ausreichend ist der bloße Hinweis im Haftungsbescheid auf die Ermittlungsergebnisse der Steuerfahndung (VG Magdeburg, Urteil vom 24. Mai 2017 – 2 A 373/15 –, juris, Rn. 27).
67
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der Antragsgegner in Bezug auf den Antragsteller nicht dargelegt.
68
Die von dem Antragsgegner vorgelegte Begründung, insbesondere im Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019, geht nicht über bloße Behauptungen hinaus. Es fehlt bereits an Tatsachen, die eine vorsätzliche, rechtswidrige Haupttat begründen. Einziger Anhaltspunkt sind die gegen den Vater erfolgten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Das Verfahren ist aber gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Zwar ist das Gericht hieran nicht gebunden, doch hätten gegen dieses starke Indiz für eine fehlende Haupttat Tatsachen vorgebracht werden müssen, die eine andere Wertung zulassen. Dies ist nicht erfolgt.
69
Des Weiteren fehlt es an einer Beihilfehandlung durch den Antragsteller. Alleine aus dem Umstand, dass eine Mitwirkung im Anhörungsverfahren nicht erfolgte, kann nicht auf eine Beihilfe zur Steuerhinterziehung geschlossen werden. Es bedarf zumindest rudimentärer Anknüpfungstatsachen. Auch die vermeintlichen Aussagen des Antragstellers und Zeugen gegenüber dem Insolvenzverwalter liegen dem Gericht zur Entscheidung nicht vor. Woraus sich die darauffolgende Feststellung („Aufgrund der bisherigen Ermittlungen muss davon ausgegangen werden, dass Sie die Betriebsausgaben bewusst falsch (…) erklärt haben“) ergibt, wird nicht dargestellt. Weitere Anhaltspunkte ergeben sich hierzu für das Gericht nicht.
70
Der zweite Haftungsbescheid vom 23. Dezember 2019 beruht auf § 191 Abs. 1 Satz 1 AO in Verbindung mit § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB.
71
Nach § 25 Abs. 1 HGB haftet derjenige, der ein unter Lebenden erworbenes Handelsgeschäft unter der bisherigen Firma mit oder ohne Beifügung eines das Nachfolgeverhältnis andeutenden Zusatzes fortführt, für alle im Betrieb des Geschäfts begründeten Verbindlichkeiten des früheren Inhabers. Wesentliche Voraussetzung für die Nachfolgehaftung im Sinne dieser Vorschrift ist somit zunächst die Beibehaltung einer "bisherigen Firma" und die Fortführung des Handelsgeschäftes als solches. Zu den Verbindlichkeiten zählen auch die Gewerbesteuerverbindlichkeiten, was sich wegen des identischen Wortlauts aus dem Haftungsumfang zu § 75 AO ergibt (vgl. FG Münster, Urteil vom 12. März 2009 – 8 K 2496/06, juris, Rn. 49 ff.). Zusammenfassend bedarf es danach eines Unternehmenserwerbs, einer Unternehmens- und Firmenfortführung (zu den tatbestandlichen Voraussetzungen MüKoHGB/Thiessen, 4. Aufl. 2016, HGB § 25, Rn. 38-65).
72
Ein Unternehmenserwerb im Sinne der Vorschrift ist jeder zumindest vorübergehende Inhaberwechsel unter Lebenden, der nicht § 28 HGB unterfällt. Die Rechtsprechung geht darüber hinaus davon aus, dass kein derivativer rechtsgeschäftlicher Erwerb erforderlich ist, um die Anwendung von § 25 Abs. 1 HGB zu begründen (BGH, Urteil vom 28. November 2005 – II ZR 355/03 –, juris, Rn. 9).
73
Eine Unternehmensfortführung ist nur dann anzunehmen, wenn die Fortführung gerade des bisherigen Geschäfts durch den Erwerber durch eine nach außen in Erscheinung tretende Betätigung erkennbar wird, denn nur dann kann eine schützenswerte Verkehrserwartung hinsichtlich der Haftung entstehen (BGH, Urteil vom 05. Juli 2012, NZG 2012, 916). Anknüpfungspunkte für die erkennbare Fortführung des Unternehmens sind zum Beispiel die Vornahme von Handlungen, die dem Geschäftsinhaber obliegen (BeckOK HGB/Bömeke, 29. Ed. 15.7.2020, HGB § 25 Rn. 33, 34 m.w.N.), die Entfaltung einer (im Wesentlichen) gleichen Geschäftstätigkeit, die Übernahme von im Rechtsverkehr für das Unternehmen auftretenden Mitarbeitern, vergleichbare Werbeaussagen, die Nutzung derselben Geschäftsräume und der Gebrauch desselben Fuhrparks sowie die unveränderte Nutzung von Telefonanschlüssen (BGH, Urteil vom 05. Juli 2012, NZG 2012, 916; OLG München, Beschluss vom 30. April 2008 – 31 Wx 41/08 –, juris, Rn. 12; OLG Düsseldorf, Urteil vom 22. Januar 1998 – 10 U 30/97 -, NJW-RR 1998, 965; OLG Bremen, Urteil vom 03. August 1988 – 3 U 111/87 -, NJW-RR 1989, 423; OLG Stuttgart, Urteil vom 13. Dezember 1988 – 12 U 359/87 -, NJW-RR 1989, 424). Eine Fortführung des Handelsgeschäfts liegt dabei bereits dann vor, wenn der den Schwerpunkt des Unternehmens bildende Kern weitergeführt wird (BGH, Beschluss vom 07. Dezember 2009 – II ZR 229/08 –, juris, Rn. 2; BGH, Urteil vom 16. September 2009 – VIII ZR 321/08 –, juris, Rn. 18; OLG Düsseldorf, Urteil vom 28. Oktober 2008 – I-18 U 36/08 –, juris, Rn. 14). Auch eine lediglich vorübergehende Stilllegung des Geschäftsbetriebs steht der Anwendung von § 25 HGB nicht entgegen, wenn der Geschäftsbetrieb später mit den fortbestehenden Betriebsmitteln und -strukturen doch fortgesetzt wird (BGH, Urteil vom 04. November 1991 – II ZR 85/91 –, juris, Rn. 6). Wird das Unternehmen hingegen endgültig eingestellt, dass hierdurch ein für den Verkehr ersichtlicher Bruch mit der geschäftlichen Tradition des früheren Inhabers vollzogen wird, liegt keine Unternehmensfortführung vor (BeckOK HGB/Bömeke, 29. Ed. 15.7.2020, HGB § 25 Rn. 34). Der Unternehmensfortführung steht auch nicht entgegen, dass zunächst eigenständig gegründete Unternehmen vom Zeitpunkt der Gründung bis zur Aufgabe des Geschäftsbetriebs parallel auf dem Markt tätig bleiben. Eine sukzessiv erfolgende Unternehmensübernahme kann eine Fortführung des Handelsgeschäfts sein. Maßgeblich dafür ist, ob sich für den Rechtsverkehr die Betätigung des übernehmenden Unternehmens als Weiterführung des ursprünglichen Unternehmens in seinem wesentlichen Bestand darstellt (BGH, Urteil vom 24. September 2008 – VIII ZR 192/06 –, juris, Rn. 15, 16).
74
Zunächst kann offenbleiben, ob tatsächlich ein Unternehmenserwerb stattgefunden hat. Jedenfalls ist nach einer summarischen Prüfung eine Unternehmensfortführung nach dem bisherigen Sachstand nicht ersichtlich.
75
Gegen eine Unternehmensfortführung spricht der Internetauftritt vom 29. August 2020 („der Betrieb... wurde 2015 im Kreis...gegründet “). Diese nach außen erkennbare Darstellung des Unternehmens lässt nicht auf eine Kontinuität in der Unternehmenshistorie schließen. Zwar hat der Antragsteller unbestritten nunmehr den Firmensitz auf den ehemaligen Recyclinghof verlagert. Dies ist allein nicht ausreichend, um auf eine Unternehmensfortführung zu schließen. Es fehlt an einer ausreichenden Tatsachengrundlage. Der Vortrag des Antragsgegners geht weitestgehend nicht über bloße Behauptungen hinaus. Unbestritten ist, dass der Firmensitz verlagert wurde. Inwieweit Betriebsinventar oder unternehmensspezifische Strukturen übernommen wurden, lässt sich nicht feststellen. Allenfalls aus dem Schlussbericht des Insolvenzverwalters vom 30. November 2017 lässt sich entnehmen, dass das Inventar in den Büroräumen sowie der Schrott- und Altmetallbestand im Außenbereich an den Antragsteller veräußert wurde. Darüberhinausgehende Informationen sind nicht vorhanden.
76
Gegen eine Unternehmensfortführung spricht weiter, dass das Unternehmen des Antragstellers mit Gewerbeanmeldung vom 31. Oktober 2015 zumindest zeitweise parallel zum väterlichen Unternehmen existierte. Außerdem ist das Unternehmen ausweislich der Gewerbeanmeldung vom 31. Oktober 2015 unter einer anderen Anschrift gegründet worden. Der Schlussbericht des Insolvenzverwalters stellt zudem fest, dass der Geschäftsbetrieb mit der Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse zum Erliegen kam. Eine Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit war ausgeschlossen. Dies spricht dafür, dass die... bereits nach Kündigung der Arbeitsnehmer als stillgelegt zu betrachten ist. Zu demselben Ergebnis kommt auch die gegen den Vater des Antragstellers ermittelnde Staatsanwaltschaft. In der Anklageschrift vom 05. September 2018 auf S. 4 heißt es, dass „......den Geschäftsbetrieb am 31.10.2015 eingestellt (hat) (…)“.
77
Letztendlich fehlt es aber an einer Firmenfortführung. Die Anknüpfung an die Firmenfortführung rechtfertigt sich dadurch, dass durch sie die Kontinuität des Unternehmens für den Verkehr erkennbar in Erscheinung tritt (BGH, Urteil vom 28. November 2005 – II ZR 355/03 –, juris, Rn. 7; BGH, Urteil vom 15. März 2004 – II ZR 324/01 –, juris, Rn. 6; BGH, Urteil vom 16. September 2009 – VIII ZR 321/08 –, juris, Rn. 15). Für den am Schutz des Rechtsverkehrs orientierten Anwendungsbereich des § 25 HGB ist ausreichend aber auch erforderlich, dass der prägende Teil der alten Firma in der neuen Firma beibehalten wird und deswegen die neue Firma von den Verkehrskreisen noch mit der alten identifiziert wird (BGH, Urteil vom 16. September 2009 – VIII ZR 321/08 –, juris, Rn. 15; BGH, Urteil vom 15. März 2004 – II ZR 324/01 –, juris, Rn. 6). Rechtsformzusätze sind dabei ohne Belang (BGH, Urteil vom 05. 07. 2012 − III ZR 116/11, NZG 2012, 916 Rn. 19). Für die Identifizierung einer Personenfirma sind zwei Umstände von besonderer Bedeutung. Hierbei handelt es sich einerseits um die Bezeichnung des Geschäftszweigs und andererseits um den Familiennamen. Insbesondere letzterem kommt eine prägende und damit entscheidende Bedeutung zu (OLG Hamm, Beschluss vom 25. Mai 2016 - 27 W 23/16, BeckRS 2016, 121408, Rn. 10). Bei einem Einzelkaufmann, der neben seinem Familiennamen auch seinen Vornamen firmenmäßig führt, sind beide Bestandteile gleichermaßen prägend. Anders als im Fall des bloßen Weglassens stellt in dieser Konstellation die Änderung der Firma durch Austausch des Vornamens eine derart gravierende Veränderung dar, dass der Geschäftsverkehr von einem gänzlich anderen Unternehmensträger ausgehen muss. (OLG Hamm, Urteil vom 18. September 2017 – I-2 U 29/17, NZG 2018, 33 (34f.))
78
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt keine Firmenfortführung vor.
79
Ausgangspunkt ist die Bezeichnung der Firma des Ursprungsunternehmens. Dieses firmierte unter: „...... “. Prägende Merkmale der Firma sind sowohl der Geschäftszweck (Schrott und Metallhandel, sowie Recycling) und der Familienname „...“. Der Rechtsformzusatz „GmbH“ ist bei der Bewertung nicht zu berücksichtigen. Nach dem Vortrag des Antragsgegners tritt der Antragsteller unter der Firma „...“ im Rechtsverkehr in Erscheinung.
80
Nach einem bereits wortlautgetreuen Vergleich der Firmenbezeichnungen ist hinsichtlich des Unternehmenszwecks zu erkennen, dass „......“ im Gegensatz zum Ursprungsunternehmen den Handel mit Schrottware in den Vordergrund rückt. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass in der Gewerbeanmeldung vom 31. Oktober 2015 nur die Bezeichnung „Schrotthandel“ als Bezugskriterium für das Unternehmen verwendet wird. Die... wiederum geht über diesen Unternehmenszweck hinaus und erweitert die Handelstätigkeit auch auf Metalle. Außerdem wird durch den Begriff „Recycling“ verdeutlicht, dass neben dem Handel auch eine industrielle Verarbeitung von Wirtschaftsgütern beabsichtigt ist. Dies begründet einen weiteren von dem bloßen Handel mit Wirtschaftsgütern unabhängigen neuen Unternehmensgegenstand.
81
Zu beachten ist aber, dass bei einer Personenfirma der Familienname von besonderer Bedeutung ist. Der Familienname „...“ wird hier übernommen. Nichtsdestotrotz darf nicht verkannt werden, dass die Abgrenzung für den Rechtsverkehr durch das Hinzufügen des Vornamens „“ erreicht wird. Wenn schon der Austausch des Vornamens eine prägende Veränderung darstellen soll, dann muss dies auch für das Hinzufügen des Vornamens („“) gelten, da die Hinzufügung des Vornamens ein „mehr“ an Abgrenzung bedeutet als der bloße Austausch.
82
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
83
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG, wobei die Kammer in ständiger Rechtsprechung in einstweiligen Rechtsschutzverfahren in Abgabensachen ein Viertel des geforderten Abgabenbetrages (...€ x ¼ =......€) als Streitwert festsetzt.
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Tenor
Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin vom 14.08.2020 wird der Vorbescheid des Notars Dr. U vom 12.08.2020 (URNr. Xxx und #####/####) aufgehoben.
Der Notar wird angewiesen, den Widerruf vom 03.07.2020 der in den genannten Urkunden zugunsten der Frau M M,ausgesprochenen Bevollmächtigungen als wirksam zu behandeln.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Der Geschäftswert wird auf 5000 € festgesetzt.
1 Gründe
2I.
3Die im Sommer 1927 geborene Beschwerdeführerin widerrief am 19.07.2019 mit notariell beurkundeter Erklärung eine früher erteilte notarielle Generalvollmacht und erteilte den Eheleuten M und Frank R eine Generalvollmacht mit Einzelvertretungsberechtigung (Urkundenrolle Nr. #####/####). Die Vertretungsberechtigung sollte nur dann bestehen, wenn die bevollmächtigte Person bei der jeweiligen Vertretungshandlung eine auf ihren Namen lautende Ausfertigung der Urkunde vorlegen würde, wobei Ausfertigungen nur erteilt werden sollten, wenn dem Notar durch Vorlage eines ärztlichen Attestes nachgewiesen würde, dass die Beschwerdeführerin geschäftsunfähig sei oder Zweifel an ihrer Geschäftsfähigkeit bestehen würden. Am selben Tag erteilte die Beschwerdeführerin der vorgenannten Frau M sowie einer Frau C unter gleichzeitigem Widerruf einer früheren notariell erteilten Vorsorgevollmacht unter anderem eine solche mit Einzelvertretungsberechtigung (Urkundenrolle Nr. #####/####). Hinsichtlich des Erfordernisses der Vorlage einer Ausfertigung dieser Vollmacht wurde dasselbe geregelt wie in der Urkunde #####/####. Jedoch sollten die Bevollmächtigten sofort eine Ausfertigung zu Händen der Beschwerdeführerin erhalten und sollten die bevollmächtigten Personen auf deren Verlangen jederzeit weitere Ausfertigungen erteilt werden. Eingangs beider Urkunden hieß es, der Notar habe sich durch eingehendes Befragen von der uneingeschränkten Geschäftsfähigkeit der Beschwerdeführerin überzeugt. Zeitgleich war der Notar anscheinend mit Entwurf und Beurkundung eines Testaments der Beschwerdeführerin beauftragt, wobei Näheres nicht bekannt ist. Unter dem 08.08.2019 übermittelte der Notar der Beschwerdeführerin je eine Ausfertigung der Vorsorgevollmachten. Mit Schreiben vom 03.07.2020 übersandte der Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin dem Notar zur UR-Nr. #####/#### eine Abschrift seines Schreibens an Frau M vom selben Tag, in dem er dieser gegenüber die zur genannten Urkundennummer ausgestellte Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und Betreuungsverfügung sowie eine etwaige Generalvollmacht widerrufen habe. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin A attestierte (anscheinend am 05.08.2020) auf der Grundlage einer Untersuchung vom 04.08.2020 das Bestehen eines Verdachtes auf ein dementielles Syndrom. Der Beschwerdeführerin sei nicht erinnerlich, bei einem Notar gewesen zu sein und dort Vollmachten erteilt zu haben. Die Ärztin regte die Einrichtung einer Betreuung an. Unter dem 05.08.2020 attestierte sie: (Frau E) „… erscheint mir nach dem Gespräch am 04.08.2020 nicht geschäftsfähig.“Gestützt hierauf hat das Amtsgericht Langenfeld am 07.08.2020 einen Beschluss erlassen und in diesem unter anderem ausgeführt, es bestünden erhebliche Zweifel an der Geschäftsfähigkeit der Betroffenen. Der Notar hat am 12.08.2020 den angefochtenen notariellen Vorbescheid erlassen und angekündigt, „den Widerruf als unwirksam zu behandeln“ und den in den Urkunden genannten Bevollmächtigten Ausfertigungen unter den in der Urkunde genannten Voraussetzungen zu erteilen. Zur Begründung hat der Notar ausgeführt, es bestünden „starke Anhaltspunkte“ dafür, dass der Widerruf unwirksam gewesen sei, weil die Beschwerdeführerin „ggf. dementiell erkrankt und ggf. geschäftsunfähig sei“, und sich auf den Beschluss des Amtsgerichts Langenfeld vom 07.08.2020 (7 XVII 351/20) bezogen. Hiergegen hat die Beschwerdeführerin mit anwaltlichem Schreiben vom 14.08.2020 Beschwerde unter Angabe beider Urkundenrollennummern eingelegt. Der in Bezug genommene Beschluss des Amtsgerichts sei ausschließlich auf Betreiben von Personen, die unüberprüfte ärztliche Gefälligkeitsbescheinigungen herbeigeführt hätten, zustandegekommen, nachdem dasselbe Gericht unter dem 05.08.2020 bereits einen Beweisbeschluss zur Überprüfung der Geschäftsfähigkeit erlassen gehabt habe. Der Notar vertrete offensichtlich die Interessen der 2019 bevollmächtigten Personen.Unter dem 20.08.2020 hat der Notar einen Nichtabhilfebescheid erlassen und angekündigt, die Sache dem Landgericht Wuppertal zur Entscheidung vorzulegen. Mit Schriftsatz vom 18.09.2020 hat die Beschwerdeführerin gegenüber dem Landgericht Stellung genommen und unter anderem ausgeführt, der Notar vertrete allein die Interessen der Frau M. Aus der Betreuungsakte würden sich ersichtlich über Frau M gelenkte Andeutungen einer Geschäftsunfähigkeit ergeben, die noch nicht einmal den Zeitpunkt des in Rede stehenden Widerrufs der Bevollmächtigung erfassen würden. Die Beschwerdeführerin habe ihre jetzigen Verfahrensbevollmächtigten am 02.07.2020 (erstmals) aufgesucht. An der Besprechung habe auch der nunmehr bevollmächtigte (Anm.: anscheinend erheblich vorbestrafte) Herr C2 teilgenommen. Die Beschwerdeführerin habe geäußert, Frau M hätte ihr gegenüber sehr deutlich erwartet, dass sie sofort die Kosten für eine teure Wohnungsrenovierung der Frau M übernehmen solle. Die Beschwerdeführerin sei an diesem Tag deutlich orientiert gewesen, habe sachgerecht auf Nachfragen reagiert und ihren Willen glasklar zum Ausdruck bringen können. Sie habe Weisung gegeben, die Vollmacht für Frau M zu widerrufen und unter anderem, eine Änderung testamentarischer Anordnungen vorzubereiten. Die von dem Notar vertretene Frau M sei nunmehr im Besitz der Sparbücher der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin beantragt,
41. den Beschluss des Notars U zu Urkundenrolle Nr. #####/#### vom 12.08.2020 aufzuheben;
52. dem beteiligten Notar U die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
6II.
7Die Beschwerde der Betroffenen ist auslegungsbedürftig, aber auch auslegungsfähig. Während der formulierte Beschwerdeantrag vom Wortlaut her allein die Urkunde #####/#### erfasst, waren in der Beschwerdeschrift vom 14.08.2020 beide Urkundennummern aufgeführt worden. Da zudem in dem angefochtenen Vorbescheid seitens des Notars angekündigt worden war, den in den beiden Urkunden #####/#### und #####/#### genannten Bevollmächtigten Ausfertigungen unter den in der betreffenden Urkunde genannten Voraussetzungen zu erteilen, ist davon auszugehen, dass die Beschwerde – nach wie vor – beide Urkunden anbelangt. Andererseits betrifft die Beschwerde nur die bevollmächtigte Frau M, da nur die dieser erteilte Vorsorge- und Generalvollmacht widerrufen worden sein soll.Die so verstandene Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Der Notar verweigert zu Unrecht die Beachtung des Vollmachtswiderrufs und kündigt unberechtigt an, den in den Urkunden #####/#### und #####/#### genannten Bevollmächtigten Ausfertigungen unter den in den Urkunden genannten Voraussetzungen zu erteilen.
81.
9Nach § 15 I 1, II 1 BNotO darf der Notar seine Urkundstätigkeit nicht ohne ausreichenden Grund verweigern. Gegen die Verweigerung der Urkunds- oder sonstigen Tätigkeit des Notars findet die Beschwerde statt. Dass vorliegend im Vordergrund nicht eine Verweigerung des Notars steht, tätig zu werden, sondern seine Ankündigung, die Urkunde #####/#### weiter zu vollziehen, ist unschädlich. Zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken ist § 15 II BNotO so zu verstehen, dass der Notar im Wege der Beschwerde auch auf ein Unterlassen in Anspruch genommen, d. h. daran gehindert werden kann, eine Amtshandlung vorzunehmen. Denn Amtspflicht des Notars ist es nicht nur, eine gebotene Amtshandlung vorzunehmen, sondern auch, eine nicht zulässige, die pflichtwidrig wäre, zu unterlassen (Sandkühler in: Arndt und andere, Bundesnotarordnung, 7. Aufl., § 15, Rn. 95 mit weiteren Nachweisen; BeckOK BNotO/Sander, 3. Ed. 1.8.2020, BNotO § 15 Rn. 113).
102.
11Die Beschwerdeführerin hat unter dem 03.07.2020 den Widerruf der verfahrensgegenständlichen Vollmachten erklärt und den Notar gebeten, „gegenüber der Zentralstelle … zu informieren.“Diesen Widerruf zu beachten, wurde Amtspflicht des Notars. Die Befolgung des Willens der Beteiligten ist nämlich grundsätzlich Amtspflicht eines Notars (BGH, VI ZR 229/80, juris; Sandkühler, a.a.O., § 19, Rdn. 50 und 87).Hiervon könnte der Notar im gegebenen Zusammenhang allenfalls (BGH, V ZB 119/18, juris: „Nur der … auf eine Evidenzkontrolle beschränkte Prüfungsmaßstab trägt der Aufgabenverteilung zwischen dem Notar und den Zivilgerichten hinreichend Rechnung.“) dann befreit sein, wenn die Beschwerdeführerin nach seiner Überzeugung bei Abgabe der unter dem 03.07.2020 getätigten Erklärungen geschäftsunfähig gewesen wäre. Denn nach § 11 I 1 und 2 BeurkG hat der Notar eine gewünschte Beurkundung abzulehnen, wenn nach seiner Überzeugung einem der Beteiligten die erforderliche Geschäftsfähigkeit fehlt. Bestehen dagegen nur Zweifel an der Geschäftsfähigkeit, hat der Notar diese in der Urkunde festzustellen. In Zweifelsfällen muss der Notar bemüht sein, selbst Feststellungen zur Geschäftsfähigkeit zu treffen (Rinsche, Die Haftung des Rechtsanwalts und des Notars, 6. Aufl., II 366 – 367; Winkler, Beurkundungsgesetz, 19. Aufl., § 11, Rn. 3 ff.). Dabei ist grundsätzlich von der Geschäftsfähigkeit auszugehen. Nachforschungen zur Geschäftsfähigkeit sind jedoch erforderlich, wenn der Notar Anhaltspunkte für die zumindest eingeschränkte Geschäftsfähigkeit des Beteiligten hat. Dabei berührt die Betreuung als solche die Geschäftsfähigkeit nicht. Den Umfang seiner Ermittlungen zur Überprüfung der Geschäftsfähigkeit bestimmt der Notar nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Er darf sich auch bei Urkundsbeteiligten hohen Alters zunächst auf eine normale Unterredung mit diesen beschränken, kann jedoch zu weiteren Nachforschungen im Einzelfall verpflichtet sein (Winkler, a.a.O., Rn. 3, 4 und 8).Vorliegend hat sich der Notar hinreichender Nachforschungen zur Frage der Geschäftsfähigkeit enthalten und schon deshalb pflichtwidrig gehandelt. Denn er hat sich nicht einmal durch ein persönliches Gespräch mit der Beschwerdeführerin hinsichtlich deren Geschäftsfähigkeit ein eigenes Bild gemacht. Irgendein Attest einer Allgemeinmedizinerin, in der diese – gerade nicht die Diagnose, sondern – den bloßen Verdacht auf das Vorliegen einer Demenz geäußert hat, enthob ihn von dieser Verpflichtung jedenfalls nicht.Darüber hinaus hatte und hat der Notar auch nur Zweifel hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit der Beschwerdeführerin. Er ist nicht vom Fehlen der Geschäftsfähigkeit überzeugt. Das ergibt sich aus dem Inhalt seines Vorbescheides. Denn dort ist davon die Rede, es bestünden „starke Anhaltspunkte“ dafür, dass der Widerruf unwirksam sei, da die Beschwerdeführerin „ggf. dementiell erkrankt und ggf. geschäftsunfähig“ sei. Es spreche nach seiner Auffassung „mehr dafür“, dass die erteilten Vollmachten noch gültig seien. Bloße Zweifel an der Geschäftsfähigkeit berechtigen den Notar jedoch nicht, seine Amtstätigkeit zu verweigern.
12III.
13Es entspricht billigem Ermessen, dass eine Erstattung außergerichtlicher Kosten nicht angeordnet wird; § 15 II 3 BNotO i.V.m. § 81 I 1 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 61 I 1 i.V.m. § 36 I GNotKG.
14IV.
15Gemäß § 70 II FamFG ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Soweit ersichtlich, ist zur verfahrensgegenständlichen Frage noch keine höchstrichterliche Entscheidung ergangen. Die Rechtsbeschwerde ist binnen einer Frist von 1 Monat nach der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses durch Einreichen einer Beschwerdeschrift bei dem Rechtsbeschwerdegericht, dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, einzulegen. Die Rechtsbeschwerdeschrift muss die Bezeichnung des Beschlusses, gegen den die Rechtsbeschwerde gerichtet wird, und die Erklärung, dass gegen diesen Beschluss Rechtsbeschwerde eingelegt werde, enthalten und von einem beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt unterschrieben sein. Sie kann nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Verletzung des Rechts beruht.
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens auch im Berufungsverfahren.Die Revision wird zugelassen.Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 20.396,25 EUR festgesetzt.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist eine vergütungsrechtliche Forderung wegen Dauerbeatmung einer Versicherten der Beklagten aus einem Schiedsspruch im Bereich der häuslichen Krankenpflege nach § 132a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) streitig.
2 Die Klägerin ist Mitglied im Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. und betreibt im Landkreis E. eine vollstationäre Pflegeeinrichtung in K. Hierbei handelt es sich um eine zugelassene Pflegeeinrichtung im Sinne von § 43 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Zu den Leistungen zählen unter anderem palliative und Beatmungsleistungen. Im Zeitraum vom 24. August 2011 bis 9. Mai 2012 befand sich die bei der Beklagten Versicherte I.-J. M. (im Folgenden: die Versicherte) in vollstationärer Pflege bei der Klägerin. Aufgrund ärztlicher Verordnungen erhielt die Versicherte (Pflegestufe II) bei der Klägerin eine 24-stündige Dauerbeatmung im Rahmen von häuslicher Krankenpflege gemäß § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB V. Hierzu wurde täglich ein von den Pflegedienstleistenden unterschriebenes Beatmungskontrollblatt mit medizinischen und behandlungstechnischen Angaben gefertigt. Am 9. Mai 2012 verstarb die Versicherte.
3 Für die im Rahmen der Dauerbeatmung erbrachten Leistungen berechnete die Klägerin gegenüber der Beklagten 82 EUR pro Tag als „Mehraufwand im vollstationären Bereich“, ohne dass dies die Beklagte zuvor gesondert genehmigt hatte. Entsprechende Zahlungsaufforderungen der Klägerin in Höhe von insgesamt 21.238 EUR blieben in der Folge erfolglos.
4 Mit Schreiben vom 18. September 2015 beantragte die Klägerin bei der Schiedsperson (M. Z.) im Rahmen eines Schiedsverfahrens gemäß § 132a SGB V - wegen der Versorgung der Versicherten - gegenüber der Beklagten eine zusätzliche Pflegevergütung in Höhe von 21.238 EUR nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz jährlich seit dem 10. Mai 2012 festzusetzen. Zur Begründung gab die Klägerin an, die Beklagte verweigere zu Unrecht den Abschluss eines Vertrages über die Versorgung ihrer Versicherten mit Dauerbeatmung, indem sie von ihr (der Klägerin) den Nachweis einer separaten Beatmungsstation fordere. Eine solche Station könne nur dann wirtschaftlich betrieben werden, wenn die Krankenkassen sie regelmäßig mit dauerzubeatmenden Versicherten belege, was nicht der Fall sei. Die Versicherte habe aufgrund der Dauerbeatmung täglich mindestens fünf Stunden zusätzlich versorgt werden müssen, was Lohn- und Lohnnebenkosten i.H.v. 105 EUR pro Tag mit sich gebracht habe. Nach Anrufung des Sozialgerichts Stuttgart (SG) habe die Beklagte sich bereit erklärt, einen Vertrag abzuschließen. Hierzu sei es jedoch nicht gekommen, so dass ein Schiedsverfahren erforderlich sei.
5 Die Beklagte trat dem Antrag entgegen und beantragte, keine zusätzliche Vergütung für die medizinische Behandlungspflege der Versicherten festzusetzen. Die Klägerin habe ihre Preisvorstellung nicht in der gebotenen Weise anhand der Gestehungskosten begründet. Zudem gehe man davon aus, dass das ohnehin anwesende Pflegepersonal die Pflege aufwandsneutral habe erbringen können und somit über die Pflege nach dem SGB XI bereits finanziert sei.
6 Mit Schiedsspruch vom 5. April 2016 legte die Schiedsperson nach § 132a SGB V nach mündlicher Verhandlung am 11. Februar 2016 die folgende „vertragliche Festlegung“ fest (vgl. Bl. 32-40 der SG-Akte):
7 „Die B. G., vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Dr. med. C. St., dieser vertreten durch die Landesgeschäftsstelle Baden-Württemberg [...] entrichtet an das PZK Pflegezentrum K. GmbH [...] für die im Zeitraum vom 20. August 2011 bis 9. Mai 2012 durchgeführte Dauerbeatmung der Versicherten der B. G., Frau J. M., eine Vergütung von 20.396,25 EUR. Der Betrag ist mit Zugang des Schiedsspruchs bei der B. GEK fällig.“
8 Mit Schreiben vom 11. April 2016 wurde der Schiedsspruch an die Beklagte übersandt. Am 10. August 2016 (Eingang beim SG; Schreiben der Beklagten vom 5. August 2016) erhob die Beklagte hiergegen beim SG Klage (Az.: S 18 KR 4297/16) und beantragte, den Schiedsspruch wegen offensichtlicher Unbilligkeit aufzuheben und die Bestimmung des Schiedsspruchs durch Urteil nach billigem Ermessen zu ersetzen, hilfsweise festzustellen, dass der Schiedsspruch unwirksam sei.
9 Am 12. August 2016 erhob die Klägerin beim SG Klage (Az.: S 3 KR 4366/16), mit der sie die Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs vom 5. April 2016, hilfsweise die Zahlung von 20.396,25 EUR für die im Zeitraum vom 25. August 2011 bis 9. Mai 2012 durchgeführte Dauerbeatmung der Versicherten begehrte. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, die Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs durch das SG sei gemäß § 198 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 794 Abs. 1 Nr. 4a Zivilprozessordnung (ZPO) zulässig. Hilfsweise werde Leistungsklage erhoben im Umfang desjenigen Betrages, den die Schiedsperson für angemessen erklärt habe, nämlich 20.396,25 EUR (259 Pflegetage x drei Euro je Tag durchschnittlichem Zeitaufwand x 26,25 EUR Stundensatz). Den Ausführungen des Schiedsspruchs werde vollumfänglich gefolgt. Der Schiedsspruch sei richtig, nachvollziehbar begründet und insbesondere in keiner Weise unbillig oder gar offensichtlich unbillig. Nach § 319 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) könne eine Ersetzung des Schiedsspruchs nur bei offensichtlicher Unbilligkeit erfolgen. Damit könne in einer sozialgerichtlichen Entscheidung von den Feststellungen des Schiedsspruchs nicht abgewichen werden. Der Schiedsspruch treffe vereinbarungsgemäß eine Leistungsbestimmung analog § 317 BGB. Hinzu komme, dass ein nunmehriges Vorgehen der Beklagten gegen den Schiedsspruch verfristet sei. Gemäß dem analog anzuwendenden § 318 Abs. 2 Satz 2 BGB sei die Anfechtung einer getroffenen Bestimmung nur unverzüglich möglich.
10 Die Beklagte trat der Klage entgegen und führte aus, gegen den Schiedsspruch vom 5. April 2016 sei „am 5. August 2016“ Klage beim SG erhoben worden. Hierdurch stehe die Verbindlichkeit des Schiedsspruchs in Frage, so dass er auch nicht für vollstreckbar erklärt werden könne. Im Übrigen sei § 794 Abs. 1 Nr. 4 a ZPO nicht anwendbar, da es sich vorliegend nicht um einen Schiedsspruch im Sinne der Norm handele. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (; Bezugnahme auf Urteil vom 29. Juni 2017 - B 3 KR 31/15) entspreche das Schiedsverfahren im Bereich der häuslichen Krankenpflege dem im Zivilrecht üblichen Schlichtungsmodell nach § 317 BGB, so dass der Schiedsspruch ein Schiedsgutachten im weiteren Sinne und keine Schiedsabrede im Sinne von § 1029 Abs. 1 ZPO sei. Auch der hilfsweise gestellte Leistungsantrag sei zurückzuweisen, da der Schiedsspruch die Wirkung eines rechtskräftigen gerichtlichen Urteils habe, so dass einer gleichlautenden Leistungsklage das Rechtsschutzbedürfnis fehle.
11 Am 15. November 2017 führte das SG in den Verfahren S 18 KR 4297/16 und S 3 KR 4366/16 einen gemeinsamen Erörterungstermin durch; insoweit wird auf die Niederschrift vom 15. November 2017 Bezug genommen (Bl. 66-68 der SG-Akte S 3 KR 4366/16).
12 Mit Urteil vom 18. Dezember 2019 wies das SG die Klage in dem hier streitigen Verfahren S 3 KR 4366/16 ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, die Klage sei teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet. Der Hauptantrag der Klägerin, den Schiedsspruch vom 5. April 2016 für vorläufig vollstreckbar zu erklären, sei unbegründet. Die von der Klägerin begehrte Erklärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs vom 5. April 2016 sehe das Gesetz für den Bereich des Sozialrechts nicht vor. Nach § 198 Abs. 1 SGG gelte für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozessordnung (mithin die §§ 704 bis 959 ZPO), soweit sich aus dem SGG nichts Anderes ergebe. Schiedssprüche würden indes nach § 1064 ZPO und somit nach dem Zehnten Buch der ZPO für vollstreckbar erklärt werden und seien bereits insofern nicht von der Verweisung des § 198 SGG erfasst. Darüber hinaus bestimme Abs. 2 der Norm ausdrücklich, dass die Vorschriften über die vorläufige Vollstreckbarkeit nicht anzuwenden seien. Diese Regelung stehe insofern auch einer Anwendung über die Verweisungsnorm des § 202 SGG entgegen. Für die von der Klägerin begehrte Erklärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit bestehe somit keine sozialrechtliche Anspruchsgrundlage, weshalb der Hauptantrag als unbegründet abzuweisen gewesen sei. Die Klägerin habe den rechtskräftigen Abschluss des ebenfalls beim SG anhängigen Klageverfahrens S 18 KR 4297/16 abzuwarten. Die hilfsweise erhobene Leistungsklage sei in Ermangelung eines allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig. Die Klägerin habe nicht etwa wegen Fehlens eines Schiedsspruchs verfrüht geklagt. Vielmehr habe sie das Schiedsverfahren durchlaufen und einen für sie positiven Schiedsspruch erhalten, der seinerseits Gegenstand einer von der Beklagten erhobenen Ersetzungs- bzw. Feststellungsklage vor dem SG sei und mit der die Beklagte die Unbilligkeit des Schiedsspruchs geltend mache. Die Klägerin verfüge insoweit bereits über einen gleichlautenden Schiedsspruch, der ihr genau den Betrag zuspreche, den sie im Rahmen der vorliegenden Leistungsklage erneut geltend mache. Ein besonderes Interesse an einer gleichlautenden sozialgerichtlichen Feststellung sei insoweit nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Klage im hiesigen Verfahren als unzulässig dar. Insbesondere könne die Klägerin über den hilfsweise gestellten Antrag nicht die Tatsache umgehen, dass eine vorläufige Vollstreckbarerklärung durch das SG nicht vorgesehen sei. Ob die von der Schiedsperson getroffene Regelung einer gerichtlichen Unbilligkeitskontrolle standhalte, sei Gegenstand des Verfahrens S 18 KR 4297/16. Klarstellend werde darauf hingewiesen, dass auch ein Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Schiedsspruchs nach § 86b Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht in Betracht käme, da ein Verwaltungsakt, dessen sofortige Vollziehbarkeit festgestellt oder angeordnet werden könne, nicht vorliege. Die Vorschriften des § 89 SGB V über das Schiedsamt seien nicht entsprechend anwendbar. Die besondere Stellung des Schiedsamtes sei nicht auf die Schiedsperson nach § 132a Abs. 2 SGB V und deren Entscheidungen übertragbar. Vielmehr sehe § 319 Abs. 1 BGB bei einer offenbar unbilligen Bestimmung deren Unverbindlichkeit vor, wobei die Bestimmung in diesem Fall durch Urteil erfolgen solle. Ein entsprechendes Urteil des SG in dem Verfahren S 18 KR 4297/16 stehe noch aus. Auch eine einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG, die im Übrigen beim Gericht des Hauptsacheverfahrens (hier: S 18 KR 4297/16) zu beantragen wäre, habe die Klägerin nicht begehrt, zumal ein besonderes Eilbedürfnis insoweit auch nicht ersichtlich sei.
13 Gegen das ihr am 30. Dezember 2019 zugestellte Urteil richtet sich die am 29. Januar 2020 beim SG zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegte Berufung der Klägerin, mit der diese zunächst die Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs vom 5. April 2016 sowie hilfsweise die Zahlung von 20.396,25 EUR begehrt hat.
14 Nach Hinweis des Senats, dass nach der Rechtsprechung des BSG der Schiedsspruch ein „Schiedsgutachten im weiteren Sinne“ darstelle und des Bundesgerichtshofs (BGH) die Fälligkeit der Forderung bis zur Rechtskraft eines Gerichtsurteils hinausgeschoben werde (Bezugnahme auf BGH, Urteil vom 4. Juli 2013 - III ZR 52/12), hat die Klägerin mit Schreiben vom 16. März 2020 mitgeteilt, dass „die Berufung hinsichtlich des geltend gemachten Hilfsantrags weiter[verfolgt]“ werde. Es sei nicht richtig, dass die Fälligkeit der Forderung bis zur Rechtskraft der Entscheidung in der Sache „S 3 KR 4366/16“ (gemeint: S 18 KR 4297/16) hinausgeschoben werde. Auch fehle dem weiterverfolgten Hilfsantrag nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Die vom Senat zitierte Entscheidung des BGH betreffe Schiedsgutachten im engeren Sinne und andererseits eine Situation, in der noch gar keine Leistungsbestimmung vorgelegen habe und eine solche durch das Gericht habe getroffen werden müssen. Eine solche Situation liege hier nicht vor. Bereits im Frühjahr 2016 sei eine Leistungsbestimmung einer Schiedsperson getroffen worden. Ferner trete die Fälligkeit eines Anspruchs dann ein, wenn der Gläubiger die Leistung verlangen könne. Dies sei dann gegeben, wenn eine Leistungsbestimmung getroffen worden sei und dem Schuldner kein Leistungsverweigerungsrecht mehr zustehe. Dass die Fälligkeit erst mit Rechtskraft des Urteils eintrete, könne nur in den Fällen des § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB gelten, in denen erst eine Bestimmung durch das Gericht erfolge. Auch habe eine Ersatzbestimmung durch das Gericht im Zweifel eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Leistungsbestimmung und damit auch auf den Zeitpunkt der Fälligkeit zur Folge. Wenn eine Leistungsbestimmung bis zur Ersetzung durch das Gericht bindend sei, könne die Forderung konsequenterweise vorher nicht als nicht fällig bezeichnet werden. Sofern sich die Beklagte auf ein Leistungsverweigerungsrecht wegen angeblicher Unbilligkeit berufen wolle, stehe ihr ein solches Recht nicht zu. Eine Leistungsbestimmung und damit auch deren Fälligkeit sei so lange bindend, wie diese nicht durch ein Gericht ersetzt werde. Die Ersetzungsklage in dem Verfahren „S 3 KR 4366/16“ (gemeint: S 18 KR 4297/16) sei aufgrund ihrer Rechtsnatur als gestalterische und feststellende Kassationsklage zu verstehen. Hingegen sei der hier weiterverfolgte Hilfsantrag auf Leistung gerichtet. Insofern bestehe auch ein Rechtsschutzbedürfnis. Insbesondere wenn sich die Beklagte dem Anspruch dadurch entziehen wolle, dass sie eine Kassationsklage erhebe, müsse sie (die Klägerin) das Recht haben, eine Leistungsklage zu erheben. In Anbetracht der Rechtsnatur der Ersetzungsklage und des Grundsatzes der Subsidiarität stelle sich vielmehr die Frage, ob die Ersetzungsklage nicht mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig geworden sei. Im Übrigen dürfe das Gericht nur grobe Unbilligkeit prüfen. Schließlich stehe ihr ein Vergütungsanspruch zu. Durch die Beatmung der Versicherten habe sie ihre öffentlich-rechtliche Leistungspflicht als Pflegeeinrichtungen erfüllt. Sie habe daher einen in § 132a Abs. 4 Satz 1 SGB V (bis 31. Dezember 2016: § 132a Abs. 2 Satz 1 SGB V) vorausgesetzten Vergütungsanspruch erworben. Das Schiedsgutachten sei in der Lage, einen Versorgungsvertrag zu ersetzen und eine Einzelfallvergütung zu regeln. Soweit die Beklagte davon ausgehe, dass sich aus dem Wortlaut des § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB ergebe, dass der getroffenen Leistungsbestimmung bis zur richterlichen Ersatzleistungsbestimmung keine Rechtskraft zukomme, missachte sie die Konkretisierung in § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB, wonach die Leistungsbestimmung durch eine Ersetzungsklage neu zu treffen sei. Die Bestimmung bleibe daher zunächst wirksam und binde die Vertragsparteien so lange, bis im Klageweg die getroffene Bestimmung durch eine anderweitige richterliche Bestimmung ersetzt worden sei.
15 Die Klägerin beantragt zuletzt (sachdienlich gefasst),
16 das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2019 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an sie 20.396,25 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21. April 2016 zu zahlen.
17 Die Beklagte beantragt,
18 die Berufung zurückzuweisen.
19 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Bereits am 10. August 2016 sei beim SG die Klage im Hinblick auf die Wirksamkeit des Schiedsspruchs (Az.: S 18 KR 4297/16) eingegangen, so dass diese Frage bereits anhängig gewesen sei, als die Klägerin ihren Hilfsantrag gestellt habe. Auch insofern fehle ihr daher das Rechtsschutzbedürfnis. Der Schiedsspruch sei im Übrigen am 5. April 2016 von der Schiedsperson unterschrieben worden und mit Schreiben vom 11. April 2016 an sie übersandt worden. Der Schiedsspruch betreffend die Versorgung der Versicherten in der Zeit vom 25. August 2011 bis 9. Mai 2012 umfasse neun Seiten. Unter dem 5. August 2016 habe man dann Klage erhoben. Die Behauptung der Klägerin, man sei sehr lange untätig gewesen, treffe daher nicht zu. Nachdem die Klägerin ihren Klageantrag mit Schriftsatz vom 16. März 2020 zurückgenommen habe und nur noch den Hilfsantrag weiterverfolge, verkenne die Klägerin, dass eine Fälligkeit nicht eingetreten sei. Denn innerhalb einer angemessenen Frist sei Klage auf gerichtliche Leistungsbestimmung erhoben worden. Gegen die Auffassung, dass bis zur Rechtskraft einer gerichtlichen Neubestimmung vorläufig die Bestimmung des Schiedsgutachters maßgebend sei, sprächen bereits die Legalüberschrift („Unwirksamkeit der Bestimmung“) sowie der Wortlaut des § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB („nicht verbindlich“). Zudem sei auf die Parallele zur Unverbindlichkeit nach § 315 Abs. 3 Satz 1 BGB hinzuweisen. Anders als dort gelte bei § 319 BGB die Unverbindlichkeit für die Vertragsschließenden, also für beide Parteien, da die Leistungsbestimmung von einem Dritten komme. Die betreffende Forderung werde erst mit der Rechtskraft des Urteils fällig. Die Ausführungen der Klägerin zum Rechtsschutzbedürfnis seien nicht nachvollziehbar. Im Übrigen habe das BSG abweichend von § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht darauf abgestellt, ob die durch die Schiedsperson getroffene Bestimmung „offenbar unbillig“ sei, sondern habe die einfache Unbilligkeit als Voraussetzung für die Ersetzung des Schiedsspruchs durch die Entscheidung des Gerichts genügen lassen (Bezugnahme auf Urteile des BSG vom 25. November 2010 - B 3 KR 1/10 R und vom 23. März 2016 - B 3 KR 26/15 R).
20 Mit Urteil vom 2. Juli 2020 hat das SG in dem Verfahren S 18 KR 4297/16 festgestellt, dass der Schiedsspruch vom 5. April 2016 unwirksam sei und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die im Hauptantrag erhobene Ersetzungsklage sei zulässig, aber unbegründet. Der Schiedsspruch sei zwar unwirksam, das Gericht könne den Schiedsspruch aber nicht ersetzen, so dass sie Ersetzungsklage abzuweisen gewesen sei. Die hilfsweise erhobene Feststellungsklage sei hingegen zulässig und begründet. Zutreffende Klageart für den Fall, dass die Vertragspartner mit dem Schiedsspruch über Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege nach § 132a Abs. 4 SGB V nicht einverstanden seien, sei die Ersetzungsklage nach § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V in Verbindung mit §§ 317 Abs. 1, 319 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Ersetzungsklage sei nicht verfristet. Die Frist des § 318 Abs. 2 Satz 2 BGB (analog) beziehe sich lediglich auf den Fall der Anfechtung des Schiedsspruches. Die (dortige) Klägerin begehre aber eine Billigkeitskontrolle analog § 319 BGB, für welche keine unverzügliche Geltendmachung gefordert werde. Auch eine etwaige Verwirkung komme vorliegend nicht in Betracht. Der Schiedsspruch sei unwirksam. Denn die Schiedsperson habe keinen Versorgungsvertrag geschaffen, sondern nur eine Zahlungspflicht festgesetzt. Dem liege die Annahme durch die Schiedsperson zu Grunde, dass täglich drei Stunden Zeitaufwand für eine Beatmung der Versicherten tatsächlich angefallen seien. Bei dieser Feststellung handle es sich um eine tatsächliche Feststellung. Dies obliege jedoch nicht der Schiedsperson, sondern im Streitfall dem Gericht. Die Schiedsperson habe nämlich nicht zu prüfen, ob die Vertragsvoraussetzungen im konkreten Fall erfüllt seien. Sie habe vielmehr den abstrakten Vertragsinhalt zu bestimmen. Eine Ersetzung des Schiedsspruchs durch das Gericht könne vorliegend jedoch nicht erfolgen. Denn derzeit fehle vollständig eine Tatsachengrundlage, aufgrund derer eine neue vertragliche Vereinbarung getroffen werden könne. Zudem sei eine vertragliche Vereinbarung auch nicht gewollt. Solange die Schiedsperson noch keinen Schiedsspruch erlassen habe, der auf einer von den Beteiligten nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens beizubringenden, ausreichenden Tatsachengrundlage basiere, komme eine gerichtliche Ersetzung nicht in Betracht. Die Feststellungsklage sei begründet, da der Schiedsspruch unwirksam sei. Die Berufung der Klägerin gegen dieses Urteil ist unter dem Az. L 5 KR 2097/20 beim LSG anhängig.
21 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
22 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
23 1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere bedurfte sie nicht der Zulassung, da über eine Vergütungsforderung i.H.v. 20.396,25 EUR gestritten wird, so dass der Beschwerdewert von 750,00 EUR (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) überschritten wird.
24 2. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist allein noch die Vergütungsforderung der Klägerin für die im Zeitraum vom 20. August 2011 bis 9. Mai 2012 durchgeführte Dauerbeatmung der Versicherten der Beklagten, Frau J. M., i.H.v. insgesamt 20.396,25 EUR. Den Antrag auf Erklärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs vom 5. April 2016 hat die Klägerin zuletzt nicht weiterverfolgt (vgl. Schriftsatz der Klägerin vom 16. März 2020) und die Berufung insoweit zurückgenommen (§ 156 Abs. 1 Satz 1 SGG).
25 Die Klägerin verfolgt die Vergütungsforderung mit einer echten Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG. Ein Verwaltungsakt hatte hier von der Beklagten nicht zu ergehen, da Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer Vergütung für die erbrachten Dauerbeatmungsleistungen der Versicherten der Beklagten - mangels eines konsensualen, öffentlich-rechtlichen vertraglichen Vergütungsanspruchs - nur der Schiedsspruch vom 5. April 2016 sein kann (vgl. Schneider, in: jurisPK-SGB V, Stand Juni 2020, § 132a Rn. 10, 70; Engelmann, in: Schnapp/Düring, Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, 2. Aufl. 2016, S. 160 Rn. 272). Im Übrigen fehlt es an einem Über-/Unterordnungsverhältnis, das Voraussetzung für den Erlass eines Verwaltungsakts nach § 31 SGB X ist (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2017 – B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 15 m.w.N.).
26 Die formelle Beschwer der Klägerin liegt darin, dass sie geltend macht, die Vergütung für die vom 20. August 2011 bis 9. Mai 2012 durchgeführte Dauerbeatmung der Versicherten der Beklagten i.H.v. insgesamt 20.396,25 EUR nicht erhalten zu haben. Ein Anspruch auf Vergütung kann nicht offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise ausgeschlossen werden.
27 Entgegen der Auffassung des SG fehlt der Klägerin für die erhobene Leistungsklage nicht das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, weil sie bereits über einen Schiedsspruch in der geltend gemachten Höhe verfügt. Auch das Argument, die Klägerin könne damit die fehlende vorläufige Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs umgehen, trägt nicht. Nach der Gesamtkonzeption des § 132a Abs. 2 SGB V (hier in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung ; seither in § 132a Abs. 4 SGB V geregelt) sollen Verträge als Rechtsgrundlage die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und Leistungserbringer im Bereich der häuslichen Krankenpflege regeln (Schneider, a.a.O, Rn. 10). Wird keine konsensuale Einigung erzielt, wird nach dem im Bereich der häuslichen Krankenpflege von § 132a Abs. 2 SGB V a.F. normierten Konfliktlösungsmodell der Schiedsperson als von den Vertragspartnern bestimmter Schlichter bzw. Vertragshelfer die Befugnis eingeräumt, die Leistung (z.B. Vergütung oder Preise) oder eine Leistungsmodalität (z.B. Beginn oder Ende der Laufzeit des Vertrags) zu bestimmen und so den Vertragsinhalt rechtsgestaltend zu ergänzen bzw. zu ersetzen (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 23; Föllmer, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Stand März 2020, § 132a SGB V Rn. 34). Wie bereits dargelegt, stellt der Schiedsspruch nach seinem Erlass die Rechtsgrundlage für Forderungen zwischen den Leistungserbringern und der Krankenkasse dar. Zur Durchsetzung hierauf gestützter Forderungen steht dem Gläubiger allein die allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zu. Denn als eigenständiger Akt der Vertragsgestaltung ersetzt der Schiedsspruch diesen und hat die Rechtswirkungen einer öffentlich-rechtlichen vertraglichen Vereinbarung (vgl. Engelmann, a.a.O.). Für Klagen auf Erfüllung vertraglicher Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichem Vertrag ist jedoch die allgemeine Leistungsklage statthaft (vgl. nur Nielsson in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand April 2018, § 53 SGB X, Rn. 154). Für Schiedssprüche nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. gilt nichts Anderes.
28 3. Die Klage ist jedoch derzeit nicht begründet, denn die hier streitige Vergütungsforderung i.H.v. insgesamt 20.396,25 EUR ist noch nicht fällig geworden.
29 Soweit die Entscheidung des SG im Berufungsverfahren noch angefochten ist, erweist sie sich nur im Ergebnis als zutreffend. Denn die Leistungsklage, mit der die Vergütung geltend gemacht wird, ist entgegen der Ansicht des SG nicht mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, sondern nur derzeit unbegründet. Sie ist im Hinblick auf die fehlende Fälligkeit der geltend gemachten Vergütungsforderung verfrüht erhoben worden und ist deshalb „als zur Zeit unbegründet“ abzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2017 – B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 22; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rn. 42b m.w.N.). Insofern trifft auch die Ansicht der Beklagten, wonach das Rechtsschutzbedürfnis für die hier anhängige allgemeine Leistungsklage der Klägerin fehle, weil sie in zeitlicher Hinsicht (am 12. August 2016) nach Eingang der Klage der Beklagten in dem Verfahren S 18 KR 4297/16 (am 10. August 2016) erhoben worden sei, nicht zu.
30 Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. in Verbindung mit dem Schiedsspruch vom 5. April 2016. Nach § 132a Abs. 2 Satz 1 SGB V a.F. schließen die Krankenkassen Verträge mit den Leistungserbringern über die Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege (§ 37 SGB V), über die Preise und deren Abrechnung und die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Fortbildung. Im Falle der Nichteinigung wird der Vertragsinhalt durch eine von den Vertragspartnern zu bestimmende unabhängige Schiedsperson innerhalb von drei Monaten festgelegt (§ 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F.). Im vorliegenden Fall beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 18. September 2015 bei der Schiedsperson (M. Z.) im Rahmen eines Schiedsverfahrens gemäß § 132a SGB V - wegen der Versorgung der Versicherten der Beklagten - gegenüber der Beklagten, eine zusätzliche Pflegevergütung in Höhe von 21.238 EUR nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz jährlich seit dem 10. Mai 2012 festzusetzen. Mit Schiedsspruch vom 5. April 2016 wurde die Beklagte verpflichtet, an die Klägerin für die im Zeitraum vom 20. August 2011 bis 9. Mai 2012 durchgeführte Dauerbeatmung der Versicherten der Beklagten, Frau J. M., eine Vergütung von 20.396,25 EUR zu zahlen. Darüber hinaus wurde bestimmt, dass der Betrag mit Zugang des Schiedsspruchs an die Beklagte fällig werde. Dies entnimmt der Senat dem Tenor des Schiedsspruchs vom 5. April 2016. Nach den eigenen Angaben der Beklagten ist ihr der Schiedsspruch mit Schreiben vom 11. April 2016 übersandt worden. Die Beklagte hat zwar nicht mitgeteilt, wann genau ihr der Schiedsspruch zugegangen ist. Hierauf kommt es aber nicht, weil der Schiedsspruch vom 5. April 2016 aufgrund der Ersetzungs- bzw. Feststellungsklage der Beklagten und des noch anhängigen Berufungsverfahrens L 5 KR 2097/20 noch nicht wirksam ist.
31 Der Schiedsspruch nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. stellt rechtstechnisch ein "Schiedsgutachten im weiteren Sinne" dar, weil der Schiedsperson die Befugnis eingeräumt wird, die Leistung (z.B. Vergütung) oder eine Leistungsmodalität (z.B. Beginn, Dauer, Höhe) zu bestimmen und dadurch den Vertragsinhalt rechtsgestaltend zu ergänzen (BSG, Urteil vom 29. Juni 2017 – B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 20). Allerdings erzeugt nur ein wirksames Schiedsgutachten materiell-rechtliche Wirkung (BSG, a.a.O., Rn. 21). Wird der Schiedsspruch einer Schiedsperson - wie hier im Klageverfahren S 18 KR 4297/16 bzw. nunmehr im Berufungsverfahren L 5 KR 2097/20 - wegen der Unbilligkeit des Schiedsspruchs zur gerichtlichen Überprüfung gestellt, dann kann dieses Klageziel (wie bereits dargelegt) nur durch eine Ersetzungsklage nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V und § 317 Abs. 1, § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB oder - wenn das Gericht die Festlegungen im Schiedsspruch nicht ersetzen kann - durch eine Feststellungsklage erreicht werden (BSG, Urteil vom 25. November 2010 – B 3 KR 1/10 R – juris, 30; Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 17; Urteil vom 29. Juni 2017 – B3 KR 31/15 R – juris, Rn. 25 m.w.N). Prozessual handelt es sich bei der Ersetzungsklage um eine Sonderform der Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG. Bei einer solchen Klage sind die Vertragspartner die richtigen Klagegegner. Die Beklagte hat eine solche Ersetzungsklage am 10. August 2016 beim SG erhoben und zuletzt auch die Feststellung der Unwirksamkeit des Schiedsspruchs vom 5. April 2016 beantragt. Mit Urteil vom 2. Juli 2020 hat das SG in dem Verfahren S 18 KR 4297/16 festgestellt, dass der Schiedsspruch vom 5. April 2016 unwirksam sei und im Übrigen die Klage abgewiesen. Das Berufungsverfahren der Klägerin beim LSG ist noch anhängig.
32 Solange das Schiedsgutachten noch nicht fertiggestellt ist oder während eines sich daran anschließenden gerichtlichen (Ersetzungs- bzw. Feststellungs-)Verfahrens kann eine betroffene Forderung aber weder außergerichtlich noch gerichtlich geltend gemacht werden (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2013 – III ZR 52/12 – juris, Rn. 28). Dies verkennt die Klägerin. Auch können keine Fälligkeits-, Verzugs- oder Prozesszinsen geltend gemacht werden (Völzmann, in: jurisPK-BGB, Stand Februar 2020, § 319 Rn. 18). Die Auffassung der Klägerin, wonach die Fälligkeit eines Anspruchs dann eintrete, wenn eine Leistungsbestimmung getroffen worden sei und dem Schuldner kein Leistungsverweigerungsrecht mehr zustehe, trifft nicht zu. Denn die gerichtliche Überprüfung des Schiedsspruchs hat zur Folge, dass die Fälligkeit der betroffenen Forderung erst mit Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung beginnt (BGH, a.a.O., Rn. 33 m.w.N.; ebenso Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Februar 2016 – 5 S 1098/15 – juris, Rn. 15; Würdinger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 319 Rn. 24). Diese in der zivilgerichtlichen Judikatur entwickelten und von der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung übernommenen Grundsätze sind auf Schiedssprüche nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. vollumfänglich übertragbar. Denn das BSG hat in seiner Entscheidung vom 29. Juni 2017 (B 3 KR 31/15 R) ausdrücklich darauf hingewiesen und klargestellt, dass der Schiedsspruch nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. rechtstechnisch ein "Schiedsgutachten im weiteren Sinne" darstellt (a.a.O., Rn. 20). Das Schiedsverfahren im Bereich der häuslichen Krankenpflege entspricht mithin einer im Zivilrecht üblichen Schlichtung, in der sich die Vertragsparteien auf die Leistungsbestimmung durch einen Dritten (§ 317 BGB) einigen. Solange aber die Wirksamkeit des Schiedsspruchs wegen gerichtlich geltend gemachter Unbilligkeit noch nicht feststeht (§ 319 Abs. 1 Satz 2 BGB), wird die hierdurch betroffene Forderung (noch) nicht fällig. Denn das Gericht ist zur subsidiären Ersatzleistungsbestimmung nach § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB verpflichtet, wenn die durch die Schiedsperson festgesetzte primäre Leistungsbestimmung unbillig ist. Der Ausspruch des Gerichts tritt dann an die Stelle der Leistungsbestimmung durch diese Person (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 21). Erst mit dem Eintritt der Rechtskraft der Gerichtsentscheidung wird die betroffene Forderung fällig. Soweit die Klägerin meint, die Erwägungen und Ausführungen des BGH in seiner Entscheidung vom 04. Juli 2013 (III ZR 52/12) zur (aufgeschobenen) Fälligkeit seien bei Schiedssprüchen nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB a.F. nicht anwendbar, weil dem Verfahren des BGH ein "Schiedsgutachten im engeren Sinne" zugrunde gelegen habe, verkennt sie, dass die ständige Rechtsprechung des BGH zur (aufgeschobenen) Fälligkeit gerade "Schiedsgutachten im weiteren Sinne" betrifft (BGH, a.a.O., Rn. 33 mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung). Diese Rechtsprechung hat er im genannten Urteil auf "Schiedsgutachten im engeren Sinne" ausgedehnt (BGH, a.a.O., Rn. 34 ff.). Die Klägerin dringt auch mit ihrem Argument, die Beklagte sei zunächst untätig geblieben und habe mithin verspätet Klage erhoben, nicht durch. Denn eine Frist für die Klageerhebung besteht nicht (vgl. allg. Stadler, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 17. Aufl. 2018, § 319 Rn. 319 Rn. 8, § 315 Rn. 12). Als Grenze kommt bei illoyaler Verzögerung der Klageerhebung nur eine Verwirkung in Betracht (Würdinger, a.a.O., § 319 Rn. 23, § 315 Rn. 48). Eine Verwirkung des Klagerechts der Beklagten ist vorliegend aber nicht eingetreten. Nach ihren eigenen Angaben wurde ihr der Schiedsspruch mit Schreiben vom 11. April 2016 zugesandt. Mit Schreiben vom 5. August 2016 (Eingang beim SG: 10. August 2016), d.h. innerhalb von vier Monaten, hat sie gegen den Schiedsspruch Klage erhoben. Eine illoyale Verzögerung der Klageerhebung kann hierin nicht erblickt werden.
33 Etwaige andere Abreden (etwa zur vorzeitigen Fälligkeit trotz gerichtlicher Überprüfung des Schiedsspruchs wegen geltend gemachter Unbilligkeit) zwischen den Beteiligten wurden hier ausweislich des Schiedsspruchs vom 5. April 2016 nicht getroffen.
34 An diesem Ergebnis ändert auch die teilweise in der Rechtsprechung und Literatur vertretene Auffassung, wonach die Klage gegen einen Schiedsspruch keine aufschiebende Wirkung nach § 86a SGG habe (SG Stuttgart, Urteil vom 6. September 2012 – S 9 KR 5302/10 – juris, Rn. 55; Föllmer, a.a.O., § 132a SGB V Rn. 41), nichts. Denn der Anwendungsbereich von § 86a SGG (Widersprüche und Anfechtungsklagen) ist schon nicht eröffnet. Bei einer Klage gegen einen Schiedsspruch wegen geltend gemachter Unbilligkeit scheidet eine Anfechtungs-, Verpflichtungs- oder Neubescheidungsklage (§ 54 Abs. 1, § 131 Abs. 2 und 3 SGG) aus. Zutreffende Klageart ist - wie bereits dargelegt - die Ersetzungs- (§ 54 Abs. 5 SGG) bzw. Feststellungsklage (§ 55 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2017 – B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 25 m.w.N; Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 17 f.; Engelmann, a.a.O., S. 160 Rn. 274.). Soweit der 6. Senat des BSG bei einem Schiedsspruch, mit dem eine Schiedsperson den Inhalt eines Vertrags zur hausarztzentrierten Versorgung festsetzt hatte, davon ausging, dass durch den Schiedsspruch ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zustande gekommen sei (Urteil vom 25. März 2015 – B 6 KA 9/14 R – juris, Rn. 36) und die Festsetzung der Schiedsperson bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens (vorbehaltlich seiner Nichtigkeit, vgl. § 58 SGB X) umzusetzen sei (a.a.O.), mithin die Pflicht zur Umsetzung des Vertrags nur durch eine einstweilige Anordnung des Gerichts nach § 86b Abs. 2 SGG beseitigt werden könne (a.a.O.), führt auch dies vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. Denn der 3. Senat hat in Kenntnis der genannten Entscheidung des 6. Senats (vgl. nur Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 27) in seinem Urteil vom 29. Juni 2017 (B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 20) ausdrücklich dargelegt, dass der Schiedsspruch nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. rechtstechnisch ein "Schiedsgutachten im weiteren Sinne" darstellt. Der an sich konsensual zu schließende Vertrag wird hierdurch ersetzt, sodass dessen Wirksamkeit nicht anhand der §§ 53 ff. SGB X, sondern anhand von § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. §§ 317 Abs. 1, 319 Abs. 1 Satz 2 BGB zu prüfen ist.
35 Mangels Fälligkeit der Klageforderung bestehen zur Zeit auch weder Ansprüche auf Verzugszinsen (§§ 288, 286 Abs. 1 Satz 1 BGB) noch auf Prozesszinsen (§ 291 BGB).
36 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
37 5. Die Revision wird gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
38 6. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 197a Abs. 1 Satz1 Halbsatz 1 SGG in Verbindung mit § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz endgültig auf 20.396,25 EUR festgesetzt.
Gründe
23 1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere bedurfte sie nicht der Zulassung, da über eine Vergütungsforderung i.H.v. 20.396,25 EUR gestritten wird, so dass der Beschwerdewert von 750,00 EUR (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) überschritten wird.
24 2. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist allein noch die Vergütungsforderung der Klägerin für die im Zeitraum vom 20. August 2011 bis 9. Mai 2012 durchgeführte Dauerbeatmung der Versicherten der Beklagten, Frau J. M., i.H.v. insgesamt 20.396,25 EUR. Den Antrag auf Erklärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs vom 5. April 2016 hat die Klägerin zuletzt nicht weiterverfolgt (vgl. Schriftsatz der Klägerin vom 16. März 2020) und die Berufung insoweit zurückgenommen (§ 156 Abs. 1 Satz 1 SGG).
25 Die Klägerin verfolgt die Vergütungsforderung mit einer echten Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG. Ein Verwaltungsakt hatte hier von der Beklagten nicht zu ergehen, da Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer Vergütung für die erbrachten Dauerbeatmungsleistungen der Versicherten der Beklagten - mangels eines konsensualen, öffentlich-rechtlichen vertraglichen Vergütungsanspruchs - nur der Schiedsspruch vom 5. April 2016 sein kann (vgl. Schneider, in: jurisPK-SGB V, Stand Juni 2020, § 132a Rn. 10, 70; Engelmann, in: Schnapp/Düring, Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, 2. Aufl. 2016, S. 160 Rn. 272). Im Übrigen fehlt es an einem Über-/Unterordnungsverhältnis, das Voraussetzung für den Erlass eines Verwaltungsakts nach § 31 SGB X ist (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2017 – B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 15 m.w.N.).
26 Die formelle Beschwer der Klägerin liegt darin, dass sie geltend macht, die Vergütung für die vom 20. August 2011 bis 9. Mai 2012 durchgeführte Dauerbeatmung der Versicherten der Beklagten i.H.v. insgesamt 20.396,25 EUR nicht erhalten zu haben. Ein Anspruch auf Vergütung kann nicht offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise ausgeschlossen werden.
27 Entgegen der Auffassung des SG fehlt der Klägerin für die erhobene Leistungsklage nicht das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, weil sie bereits über einen Schiedsspruch in der geltend gemachten Höhe verfügt. Auch das Argument, die Klägerin könne damit die fehlende vorläufige Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs umgehen, trägt nicht. Nach der Gesamtkonzeption des § 132a Abs. 2 SGB V (hier in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung ; seither in § 132a Abs. 4 SGB V geregelt) sollen Verträge als Rechtsgrundlage die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und Leistungserbringer im Bereich der häuslichen Krankenpflege regeln (Schneider, a.a.O, Rn. 10). Wird keine konsensuale Einigung erzielt, wird nach dem im Bereich der häuslichen Krankenpflege von § 132a Abs. 2 SGB V a.F. normierten Konfliktlösungsmodell der Schiedsperson als von den Vertragspartnern bestimmter Schlichter bzw. Vertragshelfer die Befugnis eingeräumt, die Leistung (z.B. Vergütung oder Preise) oder eine Leistungsmodalität (z.B. Beginn oder Ende der Laufzeit des Vertrags) zu bestimmen und so den Vertragsinhalt rechtsgestaltend zu ergänzen bzw. zu ersetzen (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 23; Föllmer, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Stand März 2020, § 132a SGB V Rn. 34). Wie bereits dargelegt, stellt der Schiedsspruch nach seinem Erlass die Rechtsgrundlage für Forderungen zwischen den Leistungserbringern und der Krankenkasse dar. Zur Durchsetzung hierauf gestützter Forderungen steht dem Gläubiger allein die allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zu. Denn als eigenständiger Akt der Vertragsgestaltung ersetzt der Schiedsspruch diesen und hat die Rechtswirkungen einer öffentlich-rechtlichen vertraglichen Vereinbarung (vgl. Engelmann, a.a.O.). Für Klagen auf Erfüllung vertraglicher Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichem Vertrag ist jedoch die allgemeine Leistungsklage statthaft (vgl. nur Nielsson in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand April 2018, § 53 SGB X, Rn. 154). Für Schiedssprüche nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. gilt nichts Anderes.
28 3. Die Klage ist jedoch derzeit nicht begründet, denn die hier streitige Vergütungsforderung i.H.v. insgesamt 20.396,25 EUR ist noch nicht fällig geworden.
29 Soweit die Entscheidung des SG im Berufungsverfahren noch angefochten ist, erweist sie sich nur im Ergebnis als zutreffend. Denn die Leistungsklage, mit der die Vergütung geltend gemacht wird, ist entgegen der Ansicht des SG nicht mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, sondern nur derzeit unbegründet. Sie ist im Hinblick auf die fehlende Fälligkeit der geltend gemachten Vergütungsforderung verfrüht erhoben worden und ist deshalb „als zur Zeit unbegründet“ abzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2017 – B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 22; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rn. 42b m.w.N.). Insofern trifft auch die Ansicht der Beklagten, wonach das Rechtsschutzbedürfnis für die hier anhängige allgemeine Leistungsklage der Klägerin fehle, weil sie in zeitlicher Hinsicht (am 12. August 2016) nach Eingang der Klage der Beklagten in dem Verfahren S 18 KR 4297/16 (am 10. August 2016) erhoben worden sei, nicht zu.
30 Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. in Verbindung mit dem Schiedsspruch vom 5. April 2016. Nach § 132a Abs. 2 Satz 1 SGB V a.F. schließen die Krankenkassen Verträge mit den Leistungserbringern über die Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege (§ 37 SGB V), über die Preise und deren Abrechnung und die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Fortbildung. Im Falle der Nichteinigung wird der Vertragsinhalt durch eine von den Vertragspartnern zu bestimmende unabhängige Schiedsperson innerhalb von drei Monaten festgelegt (§ 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F.). Im vorliegenden Fall beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 18. September 2015 bei der Schiedsperson (M. Z.) im Rahmen eines Schiedsverfahrens gemäß § 132a SGB V - wegen der Versorgung der Versicherten der Beklagten - gegenüber der Beklagten, eine zusätzliche Pflegevergütung in Höhe von 21.238 EUR nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz jährlich seit dem 10. Mai 2012 festzusetzen. Mit Schiedsspruch vom 5. April 2016 wurde die Beklagte verpflichtet, an die Klägerin für die im Zeitraum vom 20. August 2011 bis 9. Mai 2012 durchgeführte Dauerbeatmung der Versicherten der Beklagten, Frau J. M., eine Vergütung von 20.396,25 EUR zu zahlen. Darüber hinaus wurde bestimmt, dass der Betrag mit Zugang des Schiedsspruchs an die Beklagte fällig werde. Dies entnimmt der Senat dem Tenor des Schiedsspruchs vom 5. April 2016. Nach den eigenen Angaben der Beklagten ist ihr der Schiedsspruch mit Schreiben vom 11. April 2016 übersandt worden. Die Beklagte hat zwar nicht mitgeteilt, wann genau ihr der Schiedsspruch zugegangen ist. Hierauf kommt es aber nicht, weil der Schiedsspruch vom 5. April 2016 aufgrund der Ersetzungs- bzw. Feststellungsklage der Beklagten und des noch anhängigen Berufungsverfahrens L 5 KR 2097/20 noch nicht wirksam ist.
31 Der Schiedsspruch nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. stellt rechtstechnisch ein "Schiedsgutachten im weiteren Sinne" dar, weil der Schiedsperson die Befugnis eingeräumt wird, die Leistung (z.B. Vergütung) oder eine Leistungsmodalität (z.B. Beginn, Dauer, Höhe) zu bestimmen und dadurch den Vertragsinhalt rechtsgestaltend zu ergänzen (BSG, Urteil vom 29. Juni 2017 – B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 20). Allerdings erzeugt nur ein wirksames Schiedsgutachten materiell-rechtliche Wirkung (BSG, a.a.O., Rn. 21). Wird der Schiedsspruch einer Schiedsperson - wie hier im Klageverfahren S 18 KR 4297/16 bzw. nunmehr im Berufungsverfahren L 5 KR 2097/20 - wegen der Unbilligkeit des Schiedsspruchs zur gerichtlichen Überprüfung gestellt, dann kann dieses Klageziel (wie bereits dargelegt) nur durch eine Ersetzungsklage nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V und § 317 Abs. 1, § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB oder - wenn das Gericht die Festlegungen im Schiedsspruch nicht ersetzen kann - durch eine Feststellungsklage erreicht werden (BSG, Urteil vom 25. November 2010 – B 3 KR 1/10 R – juris, 30; Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 17; Urteil vom 29. Juni 2017 – B3 KR 31/15 R – juris, Rn. 25 m.w.N). Prozessual handelt es sich bei der Ersetzungsklage um eine Sonderform der Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG. Bei einer solchen Klage sind die Vertragspartner die richtigen Klagegegner. Die Beklagte hat eine solche Ersetzungsklage am 10. August 2016 beim SG erhoben und zuletzt auch die Feststellung der Unwirksamkeit des Schiedsspruchs vom 5. April 2016 beantragt. Mit Urteil vom 2. Juli 2020 hat das SG in dem Verfahren S 18 KR 4297/16 festgestellt, dass der Schiedsspruch vom 5. April 2016 unwirksam sei und im Übrigen die Klage abgewiesen. Das Berufungsverfahren der Klägerin beim LSG ist noch anhängig.
32 Solange das Schiedsgutachten noch nicht fertiggestellt ist oder während eines sich daran anschließenden gerichtlichen (Ersetzungs- bzw. Feststellungs-)Verfahrens kann eine betroffene Forderung aber weder außergerichtlich noch gerichtlich geltend gemacht werden (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2013 – III ZR 52/12 – juris, Rn. 28). Dies verkennt die Klägerin. Auch können keine Fälligkeits-, Verzugs- oder Prozesszinsen geltend gemacht werden (Völzmann, in: jurisPK-BGB, Stand Februar 2020, § 319 Rn. 18). Die Auffassung der Klägerin, wonach die Fälligkeit eines Anspruchs dann eintrete, wenn eine Leistungsbestimmung getroffen worden sei und dem Schuldner kein Leistungsverweigerungsrecht mehr zustehe, trifft nicht zu. Denn die gerichtliche Überprüfung des Schiedsspruchs hat zur Folge, dass die Fälligkeit der betroffenen Forderung erst mit Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung beginnt (BGH, a.a.O., Rn. 33 m.w.N.; ebenso Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Februar 2016 – 5 S 1098/15 – juris, Rn. 15; Würdinger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 319 Rn. 24). Diese in der zivilgerichtlichen Judikatur entwickelten und von der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung übernommenen Grundsätze sind auf Schiedssprüche nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. vollumfänglich übertragbar. Denn das BSG hat in seiner Entscheidung vom 29. Juni 2017 (B 3 KR 31/15 R) ausdrücklich darauf hingewiesen und klargestellt, dass der Schiedsspruch nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. rechtstechnisch ein "Schiedsgutachten im weiteren Sinne" darstellt (a.a.O., Rn. 20). Das Schiedsverfahren im Bereich der häuslichen Krankenpflege entspricht mithin einer im Zivilrecht üblichen Schlichtung, in der sich die Vertragsparteien auf die Leistungsbestimmung durch einen Dritten (§ 317 BGB) einigen. Solange aber die Wirksamkeit des Schiedsspruchs wegen gerichtlich geltend gemachter Unbilligkeit noch nicht feststeht (§ 319 Abs. 1 Satz 2 BGB), wird die hierdurch betroffene Forderung (noch) nicht fällig. Denn das Gericht ist zur subsidiären Ersatzleistungsbestimmung nach § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB verpflichtet, wenn die durch die Schiedsperson festgesetzte primäre Leistungsbestimmung unbillig ist. Der Ausspruch des Gerichts tritt dann an die Stelle der Leistungsbestimmung durch diese Person (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 21). Erst mit dem Eintritt der Rechtskraft der Gerichtsentscheidung wird die betroffene Forderung fällig. Soweit die Klägerin meint, die Erwägungen und Ausführungen des BGH in seiner Entscheidung vom 04. Juli 2013 (III ZR 52/12) zur (aufgeschobenen) Fälligkeit seien bei Schiedssprüchen nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB a.F. nicht anwendbar, weil dem Verfahren des BGH ein "Schiedsgutachten im engeren Sinne" zugrunde gelegen habe, verkennt sie, dass die ständige Rechtsprechung des BGH zur (aufgeschobenen) Fälligkeit gerade "Schiedsgutachten im weiteren Sinne" betrifft (BGH, a.a.O., Rn. 33 mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung). Diese Rechtsprechung hat er im genannten Urteil auf "Schiedsgutachten im engeren Sinne" ausgedehnt (BGH, a.a.O., Rn. 34 ff.). Die Klägerin dringt auch mit ihrem Argument, die Beklagte sei zunächst untätig geblieben und habe mithin verspätet Klage erhoben, nicht durch. Denn eine Frist für die Klageerhebung besteht nicht (vgl. allg. Stadler, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 17. Aufl. 2018, § 319 Rn. 319 Rn. 8, § 315 Rn. 12). Als Grenze kommt bei illoyaler Verzögerung der Klageerhebung nur eine Verwirkung in Betracht (Würdinger, a.a.O., § 319 Rn. 23, § 315 Rn. 48). Eine Verwirkung des Klagerechts der Beklagten ist vorliegend aber nicht eingetreten. Nach ihren eigenen Angaben wurde ihr der Schiedsspruch mit Schreiben vom 11. April 2016 zugesandt. Mit Schreiben vom 5. August 2016 (Eingang beim SG: 10. August 2016), d.h. innerhalb von vier Monaten, hat sie gegen den Schiedsspruch Klage erhoben. Eine illoyale Verzögerung der Klageerhebung kann hierin nicht erblickt werden.
33 Etwaige andere Abreden (etwa zur vorzeitigen Fälligkeit trotz gerichtlicher Überprüfung des Schiedsspruchs wegen geltend gemachter Unbilligkeit) zwischen den Beteiligten wurden hier ausweislich des Schiedsspruchs vom 5. April 2016 nicht getroffen.
34 An diesem Ergebnis ändert auch die teilweise in der Rechtsprechung und Literatur vertretene Auffassung, wonach die Klage gegen einen Schiedsspruch keine aufschiebende Wirkung nach § 86a SGG habe (SG Stuttgart, Urteil vom 6. September 2012 – S 9 KR 5302/10 – juris, Rn. 55; Föllmer, a.a.O., § 132a SGB V Rn. 41), nichts. Denn der Anwendungsbereich von § 86a SGG (Widersprüche und Anfechtungsklagen) ist schon nicht eröffnet. Bei einer Klage gegen einen Schiedsspruch wegen geltend gemachter Unbilligkeit scheidet eine Anfechtungs-, Verpflichtungs- oder Neubescheidungsklage (§ 54 Abs. 1, § 131 Abs. 2 und 3 SGG) aus. Zutreffende Klageart ist - wie bereits dargelegt - die Ersetzungs- (§ 54 Abs. 5 SGG) bzw. Feststellungsklage (§ 55 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 29. Juni 2017 – B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 25 m.w.N; Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 17 f.; Engelmann, a.a.O., S. 160 Rn. 274.). Soweit der 6. Senat des BSG bei einem Schiedsspruch, mit dem eine Schiedsperson den Inhalt eines Vertrags zur hausarztzentrierten Versorgung festsetzt hatte, davon ausging, dass durch den Schiedsspruch ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zustande gekommen sei (Urteil vom 25. März 2015 – B 6 KA 9/14 R – juris, Rn. 36) und die Festsetzung der Schiedsperson bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens (vorbehaltlich seiner Nichtigkeit, vgl. § 58 SGB X) umzusetzen sei (a.a.O.), mithin die Pflicht zur Umsetzung des Vertrags nur durch eine einstweilige Anordnung des Gerichts nach § 86b Abs. 2 SGG beseitigt werden könne (a.a.O.), führt auch dies vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. Denn der 3. Senat hat in Kenntnis der genannten Entscheidung des 6. Senats (vgl. nur Urteil vom 23. Juni 2016 – B 3 KR 26/15 R – juris, Rn. 27) in seinem Urteil vom 29. Juni 2017 (B 3 KR 31/15 R – juris, Rn. 20) ausdrücklich dargelegt, dass der Schiedsspruch nach § 132a Abs. 2 Satz 6 SGB V a.F. rechtstechnisch ein "Schiedsgutachten im weiteren Sinne" darstellt. Der an sich konsensual zu schließende Vertrag wird hierdurch ersetzt, sodass dessen Wirksamkeit nicht anhand der §§ 53 ff. SGB X, sondern anhand von § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V i.V.m. §§ 317 Abs. 1, 319 Abs. 1 Satz 2 BGB zu prüfen ist.
35 Mangels Fälligkeit der Klageforderung bestehen zur Zeit auch weder Ansprüche auf Verzugszinsen (§§ 288, 286 Abs. 1 Satz 1 BGB) noch auf Prozesszinsen (§ 291 BGB).
36 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
37 5. Die Revision wird gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
38 6. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 197a Abs. 1 Satz1 Halbsatz 1 SGG in Verbindung mit § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz endgültig auf 20.396,25 EUR festgesetzt.
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 6. Februar 2017 wird zurückgewiesen.Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung der Kosten für ambulant durchgeführte Liposuktionen streitig.
2 Die 1979 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet an einem Lipödem, wobei insbesondere Ober- und Unterschenkel beidseits sowie Ober- und Unterarme betroffen sind.
3 Mit Schreiben vom 26. Juni 2014, bei der Beklagten eingegangen am 2. Juli 2014, beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für Liposuktionen im Bereich von Ober- und Unterschenkeln sowie Ober- und Unterarmen und legte ausführlich die Entwicklung ihrer Erkrankung und ihre Beschwerden (Bewegungseinschränkungen, Druck- und Spannungsschmerzen, Berührungsempfindlichkeit) dar. Mit gesunder Ernährung sowie viel Bewegung und regelmäßigem Sport sei eine Besserung nicht zu erzielen. Auch Lymphdrainage und das Tragen von Kompressionsstrümpfen führe zu keiner Schmerzlinderung oder Besserung des Lipödems. Im Übrigen sei das konsequente Tragen von Kompressionsstrumpfhosen an heißen Tagen nicht möglich, da wegen der sich stauenden Hitze mehrmals täglich eine Intimpflege notwendig sei und gehäuft Vaginalpilze aufträten. Sie legte die ärztlichen Bescheinigungen des Facharztes für Allgemeinmedizin/Phlebologie, Lymphologie Dr. K. vom 10. Juni 2014, der Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe F. vom 24. Juni 2014 und der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dres. H. vom 24. Juli 2014 vor. Dr. K. beschrieb ein Lipödem beidseits (ausgeprägtes Ödem vom Ober- und Unterschenkeltyp sowie an Ober- und Unterarmen) ohne Zeichen einer Lymphabflussstörung und führte aus, dieses könne im Wesentlichen weder diätisch noch durch Sport beeinflusst werden. Eine Therapie sei letztlich nur durch Liposuktion möglich. Mit Schreiben vom 3. Juli 2014 veranlasste die Beklagte ein Gutachten durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Mit Schreiben vom selben Tag teilte sie der Klägerin mit, dass sie zur Prüfung der Kostenübernahme ein Gutachten benötige. Nach Weiterleitung der vom MDK noch für erforderlich erachteten und von der Klägerin vorgelegten medizinischen Unterlagen empfahl Dr. Sch. die Kostenübernahme für die Liposuktionen nicht (Gutachten vom 10. Juli 2014). Bei der Klägerin liege ein Übergewicht vor, weshalb zunächst eine Gewichtsabnahme erfolgen solle. Zudem sollte sich die Klägerin im Hinblick auf ihre Ernährung und ihre sportlichen Aktivitäten fachkundig beraten lassen. Eine umfangreiche internistisch/endokrinologische Abklärung sei bisher nicht erfolgt, weshalb diese angesichts der angegebenen generalisierten Ödembildung empfohlen werde.
4 Mit Bescheid vom 18. Juli 2014 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin im Wesentlichen mit der Begründung ab, bei der beantragten Liposuktion handele es sich um eine außervertragliche Behandlungsmethode. Die Ödembildung sei keine lebensbedrohliche Erkrankung. Eine Dokumentation über eine qualifizierte Bewegungs- oder Ernährungsberatung liege nicht vor. Ärztliche Befunde über eine umfangreiche internistische, endokrinologische oder rheumatologische Abklärung seien nicht dokumentiert. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und wandte sich gegen das Gutachten der Dr. Sch. Diese habe ein Übergewicht diagnostiziert, ohne zu berücksichtigen, dass angesichts der krankhaft erhöhten Konzentration des Unterfettgewebes und der angesammelten Lymphflüssigkeit kein aussagekräftiger BMI zu ermitteln sei. Sie habe qualifizierte Ernährungs- und Bewegungsberatung in Anspruch genommen und erhalte regelmäßig Lymphdrainage. Die Beklagte veranlasste ein weiteres Gutachten des MDK, wobei Dr. Me. im Rahmen ihrer Ausführungen vom 18. August 2014 die Kostenübernahme gleichermaßen nicht empfahl. Nach Vorlage des Berichts des Dr. C., CG Lympha - Fachklinik für Operative Lymphologie - vom 21. August 2014, der die Klägerin am 12. August 2014 untersucht hatte, zog die Beklagte erneut den MDK hinzu, wobei Dr. Me. die Kostenübernahme für die begehrte Liposuktion weiterhin nicht befürwortete (Gutachten vom 24. September 2014). Daraufhin informierte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 30. September 2014 unter der Überschrift „Ihr Widerspruch vom 02.08.2018 gegen die Ablehnung der beantragten Liposuktion“, dass die Kostenübernahme der beantragten Liposuktion nicht möglich sei. Zwei Gutachter seien unabhängig voneinander zu keiner anderen Beurteilung gelangt. Das Schreiben enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung (einmonatige Widerspruchsmöglichkeit).
5 Mit Schreiben vom 28. Oktober 2014 beantragte die Klägerin ihren „Antrag auf Liposuktion vorübergehend“ ruhend zu stellen, was die Beklagte der Klägerin wunschgemäß bestätigte.
6 Nach Vorlage weiterer medizinischer Unterlagen veranlasste die Beklagte eine erneute Stellungnahme des MDK, wobei Dr. Me. die Übernahme der Kosten von Liposuktionen weiterhin nicht empfahl (Gutachten vom 9. April 2015). Mit Schreiben vom 14. April 2015 teilte die Beklagte der Klägerin unter der Überschrift „Ablehnung der Liposuktion - Einreichung weiterer Unterlagen“ und unter Bezugnahme auf den am 2. August 2014 eingelegten Widerspruch daraufhin mit, dass der MDK auch nach Prüfung der nachgereichten Unterlagen zu keiner anderen Beurteilung gelangt sei. Die medizinischen Voraussetzungen für eine Kostenübernahme der Liposuktion durch die gesetzliche Krankenversicherung seien nicht gegeben. Auch dieses Schreiben enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung (einmonatige Widerspruchsmöglichkeit).
7 Mit Schreiben vom 10. Mai 2015 bat die Klägerin erneut, ihren Antrag vorübergehend ruhend zu stellen, was die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 28. Mai 2015 erneut wunschgemäß bestätigte.
8 Am 3. November 2015 ging bei der Beklagten der Schriftsatz des von der Klägerin nunmehr Bevollmächtigten Rechtsanwalts vom 2. November 2015 ein, mit dem dieser zunächst auf das anhängige Widerspruchsverfahren Bezug nahm und sodann weiter ausführte, der Zustand der Klägerin habe sich „drastisch verschlechtert, womit insgesamt eine neue Antragstellung erforderlich wird“. Die Klägerin sei am 22. Oktober 2015 in der S. Clinik M. (Tochterunternehmen der S. H. GmbH) untersucht worden, wobei nunmehr ein Lipödem der Beine Grad 3 und ein Lipödem an den Oberarmen und dem Abdomen Grad 2 festgestellt worden sei. Sie beantragte die Kosten für die notwendigen Liposuktionseingriffe zu übernehmen, und legte den Befundbericht der S. Clinik sowie Kostenvoranschläge vom 27. Oktober 2015 für ambulante Liposuktionen in einer Gesamthöhe von 16.000,00 EUR (Oberschenkel beidseits: 6.000,00 EUR, Unterschenkel beidseits: 2.500,00 EUR, Oberarme beidseits: 2.000,00 EUR, Unterarme beidseits: 1.000,00 EUR, Abdomen, Flanke: 4.500,00 EUR) vor. Mit Schreiben vom 3. November 2015 teilte die Beklagte dem Bevollmächtigten der Klägerin mit, dass der „Widerspruch vom 02.11.2015“ eingegangen und an die Widerspruchsstelle weitergeleitet worden sei. Mit Schreiben vom 10. November 2015 wies dieser darauf hin, dass aufgrund der Verschlimmerung des gesundheitlichen Zustandes der Klägerin nicht nur ein Widerspruch über die bisher verweigerte Kostenübernahme vorliege, sondern insgesamt ein neuer Antrag gestellt worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2016 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch gegen den „Bescheid vom 18. Juli 2014“ zurück und führte zur Begründung aus, neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien so lange von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, bis der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) sie als zweckmäßig anerkannt habe. Über die Zulassung der Liposuktion habe der GBA bisher noch nicht entschieden. Mit Beschluss vom 22. Mai 2014 sei ein Beratungsverfahren zu Bewertung der Liposuktion bei Lipödem eingeleitet worden. Soweit eine Behandlungsmethode ausnahmsweise außerhalb der Zulassung unter den engen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung begründe, lägen die entsprechenden Voraussetzungen nicht vor. Weder liege eine lebensbedrohliche Erkrankung vor, noch fehle es an alternativen Therapiemöglichkeiten und es seien auch keine Forschungsergebnisse vorhanden, die erwarten ließen, dass die Liposuktion für die in Rede stehende Indikation zugelassen werden könne, da wissenschaftlich einwandfrei geführten Statistiken nicht vorlägen.
9 Am 5. Februar 2016 erhob die anwaltlich vertretene Klägerin gegen den Bescheid vom 18. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Januar 2016 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) mit dem Begehren Klage, sie mit Liposuktionen zur Behandlung beider Arme und Beine sowie von Abdomen und Gesäßregion zu versorgen. Sie legte ausführlich ihre Beschwerden dar, durch die ihre Lebensqualität stark eingeschränkt sei und machte geltend, konservative Maßnahmen könnten die Beschwerden zwar stellenweise lindern, jedoch reichten diese nicht aus, das krankhafte Fettzellverteilungsmuster nachhaltig zu beseitigen. Trotz einer unterkalorischen Ernährung von 1.200 kcal pro Tag komme es immer wieder zu einer schubweisen Gewichtszunahme. Ihr sei nicht zumutbar zuzuwarten, bis weitere Schübe aufträten. Der geltend gemachte Anspruch stehe ihr bereits deshalb zu, weil die Beklagte ihren Antrag vom 2. November 2015 nicht innerhalb von drei bzw. fünf Wochen beschieden habe. Dieser Antrag sei ausdrücklich als Neuantrag bezeichnet worden, weshalb gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V die Genehmigungsfiktion eingetreten sei, und zwar bereits vor Bekanntgabe des Bescheids vom 18. Januar 2016. Dieser sei daher rechtswidrig.
10 In der S. Clinik S. (Tochterunternehmen der S. H. GmbH, Betreiber L. Ä. GMbH & Co. KG) wurden bei der Klägerin am 18. Februar, 14. und 29. September 2016 im Rahmen ambulanter Behandlungen Liposuktionen im Bereich der Oberschenkel durchgeführt.
11 Die Beklagte trat der Klage mit dem Hinweis entgegen, dass die gesetzliche Krankenversicherung Kosten für eine Liposuktion nicht übernehmen dürfe, da die in Rede stehende Behandlungsmethode bisher nicht vom GBA bewertet und zugelassen sei. Der geltend gemachte Anspruch stehe der Klägerin auch nicht Kraft Genehmigungsfiktion zu. Soweit im Widerspruchsverfahren weitere Unterlagen vorgelegt und ein Neuantrag formuliert worden sei, sei dies Inhalt des Widerspruchsverfahrens geworden.
12 Das SG hörte die Internistin/Endokrinologie Dr. F., die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. N., den Facharzt für Innere Medizin/Rheumatologe Dr. B., die Ärztin für Psychiatrie P., den Arzt für Chirurgie Dr. Wa. und den Chirurgen L. (Leitender Arzt der S. Lounge in M.) schriftlich als sachverständige Zeugen an. Letzterer berichtete in seiner am 18. Oktober 2016 beim SG eingegangenen Auskunft (ohne Datum) von ambulant durchgeführten Liposuktionen in Stuttgart am 18. Februar sowie 14. und 29. September 2016 im Bereich der Oberschenkel.
13 Mit Gerichtsbescheid vom 6. Februar 2017 wies das SG die Klage, die die Klägerin im Hinblick auf die Liposuktionen im Bereich der Oberschenkel auf Kostenerstattung umgestellt hatte, ab. Der der Klägerin stehe hinsichtlich der streitigen Leistungen kein Naturalleistungsanspruch zu, so dass weder ein Kostenerstattungsanspruch noch ein Sachleistungsanspruch bestehe. Im Hinblick auf das in § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V normierte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt scheide ein Naturalleistungsanspruch aus. Denn neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden - wie die vorliegend streitige Liposuktion - gehörten in der vertragsärztlichen Versorgung nur dann zu den von den Krankenkassen geschuldeten Leistungen, wenn der GBA in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen u.a. über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinischer Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit abgegeben habe. Dies sei hinsichtlich der Liposuktion nicht der Fall. Der geltend gemachte Anspruch lasse sich auch nicht auf § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V stützen. Diese Regelung greife nicht bei jeglichen Leistungsansprüchen ein, sondern nur dann, wenn sich der Antrag auf Leistungen beziehe, die grundsätzlich zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehörten, was hinsichtlich der streitigen Liposuktionen gerade nicht der Fall sei.
14 Am 7. März 2017 hat die anwaltlich vertretene Klägerin dagegen beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung (L 4 KR 880/17) eingelegt und zu deren Begründung vorgetragen, bezüglich der durchgeführten Liposuktionen sei die Genehmigungsfiktion eingetreten. Gestützt auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 8. März 2016 (B 1 KR 25/15 R) hat sie im Wesentlichen geltend gemacht, die Fiktionswirkung beschränke sich nicht auf Leistungen, die bereits Gegenstand des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung seien. Die Begrenzung auf „erforderliche“ Leistungen führe lediglich zu einer Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung lägen. Sie führe damit lediglich zu einer Missbrauchskontrolle. Liposuktionen seien dem Grunde nach Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung lägen. Hierfür spreche auch der Umstand, dass der GBA derzeit ein Bewertungsverfahren durchführe.
15 Mit Beschluss vom 27. April 2017 ordnete die frühere Berichterstatterin des Verfahrens im Hinblick auf das beim BSG anhängig gewesene Verfahren B 1 KR 1/17 R das Ruhen des Verfahrens an.
16 Nach Wiederanrufung des Verfahrens am 9. Juli 2019 bekräftigte die Klägerin unter Berufung auf das Urteil des BSG vom 11. Juli 2017 (B 1 KR 1/17 R) ihre Auffassung, wonach die Genehmigungsfiktion eingetreten und die Beklagte zur Leistung verpflichtet sei. Ihr Anspruch ergebe sich aus § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V. Die Klägerin legte Quittungen der L – Z. für S. und Ä. (L. Ä. GmbH & Co. KG) vom 18. Februar 2016 („Beschreibung“ der erbrachten Leistung: 4-Body-Treatment, Bruttobetrag: 6.000,00 EUR) und 27. Oktober 2016 („Beschreibung“ der erbrachten Leistung: 4-Body-Treatment, Bruttobetrag: 4.500,00 EUR) sowie Rechnungen der L. Ä. GmbH & Co. KG vom 31. Januar 2018 über 3.500,00 EUR („Beschreibung“ der erbrachten Leistung: Slimlipo OP), 18. Mai 2018 über 2.000,00 EUR („Beschreibung“ der erbrachten Leistung: Slimlipo OP, Waden, Knie) und 14. November 2018 über 2.900,00 EUR („Beschreibung“ der erbrachten Leistung: Slimlipo) vor.
17 Die Klägerin beantragt (vgl. Bl. 27 Senatsakte), teilweise sachdienlich gefasst,
18 den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 6. Februar 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr 19.300,00 EUR nebst Zinsen in gesetzlicher Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 6.000,00 EUR seit 18. Februar 2016, aus weiteren 4.500,00 EUR seit 27. Oktober 2016, aus weiteren 3.500,00 EUR seit 5. Februar 2018, aus weiteren 2.000,00 EUR seit 14. Mai 2018 sowie aus weiteren 2.900,00 EUR seit 12. November 2018 zu zahlen.
19 Die Beklagte beantragt,
20 die Berufung zurückzuweisen.
21 Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig. Sie ist der Auffassung, dass eine Genehmigungsfiktion nicht eingetreten sei, da sie über den Antrag der Klägerin vom 26. Juni 2014 nach Information vom 3. Juli 2014, dass der MDK eingeschaltet werde, mit Bescheid vom 18. Juli 2014 vor Ablauf der Frist von fünf Wochen entschieden habe. Im nachfolgendem Widerspruchsverfahren, das auf Antrag der Klägerin zweimal ruhend gestellt worden sei, habe die Klägerin weitere Unterlagen vorgelegt, wobei dieses dann durch Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2016 beendet worden sei. Soweit ihr Bevollmächtigter am 2. November 2015 Bezug genommen habe auf das Widerspruchsverfahren und wegen der Verschlechterung des Zustandes der Klägerin einen neuen Antrag gestellt habe, habe es sich um denselben Antrag gehandelt, dessentwegen das Widerspruchsverfahren geruht habe. Das Ruhen sei daraufhin beendet und das Widerspruchsverfahren mit Widerspruchsbescheid abgeschlossen worden. Der Antrag vom 2. November 2015, der bereits in dieser Form vorgelegen habe, sei Inhalt des Widerspruchsverfahrens geworden und habe keine neue Genehmigungsfrist ausgelöst. Abweichend von dem Urteil des BSG vom 11. Juli 2017 (B 1 KR 1/17 R), das sich mit der Frage beschäftigt habe, ob eine Leistung offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liege, sei vorliegend bereits ein Ablehnungsbescheid ergangen.
22 Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
23 Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verfahrensakten des SG und des Senats sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
24 1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Klägerin begehrt die Zahlung von 19.300,00 EUR.
25 2. Mit der Berufung begehrt die anwaltlich vertretene Klägerin zuletzt allein im Wege der allgemeinen Leistungsklage die Kostenerstattung i.H. von 19.300 EUR für die in den Jahren 2016 und 2018 durchgeführten Liposuktionen aufgrund der von ihr angenommenen Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Sätze 6 und 7 SGB V. Die ursprünglich gegebene objektive Klagehäufung (§ 56 SGG), nämlich die allgemeine Leistungsklage auf Kostenerstattung und die (isolierte) Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung der Beklagten (vgl. BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 1/18 R – juris, Rn. 8; Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 18/18 R – juris, Rn. 8 ff.; Urteile vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 21/19 R – juris, Rn. 7, und B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 8), wurde in der Berufung nicht mehr aufrechterhalten. Das von der Klägerin im Klageverfahren zunächst mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage verfolgte Begehren, die Liposuktionen als Sachleistungen zu gewähren, stellte die Klägerin im Hinblick auf die im Februar und Oktober 2016 durchgeführten Behandlungen im Wege der zulässigen Klageänderung (vgl. § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG) insoweit auf Kostenerstattung um. Nachdem die Klägerin dieses Begehren zunächst auch noch im Berufungsverfahren weiterführte, stellte sie ihr Klagebegehren im Hinblick auf die im Jahr 2018 erfolgten weiteren Liposuktionen - erneut im Wege der zulässigen Klageänderung - schließlich auch insoweit auf Kostenerstattung um und beschränkte ihren Antrag (gestützt auf die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V und den Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V) dabei gleichzeitig auf ihr Erstattungsbegehren, ohne die Anfechtungsklage weiterzuführen (vgl. Schriftsatz vom 9. Juni 2020). Damit sind die Bescheide vom 18. Juli 2014, 30. September 2014 und 14 April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids (§§ 86, 95 SGG) vom 18. Januar 2016 bestandskräftig und in der Sache bindend geworden (vgl. § 77 SGG). Nachdem die Klägerin aber keine zukünftigen Naturalleistungsansprüche (Liposuktionen), sondern nur die Kostenerstattung für bereits während des Klage- und Berufungsverfahren durchgeführte Liposuktionen aufgrund der von ihr angenommenen Genehmigungsfiktion begehrt, steht die Bestandskraft der Ablehnungsentscheidung dem nunmehr geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch nicht entgegen.
26 Die allgemeine Leistungsklage ist gemäß § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Darauf, dass nach der neuesten Rechtsprechung des BSG § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V keinen eigenständigen Anspruch auf Versorgung mit einer Naturalleistung begründet (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 10 ff.), kommt es vorliegend nicht an. Denn die Klägerin stützt ihr Kostenerstattungsbegehren allein auf die Kostenerstattungspflicht nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V und begehrt keine zukünftigen Leistungen.
27 3. Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das SG hat die Klage in Bezug auf ihr Erstattungsbegehren, das alleiniger Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, zu Recht abgewiesen. Denn der Klägerin steht ein Anspruch auf Versorgung mit der beanspruchten Liposuktion kraft fingierter Genehmigung nicht zu.
28 Nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten (Satz 2). Der MDK nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung (Satz 3). Eine hiervon abweichende Frist ist nur für den Fall der Durchführung eines im Bundesmantelvertrag-Zahnärzte (BMV-Z) vorgesehenen Gutachterverfahrens bestimmt (Satz 4). Kann die Krankenkasse die Fristen nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (Satz 7). Für Leistungen zur medizinischen Reha gelten die §§ 14, 15 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zur Zuständigkeitsklärung und Erstattung selbstbeschaffter Leistungen (Satz 9).
29 Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Klägerin erfüllt zwar die Eingangsvoraussetzungen dieser Regelung (dazu aa). Die Beklagte lehnte jedoch den Leistungsantrag der Klägerin fristgerecht ab (dazu bb). Soweit die Klägerin während des Widerspruchsverfahrens ausdrücklich einen „neuen“ Antrag auf Gewährung der Liposuktionen stellte, löst dieser eine Genehmigungsfiktion nicht aus (dazu cc).
30 aa) Der zeitliche Anwendungsbereich der Regelung des § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V ist eröffnet, da die Klägerin ihren Antrag auf künftig zu erbringende Leistungen am 2. Juli 2014, mithin nach dem 26. Februar 2013 stellte (BSG, Urteil vom 26. September 2017 – B 1 KR 6/17 R – juris, Rn. 12). Die Regelung ist auch sachlich anwendbar. Denn die Klägerin verlangt weder unmittelbar eine Geldleistung noch Erstattung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, sondern Erstattung für selbstbeschaffte Krankenbehandlung. Sie ist als bei der Beklagten gesetzlich Krankenversicherte auch Leistungsberechtigte im Sinne dieser Vorschrift. Sie beantragte als Leistung hinreichend bestimmt Liposuktionen an den Ober- und Unterschenkeln beidseits und den Ober- und Unterarmen beidseits und untermauerte ihr Begehren mit dem ihrem Antrag beigefügten Attest des von ihr konsultierten Mediziners, Facharzt für Allgemeinmedizin/Phlebologie und Lymphologie Dr. K. vom 10. Juni 2014, der eine Therapie des Lipödems letztendlich nur durch eine Liposuktion für möglich erachtete. Der Antrag ist mithin ausreichend konkretisiert, um als Grundlage für eine fingierte Genehmigung dienen zu können. Die Klägerin durfte schließlich aufgrund der fachlichen Befürwortung ihres Antrags durch ihren Arzt Liposuktionen zur Behandlung ihres Lipödems für geeignet und erforderlich halten (vgl. BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 1/17 R – juris, Rn. 22; Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 22 ff.).
31 bb) Die Beklagte lehnte den Antrag jedoch innerhalb der mit dem 3. Juli 2014 (dazu (1)) beginnenden Fünf-Wochen-Frist (dazu (2)), fristgerecht ab (dazu (3)).
32 (1) Maßgeblich für den Fristbeginn war der Eingang des Antrags bei der Beklagten. Danach begann die Frist am 3. Juli 2014 zu laufen (vgl. § 26 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X] i.V.m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Denn der mit Schreiben vom 26. Juni 2014 gestellte Antrag der Klägerin ging der Beklagten am 2. Juli 2014 zu. Dies entnimmt der Senat dem Eingangsstempel der Beklagten auf dem Antragsschreiben der Klägerin.
33 (2) Die Frist endete am 6. August 2014 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB).
34 Nach dem aufgezeigten Regelungssystem galt die gesetzliche Fünf-Wochen-Frist (vgl. § 13 Abs. 3a Satz 1 Fall 2 SGB V). Denn die Beklagte informierte die Klägerin innerhalb der drei Wochen nach Antragseingang darüber, dass sie eine Stellungnahme des MDK einhole (§ 13 Abs. 3a Satz 2 SGB V). Ohne diese gebotene Information kann der Leistungsberechtigte nach Ablauf von drei Wochen annehmen, dass sein Antrag als genehmigt gilt (BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – juris, Rn. 29). Die Drei-Wochen-Frist endete am 23. Juli 2014. Die Beklagte informierte die Klägerin vorliegend mit Schreiben vom 3. Juli 2014 und nahm am Folgetag zudem telefonisch Kontakt mit der Klägerin auf, um weitere medizinische Unterlagen anzufordern, die die Klägerin mit E-Mail vom 6. Juli 2014 nachreichte.
35 (3) Die Beklagte lehnte den Antrag innerhalb der danach maßgeblichen Fünf-Wochen-Frist fristgerecht ab.
36 Maßgeblich für die Wahrung der Fristen des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V ist die Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides, also dessen Zugang (§ 37 Abs. 1 SGB X; BSG, Urteile vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – juris, Rn. 29 und 26. September 2017 – B 1 KR 8/17 R – juris, Rn. 28 m.w.N.). Die Verwaltungsakte der Beklagten enthält zwar hinsichtlich des Bescheides vom 18. Juli 2014 keinen Absendevermerk, so dass die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 SGB X nicht greift. Jedoch bestätigte die Klägerin mit ihrem Widerspruchsschreiben vom 2. August 2014 den Zugang des Bescheides am 19. Juli 2014, mithin innerhalb der am 6. August 2014 endenden Fünf-Wochen-Frist.
37 cc. Aufgrund des mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 2. November 2015 gestellten „neuen“ Antrags trat eine Genehmigungsfiktion nicht ein.
38 (1) Die Regelung des § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V findet auf den während des Widerspruchsverfahrens vom Bevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 2. November 2015 gestellten „neuen“ Antrag keine Anwendung. Mit diesem Schreiben stellte die Klägerin keinen neuen „Antrag auf Leistungen“ im Sinne von § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V. Sie nahm damit Bezug auf den bereits gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten für Liposuktionen, machte eine drastische Verschlechterung ihres Zustandes geltend und schloss daraus („womit“), dass „insgesamt eine neue Antragstellung erforderlich wird“. Die Verschlechterung begründete sie nachfolgend damit, dass anlässlich der Untersuchung in der S. Clinik M. am 22. Oktober 2015 ein Lipödem Grad 3 (bisher Grad 2) im Bereich der Beine und ein Lipödem Grad 2 an den Oberarmen und dem Abdomen festgestellt worden sei. Zum Zeitpunkt dieser „neuen Antragstellung“ hatte die Beklagte bereits über den am 2. Juli 2014 gestellten und gleichermaßen auf die Gewährung von Liposuktionen gerichteten Leistungsantrag der Klägerin entschieden und diesen Antrag mit Bescheid vom 18. Juli 2014 fristgerecht abgelehnt. Durch ihren Widerspruch gegen diesen Bescheid war das von der Klägerin mit ihrem Antrag vom 2. Juli 2014 zuvor eröffnete Verwaltungsverfahren (vgl. § 8 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X]) noch nicht abgeschlossen und das durch den Widerspruch eingeleitete Vorverfahren ruhte (erneut) auf den ausdrücklichen Wunsch der Klägerin. Damit stellte sich die mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 2. November 2015 vorgebrachte Verschlimmerung der Lipödeme der Sache nach auch nicht als Leistungsantrag dar, sondern vor dem Hintergrund der zur Begründung aufgeführten, zuvor am 22. Oktober 2015 erfolgten Vorstellung der Klägerin in der S. Clinik M. vielmehr als ergänzender Sachvortrag im Widerspruchsverfahren im Hinblick auf den am 2. Juli 2014 gestellten Leistungsantrag, zumal das Leistungsziel (Liposuktion) immer gleich blieb.
39 Eine andere Beurteilung rechtfertigt auch nicht der Umstand, dass die Klägerin nach den Ausführungen ihres Bevollmächtigten im Schriftsatz vom 2. November 2015 angesichts der Verschlimmerung die Stellung eines „neuen“ Antrags für erforderlich erachtete und ein neuer Antrag - wie im nachfolgenden Schreiben vom 10. November 2015 ausdrücklich bekräftigt - auch tatsächlich gewollt war. Schon das Vorgehen der Klägerin im Anschluss an den in Rede stehenden Antrag vom 2. November 2015 lässt erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass die Klägerin mit dem gestellten „neuen Antrag“ tatsächlich das Ziel verfolgte, im Hinblick auf die Gewährung der beanspruchten Liposuktionen ein weiteres Verwaltungsverfahren mit dem Ziel der Verbescheidung dieses Antrags einzuleiten. Denn das neue Vorbringen, wonach es zu einer Verschlimmerung gekommen sei, war von der Beklagten ohnehin in dem laufenden Vorverfahren bzw. vom Widerspruchsausschuss im Hinblick auf den das Widerspruchsverfahren abschließenden Widerspruchsbescheids zu berücksichtigen, weshalb die Vermutung naheliegt, dass eigentliches Ziel dieses „neuen“ Antrags war, im Hinblick auf die beanspruchte Liposuktion eine günstige Entscheidung kraft Genehmigungsfiktion zu erreichen. Entsprechend mahnte die Klägerin im Anschluss an das Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 10. November 2015, mit dem sie die neue Antragstellung nochmals bestätigt hatte, auch zu keinem Zeitpunkt die Erledigung dieses „neuen Antrags“ an. So erinnerte sie weder im Anschluss an das Schreiben der Beklagten vom 23. Dezember 2015, mit dem diese mitgeteilt hatte, dass der Widerspruchsausschuss voraussichtlich am 18. Januar 2016 über den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 18. Juli 2014 entscheiden werde, an dessen Erledigung noch nach Erlass des Widerspruchsbescheids am 18. Januar 2016, der ihrem Bevollmächtigten am 22. Januar 2016 zuging. Stattdessen findet der Antrag vom 2. November 2015 erstmals wieder Erwähnung im Klagebegründungsschriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 5. Februar 2016, mit dem die Klägerin nunmehr geltend machte, die Beklagte habe über ihren Antrag vom 2. November 2015 nicht innerhalb von drei bzw. fünf Wochen entschieden, weshalb die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V eingetreten sei. Vor diesem Hintergrund stellt sich letztlich der „neue“ Antrag während des laufenden Widerspruchsverfahren zur Generierung einer Genehmigungsfiktion als rechtsmissbräuchlich dar (vgl. allg. zur Rechtsmissbräuchlichkeit in diesem Zusammenhang Felix, SGb 2020, 517, 518 II 2a) m.w.N.).
40 (2) Ein Kostenerstattungsanspruch kraft fingierter Genehmigung ließe sich auch dann nicht begründen, wenn man in dem am 2. November 2015 gestellten Antrag einen „Antrag auf Leistungen“ im Sinne von § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V sehen wollte. Denn dieser Antrag stellt sich als missbräuchlich und einer Genehmigungsfiktion nicht fähig dar.
41 Nach der Rechtsprechung des BSG setzt der Eintritt der Genehmigungsfiktion voraus, dass der Antrag eine Leistung betrifft, die der Versicherte für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt. Die Gesetzesregelung ordnet diese Einschränkung zwar nicht ausdrücklich, aber - so das BSG - sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck an. Das durch die Genehmigungsfiktion begründete Recht zur Selbstbeschaffung auf Kosten der Kranklenkasse besteht bei materieller Rechtswidrigkeit der selbstbeschafften Leistung, sofern der Versicherte „im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung“ keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des materiellen Leistungsanspruchs hat ("Gutgläubigkeit"; BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 22 in Fortentwicklung von BSG vom 8. März 2016 - B 1 KR 25/15 R juris, Rn. 26; Urteil vom 27. August 2019 - B 1 KR 9/19 R - juris, Rn. 29). Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 22 ff.; Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 18/18 R – juris, Rn. 22; BSG, Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 25/15 R – juris, Rn. 26). So sprechen die Gesetzesmaterialien beispielhaft den Fall an, dass die Krankenkasse auch im Falle der selbstbeschafften Leistung, bspw. bei einer notwendigen Versorgung mit Zahnersatz, nicht den vom Versicherten zu tragenden Eigenanteil zu übernehmen hat. Für die Annahme von Rechtsmissbräuchlichkeit genügt es, dass das Gesetz formale oder jedem deutliche Anspruchsvoraussetzungen wie etwa Altersgrenzen regelt, die bei Antragstellung nicht erfüllt sind oder später entfallen. Entsprechendes hat das BSG für die In-Vitro-Fertilisation einer Versicherten ab Vollendung des 40. Lebensjahres bejaht (BSG, Urteil vom 27. August 2019 – B 1 KR 8/19 R – juris) und auch für eine die Regelleistungen übersteigende Versorgung mit Zahnersatz angenommen, wenn die plangestützte Eingliederung nicht binnen sechs Monaten ab Eintritt einer fingierten Genehmigung durchgeführt worden ist (BSG, Urteil vom 27. August 2019 – B 1 KR 9/19 R – juris). Für die (fehlende) Gutgläubigkeit kommt es allerdings nicht auf formale Ablehnungsentscheidungen an, sondern auf die Qualität der fachlichen Argumente und ihre Nachvollziehbarkeit durch die Versicherten (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 25, juris). Die Gutgläubigkeit ist zudem ein tatsächlicher Umstand, der sich jederzeit hin zur Bösgläubigkeit verändern kann. Daher kommt ein Kostenerstattungsanspruch auch dann noch in Betracht, wenn sich der Versicherte die Leistung erst während eines anhängigen Rechtsstreits beschafft. Allerdings muss bei jedem Beschaffungsvorgang "Gutgläubigkeit" vorliegen; die beschaffungsbezogene Unkenntnis, dass materiell-rechtlich kein Anspruch auf die Leistung besteht, darf nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhen (BSG, a.a.O.; Rn. 26).
42 Die von der Klägerin begehrte Leistung (Liposuktion) liegt, gemessen daran, zwar nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 27. August 2019 a.a.O., Rn. 24). Jedoch liegt die Besonderheit des vorliegenden Falles darin, dass die Krankenkasse bereits einen ersten Antrag der Klägerin auf Gewährung dieser Behandlung (Antrag vom 2. Juli 2014) zeitgerecht abgelehnt (Bescheid vom 18. Juli 2014) und dabei ihre Entscheidung nach Einschaltung des MDK - zutreffend - damit begründet hatte, dass es sich hierbei um eine außervertragliche Behandlungsmethode handele, die nicht in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung falle. Zum Zeitpunkt ihrer neuerlichen Antragstellung am 2. November 2015 war der Klägerin damit bekannt, dass sich ihr wiederholter Antrag auf eine Leistung richtete, die von der Leistungspflicht der Beklagten nicht umfasst war. Aufgrund des Bescheids der Beklagten vom 30. September 2014 wusste die Klägerin zudem, dass aufgrund der im Widerspruchsverfahren zunächst nachgereichten Unterlagen (Schreiben des Dr. C. vom 21. August 2014) trotz nochmaliger Hinzuziehung des MDK keine abweichende Beurteilung gerechtfertigt war und auch die nachfolgend (nach vorübergehendem Ruhen des Vorverfahrens) vorgelegten weiteren medizinischen Unterlagen nach erneuter Hinzuziehung des MDK - so die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 14. April 2015 - keine Grundlage darstellten, zu einer für die Klägerin günstigen Entscheidung zu gelangen. Die von der Beklagten insoweit vertretene Auffassung war schließlich auch Gegenstand eines am 29. Juli 2015 mit der Klägerin und ihrem Ehemann im Kundencenter in Wi. geführten persönlichen Gesprächs, wie es die Beklagte gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 30. Juli 2015 (vgl. Bl. 154 VerwA) bestätigte. Die nochmalige, im Widerspruchsverfahren erfolgte „neue Antragstellung“ vom 2. November 2015, die mit einer Verschlimmerung der bereits ursprünglich dem Antrag zu Grunde liegenden Erkrankung (Lipödem) begründet wurde, stellt sich im Gesamtkontext der mehrfach erfolgten Äußerungen der Beklagten, wonach ein Anspruch auf die begehrte Leistung nicht bestehe, wertungsmäßig ebenso dar, wie Anträge von Versicherten, die offensichtlich auf eine außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegende Leistung gerichtet sind. Zum Zeitpunkt der Vornahme der Liposuktionen 2016 und 2018 war die Klägerin daher nicht (mehr) gutgläubig. Dieser Antrag stellte sich daher als rechtsmissbräuchlich dar, weshalb er keiner Genehmigungsfiktion zugänglich ist.
43 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
44 5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorlagen.Clini
Gründe
24 1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Klägerin begehrt die Zahlung von 19.300,00 EUR.
25 2. Mit der Berufung begehrt die anwaltlich vertretene Klägerin zuletzt allein im Wege der allgemeinen Leistungsklage die Kostenerstattung i.H. von 19.300 EUR für die in den Jahren 2016 und 2018 durchgeführten Liposuktionen aufgrund der von ihr angenommenen Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Sätze 6 und 7 SGB V. Die ursprünglich gegebene objektive Klagehäufung (§ 56 SGG), nämlich die allgemeine Leistungsklage auf Kostenerstattung und die (isolierte) Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung der Beklagten (vgl. BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 1/18 R – juris, Rn. 8; Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 18/18 R – juris, Rn. 8 ff.; Urteile vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 21/19 R – juris, Rn. 7, und B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 8), wurde in der Berufung nicht mehr aufrechterhalten. Das von der Klägerin im Klageverfahren zunächst mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage verfolgte Begehren, die Liposuktionen als Sachleistungen zu gewähren, stellte die Klägerin im Hinblick auf die im Februar und Oktober 2016 durchgeführten Behandlungen im Wege der zulässigen Klageänderung (vgl. § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG) insoweit auf Kostenerstattung um. Nachdem die Klägerin dieses Begehren zunächst auch noch im Berufungsverfahren weiterführte, stellte sie ihr Klagebegehren im Hinblick auf die im Jahr 2018 erfolgten weiteren Liposuktionen - erneut im Wege der zulässigen Klageänderung - schließlich auch insoweit auf Kostenerstattung um und beschränkte ihren Antrag (gestützt auf die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V und den Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V) dabei gleichzeitig auf ihr Erstattungsbegehren, ohne die Anfechtungsklage weiterzuführen (vgl. Schriftsatz vom 9. Juni 2020). Damit sind die Bescheide vom 18. Juli 2014, 30. September 2014 und 14 April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids (§§ 86, 95 SGG) vom 18. Januar 2016 bestandskräftig und in der Sache bindend geworden (vgl. § 77 SGG). Nachdem die Klägerin aber keine zukünftigen Naturalleistungsansprüche (Liposuktionen), sondern nur die Kostenerstattung für bereits während des Klage- und Berufungsverfahren durchgeführte Liposuktionen aufgrund der von ihr angenommenen Genehmigungsfiktion begehrt, steht die Bestandskraft der Ablehnungsentscheidung dem nunmehr geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch nicht entgegen.
26 Die allgemeine Leistungsklage ist gemäß § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Darauf, dass nach der neuesten Rechtsprechung des BSG § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V keinen eigenständigen Anspruch auf Versorgung mit einer Naturalleistung begründet (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 10 ff.), kommt es vorliegend nicht an. Denn die Klägerin stützt ihr Kostenerstattungsbegehren allein auf die Kostenerstattungspflicht nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V und begehrt keine zukünftigen Leistungen.
27 3. Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das SG hat die Klage in Bezug auf ihr Erstattungsbegehren, das alleiniger Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, zu Recht abgewiesen. Denn der Klägerin steht ein Anspruch auf Versorgung mit der beanspruchten Liposuktion kraft fingierter Genehmigung nicht zu.
28 Nach § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten (Satz 2). Der MDK nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung (Satz 3). Eine hiervon abweichende Frist ist nur für den Fall der Durchführung eines im Bundesmantelvertrag-Zahnärzte (BMV-Z) vorgesehenen Gutachterverfahrens bestimmt (Satz 4). Kann die Krankenkasse die Fristen nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (Satz 7). Für Leistungen zur medizinischen Reha gelten die §§ 14, 15 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zur Zuständigkeitsklärung und Erstattung selbstbeschaffter Leistungen (Satz 9).
29 Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Klägerin erfüllt zwar die Eingangsvoraussetzungen dieser Regelung (dazu aa). Die Beklagte lehnte jedoch den Leistungsantrag der Klägerin fristgerecht ab (dazu bb). Soweit die Klägerin während des Widerspruchsverfahrens ausdrücklich einen „neuen“ Antrag auf Gewährung der Liposuktionen stellte, löst dieser eine Genehmigungsfiktion nicht aus (dazu cc).
30 aa) Der zeitliche Anwendungsbereich der Regelung des § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V ist eröffnet, da die Klägerin ihren Antrag auf künftig zu erbringende Leistungen am 2. Juli 2014, mithin nach dem 26. Februar 2013 stellte (BSG, Urteil vom 26. September 2017 – B 1 KR 6/17 R – juris, Rn. 12). Die Regelung ist auch sachlich anwendbar. Denn die Klägerin verlangt weder unmittelbar eine Geldleistung noch Erstattung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, sondern Erstattung für selbstbeschaffte Krankenbehandlung. Sie ist als bei der Beklagten gesetzlich Krankenversicherte auch Leistungsberechtigte im Sinne dieser Vorschrift. Sie beantragte als Leistung hinreichend bestimmt Liposuktionen an den Ober- und Unterschenkeln beidseits und den Ober- und Unterarmen beidseits und untermauerte ihr Begehren mit dem ihrem Antrag beigefügten Attest des von ihr konsultierten Mediziners, Facharzt für Allgemeinmedizin/Phlebologie und Lymphologie Dr. K. vom 10. Juni 2014, der eine Therapie des Lipödems letztendlich nur durch eine Liposuktion für möglich erachtete. Der Antrag ist mithin ausreichend konkretisiert, um als Grundlage für eine fingierte Genehmigung dienen zu können. Die Klägerin durfte schließlich aufgrund der fachlichen Befürwortung ihres Antrags durch ihren Arzt Liposuktionen zur Behandlung ihres Lipödems für geeignet und erforderlich halten (vgl. BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 1/17 R – juris, Rn. 22; Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 22 ff.).
31 bb) Die Beklagte lehnte den Antrag jedoch innerhalb der mit dem 3. Juli 2014 (dazu (1)) beginnenden Fünf-Wochen-Frist (dazu (2)), fristgerecht ab (dazu (3)).
32 (1) Maßgeblich für den Fristbeginn war der Eingang des Antrags bei der Beklagten. Danach begann die Frist am 3. Juli 2014 zu laufen (vgl. § 26 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X] i.V.m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Denn der mit Schreiben vom 26. Juni 2014 gestellte Antrag der Klägerin ging der Beklagten am 2. Juli 2014 zu. Dies entnimmt der Senat dem Eingangsstempel der Beklagten auf dem Antragsschreiben der Klägerin.
33 (2) Die Frist endete am 6. August 2014 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB).
34 Nach dem aufgezeigten Regelungssystem galt die gesetzliche Fünf-Wochen-Frist (vgl. § 13 Abs. 3a Satz 1 Fall 2 SGB V). Denn die Beklagte informierte die Klägerin innerhalb der drei Wochen nach Antragseingang darüber, dass sie eine Stellungnahme des MDK einhole (§ 13 Abs. 3a Satz 2 SGB V). Ohne diese gebotene Information kann der Leistungsberechtigte nach Ablauf von drei Wochen annehmen, dass sein Antrag als genehmigt gilt (BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – juris, Rn. 29). Die Drei-Wochen-Frist endete am 23. Juli 2014. Die Beklagte informierte die Klägerin vorliegend mit Schreiben vom 3. Juli 2014 und nahm am Folgetag zudem telefonisch Kontakt mit der Klägerin auf, um weitere medizinische Unterlagen anzufordern, die die Klägerin mit E-Mail vom 6. Juli 2014 nachreichte.
35 (3) Die Beklagte lehnte den Antrag innerhalb der danach maßgeblichen Fünf-Wochen-Frist fristgerecht ab.
36 Maßgeblich für die Wahrung der Fristen des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V ist die Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides, also dessen Zugang (§ 37 Abs. 1 SGB X; BSG, Urteile vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – juris, Rn. 29 und 26. September 2017 – B 1 KR 8/17 R – juris, Rn. 28 m.w.N.). Die Verwaltungsakte der Beklagten enthält zwar hinsichtlich des Bescheides vom 18. Juli 2014 keinen Absendevermerk, so dass die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 SGB X nicht greift. Jedoch bestätigte die Klägerin mit ihrem Widerspruchsschreiben vom 2. August 2014 den Zugang des Bescheides am 19. Juli 2014, mithin innerhalb der am 6. August 2014 endenden Fünf-Wochen-Frist.
37 cc. Aufgrund des mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 2. November 2015 gestellten „neuen“ Antrags trat eine Genehmigungsfiktion nicht ein.
38 (1) Die Regelung des § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V findet auf den während des Widerspruchsverfahrens vom Bevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 2. November 2015 gestellten „neuen“ Antrag keine Anwendung. Mit diesem Schreiben stellte die Klägerin keinen neuen „Antrag auf Leistungen“ im Sinne von § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V. Sie nahm damit Bezug auf den bereits gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten für Liposuktionen, machte eine drastische Verschlechterung ihres Zustandes geltend und schloss daraus („womit“), dass „insgesamt eine neue Antragstellung erforderlich wird“. Die Verschlechterung begründete sie nachfolgend damit, dass anlässlich der Untersuchung in der S. Clinik M. am 22. Oktober 2015 ein Lipödem Grad 3 (bisher Grad 2) im Bereich der Beine und ein Lipödem Grad 2 an den Oberarmen und dem Abdomen festgestellt worden sei. Zum Zeitpunkt dieser „neuen Antragstellung“ hatte die Beklagte bereits über den am 2. Juli 2014 gestellten und gleichermaßen auf die Gewährung von Liposuktionen gerichteten Leistungsantrag der Klägerin entschieden und diesen Antrag mit Bescheid vom 18. Juli 2014 fristgerecht abgelehnt. Durch ihren Widerspruch gegen diesen Bescheid war das von der Klägerin mit ihrem Antrag vom 2. Juli 2014 zuvor eröffnete Verwaltungsverfahren (vgl. § 8 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X]) noch nicht abgeschlossen und das durch den Widerspruch eingeleitete Vorverfahren ruhte (erneut) auf den ausdrücklichen Wunsch der Klägerin. Damit stellte sich die mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 2. November 2015 vorgebrachte Verschlimmerung der Lipödeme der Sache nach auch nicht als Leistungsantrag dar, sondern vor dem Hintergrund der zur Begründung aufgeführten, zuvor am 22. Oktober 2015 erfolgten Vorstellung der Klägerin in der S. Clinik M. vielmehr als ergänzender Sachvortrag im Widerspruchsverfahren im Hinblick auf den am 2. Juli 2014 gestellten Leistungsantrag, zumal das Leistungsziel (Liposuktion) immer gleich blieb.
39 Eine andere Beurteilung rechtfertigt auch nicht der Umstand, dass die Klägerin nach den Ausführungen ihres Bevollmächtigten im Schriftsatz vom 2. November 2015 angesichts der Verschlimmerung die Stellung eines „neuen“ Antrags für erforderlich erachtete und ein neuer Antrag - wie im nachfolgenden Schreiben vom 10. November 2015 ausdrücklich bekräftigt - auch tatsächlich gewollt war. Schon das Vorgehen der Klägerin im Anschluss an den in Rede stehenden Antrag vom 2. November 2015 lässt erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass die Klägerin mit dem gestellten „neuen Antrag“ tatsächlich das Ziel verfolgte, im Hinblick auf die Gewährung der beanspruchten Liposuktionen ein weiteres Verwaltungsverfahren mit dem Ziel der Verbescheidung dieses Antrags einzuleiten. Denn das neue Vorbringen, wonach es zu einer Verschlimmerung gekommen sei, war von der Beklagten ohnehin in dem laufenden Vorverfahren bzw. vom Widerspruchsausschuss im Hinblick auf den das Widerspruchsverfahren abschließenden Widerspruchsbescheids zu berücksichtigen, weshalb die Vermutung naheliegt, dass eigentliches Ziel dieses „neuen“ Antrags war, im Hinblick auf die beanspruchte Liposuktion eine günstige Entscheidung kraft Genehmigungsfiktion zu erreichen. Entsprechend mahnte die Klägerin im Anschluss an das Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 10. November 2015, mit dem sie die neue Antragstellung nochmals bestätigt hatte, auch zu keinem Zeitpunkt die Erledigung dieses „neuen Antrags“ an. So erinnerte sie weder im Anschluss an das Schreiben der Beklagten vom 23. Dezember 2015, mit dem diese mitgeteilt hatte, dass der Widerspruchsausschuss voraussichtlich am 18. Januar 2016 über den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 18. Juli 2014 entscheiden werde, an dessen Erledigung noch nach Erlass des Widerspruchsbescheids am 18. Januar 2016, der ihrem Bevollmächtigten am 22. Januar 2016 zuging. Stattdessen findet der Antrag vom 2. November 2015 erstmals wieder Erwähnung im Klagebegründungsschriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 5. Februar 2016, mit dem die Klägerin nunmehr geltend machte, die Beklagte habe über ihren Antrag vom 2. November 2015 nicht innerhalb von drei bzw. fünf Wochen entschieden, weshalb die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V eingetreten sei. Vor diesem Hintergrund stellt sich letztlich der „neue“ Antrag während des laufenden Widerspruchsverfahren zur Generierung einer Genehmigungsfiktion als rechtsmissbräuchlich dar (vgl. allg. zur Rechtsmissbräuchlichkeit in diesem Zusammenhang Felix, SGb 2020, 517, 518 II 2a) m.w.N.).
40 (2) Ein Kostenerstattungsanspruch kraft fingierter Genehmigung ließe sich auch dann nicht begründen, wenn man in dem am 2. November 2015 gestellten Antrag einen „Antrag auf Leistungen“ im Sinne von § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V sehen wollte. Denn dieser Antrag stellt sich als missbräuchlich und einer Genehmigungsfiktion nicht fähig dar.
41 Nach der Rechtsprechung des BSG setzt der Eintritt der Genehmigungsfiktion voraus, dass der Antrag eine Leistung betrifft, die der Versicherte für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt. Die Gesetzesregelung ordnet diese Einschränkung zwar nicht ausdrücklich, aber - so das BSG - sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck an. Das durch die Genehmigungsfiktion begründete Recht zur Selbstbeschaffung auf Kosten der Kranklenkasse besteht bei materieller Rechtswidrigkeit der selbstbeschafften Leistung, sofern der Versicherte „im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung“ keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des materiellen Leistungsanspruchs hat ("Gutgläubigkeit"; BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 22 in Fortentwicklung von BSG vom 8. März 2016 - B 1 KR 25/15 R juris, Rn. 26; Urteil vom 27. August 2019 - B 1 KR 9/19 R - juris, Rn. 29). Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R – juris, Rn. 22 ff.; Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 18/18 R – juris, Rn. 22; BSG, Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 25/15 R – juris, Rn. 26). So sprechen die Gesetzesmaterialien beispielhaft den Fall an, dass die Krankenkasse auch im Falle der selbstbeschafften Leistung, bspw. bei einer notwendigen Versorgung mit Zahnersatz, nicht den vom Versicherten zu tragenden Eigenanteil zu übernehmen hat. Für die Annahme von Rechtsmissbräuchlichkeit genügt es, dass das Gesetz formale oder jedem deutliche Anspruchsvoraussetzungen wie etwa Altersgrenzen regelt, die bei Antragstellung nicht erfüllt sind oder später entfallen. Entsprechendes hat das BSG für die In-Vitro-Fertilisation einer Versicherten ab Vollendung des 40. Lebensjahres bejaht (BSG, Urteil vom 27. August 2019 – B 1 KR 8/19 R – juris) und auch für eine die Regelleistungen übersteigende Versorgung mit Zahnersatz angenommen, wenn die plangestützte Eingliederung nicht binnen sechs Monaten ab Eintritt einer fingierten Genehmigung durchgeführt worden ist (BSG, Urteil vom 27. August 2019 – B 1 KR 9/19 R – juris). Für die (fehlende) Gutgläubigkeit kommt es allerdings nicht auf formale Ablehnungsentscheidungen an, sondern auf die Qualität der fachlichen Argumente und ihre Nachvollziehbarkeit durch die Versicherten (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 25, juris). Die Gutgläubigkeit ist zudem ein tatsächlicher Umstand, der sich jederzeit hin zur Bösgläubigkeit verändern kann. Daher kommt ein Kostenerstattungsanspruch auch dann noch in Betracht, wenn sich der Versicherte die Leistung erst während eines anhängigen Rechtsstreits beschafft. Allerdings muss bei jedem Beschaffungsvorgang "Gutgläubigkeit" vorliegen; die beschaffungsbezogene Unkenntnis, dass materiell-rechtlich kein Anspruch auf die Leistung besteht, darf nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhen (BSG, a.a.O.; Rn. 26).
42 Die von der Klägerin begehrte Leistung (Liposuktion) liegt, gemessen daran, zwar nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 27. August 2019 a.a.O., Rn. 24). Jedoch liegt die Besonderheit des vorliegenden Falles darin, dass die Krankenkasse bereits einen ersten Antrag der Klägerin auf Gewährung dieser Behandlung (Antrag vom 2. Juli 2014) zeitgerecht abgelehnt (Bescheid vom 18. Juli 2014) und dabei ihre Entscheidung nach Einschaltung des MDK - zutreffend - damit begründet hatte, dass es sich hierbei um eine außervertragliche Behandlungsmethode handele, die nicht in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung falle. Zum Zeitpunkt ihrer neuerlichen Antragstellung am 2. November 2015 war der Klägerin damit bekannt, dass sich ihr wiederholter Antrag auf eine Leistung richtete, die von der Leistungspflicht der Beklagten nicht umfasst war. Aufgrund des Bescheids der Beklagten vom 30. September 2014 wusste die Klägerin zudem, dass aufgrund der im Widerspruchsverfahren zunächst nachgereichten Unterlagen (Schreiben des Dr. C. vom 21. August 2014) trotz nochmaliger Hinzuziehung des MDK keine abweichende Beurteilung gerechtfertigt war und auch die nachfolgend (nach vorübergehendem Ruhen des Vorverfahrens) vorgelegten weiteren medizinischen Unterlagen nach erneuter Hinzuziehung des MDK - so die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 14. April 2015 - keine Grundlage darstellten, zu einer für die Klägerin günstigen Entscheidung zu gelangen. Die von der Beklagten insoweit vertretene Auffassung war schließlich auch Gegenstand eines am 29. Juli 2015 mit der Klägerin und ihrem Ehemann im Kundencenter in Wi. geführten persönlichen Gesprächs, wie es die Beklagte gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 30. Juli 2015 (vgl. Bl. 154 VerwA) bestätigte. Die nochmalige, im Widerspruchsverfahren erfolgte „neue Antragstellung“ vom 2. November 2015, die mit einer Verschlimmerung der bereits ursprünglich dem Antrag zu Grunde liegenden Erkrankung (Lipödem) begründet wurde, stellt sich im Gesamtkontext der mehrfach erfolgten Äußerungen der Beklagten, wonach ein Anspruch auf die begehrte Leistung nicht bestehe, wertungsmäßig ebenso dar, wie Anträge von Versicherten, die offensichtlich auf eine außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegende Leistung gerichtet sind. Zum Zeitpunkt der Vornahme der Liposuktionen 2016 und 2018 war die Klägerin daher nicht (mehr) gutgläubig. Dieser Antrag stellte sich daher als rechtsmissbräuchlich dar, weshalb er keiner Genehmigungsfiktion zugänglich ist.
43 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
44 5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorlagen.Clini
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. Dezember 2018 aufgehoben und die Klage abgewiesen.Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist der sozialversicherungsrechtliche Status des Beigeladenen in seiner für die Klägerin ausgeübten Tätigkeit als Notarzt im Luftrettungsdienst streitig.
2 Die Klägerin ist die operative Einheit der D. Luftrettung, zu deren Aufgaben die weltweite Notfallversorgung und medizinische Hilfe, insbesondere durch Luftfahrzeuge gehört. Sie ist Trägerin der regionalen und z.T. überregionalen Luftrettung in Baden-Württemberg (vgl. § 2 Abs. 1 Gesetz über den Rettungsdienst [RDG] i.V.m. der Vereinbarung gemäß § 2 Abs. 1 RDG zwischen der Rechtsvorgängerin der Klägerin und dem Sozialministerium Baden-Württemberg vom 13. März 2003, Bl. 174 ff. VerwA). Funktionell unterstützt die Klägerin im Bereich der regionalen Luftrettung bereichsübergreifend insbesondere den bodengebundenen Rettungsdienst mit notarztbesetzten Rettungshubschraubern (RTH). Die Einsatzindikation für die Luftrettung ist gegeben, wenn ein RTH den Notfallort als erstes notarztbesetztes Rettungsmittel erreicht, ein Lufttransport medizinisch erforderlich ist oder der Lufttransport zur Einhaltung des empfohlenen Zeitintervalls bis zur Aufnahme des Patienten in die für ihn geeignete Klinik erforderlich ist. Die Klägerin hat dementsprechend die für eine bedarfsgerechte Versorgung notwendigen Strukturen in Form von Einrichtungen und deren personelle und sächliche Ausstattung vorzuhalten. Auf der Grundlage des gemäß § 3 RDG vom Innenministerium Baden-Württemberg erstellten „Rettungsdienstplans 2014 Baden-Württemberg“ (im Folgenden: Rettungsdienstplan) umfasst die sächliche Ausstattung hierbei RTH und Intensivtransporthubschrauber (ITH), die jeweils entsprechend den geltenden rechtlichen und technischen Normen und dem Stand der Notfallmedizin ausgestattet sein müssen. Aufgaben des RTH sind die schnelle Zuführung von Notarzt, Rettungsassistenten und medizinischer Ausrüstung an die Notfallstelle sowie der schnelle und schonende Transport des Notfallpatienten in das aufgrund seiner Erkrankung oder Verletzung geeignete nächstgelegene Krankenhaus (Primärtransport; vgl. zu vorstehendem Kapitel II Abschnitte 4.2.1 und 4.2.2 Rettungsdienstplan). Personell werden Hubschrauber im Einsatz mit einem Piloten, einem Notarzt und einem Rettungsassistenten oder einer gleich geeigneten Person besetzt (vgl. Kapitel VI Abschnitt 2.1 Rettungsdienstplan).
3 Zur Sicherstellung der notärztlichen Versorgung im Rettungsdienst schlossen die Kassenärztlichen Vereinigungen in Baden-Württemberg, die Landesärztekammer Baden-Württemberg, die Baden-Württembergische Krankenhausgesellschaft, die Landesverbände der Kostenträger und die Rettungsdienstorganisationen die „Rahmenvereinbarung über die Mitwirkung von an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten (Vertragsärzten) und Nichtvertragsärzten sowie von Krankenhausärzten im Rettungsdienst nach § 10 des Rettungsdienstgesetzes Baden-Württemberg (RDG) mit Anlage 1 und 3“, die am 1. Januar 1994 in Kraft trat (im Folgenden: Rahmenvereinbarung). Nach § 1 Abs. 1 der Vereinbarung wirken gemäß § 10 Abs. 1 RDG geeignete Ärzte im Rettungsdienst mit (Notärzte), wobei die Eignungsvoraussetzungen durch Satzung der Landesärztekammer festgelegt werden. Die Krankenhausträger sind im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit verpflichtet, Ärzte gegen Kostenausgleich zur Verfügung zu stellen. Die niedergelassenen Ärzte wirken im Rahmen des Sicherstellungsauftrags nach § 75 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) mit. Nach Abs. 2 der Regelung arbeiten Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenhausträger bei der Erfüllung dieser Aufgaben eng zusammen. Die Landesärztekammer wirkt auf die Beteiligung von Nichtvertragsärzten nach Maßgabe dieser Rahmenvereinbarung hin. Im Hinblick auf die Tätigkeit der Notärzte bestimmt § 3 Abs. 1, dass der Notarzt die ärztliche Versorgung des Notfallpatienten am Einsatzort und erforderlichenfalls während des Transports in eine für die weitere Versorgung geeignete Einrichtung sowie die Dokumentation des Einsatzes übernimmt und er während seines Einsatzes gegenüber dem Rettungsdienstpersonal fachlich weisungsbefugt ist.
4 Die Standorte der RTH (bundesweit 29 Stationen) wurden vom Land (Innenministerium) festgelegt, wobei sich eine Station am Kreiskrankenhaus L. (Station L.) befindet. Diese ist mit einem Hubschrauberhangar nebst Funktionsräumen und dem RTH Christoph 41 ausgestattet. Bei der Station L. handelt es sich um eine reine Tagesstation, d.h. die Einsatzzeiten beschränken sich auf die Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
5 Ebenso wie die Einsätze des bodengebundenen Rettungsdienstes werden auch die Einsätze der Luftrettung durch die Integrierten Leitstellen gesteuert. Diese in den einzelnen Rettungsdienstbereichen (regionale Gebietseinheiten) gebildeten Einrichtungen stehen in gemeinsamer Trägerschaft des (bodengebundenen) Rettungsdienstes und der Feuerwehr (Kap. V Abschnitt 3 Rettungsdienstplan). Die Integrierte Leitstelle ist Einsatzzentrale für alle Einsätze des Rettungsdienstes in ihrem Rettungsdienstbereich (Kap. V Abschnitt 3.1 Rettungsdienstplan). Die Primäreinsätze der RTH werden dabei jeweils von der Integrierten Leitstelle geführt, in deren Bereich sich der Notfall befindet (vgl. Kap. IV Abschnitt 2.2; Kap. VII Abschnitt 1 Rettungsdienstplan). Dabei ist die Integrierte Leitstelle in ihrem Zuständigkeitsbereich gegenüber allen im Rettungsdienst Mitwirkenden bis zum Eintreffen am Einsatz- bzw. Notfallort weisungsbefugt (Kap. V Abschnitt 3 Rettungsdienstplan). Aufgrund des Rückmeldebildes hat die Integrierte Leitstelle eine Vorauswahl des aufnehmenden Krankenhauses zu treffen; die endgültige Entscheidung trifft der RTH-Notarzt unter Berücksichtigung der Art und Schwere der Verletzung oder Erkrankung sowie der Entfernung zur aufnehmenden Klinik (Kap. III Abschnitt 4.2.2 Rettungsdienstplan).
6 Für die notärztliche Besetzung der RTH bedient sich die Klägerin aus einem Pool von Notärzten, die zuvor ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt haben, Notarztdienste zu übernehmen. Diese Notärzte teilen der Klägerin jeweils vorab die Tage mit, an denen sie bereit sind, Dienste zu übernehmen. Auf dieser Grundlage werden sodann die entsprechenden Dienstpläne erstellt. Die in dieser Form herangezogenen Notärzte stellen der Klägerin die erbrachten Dienste jeweils monatlich in Rechnung, und zwar für jede geleistete Stunde 30,00 EUR.
7 Der 1971 geborene C. R. (CR, im Folgenden: Beigeladener), Facharzt für Anästhesiologie, war bis November 2014 am Klinikum St. beschäftigt. Im Mai 2014 nahm er zur Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin eine Teilzeitbeschäftigung in einer Facharztpraxis auf, wobei er zunächst im Umfang von 75 % und ab September 2014 zu 50 % beschäftigt war. Ab Juli 2015 war er darüber hinaus in einer weiteren Praxis als Facharzt für Anästhesiologie in Teilzeit beschäftigt, und zwar gleichermaßen im Umfang von 50 %. Daneben war der Beigeladene auf Honorarbasis u.a. als Praxisvertreter sowie bis 31. Oktober 2016 für die Klägerin als Notarzt tätig.
8 Am 1. April 2016 schloss er mit der Klägerin den „Freier-Mitarbeiter-Vertrag“ als „Rahmenvereinbarung über die Ableistung von Notarztdiensten als Honorararzt auf der Luftrettungsstation RTH Christoph 41/L.“ mit folgendem Inhalt:
9 „Präambel“
10 Die Parteien befinden sich bereits seit dem 16. September 2012 in einem Auftragsverhältnis im Sinne eines Freien-Mitarbeiter-Vertrages, das bisher aufgrund mündlichen Rahmenvertrags bestand. Der freie Mitarbeiter betreibt bereits seit 2012 neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Notarzt auf dem RTH Christoph 41/L. mit Zustimmung seines Arbeitgebers eine Einmanngesellschaft, die freiberufliche honorarärztliche Tätigkeiten als Honorararzt im Notdienst auf dem Hubschrauber anbietet. Die Parteien sind sich darüber einig, dass die folgenden Regelungen vollumfänglich die bisher bestehende mündliche Rahmenvereinbarung widerspiegeln und dem entsprechen, wie das Auftragsverhältnis tatsächlich seit 16. September 2012 gelebt wurde. Aus Transparenz- und Klarstellungsgründen sind die Parteien übereingekommen, den bereits seit 16. September 2012 bestehenden Freien-Mitarbeiter-Vertrag nunmehr schriftlich zu fixieren:
11 § 1 Tätigkeit
12 (1) Der Notarzt bietet seine Leistung als selbstständiger Arzt an und übt seine Tätigkeit freiberuflich aus. Von der Möglichkeit des Abschlusses eines Anstellungsvertrages ist in Anwendung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit bewusst kein Gebrauch gemacht worden.
13 (2) Der Notarzt übernimmt zur Durchführung medizinischer Dienstleistungen als Hubschrauberarzt die medizinische Versorgung und Betreuung anvertrauter Patienten, das Mitführen von Betäubungsmitteln im Einsatz, die Begleitung von Patiententransporten, die selbstständige Sicherstellung der medizinischen Einsatzbereitschaft des RTH unter Einschluss der damit zusammenhängenden Dokumentationspflicht (vollständig lesbares Ausfüllen der Einsatzprotokolle und Dokumentationsbögen sowie der erforderlichen medizinischen Dokumente unter Einschluss der vollständigen und plausiblen Eingabe der Notarztprotokolle in das entsprechende EDV-Erfassungsprogramm HEMSDER).
14 (3) Der Notarzt ist darüber hinaus selbst verantwortlich für die Vereinbarkeit dieses Vertrages mit ggf. von ihm einzuhaltenden arbeitsvertraglichen Verpflichtungen im Verhältnis zu seinem möglichen Arbeitgeber.
15 (4) Der Notarzt ist darin frei, Aufträge mittels eines Einzelauftrags zu übernehmen oder abzulehnen. Für die [Klägerin] begründet dieser Vertrag keine Verpflichtung, Bereitschaftsdienste anzubieten.
16 (5) Der Notarzt stellt sicher, dass er vor Dienstantritt eine ausreichende Ruhezeit von mindestens 10 Stunden sowie sonstige gesetzliche Vorgaben einhält, um die Flugsicherheit nicht zu gefährden.
17 § 2 Qualifikation
...
18 § 3 Weisungsfreiheit
19 (1) Der Notarzt unterliegt bei der Durchführung der von ihm übernommenen Aufgaben gemäß § 1 keinen Weisungen durch die [Klägerin]. Er ist vielmehr hinsichtlich der Vertragsdurchführung frei. Er verpflichtet sich aber dazu, die Interessen der [Klägerin] sorgfältig zu wahren und seine übernommenen Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen. Er hat gegenüber Kunden und Mitarbeitern der [Klägerin] stets im Sinne der [Klägerin] aufzutreten und sich auch dementsprechend zu verhalten.
20 (2) Der Notarzt ist in seiner ärztlichen Therapiefreiheit nicht weisungsgebunden. Für die Delegation von Leistungen an nichtärztliches Personal trägt der Notarzt die Verantwortung.
21 (3) Die [Klägerin] wird eigene Mitarbeiter und Dritte, derer die [Klägerin] sich bedient, anweisen, sich jeglicher Weisungen gegenüber dem Notarzt im Zusammenhang mit der Durchführung seiner Tätigkeiten zu enthalten.
22 (4) Der Notarzt ist sich bewusst und akzeptiert, dass er während seiner Tätigkeit den luftfahrtrechtlichen Vorgaben des Operation Manual der [Klägerin] und des Luftfahrtbundesamtes als Aufsichtsbehörde unterliegt und für den Stationsablauf die Regelungen des Qualitätsmanagementhandbuchs der [Klägerin] und seine nachgeordneten Ausführungen (z.B. Handbuch Medizin, Stationsleitfaden, etc.) bindend sind.
23 (5) Nicht als Weisungen im vorstehenden Sinne gelten die vorgenannten Regelungen sowie sonstige allgemein von der [Klägerin] erlassene Regelungen, die in ihrem Betrieb für jeden Dritten gelten (z.B. Sicherheitsanordnungen, etc.) sowie sonstige Vorgaben, die für die ordnungsgemäße Durchführung der Tätigkeit dem Notarzt in allgemeiner Form gegeben werden.
24 § 4 Zeit der Auftragserfüllung
25 (1) Der freie Mitarbeiter unterliegt hinsichtlich seiner Arbeitszeit keinen Weisungen, Beschränkungen oder Auflagen durch die [Klägerin]. Er wird jedoch seine Arbeitszeit nach pflichtgemäßem Ermessen im Hinblick auf die Erledigung der von ihm übernommenen Aufgaben einteilen.
26 (2) Der freie Mitarbeiter wird der [Klägerin] eine länger andauernde Verhinderung an der Ausübung seiner Tätigkeit jeweils schnellstmöglich anzeigen.
27 § 5 Vergütung
28 (1) Die freie Mitarbeit wird auf Stundenhonorarbasis vergütet. Die Höhe des Stundenhonorars richtet sich nach den Bestimmungen der Anlage zu dieser Vereinbarung in ihrer jeweils gültigen Fassung.
29 (2) Der Notarzt wird der [Klägerin] jeweils bis zum zehnten Kalendertag des Folgemonats für die im Vormonat (Rechnungsmonat) erbrachten Leistungen eine den steuerrechtlichen Anforderungen entsprechende Rechnung zugehen lassen. Stellt sich heraus, dass die Leistungen des Notarztes nicht umsatzsteuerpflichtig sind, hat dieser der [Klägerin] etwaige, zu Unrecht ausgewiesene und gezahlte Umsatzsteuer unverzüglich zu erstatten. Die Vergütung ist binnen 30 Tagen nach Zugang der Rechnung zur Zahlung fällig. Die Auszahlung erfolgt unbar auf ein vom Notarzt zu benennendes Konto.
30 (3) Die Rechnung muss eine detaillierte Stundenübersicht („Timesheets“) über die erbrachten Leistungen enthalten. Die Timesheets sind von dem Ansprechpartner der [Klägerin] abzuzeichnen. Bis zur Vorlage der Timesheets ist die [Klägerin] zur Bezahlung der entsprechenden Rechnung nicht verpflichtet.
31 (4) Der Freie Mitarbeiter hat nur Anspruch auf Vergütung für tatsächlich erbrachte Leistungen. Ergeben sich bei der Überprüfung der Richtigkeit der Rechnung Zweifel, hat der Freie Mitarbeiter die Leistungserbringung nachzuweisen. Gelingt der Nachweis nicht, besteht kein Anspruch auf die nicht nachgewiesenen, aber aufgeführten Stunden.
32 (5) Die vereinbarte Vergütung gemäß der Anlage umfasst das Honorar des Freien Mitarbeiters und sämtliche anfallenden Kosten. Mit der Zahlung der Vergütung sind alle Ansprüche des Freien Mitarbeiters gegen den Auftraggeber aus diesem Vertrag erfüllt. Für die Versteuerung der Vergütung und die ggf. sozialversicherungspflichtigen Abgaben hat der Freie Mitarbeiter selbst zu sorgen.
33 (6) Die Regelung des § 616 BGB (Vergütungspflicht trotz vorübergehender Dienstverhinderung) schließen die Parteien hiermit ausdrücklich aus.
34 § 6 Urlaub und Krankheit
35 Da es sich um ein Freies-Mitarbeiter-Verhältnis handelt, hat der Freie Mitarbeiter weder Anspruch auf Urlaub noch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
36 § 7 Haftung
...
37 § 8 Steuern, Abgaben
38 Es obliegt dem Freien Mitarbeiter selbst, ausreichende Sozialversicherungen (Rentenversicherung, Krankenversicherung, usw.) abzuschließen. Zuschüsse hierzu werden von der [Klägerin] nicht gewährt. Es obliegt dem Freien Mitarbeiter, die auf sein Honorar anfallenden Steuern abzuführen.
39 § 9 Arbeitsmittel
40 (1) Zur Durchführung des Auftrages setzt der Notarzt seine eigenen Arbeitsmittel ein. Überlässt die [Klägerin] dem Notarzt unentgeltlich leihweise für die Auftragsdurchführung erforderliche oder nützliche Materialien, Behandlungswerkzeuge etc., hat der Freie Mitarbeiter ihm überlassene Gegenstände pfleglich zu behandeln und die [Klägerin] über Mängel und Beschädigungen unverzüglich zu informieren.
41 (2) Spätestens bei Beendigung des Vertrages hat der Freie Mitarbeiter ihm überlassene Gegenstände an die [Klägerin] zurückzugeben. Ein Zurückbehaltungsrecht wird ausdrücklich ausgeschlossen.“
42 Nachfolgend enthält der Vertrag Regelungen über Geheimhaltung (§ 10), Weitere Tätigkeiten/Interessenkonflikte (§ 11), die Vertragslaufzeit/Kündigung (§ 12), Zusicherungen des Feien Mitarbeiters (§ 13), Ausschlussfristen (§ 14) sowie die Schlussbestimmungen (§ 15).
43 Am 13. August 2015 beantragte der Beigeladene die Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status in seiner Tätigkeit als Notarzt für die Klägerin mit dem Ziel festzustellen, dass eine Beschäftigung nicht vorliege. Hierzu gab er auf entsprechende Fragen der Beklagten an, seine Tätigkeit übe er seit 2013 aus. Sie beruhe auf einer mündlichen Vereinbarung. Er sei ein bis zwei Wochenendtage im Monat sowie aushilfsweise je nach Bedarf tätig. Die Notarzttätigkeit beginne jeweils bei Sonnenaufgang (jedoch frühestens um 6:30 Uhr) und ende bei Sonnenuntergang. Der Einsatzauftrag werde jeweils von der Leitstelle erteilt. Nach der Landung übergebe er die Patienten im Krankenhaus. Mit deren Mitarbeitern gebe es keine Zusammenarbeit. Er habe keinen übergeordneten Vorgesetzten und im Unternehmen der Klägerin keine Funktion. Dienst- oder Arbeitszeiten habe er nicht einzuhalten; auch nehme er weder an Ruf- und Bereitschaftsdiensten noch an Teambesprechungen teil. Seine Tätigkeit werde nach geleisteten Stunden und nach Abrechnung mit der Klägerin mit einem Stundensatz von 30,00 EUR vergütet. Er verfüge über eine eigene Berufshaftpflichtversicherung, die die Risiken seiner ärztlichen Tätigkeit außerhalb seiner Beschäftigungsverhältnisse absichere. Er habe keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bzw. auf Urlaubsvergütung. Im Krankheitsfall informiere er den Kollegen, der die Einsätze der Notärzte koordiniere und kümmere sich um eine Vertretung. Der Kollege werde nur tätig, wenn es ihm nicht gelinge, eine Vertretung zu organisieren bzw. er aus gesundheitlichen Gründen hierzu nicht in der Lage sei. Er selbst sei nicht verpflichtet, Urlaubs- und Krankheitsvertretung zu machen. Die Klägerin stelle ihm einheitliche Arbeitskleidung in Form von Helm, Anorak, T-Shirt und Hose; die Sicherheitsstiefel gehörten ihm. Fachliche Weisungen erhalte er nicht, auch würden seine Arbeiten vom Auftraggeber nicht kontrolliert. An eigenen Betriebsmitteln setzte er Werkzeuge, wie Stethoskop etc., ein sowie seine Notarztschuhe. Für ihn seien die Einnahmen aus der Notarzttätigkeit von untergeordneter Bedeutung; er sei noch in weiteren ähnlichen Vertragsverhältnissen tätig. Er legte u.a. Honorarabrechnungen von März 2014 bis August 2015 vor, die überwiegend zwei Einsätze monatlich mit einer Einsatzstundenzahl zwischen 10 und ca. 15 Stunden ausweisen.
44 Mit Anhörungsschreiben vom 29. Januar 2016 informierte die Beklagte den Beigeladenen und die Klägerin, dass sie beabsichtige, einen Bescheid über das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung zu erlassen. Sie legte die Kriterien für die Abgrenzung einer Beschäftigung von einer selbstständigen Tätigkeit dar und führte die Merkmale auf, die vorliegend für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprächen (Tätigkeit am Betriebsort des Auftraggebers oder an von ihm vorgegebenen Orten; Bindung an die Weisungen des Auftraggebers; kein unternehmerisches Risiko; Vorgabe der Dienstzeiten durch den Auftraggeber, es existiere ein Dienstplan; Ausübung der Tätigkeit gemeinsam mit festangestellten Mitarbeitern; Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers während der Tätigkeit, Lenkung der Einsätze durch die Rettungsleitstelle; Vergütung mit einem festen Stundenhonorar). Demgegenüber lägen Merkmale für eine selbstständige Tätigkeit nicht vor.
45 Gegen diese Beurteilung erhob der Beigeladene mit Schreiben vom 18. Februar 2016 Einwände und führte aus, seine Tätigkeit als Notarzt finde an den Notfalleinsatzorten statt; diese seien nicht von der Klägerin vorgegeben. Sie ergäben sich naturgemäß durch die Örtlichkeit des Notfalls. In der Ausübung seiner Tätigkeit sei er frei. Dabei entscheide er in der konkreten Notfallsituation über die medizinische Behandlung und die weiterführende Therapiestrategie. Er biete selbstständig einzelne Termine an oder werde gefragt, ob er an einem bestimmten Termin als Notarzt arbeiten könne. Eine Verpflichtung zur Übernahme eines Dienstes bestehe nicht. An planerische Abläufe wie in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis sei er somit nicht gebunden. Er sei auch nicht in einen Urlaubsplan eingebunden. Bei eigenem Urlaub nehme er schlicht keine Aufträge an. In Abteilungsbesprechungen sei er nicht eingebunden. Vermittler der Notfalleinsätze sei die Rettungsleitstelle. Diese sei von seinem Auftraggeber unabhängig. Im Rahmen seiner Tätigkeit habe er mit seinem Auftraggeber nichts zu tun.
46 Mit Schreiben vom 23. Februar 2016 erhob auch die Klägerin Einwände gegen die beabsichtigte Entscheidung und äußerte sich dahingehend, dass mit dem Beigeladenen kein schriftlicher, sondern ein mündlicher Rahmenvertrag geschlossen worden sei, wonach dieser ihr ca. ein- bis zweimal monatlich an Wochenenden als Notarzt seine Dienste, und zwar als selbstständiger Arzt anbiete. Der Beigeladene übernehme die Durchführung medizinischer Dienstleistungen und als temporärer Hubschrauberarzt die medizinische Versorgung und Betreuung anvertrauter Patienten, das Mitführen von Betäubungsmitteln im Einsatz, die Begleitung von Patiententransporten und die selbstständige Sicherstellung der medizinischen Einsatzbereitschaft des RTH unter Einschluss der damit zusammenhängenden Dokumentationspflicht. Der Notarzt agiere völlig autark und treffe weisungsfrei inhaltlich eigene Entscheidungen, die er auch haftungsrechtlich zu verantworten habe. Es habe ausdrücklich kein Arbeitsverhältnis begründet werden sollen. Richtig sei zwar, dass dem Notarzt bei seinem Einsatz gewisse Bekleidungsstücke (Helm, Anorak, T-Shirt und Hose) gestellt würden, nicht jedoch Sicherheitsstiefel, typische Arztutensilien und Notarztschuhe. Der Notarzt könne als Stundensatz 30,00 EUR in Ansatz bringen und habe eigene Rechnungen zu stellen. Vereinbart sei zudem, dass der Notarzt für seine Abgaben und Steuern alleine aufkomme. Sofern er einen Einsatz absagen müsse, obliege es ihm, für Ersatz zu sorgen. Sie - die Klägerin - betreibe zwar die notärztliche Versorgung im Helikoptereinsatz, jedoch beschäftige sie selbst keine eigenen Notärzte. Der Beigeladene sei auch nicht in ihren Betrieb eingegliedert, da er im Hinblick auf seine Einsätze Einfluss auf die Einteilung des Dienstplanes nehmen könne. Er könne selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang er seine Dienste an den entsprechenden Wochenendtagen tatsächlich zur Verfügung stelle. Insgesamt sei daher von einer freiberuflichen Tätigkeit auszugehen.
47 Mit an die Klägerin und den Beigeladenen gerichteten Bescheiden vom 9. März 2016 führte die Beklagte nachfolgend aus, die Tätigkeit des Beigeladenen als Notarzt im Rahmen von Luftrettungseinsätzen bei der Klägerin werde ab 15. Februar 2014 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt. In dem Beschäftigungsverhältnis bestehe Versicherungspflicht in der Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung. Die Versicherungspflicht beginne am 15. Februar 2014. Die Beklagte wiederholte die im Anhörungsschreiben aufgeführten Merkmale, die für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprächen und führte weiter aus, Merkmale für eine selbstständige Tätigkeit lägen nicht vor. Die im Rahmen der Anhörung geltend gemachten Gesichtspunkte rechtfertigten keine abweichende Beurteilung. Dass die Tätigkeit des Beigeladenen in hohem Maße durch eigene Verantwortlichkeit und Entscheidungsfreiheit gekennzeichnet sei, schließe das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung nicht aus. Ein die selbstständige Tätigkeit kennzeichnendes Unternehmensrisiko bestehe angesichts der Zahlung eines festen Stundenhonorars nicht. Kein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit sei im Übrigen, dass die Annahme bestimmter Aufträge abgelehnt werden könne. Demgegenüber erfolge bei Annahme des Auftrags eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation der Klägerin. Denn der Beigeladene übernehme Aufgaben, zu deren Erfüllung die Klägerin organisatorische Maßnahmen treffe. Die Klägerin stelle den Standort für RTH samt notärztlichem Personal und sie sei für die Sicherstellung des betriebenen Rettungsdienstes in organisatorischer Hinsicht verantwortlich. Die Arbeitsleistung des Beigeladenen sei dadurch zumindest funktionsgerecht dienend in die Betriebsabläufe der Klägerin integriert. Ort und Zeit der Tätigkeit werde dem Beigeladenen bei Annahme eines Auftrags vorgegeben.
48 Hiergegen erhoben die Klägerin und der Beigeladene jeweils Widerspruch, wobei der Beigeladene diesen nicht begründete. Die Klägerin verwies darauf, dass die mündlich bestehende Vereinbarung zwischenzeitlich schriftlich niedergelegt worden sei und legte den „Freier-Mitarbeiter-Vertrag“ vom 1. April 2016 vor. Zur Begründung ihres Widerspruchs führte sie weiter aus, die Beklagte sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Beigeladene kein eigenes unternehmerisches Risiko trage. Dass er wegen eines festen Stundensatzes nicht das Risiko trage, Arbeitsleistungen zu erbringen, ohne eine Vergütung zu erhalten, stelle kein Argument für oder gegen die Selbstständigkeit eines Notarztes dar. Die Beklagte habe außer Acht gelassen, dass der Dienst eines Notarztes im RTH von ständiger Bereitschaft und der Erbringung von Notfalleinsätzen bei Bedarf geprägt seien. Er trage unstreitig das Risiko eines Auftragsausfalls, da er keinen Anspruch habe, regelmäßig beauftragt zu werden. Soweit die Beklagte im Übrigen meine, der Beigeladene sei in eine fremde Arbeitsorganisation eingegliedert, verkenne sie, dass dieser nicht einseitig in den Dienstplan aufgenommen werde. Er habe vielmehr entscheidenden Einfluss auf die Dienstplanerstellung, da allein er entscheide, zu welchen Zeiten er welche Dienste übernehmen wolle. Das Eintragen der Dienste in den Dienstplan stelle daher lediglich eine Verschriftlichung der vereinbarten Dienste dar. Die Beklagte verkenne zudem, dass der Beigeladene im Erkrankungsfall selbst für einen Ersatz zu sorgen habe. Unberücksichtigt lasse sie des Weiteren, dass die Tätigkeit des Beigeladenen mit Ablieferung des Patienten im Krankenhaus ende, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt keine Eingliederung in ihre Arbeitsorganisation in Betracht komme. Nicht berücksichtigt habe die Beklagte, dass der Beigeladene die wesentlichen Materialien für die Erbringung seiner Dienste selbst stelle, und zwar jegliche Arztutensilien sowie seine Notarztschuhe und -stiefel. Dies spreche für eine selbständige Tätigkeit. Der Beigeladene werde im Übrigen weisungsfrei tätig. Allein der Umstand, dass zwischen dem Notruf und der ärztlichen Behandlung zur Sicherstellung einer schnellen Versorgung organisatorisch bei verschiedenen Stellen „Rädchen“ ineinandergreifen müssten, könne nicht zur Annahme einer Weisungsgebundenheit führen. Nicht berücksichtigt habe die Beklagte die für eine selbstständige Tätigkeit sprechenden Merkmale. Hierzu gehöre die Vergütungsstruktur, wonach ohne tatsächlich erbrachte Dienste keine Vergütung erfolge und die Vergütung nur nach Rechnungsstellung geleistet werde sowie das Fehlen einer persönlichen Abhängigkeit des Beigeladenen. Dieser sei hauptberuflich in einer Gemeinschaftspraxis tätig, so dass die unregelmäßig ausgeübten Dienste für ihn nur eine unwesentliche finanzielle Bedeutung hätten. Entsprechendes gelte im Hinblick auf den zeitlichen Umfang der Tätigkeit.
49 Mit Widerspruchsbescheiden vom 12. Juli 2016 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten die Widersprüche der Klägerin und des Beigeladenen gegen die Bescheide vom 9. März 2016 zurück.
50 Am 12. August 2016 erhob die Klägerin beim Sozialgericht Stuttgart (SG) mit dem Begehren Klage, den Bescheid vom 9. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2016 aufzuheben und festzustellen, dass der Beigeladene seine Tätigkeit als Notarzt im Rahmen von Luftrettungseinsätzen in der Zeit vom 15. Februar 2014 bis 31. Oktober 2016 in einer selbstständigen Tätigkeit ausübte und diese nicht der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag. Sie wiederholte und vertiefte ihr wesentliches Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und verwies darauf, dass für eine selbstständige Tätigkeit insbesondere auch spreche, dass die Vertragsparteien eine selbstständige Tätigkeit und gerade kein Beschäftigungsverhältnis hätten vereinbaren wollen. Schließlich liege auch im Hinblick auf § 23c Abs. 2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) keine beitragspflichtige Beschäftigung vor. Im Übrigen sei der Vertrag mit dem Beigeladenen zum 31. Oktober 2016 beendet worden. Seither arbeite er nicht mehr für sie.
51 Der Beigeladene erhob gleichermaßen gegen den Bescheid vom 9. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2016 beim SG Klage (S 17 R 4271/16). Insoweit ordnete das SG mit Beschluss vom 17. November 2016 das Ruhen des Verfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in dem vorliegenden Verfahren an.
52 Die Beklagte trat der Klage unter Hinweis auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid entgegen.
53 Nach Beiladung des CR mit Beschluss vom 6. April 2018 hob das SG mit Urteil vom 19. Dezember 2018 den Bescheid vom 9. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2016 auf und stellte fest, dass der Beigeladene seine Tätigkeit als Notarzt im Rahmen von Luftrettungseinsätzen bei der Klägerin in der Zeit vom 15. Februar 2014 bis 31. Oktober 2016 selbstständig ausübte und diese Tätigkeit nicht der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag. Nach Abwägung aller Umstände sei der Beigeladene in der streitigen Zeit als Notarzt im Luftrettungseinsatz selbstständig tätig gewesen. Die Beteiligten hätten ein selbständiges Dienstverhältnis vereinbart und ein solches ausweislich des Vertrags über freie Mitarbeit auch tatsächlich praktiziert. Der Qualifizierung des Vertragsverhältnisses als freier Dienstvertrag stehe auch zwingendes Recht nicht entgegen. Umstände, die bei einer Gesamtschau zwingend zu einer Beurteilung als abhängige Beschäftigung führen müssten, seien nicht festzustellen. So habe zwischen den einzelnen Aufträgen, die der Beigeladene habe ablehnen oder annehmen können, nach den vertraglichen Regelungen keine Rufbereitschaft bestanden. Auch für das Vorliegen eines Abrufarbeitsverhältnisses seien keine Anhaltspunkte ersichtlich. Für ein Arbeitsverhältnis typische Ansprüche auf bezahlten Erholungsurlaub oder Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hätten dem Beigeladenen nicht zugestanden und er habe nur für seine konkrete Tätigkeit ein Honorar erhalten, das nach Einreichung einer Rechnung fällig geworden sei. Auch Reisekosten und Aufwendungen hätten dem Beigeladenen nicht zugestanden. Der Beigeladene habe darüber hinaus keinen Weisungen unterlegen, weder zu Arbeitszeit noch zum Arbeitsort; fachlich bestehe bei ärztlichen Tätigkeiten schon der Natur der Sache nach weitgehende Weisungsfreiheit. Auch eine einseitige Aufgabenzuweisung durch die Klägerin sei nicht möglich gewesen. Der Beigeladene habe nach Annahme des Auftrags die Informationen zum Unfallort und weiteren Umständen von der Rettungswache erhalten, die ihm gestattet habe, über die weiter gebotenen Maßnahmen zu entscheiden. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Rettungsleitstelle nicht zur Betriebsorganisation der Klägerin gehört habe. In diese sei der Beigeladene nicht eingegliedert gewesen. Er sei ausschließlich als Notarzt im Hubschraubereinsatz „außerhalb“ der Klägerin tätig geworden. Eine Zusammenarbeit mit den festangestellten Mitarbeitern der Klägerin habe auch im Bereich des Hangars nicht stattgefunden. Der Beigeladene habe schließlich auch ein Unternehmerrisiko getragen. So habe er eine Berufshaftpflichtversicherung abgeschlossen und eigene Einsatzmittel verwendet. Auch die Pauschalvergütung spreche für ein Unternehmerrisiko, da dadurch allein die vom Beigeladenen der Klägerin zur Verfügung gestellte Zeit abgegolten worden sei, hingegen nicht die tatsächlich erfolgten Einsätze.
54 Gegen das ihr am 15. Februar 2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 1. März 2019 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt und geltend gemacht, im Rahmen einer Gesamtabwägung überwögen - entgegen der Ansicht des SG - die für eine Beschäftigung sprechenden Merkmale. Der Beigeladene sei weisungsgebunden in die Arbeitsorganisation der Klägerin integriert gewesen. Die Klägerin sei entsprechend der mit dem Sozialministerium geschlossenen Vereinbarung vom 13. März 2003 für die Durchführung der Luftrettung nach den gesetzlichen Vorgaben zuständig, habe dementsprechend Bereitschaftsräume, Rettungshubschrauber, Rettungsmittel, Rettungspersonal und Notärzte einsatzbereit vorzuhalten und zur Sicherstellung der Einsatzbereitschaft auch Dienstpläne zu erstellen. Der Beigeladene sei für die Dauer des vereinbarten Notarzteinsatzes im Sinne einer dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess in den Betrieb der Klägerin integriert gewesen. Nach Zusage der Wahrnehmung des Notarztdienstes habe er für die Dauer des jeweils vereinbarten Einsatzes keine relevante Möglichkeit gehabt, noch Einfluss auf Zeit oder Ort seiner Tätigkeit zu nehmen. Gerade im Rettungsdienst sei es unerlässlich, dass die Diensthabenden ihren Dienst bis zur letzten Minute gewissenhaft verrichteten. Für eine abhängige Beschäftigung spreche auch das Fehlen eines nennenswerten unternehmerischen Risikos. So habe der Beigeladene für die Durchführung der zugesagten Dienste eine feste Pauschalvergütung erhalten. Das Entgelt sei daher wie bei abhängig Beschäftigten allein von seinem zeitlichen Einsatz und nicht etwa von der Güte bzw. dem Erfolg des verrichteten Dienstes abhängig gewesen. Auch die maßgeblichen Betriebsmittel seien von der Klägerin gestellt worden.
55 Die Beklagte beantragt,
56 das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. Dezember 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
57 Die Klägerin beantragt,
58 die Berufung zurückzuweisen.
59 Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig. Soweit die Beklagte annehme, dass der Beigeladene für die Dauer des jeweils vereinbarten Notarzteinsatzes in den Betrieb der Klägerin eingegliedert gewesen sei, überzeuge dies nicht. Denn der Beigeladene habe seine Einsatzzeiten selbst festgelegt. Feste Arbeitszeiten oder Einsätze ohne vorherige Absprache seien ihm gegen seinen Willen nicht zugewiesen worden. Ein Dienstplan sei lediglich um diese Vorgaben herum aufgestellt worden. Ein Weisungsrecht hinsichtlich der Arbeitszeit habe daher nicht bestanden. Dem insoweit fehlenden Weisungsrecht sei erhebliche Bedeutung beizumessen, da ärztliche Tätigkeiten fachlich schon der Natur der Sache nach weitgehend weisungsfrei erfolgten. Im Hinblick auf den Arbeitsort gelte entsprechendes; der Aufenthalt des Beigeladenen in den Betriebsräumen der Klägerin im Hangarbereich habe sich schon aus der Natur der Sache ergeben. Dort habe der Beigeladene auch mit keinem Mitarbeiter der Klägerin zusammengearbeitet. Eine Zusammenarbeit habe nur mit Rettungsassistenten bei Noteinsätzen stattgefunden. Dabei habe - wenn überhaupt - jedoch nur der Notarzt fachliche Weisungen erteilt, nicht jedoch in organisatorischen und personellen Belangen. Schließlich überzeugten auch die Ausführungen der Beklagten zum fehlenden Unternehmensrisiko nicht. So habe der Beigeladene für die jährlichen Fortbildungen Kosten zu tragen gehabt und er habe nur eine Vergütung für tatsächlich geleistete Stunden erhalten, so dass sein Gesamtverdienst vom zeitlichen Umfang seines Einsatzes abhängig gewesen sei. Dass die wesentlichen Betriebsmittel, wie Hubschrauber, von der Klägerin gestellt worden seien, ergebe sich aus der Natur der Sache und könne nicht als Abgrenzungskriterium herangezogen werden.
60 Der Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
61 Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
62 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten des SG und des Senats sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
63 1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG; denn die Klage betrifft weder eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung noch einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt.64 2. Gegenstand des Rechtsstreits sind die Bescheide der Beklagten vom 9. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2016, mit dem die Beklagte zum einen gegenüber der Klägerin und zum anderen gegenüber dem Beigeladenen entschied, dass der Beigeladene seine Tätigkeit als Notarzt seit 15. Februar 2014 im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses ausübt und dementsprechend Versicherungspflicht in der Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung besteht. Als Verwaltungsakt mit Doppelwirkung belastet die Klägerin als Dritte gleichermaßen auch der an den Beigeladenen gerichtete Bescheid vom 9. März 2016. Der Senat legt das Begehren der Klägerin daher dahingehend aus (§ 123 SGG), dass sie die Bescheide der Beklagten vom 9. März 2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 12. Juli 2016 einerseits originär und andererseits als Drittbetroffene angefochten hat. Die Klage war als Anfechtungsklage zulässig.65 Soweit die Klägerin im Klageverfahren mit der Feststellungsklage (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) neben der Feststellung, der Beigeladene unterliege in seiner Tätigkeit als Notarzt im Rahmen von Luftrettungseinsätzen keiner Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung auch die Feststellung begehrte, der Beigeladene habe die Tätigkeit als Notarzt in einer selbständigen Tätigkeit ausgeübt, handelt es sich um eine unzulässige Elementenfeststellung (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2019 – B 12 R 8/18 R – juris), weshalb die Klage insoweit unzulässig war.66 3. Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hätte den Bescheid der Beklagten vom 9. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2016 (§ 95 SGG) nicht aufheben und auch der teilweise unzulässigen Feststellungsklage nicht stattgeben dürfen. Die genannten Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte ging zutreffend davon aus, dass der Beigeladene seine Tätigkeit für die Klägerin als Notarzt im Rahmen der Luftrettung in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis ausübte und in dieser Beschäftigung Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestand.67 a) Nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV können die Beteiligten schriftlich eine Entscheidung der nach § 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV zuständigen Beklagten beantragen, ob eine Beschäftigung vorliegt, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger hat im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Die Beklagte entscheidet aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände, ob eine Beschäftigung vorliegt (§ 7a Abs. 2 SGB IV). Das Verwaltungsverfahren ist in Absätzen 3 bis 5 der Vorschrift geregelt. § 7a Abs. 6 SGB IV regelt in Abweichung von den einschlägigen Vorschriften der einzelnen Versicherungszweige und des SGB IV den Eintritt der Versicherungspflicht (Satz 1) und die Fälligkeit des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (Satz 2). Mit dem rückwirkend zum 1. Januar 1999 durch das Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit vom 20. Dezember 1999 (BGBl. 2000 I, S. 2) eingeführten Anfrageverfahren soll eine schnelle und unkomplizierte Möglichkeit der Klärung der Statusfrage erreicht werden; zugleich sollen divergierende Entscheidungen verhindert werden (Bundestags-Drucksache 14/1855, S. 6).68 Die Beklagte war für die von der Beigeladenen beantragte Feststellung zuständig, weil für die streitige Zeit zum Zeitpunkt der Antragstellung am 13. August 2015 kein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet war. Entsprechende Anhaltspunkte liegen nicht vor. Etwas Gegenteiliges wird von den Beteiligten auch nicht behauptet.69 b) Versicherungspflichtig sind in der Rentenversicherung nach § 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) und in der Arbeitslosenversicherung nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) gegen Arbeitsentgelt beschäftigte Personen. Beschäftigung ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.70 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem nach Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur "funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft sowie die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 15; BSG, Urteil vom 30. April 2013 – B 12 KR 19/11 R – juris, Rn. 13; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 12 KR 17/11 R – juris, Rn. 23 –, BSG, Urteil vom 30. März 2015 – B 12 KR 17/13 R – juris, Rn. 15 – jeweils m.w.N.; zur Verfassungsmäßigkeit der anhand dieser Kriterien häufig schwierigen Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit: Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 1996 – 1 BvR 21/96 – juris, Rn. 6 ff.). Maßgebend ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 24. Januar 2007 – B 12 KR 31/06 R – juris, Rn. 15; BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 15 f.; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 12 KR 17/11 R – juris, Rn. 23 ff. – jeweils m.w.N.).71 Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine abhängige Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine – formlose – Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1994 – 11 RAr 49/94 – juris, Rn. 20). In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von den Vereinbarungen abweichen (BSG, Urteil vom 1. Dezember 1977 – 12/3/12 RK 39/74 – juris, Rn. 16; BSG, Urteil vom 4. Juni 1998 – B 12 KR 5/97 R – juris, Rn. 16; BSG, Urteil vom 10. August 2000 – B 12 KR 21/98 R – juris, Rn. 17 – jeweils m.w.N.). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist (vgl. hierzu insgesamt BSG, Urteil vom 24. Januar 2007 – B 12 KR 31/06 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 16).72 Für die Beurteilung der Tätigkeit von sog. Honorarärzten gelten keine abweichenden Maßstäbe. Insoweit führte das BSG in seinen Entscheidungen vom 4. Juni 2019 (u.a. B 12 R 12/18 R – juris, Rn. 19 f; B 12 KR 14/18 R – juris, Rn. 24 f; B 12 R 22/18 R – juris, Rn. 17 f.) aus, dass die Bezeichnung als Honorararzt kein besonderes ärztliches Tätigkeitsbild im sozialversicherungsrechtlichen Sinne kennzeichnet und auch die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder erfolgt. Es ist daher möglich, dass ein und derselbe Beruf - je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen in ihrer gelebten Praxis - entweder in Form der Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird. Maßgeblich sind stets die konkreten Umstände des individuellen Sachverhalts. Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung ist auch nicht dadurch vorgeprägt, dass sog. Honorararztverträge in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung bisher überwiegend als freie Dienstverhältnisse qualifiziert werden. Denn es besteht kein vollständiger Gleichklang des arbeitsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs mit dem Beschäftigungsbegriff nach § 7 SGB IV.73 c) Ausgehend von diesen Grundsätzen war der Beigeladene im Rahmen seiner Einsätze für die Klägerin in der Zeit vom 15. Februar 2015 bis zum 31. Oktober 2016 abhängig beschäftigt.74 aa) Ausgangspunkt für die rechtliche Bewertung sind die im Folgenden dargestellten Umstände, die der Senat aufgrund des Gesamtinhalts des Verfahrens, insbesondere den Maßgaben des RDG und des Rettungsdienstplans, der Vereinbarung mit dem Sozialministerium vom 13. März 2003 und dem zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen abgeschlossenen „Freier-Mitarbeiter-Vertrag“ vom 1. April 2016 feststellt. Der Senat geht dabei davon aus, dass der Tätigkeit des Beigeladenen für die Klägerin schon vor dem Wirksamwerden dieses Vertrags am 1. April 2016 entsprechende - mündlich vereinbarte - Regelungen zu Grunde lagen, wie dies auch in der Präambel des Vertrages niedergelegt ist.75 Rechtliche Grundlage, auf der der Beigeladene tätig wurde, sind der auf der Grundlage des RDG erstellte Rettungsdienstplan und die Vereinbarung vom 13. März 2003 sowie die zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen getroffene mündliche Rahmenvereinbarung, die nachfolgend in dem „Freier-Mitarbeiter-Vertrag“ vom 1. April 2016 ihren schriftlichen Niederschlag fand. Danach betreibt die Klägerin im Rahmen der regionalen Luftrettung in Baden-Württemberg verschiedene Standorte, an denen RTH mit entsprechender Ausstattung stationiert sind. In personeller Hinsicht werden für die Klägerin dabei einerseits Piloten und Notfallsanitäter, die abhängig Beschäftigte der Klägerin sind, sowie andererseits Notärzte tätig, die ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt haben, für die Klägerin an der Luftrettung teilzunehmen. Entsprechend hatten die Beteiligten eine Rahmenvereinbarung für das Tätigwerden des Beigeladenen als Notarzt an der Station L. getroffen. Die zur Sicherstellung der notärztlichen Besetzung der RTH erforderlichen Dienstpläne werden anhand der von den teilnehmenden Ärzten zuvor nach Lage und Anzahl der Notarztdienste geäußerten Wünsche zusammengestellt. Im Verhinderungsfall ist es Aufgabe des verhinderten Notarztes, selbst für Ersatz zu sorgen. Während seines Dienstes hat sich der diensthabende Notarzt am jeweiligen Luftrettungsstandort einsatzbereit aufzuhalten. Die Steuerung der konkreten Einsätze erfolgt durch die Integrierte Leitstelle, in deren Rettungsdienstbereich sich der Notfall befindet. Nach Anforderung eines RTH begibt sich das Besatzungsteam bestehend aus dem Piloten, dem Notarzt und dem Notfallsanitäter zum Einsatzort. Dabei ist die Integrierte Leitstelle gegenüber allen Mitwirkenden bis zum Eintreffen am Einsatz- bzw. Notfallort weisungsbefugt. Im Hinblick auf die Versorgung des Notfallpatienten ist der Notarzt gegenüber dem Rettungssanitäter sowie dem ggf. vor Ort anwesenden weiteren Rettungsdienstpersonal weisungsbefugt. Dabei bestimmt der Notarzt Art und Umfang der Primärversorgung vor Ort, die entsprechende Weiterversorgung auf dem ggf. erforderlichen Weitertransport sowie das entsprechende Zielkrankenhaus. Die Vergütung des eingesetzten Notarztes erfolgt nach dessen Rechnungsstellung an die Klägerin, wobei im streitigen Zeitraum jede Stunde mit einem Festbetrag in Höhe von 30,00 EUR vergütet wurde.76 bb) Vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen ist der Senat unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände des Einzelfalles zu der Überzeugung gelangt, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Dienste als Notarzt im Zeitraum vom 15. Februar 2014 bis 31. Oktober 2016 in einem Beschäftigungsverhältnis zur Klägerin stand.77 Für die Beurteilung ist auf die jeweiligen Einzeleinsätze des Beigeladenen abzustellen. Nach der vertraglichen Vereinbarung zwischen den Beteiligten und dem Vorbringen der Klägerin wird unter Berücksichtigung der von den am notärztlichen Dienst teilnehmenden Ärzten geäußerten Wünschen ein Dienstplan erstellt, wodurch die Verpflichtung des Beigeladenen gegenüber der Klägerin begründet wird, den angebotenen und zugesagten Dienst zu leisten. Im Verhinderungsfall ist es Aufgabe des verhinderten Notarztes, selbst für Ersatz zu sorgen. In diesem Fall hat er den für die Aufstellung der Dienstpläne zuständigen Kollegen entsprechend zu informieren. Bei derartigen vertraglichen Beziehungen, denen ein sog. Rahmenvertrag zugrunde liegt, der die allgemeine Grundlage für die Abwicklung einzelner Aufträge enthält, ist jeweils auf die Verhältnisse abzustellen, die nach Annahme des einzelnen Auftrags während dessen Durchführung bestehen (ständige Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 18. November 2015 – B 12 KR 16/13 R – juris, Rn. 19 sowie Urteile vom 4. Juni 2019, a.a.O.). Soweit die Klägerin und der Beigeladene daher geltend gemacht haben, der Beigeladene könne seine Dienste frei und unabhängig selbst bestimmen, indem er sich für Dienste bereit erkläre, es für ihn jedoch keine Verpflichtung gebe, einen bestimmten Dienst oder eine bestimmte Anzahl von Diensten zu übernehmen und er auch keinen Anspruch darauf habe, die gewünschten oder generell Dienste zu übernehmen, lässt sich hieraus kein Gesichtspunkt herleiten, der für die Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit spricht.78 Im Hinblick auf die Gewichtung der für und gegen eine abhängige Beschäftigung sprechenden Gesichtspunkte sind vorliegend ebenso wie in den vom BSG am 4. Juni 2019 entschiedenen Verfahren die Besonderheiten gerade der ärztlichen Tätigkeit zu berücksichtigen. In den erwähnten Entscheidungen hat das BSG in Bezug auf die ärztliche Tätigkeit im Krankenhaus insoweit deutlich gemacht, dass einzelne Gesichtspunkte, die sonst eine Tätigkeit als abhängig oder selbstständig kennzeichnen, von vorneherein nicht als ausschlaggebende Abgrenzungskriterien herangezogen werden können. So handeln Ärzte bei medizinischen Heilbehandlungen und Therapien grundsätzlich frei und eigenverantwortlich. Hieraus kann aber nicht ohne weiteres auf eine selbstständige Tätigkeit geschlossen werden. Dies schon deshalb nicht, weil nach ganz herrschender Meinung selbst Chefärzte als Arbeitnehmer zu qualifizieren sind. Umgekehrt kann auch nicht allein wegen der Benutzung von Einrichtungen und Betriebsmitteln des Krankenhauses zwingend eine abhängige Beschäftigung angenommen werden (Urteile vom 4. Juni 2019, B 12 R 12/18 R – juris, Rn. 26; B 12 KR 14/18 R – juris, Rn. 31; B 12 R 22/18 R – juris, Rn. 26). Diese Grundsätze gelten gleichermaßen auch für die Tätigkeit des Beigeladenen im Rahmen seiner Einsätze als Notarzt in der Luftrettung für die Klägerin. Auch der Beigeladene ist hinsichtlich seiner medizinischen Maßnahmen zur Behandlung und Versorgung der Notfallpatienten frei und eigenverantwortlich und keinen Weisungen unterworfen. Entsprechend ist in dem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vertrag unter „§ 3 Weisungsfreiheit“ ausdrücklich ausgeführt, dass der Notarzt bei der Durchführung der von ihm übernommenen Aufgaben nach § 1 keinen Weisungen durch die Klägerin unterliegt und in seiner ärztlichen Therapiefreiheit nicht weisungsgebunden ist.79 Diese Weisungsfreiheit steht der Eingliederung eines auf Honorarbasis tätigen Arztes in den Betrieb seines Auftraggebers nicht entgegen. In den erwähnten Urteilen vom 4. Juni 2019 hat das BSG deutlich gemacht, dass Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Betrieb weder in einem Rangverhältnis zueinander stehen noch stets kumulativ vorliegen müssen. Eine Eingliederung gehe auch nicht zwingend mit einem umfassenden Weisungsrecht des Krankenhauses einher. Die in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV genannten Merkmale sind schon nach dem Wortlaut der Vorschrift nur „Anhaltspunkte“ für eine persönliche Abhängigkeit, also im Regelfall typische Merkmale einer Beschäftigung, jedoch keine abschließenden Bewertungskriterien. Der Senat habe bereits 1962 im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu Chefärzten ausgeführt, dass das Weisungsrecht insbesondere bei sog. Diensten höherer Art, wobei man heute von Hochqualifizierten oder Spezialisten sprechen würde, aufs stärkste eingeschränkt sein könne. Dennoch könne die Dienstleistung in solchen Fällen fremdbestimmt sein, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhalte, in deren Dienst die Arbeit verrichtet werde. Die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers verfeinere sich in solchen Fällen zur „funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“. Dieses vom Senat entwickelte Kriterium der Weisungsgebundenheit habe der Gesetzgeber wie das der Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV ausdrücklich aufgegriffen (Urteile vom 4. Juni 2019, B 12 R 12/18 R – juris, Rn. 29; B 12 KR 14/18 R – juris, Rn. 34; B 12 R 22/18 R – juris, Rn. 30).80 (1) Ausgehend von diesen Ausführungen, denen sich der erkennende Senat schon in seinen Entscheidungen vom 18. Mai 2020 (L 4 BA 2288/18) und 20. Juli 2020 (L 4 BA 3646/18 - juris) zu vergleichbaren Sachverhalten (Notärzte im bodengestützten Rettungsdienst) vollumfänglich angeschlossen hat, teilt der Senat die Auffassung der Beklagten, dass die notärztliche Tätigkeit des Beigeladenen ihr Gepräge durch die Ordnung des Betriebes der Klägerin erhält und er im Rahmen seiner Dienste in deren Strukturen eingegliedert ist, was maßgebliches Indiz für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist.81 Im Rahmen seines Versorgungsauftrags als Träger der regionalen Luftrettung, die mit notarztbesetzten RTH den bodengestützten Rettungsdienst bereichsübergreifend unterstützt, stellt die Kläger die technischen, baulichen und sonstigen stationären Anlagen (u.a. Hangar nebst Funktionsräumen) sowie die sächliche (RTH) und personelle Ausstattung (Pilot, Notarzt, Rettungsassistenten) zur Verfügung. Nach Alarmierung des RTH durch die Integrierte Leitstelle hat sich die Besatzung, bestehend aus Pilot, Notarzt und Rettungsassistent, entsprechend der von der Leitstelle erfolgenden Steuerung des Einsatzes so schnell wie möglich mit dem RTH an den Aufenthaltsort des Notfallpatienten zu begeben. Vor Ort erfolgt die medizinische Versorgung durch den Notarzt mit Unterstützung durch den Rettungsassistenten, d.h. dem angestellten Rettungspersonal der Klägerin. Für den Fall, dass ein Transport des Notfallpatienten mit dem RTH zum Krankenhaus erforderlich ist, übernimmt der Notarzt dessen Versorgung wiederum gemeinsam mit dem Rettungspersonal der Klägerin. Im Rahmen des Einsatzes ist der Notarzt dabei gegenüber dem weiteren Rettungsdienstpersonal in medizinischen Fragen weisungsbefugt. Die dargestellte Nutzung der sächlichen Mittel der Klägerin, mithin des RTH mit seiner notfallmedizinischen Ausstattung, der wiederum von einem bei der Klägerin beschäftigten Piloten gesteuert wird, sowie das Zusammenwirken mit deren Rettungsdienstpersonal macht deutlich, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Dienste in die Strukturen des Betriebes der Klägerin eingebunden ist und dabei im Kernbereich seiner Aufgaben arbeitsteilig, und zwar mit Weisungsbefugnis gegenüber den Mitarbeitern der Klägerin in medizinischen Fragen zusammenwirkt. Während eines Notarztdienstes ist der Beigeladene zudem an die Weisungen der Integrierten Leitstelle gebunden, die in eigener Verantwortung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines notarztbesetzten RTH entscheidet, dessen Alarmierung veranlasst und auch dessen Anflug an den Einsatzort steuert. Der Beigeladene hatte nach § 1 Abs. 2 des mit der Klägerin geschlossenen Vertrags zudem die medizinische Einsatzbereitschaft des RTH, also die seitens der Klägerin zur Versorgung der Patienten bereitgestellte medizinische Ausstattung, sicherzustellen. Auch hatte der Beigeladene im Rahmen seines Dienstes während der Bereitschaftszeit des RTH (Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang) seine Einsatzbereitschaft lückenlos zu gewähren und konnte seine Tätigkeit erst nach Sonnenuntergang beenden. Selbst wenn dies in dem zwischen den Beteiligten schriftlich niedergelegten Vertrag keinen Niederschlag fand, so ergibt sich dies unmittelbar aus der Natur der übernommenen Aufgabe. Ausweislich des mit der Klägerin geschlossenen Vertrags (vgl. § 3 Abs. 4) unterlag der Beigeladene während seines Dienstes schließlich auch den für den Stationsablauf im Qualitätsmanagementhandbuch der Klägerin niedergelegten Regelungen und seinen nachgeordneten Ausführungen (z.B. Handbuch Medizin, Stationsleitfaden), mithin innerdienstlichen Weisungen der Klägerin. Der Beigeladene übte seine notärztliche Tätigkeit daher in der betrieblichen Ordnung der Klägerin aus und war damit in deren Betrieb eingegliedert. Er diente durch arbeitsteiliges Zusammenwirken mit dem Personal der Klägerin deren Auftrag, die regionale Luftrettung in Baden-Württemberg sicherzustellen. Aus dem Umstand, dass die Einsatzbefehle sowie deren Steuerung nicht durch die Klägerin selbst, sondern durch die Integrierte Leitstelle erfolgten, ergibt sich nichts Abweichendes. Denn ungeachtet der Organisationsstruktur, wonach die gebietsbezogenen Integrierten Leitstellen nicht nur für den bodengebundenen Rettungsdienst im jeweiligen Rettungsdienstbezirk, sondern auch für die überregionale Luftrettung als Einsatzzentrale fungieren, ist diese gegenüber allen im Rettungsdienst Mitwirkenden weisungsbefugt, mithin auch gegenüber der Klägerin bzw. deren eigenem Personal. Damit unterlag der Beigeladene bis zum Eintreffen am Einsatzort genau den Vorgaben, wie sie auch von den Mitarbeitern der Klägerin einzuhalten waren.82 (2) Relevante Indizien, die für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit sprechen, vermag der Senat nicht zu erkennen.83 Der Beigeladene trug im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Klägerin kein nennenswertes, das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägendes Unternehmerrisiko, was im Rahmen der Würdigung des Gesamtbildes zu beachten ist (BSG, Beschluss vom 16. Oktober 2010 – B 12 KR 100/09 B – juris, Rn. 10; ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteil vom 8. Juli 2016 – L 4 R 4979/15 – juris, Rn. 46). Maßgebliches Kriterium für ein solches Risiko eines Selbstständigen ist, ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der tatsächlichen und sächlichen Mittel also ungewiss ist (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 28. Mai 2008 – B 12 KR 13/07 R – juris). Aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft gegebenenfalls nicht verwerten zu können, folgt kein Unternehmerrisiko bezüglich der einzelnen Einsätze (BSG, Urteil vom 18. November 2015 – B 12 KR 16/13 R – juris, Rn. 36). Vorliegend trug der Beigeladene kein relevantes Verlustrisiko. Seine Tätigkeit erforderten keine relevanten Betriebsmittel und seine Arbeitskraft setzte er nicht mit der Gefahr des Verlustes ein. So erhielt er für die erbrachten Dienste eine Vergütung in Höhe von 30,00 EUR für jede geleistete Stunde. Das Risiko, nicht wie gewünscht arbeiten zu können, weil angetragene Dienste anderweitig vergeben wurden, stellt kein Unternehmerrisiko dar, sondern eines, das auch jeden Arbeitnehmer trifft, der nur Zeitverträge bekommt oder auf Abruf arbeitet und nach Stunden bezahlt wird oder unständig Beschäftigter ist (vgl. Senatsurteile vom 23. Januar 2004 – L 4 KR 3083/02 – juris, Rn. 20 und 27. März 2015 – L 4 R 5120/13 – nicht veröffentlicht). Es muss deshalb ein Wagnis bestehen, das über dasjenige hinausgeht, kein Entgelt zu erzielen. Zum echten Unternehmerrisiko wird dieses Risiko deshalb regelmäßig erst, wenn bei Arbeitsmangel nicht nur kein Einkommen oder Entgelt aus Arbeit erzielt wird, sondern zusätzlich auch Kosten für betriebliche Investitionen und/oder Arbeitnehmer anfallen oder früher getätigte Investitionen brachliegen (Senatsurteile vom 23. Januar 2004 – L 4 KR 3083/02 –, 27. März 2015 – L 4 R 5120/13 – a.a.O. und 18. Mai 2018 – L 4 KR 3961/15 – juris, Rn. 52; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Dezember 2009 – L 16 R 5/08 – juris, Rn. 38). Dies war bei dem Beigeladenen nicht der Fall. Er verfügte weder über eine eigene Betriebsstätte noch beschäftigte er im Rahmen seiner Tätigkeit eigene Mitarbeiter. Für seine Tätigkeit setzte er auch keine Betriebsmittel ein, die zu einem unternehmerischen Risiko führen würden. So verfügte er lediglich über eigene Notarztschuhe und -stiefel sowie Werkzeuge, wie bspw. ein Stethoskop, weshalb sich deren Brachliegen nicht als Verwirklichung eines echten Unternehmensrisikos darstellt.84 Ein solches Unternehmensrisiko lässt sich schließlich auch nicht aus der vom Beigeladenen abgeschlossenen Berufshaftpflichtversicherung herleiten. Denn solcher Versicherungen bedienen sich zur Absicherung der mit der ärztlichen Tätigkeit verbundenen Risiken gleichermaßen auch Ärzte in einem Beschäftigungsverhältnis.85 Ungeachtet dessen ist vorliegend allerdings zu berücksichtigen, dass der Einsatz eigenen Kapitals bzw. eigener Betriebsmittel keine notwendige Voraussetzung für eine selbständige Tätigkeit ist (BSG, Urteil vom 27. März 1980 – 12 RK 26/79 – juris, Rn. 23). Dies gilt schon deshalb, weil anderenfalls geistige oder andere betriebsmittelarme Tätigkeiten nie selbständig ausgeübt werden könnten (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 12 R 3/12 R – juris, Rn. 25; Urteil des Senats vom 16. April 2016 – L 4 KR 1612/15 – juris, Rn. 95). Mit seiner Tätigkeit als Notarzt übte der Beigeladene eine solche Tätigkeit aus. Für die Ausübung dieser hochqualifizierten Tätigkeit war weder der Einsatz eigenen Kapitals erforderlich, noch benötigte der Beigeladene hierfür relevante Betriebsmittel. Entsprechend misst der Senat diesem Gesichtspunkt auch nur geringe Bedeutung bei.86 Soweit für den Beigeladenen keine Verpflichtung bestand, nach Aufnahme in den Dienstplan den entsprechenden Dienst tatsächlich auch anzutreten, vielmehr die Möglichkeit bestand, im Verhinderungsfall anderweitig für Ersatz zu sorgen, stellt die Möglichkeit, den Dienst einem Dritten zu übertragen, ein Indiz für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit dar, da Beschäftigte ihre Arbeitsverpflichtung im Allgemeinen persönlich zu erbringen haben.87 Für eine selbständige Tätigkeit kann darüber hinaus zwar auch der in dem geschlossenen „Freier-Mitarbeit-Vertrag“ klar formulierte Wille der Beteiligten sprechen, keine abhängige Beschäftigung zu begründen. Allerdings kommt es auf eine entsprechende vertragliche Abrede nur dann entscheidend an, wenn die tatsächlichen Umstände in etwa gleichermaßen für eine Selbstständigkeit oder für eine Beschäftigung sprechen (BSG, Urteil vom 14. März 2018 – B 12 R 3/17 R – juris, Rn. 13; Urteil vom 26. Januar 1982 - 12 BK 44/81 – juris, Rn. 3). Dies ist vorliegend aber nicht der Fall.88 Relevante weitere, für eine selbständige Tätigkeit sprechende Gesichtspunkt sind nicht ersichtlich. Indiz für eine selbständige Tätigkeit kann zwar sein, dass arbeitnehmertypische Ansprüche auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht vereinbart waren, allerdings ist das Fehlen solcher Ansprüche als Vertragsgestaltung konsequent, wenn beide Seiten eine selbständige freie Mitarbeit wollen (etwa Senatsbeschluss vom 20. August 2015 – L 4 R 861/13 – juris, Rn. 67 m.w.N.). Angesichts dessen lässt sich auch aus dem Umstand, dass die Beteiligten im „Freier-Mitarbeit-Vertrag“ Ansprüche auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ausdrücklich ausschlossen (vgl. § 6) und sie in § 8 vereinbarten, dass der Beigeladene selbst für eine ausreichende Sozialversicherung zu sorgen und die aus den Honoraren zu entrichtende Einkommensteuer selbst abzuführen habe, kein relevanter, für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit sprechender Gesichtspunkt herleiten.89 Soweit das SG das vereinbarte Vergütungsmodell nach Stundenpauschale als ein für die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit sprechender Gesichtspunkt angesehen hat, ist darauf hinzuweisen, dass eine Vergütung nach Pauschalen zwar auf ein unternehmerisches Risiko hinweisen kann, wenn bei Durchführung von Einzelaufträgen die Gefahr besteht, dass der Auftragnehmer nicht kostendeckend wird arbeiten können. Eine solche Fallgestaltung liegt hier jedoch nicht vor. Denn der Beigeladene erhielt für sämtliche von ihm verrichteten Dienststunden jeweils eine Vergütung von 30,00 EUR.90 (3) Unter Abwägung aller Merkmale führt das Gesamtbild der Tätigkeit des Beigeladenen für die Klägerin zum Vorliegen einer Beschäftigung. Ausschlaggebend dafür ist in erster Linie der Grad der Einbindung des Beigeladenen in die Arbeitsabläufe und die Organisationsstruktur der Klägerin. Mit dem Antritt seines jeweiligen Dienstes diente der Beigeladene der Klägerin als Träger der Luftrettung mit den ihr obliegenden Aufgaben der Notfallrettung mittels RTH und Krankentransport und damit dem Betriebszweck der Klägerin, in deren Organisation er eingebunden war. Die für eine Selbständigkeit sprechenden Aspekte können den vor diesem Hintergrund bestehenden Eindruck einer abhängigen Beschäftigung nicht durchgreifend erschüttern.91 Soweit die Klägerin auf § 23c Abs. 2 SGB IV hinweist, wonach Einnahmen aus Tätigkeiten als Notärztin oder Notarzt im Rettungsdienst nicht beitragspflichtig sind, wenn diese Tätigkeiten neben einer Beschäftigung mit einem Umfang von regelmäßig mindestens 15 Stunden wöchentlich außerhalb des Rettungsdienstes (Nr. 1) oder einer Tätigkeit als zugelassenen Vertragsarzt oder als Arzt in privater Niederlassung ausgeübt werden (Nr. 2), lässt sich hieraus keine abweichende Beurteilung herleiten. Zum einen gilt diese Regelung gemäß § 118 SGB IV nicht für Einnahmen aus einer vor dem 11. April 2017 vereinbarten Tätigkeit als Notarzt im Rettungsdienst und zum anderen regelt diese Vorschrift nicht die statusrechtliche Einordnung der Notärzte im Rettungsdienst. Sie setzt vielmehr gerade voraus, dass diese Tätigkeit im Rahmen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgeübt werden kann und bestimmt vor diesem Hintergrund angesichts der herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung der Sicherstellung der der ärztlichen Akutversorgung im Notfall lediglich die Beitragsbefreiung in einer solchen Tätigkeit (Ziegelmeier, in: Kasseler Kommentar, Stand: September 2018, § 23c SGB IV Rn. 11).92 (4) In der Tätigkeit als Notarzt bestand für den Beigeladenen Versicherungspflicht in der Rentenversicherung. Als Beschäftigter ist der Beigeladene gemäß § 1 Nr. 1 SGB VI versicherungspflichtig.93 (5) Versicherungspflichtig ist der Beigeladene gleichermaßen in der Arbeitslosenversicherung (§ 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Eine geringfügige Beschäftigung, die nach § 27 Abs. 2 SGB III zur Versicherungsfreiheit des Beschäftigten führen kann, liegt beim Beigeladenen in der für die Klägerin ausgeübten Tätigkeit nicht vor.94 Nach § 8 Abs. 1 SGB IV in der bis 31. Dezember 2018 geltenden Fassung des Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I, S. 2474) liegt eine geringfügige Beschäftigung vor, wenn (1.) das Arbeitsentgelt aus dieser Beschäftigung regelmäßig im Monat 450,00 EUR nicht übersteigt, (2.) die Beschäftigung innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens zwei Monate oder 50 Arbeitstage nach ihrer Eigenart begrenzt zu sein pflegt oder im Voraus vertraglich begrenzt ist, es sei denn, dass die Beschäftigung berufsmäßig ausgeübt wird und ihr Entgelt 450,00 EUR im Monat übersteigt.95 Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV sind nicht erfüllt. Das Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung des Beigeladenen überstieg regelmäßig 450,00 EUR im Monat. Dies entnimmt der Senat den vom Beigeladenen im Verwaltungsverfahren vorgelegten Rechnungen für den Zeitraum von März 2014 bis August 2015, wonach er monatlich im Regelfall zwei Dienste mit einer Dauer von wenigstens zehn Stunden absolvierte und dementsprechend im Regelfall monatliche Vergütungen von zumindest 600,00 EUR erzielte. Anhaltspunkte dafür, dass ab September 2015 diesbezüglich eine relevante Änderung eingetreten ist, sind nicht ersichtlich. Entsprechendes behauptet auch die Klägerin nicht.96 Auch die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV sind nicht erfüllt. Der zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen geschlossene Vertrag enthält keinerlei Regelung, die den Einsatz des Beigeladenen für die Klägerin innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens zwei Monate oder 50 Arbeitstage begrenzte. Auch aus der Eigenart der Tätigkeit ergibt sich keine solche Begrenzung.97 Eine unständige, in der Arbeitslosenversicherung versicherungsfreie Tätigkeit nach § 27 Abs. 3 Nr. 1 SGB III lag ebenfalls nicht vor. Danach sind versicherungsfrei Personen in einer unständigen Beschäftigung, die sie berufsmäßig ausüben (Satz 1). Unständig ist eine Beschäftigung, die auf weniger als eine Woche der Natur der Sache nach beschränkt zu sein pflegt oder im Voraus durch Arbeitsvertrag beschränkt ist (Satz 2). Eine solche Beschränkung auf weniger als eine Woche ist nicht vereinbart. Der zwischen den Beteiligten geschlossene Vertrag enthält keine entsprechende Regelung. Auch aus der Natur der Sache ergab sich bei fehlender Absehbarkeit von Häufigkeit und Dauer der Einsätze eine zwingende Begrenzung auf unter eine Woche nicht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Beigeladene tatsächlich nur ca. zweimal monatlich eine Dienstschicht übernahm.98 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 155 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Da nur die Beklagte Berufung eingelegt hat und sie nicht zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört, finden im Berufungsverfahren nach § 197a SGG die VwGO und das Gerichtskostengesetz (GKG) Anwendung. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht zu erstatten, da er keinen Antrag gestellt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).99 5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.100 6. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 2, § 47 GKG endgültig festgesetzt. Die Höhe des Streitwerts entspricht dem Auffangstreitwert von 5.000,00 EUR, da bislang lediglich über das Bestehen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses und die hieraus folgende Sozialversicherungspflicht entschieden wurde, aber noch keine Gesamtsozialversicherungsbeiträge festgesetzt wurden.
Gründe
63 1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG; denn die Klage betrifft weder eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung noch einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt.64 2. Gegenstand des Rechtsstreits sind die Bescheide der Beklagten vom 9. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2016, mit dem die Beklagte zum einen gegenüber der Klägerin und zum anderen gegenüber dem Beigeladenen entschied, dass der Beigeladene seine Tätigkeit als Notarzt seit 15. Februar 2014 im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses ausübt und dementsprechend Versicherungspflicht in der Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung besteht. Als Verwaltungsakt mit Doppelwirkung belastet die Klägerin als Dritte gleichermaßen auch der an den Beigeladenen gerichtete Bescheid vom 9. März 2016. Der Senat legt das Begehren der Klägerin daher dahingehend aus (§ 123 SGG), dass sie die Bescheide der Beklagten vom 9. März 2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 12. Juli 2016 einerseits originär und andererseits als Drittbetroffene angefochten hat. Die Klage war als Anfechtungsklage zulässig.65 Soweit die Klägerin im Klageverfahren mit der Feststellungsklage (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) neben der Feststellung, der Beigeladene unterliege in seiner Tätigkeit als Notarzt im Rahmen von Luftrettungseinsätzen keiner Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung auch die Feststellung begehrte, der Beigeladene habe die Tätigkeit als Notarzt in einer selbständigen Tätigkeit ausgeübt, handelt es sich um eine unzulässige Elementenfeststellung (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2019 – B 12 R 8/18 R – juris), weshalb die Klage insoweit unzulässig war.66 3. Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hätte den Bescheid der Beklagten vom 9. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juli 2016 (§ 95 SGG) nicht aufheben und auch der teilweise unzulässigen Feststellungsklage nicht stattgeben dürfen. Die genannten Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte ging zutreffend davon aus, dass der Beigeladene seine Tätigkeit für die Klägerin als Notarzt im Rahmen der Luftrettung in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis ausübte und in dieser Beschäftigung Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestand.67 a) Nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV können die Beteiligten schriftlich eine Entscheidung der nach § 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV zuständigen Beklagten beantragen, ob eine Beschäftigung vorliegt, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger hat im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Die Beklagte entscheidet aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände, ob eine Beschäftigung vorliegt (§ 7a Abs. 2 SGB IV). Das Verwaltungsverfahren ist in Absätzen 3 bis 5 der Vorschrift geregelt. § 7a Abs. 6 SGB IV regelt in Abweichung von den einschlägigen Vorschriften der einzelnen Versicherungszweige und des SGB IV den Eintritt der Versicherungspflicht (Satz 1) und die Fälligkeit des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (Satz 2). Mit dem rückwirkend zum 1. Januar 1999 durch das Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit vom 20. Dezember 1999 (BGBl. 2000 I, S. 2) eingeführten Anfrageverfahren soll eine schnelle und unkomplizierte Möglichkeit der Klärung der Statusfrage erreicht werden; zugleich sollen divergierende Entscheidungen verhindert werden (Bundestags-Drucksache 14/1855, S. 6).68 Die Beklagte war für die von der Beigeladenen beantragte Feststellung zuständig, weil für die streitige Zeit zum Zeitpunkt der Antragstellung am 13. August 2015 kein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet war. Entsprechende Anhaltspunkte liegen nicht vor. Etwas Gegenteiliges wird von den Beteiligten auch nicht behauptet.69 b) Versicherungspflichtig sind in der Rentenversicherung nach § 1 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) und in der Arbeitslosenversicherung nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) gegen Arbeitsentgelt beschäftigte Personen. Beschäftigung ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.70 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem nach Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur "funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft sowie die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 15; BSG, Urteil vom 30. April 2013 – B 12 KR 19/11 R – juris, Rn. 13; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 12 KR 17/11 R – juris, Rn. 23 –, BSG, Urteil vom 30. März 2015 – B 12 KR 17/13 R – juris, Rn. 15 – jeweils m.w.N.; zur Verfassungsmäßigkeit der anhand dieser Kriterien häufig schwierigen Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit: Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 1996 – 1 BvR 21/96 – juris, Rn. 6 ff.). Maßgebend ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 24. Januar 2007 – B 12 KR 31/06 R – juris, Rn. 15; BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 15 f.; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 12 KR 17/11 R – juris, Rn. 23 ff. – jeweils m.w.N.).71 Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine abhängige Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine – formlose – Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1994 – 11 RAr 49/94 – juris, Rn. 20). In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von den Vereinbarungen abweichen (BSG, Urteil vom 1. Dezember 1977 – 12/3/12 RK 39/74 – juris, Rn. 16; BSG, Urteil vom 4. Juni 1998 – B 12 KR 5/97 R – juris, Rn. 16; BSG, Urteil vom 10. August 2000 – B 12 KR 21/98 R – juris, Rn. 17 – jeweils m.w.N.). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist (vgl. hierzu insgesamt BSG, Urteil vom 24. Januar 2007 – B 12 KR 31/06 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 16).72 Für die Beurteilung der Tätigkeit von sog. Honorarärzten gelten keine abweichenden Maßstäbe. Insoweit führte das BSG in seinen Entscheidungen vom 4. Juni 2019 (u.a. B 12 R 12/18 R – juris, Rn. 19 f; B 12 KR 14/18 R – juris, Rn. 24 f; B 12 R 22/18 R – juris, Rn. 17 f.) aus, dass die Bezeichnung als Honorararzt kein besonderes ärztliches Tätigkeitsbild im sozialversicherungsrechtlichen Sinne kennzeichnet und auch die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder erfolgt. Es ist daher möglich, dass ein und derselbe Beruf - je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen in ihrer gelebten Praxis - entweder in Form der Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird. Maßgeblich sind stets die konkreten Umstände des individuellen Sachverhalts. Die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung ist auch nicht dadurch vorgeprägt, dass sog. Honorararztverträge in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung bisher überwiegend als freie Dienstverhältnisse qualifiziert werden. Denn es besteht kein vollständiger Gleichklang des arbeitsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs mit dem Beschäftigungsbegriff nach § 7 SGB IV.73 c) Ausgehend von diesen Grundsätzen war der Beigeladene im Rahmen seiner Einsätze für die Klägerin in der Zeit vom 15. Februar 2015 bis zum 31. Oktober 2016 abhängig beschäftigt.74 aa) Ausgangspunkt für die rechtliche Bewertung sind die im Folgenden dargestellten Umstände, die der Senat aufgrund des Gesamtinhalts des Verfahrens, insbesondere den Maßgaben des RDG und des Rettungsdienstplans, der Vereinbarung mit dem Sozialministerium vom 13. März 2003 und dem zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen abgeschlossenen „Freier-Mitarbeiter-Vertrag“ vom 1. April 2016 feststellt. Der Senat geht dabei davon aus, dass der Tätigkeit des Beigeladenen für die Klägerin schon vor dem Wirksamwerden dieses Vertrags am 1. April 2016 entsprechende - mündlich vereinbarte - Regelungen zu Grunde lagen, wie dies auch in der Präambel des Vertrages niedergelegt ist.75 Rechtliche Grundlage, auf der der Beigeladene tätig wurde, sind der auf der Grundlage des RDG erstellte Rettungsdienstplan und die Vereinbarung vom 13. März 2003 sowie die zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen getroffene mündliche Rahmenvereinbarung, die nachfolgend in dem „Freier-Mitarbeiter-Vertrag“ vom 1. April 2016 ihren schriftlichen Niederschlag fand. Danach betreibt die Klägerin im Rahmen der regionalen Luftrettung in Baden-Württemberg verschiedene Standorte, an denen RTH mit entsprechender Ausstattung stationiert sind. In personeller Hinsicht werden für die Klägerin dabei einerseits Piloten und Notfallsanitäter, die abhängig Beschäftigte der Klägerin sind, sowie andererseits Notärzte tätig, die ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt haben, für die Klägerin an der Luftrettung teilzunehmen. Entsprechend hatten die Beteiligten eine Rahmenvereinbarung für das Tätigwerden des Beigeladenen als Notarzt an der Station L. getroffen. Die zur Sicherstellung der notärztlichen Besetzung der RTH erforderlichen Dienstpläne werden anhand der von den teilnehmenden Ärzten zuvor nach Lage und Anzahl der Notarztdienste geäußerten Wünsche zusammengestellt. Im Verhinderungsfall ist es Aufgabe des verhinderten Notarztes, selbst für Ersatz zu sorgen. Während seines Dienstes hat sich der diensthabende Notarzt am jeweiligen Luftrettungsstandort einsatzbereit aufzuhalten. Die Steuerung der konkreten Einsätze erfolgt durch die Integrierte Leitstelle, in deren Rettungsdienstbereich sich der Notfall befindet. Nach Anforderung eines RTH begibt sich das Besatzungsteam bestehend aus dem Piloten, dem Notarzt und dem Notfallsanitäter zum Einsatzort. Dabei ist die Integrierte Leitstelle gegenüber allen Mitwirkenden bis zum Eintreffen am Einsatz- bzw. Notfallort weisungsbefugt. Im Hinblick auf die Versorgung des Notfallpatienten ist der Notarzt gegenüber dem Rettungssanitäter sowie dem ggf. vor Ort anwesenden weiteren Rettungsdienstpersonal weisungsbefugt. Dabei bestimmt der Notarzt Art und Umfang der Primärversorgung vor Ort, die entsprechende Weiterversorgung auf dem ggf. erforderlichen Weitertransport sowie das entsprechende Zielkrankenhaus. Die Vergütung des eingesetzten Notarztes erfolgt nach dessen Rechnungsstellung an die Klägerin, wobei im streitigen Zeitraum jede Stunde mit einem Festbetrag in Höhe von 30,00 EUR vergütet wurde.76 bb) Vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen ist der Senat unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände des Einzelfalles zu der Überzeugung gelangt, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Dienste als Notarzt im Zeitraum vom 15. Februar 2014 bis 31. Oktober 2016 in einem Beschäftigungsverhältnis zur Klägerin stand.77 Für die Beurteilung ist auf die jeweiligen Einzeleinsätze des Beigeladenen abzustellen. Nach der vertraglichen Vereinbarung zwischen den Beteiligten und dem Vorbringen der Klägerin wird unter Berücksichtigung der von den am notärztlichen Dienst teilnehmenden Ärzten geäußerten Wünschen ein Dienstplan erstellt, wodurch die Verpflichtung des Beigeladenen gegenüber der Klägerin begründet wird, den angebotenen und zugesagten Dienst zu leisten. Im Verhinderungsfall ist es Aufgabe des verhinderten Notarztes, selbst für Ersatz zu sorgen. In diesem Fall hat er den für die Aufstellung der Dienstpläne zuständigen Kollegen entsprechend zu informieren. Bei derartigen vertraglichen Beziehungen, denen ein sog. Rahmenvertrag zugrunde liegt, der die allgemeine Grundlage für die Abwicklung einzelner Aufträge enthält, ist jeweils auf die Verhältnisse abzustellen, die nach Annahme des einzelnen Auftrags während dessen Durchführung bestehen (ständige Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 18. November 2015 – B 12 KR 16/13 R – juris, Rn. 19 sowie Urteile vom 4. Juni 2019, a.a.O.). Soweit die Klägerin und der Beigeladene daher geltend gemacht haben, der Beigeladene könne seine Dienste frei und unabhängig selbst bestimmen, indem er sich für Dienste bereit erkläre, es für ihn jedoch keine Verpflichtung gebe, einen bestimmten Dienst oder eine bestimmte Anzahl von Diensten zu übernehmen und er auch keinen Anspruch darauf habe, die gewünschten oder generell Dienste zu übernehmen, lässt sich hieraus kein Gesichtspunkt herleiten, der für die Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit spricht.78 Im Hinblick auf die Gewichtung der für und gegen eine abhängige Beschäftigung sprechenden Gesichtspunkte sind vorliegend ebenso wie in den vom BSG am 4. Juni 2019 entschiedenen Verfahren die Besonderheiten gerade der ärztlichen Tätigkeit zu berücksichtigen. In den erwähnten Entscheidungen hat das BSG in Bezug auf die ärztliche Tätigkeit im Krankenhaus insoweit deutlich gemacht, dass einzelne Gesichtspunkte, die sonst eine Tätigkeit als abhängig oder selbstständig kennzeichnen, von vorneherein nicht als ausschlaggebende Abgrenzungskriterien herangezogen werden können. So handeln Ärzte bei medizinischen Heilbehandlungen und Therapien grundsätzlich frei und eigenverantwortlich. Hieraus kann aber nicht ohne weiteres auf eine selbstständige Tätigkeit geschlossen werden. Dies schon deshalb nicht, weil nach ganz herrschender Meinung selbst Chefärzte als Arbeitnehmer zu qualifizieren sind. Umgekehrt kann auch nicht allein wegen der Benutzung von Einrichtungen und Betriebsmitteln des Krankenhauses zwingend eine abhängige Beschäftigung angenommen werden (Urteile vom 4. Juni 2019, B 12 R 12/18 R – juris, Rn. 26; B 12 KR 14/18 R – juris, Rn. 31; B 12 R 22/18 R – juris, Rn. 26). Diese Grundsätze gelten gleichermaßen auch für die Tätigkeit des Beigeladenen im Rahmen seiner Einsätze als Notarzt in der Luftrettung für die Klägerin. Auch der Beigeladene ist hinsichtlich seiner medizinischen Maßnahmen zur Behandlung und Versorgung der Notfallpatienten frei und eigenverantwortlich und keinen Weisungen unterworfen. Entsprechend ist in dem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vertrag unter „§ 3 Weisungsfreiheit“ ausdrücklich ausgeführt, dass der Notarzt bei der Durchführung der von ihm übernommenen Aufgaben nach § 1 keinen Weisungen durch die Klägerin unterliegt und in seiner ärztlichen Therapiefreiheit nicht weisungsgebunden ist.79 Diese Weisungsfreiheit steht der Eingliederung eines auf Honorarbasis tätigen Arztes in den Betrieb seines Auftraggebers nicht entgegen. In den erwähnten Urteilen vom 4. Juni 2019 hat das BSG deutlich gemacht, dass Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Betrieb weder in einem Rangverhältnis zueinander stehen noch stets kumulativ vorliegen müssen. Eine Eingliederung gehe auch nicht zwingend mit einem umfassenden Weisungsrecht des Krankenhauses einher. Die in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV genannten Merkmale sind schon nach dem Wortlaut der Vorschrift nur „Anhaltspunkte“ für eine persönliche Abhängigkeit, also im Regelfall typische Merkmale einer Beschäftigung, jedoch keine abschließenden Bewertungskriterien. Der Senat habe bereits 1962 im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu Chefärzten ausgeführt, dass das Weisungsrecht insbesondere bei sog. Diensten höherer Art, wobei man heute von Hochqualifizierten oder Spezialisten sprechen würde, aufs stärkste eingeschränkt sein könne. Dennoch könne die Dienstleistung in solchen Fällen fremdbestimmt sein, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhalte, in deren Dienst die Arbeit verrichtet werde. Die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers verfeinere sich in solchen Fällen zur „funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“. Dieses vom Senat entwickelte Kriterium der Weisungsgebundenheit habe der Gesetzgeber wie das der Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV ausdrücklich aufgegriffen (Urteile vom 4. Juni 2019, B 12 R 12/18 R – juris, Rn. 29; B 12 KR 14/18 R – juris, Rn. 34; B 12 R 22/18 R – juris, Rn. 30).80 (1) Ausgehend von diesen Ausführungen, denen sich der erkennende Senat schon in seinen Entscheidungen vom 18. Mai 2020 (L 4 BA 2288/18) und 20. Juli 2020 (L 4 BA 3646/18 - juris) zu vergleichbaren Sachverhalten (Notärzte im bodengestützten Rettungsdienst) vollumfänglich angeschlossen hat, teilt der Senat die Auffassung der Beklagten, dass die notärztliche Tätigkeit des Beigeladenen ihr Gepräge durch die Ordnung des Betriebes der Klägerin erhält und er im Rahmen seiner Dienste in deren Strukturen eingegliedert ist, was maßgebliches Indiz für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist.81 Im Rahmen seines Versorgungsauftrags als Träger der regionalen Luftrettung, die mit notarztbesetzten RTH den bodengestützten Rettungsdienst bereichsübergreifend unterstützt, stellt die Kläger die technischen, baulichen und sonstigen stationären Anlagen (u.a. Hangar nebst Funktionsräumen) sowie die sächliche (RTH) und personelle Ausstattung (Pilot, Notarzt, Rettungsassistenten) zur Verfügung. Nach Alarmierung des RTH durch die Integrierte Leitstelle hat sich die Besatzung, bestehend aus Pilot, Notarzt und Rettungsassistent, entsprechend der von der Leitstelle erfolgenden Steuerung des Einsatzes so schnell wie möglich mit dem RTH an den Aufenthaltsort des Notfallpatienten zu begeben. Vor Ort erfolgt die medizinische Versorgung durch den Notarzt mit Unterstützung durch den Rettungsassistenten, d.h. dem angestellten Rettungspersonal der Klägerin. Für den Fall, dass ein Transport des Notfallpatienten mit dem RTH zum Krankenhaus erforderlich ist, übernimmt der Notarzt dessen Versorgung wiederum gemeinsam mit dem Rettungspersonal der Klägerin. Im Rahmen des Einsatzes ist der Notarzt dabei gegenüber dem weiteren Rettungsdienstpersonal in medizinischen Fragen weisungsbefugt. Die dargestellte Nutzung der sächlichen Mittel der Klägerin, mithin des RTH mit seiner notfallmedizinischen Ausstattung, der wiederum von einem bei der Klägerin beschäftigten Piloten gesteuert wird, sowie das Zusammenwirken mit deren Rettungsdienstpersonal macht deutlich, dass der Beigeladene im Rahmen seiner Dienste in die Strukturen des Betriebes der Klägerin eingebunden ist und dabei im Kernbereich seiner Aufgaben arbeitsteilig, und zwar mit Weisungsbefugnis gegenüber den Mitarbeitern der Klägerin in medizinischen Fragen zusammenwirkt. Während eines Notarztdienstes ist der Beigeladene zudem an die Weisungen der Integrierten Leitstelle gebunden, die in eigener Verantwortung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines notarztbesetzten RTH entscheidet, dessen Alarmierung veranlasst und auch dessen Anflug an den Einsatzort steuert. Der Beigeladene hatte nach § 1 Abs. 2 des mit der Klägerin geschlossenen Vertrags zudem die medizinische Einsatzbereitschaft des RTH, also die seitens der Klägerin zur Versorgung der Patienten bereitgestellte medizinische Ausstattung, sicherzustellen. Auch hatte der Beigeladene im Rahmen seines Dienstes während der Bereitschaftszeit des RTH (Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang) seine Einsatzbereitschaft lückenlos zu gewähren und konnte seine Tätigkeit erst nach Sonnenuntergang beenden. Selbst wenn dies in dem zwischen den Beteiligten schriftlich niedergelegten Vertrag keinen Niederschlag fand, so ergibt sich dies unmittelbar aus der Natur der übernommenen Aufgabe. Ausweislich des mit der Klägerin geschlossenen Vertrags (vgl. § 3 Abs. 4) unterlag der Beigeladene während seines Dienstes schließlich auch den für den Stationsablauf im Qualitätsmanagementhandbuch der Klägerin niedergelegten Regelungen und seinen nachgeordneten Ausführungen (z.B. Handbuch Medizin, Stationsleitfaden), mithin innerdienstlichen Weisungen der Klägerin. Der Beigeladene übte seine notärztliche Tätigkeit daher in der betrieblichen Ordnung der Klägerin aus und war damit in deren Betrieb eingegliedert. Er diente durch arbeitsteiliges Zusammenwirken mit dem Personal der Klägerin deren Auftrag, die regionale Luftrettung in Baden-Württemberg sicherzustellen. Aus dem Umstand, dass die Einsatzbefehle sowie deren Steuerung nicht durch die Klägerin selbst, sondern durch die Integrierte Leitstelle erfolgten, ergibt sich nichts Abweichendes. Denn ungeachtet der Organisationsstruktur, wonach die gebietsbezogenen Integrierten Leitstellen nicht nur für den bodengebundenen Rettungsdienst im jeweiligen Rettungsdienstbezirk, sondern auch für die überregionale Luftrettung als Einsatzzentrale fungieren, ist diese gegenüber allen im Rettungsdienst Mitwirkenden weisungsbefugt, mithin auch gegenüber der Klägerin bzw. deren eigenem Personal. Damit unterlag der Beigeladene bis zum Eintreffen am Einsatzort genau den Vorgaben, wie sie auch von den Mitarbeitern der Klägerin einzuhalten waren.82 (2) Relevante Indizien, die für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit sprechen, vermag der Senat nicht zu erkennen.83 Der Beigeladene trug im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Klägerin kein nennenswertes, das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägendes Unternehmerrisiko, was im Rahmen der Würdigung des Gesamtbildes zu beachten ist (BSG, Beschluss vom 16. Oktober 2010 – B 12 KR 100/09 B – juris, Rn. 10; ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteil vom 8. Juli 2016 – L 4 R 4979/15 – juris, Rn. 46). Maßgebliches Kriterium für ein solches Risiko eines Selbstständigen ist, ob eigenes Kapital oder die eigene Arbeitskraft auch mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt wird, der Erfolg des Einsatzes der tatsächlichen und sächlichen Mittel also ungewiss ist (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 28. Mai 2008 – B 12 KR 13/07 R – juris). Aus dem (allgemeinen) Risiko, außerhalb der Erledigung einzelner Aufträge zeitweise die eigene Arbeitskraft gegebenenfalls nicht verwerten zu können, folgt kein Unternehmerrisiko bezüglich der einzelnen Einsätze (BSG, Urteil vom 18. November 2015 – B 12 KR 16/13 R – juris, Rn. 36). Vorliegend trug der Beigeladene kein relevantes Verlustrisiko. Seine Tätigkeit erforderten keine relevanten Betriebsmittel und seine Arbeitskraft setzte er nicht mit der Gefahr des Verlustes ein. So erhielt er für die erbrachten Dienste eine Vergütung in Höhe von 30,00 EUR für jede geleistete Stunde. Das Risiko, nicht wie gewünscht arbeiten zu können, weil angetragene Dienste anderweitig vergeben wurden, stellt kein Unternehmerrisiko dar, sondern eines, das auch jeden Arbeitnehmer trifft, der nur Zeitverträge bekommt oder auf Abruf arbeitet und nach Stunden bezahlt wird oder unständig Beschäftigter ist (vgl. Senatsurteile vom 23. Januar 2004 – L 4 KR 3083/02 – juris, Rn. 20 und 27. März 2015 – L 4 R 5120/13 – nicht veröffentlicht). Es muss deshalb ein Wagnis bestehen, das über dasjenige hinausgeht, kein Entgelt zu erzielen. Zum echten Unternehmerrisiko wird dieses Risiko deshalb regelmäßig erst, wenn bei Arbeitsmangel nicht nur kein Einkommen oder Entgelt aus Arbeit erzielt wird, sondern zusätzlich auch Kosten für betriebliche Investitionen und/oder Arbeitnehmer anfallen oder früher getätigte Investitionen brachliegen (Senatsurteile vom 23. Januar 2004 – L 4 KR 3083/02 –, 27. März 2015 – L 4 R 5120/13 – a.a.O. und 18. Mai 2018 – L 4 KR 3961/15 – juris, Rn. 52; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Dezember 2009 – L 16 R 5/08 – juris, Rn. 38). Dies war bei dem Beigeladenen nicht der Fall. Er verfügte weder über eine eigene Betriebsstätte noch beschäftigte er im Rahmen seiner Tätigkeit eigene Mitarbeiter. Für seine Tätigkeit setzte er auch keine Betriebsmittel ein, die zu einem unternehmerischen Risiko führen würden. So verfügte er lediglich über eigene Notarztschuhe und -stiefel sowie Werkzeuge, wie bspw. ein Stethoskop, weshalb sich deren Brachliegen nicht als Verwirklichung eines echten Unternehmensrisikos darstellt.84 Ein solches Unternehmensrisiko lässt sich schließlich auch nicht aus der vom Beigeladenen abgeschlossenen Berufshaftpflichtversicherung herleiten. Denn solcher Versicherungen bedienen sich zur Absicherung der mit der ärztlichen Tätigkeit verbundenen Risiken gleichermaßen auch Ärzte in einem Beschäftigungsverhältnis.85 Ungeachtet dessen ist vorliegend allerdings zu berücksichtigen, dass der Einsatz eigenen Kapitals bzw. eigener Betriebsmittel keine notwendige Voraussetzung für eine selbständige Tätigkeit ist (BSG, Urteil vom 27. März 1980 – 12 RK 26/79 – juris, Rn. 23). Dies gilt schon deshalb, weil anderenfalls geistige oder andere betriebsmittelarme Tätigkeiten nie selbständig ausgeübt werden könnten (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 12 R 3/12 R – juris, Rn. 25; Urteil des Senats vom 16. April 2016 – L 4 KR 1612/15 – juris, Rn. 95). Mit seiner Tätigkeit als Notarzt übte der Beigeladene eine solche Tätigkeit aus. Für die Ausübung dieser hochqualifizierten Tätigkeit war weder der Einsatz eigenen Kapitals erforderlich, noch benötigte der Beigeladene hierfür relevante Betriebsmittel. Entsprechend misst der Senat diesem Gesichtspunkt auch nur geringe Bedeutung bei.86 Soweit für den Beigeladenen keine Verpflichtung bestand, nach Aufnahme in den Dienstplan den entsprechenden Dienst tatsächlich auch anzutreten, vielmehr die Möglichkeit bestand, im Verhinderungsfall anderweitig für Ersatz zu sorgen, stellt die Möglichkeit, den Dienst einem Dritten zu übertragen, ein Indiz für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit dar, da Beschäftigte ihre Arbeitsverpflichtung im Allgemeinen persönlich zu erbringen haben.87 Für eine selbständige Tätigkeit kann darüber hinaus zwar auch der in dem geschlossenen „Freier-Mitarbeit-Vertrag“ klar formulierte Wille der Beteiligten sprechen, keine abhängige Beschäftigung zu begründen. Allerdings kommt es auf eine entsprechende vertragliche Abrede nur dann entscheidend an, wenn die tatsächlichen Umstände in etwa gleichermaßen für eine Selbstständigkeit oder für eine Beschäftigung sprechen (BSG, Urteil vom 14. März 2018 – B 12 R 3/17 R – juris, Rn. 13; Urteil vom 26. Januar 1982 - 12 BK 44/81 – juris, Rn. 3). Dies ist vorliegend aber nicht der Fall.88 Relevante weitere, für eine selbständige Tätigkeit sprechende Gesichtspunkt sind nicht ersichtlich. Indiz für eine selbständige Tätigkeit kann zwar sein, dass arbeitnehmertypische Ansprüche auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht vereinbart waren, allerdings ist das Fehlen solcher Ansprüche als Vertragsgestaltung konsequent, wenn beide Seiten eine selbständige freie Mitarbeit wollen (etwa Senatsbeschluss vom 20. August 2015 – L 4 R 861/13 – juris, Rn. 67 m.w.N.). Angesichts dessen lässt sich auch aus dem Umstand, dass die Beteiligten im „Freier-Mitarbeit-Vertrag“ Ansprüche auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ausdrücklich ausschlossen (vgl. § 6) und sie in § 8 vereinbarten, dass der Beigeladene selbst für eine ausreichende Sozialversicherung zu sorgen und die aus den Honoraren zu entrichtende Einkommensteuer selbst abzuführen habe, kein relevanter, für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit sprechender Gesichtspunkt herleiten.89 Soweit das SG das vereinbarte Vergütungsmodell nach Stundenpauschale als ein für die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit sprechender Gesichtspunkt angesehen hat, ist darauf hinzuweisen, dass eine Vergütung nach Pauschalen zwar auf ein unternehmerisches Risiko hinweisen kann, wenn bei Durchführung von Einzelaufträgen die Gefahr besteht, dass der Auftragnehmer nicht kostendeckend wird arbeiten können. Eine solche Fallgestaltung liegt hier jedoch nicht vor. Denn der Beigeladene erhielt für sämtliche von ihm verrichteten Dienststunden jeweils eine Vergütung von 30,00 EUR.90 (3) Unter Abwägung aller Merkmale führt das Gesamtbild der Tätigkeit des Beigeladenen für die Klägerin zum Vorliegen einer Beschäftigung. Ausschlaggebend dafür ist in erster Linie der Grad der Einbindung des Beigeladenen in die Arbeitsabläufe und die Organisationsstruktur der Klägerin. Mit dem Antritt seines jeweiligen Dienstes diente der Beigeladene der Klägerin als Träger der Luftrettung mit den ihr obliegenden Aufgaben der Notfallrettung mittels RTH und Krankentransport und damit dem Betriebszweck der Klägerin, in deren Organisation er eingebunden war. Die für eine Selbständigkeit sprechenden Aspekte können den vor diesem Hintergrund bestehenden Eindruck einer abhängigen Beschäftigung nicht durchgreifend erschüttern.91 Soweit die Klägerin auf § 23c Abs. 2 SGB IV hinweist, wonach Einnahmen aus Tätigkeiten als Notärztin oder Notarzt im Rettungsdienst nicht beitragspflichtig sind, wenn diese Tätigkeiten neben einer Beschäftigung mit einem Umfang von regelmäßig mindestens 15 Stunden wöchentlich außerhalb des Rettungsdienstes (Nr. 1) oder einer Tätigkeit als zugelassenen Vertragsarzt oder als Arzt in privater Niederlassung ausgeübt werden (Nr. 2), lässt sich hieraus keine abweichende Beurteilung herleiten. Zum einen gilt diese Regelung gemäß § 118 SGB IV nicht für Einnahmen aus einer vor dem 11. April 2017 vereinbarten Tätigkeit als Notarzt im Rettungsdienst und zum anderen regelt diese Vorschrift nicht die statusrechtliche Einordnung der Notärzte im Rettungsdienst. Sie setzt vielmehr gerade voraus, dass diese Tätigkeit im Rahmen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgeübt werden kann und bestimmt vor diesem Hintergrund angesichts der herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung der Sicherstellung der der ärztlichen Akutversorgung im Notfall lediglich die Beitragsbefreiung in einer solchen Tätigkeit (Ziegelmeier, in: Kasseler Kommentar, Stand: September 2018, § 23c SGB IV Rn. 11).92 (4) In der Tätigkeit als Notarzt bestand für den Beigeladenen Versicherungspflicht in der Rentenversicherung. Als Beschäftigter ist der Beigeladene gemäß § 1 Nr. 1 SGB VI versicherungspflichtig.93 (5) Versicherungspflichtig ist der Beigeladene gleichermaßen in der Arbeitslosenversicherung (§ 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Eine geringfügige Beschäftigung, die nach § 27 Abs. 2 SGB III zur Versicherungsfreiheit des Beschäftigten führen kann, liegt beim Beigeladenen in der für die Klägerin ausgeübten Tätigkeit nicht vor.94 Nach § 8 Abs. 1 SGB IV in der bis 31. Dezember 2018 geltenden Fassung des Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I, S. 2474) liegt eine geringfügige Beschäftigung vor, wenn (1.) das Arbeitsentgelt aus dieser Beschäftigung regelmäßig im Monat 450,00 EUR nicht übersteigt, (2.) die Beschäftigung innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens zwei Monate oder 50 Arbeitstage nach ihrer Eigenart begrenzt zu sein pflegt oder im Voraus vertraglich begrenzt ist, es sei denn, dass die Beschäftigung berufsmäßig ausgeübt wird und ihr Entgelt 450,00 EUR im Monat übersteigt.95 Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV sind nicht erfüllt. Das Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung des Beigeladenen überstieg regelmäßig 450,00 EUR im Monat. Dies entnimmt der Senat den vom Beigeladenen im Verwaltungsverfahren vorgelegten Rechnungen für den Zeitraum von März 2014 bis August 2015, wonach er monatlich im Regelfall zwei Dienste mit einer Dauer von wenigstens zehn Stunden absolvierte und dementsprechend im Regelfall monatliche Vergütungen von zumindest 600,00 EUR erzielte. Anhaltspunkte dafür, dass ab September 2015 diesbezüglich eine relevante Änderung eingetreten ist, sind nicht ersichtlich. Entsprechendes behauptet auch die Klägerin nicht.96 Auch die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV sind nicht erfüllt. Der zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen geschlossene Vertrag enthält keinerlei Regelung, die den Einsatz des Beigeladenen für die Klägerin innerhalb eines Kalenderjahres auf längstens zwei Monate oder 50 Arbeitstage begrenzte. Auch aus der Eigenart der Tätigkeit ergibt sich keine solche Begrenzung.97 Eine unständige, in der Arbeitslosenversicherung versicherungsfreie Tätigkeit nach § 27 Abs. 3 Nr. 1 SGB III lag ebenfalls nicht vor. Danach sind versicherungsfrei Personen in einer unständigen Beschäftigung, die sie berufsmäßig ausüben (Satz 1). Unständig ist eine Beschäftigung, die auf weniger als eine Woche der Natur der Sache nach beschränkt zu sein pflegt oder im Voraus durch Arbeitsvertrag beschränkt ist (Satz 2). Eine solche Beschränkung auf weniger als eine Woche ist nicht vereinbart. Der zwischen den Beteiligten geschlossene Vertrag enthält keine entsprechende Regelung. Auch aus der Natur der Sache ergab sich bei fehlender Absehbarkeit von Häufigkeit und Dauer der Einsätze eine zwingende Begrenzung auf unter eine Woche nicht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Beigeladene tatsächlich nur ca. zweimal monatlich eine Dienstschicht übernahm.98 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 155 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Da nur die Beklagte Berufung eingelegt hat und sie nicht zu den in § 183 SGG genannten Personen gehört, finden im Berufungsverfahren nach § 197a SGG die VwGO und das Gerichtskostengesetz (GKG) Anwendung. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht zu erstatten, da er keinen Antrag gestellt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).99 5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.100 6. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 2, § 47 GKG endgültig festgesetzt. Die Höhe des Streitwerts entspricht dem Auffangstreitwert von 5.000,00 EUR, da bislang lediglich über das Bestehen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses und die hieraus folgende Sozialversicherungspflicht entschieden wurde, aber noch keine Gesamtsozialversicherungsbeiträge festgesetzt wurden. | {
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Tenor
Der Antrag der Staatsanwaltschaft Frankenthal (Pfalz) vom 23. September 2020 wird z u r ü c k g e w i e s e n .
Gründe
I.
1
Dem Beschuldigten wird zur Last gelegt am 19.09.2020 gegen 01.40 Uhr und wenige Minuten zuvor in der ...straße … in Ludwigshafen am Rhein die anzeigenden Polizeibeamten PK D…, PK P…, PK T… und PK D… mit seinem sichergestellten Smartphone Marke Samsung (Farbe schwarz) während eines Einsatzes gefilmt zu haben. Die Staatsanwaltschaft Frankenthal (Pfalz) sieht darin den objektiven Tatbestand der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes gemäß § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB als erfüllt an und beantragte die Beschlagnahme des Smartphones sowie eines Pfeffer-KO FOG Spray der Firma F.W.Klever GmbH gemäß § 98 Abs. 2 StPO richterlich zu bestätigen und deren Einziehung als Tatmittel anzuordnen.
II.
2
Dem Antrag der Staatsanwaltschaft ist nicht zu entsprechen, da es bereits am Tatbestandsmerkmal einer „nichtöffentlichen Äußerung“ fehlt.
3
Zunächst ist zu berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht (NVwZ 2016, 53, 54 m.w.N.) zuvor entschieden hat, dass das bloße Anfertigen von Lichtbildern und Videoaufnahmen von Polizeieinsätzen durch Demonstranten ohne das Hinzutreten besonderer Umstände nicht die konkrete Gefahr einer späteren Veröffentlichung entgegen § 33 i.V. m. § 22, 23 KUG begründe, weil diese Aufnahmen auch dem Zweck der Beweissicherung für etwaige Rechtsstreitigkeiten dienen könnten. Soweit nunmehr das Vorliegen des objektiven Tatbestandes gemäß § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB angenommen wird, so ist zunächst vom geschützten Rechtsgut des § 201 StGB auszugehen, das eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz darstellt und zwar in Form des Rechts auf eine Vertrauenssphäre des Menschen, in der die Unbefangenheit der menschlichen Kommunikation gesichert werden soll. Jedermann darf danach grundsätzlich selbst und allein bestimmen, wer sein Wort aufnehmen soll sowie ob und vor wem seine auf einen Tonträger aufgenommene Stimme wieder abgespielt werden darf. Schon aus dieser Betrachtung des Schutzgutes des § 201 StGB wird deutlich, welche Fälle der Straftatbestand vor Augen hat und das es einen Unterschied machen muss, ob jemand ein privates Telefongespräch bzw. ein persönliches Gespräch zwischen zwei Personen in einem umschlossenen Raum aufnimmt oder jemand per Handykamera dienstliche Anweisungen von Polizeibeamten im Rahmen eines Polizeieinsatzes etwa bei Demonstrationen oder ähnlichem filmt.
4
Unter das Tatbestandsmerkmal des „gesprochenen Wortes“ fällt jede unmittelbare, akustisch wahrnehmbare Äußerung von Gedankeninhalten mittels Lautzeichen. Auf den (sinnvollen) Inhalt der Gedankenäußerung kommt es hierbei nicht an, auch eine Vertraulichkeit -, ein Geheimnischarakter oder die private Äußerung ist nicht gefordert.
5
Danach erfasst der Straftatbestand des § 201 StGB zwar auch dienstliche Äußerungen von Amtsträgern. Ein Amtsträger muss es sich grundsätzlich nicht gefallen lassen, dass in dienstlicher Eigenschaft gemachte Äußerungen mitgeschnitten werden.
6
Die Bagatellklausel des § 201 Abs. 2 Satz 2 StGB gilt hingegen nur für § 201 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB, nicht aber für den - hier alleine in Betracht kommenden - Tatbestand des § 201 Nr. 1 StGB. Eine dienstliche Ansprache eines Polizeibeamten dürfte unproblematisch dem Begriff „des gesprochenen Wortes“ im Sinne des § 201 StGB unterfallen. Zweifelhaft ist indes, ob überhaupt eine „nichtöffentliche“ Äußerung des betreffenden Polizeibeamten vorliegt, die den Schutz des § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB verdient. Eine nichtöffentliche Äußerung liegt nach herrschender Auffassung dann vor, wenn diese nicht für einen größeren, nach Zahl und Individualität unbestimmten oder nicht durch persönliche oder sachliche Beziehungen miteinander verbundenen Personenkreis bestimmt oder unmittelbar verstehbar ist. Die Heimlichkeit der Aufnahme ist nicht gefordert, so dass auch eine mit Wissen des Betroffenen aber gegen seinen Willen gefertigte Aufnahme ausreicht. Insbesondere kommt es hiernach nicht allein auf den Willen des Betroffenen an, sondern auch auf die objektiven Umstände der Äußerung. Bestehen daher bei Gesprächen Mithörmöglichkeiten Dritter, kann insbesondere eine „faktische Öffentlichkeit“ bestehen, die regelmäßig auf öffentlichen Plätzen zu bejahen ist. Nach dem Vorgenannten ist eine dienstliche Äußerung eines Polizeibeamten gegenüber einer Person im Rahmen eines Einsatzes unter freiem Himmel regelmäßig keine „nichtöffentliche“ Äußerung. Dabei kann insbesondere bereits nicht sichergestellt werden, dass eine Äußerung des Polizeibeamten durch Dritte -umstehende Teilnehmer oder Passanten- wahrgenommen wird. Dieser Umstand sollte dem Polizeibeamten ohne weiteres erkennbar sein, so dass ein etwaiges Vertrauen auf die Unbefangenheit der dienstlichen Kommunikation nach dem Schutzzweck des § 201 StGB nicht geschützt zu werden braucht. Darüber hinaus ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu berücksichtigen, dass für den Tatbestand des § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB die allgemeinen Rechtfertigungsgründe der §§ 32, 34 StGB eingreifen (h.M.).
7
Auch aus diesem Gesichtspunkt heraus ist im Hinblick auf das grundgesetzlich gebotene rechtsstaatliche Vorgehen und Verhalten der Polizei die Anfertigung von Ton- und Filmaufnahmen zur Transparenz und effektiven öffentlichen Kontrolle polizeilichen Handelns unerlässlich und damit regelmäßig gerechtfertigt.
8
Der Antrag der Staatsanwaltschaft war insoweit daher zurückzuweisen (vgl. hierzu Richter am Landgericht Dr. David Ullenboom “Das Filmen von Polizeieinsätzen als Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes?“ NJW 2019, 3108; Myriam-Sophie Wyderka „Darf man Polizisten (mit Tonaufnahme) filmen?“ ZD-Aktuell 2019, 06823; Prof. Dr. Fredrik Roggan „Zur Strafbarkeit des Filmens von Polizeieinsätzen - Überlegung zur Auslegung des Tatbestandes von § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB“, LSK 2020, 17805403; LG Kassel, Beschluss vom 23.09.2019 - 2 Qs 111/19 - jeweils m.w.N.).
9
Soweit die Staatsanwaltschaft Frankenthal (Pfalz) den Verdacht des Verstoßes gegen § 52 Abs. 3 Nr. 1 WaffG in Verbindung mit Anlage 2 Abschnitt 1 Nr. 1.3.5. hinsichtlich des mitgeführten Pfeffer-KO FOG Sprays der Firma F.W.Klever GmbH bejaht, so ist nach dem Feststellungsbescheid des BKA So11-5164.01-Z-50 (Bundesanzeiger AT Nr. 175 vom 18.11.2008) (Anlage) dieses als Tierabwehrspray nicht unter das Waffengesetz zu subsumieren.
10
Der Antrag ist daher zurückzuweisen.
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 31.1.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1Gründe:
2Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
31. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs zuzulassen, § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG in Verbindung mit § 138 Nr. 3 VwGO.
4Die Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO besteht darin, jedem Verfahrensbeteiligten die Gelegenheit zu geben, sich zu dem gesamten Stoff des gerichtlichen Verfahrens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern. Für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung stattfindet, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör vor allem das Recht des Beteiligten auf Äußerung in dieser Verhandlung. Inwieweit diese Gelegenheit wahrgenommen wird, ist Sache des Beteiligten. Durch seine prozessuale Mitverantwortung wird der Anspruch auf rechtliches Gehör begrenzt.
5Vgl. BVerwG, Urteil vom 7.6.2017 – 5 C 5.17 D u. a. –, juris, Rn. 8, m. w. N; OVG NRW, Beschluss vom 21.9.2020 ‒ 4 A 798/20.A ‒, juris, Rn. 3 f., m. w. N.
6Es liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, wenn die Partei es unterlässt, Gebrauch von den ihr verfahrensrechtlich gebotenen Möglichkeiten zu machen, sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
7Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3.9.2020 – 4 A 2461/19 –, juris, Rn. 21 f., m. w. N.
8Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Gerichte sind aber nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Gründen ausdrücklich zu befassen. Aus Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich auch keine Pflicht eines Gerichts, der von der Partei vertretenen Rechtsauffassung zu folgen. Nur wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen ergibt, dass das Gericht aus seiner Sicht erhebliche, zum Kern des Beteiligtenvorbringens gehörende Gesichtspunkte nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen hat, ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
9Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23.7.2020 – 4 A 2430/19.A –, juris, Rn. 15 f., m. w. N.
10Ebenso wenig begründet das Recht auf rechtliches Gehör eine Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt. Eine gerichtliche Hinweispflicht – zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung – besteht nur dann, wenn auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht mit einer bestimmten Bewertung seines Sachvortrags durch das Verwaltungsgericht zu rechnen braucht.
11Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.1.2010 – 5 B 21.09 u. a. –, Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 61 = juris, Rn. 18, m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 8.7.2020 – 4 A 3425/19.A –, juris, Rn. 4 f., m. w. N.
12Ausgehend hiervon liegt ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör durch eine unzulässige Überraschungsentscheidung nicht vor. Angesichts des bisherigen Prozessverlaufs musste der Kläger damit rechnen, dass das Verwaltungsgericht ihn zu seiner erstmals im Klageverfahren geltend gemachten Homosexualität in der mündlichen Verhandlung befragen und dabei etwaige Widersprüche gegenüber seinem bisherigen Vorbringen im Klageverfahren anders würdigen werde, als er dies erwartet haben mag.
13Sein genereller Einwand, das Protokoll der mündlichen Verhandlung sei in mehrfacher Hinsicht unrichtig bzw. unvollständig, führt nicht auf einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör. Soweit er das Protokoll für unvollständig hält, war ein Antrag auf Protokollergänzung nach § 105 VwGO in Verbindung mit § 160 Abs. 4 ZPO bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zu stellen, was nicht geschehen ist. Ebenso wenig hat der Kläger die nunmehr vorgetragene Unrichtigkeit des Protokolls in dem dafür maßgeblichen Verfahren der Protokollberichtigung nach § 105 VwGO in Verbindung mit § 164 ZPO geltend gemacht. Hätte der Kläger zusätzlich weitere Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal oder aber Beweisangebote aufnehmen lassen wollen, hätte er dies im Rahmen der Verhandlung geltend machen können und müssen. Dass er in der mündlichen Verhandlung nicht anwaltlich vertreten erschienen ist, entlastet ihn nicht. Ihm stand es frei, sich von seiner Prozessbevollmächtigten, die nicht verhindert war, im Termin zur mündlichen Verhandlung begleiten zu lassen, wenn er sich selbst den Vortrag des für ihn maßgeblichen Verfolgungsschicksals oder aber das entsprechende prozessuale Vorgehen ohne anwaltliche Begleitung nicht zugetraut hätte.
14Zu den das rechtliche Gehör betreffenden Einwänden im Einzelnen:
15Entgegen der Ansicht des Klägers hat das Verwaltungsgericht bei seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung ihm gegenüber keinen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen, dass sein Vortrag genüge. Eine derartige Bemerkung ist ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung nicht, auch nicht sinngemäß gefallen. Der protokollierte Satz "Die Anhörung des Klägers wurde sodann beendet." beinhaltet keinen wie auch immer gearteten Hinweis auf ein Befragungsergebnis.
16Gleiches gilt für den Einwand des Klägers, er habe durch Vorlage von Lichtbildern, Benennung mehrerer von ihm besuchter Clubs und Angabe von Zeuginnen Beweis für seine Homosexualität angeboten. Auch insofern lässt sich weder eine Lichtbildvorlage noch ein entsprechendes Vorbringen dem Protokoll entnehmen. Hinsichtlich der Zeuginnen fällt vielmehr auf, dass diese im Protokoll nur mit Vornamen benannt werden, so dass schon mangels Angabe der vollständigen Namen und Adressen ein Beweisangebot nicht in Rede gestanden haben kann. Die Angabe mehrerer von ihm besuchter und konkret benannter Clubs, in denen sich Homosexuelle treffen, steht in Widerspruch zu seinem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung. Dort hatte er lediglich ausgeführt, mit den beiden Frauen einmal in einem Club tanzen gewesen zu sein. Es sei für ihn allerdings nicht einfach, in Clubs zu kommen, weil sein Ausweis dort nicht immer akzeptiert würde. Hätte der angeblich mehrfache Clubbesuch, wie nunmehr im Zulassungsvorbringen geschildert, eine derart erhebliche Bedeutung für ihn gehabt, so hätte er hierzu konkretere Angaben in der mündlichen Verhandlung machen können und müssen.
17Fehl geht auch der Einwand, das Verwaltungsgericht habe entscheidungserheblichen Vortrag des Klägers übergangen. Soweit dies die Angaben des Klägers zu sexuellen Kontakten in Pakistan betrifft, so hat das Verwaltungsgericht diese im Tatbestand des angegriffenen Urteils ausdrücklich erwähnt (Urteilsabdruck, Seite 3, erster Absatz). Soweit dies seine Angabe betrifft, er habe in Deutschland bereits im Flüchtlingsheim jemanden kennengelernt und werde nach der Verhandlung zu jemandem in Bielefeld fahren, hat das Verwaltungsgericht diese Angaben im Tatbestand mit dem Satz "Seit dem Jahre 2019 lebe er sie (seine Sexualität, Ergänzung durch den Senat) öffentlich aus." (Urteilsabdruck, Seite 3, erster Absatz) ebenfalls angesprochen. Insoweit hat das Verwaltungsgericht auch den Vortrag des Klägers im Rahmen seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht falsch wiedergegeben. Es hat nachvollziehbar einen Widerspruch darin gesehen, dass der Kläger schriftsätzlich vorgetragen hatte, seine sexuellen Neigungen in Pakistan nicht ausgelebt zu haben, während er in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, es sei auch in Pakistan schon zu sexuellen Kontakten mit anderen Männern gekommen (Urteilsabdruck, Seite 9, zweiter Absatz). Auch wenn schriftsätzlich von einem öffentlichen Ausleben die Rede war, ändert dies nichts daran, dass sexuelle Kontakte zu anderen Männern noch nicht erwähnt worden waren. Im Gegenteil war vor der Verhandlung ausdrücklich mitgeteilt worden, der Kläger habe zunächst seine sexuelle Orientierung geleugnet und auch später noch nicht akzeptiert, als er bereits heimliche Beziehungen mit Männern geführt habe (Schriftsatz vom 30.12.2019, Seite 2, zweiter Absatz).
18Ein Gehörsverstoß ergibt sich auch nicht aus einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gegeben, seine behauptete Homosexualität glaubhaft darzulegen, und mehrere Nachfragen gestellt. Ungeachtet dessen begründete selbst ein hier nicht erkennbarer Aufklärungsmangel grundsätzlich – so auch hier – weder einen Gehörsverstoß noch gehört er zu den sonstigen Verfahrensmängeln im Sinne der § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, § 138 VwGO. Dies gilt auch insoweit, als der gerichtlichen Aufklärungspflicht, was hier nicht der Fall ist, verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt.
19Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.11.2019 – 4 A 1995/19.A –, juris, Rn. 9 f., m. w. N.
20Letztlich erschöpfen sich die Einwände des Klägers gegen den Eindruck des Verwaltungsgerichts, er habe nicht die Überzeugung vermitteln können, das er homosexuell sei, der Sache nach in Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, die dem sachlichen Recht zuzurechnen ist und von vornherein nicht die Zulassung der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG rechtfertigt.
21Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 1.2.2010 – 10 B 21.09 u. a. –, juris, Rn. 13, und vom 2.11.1995 – 9 B 710.94 –, NVwZ-RR 1996, 359 = juris, Rn. 5.
222. Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
23Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- bzw. Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
24Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19.2.2018 – 4 A 547/16.A –, juris, Rn. 16 ff., m. w. N.
25Diesen Anforderungen genügt die Antragsbegründung nicht. Die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,
26ob homosexuellen Flüchtlingen aus Pakistan im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland wegen ihrer sexuellen Orientierung flüchtlings- oder abschiebungsrechtlich relevante Gefahren drohen,
27rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung. Der Kläger legt bereits nicht schlüssig dar, inwieweit sich diese Fragestellung in einem Berufungsverfahren entscheidungserheblich stellen könnte. Denn seine Ausführungen gehen zu Unrecht davon aus, dass das Verwaltungsgericht seine Angaben zu seiner Homosexualität angesichts der aufgezeigten Mängel bei seiner Befragung als glaubhaft hätte werten müssen. Tatsächlich beschränkte sich die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts nicht lediglich auf das Aufzeigen von Ungereimtheiten bei der Schilderung des Klägers. Neben diesen Ungereimtheiten hat das Verwaltungsgericht auch maßgeblich berücksichtigt, dass die Schilderung des Klägers insgesamt wenig spontan, im Übrigen sprunghaft und diffus gewesen sei (Urteilsabdruck, Seite 8, zweiter Absatz); das Verwaltungsgericht habe den Eindruck gewonnen, das der Kläger zu überzeugendem Vortrag jenseits des zentralen Handlungsgerüstes nicht in der Lage gewesen sei (Urteilsabdruck, Seite 10, erster Absatz). Darüber hinaus hat es maßgeblich berücksichtigt, dass der Kläger in seiner Anhörung beim Bundesamt noch überhaupt nichts zu seiner sexuellen Orientierung vorgetragen hat, obwohl er mit der dortigen Schilderung eines sexuellen Missbrauchs durch die Mudschaheddin bereits intimste Geschehnisse preisgegeben hatte (Urteilsabdruck, Seite 9, vorletzter Absatz). Gegen diese Wertungen hat der Kläger keine durchgreifenden Zulassungsgründe benannt.
28Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
29Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
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Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt die Zulassung zu einer erneuten Wiederholungsprüfung im praktischen Prüfungsteil der Abschlussprüfung in der Gesundheits- und Krankenpflege.
2
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
3
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gefahren zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Dies ist dann der Fall, wenn aufgrund einer im Verfahren des Eilrechtsschutzes lediglich vorzunehmenden summarischen Prüfung ein Anordnungsgrund, also ein Grund für die erhöhte Eilbedürftigkeit der Entscheidung, besteht und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Bestehen eines Anordnungs-anspruchs glaubhaft gemacht wird (vgl. § 920 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 123 Abs. 3 VwGO).
4
Die Bewertung der in Rede stehenden praktischen Wiederholungsprüfung der Antragstellerin am 25. und 26. Februar 2020 ist nach der im vorliegenden Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht zu beanstanden. Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
5
Rechtsgrundlage für die praktische Prüfung ist § 15 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) vom 10. November 2013 (BGBl. I S. 2263) in ihrer zum Zeitpunkt der Prüfung geltenden Fassung, die sie durch Gesetz vom 18. April 2016 (BGBl. I S. 886) erhalten hat. Obwohl die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege durch Verordnung vom 2. Oktober 2018 zum 31. Dezember 2019 außer Kraft getreten ist, ist sie gemäß § 61 Abs. 1 der Pflegeberufe-Ausbildungs- und -Prüfungsverordnung vom 2. Oktober 2018 (BGBl. I S. 1572) noch für Ausbildungen anzuwenden, die - wie vorliegend - vor Ablauf des 31. Dezember 2019 begonnen wurden.
6
Nach § 15 Abs. 1 KrPflAPrV erstreckt sich der praktische Teil der Prüfung auf die Pflege einer Patientengruppe von höchstens vier Patientinnen oder Patienten. Der Prüfling übernimmt in dem Fachgebiet seines Differenzierungsbereichs, in dem er zur Zeit der Prüfung an der praktischen Ausbildung teilnimmt, alle anfallenden Aufgaben einer prozessorientierten Pflege einschließlich der Dokumentation und Übergabe. In einem Prüfungsgespräch hat der Prüfling sein Pflegehandeln zu erläutern und zu begründen sowie die Prüfungssituation zu reflektieren. Dabei hat er nachzuweisen, dass er in der Lage ist, die während der Ausbildung erworbenen Kompetenzen in der beruflichen Praxis anzuwenden sowie befähigt ist, die Aufgabe in der Gesundheits- und Krankenpflege gemäß § 3 Abs. 1 des Krankenpflegegesetzes eigenverantwortlich auszuführen. Gemäß § 15 Abs. 2 KrPflAPrV erfolgt die Auswahl der Patientinnen oder Patienten sowie die Auswahl des Fachgebiets, in dem die praktische Prüfung durchgeführt wird, durch eine Fachprüferin oder einen Fachprüfer nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a im Einvernehmen mit der Patientin oder dem Patienten oder dem für die Patientin oder den Patienten verantwortlichen Fachpersonal. Die praktische Prüfung soll für den einzelnen Prüfling in der Regel in sechs Stunden abgeschlossen sein und kann auf zwei aufeinander folgende Tage verteilt werden. Der praktische Teil der Prüfung wird nach § 15 Abs. 3 KrPflAPrV von mindestens einer Fachprüferin oder einem Fachprüfer nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a und einer Fachprüferin oder einem Fachprüfer nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 abgenommen und benotet. Aus den Noten der Fachprüferinnen und Fachprüder bildet der oder die Vorsitzende des Prüfungsausschusses im Benehmen mit den Fachprüferinnen oder Fachprüfern die Prüfungsnote für den praktischen Teil der Prüfung. Der praktische Teil der Prüfung ist bestanden, wenn die Prüfungsnote mindestens „ausreichend“ beträgt.
7
Zu berücksichtigende Mängel der Prüfung sind nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung nicht glaubhaft gemacht. Die nicht ordnungsgemäße Besetzung der Prüfungskommission führt nicht zu einem durchgreifenden Prüfungsmangel (1.). Die von der Antragstellerin gerügten Verfahrensfehler der praktischen Wiederholungsprüfung greifen ebenfalls nicht durch (2.). Fehler in der Bewertung der Prüfung durch die Prüferinnen sind nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden (3.).
8
1. Die Bewertung der Prüfung mit der Note „mangelhaft“ ist nicht deshalb rechtswidrig, weil die Prüfungskommission nicht ordnungsgemäß besetzt war. Zwar steht die hier maßgebliche Bestimmung in § 15 Abs. 3 Satz 1 KrPflAPrV mit verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in Einklang. Denn danach ist erforderlich, dass die konkrete Zahl der Prüfer der rechtssatzmäßigen Festlegung in der Prüfungsordnung bedarf. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 10. April 2019 (Az. 6 C 19.18, juris, Rn. 15 ff.; vgl. zum Urteil auch Tegethoff, jurisPR-BVerwG 24/2019 Anm. 2) hierzu ausgeführt:
9
„Die Zahl der Prüfer betrifft nicht nur das Prüfungsverfahren, indem sie die Größe der gegenüber dem Prüfling auftretenden Prüfungskommission bestimmt. Sie gewährleistet vor allem zur Verwirklichung des prüfungsrechtlichen Grundsatzes der Chancengleichheit so weit wie möglich gleiche Erfolgschancen für alle Prüfungsteilnehmer, weil sie die Grundlage für die endgültige Bewertung der Prüfungsleistung beeinflusst. Eine Kollegialprüfung bietet gegenüber der Prüfung durch einen einzelnen Prüfer eine erhöhte Richtigkeitsgewähr für die zu treffende Bewertungsentscheidung. Dies liegt in der Natur der Bewertungsentscheidung des Prüfers. Der jeweilige Prüfer nimmt die Bewertung anhand von Maßstäben vor, die er in Bezug auf die konkrete Prüfungsaufgabe autonom erstellt. Sie beruhen auf einem Bezugssystem, das vor allem durch seine persönlichen Erfahrungen, Einschätzungen und Vorstellungen gebildet wird. Diese Maßstäbe muss der Prüfer aus Gründen der Chancengleichheit auf die Bewertung aller Bearbeitungen derselben Prüfungsaufgabe anwenden. Auf ihrer Grundlage trifft er eine Vielzahl fachlicher und prüfungsspezifischer Wertungen; diese Wertungen setzt er nach der Bedeutung, die er ihnen aufgabenbezogen beimisst, in ein Verhältnis zueinander. Aufgrund der Gewichtung der einzelnen Vorzüge und Nachteile der Prüfungsleistung und deren Vergleich mit anderen Bearbeitungen vergibt der Prüfer die Note, d.h. er ordnet die Prüfungsleistung in eine normativ vorgegebene Notenskala ein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991 - 1 BvR 419/81 und 213/83 - BVerfGE 84, 34 <50 ff.>; Kammerbeschluss vom 16. Januar 1995 - 1 BvR 1505/94 - NVwZ 1995, 469 <470>; BVerwG, Beschluss vom 5. März 2018 - 6 B 71.17 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 429 Rn. 8). Wird eine Prüfungsleistung von mehreren Prüfern bewertet, stellt sich die Bewertung der Prüfungsleistung nicht als Ergebnis einer einzelnen Bewertungsentscheidung dar, sondern sie ist das Ergebnis der auf den verschiedenen subjektiven Wertungen und Gewichtungen beruhenden Bewertungsentscheidungen der jeweiligen Prüfer. Durch die Einschaltung mehrerer Prüfer wird das Ergebnis objektiviert, was zugleich Bevorzugungen und Benachteiligung einzelner Prüflinge minimiert (ebenso BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2012 - 6 B 39.12 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 417 Rn. 7 m.w.N.; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 26, 547 ff.). Hängt das Resultat der Prüfung aber maßgeblich von der gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Ausübung des Beurteilungsspielraums durch den jeweiligen Prüfer ab, dann ist die Anzahl der Prüfer wesentlich für das Prüfungsergebnis und muss für alle Teilnehmer einer berufsbezogenen Abschlussprüfung vorab und vorhersehbar festgelegt sein.[…]Angesichts des mit der Bewertung einer den Zugang zu einem Beruf eröffnenden Prüfung verbundenen intensiven Eingriffs in die freie Wahl des Berufs ist den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG und des Art. 3 Abs. 1 GG nur genügt, wenn die Zahl der zu bestellenden Prüfer und das Verfahren der Notenfestsetzung bei Bewertungsdifferenzen zwischen den Prüfern rechtssatzmäßig bestimmt sind. Neben der von Art. 12 Abs. 1 GG geforderten Neutralität und Objektivität des Prüfungsverfahrens kommt hier dem Erfordernis des Grundrechtsschutzes durch Verfahren angesichts der nur eingeschränkten gerichtlichen Kontrolldichte prüfungsspezifischer Wertungen ein hohes Gewicht für den effektiven Grundrechtsschutz zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991 - 1 BvR 419/81 und 213/83 - BVerfGE 84, 34 <45 f.>; BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2012 - 6 B 39.12 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 417 Rn. 5, 7). Daher können solche Regelungen nicht der Verwaltungspraxis überlassen bleiben, sondern sie sind von den zuständigen Normgebern - hier von Hochschulen aufgrund der in § 34 SächsHSG bzw. SächsHSFG enthaltenen Ermächtigung auf der Ebene der Prüfungsordnung - unter Beachtung des Gesetzesvorbehalts des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG rechtssatzmäßig zu erlassen (vgl. unter a)).“
10
Dieser Einschätzung schließt sich die Kammer an.
11
Diese Anforderungen erfüllt § 15 Abs. 3 Satz 1 KrPflAPrV hingegen nicht. Der Bestimmung lässt sich die konkrete Zahl der Prüfer in dem praktischen Prüfungsteil nicht entnehmen. Sie sieht lediglich vor, dass der praktische Teil der Prüfung von mindestens einem Fachprüfer nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a und einem Fachprüfer nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 abgenommen werden. Die Festlegung einer Mindestzahl an Prüfern genügt aber nicht den oben dargestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil eine solche Bestimmung nicht vorab und vorhersehbar die konkrete Anzahl an Prüfern festlegt (vgl. auch zu der vergleichbaren Regelung in § 18 Abs. 3 Satz 1 NotSan-APrV: VGH Mannheim, Urt. v. 05.06.2020 - 9 S 149/20 -, juris, Rn. 32).
12
Aufgrund dieses auf der Ebene der Prüfungsordnung bestehenden Regelungsdefizits ist die Kammer zur Vermeidung einer verfassungsferneren Regelungslücke und zur Wahrung der Berufsfreiheit gehalten, bis zur Herstellung verfassungsgemäßer Zustände durch den Satzungs- bzw. Verordnungsgeber eine Übergangsregelung zu treffen, damit den aus Art. 12 Abs. 1 GG resultierenden Gewährleistungen der Prüflinge Rechnung getragen wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.04.2019 - 6 C 19.18 -, juris, Rn. 20 m.w.N.; VGH Mannheim, Urt. v. 05.06.2020 - 9 S 149/20 -, juris, Rn. 33). Die Übergangsregelung hat sich in sachgerechter Weise an der Praxis der Antragsgegnerin zu orientieren. Mit Schreiben vom 10. August 2020 hat die Antragsgegnerin mitgeteilt, dass die praktischen Prüfungen - wie sich bereits aus dem Protokollvordruck für die praktische Prüfung ergibt - immer von zwei Fachprüfern abgenommen werden, so dass die Vorgehensweise im streitgegenständlichen Fall ihrer ständigen Praxis entspricht. Entsprechend dieser ständigen Praxis sind die praktischen Prüfungen übergangsweise bis zum Erlass einer verfassungsgemäßen Bestimmung (weiterhin) durch zwei Fachprüfer abzunehmen und zu bewerten.
13
2. Die praktische Wiederholungsprüfung der Antragstellerin am 25. und 26. Februar 2020 litt nicht an berücksichtigungsfähigen Verfahrensfehlern.
14
Die von der Antragstellerin gerügte fehlende Aussagekraft des Protokolls der Prüfung stellt für sich genommen keinen Verfahrensfehler dar, der eine Wiederholung der Prüfung rechtfertigen könnte. Die Pflicht zur Anfertigung einer Niederschrift, aus der Gegenstand, Ablauf und Ergebnisse der Prüfung und etwa vorkommende Unregelmäßigkeiten hervorgehen, folgt aus § 6 KrPflAPrV. Der Antragstellerin ist zuzugestehen, dass sich aus dem Protokoll, das unmittelbar nach der Prüfung erstellt wurde, kaum die konkreten Fehler erkennen lassen, die zum Nichtbestehen der Prüfung führten. Dies erstaunt umso mehr, als in den ergänzenden Stellungnahmen der Prüferinnen eine Reihe konkreter Handlungen der Antragstellerin geschildert werden, die die Notengebung rechtfertigen sollten. Zudem würde es zwar die Nachvollziehbarkeit der Bewertung deutlich fördern, wenn das Protokoll für die verschiedenen zu erbringenden Prüfungsleistungen Einzelnoten enthielte - dies ist jedoch rechtlich nicht erforderlich. Die Bewertung der Prüfungsleistungen erfolgt auf der Grundlage des tatsächlichen Prüfungsgeschehens und nicht anhand des Prüfungsprotokolls, weshalb der bloße Mangel des Protokolls keinen selbständigen Einfluss auf das Prüfungsergebnis hat (vgl. VG Berlin, Beschl. v. 18.11.2019 - 12 K 528/18 -, juris, Rn. 13; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 466). Mängel des Protokolls machen deshalb das Ergebnis der Prüfung nicht fehlerhaft, sondern beeinträchtigen nur den Beweis des Prüfungshergangs (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 466). Hinzu kommt, dass sich viele Elemente der praktischen Prüfungsleistung, wie etwa das schnelle Erfassen der konkreten Situation, das Verhalten der Patienten, die verbale und insbesondere auch die nonverbale Kommunikation mit ihnen oder auch die Sicherheit der Aktionen des Prüflings einer vollständigen Protokollierung entziehen (OVG Münster, Urt. v. 16.05.1997 - 19 A 2242/96 -, juris, Rn. 23). Das Ergebnis der Prüfung kann bei einer Mangelhaftigkeit des Protokolls im Überdenkungsverfahren und auch noch im gerichtlichen Verfahren erläutert und konkretisiert werden (VGH München, Beschl. v. 28.08.2012 - 7 ZB 12.467 -, juris, Rn. 4). Zudem hängt der konkrete Inhalt des Anspruchs auf Begründung der Note davon ab, ob der jeweilige Prüfling eine Begründung verlangt, wann er dies tut und mit welchem konkreten Begehren und mit welcher Begründung (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.09.1995 - 6 C 18.93 -, juris, Rn. 22). Spätestens mit den ausführlichen Stellungnahmen der Prüferinnen im Überdenkungs- bzw. Gerichtsverfahren sind die Prüferinnen ihrer Pflicht zur Protokollierung der Prüfung und Begründung der Note somit nachgekommen. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist es auch nicht erforderlich, dass sich aus der Begründung der Prüfungsnote eindeutig ergibt, welcher konkrete Fehler zur Bewertung der Prüfungsleistung mit der Note „mangelhaft“ führte. Denn bei einer praktischen Prüfung ergibt sich die Note maßgeblich aus dem Gesamteindruck, den die Prüferinnen von dem Prüfling gewinnen. Wegen der bereits erwähnten Komplexität der praktischen Prüfungsleistung in der Gesundheits- und Krankenpflege kann nicht jedes Element einzeln beurteilt werden und mit dem Hinweis versehen werden, ob die konkrete Verhaltensweise zum Nichtbestehen der Prüfung führt oder nicht.
15
Die Rüge der Antragstellerin, sie sei durch ein demonstratives Stöhnen, Umdrehen oder Kopfhochhalten seitens der Prüferinnen verunsichert worden und habe deshalb den Hintergrund von Fragen hinterfragt bzw. Fangfragen vermutet, greift nicht durch. Die Antragstellerin hat selbst lediglich eine Vermutung ihrerseits vorgetragen, keine Tatsachen oder Erfahrungen, welche Anlass für diese Vermutung bieten könnten. Es ist außerdem nicht ersichtlich, dass die vorgetragenen Reaktionen der Prüferinnen eine Intensität erreicht hätten, bei der ggf. von einem Verfahrensfehler in Form des Verstoßes gegen das Fairnessgebot ausgegangen werden könnte. Die Prüferinnen haben übereinstimmend klargestellt, dass sie inhaltliche Nachfragen gestellt hätten, hinter denen die Antragstellerin jedoch Fangfragen vermutet habe. Hieraus hätten sie auf eine Verunsicherung der Antragstellerin schließen können. Ein Verfahrensfehler, der im Übrigen von der Antragstellerin zu beweisen wäre (vgl. VG Berlin, Beschl. v. 18.11.2019 - 12 K 528/18 -, juris, Rn. 16), ist hier nicht zu sehen. Denn sowohl kritische Nachfragen als auch wertende Reaktionen auf Antworten stellen nicht per se Verfahrensfehler dar, sondern sind als Teil einer Prüfung zulässig. Gerade bei einer praktischen Prüfung zur Krankenpflegerin, einem Beruf, in dem eine gewisse Stressresistenz und ein verantwortungsvoller Umgang mit unvorhergesehenen, auch lebensgefährlichen Ereignissen erforderlich ist, kann die Reaktion eines Prüflings auf die Prüfungssituation und auf kritische und unvorhergesehene Fragen der Prüfer mitbewertet werden.
16
Soweit die Antragstellerin zur Begründung ihres Antrags auf Durchführung einer Wiederholungsprüfung vorträgt, dass sie Prüfungsangst habe und sie deshalb Prüfungserleichterungen hätte bekommen müssen, dass die Patientengruppe aufgrund von drei dementen Patientinnen ungewöhnlich anspruchsvoll gewesen sei, dass die Prüferinnen sich innerhalb der Pause über hohe Durchfallquoten bei universitären Prüfungen unterhalten und sie dadurch verunsichert hätten, dass das Gespräch zur Reflexion nicht ordnungsgemäß durchgeführt, sondern frühzeitig durch die Prüferinnen abgebrochen worden sei, sowie dass die Note bereits vor Beginn des Reflexionsgesprächs zwischen den Prüferinnen und der Antragsgegnerin abgesprochen worden sei, liegt eine Verletzung der Obliegenheit zur unverzüglichen Rüge eventueller Mängel des Prüfungsverfahrens vor, weshalb diese nicht mehr zu berücksichtigen sind.
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Ein Prüfling muss Mängel des Prüfungsverfahrens grundsätzlich unverzüglich rügen, auch wenn dies normativ nicht bestimmt ist. Insoweit obliegt ihm eine Mitwirkungspflicht. Der Anspruch des Prüflings auf Beseitigung des Mangels und dessen Folgen erlischt somit, wenn der Prüfling trotz Kenntnis des Fehlers die ihm zumutbare Rüge unterlässt und sich auf das fehlerhafte Prüfungsverfahren einlässt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.04.2017 - 5 B 9/16 -, juris, Rn. 60; OVG Lüneburg, Urt. v. 08.06.2011 - 8 LB 199/99 -, juris, Rn. 36). Zum einen soll verhindert werden, dass der betroffene Prüfling, indem er in Kenntnis des Verfahrensmangels zunächst die Prüfung fortsetzt und das Prüfungsergebnis abwartet, sich mit einer späteren Rüge eine zusätzliche Prüfungschance verschafft, die ihm im Verhältnis zu den anderen Prüflingen nicht zusteht und ihnen gegenüber das Gebot der Chancengleichheit verletzen würde. Zum anderen soll der Prüfungsbehörde eine eigene zeitnahe Überprüfung mit dem Ziel einer schnellstmöglichen Aufklärung und gegebenenfalls noch rechtzeitigen Behebung oder zumindest Kompensation des Mangels ermöglicht werden, um auch hierdurch die Chancengleichheit mit den anderen Prüflingen zu wahren (VGH Mannheim, Urt. v. 26.06.2019 - 9 S 1209/18 -, juris, Rn. 24 m.w.N.). Für die Entscheidung darüber, ob eine Rüge „unverzüglich“ (d.h. ohne schuldhaftes Zögern) erhoben worden ist, kommt es auch darauf an, ob und ab welchem Zeitpunkt es dem Prüfling in der Prüfungssituation zugemutet werden kann, auf den ihm bekannten Verfahrensfehler hinzuweisen. Dies hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.04.2017 - 5 B 9/16 -, juris, Rn. 60; OVG Lüneburg, Urt. v. 08.06.2011 - 8 LB 199/99 -, juris, Rn. 36). Dabei muss berücksichtigt werden, dass insbesondere bei mündlichen Prüfungen - wozu im weiteren Sinne auch praktische Prüfungen zu zählen sind - die Rügepflicht unter Anwendung der Zumutbarkeit differenziert zu sehen ist, da es für den Prüfling insbesondere in einer kritischen Situation, in der er sich auf die Prüfung konzentrieren muss, unzumutbar sein kann, Prüfungsfehler zu rügen und sich dadurch ggf. der Gefahr auszusetzen, das Verhältnis zu den ihn prüfenden Personen zu belasten und dadurch seine nervliche Belastung zusätzlich zu erhöhen (OVG Bautzen, Urt. v. 25.10.2016 - 2 A 308/15 -, juris, Rn. 16).
18
Die Antragstellerin hat vorliegend in Anwendung dieser Grundsätze die o.g. Rügen nicht rechtzeitig erhoben.
19
Hinsichtlich der vorgetragenen und fachärztlich bescheinigten eingeschränkten Leistungsfähigkeit in Prüfungssituationen wäre es notwendig und zumutbar gewesen, dies bereits im Vorfeld der Prüfung mitzuteilen, um ggf. eine diesen Einschränkungen angemessenere Prüfungssituation herzustellen. Indem die Antragstellerin diese Einschränkungen aber weder im Umfeld ihres ersten Prüfungsversuchs noch vor der Wiederholungsprüfung gegenüber der Antragsgegnerin mitteilte, wurde dieser die Möglichkeit genommen, hierauf zu reagieren. Eine Geltendmachung gesundheitlicher Einschränkungen erst nach der nicht erfolgreich durchgeführten Prüfung widerspricht hingegen dem Grundsatz von Treu und Glauben sowie dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, weshalb die Rüge insoweit nicht durchgreift.
20
Gleiches gilt für die Zusammenstellung der zu versorgenden Patientengruppe. Auch hier wäre es der Antragstellerin zumutbar gewesen, bereits vor Beginn der Prüfung auf diesen aus ihrer Sicht vorliegenden Mangel hinzuweisen und diesen zu rügen. Die Patientinnen, die während der praktischen Prüfung zu versorgen waren, waren der Antragstellerin jedenfalls am Tag vor der Prüfung bereits bekannt und sie hatte sich bereits in der Vorbereitung auf die Prüfung mit diesen und ihren Erkrankungen auseinandergesetzt, weshalb es ihr möglich und zumutbar gewesen wäre, im Vorfeld der Prüfung auf diesen Umstand hinzuweisen.
21
Auch für die Rüge, dass die Prüferinnen sich während der Pause über Durchfallquoten an Universitäten unterhielten und sie dadurch verunsichert hätten, gilt, dass diese verspätet erhoben wurde, da es der Antragstellerin zumutbar gewesen wäre, dies unmittelbar geltend zu machen, spätestens jedenfalls direkt im Anschluss an die Prüfung nach der Bekanntgabe des Ergebnisses. Denn zu diesem Zeitpunkt ist eine Auswirkung der Rüge auf das Ergebnis ausgeschlossen (vgl. hierzu auch OVG Bautzen, Urt. v. 25.10.2016 - 2 A 308/15 -, juris, Rn. 24), weshalb die Antragstellerin, sofern sie sich durch die von ihr wahrgenommene Pausenunterhaltung beeinträchtigt fühlte, die Obliegenheit gehabt hätte, dies nach der Prüfung anzusprechen und zu rügen. Unabhängig davon hat die Antragstellerin selbst vorgetragen, dass es sich lediglich um ein Pausengespräch zwischen den Prüferinnen handelte. Diesem hätte sich die Antragstellerin, sofern es zu einer Verunsicherung führte, durch die Herstellung einer räumlichen Distanz entziehen können.
22
Sofern das Reflexionsgespräch, wie von der Antragstellerin vorgetragen, durch die Prüferinnen gegen ihren Willen abgebrochen worden sein sollte, hätte sie dies ebenfalls spätestens im direkten Anschluss an die Prüfung rügen müssen. Es wäre der Antragstellerin zuzumuten gewesen, nach Abschluss der Prüfung und Bekanntgabe des Ergebnisses darauf hinzuweisen, zumal ihr nach eigenem Vorbringen bekannt war, dass das Reflexionsgespräch ein wesentlicher Teil der Prüfung ist.
23
Diese Einschätzung gilt ebenfalls für die Rüge, es habe eine Absprache der Note zwischen den Prüferinnen und der Antragsgegnerin bereits vor Durchführung des Reflexionsgesprächs gegeben. Unabhängig davon, dass ausweislich eines sich in den Verwaltungsvorgängen befindlichen Telefonvermerks vom 26. Februar 2020 erst um 11.40 Uhr und somit nach dem für 11 Uhr protokollierten Ende der Prüfung ein Telefonat zwischen den Prüferinnen und der Antragsgegnerin stattfand, wäre es der Antragstellerin zumutbar gewesen, im Anschluss an die Verkündung des Ergebnisses zu rügen, dass dieses aus ihrer Sicht bereits vor der Durchführung des Reflexionsgesprächs feststand und sogar schon mit der Antragsgegnerin besprochen wurde. Im unmittelbaren Anschluss an die Prüfung hätte dies einerseits keinen Einfluss mehr auf das Ergebnis haben können, andererseits wäre aber eine schnellstmögliche Aufklärung über die konkreten Abläufe kurzfristig möglich gewesen. Zumindest wäre es aber zumutbar gewesen, diese Vermutung unmittelbar nach dem Ende der Prüfung der Antragsgegnerin mitzuteilen, um eine Klärung zu ermöglichen.
24
Das gilt auch, soweit die Antragstellerin konkrete Verhaltensweisen der Prüferinnen während der Prüfung rügt, die sie verunsichert hätten (demonstratives Stöhnen, Umdrehen oder Kopfhochhalten, direkte Eingriffe durch die Prüferinnen, Hinterfragen des Sinns einer Handlung). Es wäre ihr ebenfalls zumutbar gewesen, diese Verhaltensweisen unmittelbar nach der Prüfung bzw. nach der Bekanntgabe der Noten zu rügen.
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3. Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Bewertung der Leistung in der praktischen Wiederholungsprüfung am 25. und 26. Februar 2020 fehlerhaft war. Die Benotung lässt nach summarischer Prüfung durchgreifende Rechtsmängel nicht erkennen.
26
Die Bewertung von Prüfungsleistungen unterliegt einer nur eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 17.04.1991 - 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 - juris, Rn. 49 ff.) und des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 24.02.1993 - 6 C 32.92 -, NVwZ 1993, 689; Urt. v. 24.02.1993 - 6 C 35.92 -, NVwZ 1993, 681, jeweils zitiert nach juris) ist bei berufsbezogenen Prüfungen - wie hier der Prüfung in der Gesundheits- und Krankenpflege - zu unterscheiden zwischen Fachfragen und prüfungsspezifischen Wertungen. Bei Fachfragen hat das Gericht darüber zu befinden, ob die von dem Prüfer als falsch bewertete Lösung im Gegenteil richtig oder mit der vorgenommenen Begründung jedenfalls vertretbar ist. Lässt die Prüfungsfrage unterschiedliche Ansichten zu, ist dem Prüfer ein Bewertungsspielraum eingeräumt. Dem Prüfling muss dann aber ein angemessener Antwortspielraum zugestanden werden. Unter Fachfragen sind alle Fragen zu verstehen, die einer fachwissenschaftlichen Erörterung zugänglich sind. Dagegen steht den Prüfern ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Bewertungsspielraum zu, soweit sie prüfungsspezifische Wertungen treffen müssen. Dem liegt das Gebot der vergleichenden Beurteilung von Prüfungsleistungen zugrunde, das letztlich aus dem das Prüfungsrecht beherrschenden Grundsatz der Chancengleichheit herzuleiten ist. Prüfer müssen bei ihrem wertenden Urteil von Einschätzungen und Erfahrungen ausgehen, die sie im Laufe ihrer Examenspraxis bei vergleichbaren Prüfungen entwickelt haben. Prüfungsnoten dürfen daher nicht isoliert gesehen werden. Ihre Festsetzung erfolgt in einem Bezugssystem, das von den persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Prüfer beeinflusst wird. Die komplexen Erwägungen, die einer Prüfungsentscheidung zugrunde liegen, lassen sich nicht regelhaft erfassen. Eine gerichtliche Kontrolle würde insoweit die Maßstäbe verzerren. Denn in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren eines einzelnen Kandidaten könnte das Gericht die Bewertungskriterien, die für die Gesamtheit vergleichbarer Prüfungskandidaten maßgebend waren, nicht aufdecken, um sie auf eine nur in Umrissen rekonstruierbare Prüfungssituation anzuwenden. Es müsste eigene Bewertungskriterien entwickeln und an die Stelle derjenigen der Prüfer setzen. Dies wäre mit dem Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar, weil einzelne Kandidaten so die Möglichkeit einer vom Vergleichsrahmen der Prüfer unabhängigen Bewertung erhielten (zum Vorstehenden insgesamt BVerfG, Beschl. v. 17.04.1991 - 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 -, juris, Rn. 52 f.; VG Lüneburg, Beschl. v. 29.07.2015 - 6 B 41/15 -, juris, Rn. 17).
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Soweit den Prüfern danach im Hinblick auf prüfungsspezifische Wertungen ein Bewertungsspielraum verbleibt, sind die Verwaltungsgerichte darauf beschränkt nachzuprüfen, ob der Prüfer die Prüfungsleistung vollständig und richtig zur Kenntnis genommen hat, sachwidrige Erwägungen in die Bewertung hat einfließen lassen, seine autonomen Bewertungsmaßstäbe einheitlich angewandt und allgemeingültige Bewertungsgrundsätze beachtet hat. Schließlich müssen die prüfungsspezifischen Wertungen und Gewichtungen nachvollziehbar sein; sie dürfen insbesondere keine inhaltlichen Widersprüche enthalten (BVerwG, Beschl. v. 05.03.2018 - 6 B 71.17 -, juris, Rn. 10). Zu diesen prüfungsspezifischen Fragen, die der Letztentscheidungskompetenz der Prüfer überlassen bleiben, gehören insbesondere die Benotung, die Gewichtung verschiedener Aufgaben untereinander, die Einordnung des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung und die Würdigung der Qualität der Darstellung (BVerwG, Beschl. v. 17.12.1997 - 6 B 55.97 -, juris; VGH Mannheim, Urt. v. 05.06.2020 - 9 S 149/20 -, juris, Rn. 24; VG Lüneburg, Beschl. v. 29.07.2015 - 6 B 41/15 -, juris, Rn. 18). Eine dem Prüfer vorbehaltene prüfungsspezifische Wertung ist auch, ob im Hinblick auf eine entsprechend definierte Notenstufe oder zugeordnete Punktzahl eine Prüfungsleitung als „brauchbar“ zu bewerten ist (BVerwG, Beschl. v. 28.06.2018 - 2 B 57.17 -, juris, Rn. 8). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es bei einer Prüfung praktischer Kenntnisse und Fertigkeiten - wie vorliegend - noch mehr auf den unmittelbaren Eindruck vom Prüfungsgeschehen ankommt als bei einer mündlichen Prüfung (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 21.09.2005 - 9 S 473/05 -, juris, Rn. 5). Im Rahmen einer praktischen Prüfung in der Gesundheits- und Krankenpflege handelt es sich bei der Bewertung einzelner Kompetenzen des Prüflings nicht um Fachfragen, sondern um prüfungsspezifische Wertungen, weshalb ein Spielraum der Fachprüfer dahingehend besteht, ob sie die Pflegemaßnahmen, die Übergabe, den Einsatz von Arbeitsmitteln und die Kommunikation im Hinblick auf die einzelnen Kompetenzen - fachlich, methodisch, sozial und personal - besser oder schlechter einschätzen (vgl. VG Braunschweig, Urt. v. 31.05.2012 - 1 A 26/12 -, V.n.b.). Bei einer praktischen Prüfung kommt hinzu, dass bereits die Einschätzung der eigentlich dem Sachverhalt zuzurechnenden Tatsachen als prüfungsspezifische Wertungen dem Beurteilungsspielraum der Fachprüfer, die Erfahrungen als Prüfer sowie in der beruflichen Praxis haben, unterfallen können, wenn es zugleich um deren Bewertung im Hinblick auf die vom Prüfling zu erbringenden Handlungen und Reaktionen geht, da insoweit nicht von einer reinen fachwissenschaftlichen Beurteilung ausgegangen werden kann (vgl. zu den Abgrenzungsschwierigkeiten Niehues/Fischer/Jeremies, a.a.O., Rn. 883).
28
In Anwendung dieser Grundsätze hat die Antragstellerin keine der gerichtlichen Kontrolle unterliegenden Bewertungsfehler glaubhaft gemacht.
29
Die Antragstellerin trägt vor, dass die Vorstellung der Patientinnen entgegen der Ansicht der Prüferinnen umfassend und ordnungsgemäß gewesen sei, was sich auch aus der entsprechenden schriftlichen Ausarbeitung ergebe. Ein Prüfungsmangel ist aber nach Auffassung der Kammer nicht glaubhaft gemacht. Den Prüferinnen kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu, der nicht überschritten ist. Vielmehr haben die Prüferinnen ausführlich erläutert, dass die mündliche Vorstellung und Übergabe, insbesondere der Nebenpatientinnen, unstrukturiert und lückenhaft war und auf Nachfragen nicht hinreichend geantwortet werden konnte. Es ist für die Kammer nicht ersichtlich, dass die Prüferinnen insoweit sachwidrige Erwägungen anstellten oder die Prüfungsleistung falsch oder lückenhaft zur Kenntnis nahmen. Entscheidend ist bei der Bewertung die mündliche Leistung, nicht die zuvor angefertigte schriftliche Ausarbeitung, weshalb die Qualität dieser Ausarbeitung nicht geeignet ist, die Rechtmäßigkeit der Bewertung der Prüferinnen in Frage zu stellen. Ob die Antragstellerin bei der Vorstellung das Alter der Patientinnen nannte, dürfte sich im Nachhinein nicht endgültig aufklären lassen. Unabhängig davon, dass dieses Detail nicht kausal für die Benotung der praktischen Prüfung gewesen sein dürfte, ist das Vorliegen eines Bewertungsfehlers von der Antragstellerin zu beweisen. Da dies im Hauptsacheverfahren voraussichtlich nicht gelingen wird, ist ein Mangel in der Bewertung insoweit nicht glaubhaft gemacht.
30
Die Rüge der Antragstellerin, die Vorbereitung der Medikation sei durch die Prüferinnen falsch bewertet worden, greift ebenfalls nicht durch. Der den Prüferinnen insoweit zustehende Beurteilungsspielraum wurde nicht verletzt. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist ein Mangel der Bewertung nicht ersichtlich im Hinblick darauf, dass eine neu verordnete Tablette nicht bereitgestellt wurde und von ihr zunächst organisiert werden musste. Dieser Punkt ist ausweislich der Stellungsnahmen der Prüferinnen auch nicht als mangelhaft bewertet worden, da ihr die Lösung des Problems mit Hilfestellung durch die Prüferinnen letztlich gelang. Die Prüferinnen gingen insoweit nicht von einem falschen Sachverhalt aus. Es obliegt aber dem Beurteilungsspielraum der Prüferinnen, die Vorbereitung der Medikation durch die Antragstellerin zu bewerten und dabei zu berücksichtigen, inwieweit sie auf Nachfragen zu den Nebenwirkungen der Medikamente - auch der Medikamente für die Nebenpatientinnen - antworten konnte und wie viel Zeit die Tätigkeit in Anspruch nahm. Vom Gericht zu berücksichtigende Bewertungsfehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist, wie oben bereits ausgeführt, auch unerheblich, ob die schriftliche Ausarbeitung zu Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente korrekt war, da es dem Bewertungsspielraum der Prüferinnen unterliegt, bei der praktischen Prüfung vorrangig den (schriftlich vorbereiteten) mündlichen Vortrag für ihre Bewertung zu berücksichtigen. Auch stellt es weder einen Bewertungsfehler noch einen Verfahrensfehler dar, wenn die Prüferinnen Nachfragen „provokanter“ formulieren, wie es die Antragstellerin hinsichtlich der Nachfrage nach den Nebenwirkungen geschildert hat.
31
Soweit sich die Rügen der Antragstellerin auf die Bewertung ihres Erstkontakts mit den Patientinnen, die Vitalzeichenkontrolle und die Mobilisation beziehen, sind durchgreifende Mängel der Bewertung ebenfalls nicht glaubhaft gemacht.
32
Dies gilt zunächst hinsichtlich der zwischen der Antragstellerin und den Prüferinnen strittigen Frage, ob der Wagen mit den Medikamenten ordnungsgemäß abgestellt war. Dabei unterfällt es dem Beurteilungsspielraum der fachkundigen und erfahrenen Prüferinnen zu bewerten, in welcher Form auf der konkreten Station die Medikamente gegen Wegnahme durch andere Patienten gesichert sein müssen. Eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums ist vorliegend nicht ersichtlich. Insbesondere auf einer Station mit dementen Patienten erscheint es nachvollziehbar, von einer Pflegekraft zu erwarten, einen Wagen mit Medikamenten nicht unbeaufsichtigt auf dem Flur stehen zu lassen, um eine Gefährdung anderer Patienten auszuschließen. Dabei obliegt es der Einschätzung der Prüferinnen und nicht des Prüflings, ob es zum Schutz der Patienten genügt, dass der auf dem Flur abgestellte Wagen aus dem Blickwinkel des Prüflings heraus sichtbar ist.
33
Dem Kritikpunkt der Prüferinnen, dass die Antragstellerin insgesamt unstrukturiert arbeitete, ist nicht substantiiert entgegengetreten worden. Beurteilungsfehler sind insoweit nicht ersichtlich.
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Die Rüge der Antragstellerin, die von ihr durchgeführten Delegationen einzelner Aufgaben seien unzutreffend negativ bewertet worden, greift ebenfalls nicht durch. So haben die Prüferinnen klargestellt, dass nicht die Delegation von Aufgaben insgesamt als kritikwürdig angesehen wurde, diese vielmehr gestattet war. Soweit die Prüferinnen aber kritisieren, dass die Antragstellerin die ordnungsgemäße Erfüllung der delegierten Aufgaben hätte überwachen und kontrollieren müssen, unterfällt dies dem Beurteilungsspielraum der Prüferinnen, der hier nicht überschritten ist. Es sind keine Fehler ersichtlich, die der Kontrolle durch das Gericht unterfallen, insbesondere ist nicht dargelegt, dass sich die Antragstellerin bei den Personen, denen sie die Aufgaben zugewiesen hatte, anschließend erkundigte, ob alle Tätigkeiten erfolgreich durchgeführt wurden und wie sich beispielsweise die Nahrungsaufnahme der Nebenpatientinnen gestaltete. Dies gilt auch für das Anfertigen der Trinkprotokolle im Anschluss an das an eine Hilfskraft und eine auszubildende Pflegekraft delegierte Frühstück der Nebenpatientinnen. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Prüferinnen davon ausgingen, die Antragstellerin habe die Pflicht zur Dokumentation in ihrer Verantwortung gehabt und hätte in dem Fall einer Delegation die Dokumentation dieser Tätigkeit ebenfalls delegieren bzw. überwachen müssen.
35
Hinsichtlich der umstrittenen Frage, ob die Antragstellerin vergaß, der Hauptpatientin Augentropfen zu verabreichen, wie es von den Prüferinnen bemängelt wurde, ist festzustellen, dass diese ausweislich des im vorliegenden Verfahren vorgelegten Verlaufsbericht bereits um 6 Uhr, also vor Beginn der Prüfung verabreicht wurden. Somit gingen die Prüferinnen bei der Bewertung der Prüfung insoweit von einem unrichtigen Sachverhalt aus. Allerdings wurde im Verfahren klargestellt, dass in einem solchen Fall, in dem Medikamente bereits im Vorfeld der Prüfung verabreicht wurden, im Rahmen der Patientenvorstellung zu Beginn der Prüfung bzw. bei der Vorstellung der Medikation hierauf hinzuweisen wäre. Dass die Antragstellerin dies tat, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Im Ergebnis ist hierin kein Fehler in der Bewertung zu sehen, da es der Antragstellerin oblegen hätte, den Prüferinnen durch eine ordnungsgemäße Mitteilung im Rahmen des Berichts über die zu verabreichenden Medikament in die Lage zu versetzen, den Sachverhalt richtig bewerten zu können.
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Ein Fehler ist auch nicht ersichtlich hinsichtlich der Einschätzung der Prüferinnen zu den mangelhaften Leistungen der Antragstellerin bei der Mundpflege der Hauptpatientin. Auch hier sind keine durchgreifenden Bewertungsmängel glaubhaft gemacht. Selbst wenn die Hauptpatientin vor dem Einsetzen der Zahnprothese - angedicktes - Wasser getrunken haben sollte, wie von der Antragstellerin vorgetragen, unterfällt es dem Beurteilungsspielraum der fachlich erfahrenen Prüferinnen, ob dies für ein Anfeuchten des Mundraums genügt. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die Prüferinnen davon ausgingen, es bedürfe eines Anfeuchtens mit Wasser, zumal eine notwendige fachgerechte Mundpflege durch die Antragstellerin unterlassen wurde. Die gegenteilige Eintragung in dem Verlaufsbericht, nach der die Patientin zur Mundpflege angeleitet und die Zahnprothesenpflege vollständig übernommen worden sei, führt nicht zu einer anderen Bewertung, da diese Eintragung von der Antragstellerin selbst vorgenommen wurden. Die Antragstellerin hat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes aber selbst ausgeführt, dass die unterlassene Mundpflege und das unterlassene Putzen der Zahnprothese im Rahmen der abschließenden Reflexion erwähnt werden sollten. Dies zeigt, dass die insoweitigen Eintragungen in dem Verlaufsbericht durch die Antragstellerin offenbar fehlerhaft vorgenommen wurden.
37
Es ist ferner nicht glaubhaft gemacht, dass die Prüferinnen von einem fehlerhaften Sachverhalt ausgingen, soweit sie die fehlende Kontrolle des Inkontinenzmaterials der Hauptpatientin monierten. Zwar hat die Antragstellerin vorgetragen, dass nach ihrer Wahrnehmung das Inkontinenzmaterial weder mit Stuhl noch mit Urin verunreinigt war. Zudem hätten zuvor bereits Physiotherapeuten mit der Patientin gearbeitet, was sie bei verschmutztem Inkontinenzmaterial nicht gemacht hätten. Darüber hinaus sei die Patientin um 6 Uhr von ihr und den Nachtschwestern frisch gemacht worden, außerdem habe die Patientin am Vortag ein Abführmittel erhalten und um 19.35 Uhr massiv abgeführt, weshalb es nicht möglich sei, dass sie weniger als 12 Stunden später erneut abgeführt habe. Diese Ausführungen sind aber nicht geeignet, die Darstellung der Prüferinnen hinreichend zu widerlegen. Die Fachprüferinnen haben übereinstimmend und detailliert in ihren ergänzenden Stellungnahmen ausgeführt, welche Wahrnehmungen sie in der Prüfung machten. Zunächst ist kein Grund ersichtlich, weshalb die Prüferinnen in kollusivem Zusammenwirken eine Verschmutzung des Inkontinenzmaterials erfinden sollten, zumal sie die Note der praktischen Prüfung aufgrund ihres Bewertungsspielraums auch ohne diesen Punkt hätten begründen können. Die Argumente der Antragstellerin sind auch nicht geeignet, die geschilderte Wahrnehmung der Prüferinnen zu widerlegen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Physiotherapeuten vor der Arbeit mit der Patientin das Inkontinenzmaterial prüften. Denn dies gehört zu den Aufgaben der Pflegekräfte. Es ergibt sich auch nicht aus dem vorgelegten Verlaufsbericht, dass die Hauptpatientin um 6 Uhr frisch gemacht wurde. Dieser Dokumentation ist lediglich zu entnehmen, dass am 25. Februar 2020 um 13 Uhr sowie am 26. Februar 2020 um 22 Uhr das Inkontinenzmaterial nach Ausscheidung gewechselt und eine entsprechende Körperpflege durchgeführt wurde. Zudem ergibt sich aus den unter der Überschrift „Berichte“ folgenden Ausführungen, dass die Patientin am 25. Februar 2020 um 22.43 Uhr eingenässt hatte und die Schutzhose gewechselt wurde. Der nächste entsprechende Eintrag folgt erst am 26. Februar 2020 um 15.17 Uhr. Somit lässt sich dem vorgelegten Verlaufsbericht weder entnehmen, dass die Patientin um 6 Uhr am 26. Februar 2020 frisch gemacht und dabei das Inkontinenzmaterial gewechselt wurde, noch ob und wenn ja welche Ausscheidungen im Rahmen der Pflege durch die Antragstellerin während der Prüfung beseitigt wurden. Auch aus dem Eintrag der Antragstellerin in dem Verlaufsbericht, dass sie am 26. Februar 2020 um 9.46 Uhr die Stuhlausscheidung überwacht habe, ergibt sich nichts anderes. Hieraus lässt sich nicht entnehmen, wann diese Überwachung tatsächlich erfolgte, ob es eine Stuhlausscheidung gab und was die Antragstellerin konkret machte. Die bloße Gabe eines Abführmittels und ein massives Abführen am Vorabend kann ebenfalls keine durchgreifenden Zweifel an der Darstellung der Prüferinnen begründen, da für die Kammer nicht ersichtlich ist, dass am Vorabend der Prüfung eine vollständige Entleerung des Darms erfolgte und deshalb kein weiterer Stuhlgang möglich war. Die bloße Dokumentation im Verlaufsbericht, dass die nächste Stuhlausscheidung erst am 26. Februar 2020 um 13.26 Uhr und somit nach der Prüfung erfolgte, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Es ist für die Kammer nicht ersichtlich, ob die Protokollierung der Ausscheidungen vollständig erfolgte, zumal diese für den Zeitraum der Prüfung vermutlich von der Antragstellerin vorzunehmen gewesen wäre. Eine Glaubhaftmachung dahingehend, dass das Inkontinenzmaterial nicht verschmutzt war, ist in dem Vorbringen der Antragstellerin somit nicht zu sehen. Das Vorliegen eines Fehlers im Sachverhalt wäre ferner von der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren zu beweisen; dieser Beweis dürfte angesichts der bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes fehlenden Glaubhaftmachung nicht gelingen. Darüber hinaus unterliegt die Einschätzung, ob ein Wechsel des Inkontinenzmaterials notwendig war oder nicht, dem Einschätzungsspielraum der Prüferinnen.
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Gleiches gilt für die Dekubitusprophylaxe. Soweit die Antragstellerin vorträgt, die Hauptpatientin habe kein Druckgeschwür gehabt, sondern lediglich eine leicht rötliche Verfärbung der Haut, die sich habe wegdrücken lassen, folgt hieraus kein Bewertungsfehler. Die Einschätzung der Notwendigkeit einer Dekubitusprophylaxe und der Anfertigung eines Wundprotokolls fällt in den Beurteilungsspielraum der fachlich erfahrenen Prüferinnen. Eine vom Gericht überprüfbare Überschreitung dieses Beurteilungsspielraums ist nicht erkennbar. Insbesondere kann der Einschätzung nicht der Vermerk in dem Verlaufsbericht entgegengehalten werden, in dem festgehalten wurde, das Gesäß sei rötlich, bläulich verfärbt, was sich wegdrücken lasse. Denn diese Eintragung stammt von der Antragstellerin selbst, wodurch sich die Einschätzung der Prüferinnen, es habe einer Dekubitusprophylaxe bedurft, nicht widerlegen lässt. Hieraus ergibt sich, anders als im Verfahren vorgetragen, nicht lediglich eine leichte rötliche Verfärbung, sondern vielmehr eine rötliche, bläuliche Verfärbung, was gegen eine lediglich leichte Reizung der Haut sprechen könnte. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Vermerk in dem Verlaufsbericht vom 27. Februar 2020, in dem um 9.01 Uhr festgehalten wurde, die Haut sei intakt. Es lässt sich im Nachhinein nicht nachvollziehen, aus welchem Grund sich am Folgetag keine Verfärbung feststellen ließ, eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums indiziert dieser Vermerk jedoch nicht.
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Ein Bewertungsfehler der Prüferinnen ist ferner nicht glaubhaft gemacht, soweit sich die Antragstellerin gegen die Bewertung der von ihr durchgeführten Vitalzeichenkontrolle wendet. Die Prüferinnen bemängelten in ihrem Prüfungsprotokoll vom 26. Februar 2020 insbesondere, dass die Handlungsketten im Zusammenhang der Vitalwertermittlung nicht geschlossen gewesen seien und bei der Pulskontrolle von einer völlig fehlenden Methodenkompetenz zu sprechen sei. Bei der Einschätzung der fehlenden Methodenkompetenz handelt es sich um eine Fachfrage, die voll gerichtlich überprüfbar ist. Es besteht Einigkeit, dass die Antragstellerin den Puls mit Zeige- und Mittelfinger am Handgelenk für 60 Sekunden maß. Die Antragstellerin hält dies für regelgerecht. Die Fachprüferinnen haben indes übereinstimmend vorgetragen, dass eine Pulsmessung, insbesondere bei älteren Patienten, mit drei Fingern zu erfolgen habe. Die Antragstellerin hat ihre abweichende Einschätzung jedoch nicht glaubhaft gemacht. Im Rahmen der summarischen Prüfung im Eilverfahren ist es der Kammer nicht möglich, eigene Nachforschungen zu medizinischen Fachfragen anzustellen, weshalb es für eine Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs erforderlich gewesen wäre, unter Vorlage von Nachweisen in der Literatur die fachliche Vertretbarkeit der von der Antragstellerin durchgeführten Pulskontrolle darzulegen. Dies ist vorliegend nicht erfolgt.
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Die Methodenkompetenz beim Fieber- und Blutdruckmessen fällt jedoch, ebenso wie der Gesamteindruck, den die Prüferinnen in diesem Prüfungsabschnitt gewannen, in den Beurteilungsspielraum der Prüferinnen, der nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar ist. Dies folgt daraus, dass es nicht um die Frage geht, wie eine Behandlung fachlich korrekt durchzuführen ist, was eine Fachfrage wäre, sondern ob die Antragstellerin diese tatsächlich in der konkreten Prüfung ordnungsgemäß durchführte und wie die Durchführung im Verhältnis zu anderen Prüflingen zu bewerten war. Mängel in der Bewertung sind aber nicht glaubhaft gemacht. Der Vortrag, die Antragstellerin habe zuvor Probleme beim Fiebermessen gehabt und deshalb besonders auf ein fachgerechtes Messen geachtet, ist nicht geeignet, die Bewertung der Prüferinnen in Zweifel zu ziehen. Denn auch wenn der Antragstellerin bewusst gewesen sein sollte, wie fachlich korrekt die Körpertemperatur im Ohr zu messen ist, belegt dies nicht, dass sie dies in der konkreten Prüfungssituation tatsächlich fachlich korrekt durchführte. Gleiches gilt für das Messen des Blutdrucks. Auch hier obliegt es dem Beurteilungsspielraum der Prüferinnen zu bewerten, ob dies ordnungsgemäß erfolgte oder, nachdem eine Nebenpatientin zuvor ihr Bett bereits verlassen hatte und somit eine Messung des Blutdrucks im Ruhezustand unmöglich war, eine spätere Nachmessung erforderlich gewesen wäre. Ein Überschreiten des Beurteilungsspielraums ist hier ebenso wenig ersichtlich wie hinsichtlich des Gesamteindrucks der Prüferinnen von der Vitalzeichenkontrolle, dass die Antragstellerin nicht mit geschlossenen Handlungsketten arbeitete und somit unnötige Wege auf sich nahm mit der Gefahr, einzelne Kontrollen zu vergessen.
41
Die Kritik der Antragstellerin, die Prüferinnen seien fälschlicherweise davon ausgegangen, sie habe die erhöhte Temperatur von 37,4°C bei einer Nebenpatientin nicht erkannt, greift ebenfalls nicht. Es obliegt dem Bewertungsspielraum der Prüferinnen einzuschätzen, inwieweit eine von der Norm abweichende Körpertemperatur einer weiteren Beachtung bedarf oder kommentarlos in die Patientendokumentation eingetragen werden kann. Hier erscheint es nicht fehlerhaft, wenn die Prüferinnen davon ausgehen, die Antragstellerin hätte dies hervorheben oder zumindest begründen müssen.
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Soweit sich die Rügen der Antragstellerin auf den Bereich der Körperpflege bzw. der Mobilisation der Patientin beziehen, sind ebenfalls keine Mängel der Bewertung glaubhaft gemacht.
43
Die Kritik der Prüferinnen, die Antragstellerin habe trotz eines sichtbaren Fußpilzes mit nur einem Waschlappen zunächst die Füße und danach die Beine gewaschen, überschreitet nicht den Beurteilungsspielraum der Prüferinnen. Auch wenn die Antragstellerin vorgetragen hat, ein Fußpilz sei ihr nicht erinnerlich und ergäbe sich auch nicht aus der Patientendokumentation, zudem habe sie nach dem Waschen der Füße das Wasser gewechselt, ist nicht glaubhaft gemacht, dass die Prüferinnen von einem falschen Sachverhalt ausgingen oder sich nicht an allgemein gültige Bewertungskriterien hielten. Denn das Fehlen der Diagnose Fußpilz in der Patientendokumentation belegt nicht, dass es keinen Fußpilz gab. Die Patientin war aufgrund zahlreicher anderer Leiden in Behandlung, weshalb unklar ist, ob ein möglicherweise vorhandener Fußpilz Eingang in die Dokumentation gefunden hätte. Darüber hinaus überschreitet es nicht den Beurteilungsspielraum der Prüferinnen, wenn diese von einem Prüfling erwarten, selbst bei einem nur vorhandenen Verdacht oder Hinweis auf Fußpilz nicht nur das Wasser zu wechseln, sondern auch die Schüssel zu desinfizieren.
44
Die Bewertung des Verhaltens der Antragstellerin hinsichtlich der Mobilisation der Patientin überschreitet ebenfalls nicht den Beurteilungsspielraum der Prüferinnen. Es obliegt zunächst der Einschätzung der Prüferinnen, aufgrund ihrer fachlichen Erfahrung und ihrer Erfahrung aus Prüfungen zu bewerten, wie sich die Antragstellerin gegenüber der Hauptpatientin verhielt und ob ihr Vorgehen angemessen war. Das Vorbringen der Antragstellerin, die Patientin sei in den Tagen zuvor auch bei entsprechender Körperhaltung in den Stuhl mobilisiert worden und sie habe das Sitzen wieder lernen sollen, führt zu keiner anderen Bewertung. Solche pflegerischen Maßnahmen sind, wie die Prüferinnen ausgeführt haben, in der konkreten Situation zu beurteilen, die vorliegend dadurch geprägt war, dass mit der Patientin zuvor bereits Physiotherapie durchgeführt wurde und sie dadurch nach der Wahrnehmung der Prüferinnen geschwächt war. Entsprechend hätte nach Einschätzung der Prüferinnen, die nicht zu beanstanden ist, die Antragstellerin die Situation neu bewerten und auf eine Mobilisierung verzichten müssen, um nicht die Gefahr eines Sturzes hervorzurufen. Gegen die Beurteilung der Prüferinnen kann auch nicht eingewandt werden, diese hätten einschreiten müssen, wenn die Situation so gewesen wäre, wie von ihnen geschildert. Denn die Prüferinnen haben vorgetragen, dass sie nur bei einer unmittelbaren Gefährdung für Gesundheit oder Leben der Patientin einschreiten, um das Prüfungsergebnis nicht durch vorzeitiges Unterbrechen der Handlungen des Prüflings zu verfälschen. Die Einschätzung, ob eine Mobilisierung angebracht war oder aufgrund einer Überlastung der Patientin in der konkreten Situation nicht erfolgen durfte, obliegt den Prüferinnen aufgrund ihrer fachlichen Expertise. Vom Gericht zu berücksichtigende Bewertungsmängel sind nicht glaubhaft gemacht.
45
Die Einschätzung der Prüferinnen, dass die Dokumentation der durchgeführten pflegerischen Handlungen nicht zeitnah erfolgte, ist nicht zu beanstanden. Aus dem Verlaufsbericht ergibt sich, dass die Antragstellerin die wesentlichen pflegerischen Tätigkeiten ohne Angabe dazu, wann diese tatsächlich durchgeführt wurden, erst um kurz vor 11 Uhr dokumentierte und somit kurz vor Ende der Prüfung. Der aktuelle Gesundheitszustand wurde somit nicht durchgängig festgehalten, weshalb ein Bewertungsfehler nicht glaubhaft gemacht ist.
46
Die Antragstellerin hat Mängel der Bewertung durch die Prüferinnen ebenfalls nicht glaubhaft gemacht, soweit die Prüferinnen die Übergabe an die zuständige Schwester ohne Nutzung der Originaldokumentation bzw. die Informationsweitergabe der von der Antragstellerin festgestellten brodelnden Atmung der Patientin an die Stationsärztin und die Bereichspflegekraft kritisieren. Zwar hat die Antragstellerin vorgetragen, sie habe die Information an die Stationsärztin weitergeben wollen, dies sei aber durch die Prüferinnen verhindert worden. Zudem habe sie die Beobachtung über die brodelnde Atmung der Hauptpatientin der Schwester C. mitgeteilt und es ergebe sich aus dem Verlaufsbericht, dass die Ärzte bei der Visite durch die Pflegekräfte über das Problem informiert gewesen seien. Die Prüferinnen beschreiben übereinstimmend, dass die Antragstellerin die Beobachtung, die Hauptpatientin habe ein brodelndes Atemgeräusch, an die Stationsärztin weitergeben wollte. Dies ist von den Prüferinnen ausweislich ihrer Stellungnahmen nicht grundsätzlich beanstandet worden, sondern vielmehr, dass die Antragstellerin dies unmittelbar und damit als Notfall habe mitteilen wollen. Es ist nicht vorgetragen, dass die Antragstellerin diese Beobachtung zu einem späteren Zeitpunkt der Stationsärztin mitteilte, so dass insoweit nicht glaubhaft gemacht ist, dass die Prüferinnen von einem falschen Sachverhalt ausgingen. Die von der Antragstellerin vorgetragene Weitergabe der Information an Schwester C. mit der Bitte, dies der Ärztin mitzuteilen, wurde von den Prüferinnen ausweislich ihrer Stellungnahmen nicht wahrgenommen, falls es diese Information gab. Dies spricht dafür, dass die Information jedenfalls nicht in einer Art und Weise weitergegeben wurde, die der Bedeutung der Beobachtung gerecht wurde. Insoweit ist der Beurteilungsspielraum, der den Prüferinnen zusteht, nicht überschritten, da sie die Informationsweitergabe aus ihrer vergleichenden Erfahrung als Fachprüferinnen selbständig bewerten können. Das gilt auch für die Kritik hinsichtlich der Übergabe an die zuständige Schwester, diese sei nicht anhand der Originaldokumentation durchgeführt worden, sondern lediglich auf Grundlage handschriftlicher Aufzeichnungen. Die Einschätzung, dass hierdurch die Gefahr bestehe, relevante Informationen nicht weiterzugeben, stößt nicht auf rechtliche Bedenken.
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Soweit die Antragstellerin noch vorträgt, die Einschätzungen der Prüferinnen entsprächen nicht den Beurteilungen, die sich im Rahmen ihrer Ausbildung für ihre pflegerischen Leistungen bekommen habe, führt dies nicht zu einer anderen Bewertung. Denn die Prüferinnen hatten ausschließlich die Leistungen in der praktischen Prüfung zu bewerten. Die zuvor gezeigten Kenntnisse und Fähigkeiten spielen insoweit keine Rolle.
48
Die von der Antragstellerin vorgetragenen Mängel der Prüfungsbewertung sind auch nicht dadurch glaubhaft gemacht, dass sie ihre Angaben eidesstattlich versichert und verschiedene Zeugen benannt hat. Denn es ist bereits auf die einzelnen Rügen bezogen ausgeführt worden, warum nicht von einem durch das Gericht überprüfbaren Bewertungsmangel auszugehen ist, zumal die Ausführungen der Prüferinnen, die ebenfalls als Zeuginnen in einem Hauptsacheverfahren zu hören wären, den unter Beweis gestellten Tatsachen widersprechen, so dass eine Glaubhaftmachung im Eilverfahren hierdurch nicht gelingt.
49
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Ziffer 36.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Eine Halbierung des Streitwerts gemäß Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs wurde nicht vorgenommen, da die Entscheidung in der Hauptsache teilweise vorweggenommen wird.
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Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. Februar 2019 wird zurückgewiesen.Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist die Kostenerstattung und die Versorgung des Klägers mit Medizinal-Cannabisblüten bei einer Tagesdosis von 0,5 g streitig.2 Der 1963 geborene Kläger ist gelernter Schreiner und arbeitete zuletzt (bis 2006) als Staplerfahrer. Seit November 2008 bezieht er Arbeitslosengeld II und ist Mitglied der Beklagten.3 Am 28. Dezember 2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage des von dem behandelnden Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. B. unter dem 22. Dezember 2017 ausgefüllten Arztfragebogens die Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabis. Dr. B. gab an, er wolle wegen eines chronischen therapieresistenten Schmerzsyndroms Cannabisblüten (Handelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g verordnen. Behandlungsziel sei die Mobilisierung und die Schmerzreduktion. Die Erkrankung sei schwerwiegend, zumal ein Schmerzmittelabusus bestehe. Eine Schmerztherapie sei durchgeführt worden. Der Kläger leide aber an therapieresistenten Schmerzen. Der Kläger gab gegenüber der Beklagten weiter an, weitere nicht medikamentöse Behandlungen seien nicht notwendig, da sie nicht zum Erfolg führten. Er habe kein Fahrzeug, so dass die Belastung durch die Termineinhaltung bei jedem Wetter höher sei als der Heilerfolg. Auch habe er seit 1995 Erfahrung mit Cannabis, was ihm sehr gut helfe, die Schmerzen zu lindern. Die Beklagte holte daraufhin das Gutachten des Dr. Sch. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vom 22. Januar 2018 ein, wonach allgemein anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternativen zur Verfügung stünden. Bei chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates stünden folgende Therapiemöglichkeiten zur Verfügung: medikamentöse Therapie, Physiotherapie und psychotherapeutische Behandlung. Im konkreten Fall sei anhand der Unterlagen keine fachärztlich schmerztherapeutische oder aktuelle orthopädische Behandlung sowie seit 2013 keine Anwendung von Heilmitteln belegt. Die Physiotherapie stelle insbesondere bei chronischen Rückenschmerzen einen wesentlichen Bestandteil eines multimodalen Schmerzkonzeptes dar. Bei einem Nichterfolg sei zudem die Indikation für eine Rehabilitation zu prüfen. Hierauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Januar 2018 die Übernahme der Kosten für eine Verordnung von Cannabisblüten ab.4 Mit seinem hiergegen am 2. Februar 2018 eingereichten Widerspruch trug der Kläger vor, seit Jahrzehnten sei Cannabis als Heil- und Schmerzmittel bekannt. Es handle sich um ein natürliches, gut verträgliches Heilmittel. Chemisch hergestellte Schmerzmittel hätten mehr unangenehme und schädliche Nebenwirkungen. Auch habe er noch nie gehört, dass jemand an einer Überdosis Cannabis gestorben sei, im Gegensatz zu manchen Schmerzmitteln, die man ohne Probleme verschrieben bekomme. Auch ihm helfe Cannabis sehr gut und sein Arzt Dr. B. habe es ihm empfohlen. Nur könne er als Arbeitslosengeld-II-Bezieher nicht regelmäßig Blüten kaufen, zumal dies illegal sei. Auch sei dann die Qualität sehr unterschiedlich, was bei einem Bezug durch die Apotheke nicht der Fall sei. Es liege im Interesse der Beklagten, dass er nicht von Schmerzmitteln abhängig werde, die seine Organe schädigten. Sein Rückenleiden habe bereits im Jahr 1979 begonnen, als er mit 16 Jahren in 19 Monaten von 1,62 m um 23 cm auf 1,85 m gewachsen sei. Der vierte Lendenwirbel habe jedoch nicht an Größe zugenommen, so dass damals schon die Behandlungen angefangen hätten. Inzwischen habe er vier Bandscheibenvorfälle gehabt und könne seinen Beruf nicht mehr ausüben. Er habe monatelang im Rollstuhl gesessen und nehme derzeit 24 Tabletten täglich.5 Die Beklagte holte daraufhin das Gutachten des Dr. W. vom MDK vom 23. Mai 2018 ein, der darauf hinwies, dass eine fachärztliche schmerztherapeutische Behandlung zuletzt 2010 stattgefunden habe und der Kläger erstmalig im Februar 2018 bei einem Orthopäden vorstellig gewesen sei. Daher sei kein schmerztherapeutisches, multimodales Behandlungskonzept erkennbar. Schmerz distanzierende Antidepressiva und membranstabilisierende Medikamente seien bislang nicht eingesetzt worden. Es sei nicht ersichtlich, warum diese vielen verschiedenen Therapiemöglichkeiten nicht zur Anwendung kämen. Es bestünden allgemein anerkannte und medizinische Standard entsprechende Therapiealternativen. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2018 gab der Widerspruchsausschuss der Beklagten dem Widerspruch des Klägers nicht statt und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, der Kläger leide zwar an einem chronischen Schmerzsyndrom sowie an orthopädischen Erkrankungen und habe deshalb Anspruch auf Maßnahmen der Krankenbehandlung. Aus den Gutachten des MDK vom 22. Januar und 23. Mai 2018 folge zwar, dass der Kläger an einer schwerwiegenden Krankheit leide und seine Alltagsaktivitäten erheblich eingeschränkt seien. Allerdings seien die Standardtherapien zur Behandlung der Schmerzen und orthopädischen Erkrankungen nicht ausgeschöpft. Wirksame Arzneimittel zur Behandlung der Krankheit stünden zur Anwendung bereit und könnten vom Kläger eingesetzt werden. Es sei eine fachärztliche Mitbehandlung angezeigt, die durch Physiotherapie ergänzt werden könne.6 Hiergegen erhob der Kläger am 6. August 2018 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) und trug zur Begründung im Wesentlichen vor, nach mehrmaliger Rücksprache mit seinem Arzt bestehe kein Grund für eine Ablehnung seines Antrags, da er bereits alle zur Verfügung stehenden medikamentösen und nichtmedikamentösen Mittel einschließlich Schmerztherapie sowie schon zweimal Physiotherapie, Schlingentisch, Stangerbad und Wassergymnastik hinter sich habe. Letztere Anwendungen habe er in Verbindung mit einem Rehabilitationsaufenthalt in der F. Klinik 2009 erhalten. Zu beachten sei, dass er kein Fahrzeug habe, um zu Behandlungen außer Haus zu gelangen. Er müsse mithin alles zu Fuß oder mit Verkehrsmitteln erreichen können. Danach habe er aber mehr Schmerzen als vorher. Deshalb seien ihm ständig neue Termine für Behandlungen nicht zumutbar. Nachdem er alle Fachärzte, Therapeuten sowie Rehabilitationsmaßnahmen „durch habe“, sei er nur noch bei seinem Hausarzt Dr. B. in Behandlung. Zur weiteren Begründung legte der Kläger die ärztliche Bescheinigung des Dr. B. vom 21. Januar 2019 vor, wonach der Kläger aufgrund therapieresistenter Rückenbeschwerden eine massive Analgetikatherapie erhalte. Aufgrund von Leberveränderungen (Zustand nach Alkoholkrankheit) bestünden allerdings nur eingeschränkt Therapiemöglichkeiten. Ein Selbstversuch mit Cannabis sei mehrfach erfolgreich gewesen. Ein Behandlungsversuch mit Cannabis werde empfohlen, um die medikamentöse Therapie zu reduzieren. Beigefügt war ein Arztbrief der Fachärztin für Anästhesie und spezielle Schmerztherapie Dr. C. vom 7. Februar 2019, wonach sich der Kläger am 30. Januar 2019 erstmals vorgestellt habe. Klinisch-anamnestisch bestehe ein qualifiziertes Mixed-Pain-Syndrom im Bereich der Lendenwirbelsäule bei degenerativen Veränderungen und lumbalen Bandscheibenvorfällen mit (klinischem) Verdacht auf intermittierende Wurzelreizkomponente S1 links. Der Untersuchungsbefund sei gegebenenfalls auch mit einer beginnenden Coxarthrose links vereinbar. Psychosozialanamnestisch lägen auch Chronifizierungs-Kofaktoren vor, die die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms begünstigen könnten. Darüber hinaus bestehe eine Sucht-Komorbidität bei aktuellem Über- und Fehlgebrauch von nichtsteroidalen- sowie Opiat-Analgetika der Stufe II. Aufgrund des Chronifizierungsgrades und der Beeinträchtigungen sowie unter Berücksichtigung der Komorbiditäten sei ein multimodales stationäres Vorgehen prinzipiell sinnvoll. Diesbezüglich habe der Kläger aktuell keine Behandlungsmotivation, bzw. möchte Haus und Katze nicht verlassen. Aus schmerztherapeutischer Sicht könnten gegebenenfalls infiltrative Behandlungsversuche, TENS, Heilmittelverordnungen und Akupunktur sinnvoll sein. Aufgrund der frustranen Vorerfahrung und der fehlenden Behandlungsmotivation sei eine Besserung darunter zunächst nicht zu erwarten. Der Einsatz von Cannabis könne insoweit sinnvoll sein, als dass es gelingen könne, den schädlichen Fehlgebrauch des Ibuprofen und der Opiatanalgetika (Stufe II) zu begrenzen. Dies lasse sich gegebenenfalls in einem modernen suchtmedizinischen Behandlungskonzept integrieren. Gegebenenfalls könne im weiteren Verlauf das Problembewusstsein gesteigert und ein Stadium der Absichtsbildung geschaffen werden, z.B. durch Anbindung an einen Suchtmediziner, gegebenenfalls unter Einsatz von Cannabis, da dieser Einsatz weniger schädlich erscheine als der Überkonsum von NSAR und Tilidintropfen.7 Die Beklagte trat der Klage unter Wiederholung ihrer Ausführungen im Widerspruchsbescheid entgegen.8 Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Dr. B. als sachverständigen Zeugen vernommen. Dieser hat ausgeführt (Stellungnahme vom 17. September 2018), er behandle den Kläger seit Januar 2011. Im Vordergrund stehe ein myogenes Wirbelsäulensyndrom bei Bandscheibenvorfall mit rezidivierenden Schmerzzuständen, eine chronische Gastritis, chronische Bronchitis und ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom bei Zustand nach chronischem Alkoholabusus (derzeit Abstinenz). Bezüglich der Rückenschmerzen sei der Kläger im Rahmen einer umfangreichen Schmerztherapie mit Tramal, Tilidin, Tramabian, Ibuprofen und Ortoton behandelt worden. Ferner habe der Kläger auch Injektionen und Infiltrationen sowie physikalische Therapien erhalten. Intensive physikalische Therapien seien früher durchgeführt worden, würden jedoch vom Kläger wegen damaliger Wirkungslosigkeit abgelehnt. Die Anwendung von Cannabisblüten stelle eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bzw. die Symptome dar. Nach Angaben des Klägers sei eine deutliche Verbesserung durch einen Selbstversuch zu erzielen gewesen. Kontraindikationen für die Anwendung von Cannabinoiden lägen nicht vor. Durch die chronischen Schmerzen sei ein Versuch mit Cannabisblüten medizinisch indiziert, um die Symptome positiv zu beeinflussen, starke Analgetika einzusparen sowie der Chronifizierung der Schmerzen entgegenzuwirken. Auf Nachfrage des SG legte Dr. B. den Arztbrief des Neurologen Dr. H. vom 10. März 2018 (Diagnose: Radikulopathie im Lumbosakralbereich beidseits) und des Facharztes für Orthopädie Dr. V. vom 13. Februar 2018 (Diagnose: Chronisches Lumbovertebralsyndrom) vor. Dr. H. gab an, dass die Schmerzen, die der Kläger erlebe, nachvollziehbar und ausgeprägt seien, weshalb medizinisches Cannabis zusätzlich zum bestehenden schmerztherapeutischen Regime anzuraten sei. Er habe dem Kläger zu einer schmerztherapeutischen Behandlung geraten, wobei medizinisches Cannabis aus seiner Sicht zu befürworten sei. Er werde dies aber nicht rezeptieren, da er diesbezüglich über keine Erfahrung verfüge. Dr. V. führte aus, der Kläger sei wegen der Verordnung von Cannabis vorstellig gewesen. Da er aber keinerlei Erfahrung mit Cannabis besitze, sei eine Vorstellung bei einem Schmerztherapeuten erforderlich. Der Kläger habe zudem angegeben, dass er nie eine Operation der Bandscheibenvorfälle gewollt und sich nur einer konservativen Therapie unterzogen habe.9 In der Zwischenzeit besorgte sich der Kläger bei der Schw.-Apotheke in He. am 18. Oktober 2018 auf eigene Kosten unverarbeitete Cannabisblüten (Kassenbon der Schw.-Apotheke vom 18. Oktober 2018; Rechnungsbetrag: 113,05 EUR Cannabisblüten und 2,91 EUR BTM-Gebühr; Bl. 13 der von der Beklagten vorgelegten Ergänzungsverwaltungsakte ). Unter dem „12. November 2018“ verordnete Dr. B. dem Kläger auf einem Privatrezept Cannabisblüten (Bedrocan 5 g), deren Abgabe durch die Schw.-Apotheke am 12. November 2018 quittiert wurde (Bl. 13 EVA).10 Mit Gerichtsbescheid vom 25. Februar 2019 wies das SG die Klage ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, der Kläger habe derzeit keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. Es könne vorliegend offenbleiben, ob der Kläger an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) leide. Denn es komme eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung in Betracht, um die beim Kläger bestehenden Erkrankungen zu therapieren. Aus der Gesetzesbegründung werde ersichtlich, dass Cannabisarzneimittel erst dann zur Anwendung kommen sollten, wenn die durch Studien belegten schulmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten auch unter Berücksichtigung von Nebenwirkungen im Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Krankheit, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eintreten würden, ausgeschöpft worden seien. Damit werde deutlich, dass der Hinweis auf die generell möglichen Nebenwirkungen und deren allgemeine Eintrittswahrscheinlichkeit nicht genüge, um die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V zu erfüllen. Vorliegend ergebe sich aus den Befundunterlagen, dass der Kläger seit 2010 keine schmerztherapeutische oder ausreichende orthopädische Behandlung durchführe, insbesondere keine Physiotherapie, die gerade bei chronischen Rückenschmerzen einen wesentlichen Bestandteil eines multimodalen Schmerzkonzeptes darstelle. Auch die am 30. Januar 2019 erstmals aufgesuchte Schmerztherapeutin Dr. C. habe bestätigt, dass infiltrative Behandlungsversuche, TENS, Heilmittelverordnungen und Akupunktur sinnvoll sein könnten. Diese seien nur aufgrund der fehlenden Behandlungsmotivation des Klägers derzeit wenig erfolgversprechend. Die fehlende Behandlungsmotivation des Klägers, der sein Haus nicht verlassen wolle, könne jedoch nicht zu einem Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimittel führen. Aus der Therapiehoheit des behandelnden Arztes folge kein anderes Ergebnis. Die Beklagte könne sich für ihre abweichende Entscheidung auf die Darlegungen des MDK zu den vorhandenen Standardtherapien stützen.11 Hiergegen richtet sich die am 4. März 2019 beim SG zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegte Berufung des Klägers, mit der er geltend macht, es treffe nicht zu, dass er keine Behandlungsmotivation habe und sein Haus nicht verlassen wolle. In den Jahren 2006 bis 2009 sei er 17-mal im Krankenhaus gewesen und habe entsprechende Behandlungen erhalten. Es seien jedoch weiterhin starke Schmerzen „übrig geblieben“, so dass er auf weitere Versuche verzichten könne. Durch die Einnahme von Cannabis könne er die Dosis der Schmerzmittel reduzieren und seine Leber nicht weiter schädigen. Diese habe er mit Alkohol schon genug kaputtgemacht. Leider könne er sich finanziell Cannabis nicht leisten. Man wolle ihn zu einer viel teureren aber sinnlosen Therapie überreden. Er sei im Jahr 2012 in sechs Monaten 32-mal bei der Physiotherapie gewesen. Diese habe aber nichts gebracht bzw. nur eine kurze Besserung. Bis er wieder zu Hause gewesen sei, seien die Schmerzen jedes Mal wieder da oder sogar noch größer gewesen. Er habe nicht vor, das Ganze zu wiederholen und er sei auch kein „Versuchskaninchen“. Er habe im Übrigen am 11. April 2019 einen Termin im Klinikum St. bei Dr. M. und Dr. Ki. gehabt. Dort habe man zwar Verständnis für sein Anliegen und würde ihm nach Prüfung der Unterlagen jederzeit eine Cannabis-Therapie verschreiben. Doch eine Empfehlung zur Kostenübernahme würde man nicht ausstellen, da Unterlagen über bereits erfolgte Behandlungen, die länger als zehn Jahre zurücklägen, nicht mehr existierten. Aus dem Mitglieds- und Vorerkrankungsverzeichnis der A. U.-B. vom 27. Februar 2019 (Bl. 19-22 der Senatsakte) gehe hervor, wann er welche Behandlungen erhalten habe. Aus der Bescheinigung des Physiotherapeuten Schu. vom 29. März 2019 (Bl. 25 der Senatsakte) gehe hervor, dass er in den Jahren 2012 und 2013 zahlreiche Behandlungstermine gehabt habe.12 Der Kläger beantragt sinngemäß,13 die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. Februar 2019 sowie des Bescheids der Beklagten vom 26. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2018 zu verurteilen, ihm 115,96 EUR wegen der Versorgung mit Cannabisblüten zu erstatten und zukünftig die Kosten für die tägliche Versorgung mit 0,5 g Cannabisblüten nach ärztlicher Verordnung zu übernehmen.14 Die Beklagte beantragt,15 die Berufung zurückzuweisen.16 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und führt unter Wiederholung ihres Vorbringens im Widerspruchsbescheid ergänzend aus, nicht alle Standardtherapiemöglichkeiten seien vom Kläger ausgeschöpft. Übliche Nebenwirkungen einer medikamentösen Therapie seien von ihm hinzunehmen.17 Der Kläger hat am 29. April 2019 (Eingang bei der Beklagten) erneut unter Vorlage eines Arztfragebogens des Dr. B. die Übernahme der Kosten einer Versorgung mit Cannabisblüten bei der Beklagten beantragt (beabsichtigte Verordnung: Tetrahydrocannabinol; Handelsname: Bedrocan oder Tedanios 22/1; Dosis: 1 g pro Tag). Die Beklagte hat daraufhin die Stellungnahme des Dr. W. vom MDK vom 20. Mai 2019 (Bl. 30-32 der Senatsakte) eingeholt und sodann die Versorgung mit Cannabisblüten mit Bescheid vom 24. Mai 2019 abgelehnt, da der MDK die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nicht als erfüllt angesehen habe. Hiergegen hat der Kläger am 11. Juni 2019 Widerspruch eingelegt.18 Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Beweis erhoben durch schriftliche Vernehmung der den Kläger behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Dr. C. hat mitgeteilt (Stellungnahme vom 13. Januar 2020), sie habe den Kläger am 30. Januar 2019 nur einmalig in ihrer Sprechstunde gesehen. Es bestehe eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren mit Chronifizierungsgrad III nach Gerbershagen sowie Grad IV nach Korff, was jeweils die höchsten Chronifizierungsstadien darstellten. Es seien keine weiteren therapeutischen Maßnahmen durchgeführt worden. Bei einem komplizierten ambulanten Behandlungsverlauf eines qualifizierten LWS-Syndroms bei degenerativen Veränderungen mit Bandscheibenvorfällen und Verdacht auf Wurzelreizkomponenten sei es therapeutisch üblich, eine multimodale stationäre Behandlung durchzuführen. Diese seien anamnestisch im Vorfeld bereits erfolgt gewesen. Eine Schmerztherapie solle jedoch idealerweise individualisiert erfolgen. Übliche Maßnahmen seien Physiotherapie, Akupunktur, gegebenenfalls infiltrative Therapie, wie z.B. periradikuläre Therapie im Falle einer Wurzelreizkomponente und medikamentöse Therapie unter Berücksichtigung der neuropathischen Schmerzanteile, aber im Wesentlichen multimodale stationäre Behandlungen. Entsprechende Maßnahmen, wie zum Beispiel Physiotherapie, seien anamnestisch bereits erfolgt. Ihr lägen jedoch keine vor Befunde vor. Ein erneuter Therapieversuch sei aufgrund der frustranen Vorbehandlungen und der damit assoziierten fehlenden Behandlungsmotivation nicht erfolgt. Der Einsatz von Cannabis könne insofern sinnvoll sein, als es bei guter Wirkung auf die neuropathische Schmerzkomponente auch zu einer Begrenzung des Fehlgebrauchs des Ibuprofens und des Opiats kommen könne. Dr. B. hat angegeben (Stellungnahme vom 14. Januar 2020), beim Kläger bestehe eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine chronische Lumbalgie mit rezidivierender Lumboischialgie links, eine intermittierende Wurzelkomponente S1 links, degenerative Veränderungen bei Zustand nach Bandscheibenvorfall, ein Analgetikafehlgebrauch, Abhängigkeit von Analgetika, ein Alkoholabusus und ein schädlicher Gebrauch von Tabak. Wegen der Leberveränderungen bestünden nur eingeschränkte Therapiemöglichkeiten. Trotz der durchgeführten Therapie mit Injektionen, Infiltrationen und physikalischer Therapie sei es zu keiner Verbesserung gekommen. Eine umfangreiche medikamentöse Therapie sei derzeit erforderlich, um eine Schmerzlinderung durchzuführen. Der Einsatz von Cannabis erscheine weniger schädlich als der Überkonsum von NSAR und Tilidin. Es bestehe Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Dr. V. hat ausgeführt (Stellungnahme vom 27. Februar 2020), der Kläger habe seine Praxis nur einmal mit dem Wunsch aufgesucht, Cannabis verordnet zu bekommen. Er habe eine weitere Überweisung an einen Schmerztherapeuten ausgestellt. Für Bandscheibenvorfälle existierten selbstverständlich Standardtherapien. Dr. H. hat mitgeteilt (Stellungnahme vom 3. März 2020), er habe den Kläger nur einmal am 8. März 2018 untersucht und behandelt. Da der Kläger ihm gegenüber angegeben habe, dass eine Physiotherapie durchgeführt werde, habe er zu deren Fortführung geraten. Hierbei handele es sich um eine Standardtherapie bei Radikulopathien ohne Lähmungen. Auch zu einer Therapie mit Cannabinoiden habe er geraten, nachdem der Kläger ihn gefragt habe, inwieweit eine solche Therapie als Schmerztherapie sinnvoll sei.19 Die Beklagte hat daraufhin das Gutachten des Dr. Bö. vom MDK vom 30. April 2020 vorgelegt; hierauf wird Bezug genommen (Bl. 80-91 der Senatsakte).20 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte und die ebenfalls von ihr vorgelegte (das Verfahren bezüglich des Antrags vom 29. April 2019 betreffende) Ergänzungsverwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
21 1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da der Kläger u.a. zukünftig die Kostenerstattung für die tägliche Versorgung mit 0,5 g Cannabisblüten nach ärztlicher Verordnung und damit Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).22 2. Die Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig. Der Senat legt das Begehren des Klägers (§ 123 SGG) so aus, dass er im Berufungsverfahren auch Kostenerstattung in Höhe eines Betrags von 115,96 EUR wegen Selbstbeschaffung des Arzneimittels begehrt. Als eine Änderung der Klage ist es nicht anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt wird (§ 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG). So liegt es - wie hier - bei der Umstellung eines Sachleistungsbegehrens auf einen Kostenerstattungsanspruch (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 24/18 R – juris, Rn. 8).23 Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2018 (§ 95 SGG). Der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2019 ist nicht gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden.24 Gemäß § 96 Abs. 1 SGG wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Diese Norm gilt gemäß § 153 Abs. 1 SGG im Berufungsverfahren entsprechend. Durch die Neufassung des § 96 Abs. 1 SGG mit Wirkung zum 1. April 2008 wollte der Gesetzgeber der als teilweise extensiv erkannten Auslegung durch die Sozialgerichte entgegentreten (Begründung des Gesetzentwurfes auf BT-Drs. 16/7716, Seite 19). Die bloße Einbeziehung eines neuen Verwaltungsaktes in das anhängige Verfahren, nur weil der neue Verwaltungsakt mit dem anhängigen Streitgegenstand in irgendeinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang stand, soll nach der Neufassung nicht mehr möglich sein (Begründung des Gesetzentwurfes auf BT-Drs. 16/7716, Seite 19). Maßgeblich für die Frage, ob ein früherer Verwaltungsakt abgeändert oder ersetzt wird, ist ein Vergleich der jeweiligen Verfügungssätze (Becker, in: Roos/Wahrendorf, Kommentar zum SGG, 2014, § 96 Rn. 29 m.w.N.; vgl. auch BSG, Urteil vom 23. Februar 2005 – B 6 KA 45/03 R – juris, Rn. 17). Eine Änderung oder Ersetzung liegt nur vor, wenn in den im Verfügungssatz des Bescheides zum Ausdruck kommenden Regelungsgehalt des ursprünglichen Bescheides eingegriffen wird (so BSG, Urteil vom 23. Februar 2005 – B 6 KA 45/03 R – juris, Rn. 17 zu § 86 Abs. 1 SGG; Senatsurteil vom 27. März 2015 – L 4 P 2196/14 – juris, Rn. 32).25 Bei Ablehnungsbescheiden sind grundsätzlich ebenfalls die Regelungssätze des ersten und des folgenden Bescheides zu vergleichen (Binder, in: Lüdtke/Berchtold, Kommentar zum SGG, 6. Aufl. 2020, § 96 Rn. 9). Dabei ist zu berücksichtigen, dass einer (reinen) Ablehnung keine Dauerwirkung (§ 77 SGG) zukommt. Denn ein Ablehnungsbescheid, der keine ausdrücklichen zeitlichen Regelungen enthält, regelt grundsätzlich nur den Zeitraum, der zwischen dem Zeitpunkt, ab dem Leistungen begehrt werden, und dem Ende des Verwaltungsverfahrens und gegebenenfalls des Widerspruchsverfahrens liegt (Bienert, NZS 2015, 844, 848). Bei einer wiederholten (reinen) Ablehnung ohne konkreten Zeitraumbezug liegt kein Fall von § 96 Abs.1 SGG vor, da die (erste) Entscheidung über die Versagung einer Leistung keine weitere (zeitraumbezogene oder sonstige gestalterische) Wirkung hat. Dann wird durch die zweite Ablehnungsentscheidung die Erstere weder abgeändert noch ersetzt. Denn geprüft wird im zweiten Ablehnungsbescheid nur der Zeitraum ab der erneuten Antragstellung und nicht die Zeit davor.26 Zu beachten ist allerdings, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage grundsätzlich der letzte Verhandlungstermin vor dem Tatsachengericht ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. August 2017 – B 5 R 248/16 B – juris, Rn. 10). Um einen Verstoß gegen das Verbot der doppelten Rechtshängigkeit (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz) bei gerichtlichem Angriff des zweiten Ablehnungsbescheids zu vermeiden, ist davon auszugehen, dass bei einer wiederholten (reinen) Ablehnungsentscheidung ohne Zeitraumbezug zwar kein Fall des § 96 SGG vorliegt, aber eine zeitliche Zäsurwirkung (zur Vermeidung eventueller doppelter Rechtshängigkeit) eintritt (im Ergebnis ebenso Bienert, NZS 2015, 844, 849; Binder, a.a.O., Rn. 9). Der Erlass eines weiteren Ablehnungsbescheides, der auf neuerlichen Leistungsantrag ergeht, begrenzt mithin den Zeitraum, für den die erste ablehnende Entscheidung Wirkung entfaltet.27 Vor diesem Hintergrund gilt im vorliegenden Fall Folgendes: Der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2019 ist nicht gemäß § 153 Abs. 1 SGG i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, weshalb der Senat auch nicht über diesen Bescheid auf Klage hin entscheiden musste. Denn dieser Bescheid enthält als Regelungssatz die Ablehnung der Übernahme von „Kosten für das Arzneimittel Cannabisblüten Bedrocan, 1 g/Tag“, nachdem der Kläger unter Vorlage des Arztfragebogens des Dr. B. vom 15. April 2019 am 29. April 2019 bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabisblüten beantragt hatte. Hierdurch wurde der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2018 weder ersetzt noch abgeändert. Denn der Bescheid vom 26. Januar 2018 enthält als Regelungssatz die Ablehnung der Übernahme von „Kosten für das Arzneimittel Cannabisblüten, Bedrocan, 0,5 g“, nachdem Dr. B. im Arztfragebogen am 22. Dezember 2017 als beabsichtigte und notwendige Tagesdosis 0,5 g angegeben hatte. Damit liegen aber schon unterschiedliche Regelungsätze vor. Der Sachverhalt hat sich zudem insofern geändert, als Dr. B. nunmehr von einer notwendigen Versorgung mit einer Tagesdosis von 1,0 g ausgeht. Auch die Behandlungsziele variieren (Arztfragebogen vom 22. Dezember 2017, Frage Nr. 3b: „Mobilisierung, Schmerzreduktion“; Arztfragebogen vom 15. April 2019, Frage Nr. 3b: „Schmerzminderung“). Vor diesem Hintergrund ist im vorliegenden Berufungsverfahren nur streitig, ob der Kläger einen Anspruch auf zukünftige Versorgung mit Cannabisblüten (Produkthandelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g sowie auf Erstattung von 115,96 EUR für bisher hierfür aufgewandte Kosten hat.28 3. Die Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine zukünftige Versorgung mit Cannabisblüten (Produkthandelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g sowie auf Erstattung von 115,96 EUR für bisher hierfür aufgewandte Kosten. Denn die Beklagte hat die Bewilligung der begehrten Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt und der Kläger kann sich weder auf eine Genehmigungsfiktion berufen (hierzu unter a), noch liegen die Voraussetzungen für eine zukünftige Versorgung gemäß § 31 Abs. 6 SGB V vor (hierzu unter b). Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung für die beim Kläger bestehende Erkrankung nicht zur Verfügung steht bzw. wegen zu erwartender Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers nicht zur Anwendung kommen kann.29 a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung von 115,96 EUR für bisher aufgewandte Kosten.30 Der Senat geht davon aus, dass dem Kläger bislang nachgewiesene Kosten in Höhe von insgesamt 115,96 EUR für die Versorgung von Cannabisblüten (unverarbeitete Cannabisblüten: 113,05 EUR; BTM-Gebühr 2,91 EUR) entstanden sind. Dies ergibt sich aus dem Kassenbon der Schw.-Apotheke in He. vom 18. Oktober 2018 in Zusammenhang mit dem von Dr. B. ausgestellten Privatrezept über „Cannabisblüten Bedrocan 5gramm“ vom 12. November 2018 (Bl. 13 EVA). Weitere Kassenbelege oder Privatrezepte wurden weder vom Kläger noch von der Beklagten vorgelegt.31 aa) Ein Kostenerstattungsanspruch ergibt sich weder aus § 13 Abs. 1 SGB V noch aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V.32 (1) Nach § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der Sach- oder Dienstleistung (§ 2 Abs. 2 SGB V) Kosten nur erstatten, soweit es dieses oder das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) vorsieht. Eine Kostenerstattung nach § 13 Abs. 2 SGB V hatte der Kläger nicht gewählt, was er selbst auch nicht geltend macht.33 (2) Ein Kostenerstattungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Danach gilt: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.34 Unaufschiebbarkeit im Sinne der 1. Alternative verlangt, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder z.B. wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Nach der Normstruktur des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V besteht diese Regelung in Abgrenzung zur 2. Alternative gerade, um Eilsituationen aufgrund der Unaufschiebbarkeit Rechnung zu tragen, bei denen der Versicherte die Entscheidung seiner Krankenkasse nicht mehr abwarten kann. Der Kostenerstattungsanspruch nach der 1. Alternative besteht daher nicht nur dann, wenn es dem Versicherten – aus medizinischen oder anderen Gründen – nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung die Krankenkasse (überhaupt) einzuschalten. Unaufschiebbar kann danach auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn der Versicherte mit der Ausführung so lange wartet, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, um den mit ihr angestrebten Erfolg noch zu erreichen oder um sicherzustellen, dass er noch innerhalb eines therapeutischen Zeitfensters die benötigte Behandlung erhalten wird. Umfasst sind daher auch die Fälle, in denen der Versicherte zunächst einen Antrag bei der Krankenkasse stellte, aber wegen Unaufschiebbarkeit deren Entscheidung nicht mehr abwarten konnte (BSG, Urteil vom 8. September 2015 – B 1 KR 14/14 R – juris, Rn. 15).35 Eine Unaufschiebbarkeit in diesem Sinne lag beim Kläger nicht vor. Der Kläger erhielt aufgrund von Verordnungen seines Hausarztes Dr. B. im Antragsmonat (Dezember 2017) die folgenden Arzneimittel: Ibuprofen, Omeprazol, Tramadol, Methocarbamol, Ipratropium und Tilidin. Dies entnimmt der Senat der in der von der Beklagten vorgelegten Ergänzungsverwaltungsakte befindlichen Arzneimittelaufstellung (Bl. 3 EVA). Der Kläger war damit mit Schmerzmedikamenten zum Zeitpunkt der Antragstellung am 28. Dezember 2017 versorgt, d.h. es wurde eine medikamentöse Behandlung bereits durchgeführt. In seinem Fragebogen vom 22. Dezember 2017 hat Dr. B. keine Angaben gemacht, die auf eine Unaufschiebbarkeit der begehrten Leistung hindeuten. Er empfahl in seiner Bescheinigung vom 21. Januar 2019 lediglich einen Behandlungsversuch mit Cannabis. Eine etwaige Unaufschiebbarkeit der Leistung wird vom Kläger auch nicht behauptet.36 Auch die Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V liegen nicht vor. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, den Kläger mit Cannabisblüten (Produkthandelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g zu versorgen. Deshalb kann der Kläger auch nicht beanspruchen, dass ihm die Kosten, die durch die selbstbeschaffte Leistung entstanden sind, von der Beklagten erstattet werden. Der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2019 – B 1 KR 18/19 R – juris, Rn. 8; vom 28. Februar 2008 – B 1 KR 16/07 R – juris, und 7. Mai 2013 – B 1 KR 44/12 R – juris). Daran fehlt es hier. Der Kläger hat keinen entsprechenden Sachleistungsanspruch gegen die Beklagte.37 Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 31 SGB V). Gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standarisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon, wenn (1.) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (a) oder (b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, (2.) eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (§ 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V).38 Der Kläger hat am 28. Dezember 2017 bei der Beklagten einen Antrag „für die Anwendung von Cannabis“ gestellt. Beigefügt war der Arztfragebogen des Dr. B. vom 22. Dezember 2017. Darauf, dass dem Antrag keine vertragsärztliche Verordnung beigefügt war, kommt es im vorliegenden Fall nicht an. Zwar ist es in der Rechtsprechung bislang umstritten, ob für den Leistungsanspruch bereits bei Antragstellung eine vertragsärztliche Verordnung erforderlich ist (so Bayerisches LSG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – L 4 KR 119/18 B ER – juris, Rn. 55 m.w.N.; gegen das Erfordernis einer vertragsärztlichen Verordnung: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 6. März 2018 – L 5 KR 16/18 B ER – juris, Rn. 15; s. auch Nolte, in: Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2019, § 31 SGB V Rn. 75g). Der Senat kann diese Frage hier offenlassen, da er davon ausgeht, dass beim Kläger zwar eine schwerwiegende Erkrankung besteht, für diese jedoch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen bestehen und kein Anwendungsausschluss vorliegt (hierzu sogleich).39 Beim Kläger besteht eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der §§ 27 Abs. 1 Satz 1, 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V. Der Kläger leidet an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (Chronifizierungsgrad III nach Gerbershagen sowie Grad IV nach Korff), an einer chronischen Lumbalgie mit rezidivierender Lumboischialgie links, an einem klinischen Verdacht auf intermittierende Wurzelreizkomponente S1 links, an einem LWS-Syndrom bei degenerativer Veränderung mit Zustand nach rezidivierenden lumbalen Bandscheibenvorfällen, an einem Analgetikafehlgebrauch, an einer Abhängigkeit von Analgetika bei einem Zustand nach Alkoholabusus und einem Verdacht auf Alkoholkrankheit mit schädlichem Gebrauch von Tabak und Nikotin. Dies entnimmt der Senat der sachverständigen Zeugenauskunft der Dr. C. vom 13. Januar 2020 und ihrem Arztbrief vom 7. Februar 2019. Dr. B. hat in seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 annähernd gleiche Diagnosen genannt. Auch Dr. V. hat das Vorliegen eines chronischen Lumbovertebralsyndroms in seiner Auskunft vom 27. Februar 2020 (unter Bezugnahme auf seinen Arztbrief vom 13. Februar 2018) bestätigt. Aus der Auskunft des Dr. H. vom 3. März 2020 folgt zudem, dass beim Kläger eine Radikulopathie im Lumbosakralbereich besteht.40 Der Begriff der „schwerwiegenden Erkrankung“ wird in § 31 Abs. 6 SGB V nicht definiert. Dem Ausnahmecharakter der Vorschrift folgend ist von einer schwerwiegenden Erkrankung dann auszugehen, wenn es sich um eine lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung handelt (vgl. Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., Stand Juni 2020, § 31 SGB V Rn. 125; Nolte, a.a.O., § 31 Rn. 75d; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. September 2017 – L 11 KR 3414/17 ER-B – juris, Rn. 28). Bei den beim Kläger vorliegenden Erkrankungen handelt es sich um die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankungen. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Auch Dr. Sch. (Gutachten vom 22. Januar 2018), Dr. W. (Gutachten vom 23. Mai 2018 und 20. Mai 2019) und Dr. Bö. (Gutachten vom 30. April 2020) gelangten in ihren Gutachten, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden konnten (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris, Rn. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris, Rn. 51), zu der Einschätzung, dass der Kläger an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V leidet.41 Der Senat konnte sich aber nicht davon überzeugen, dass allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen für die beim Kläger bestehenden Erkrankungen nicht zur Verfügung stehen (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1a SGB V). Auch besteht kein Anwendungsausschluss nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V.42 Die Voraussetzung des Fehlens einer Standardtherapie knüpft an die Vorschrift des § 2 Abs. 1a SGB V an (BT-Drs. 18/8965, Seite 24). Insoweit ist für die Beurteilung des Vorhandenseins einer dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung auf die Grundsätze zur evidenzbasierten Medizin abzustellen. Die Voraussetzung (Fehlen einer Standardtherapie) ist nur dann erfüllt, wenn eine Standardtherapie tatsächlich nicht zur Verfügung steht oder sie der Versicherte nachgewiesenermaßen nicht verträgt (Pitz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, Stand Juni 2020, § 31, Rn. 126). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in diesem Zusammenhang bestätigt, dass mit Blick auf die Ähnlichkeit der Normstruktur der §§ 31 Abs. 6, 2 Abs. 1a SGB V es nicht willkürlich (Art 3 Abs. 1 Grundgesetz ) ist, wenn sich die Fachgerichte bei der Auslegung des § 31 Abs. 6 SGB V an die Rechtsprechung zu § 2 Abs. 1a SGB V anlehnen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 –, juris). Dabei ist weiter zu beachten, dass Voraussetzung für die Annahme, dass eine anerkannte Standardtherapie i.S.v. § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V nicht zur Anwendung kommen kann, ist, dass aufgrund individueller Umstände der Eintritt konkret zu erwartender Nebenwirkungen aufgezeigt wird, die aufgrund einer individuellen Abschätzung als unzumutbar anzusehen sind. Zur Begründung eines Anspruchs auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis genügt es daher nicht, wenn nur allgemein auf die Möglichkeit des Eintritts von Nebenwirkungen bei Einsatz eines anerkannten und dem medizinischen Standard entsprechenden Arzneimittels verwiesen wird (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. Dezember 2018 – L 5 KR 125/18 – juris, Rn. 34).43 Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen ist der Senat davon überzeugt, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung i.S.v. § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1a SGB V zur Behandlung der beim Kläger vorliegenden chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren zur Verfügung steht, die auch zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V). Behandlungsziele sind die Mobilisierung und die Schmerzreduktion (vgl. zur Maßgeblichkeit des Behandlungsziels BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 1 KR 24/06 R – juris, Nr. 12). Dies entnimmt der Senat dem Arztfragebogen des Dr. B. vom 22. Dezember 2017. Zur Erreichung dieser Ziele steht vorliegend eine multimodale stationäre Schmerztherapie zur Verfügung. Der Senat stützt sich hierbei auf die Auskunft der Dr. C. vom 13. Januar 2020. Diese hat nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, dass bei einem chronifizierten LWS-Syndrom bei degenerativen Veränderungen mit Bandscheibenvorfällen und einem Verdacht auf Wurzelreizkomponente es therapeutisch üblich ist, eine multimodale stationäre Behandlung durchzuführen. Notwendig ist danach eine individualisierte Schmerztherapie mit Physiotherapie, Akupunktur, medikamentöse Therapie unter Berücksichtigung der neuropathischen Schmerzanteile, gegebenenfalls infiltrative Therapie sowie multimodale stationäre Behandlungen. All dies entnimmt der Senat der genannten Auskunft der Dr. C. Diese hat in ihrem Arztbrief vom 7. Februar 2019 als Therapie insbesondere infiltrative Behandlungsversuche, TENS, Heilmittel Verordnungen und Akupunktur vorgeschlagen. Auch Dr V. hat in seiner Auskunft vom 27. Februar 2020 angegeben, dass für Bandscheibenvorfälle „selbstverständlich“ Standardtherapien zur Verfügung stehen. Schließlich hat auch Dr. H. in seiner Auskunft vom 3. März 2020 angegeben, dass eine Standardtherapie bei Radikulopathien ohne Lähmungen die Physiotherapie ist. Er hat dem Kläger ausdrücklich geraten, entsprechende physiotherapeutische Maßnahmen durchzuführen. In Zusammenschau der genannten sachverständigen Zeugenauskünfte steht danach fest, dass allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternativen zur Verfügung stehen, nämlich zum einen die Mitbehandlung durch einen Facharzt für Orthopädie und einem Facharzt mit dem Schwerpunkt spezielle Schmerztherapie sowie die Verordnung von Heilmitteln im Rahmen eines multimodalen (stationären) Konzeptes. Auch Dr. Sch. (Gutachten vom 22. Januar 2018), Dr. W. (Gutachten vom 23. Mai 2018 und 20. Mai 2019) und Dr. Bö. (Gutachten vom 30. April 2020) haben auf die genannten Therapiealternativen hingewiesen.44 In Auswertung und Würdigung der medizinischen Dokumentation seit 2008, der eingeholten sachverständigen Zeugenaussagen und der eigenen Angaben des Klägers ist festzustellen, dass der Kläger zwar vor vielen Jahren Behandlungsversuche unternommen hat, wie z.B. ambulante und stationäre Krankenhausbehandlungen, stationäre Rehabilitationsaufenthalte und Physiotherapiemaßnahmen. Aus dem Vorerkrankungsverzeichnis der A. St.-B. vom 3. Januar 2018 (Bl. 8 bis 11 der Verwaltungsakte der Beklagten) folgt u.a., dass der Kläger vom 1. bis 22. August 2008 in der F.klinik Bad B. wegen eines Bandscheibenschadens und eines Abhängigkeitssyndroms (Alkohol), im Februar, April, Juni und Juli 2010 im Z. für P. Bad S. wegen Abhängigkeitssyndrom durch Alkohol und sonstigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen, im September 2011, Juli 2012 und April 2013 im Kreiskrankenhaus N. wegen toxischer Wirkung von Ethanol und sonstige Rückenschmerzen (April 2013) sowie im Mai 2014 im Krankenhaus He. wegen toxischer Wirkung von Alkohol und Intoxikation sonstiger Arznei, Drogen und biologisch aktiver Substanzen stationär behandelt wurde. Darüber hinaus folgt aus der Bescheinigung des Physiotherapeuten Schu. vom 29. März 2019 (Bl. 25 der Senatsakte), dass der Kläger in den Jahren 2012 bis 2013 (zuletzt am 14. August 2013) physiotherapeutische Behandlungen erhalten hat. Die Durchführung einer multimodalen Schmerztherapie, wie sie von Dr. C. vorgeschlagen worden ist, lässt sich dem Vorerkrankungsverzeichnis hingegen nicht entnehmen.45 Im Übrigen liegen begründete Anhaltspunkte dafür, dass die genannten Therapieversuche - wie vom Kläger behauptet - entweder keine ausreichende analgetische Wirkungen hatten oder allenfalls nur kurzfristig zu Besserungen geführt haben (so der Kläger in seinem Schreiben vom 27. Februar 2019, Bl. 2/3 der Senatsakte), nicht vor. Weder aus der Vorerkrankungsbescheinigung der Beklagten vom 3. Januar 2018, noch aus der Vorerkrankungsbescheinigung vom 27. Februar 2019 (Bl. 19 der Senatsakte) geht hervor, dass der Kläger nach der Behandlung im Kreiskrankenhaus N. im April 2013 wegen Rückenschmerzen stationär behandelt worden ist. Danach fand die letzte stationäre Behandlung wegen Rückenschmerzen vom 2. bis 5. April 2013 statt. Zuvor wurde der Kläger lediglich am 4. und 5. September 2011 wegen lumbalen und sonstigen Bandscheibenschäden mit Radikulopathie stationär behandelt. All dies entnimmt der Senat den genannten Vorerkrankungsbescheinigungen der Beklagten. Die sonstigen stationären Behandlungen (zuletzt im Mai 2014) waren überwiegend durch Störungen durch Alkohol bedingt. Seither fand weder eine Rehabilitationsmaßnahme noch eine stationäre Krankenhausbehandlung statt. Der Kläger wurde vielmehr allein hausärztlich durch Dr. B. behandelt, was sich aus seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 ergibt. Erst während des Verwaltungsverfahrens hat der Kläger den Facharzt für Orthopädie Dr. V. (am 13. Februar 2018), den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. (am 8. März 2018) und während des Klageverfahrens die Fachärztin für Anästhesie und spezielle Schmerztherapie Dr. C. (am 30. Januar 2019) aufgesucht. Dies ergibt sich aus den im Berufungsverfahren eingeholten sachverständigen Zeugenauskünften der genannten Ärzte. Hierbei handelte es sich jeweils um eine einmalige Vorstellung mit dem Ziel, Cannabis verordnet zu bekommen. Auch dies entnimmt der Senat den Antworten der genannten sachverständigen Zeugen. Danach wurde der Kläger vor mehr als sieben Jahren, nämlich im April 2013, stationär wegen Rückenleiden behandelt. Auch bei Dr. M. und Dr. Ki. vom Klinikum S., die der Kläger im April 2019 aufgesucht hat, findet - nach seinen eigenen Angaben - keine Behandlung statt.46 Soweit Dr. B. in seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 ausgeführt hat, dass die therapeutischen Maßnahmen (Injektionen, Infiltrationen und physikalische Therapien) zu keiner Verbesserung geführt hätten, überzeugt dies den Senat nicht. Denn nach den vorliegenden Unterlagen fand zuletzt im Jahr 2013 eine physikalische Therapie statt. Aus einer damaligen frustranen Erfahrung des Klägers lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass der Kläger aktuell - wie von Dr. C. vorgeschlagen - von einer multimodalen Schmerztherapie (mit physikalischen Maßnahmen) nicht profitieren würde. Nach den Angaben von Dr. C. in ihrem Arztbrief vom 7. Februar 2019 lehnt der Kläger ein multimodales stationäres Vorgehen ab, weil er aktuell keine Behandlungsmotivation hat bzw. sein Haus und seine (17 Jahre alte) Katze nicht verlassen möchte. Im Verwaltungsverfahren hat er gegenüber der Beklagten angegeben, er habe kein Fahrzeug, so dass die Belastung durch die Termineinhaltung bei jedem Wetter höher sei als der Heilerfolg. Diese privaten Beweggründe bieten jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die hier mögliche multimodale stationäre Schmerztherapie mit physikalischen Maßnahmen im Fall des Klägers aufgrund von Nebenwirkungen oder unter Berücksichtigung seines Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann. Bei einem stationären Aufenthalt käme auch das Argument des Klägers, die Termineinhaltung sei wegen eines fehlenden Fahrzeugs schwierig und gefährde den Heilerfolg, nicht zum Tragen. Soweit Dr. B. in seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 (und in seiner Bescheinigung vom 21. Januar 2019) darauf hingewiesen hat, dass aufgrund der Alkoholkrankheit eingeschränkte Therapiemöglichkeiten wegen der Leberveränderung bestehen, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn er hat weder in seinem Arztfragebogen vom 22. Dezember 2017 noch in seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 dargelegt, dass aufgrund individueller Umstände der Eintritt konkret zu erwartender Nebenwirkungen zu befürchten ist, die aufgrund einer individuellen Abschätzung als unzumutbar anzusehen sind, zumal davon auszugehen ist, dass physikalische Therapien zur Mobilisation keinen Einfluss auf die Leberwerte haben. Darüber hinaus verordnet Dr. B. dem Kläger seit Jahren opiathaltige Medikamente, so dass er bei der Schmerzmedikation ohnehin die Leberveränderungen berücksichtigen muss. Insoweit geht auch er von zwar eingeschränkten, aber vorhandenen Therapiealternativen aus.47 Der Senat weist lediglich ergänzend darauf hin, dass der Umstand, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Erreichung der Behandlungsziele zur Verfügung steht, auch dazu führt, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V nicht erfüllt sind (vgl. hierzu Axer, in: Becker/Kingreen, Kommentar zum SGB V, 7. Aufl. 2020, § 31 Rn. 64).48 bb) Auf die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V (in der hier anzuwendenden vom 26. Februar 2013 bis 31. Dezember 2017 geltenden Fassung des Art. 2 Nr. 1 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013, BGBl. I, S. 277) kann der Kläger sein Erstattungsbegehren ebenfalls nicht erfolgreich stützen.49 Danach hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst), eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung (Satz 1 bis 3). Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 (zahnärztliches Gutachterverfahren) nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (Satz 5 bis 7).50 Die Beklagte hat vorliegend die Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V gewahrt. Der Antrag des Klägers ist am 28. Dezember 2017 bei der Beklagten eingegangen. Sie hat ihm mit Schreiben vom 3. Januar 2018 unverzüglich unterrichtet, dass sie eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält und entschied nach Eingang des Gutachtens des MDK vom 22. Januar 2018 innerhalb der Fünf-Wochenfrist, die am 1. Februar 2018 endete (§ 26 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch ), am 26. Januar 2018.51 b) Die Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V für eine zukünftige Versorgung mit Cannabisblüten (Produkthandelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g liegen nach den Darlegungen unter Ziff. 3 a bb) auch bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor. Denn aus den bereits genannten sachverständigen Zeugenaussagen von Dr. C., Dr. V. und Dr. H. folgt, dass der Kläger jeweils nur einmalig bei ihnen vorstellig war, sodass weiterhin davon auszugehen ist, dass er keine multimodale (stationäre) Schmerztherapie als allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung in Anspruch nimmt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.52 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.53 5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Gründe
21 1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da der Kläger u.a. zukünftig die Kostenerstattung für die tägliche Versorgung mit 0,5 g Cannabisblüten nach ärztlicher Verordnung und damit Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).22 2. Die Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig. Der Senat legt das Begehren des Klägers (§ 123 SGG) so aus, dass er im Berufungsverfahren auch Kostenerstattung in Höhe eines Betrags von 115,96 EUR wegen Selbstbeschaffung des Arzneimittels begehrt. Als eine Änderung der Klage ist es nicht anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt wird (§ 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG). So liegt es - wie hier - bei der Umstellung eines Sachleistungsbegehrens auf einen Kostenerstattungsanspruch (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2019 – B 1 KR 24/18 R – juris, Rn. 8).23 Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2018 (§ 95 SGG). Der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2019 ist nicht gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden.24 Gemäß § 96 Abs. 1 SGG wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Diese Norm gilt gemäß § 153 Abs. 1 SGG im Berufungsverfahren entsprechend. Durch die Neufassung des § 96 Abs. 1 SGG mit Wirkung zum 1. April 2008 wollte der Gesetzgeber der als teilweise extensiv erkannten Auslegung durch die Sozialgerichte entgegentreten (Begründung des Gesetzentwurfes auf BT-Drs. 16/7716, Seite 19). Die bloße Einbeziehung eines neuen Verwaltungsaktes in das anhängige Verfahren, nur weil der neue Verwaltungsakt mit dem anhängigen Streitgegenstand in irgendeinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang stand, soll nach der Neufassung nicht mehr möglich sein (Begründung des Gesetzentwurfes auf BT-Drs. 16/7716, Seite 19). Maßgeblich für die Frage, ob ein früherer Verwaltungsakt abgeändert oder ersetzt wird, ist ein Vergleich der jeweiligen Verfügungssätze (Becker, in: Roos/Wahrendorf, Kommentar zum SGG, 2014, § 96 Rn. 29 m.w.N.; vgl. auch BSG, Urteil vom 23. Februar 2005 – B 6 KA 45/03 R – juris, Rn. 17). Eine Änderung oder Ersetzung liegt nur vor, wenn in den im Verfügungssatz des Bescheides zum Ausdruck kommenden Regelungsgehalt des ursprünglichen Bescheides eingegriffen wird (so BSG, Urteil vom 23. Februar 2005 – B 6 KA 45/03 R – juris, Rn. 17 zu § 86 Abs. 1 SGG; Senatsurteil vom 27. März 2015 – L 4 P 2196/14 – juris, Rn. 32).25 Bei Ablehnungsbescheiden sind grundsätzlich ebenfalls die Regelungssätze des ersten und des folgenden Bescheides zu vergleichen (Binder, in: Lüdtke/Berchtold, Kommentar zum SGG, 6. Aufl. 2020, § 96 Rn. 9). Dabei ist zu berücksichtigen, dass einer (reinen) Ablehnung keine Dauerwirkung (§ 77 SGG) zukommt. Denn ein Ablehnungsbescheid, der keine ausdrücklichen zeitlichen Regelungen enthält, regelt grundsätzlich nur den Zeitraum, der zwischen dem Zeitpunkt, ab dem Leistungen begehrt werden, und dem Ende des Verwaltungsverfahrens und gegebenenfalls des Widerspruchsverfahrens liegt (Bienert, NZS 2015, 844, 848). Bei einer wiederholten (reinen) Ablehnung ohne konkreten Zeitraumbezug liegt kein Fall von § 96 Abs.1 SGG vor, da die (erste) Entscheidung über die Versagung einer Leistung keine weitere (zeitraumbezogene oder sonstige gestalterische) Wirkung hat. Dann wird durch die zweite Ablehnungsentscheidung die Erstere weder abgeändert noch ersetzt. Denn geprüft wird im zweiten Ablehnungsbescheid nur der Zeitraum ab der erneuten Antragstellung und nicht die Zeit davor.26 Zu beachten ist allerdings, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage grundsätzlich der letzte Verhandlungstermin vor dem Tatsachengericht ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. August 2017 – B 5 R 248/16 B – juris, Rn. 10). Um einen Verstoß gegen das Verbot der doppelten Rechtshängigkeit (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz) bei gerichtlichem Angriff des zweiten Ablehnungsbescheids zu vermeiden, ist davon auszugehen, dass bei einer wiederholten (reinen) Ablehnungsentscheidung ohne Zeitraumbezug zwar kein Fall des § 96 SGG vorliegt, aber eine zeitliche Zäsurwirkung (zur Vermeidung eventueller doppelter Rechtshängigkeit) eintritt (im Ergebnis ebenso Bienert, NZS 2015, 844, 849; Binder, a.a.O., Rn. 9). Der Erlass eines weiteren Ablehnungsbescheides, der auf neuerlichen Leistungsantrag ergeht, begrenzt mithin den Zeitraum, für den die erste ablehnende Entscheidung Wirkung entfaltet.27 Vor diesem Hintergrund gilt im vorliegenden Fall Folgendes: Der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2019 ist nicht gemäß § 153 Abs. 1 SGG i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, weshalb der Senat auch nicht über diesen Bescheid auf Klage hin entscheiden musste. Denn dieser Bescheid enthält als Regelungssatz die Ablehnung der Übernahme von „Kosten für das Arzneimittel Cannabisblüten Bedrocan, 1 g/Tag“, nachdem der Kläger unter Vorlage des Arztfragebogens des Dr. B. vom 15. April 2019 am 29. April 2019 bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabisblüten beantragt hatte. Hierdurch wurde der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2018 weder ersetzt noch abgeändert. Denn der Bescheid vom 26. Januar 2018 enthält als Regelungssatz die Ablehnung der Übernahme von „Kosten für das Arzneimittel Cannabisblüten, Bedrocan, 0,5 g“, nachdem Dr. B. im Arztfragebogen am 22. Dezember 2017 als beabsichtigte und notwendige Tagesdosis 0,5 g angegeben hatte. Damit liegen aber schon unterschiedliche Regelungsätze vor. Der Sachverhalt hat sich zudem insofern geändert, als Dr. B. nunmehr von einer notwendigen Versorgung mit einer Tagesdosis von 1,0 g ausgeht. Auch die Behandlungsziele variieren (Arztfragebogen vom 22. Dezember 2017, Frage Nr. 3b: „Mobilisierung, Schmerzreduktion“; Arztfragebogen vom 15. April 2019, Frage Nr. 3b: „Schmerzminderung“). Vor diesem Hintergrund ist im vorliegenden Berufungsverfahren nur streitig, ob der Kläger einen Anspruch auf zukünftige Versorgung mit Cannabisblüten (Produkthandelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g sowie auf Erstattung von 115,96 EUR für bisher hierfür aufgewandte Kosten hat.28 3. Die Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine zukünftige Versorgung mit Cannabisblüten (Produkthandelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g sowie auf Erstattung von 115,96 EUR für bisher hierfür aufgewandte Kosten. Denn die Beklagte hat die Bewilligung der begehrten Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt und der Kläger kann sich weder auf eine Genehmigungsfiktion berufen (hierzu unter a), noch liegen die Voraussetzungen für eine zukünftige Versorgung gemäß § 31 Abs. 6 SGB V vor (hierzu unter b). Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung für die beim Kläger bestehende Erkrankung nicht zur Verfügung steht bzw. wegen zu erwartender Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Klägers nicht zur Anwendung kommen kann.29 a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung von 115,96 EUR für bisher aufgewandte Kosten.30 Der Senat geht davon aus, dass dem Kläger bislang nachgewiesene Kosten in Höhe von insgesamt 115,96 EUR für die Versorgung von Cannabisblüten (unverarbeitete Cannabisblüten: 113,05 EUR; BTM-Gebühr 2,91 EUR) entstanden sind. Dies ergibt sich aus dem Kassenbon der Schw.-Apotheke in He. vom 18. Oktober 2018 in Zusammenhang mit dem von Dr. B. ausgestellten Privatrezept über „Cannabisblüten Bedrocan 5gramm“ vom 12. November 2018 (Bl. 13 EVA). Weitere Kassenbelege oder Privatrezepte wurden weder vom Kläger noch von der Beklagten vorgelegt.31 aa) Ein Kostenerstattungsanspruch ergibt sich weder aus § 13 Abs. 1 SGB V noch aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V.32 (1) Nach § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der Sach- oder Dienstleistung (§ 2 Abs. 2 SGB V) Kosten nur erstatten, soweit es dieses oder das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) vorsieht. Eine Kostenerstattung nach § 13 Abs. 2 SGB V hatte der Kläger nicht gewählt, was er selbst auch nicht geltend macht.33 (2) Ein Kostenerstattungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Danach gilt: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.34 Unaufschiebbarkeit im Sinne der 1. Alternative verlangt, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder z.B. wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Nach der Normstruktur des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V besteht diese Regelung in Abgrenzung zur 2. Alternative gerade, um Eilsituationen aufgrund der Unaufschiebbarkeit Rechnung zu tragen, bei denen der Versicherte die Entscheidung seiner Krankenkasse nicht mehr abwarten kann. Der Kostenerstattungsanspruch nach der 1. Alternative besteht daher nicht nur dann, wenn es dem Versicherten – aus medizinischen oder anderen Gründen – nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung die Krankenkasse (überhaupt) einzuschalten. Unaufschiebbar kann danach auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn der Versicherte mit der Ausführung so lange wartet, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, um den mit ihr angestrebten Erfolg noch zu erreichen oder um sicherzustellen, dass er noch innerhalb eines therapeutischen Zeitfensters die benötigte Behandlung erhalten wird. Umfasst sind daher auch die Fälle, in denen der Versicherte zunächst einen Antrag bei der Krankenkasse stellte, aber wegen Unaufschiebbarkeit deren Entscheidung nicht mehr abwarten konnte (BSG, Urteil vom 8. September 2015 – B 1 KR 14/14 R – juris, Rn. 15).35 Eine Unaufschiebbarkeit in diesem Sinne lag beim Kläger nicht vor. Der Kläger erhielt aufgrund von Verordnungen seines Hausarztes Dr. B. im Antragsmonat (Dezember 2017) die folgenden Arzneimittel: Ibuprofen, Omeprazol, Tramadol, Methocarbamol, Ipratropium und Tilidin. Dies entnimmt der Senat der in der von der Beklagten vorgelegten Ergänzungsverwaltungsakte befindlichen Arzneimittelaufstellung (Bl. 3 EVA). Der Kläger war damit mit Schmerzmedikamenten zum Zeitpunkt der Antragstellung am 28. Dezember 2017 versorgt, d.h. es wurde eine medikamentöse Behandlung bereits durchgeführt. In seinem Fragebogen vom 22. Dezember 2017 hat Dr. B. keine Angaben gemacht, die auf eine Unaufschiebbarkeit der begehrten Leistung hindeuten. Er empfahl in seiner Bescheinigung vom 21. Januar 2019 lediglich einen Behandlungsversuch mit Cannabis. Eine etwaige Unaufschiebbarkeit der Leistung wird vom Kläger auch nicht behauptet.36 Auch die Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V liegen nicht vor. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, den Kläger mit Cannabisblüten (Produkthandelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g zu versorgen. Deshalb kann der Kläger auch nicht beanspruchen, dass ihm die Kosten, die durch die selbstbeschaffte Leistung entstanden sind, von der Beklagten erstattet werden. Der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2019 – B 1 KR 18/19 R – juris, Rn. 8; vom 28. Februar 2008 – B 1 KR 16/07 R – juris, und 7. Mai 2013 – B 1 KR 44/12 R – juris). Daran fehlt es hier. Der Kläger hat keinen entsprechenden Sachleistungsanspruch gegen die Beklagte.37 Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 31 SGB V). Gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standarisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon, wenn (1.) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (a) oder (b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, (2.) eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (§ 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V).38 Der Kläger hat am 28. Dezember 2017 bei der Beklagten einen Antrag „für die Anwendung von Cannabis“ gestellt. Beigefügt war der Arztfragebogen des Dr. B. vom 22. Dezember 2017. Darauf, dass dem Antrag keine vertragsärztliche Verordnung beigefügt war, kommt es im vorliegenden Fall nicht an. Zwar ist es in der Rechtsprechung bislang umstritten, ob für den Leistungsanspruch bereits bei Antragstellung eine vertragsärztliche Verordnung erforderlich ist (so Bayerisches LSG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – L 4 KR 119/18 B ER – juris, Rn. 55 m.w.N.; gegen das Erfordernis einer vertragsärztlichen Verordnung: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 6. März 2018 – L 5 KR 16/18 B ER – juris, Rn. 15; s. auch Nolte, in: Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2019, § 31 SGB V Rn. 75g). Der Senat kann diese Frage hier offenlassen, da er davon ausgeht, dass beim Kläger zwar eine schwerwiegende Erkrankung besteht, für diese jedoch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen bestehen und kein Anwendungsausschluss vorliegt (hierzu sogleich).39 Beim Kläger besteht eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der §§ 27 Abs. 1 Satz 1, 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V. Der Kläger leidet an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (Chronifizierungsgrad III nach Gerbershagen sowie Grad IV nach Korff), an einer chronischen Lumbalgie mit rezidivierender Lumboischialgie links, an einem klinischen Verdacht auf intermittierende Wurzelreizkomponente S1 links, an einem LWS-Syndrom bei degenerativer Veränderung mit Zustand nach rezidivierenden lumbalen Bandscheibenvorfällen, an einem Analgetikafehlgebrauch, an einer Abhängigkeit von Analgetika bei einem Zustand nach Alkoholabusus und einem Verdacht auf Alkoholkrankheit mit schädlichem Gebrauch von Tabak und Nikotin. Dies entnimmt der Senat der sachverständigen Zeugenauskunft der Dr. C. vom 13. Januar 2020 und ihrem Arztbrief vom 7. Februar 2019. Dr. B. hat in seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 annähernd gleiche Diagnosen genannt. Auch Dr. V. hat das Vorliegen eines chronischen Lumbovertebralsyndroms in seiner Auskunft vom 27. Februar 2020 (unter Bezugnahme auf seinen Arztbrief vom 13. Februar 2018) bestätigt. Aus der Auskunft des Dr. H. vom 3. März 2020 folgt zudem, dass beim Kläger eine Radikulopathie im Lumbosakralbereich besteht.40 Der Begriff der „schwerwiegenden Erkrankung“ wird in § 31 Abs. 6 SGB V nicht definiert. Dem Ausnahmecharakter der Vorschrift folgend ist von einer schwerwiegenden Erkrankung dann auszugehen, wenn es sich um eine lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung handelt (vgl. Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., Stand Juni 2020, § 31 SGB V Rn. 125; Nolte, a.a.O., § 31 Rn. 75d; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. September 2017 – L 11 KR 3414/17 ER-B – juris, Rn. 28). Bei den beim Kläger vorliegenden Erkrankungen handelt es sich um die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankungen. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Auch Dr. Sch. (Gutachten vom 22. Januar 2018), Dr. W. (Gutachten vom 23. Mai 2018 und 20. Mai 2019) und Dr. Bö. (Gutachten vom 30. April 2020) gelangten in ihren Gutachten, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden konnten (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris, Rn. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris, Rn. 51), zu der Einschätzung, dass der Kläger an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V leidet.41 Der Senat konnte sich aber nicht davon überzeugen, dass allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen für die beim Kläger bestehenden Erkrankungen nicht zur Verfügung stehen (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1a SGB V). Auch besteht kein Anwendungsausschluss nach § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V.42 Die Voraussetzung des Fehlens einer Standardtherapie knüpft an die Vorschrift des § 2 Abs. 1a SGB V an (BT-Drs. 18/8965, Seite 24). Insoweit ist für die Beurteilung des Vorhandenseins einer dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung auf die Grundsätze zur evidenzbasierten Medizin abzustellen. Die Voraussetzung (Fehlen einer Standardtherapie) ist nur dann erfüllt, wenn eine Standardtherapie tatsächlich nicht zur Verfügung steht oder sie der Versicherte nachgewiesenermaßen nicht verträgt (Pitz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, Stand Juni 2020, § 31, Rn. 126). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in diesem Zusammenhang bestätigt, dass mit Blick auf die Ähnlichkeit der Normstruktur der §§ 31 Abs. 6, 2 Abs. 1a SGB V es nicht willkürlich (Art 3 Abs. 1 Grundgesetz ) ist, wenn sich die Fachgerichte bei der Auslegung des § 31 Abs. 6 SGB V an die Rechtsprechung zu § 2 Abs. 1a SGB V anlehnen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 –, juris). Dabei ist weiter zu beachten, dass Voraussetzung für die Annahme, dass eine anerkannte Standardtherapie i.S.v. § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V nicht zur Anwendung kommen kann, ist, dass aufgrund individueller Umstände der Eintritt konkret zu erwartender Nebenwirkungen aufgezeigt wird, die aufgrund einer individuellen Abschätzung als unzumutbar anzusehen sind. Zur Begründung eines Anspruchs auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis genügt es daher nicht, wenn nur allgemein auf die Möglichkeit des Eintritts von Nebenwirkungen bei Einsatz eines anerkannten und dem medizinischen Standard entsprechenden Arzneimittels verwiesen wird (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. Dezember 2018 – L 5 KR 125/18 – juris, Rn. 34).43 Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen ist der Senat davon überzeugt, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung i.S.v. § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1a SGB V zur Behandlung der beim Kläger vorliegenden chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren zur Verfügung steht, die auch zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V). Behandlungsziele sind die Mobilisierung und die Schmerzreduktion (vgl. zur Maßgeblichkeit des Behandlungsziels BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 1 KR 24/06 R – juris, Nr. 12). Dies entnimmt der Senat dem Arztfragebogen des Dr. B. vom 22. Dezember 2017. Zur Erreichung dieser Ziele steht vorliegend eine multimodale stationäre Schmerztherapie zur Verfügung. Der Senat stützt sich hierbei auf die Auskunft der Dr. C. vom 13. Januar 2020. Diese hat nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, dass bei einem chronifizierten LWS-Syndrom bei degenerativen Veränderungen mit Bandscheibenvorfällen und einem Verdacht auf Wurzelreizkomponente es therapeutisch üblich ist, eine multimodale stationäre Behandlung durchzuführen. Notwendig ist danach eine individualisierte Schmerztherapie mit Physiotherapie, Akupunktur, medikamentöse Therapie unter Berücksichtigung der neuropathischen Schmerzanteile, gegebenenfalls infiltrative Therapie sowie multimodale stationäre Behandlungen. All dies entnimmt der Senat der genannten Auskunft der Dr. C. Diese hat in ihrem Arztbrief vom 7. Februar 2019 als Therapie insbesondere infiltrative Behandlungsversuche, TENS, Heilmittel Verordnungen und Akupunktur vorgeschlagen. Auch Dr V. hat in seiner Auskunft vom 27. Februar 2020 angegeben, dass für Bandscheibenvorfälle „selbstverständlich“ Standardtherapien zur Verfügung stehen. Schließlich hat auch Dr. H. in seiner Auskunft vom 3. März 2020 angegeben, dass eine Standardtherapie bei Radikulopathien ohne Lähmungen die Physiotherapie ist. Er hat dem Kläger ausdrücklich geraten, entsprechende physiotherapeutische Maßnahmen durchzuführen. In Zusammenschau der genannten sachverständigen Zeugenauskünfte steht danach fest, dass allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternativen zur Verfügung stehen, nämlich zum einen die Mitbehandlung durch einen Facharzt für Orthopädie und einem Facharzt mit dem Schwerpunkt spezielle Schmerztherapie sowie die Verordnung von Heilmitteln im Rahmen eines multimodalen (stationären) Konzeptes. Auch Dr. Sch. (Gutachten vom 22. Januar 2018), Dr. W. (Gutachten vom 23. Mai 2018 und 20. Mai 2019) und Dr. Bö. (Gutachten vom 30. April 2020) haben auf die genannten Therapiealternativen hingewiesen.44 In Auswertung und Würdigung der medizinischen Dokumentation seit 2008, der eingeholten sachverständigen Zeugenaussagen und der eigenen Angaben des Klägers ist festzustellen, dass der Kläger zwar vor vielen Jahren Behandlungsversuche unternommen hat, wie z.B. ambulante und stationäre Krankenhausbehandlungen, stationäre Rehabilitationsaufenthalte und Physiotherapiemaßnahmen. Aus dem Vorerkrankungsverzeichnis der A. St.-B. vom 3. Januar 2018 (Bl. 8 bis 11 der Verwaltungsakte der Beklagten) folgt u.a., dass der Kläger vom 1. bis 22. August 2008 in der F.klinik Bad B. wegen eines Bandscheibenschadens und eines Abhängigkeitssyndroms (Alkohol), im Februar, April, Juni und Juli 2010 im Z. für P. Bad S. wegen Abhängigkeitssyndrom durch Alkohol und sonstigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen, im September 2011, Juli 2012 und April 2013 im Kreiskrankenhaus N. wegen toxischer Wirkung von Ethanol und sonstige Rückenschmerzen (April 2013) sowie im Mai 2014 im Krankenhaus He. wegen toxischer Wirkung von Alkohol und Intoxikation sonstiger Arznei, Drogen und biologisch aktiver Substanzen stationär behandelt wurde. Darüber hinaus folgt aus der Bescheinigung des Physiotherapeuten Schu. vom 29. März 2019 (Bl. 25 der Senatsakte), dass der Kläger in den Jahren 2012 bis 2013 (zuletzt am 14. August 2013) physiotherapeutische Behandlungen erhalten hat. Die Durchführung einer multimodalen Schmerztherapie, wie sie von Dr. C. vorgeschlagen worden ist, lässt sich dem Vorerkrankungsverzeichnis hingegen nicht entnehmen.45 Im Übrigen liegen begründete Anhaltspunkte dafür, dass die genannten Therapieversuche - wie vom Kläger behauptet - entweder keine ausreichende analgetische Wirkungen hatten oder allenfalls nur kurzfristig zu Besserungen geführt haben (so der Kläger in seinem Schreiben vom 27. Februar 2019, Bl. 2/3 der Senatsakte), nicht vor. Weder aus der Vorerkrankungsbescheinigung der Beklagten vom 3. Januar 2018, noch aus der Vorerkrankungsbescheinigung vom 27. Februar 2019 (Bl. 19 der Senatsakte) geht hervor, dass der Kläger nach der Behandlung im Kreiskrankenhaus N. im April 2013 wegen Rückenschmerzen stationär behandelt worden ist. Danach fand die letzte stationäre Behandlung wegen Rückenschmerzen vom 2. bis 5. April 2013 statt. Zuvor wurde der Kläger lediglich am 4. und 5. September 2011 wegen lumbalen und sonstigen Bandscheibenschäden mit Radikulopathie stationär behandelt. All dies entnimmt der Senat den genannten Vorerkrankungsbescheinigungen der Beklagten. Die sonstigen stationären Behandlungen (zuletzt im Mai 2014) waren überwiegend durch Störungen durch Alkohol bedingt. Seither fand weder eine Rehabilitationsmaßnahme noch eine stationäre Krankenhausbehandlung statt. Der Kläger wurde vielmehr allein hausärztlich durch Dr. B. behandelt, was sich aus seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 ergibt. Erst während des Verwaltungsverfahrens hat der Kläger den Facharzt für Orthopädie Dr. V. (am 13. Februar 2018), den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. (am 8. März 2018) und während des Klageverfahrens die Fachärztin für Anästhesie und spezielle Schmerztherapie Dr. C. (am 30. Januar 2019) aufgesucht. Dies ergibt sich aus den im Berufungsverfahren eingeholten sachverständigen Zeugenauskünften der genannten Ärzte. Hierbei handelte es sich jeweils um eine einmalige Vorstellung mit dem Ziel, Cannabis verordnet zu bekommen. Auch dies entnimmt der Senat den Antworten der genannten sachverständigen Zeugen. Danach wurde der Kläger vor mehr als sieben Jahren, nämlich im April 2013, stationär wegen Rückenleiden behandelt. Auch bei Dr. M. und Dr. Ki. vom Klinikum S., die der Kläger im April 2019 aufgesucht hat, findet - nach seinen eigenen Angaben - keine Behandlung statt.46 Soweit Dr. B. in seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 ausgeführt hat, dass die therapeutischen Maßnahmen (Injektionen, Infiltrationen und physikalische Therapien) zu keiner Verbesserung geführt hätten, überzeugt dies den Senat nicht. Denn nach den vorliegenden Unterlagen fand zuletzt im Jahr 2013 eine physikalische Therapie statt. Aus einer damaligen frustranen Erfahrung des Klägers lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass der Kläger aktuell - wie von Dr. C. vorgeschlagen - von einer multimodalen Schmerztherapie (mit physikalischen Maßnahmen) nicht profitieren würde. Nach den Angaben von Dr. C. in ihrem Arztbrief vom 7. Februar 2019 lehnt der Kläger ein multimodales stationäres Vorgehen ab, weil er aktuell keine Behandlungsmotivation hat bzw. sein Haus und seine (17 Jahre alte) Katze nicht verlassen möchte. Im Verwaltungsverfahren hat er gegenüber der Beklagten angegeben, er habe kein Fahrzeug, so dass die Belastung durch die Termineinhaltung bei jedem Wetter höher sei als der Heilerfolg. Diese privaten Beweggründe bieten jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die hier mögliche multimodale stationäre Schmerztherapie mit physikalischen Maßnahmen im Fall des Klägers aufgrund von Nebenwirkungen oder unter Berücksichtigung seines Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann. Bei einem stationären Aufenthalt käme auch das Argument des Klägers, die Termineinhaltung sei wegen eines fehlenden Fahrzeugs schwierig und gefährde den Heilerfolg, nicht zum Tragen. Soweit Dr. B. in seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 (und in seiner Bescheinigung vom 21. Januar 2019) darauf hingewiesen hat, dass aufgrund der Alkoholkrankheit eingeschränkte Therapiemöglichkeiten wegen der Leberveränderung bestehen, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn er hat weder in seinem Arztfragebogen vom 22. Dezember 2017 noch in seiner Auskunft vom 14. Januar 2020 dargelegt, dass aufgrund individueller Umstände der Eintritt konkret zu erwartender Nebenwirkungen zu befürchten ist, die aufgrund einer individuellen Abschätzung als unzumutbar anzusehen sind, zumal davon auszugehen ist, dass physikalische Therapien zur Mobilisation keinen Einfluss auf die Leberwerte haben. Darüber hinaus verordnet Dr. B. dem Kläger seit Jahren opiathaltige Medikamente, so dass er bei der Schmerzmedikation ohnehin die Leberveränderungen berücksichtigen muss. Insoweit geht auch er von zwar eingeschränkten, aber vorhandenen Therapiealternativen aus.47 Der Senat weist lediglich ergänzend darauf hin, dass der Umstand, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Erreichung der Behandlungsziele zur Verfügung steht, auch dazu führt, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V nicht erfüllt sind (vgl. hierzu Axer, in: Becker/Kingreen, Kommentar zum SGB V, 7. Aufl. 2020, § 31 Rn. 64).48 bb) Auf die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V (in der hier anzuwendenden vom 26. Februar 2013 bis 31. Dezember 2017 geltenden Fassung des Art. 2 Nr. 1 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013, BGBl. I, S. 277) kann der Kläger sein Erstattungsbegehren ebenfalls nicht erfolgreich stützen.49 Danach hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst), eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung (Satz 1 bis 3). Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 (zahnärztliches Gutachterverfahren) nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (Satz 5 bis 7).50 Die Beklagte hat vorliegend die Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V gewahrt. Der Antrag des Klägers ist am 28. Dezember 2017 bei der Beklagten eingegangen. Sie hat ihm mit Schreiben vom 3. Januar 2018 unverzüglich unterrichtet, dass sie eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält und entschied nach Eingang des Gutachtens des MDK vom 22. Januar 2018 innerhalb der Fünf-Wochenfrist, die am 1. Februar 2018 endete (§ 26 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch ), am 26. Januar 2018.51 b) Die Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V für eine zukünftige Versorgung mit Cannabisblüten (Produkthandelsname: Bedrocan) mit einer Tagesdosis von 0,5 g liegen nach den Darlegungen unter Ziff. 3 a bb) auch bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor. Denn aus den bereits genannten sachverständigen Zeugenaussagen von Dr. C., Dr. V. und Dr. H. folgt, dass der Kläger jeweils nur einmalig bei ihnen vorstellig war, sodass weiterhin davon auszugehen ist, dass er keine multimodale (stationäre) Schmerztherapie als allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung in Anspruch nimmt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.52 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.53 5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen. | {
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. September 2019 wird zurückgewiesen.Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Klägerin wendet sich gegen die Beendigung ihrer Familienversicherung zum 30. April 2018.2 Die 1983 geborene Klägerin war zunächst über ihren bei der Beklagten versicherten Ehemann, den Beigeladenen, familienversichert.3 Wegen der Zuerkennung des Pflegegrads 2 gewährten ihr die privaten Versicherungsunternehmen A. Versicherung AG (im Folgenden A) und D., Zweigniederlassung der A, (im Folgenden D) rückwirkend ab Januar 2018 monatliche Renten in Höhe von 500,00 EUR (A) und 600,00 EUR (D) für zunächst zwölf Monate. Die Zahlungen für Januar bis Mai 2018 wurden jeweils am 20. April 2018 an die Klägerin überwiesen (Schreiben der A und D vom 20. April 2018). Seither werden diese Leistungen monatlich ausgezahlt. Diese Zahlungen beruhen jeweils auf einem Versicherungsvertrag über eine „Unfall-Kombirente“. Die beiden Versicherungsverträgen identisch zugrundeliegenden „Besonderen Bedingungen für die Versicherung einer Unfall-Kombirente“ (im Folgenden BUB), die im „Versicherungsschein Unfall-Versicherung“ wiedergegeben wurden, trafen insbesondere folgende Bestimmungen (Versicherungsschein „Unfall-Versicherung“; Versicherungs-Nr.: 68130051242; Bl. 14 bis 31 der SG-Akte):4 1 Präambel5 Die Unfall-Kombirente ist eine eigenständige Leistungsart im Rahmen der Unfall-Versicherung, die allein oder in Kombination mit anderen Unfallleistungsarten abgeschlossen werden kann. Diese Leistungsart - Unfall-Kombirente – gilt immer als eigenständiger Vertrag. Es gelten die Bestimmungen der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen AUB 2008, abweichende Regelungen sind im Folgenden beschrieben.6 …7 1.1.1 Leistungsfälle8 Die Unfall-Kombirente unterscheidet vier Leistungsfälle: Den Eintritt des Leistungsfalles9 - nach einem Unfall (Ziffer 2),- nach definierter Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit bestimmter Organe bzw. definierter Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten als Folge einzelner bestimmter Krankheiten und durch Unfall (Organkonzept (Ziffer 3)),- Verlust einzelner, definierter Grundfertigkeiten (Ziffer 4) und- nach Feststellung einer Pflegestufe gemäß Sozialgesetzbuch (Ziffer 5).10 Die Leistung wird als Rente gezahlt. … Eine Leistung kann es gleichzeitig nur einmal aus einem der vier Leistungsfälle geben.11 2 Leistungen einer Rente aus Unfall12 In Ergänzung der Ziffer 2 der [AUB 2008] leisten wir eine Rente entsprechend der nachfolgenden Bedingungen:13 2.1 Voraussetzungen für die Leistung14 Der Unfall hat zu einem nach Ziffer 2.1 und Ziffer 3 AUB 2008 ermittelten Invaliditätsgrad von mindestens 50 % geführt. …15 2.2 Höhe der Leistung16 Wir zahlen unabhängig vom Lebensalter der versicherten Person die Rente in Höhe der vereinbarten Versicherungssumme.17 …18 3 Leistungen einer Rente bei Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit bestimmter Organe bzw. definierter Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten als Folge einzelner, bestimmter Krankheiten und durch Unfall (Organkonzept)19 3.1 In Abweichung zu Ziffer 1.3 [AUB 2008] gilt als Leistungsfall der Eintritt einer irreversiblen im Organkonzept definierten Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der folgenden beschriebenen Organe bzw. eine definierte Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten als Folge bestimmter Krankheiten, die während der Vertragslaufzeit entstanden sind, bzw. durch Unfall.20 3.1.1 Bewertungsmaßstab21 Die Beeinträchtigung der versicherten Organe und Krankheiten entsprechen nach den Maßstäben der diesem Vertrag zu Grunde liegenden Bewertungen einer Invalidität von mehr als 50 %. …22 [Nach näherer Bestimmung werden im Folgenden Erkrankungen des Gehirns und des Nervensystems, psychische Störungen oder Geisteskrankheiten sowie Erkrankungen des Herzens, der Nieren, Lungen und Leber sowie Krebserkrankungen erfasst.]23 4 Leistung einer Rente bei Verlust einzelner, definierter Grundfähigkeiten24 In Abweichung zu Ziffer 1.3 der [AUB 2008] tritt der Leistungsfall ein, wenn der Verlust einzelner, definierter Grundfähigkeiten durch Unfall oder Krankheit nach einer Bewertungsskala zu einer Punktezahl von mindestens 100 Punkten führt und diese irreversibel und nicht mehr therapierbar sind. Dies entspricht nach den Maßstäben der diesem Vertrag zu Grunde liegenden Bewertungen einer Invalidität von mehr als 50 %.25 [Erfasst werden im Folgenden nach einem Punktesystem der Verlust der Grundfähigkeitsarten A (Sehen, Sprechen, Hören und sich orientieren) und B (obere Extremitäten, untere Extremitäten, Wirbelsäule und Becken, Mobilität).]26 5 Leistung einer Rente aus Pflegestufe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB)27 In Ergänzung der Ziffer 2 der [AUB 2008] leisten wir eine Rente entsprechend den nachfolgenden Bedingungen.28 5.1 Voraussetzung für die Leistung29 Die versicherte Person erhält auf Grund eines Unfalles oder wegen einer während der Vertragslaufzeit erstmals aufgetretenen Krankheit eine Einstufung der Pflegestufe I, II oder III nach SGB. Dies entspricht nach den Maßstäben der diesem Vertrag zu Grunde liegenden Bewertungen einer Invalidität von mehr als 50 %. Für die Leistungsabwicklung sind ausschließlich diese Bewertungsmaßstäbe maßgebend.30 5.2 Höhe der Leistung31 Wir zahlen unabhängig vom Lebensalter der versicherten Person die Rente in Höhe der vereinbarten Versicherungssumme.32 5.3 Beginn und Dauer der Leistung33 Die Rente zahlen wir34 - rückwirkend ab Beginn des Monats, in dem die Pflegestufe I, II oder III zuerkannt wurde- monatlich im Voraus.35 Die Rente wird bis zum Ende des Monats gezahlt, in dem36 - die versicherte Person stirbt oder- keine Pflegestufe mehr besteht.37 …38 Ist die Rentenzahlung aber mehr als drei Jahre erfolgt, so wird sie auch dann weiter gezahlt, wenn die Pflegestufe nach dieser Frist entfallen ist.39 Nach den AUB 2008 bot der Versicherungsvertrag Versicherungsschutz bei Unfällen, die der versicherten Person während der Wirksamkeit des Vertrags zustießen (Ziffer 1.1 AUB 2008). Als Leistungen waren nach Ziffer 2 AUB 2008 vorgesehen eine Invaliditätsleistung in Form einer Kapitalleistung, eine Übergangsleistung, ein Tage-, ein Krankenhaustage- sowie ein Genesungsgeld jeweils in Höhe der vereinbarten Versicherungssumme. Grundlage für die Berechnung der Leistung bildeten die Versicherungssumme und der Grad der unfallbedingten Invalidität (Ziffer 2.1.2.2 AUB 2008). Letzterer wurde nach einer aufgeführten Gliedertaxe bestimmt, bei nicht erfassten Körperteilen und Sinnesorganen danach, inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt war (Ziffer 2.1.2.2.1 und 2 AUB 2008).40 Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 9. Juli 2018 setzte die Klägerin die Beklagte über die Zahlungen der A und D in Kenntnis. Diese dienten zum Ausgleich der Nachteile und des Aufwandes für privat organisierte Pflege. Es werde um Mitteilung gebeten, ob für diese beiden Rentenzahlungen Krankenversicherungsbeiträge zu zahlen seien.41 Mit einem nicht mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Schreiben vom 20. Juli 2018 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihre Familienversicherung am 30. April 2018 ende. Ihr Einkommen überschreite die maßgebliche Einkommensgrenze von 435,00 EUR (2018), so dass der Anspruch auf Familienversicherung entfalle. Der weitere Versicherungsschutz sei im Rahmen einer freiwilligen Mitgliedschaft sichergestellt.42 Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruches führte die Klägerin aus, mit den Versicherungsleistungen solle der Pflegemehraufwand (bei Pflegegrad 2) sichergestellt werden. Leistungen aus privater Pflegeversicherung, Geldleistungen bei Pflegebedürftigkeit sowie das Pflegegeld aus der gesetzlichen Pflegeversicherung seien nach Ziffer 5.1 des Gemeinsamen Rundschreibens der Krankenkassen vom 24. Oktober 2008 nicht zum maßgeblichen Gesamteinkommen zu rechnen und nach dem „Katalog von Einnahmen und deren beitragsrechtliche Bewertung nach § 240 SGB V“ des GKV-Spitzenverbandes auch nicht beitragspflichtig.43 Mit Bescheid vom 9. August 2018 lehnte die Beklagte – auch im Namen der bei ihr eingerichteten Pflegekasse – die Durchführung einer Familienversicherung über den 30. April 2018 hinaus erneut ab. Die Rente aus einer privaten Unfallversicherung gehöre zum maßgeblichen Gesamteinkommen. Die monatliche Rente sei ab Beginn der laufenden Zahlung zu berücksichtigen. Die Familienversicherung beginne kraft Gesetzes mit dem Tag, an dem die Voraussetzungen hierfür erstmals erfüllt oder Hinderungsgründe weggefallen seien. Sie ende kraft Gesetzes mit dem Tag, an dem die Voraussetzungen letztmals erfüllt seien. Sie ende somit auch rückwirkend, wenn der Wegfall (einer) der Voraussetzungen der Krankenkasse erst zu einem späteren Zeitpunkt bekannt oder angezeigt werde. Sie, die Beklagte, sei deshalb berechtigt, die Feststellung, dass eine Familienversicherung über den 30. April 2018 hinaus nicht bestehe, rückwirkend zu treffen (Verweis auf Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 7. Dezember 2000 – B 10 KR 3/99 R). Auch hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.44 Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2019 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch gegen den „Bescheid“ vom 20. Juli 2018 als unbegründet zurück. Das Einkommen der Klägerin aus den Unfall-Kombirente der A und D übersteige die für die Familienversicherung maßgebliche Einkommensgrenze. Dass die Renten aus der Unfall-Kombirente bei Feststellung einer Pflegestufe nach dem Sozialgesetzbuch gezahlt würden, mache diese nicht zu vom Gesamteinkommen nicht erfassten Leistungen bei Pflegebedürftigkeit. Bei solchen handle es sich um Leistungen einer privaten Pflegeversicherung, die neben der sozialen Pflegeversicherung bei einem Krankenversicherungsunternehmen bestünden (Bezugnahme auf ein Erläuterungsschreiben vom 1. Oktober 2018). Des Weiteren werde im Versicherungsschein von einer „Leistungsart im Rahmen der Unfallversicherung“ gesprochen; es gälten auch die AUB 2008. Die vorliegende Rente aus einer Pflegestufe werde nur in Ergänzung zu Ziffer 2 der AUB 2008 geleistet und sei damit keine Rente der privaten Pflegeversicherung.45 Hiergegen erhob die Klägerin am 25. Februar 2019 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) und begehrte die Feststellung, dass sie auch über den 30. April 2018 hinaus als Familienangehörige bei der Krankenversicherung des Beigeladenen mitversichert sei. Zur Begründung wiederholte sie ihr bisheriges Vorbringen, dass die von ihr bezogenen Zahlungen nicht die typischen Leistungen einer Unfallversicherung seien, sondern Leistungen, die der Finanzierung von (privat organisierten) Pflegedienstleistungen dienten. Diese Leistungen sollten dem Versicherten ein Budget zur Verfügung stellen, damit er Pflegedienstleistungen Dritter entsprechend organisieren und vergüten könne. Ergänzend legte sie die Schreiben der A und D vom 20. April 2018 sowie die als Inhalt des Versicherungsscheins Unfall-Versicherung der A abgedruckten AUB 2008 und BUB vor, die mit denen der D identisch seien.46 Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf die Gründe im angefochtenen Widerspruchsbescheid entgegen.47 Mit Urteil vom 25. September 2019 wies das SG die Klage ab. Mit den angefochtenen Bescheiden habe die Beklagte zu Recht festgestellt, dass die Familienversicherung der Klägerin zum 30. April 2018 geendet habe. Maßgeblich sei das als Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommenssteuerrechts definierte Gesamteinkommen der Klägerin. Steuerfrei seien u.a. gemäß § 3 Nr. 1 lit. a Einkommenssteuergesetz (EStG) Leistungen aus einer Krankenversicherung, aus einer Pflegeversicherung und aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung seien keine steuerfreien Einkünfte, sondern den sonstigen Einkünften nach § 22 EStG zuzurechnen. Entgegen der Auffassung der Klägerin handle es sich bei den Unfall-Kombirenten nicht um privilegierte Einnahmen im Sinne eines Einkommens aus privater Pflegeversicherung. Die Unfallkombirente werde entsprechend den BUB – abweichend von den AUB 2008 – nicht nur nach Eintritt des Leistungsfalles Unfall, sondern auch in weiteren dort genannten Fällen gezahlt. Die „Unfall-Kombirente“ sei als private Unfallversicherung abgeschlossen worden. Rentenzahlungen aus dieser blieben Leistungen einer privaten Unfallversicherung, unabhängig von ihrem Entstehungsgrund. Typisch für private Unfallrentenversicherungen sei die Gewährung einer Rentenleistung nach einem Unfall mit hieraus resultierendem, definiertem Invaliditätsgrad. Trotz der Einführung eines ergänzenden Leistungsfalles (Feststellung einer Pflegestufe) in eine ansonsten komplett als Unfallversicherung konzipierte private Versicherung bleibe weiterhin die Anknüpfung an eine Invalidität von mehr als 50 % maßgeblich. Die im Rahmen privater Unfallversicherungen üblichen Maßstäbe seien damit grundsätzlich beibehalten. Nach den BUB werde die Leistung nicht etwa als Pflegegeld oder Ähnliches bezeichnet, sondern ausdrücklich als „Rente“, also einem regelmäßigen Geldbetrag als Einkommen (aufgrund einer Versicherung) bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen. Der von der Klägerin behauptete Zweck der Versicherungsleistung lasse sich weder aus der Bezeichnung als „Rente“ noch aus BUB ableiten. Insbesondere führe die Anknüpfung an den Leistungsfall „Feststellung einer Pflegestufe“ nicht dazu, dass die Klägerin die erhaltenen Rentenleistungen auch tatsächlich zur Beschaffung von Pflegeleistungen zu verwenden habe. Es handle sich vielmehr um finanzielle Zuwendungen ohne jegliche Zweckbestimmung. Der Gesamtbetrag der Unfall-Kombirenten übersteige die gesetzliche Einkommensgrenze der Familienversicherung eines Ehegatten.48 Gegen dieses ihr am 7. Oktober 2019 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 11. Oktober 2019 Berufung beim SG zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt, zu deren Begründung sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholt hat.49 Die Klägerin beantragt,50 das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. September 2019 aufzuheben und unter Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom 20. Juli und 9. August 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2019 festzustellen, dass sie über den 30. April 2018 hinaus als Familienangehörige in der Krankenversicherung des Beigeladenen versichert ist,51 hilfsweise, die Revision zuzulassen.52 Die Beklagte beantragt,53 die Berufung zurückzuweisen.54 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und verweist auf ihr bisheriges Vorbringen.55 Der mit Beschluss vom 16. September 2020 beigeladene Ehemann der Klägerin hat keinen Antrag gestellt und sich zur Sache nicht geäußert.56 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Verfahrensakten des Senats und des SG Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
57 1. Die nach §§ 143, 151 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig und insbesondere statthaft im Sinne des § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 SGG, denn die Klage betrifft weder eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung noch einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt.58 2. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Begehren der Klägerin auf Feststellung, dass sie über den 30. April 2018 hinaus über den Beigeladenen als Stammversicherten bei den Beklagten in der Krankenversicherung familienversichert ist.59 Streitgegenstand ist nur die Familienversicherung in der Kranken-, nicht aber auch in der sozialen Pflegeversicherung. Bereits der Bescheid vom 20. Juli 2018 traf eine Regelung zur Beendigung der Familienversicherung allein in der Krankenversicherung. Die Versicherung in der sozialen Pflegeversicherung oder deren rechtliche Grundlagen werden nicht erwähnt. Insbesondere enthält dieser Bescheid keinen Hinweis darauf, dass er auch im Namen der Pflegekasse ergehe. Der spätere Bescheid vom 9. August 2018 erging zwar ausdrücklich auch im Namen der Pflegekasse, traf also eine Regelung auch zur Versicherung in der sozialen Pflegeversicherung. Insoweit änderte oder ersetzte er aber nicht den Bescheid vom 20. Juli 2018, da dieser gerade keine Regelung zur Pflegeversicherung traf. Eine Einbeziehung kraft Gesetzes gemäß § 86 SGG in das laufende Widerspruchsverfahren erfolgte daher nicht. Die Klägerin focht zwar auch den Bescheid vom 9. August 2018 ausdrücklich mit Widerspruch an. Der Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2019 traf jedoch keine Entscheidung zu der Regelung im Rahmen der Pflegeversicherung. Als Gegenstand des Widerspruches wird dort allein der „Bescheid“ vom 20. Juli 2018 genannt, der Bescheid vom 9. August 2018 hingegen als reine Erläuterung angesehen. Die inhaltlichen Ausführungen im Widerspruchsbescheid beschränken sich auf die Familienversicherung in der Krankenversicherung nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Die Regelungen des Elften Buches Sozialgesetzbuch werden nicht genannt. Es findet sich kein Hinweis, dass der Widerspruchsbescheid auch im Namen der Pflegekasse ergangen ist. Des Weiteren war auch das Begehren bei Klageerhebung erkennbar (§ 123 SGG) auf die Feststellung der Familienversicherung in der Krankenversicherung beschränkt. Dies ergibt sich aus dem von der rechtskundig vertretenen Klägerin bereits in der Klageschrift formulierten und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem SG wiederholten Antrag („in der Krankenversicherung“). Allein hierzu hat das SG in dem angefochtenen Urteil entschieden. Dies entspricht auch dem in der Berufungsbegründung formuliertem Antrag (wiederum „in der Krankenversicherung“).60 Die Feststellung, dass die Familienversicherung der Klägerin in der Krankenversicherung am 30. April 2018 ende, traf die Beklagte bereits im Bescheid vom 20. Juli 2018. Auch wenn dieser weder als Bescheid bezeichnet noch mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, stellt es dennoch inhaltlich einen Verwaltungsakt i.S.d. § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) dar. Denn nach dem maßgeblichen Empfängerhorizont traf die Beklagte eine feststellende Regelung über das Ende der Familienversicherung in der Krankenversicherung. Auch die Beklagte selbst geht nach dem Inhalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2019 von einem Verwaltungsakt aus, indem sie das Schreiben vom 20. Juli 2018 ausdrücklich als Bescheid bezeichnete und den Widerspruch dagegen als zulässig erachtete. Dem Bescheid vom 9. August 2018 kommt hingegen – für die Krankenversicherung – kein eigenständiger Regelungsgehalt zu. Eine von der im Bescheid vom 20. Juli 2018 getroffenen abweichende oder diese erweiternde Regelung wurde nicht bestimmt. Dem (Formal-)Bescheid ist auch nicht zu entnehmen, dass nach erneuter umfänglicher Prüfung eine neue, die bereits im Bescheid vom 20. Juli 2018 getroffene Regelung ersetzende Feststellung getroffen wurde. Es handelt sich mithin lediglich um eine wiederholende Verfügung. Auch die Beklagte geht im Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2019 nicht von einem eigenständigen Regelungsgehalt, sondern nur von einer „Erläuterung“ der bereits im Bescheid vom 20. Juli 2018 getroffenen Regelung aus.61 3. Die Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Familienversicherung der Klägerin in der Krankenversicherung über den Beigeladenen als Stammversicherten besteht nicht über den 30. April 2018 hinaus. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 30. Januar 2019 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.62 a) Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (BSG, Urteil vom 29. Juni 1993 – 12 RK 48/91 – juris, Rn. 14). Die Familienversicherung besteht bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kraft Gesetzes (Just, in: Becker/Kingreen, SGB V, 7. Aufl. 2020, § 10 Rn. 45 m.w.N.), ohne dass es einer konstitutiven Entscheidung des jeweiligen Versicherungsträgers bedarf. Einer Verpflichtung der Beklagten zum Erlass eines entsprechenden Verwaltungsaktes bedarf es daher ebenso wenig wie einer Verurteilung zur Durchführung der Familienversicherung.63 b) Der angefochtenen Entscheidung der Beklagten steht eine vorherige (positive) Entscheidung über das Bestehen einer Familienversicherung nicht entgegen. Ein Verwaltungsakt mit solchem Inhalt ist zu keinem Zeitpunkt ergangen. Dies macht auch die Klägerin nicht geltend. Liegt jedoch ein entgegenstehender Verwaltungsakt nicht vor, ist die Krankenkasse nicht gehindert, rückwirkend festzustellen, dass ab einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt eine Familienversicherung nicht bestanden hat (BSG, Urteil vom 7. Dezember 2000 – B 10 KR 3/99 R – juris, Rn. 33).64 c) Die Klägerin war ab dem 1. Mai 2018 nicht über den Beigeladenen als Stammversicherten bei den Beklagten familienversichert.65 aa) Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind u.a. Ehegatten von Mitgliedern versichert, wenn sie (Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, (2.) nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2, 2a, 3 bis 8, 11 oder 12 SGB V oder nicht freiwillig versichert sind, (3.) nicht versicherungsfrei oder nicht von der Versicherungspflicht befreit sind (dabei bleibt die Versicherungsfreiheit nach § 7 SGB V außer Betracht), (4.) nicht hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind und (5.) kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) überschreitet; bei Renten wird der Zahlbetrag ohne den auf Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten entfallenden Teil berücksichtigt; für geringfügig Beschäftigte nach § 8 Abs. 1 Nr. 1, § 8a SGB IV beträgt das zulässige Gesamteinkommen 450,00 EUR.66 bb) Die Klägerin erfüllt jedenfalls ab dem 1. Mai 2018 nicht mehr die Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V. Denn ab diesem Zeitpunkt übersteigt ihr Gesamteinkommen regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße.67 (1) Die monatlich von A und D gewährten Renten sind beim Gesamteinkommen der Klägerin zu berücksichtigen.68 (a) Gesamteinkommen ist nach § 16 SGB IV die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts; es umfasst insbesondere das Arbeitsentgelt und das Arbeitseinkommen.69 Mit der Verweisung auf das Einkommensteuerrecht ergibt sich ein abschließender Katalog der Einkunftsarten, der für die Feststellung des Gesamteinkommens maßgebend ist. Zu berücksichtigen sind alle sieben Einkunftsarten des EStG, d.h. die in § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG unter der Überschrift „Umfang der Besteuerung“ genannten Einkünfte, u.a. sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 EStG; Fischer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., Stand: 15. April 2020, § 16 Rn. 18 f.). Zu diesen sonstigen Einkünften gehören u.a. Renten aus einem privaten Unfallversicherungsvertrag (Gerlach in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand Januar 2020, § 10 Rn. 142c). Diese grundsätzliche Verweisung auf das Steuerrecht in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Halbs. 1 SGB V ist allerdings für Renten außer Kraft gesetzt und gilt nur noch für die übrigen Einkünfte. Der allgemeinen Vorschrift über die Berücksichtigung des Gesamteinkommens i.S.d. § 16 SGB IV geht die Sonderregelung für Renten in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Halbs. 2 SGB V – Berücksichtigung des Zahlbetrages – vor. Diese Sonderregelung ist nicht beschränkt auf Renten der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern gilt für alle Renten, die zu den Einkünften i.S.d. Einkommensteuerrechts gehören (BSG, Urteil vom 25. Januar 2006 – B 12 KR 10/04 R – juris, Rn. 11 m.w.N.). Gehört eine Rente somit nach den Regelungen des Einkommensteuerrechts zu den Einkünften, ist sie im Rahmen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V im Gesamteinkommen zu berücksichtigen, aber mit dem Zahlbetrag und nicht nur mit dem steuerrechtlich maßgeblichen Ertragsanteil oder unter Berücksichtigung von steuerlichen Freibeträgen (BSG, Urteil vom 10. März 1994 – 12 RK 4/92 - juris, Rn. 19).70 (b) Bei den Rentenzahlungen der A und D aus der Unfall-Kombirente handelt es sich um steuerpflichtige sonstige Einkünfte nach § 22 EStG. Entgegen der Ansicht der Klägerin unterfallen diese nicht § 3 Nr. 1 lit. a EStG. Danach sind steuerfrei Leistungen aus einer Krankenversicherung, aus einer Pflegeversicherung und aus der gesetzlichen Unfallversicherung.71 (aa) Die Befreiung der Leistungen „aus einer Pflegeversicherung“ umfasst alle Leistungen aus der im SGB XI geregelten gesetzlichen und aus den vertraglichen Pflegeversicherungen (von Beckerath, in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 19. Aufl. 2020, § 3 Nr. 1 Rn. 5). Die Steuerfreiheit erfasst Pflegesachleistungen und die im SGB XI vorgesehenen Geldleistungen, insbesondere das Pflegegeld nach § 37 SGB XI (Levedag, in: Schmidt, EStG, 39. Aufl. 2020, § 3 Rn. 7) und die entsprechenden Leistungen aus einer privaten Pflegeversicherung. Nach § 192 Abs. 6 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ist der Versicherer bei der Pflegekrankenversicherung verpflichtet, im Fall der Pflegebedürftigkeit im vereinbarten Umfang die Aufwendungen für die Pflege der versicherten Person zu erstatten (Pflegekostenversicherung) oder das vereinbarte Tagegeld zu leisten (Pflegetagegeldversicherung).72 Eine Leistung solchen Inhalts erhält die Klägerin vorliegend von A und D nicht. Dies entnimmt der Senat deren Schreiben vom 20. April 2018, die ausdrücklich eine monatliche „Rente“ zugestehen. Dies deckt sich mit den Bestimmungen in den von der Klägerin vorgelegten BUB der A. Diese legt der Senat auch für den Vertragsinhalt mit D zugrunde. Denn die Klägerin hat selbst erklärt, dass diese identisch sind mit den Versicherungsbedingungen der D (vgl. bereits Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 9. Juli 2018, Bl. 10 der Verwaltungsakte). Nach Ziffern 1.1.1 und 5 BUB leistet das Versicherungsunternehmen eine „Rente“.73 Der Leistungsanspruch der Klägerin gegen die Versicherungsunternehmen resultiert auch nicht aus einem privaten Pflege-, sondern einem Unfallversicherungsvertrag. Bereits der vorgelegte Versicherungsschein bezeichnet die abgeschlossene Versicherung ausdrücklich als „Unfall-Versicherung“ und umfasst unter derselben Versicherungsnummer sowie die (allgemeinen) Leistungen der Unfallversicherung nach den AUB 2008 als auch die Unfall-Kombirente nach den BUB. Auch wenn die Leistungsart – Unfall-Kombirente – immer als eigenständiger Vertrag gilt, wird in der Präambel der BUB ausdrücklich bestimmt, dass die Unfall-Kombirente eine eigenständige Leistungsart im Rahmen der Unfall-Versicherung – also nicht der Pflegeversicherung – ist. Dem entspricht auch die weitere Festlegung in der Präambel, dass – vorbehaltlich abweichender Regelungen der BUB – grundsätzlich die Bestimmungen der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen der AUB 2008 gelten. Vertraglich versichert ist auch nicht spezifisch das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Zwar bestimmen die Ziffern 1.1.1 und 5.1 Satz 1 BUB als Leistungsfall u.a. eine Einstufung der Pflegestufe I, II oder III nach SGB. Nach Ziff. 5.1 Satz 2 BUB entspricht dies nach den Maßstäben der diesem Vertrag zugrunde liegenden Bewertungen einer Invalidität von mehr als 50 %. Damit wird deutlich, dass die Zuerkennung einer Pflegestufe nach dem SGB XI nur als (ein) Ausdruck des im Rahmen der Unfallversicherung versicherten Risikos der Invalidität gewertet wird. Auch die fehlende Differenzierung der Höhe der zugesagten Leistung nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit sowie häuslicher oder stationärer Pflege spricht gegen eine Versicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Dies zeigt deutlich der ebenfalls erfasste Leistungsfall in Ziffern 1.1.1 und 2.1 BUB. Dieser setzt ausschließlich einen unfallbedingten Grad der Invalidität von mindestens 50 % voraus, löst aber die gleiche Leistung (monatliche Rente in Höhe der vereinbarten Versicherungssumme) aus wie nach Ziffer 5 BUB die Zuerkennung einer Pflegestufe. Die weiteren Leistungsfälle der Unfall-Kombirente (Organkonzept und Verlust einzelner, definierter Grundfertigkeiten) werden nach dem dort jeweils vorgesehenen Bewertungsmaßstab ebenfalls auf einen Grad der Invalidität von mehr als 50 % bezogen. Versichertes Risiko auch der Unfall-Kombirente bleibt somit (allgemein) die Invalidität. Dass die gewährte Leistung den von der Klägerin angeführten Zwecken (Finanzierung von – privat organisierten – Pflegedienstleistungen) dienen soll, kann den BUB nicht entnommen werden. Eine solche Zweckbestimmung ist dort an keiner Stelle angesprochen. Dass die Leistung in gleicher Weise und Höhe auch bei den anderen drei Leistungsfällen gewährt wird, die eine Pflegebedürftigkeit gerade nicht voraussetzen, steht der behaupteten Zweckbestimmung entgegen. Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, spricht auch die ausdrückliche Bezeichnung der Leistung als „Rente“ nach dem allgemeinen Sprachgebrauch gegen eine solche Zweckbestimmung.74 (bb) Da es sich bei den vertraglichen Leistungen der privaten Versicherungsunternehmen A und D um solche der privaten Unfallversicherung handelt, sind diese nicht steuerfrei. § 3 Nr. 1 lit. a EStG kann nicht auf Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung ausgedehnt werden. Eine Gleichstellung von privater und gesetzlicher Versicherung hat der Gesetzgeber in dieser Norm nur für den Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung bestimmt und damit zu erkennen gegeben, dass eine derartige Gleichstellung bei der Unfallversicherung ausgeschlossen sein soll (vgl. Bundesfinanzhof [BFH], Urteil vom 14. März 1972 – VIII R 26/67 – juris, Rn. 9).75 Darin liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Der Gleichheitsgrundsatz bindet den Gesetzgeber nur insoweit, als nicht willkürlich Gleiches ungleich behandelt werden darf. Grundsätzlich entscheidet der Gesetzgeber, welche Elemente der zu ordnenden Lebensverhältnisse im Rechtssinne als gleich oder als ungleich behandelt werden können. Von Willkür kann erst dann gesprochen werden, wenn sich für gesetzliche Differenzierungen ein sachlich einleuchtender Grund nicht finden lässt und deshalb die Gesetzesbestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss. Das ist hier nicht der Fall. Der Grund für die Beschränkung der Steuerfreiheit in § 3 Nr. 1 EStG auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist sozialpolitischer Natur. Es sollen nur Leistungen an einen Personenkreis von der Steuer freigestellt werden, der dem Gesetzgeber auch bei der Regelung der Versicherungspflicht als schutzwürdig erschien (BFH, a.a.O., Rn. 10).76 (2) Das Gesamteinkommen der Klägerin übersteigt seit dem 1. Mai 2018 die maßgebliche Einkommensgrenze von einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße.77 Die Unfall-Kombirente der A wird in Höhe von 500,00 EUR monatlich, die der D in Höhe von 600,00 EUR monatlich ausgezahlt. Maßgeblich ist, wie oben dargelegt, der Zahlbetrag der Rente. Das Einkommen der Klägerin hieraus beträgt mithin insgesamt 1.100,00 EUR monatlich. Die Zahlungen der laufenden Leistungen wurden im April 2018 aufgenommen. Jedenfalls ab dem 1. Mai 2018 und damit im hier streitbefangenen Zeitraum hat die Klägerin die Renten in dieser Höhe tatsächlich ausgezahlt erhalten (Schreiben der A und D vom 20. April 2018).78 Die monatliche Bezugsgröße nach § 18 SGB IV betrug 2018 3.045,00 EUR (hiervon ein Siebtel: 435,00 EUR), 2019 3.115,00 EUR (hiervon ein Siebtel: 445,00 EUR) und beträgt 2020 3.185,00 EUR (hiervon ein Siebtel: 455,00 EUR). Mit einem monatlichen Einkommen von 1.100,00 EUR wurde und wird somit die Einkommensgrenze des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V überschritten.79 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG. Eine Kostenerstattung für den Beigeladenen, der einen Antrag nicht gestellt hat, ist nicht angemessen.80 5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht
Gründe
57 1. Die nach §§ 143, 151 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig und insbesondere statthaft im Sinne des § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 SGG, denn die Klage betrifft weder eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung noch einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt.58 2. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Begehren der Klägerin auf Feststellung, dass sie über den 30. April 2018 hinaus über den Beigeladenen als Stammversicherten bei den Beklagten in der Krankenversicherung familienversichert ist.59 Streitgegenstand ist nur die Familienversicherung in der Kranken-, nicht aber auch in der sozialen Pflegeversicherung. Bereits der Bescheid vom 20. Juli 2018 traf eine Regelung zur Beendigung der Familienversicherung allein in der Krankenversicherung. Die Versicherung in der sozialen Pflegeversicherung oder deren rechtliche Grundlagen werden nicht erwähnt. Insbesondere enthält dieser Bescheid keinen Hinweis darauf, dass er auch im Namen der Pflegekasse ergehe. Der spätere Bescheid vom 9. August 2018 erging zwar ausdrücklich auch im Namen der Pflegekasse, traf also eine Regelung auch zur Versicherung in der sozialen Pflegeversicherung. Insoweit änderte oder ersetzte er aber nicht den Bescheid vom 20. Juli 2018, da dieser gerade keine Regelung zur Pflegeversicherung traf. Eine Einbeziehung kraft Gesetzes gemäß § 86 SGG in das laufende Widerspruchsverfahren erfolgte daher nicht. Die Klägerin focht zwar auch den Bescheid vom 9. August 2018 ausdrücklich mit Widerspruch an. Der Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2019 traf jedoch keine Entscheidung zu der Regelung im Rahmen der Pflegeversicherung. Als Gegenstand des Widerspruches wird dort allein der „Bescheid“ vom 20. Juli 2018 genannt, der Bescheid vom 9. August 2018 hingegen als reine Erläuterung angesehen. Die inhaltlichen Ausführungen im Widerspruchsbescheid beschränken sich auf die Familienversicherung in der Krankenversicherung nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Die Regelungen des Elften Buches Sozialgesetzbuch werden nicht genannt. Es findet sich kein Hinweis, dass der Widerspruchsbescheid auch im Namen der Pflegekasse ergangen ist. Des Weiteren war auch das Begehren bei Klageerhebung erkennbar (§ 123 SGG) auf die Feststellung der Familienversicherung in der Krankenversicherung beschränkt. Dies ergibt sich aus dem von der rechtskundig vertretenen Klägerin bereits in der Klageschrift formulierten und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem SG wiederholten Antrag („in der Krankenversicherung“). Allein hierzu hat das SG in dem angefochtenen Urteil entschieden. Dies entspricht auch dem in der Berufungsbegründung formuliertem Antrag (wiederum „in der Krankenversicherung“).60 Die Feststellung, dass die Familienversicherung der Klägerin in der Krankenversicherung am 30. April 2018 ende, traf die Beklagte bereits im Bescheid vom 20. Juli 2018. Auch wenn dieser weder als Bescheid bezeichnet noch mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, stellt es dennoch inhaltlich einen Verwaltungsakt i.S.d. § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) dar. Denn nach dem maßgeblichen Empfängerhorizont traf die Beklagte eine feststellende Regelung über das Ende der Familienversicherung in der Krankenversicherung. Auch die Beklagte selbst geht nach dem Inhalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2019 von einem Verwaltungsakt aus, indem sie das Schreiben vom 20. Juli 2018 ausdrücklich als Bescheid bezeichnete und den Widerspruch dagegen als zulässig erachtete. Dem Bescheid vom 9. August 2018 kommt hingegen – für die Krankenversicherung – kein eigenständiger Regelungsgehalt zu. Eine von der im Bescheid vom 20. Juli 2018 getroffenen abweichende oder diese erweiternde Regelung wurde nicht bestimmt. Dem (Formal-)Bescheid ist auch nicht zu entnehmen, dass nach erneuter umfänglicher Prüfung eine neue, die bereits im Bescheid vom 20. Juli 2018 getroffene Regelung ersetzende Feststellung getroffen wurde. Es handelt sich mithin lediglich um eine wiederholende Verfügung. Auch die Beklagte geht im Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 2019 nicht von einem eigenständigen Regelungsgehalt, sondern nur von einer „Erläuterung“ der bereits im Bescheid vom 20. Juli 2018 getroffenen Regelung aus.61 3. Die Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Familienversicherung der Klägerin in der Krankenversicherung über den Beigeladenen als Stammversicherten besteht nicht über den 30. April 2018 hinaus. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 30. Januar 2019 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.62 a) Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (BSG, Urteil vom 29. Juni 1993 – 12 RK 48/91 – juris, Rn. 14). Die Familienversicherung besteht bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kraft Gesetzes (Just, in: Becker/Kingreen, SGB V, 7. Aufl. 2020, § 10 Rn. 45 m.w.N.), ohne dass es einer konstitutiven Entscheidung des jeweiligen Versicherungsträgers bedarf. Einer Verpflichtung der Beklagten zum Erlass eines entsprechenden Verwaltungsaktes bedarf es daher ebenso wenig wie einer Verurteilung zur Durchführung der Familienversicherung.63 b) Der angefochtenen Entscheidung der Beklagten steht eine vorherige (positive) Entscheidung über das Bestehen einer Familienversicherung nicht entgegen. Ein Verwaltungsakt mit solchem Inhalt ist zu keinem Zeitpunkt ergangen. Dies macht auch die Klägerin nicht geltend. Liegt jedoch ein entgegenstehender Verwaltungsakt nicht vor, ist die Krankenkasse nicht gehindert, rückwirkend festzustellen, dass ab einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt eine Familienversicherung nicht bestanden hat (BSG, Urteil vom 7. Dezember 2000 – B 10 KR 3/99 R – juris, Rn. 33).64 c) Die Klägerin war ab dem 1. Mai 2018 nicht über den Beigeladenen als Stammversicherten bei den Beklagten familienversichert.65 aa) Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind u.a. Ehegatten von Mitgliedern versichert, wenn sie (Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, (2.) nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2, 2a, 3 bis 8, 11 oder 12 SGB V oder nicht freiwillig versichert sind, (3.) nicht versicherungsfrei oder nicht von der Versicherungspflicht befreit sind (dabei bleibt die Versicherungsfreiheit nach § 7 SGB V außer Betracht), (4.) nicht hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind und (5.) kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) überschreitet; bei Renten wird der Zahlbetrag ohne den auf Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten entfallenden Teil berücksichtigt; für geringfügig Beschäftigte nach § 8 Abs. 1 Nr. 1, § 8a SGB IV beträgt das zulässige Gesamteinkommen 450,00 EUR.66 bb) Die Klägerin erfüllt jedenfalls ab dem 1. Mai 2018 nicht mehr die Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V. Denn ab diesem Zeitpunkt übersteigt ihr Gesamteinkommen regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße.67 (1) Die monatlich von A und D gewährten Renten sind beim Gesamteinkommen der Klägerin zu berücksichtigen.68 (a) Gesamteinkommen ist nach § 16 SGB IV die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts; es umfasst insbesondere das Arbeitsentgelt und das Arbeitseinkommen.69 Mit der Verweisung auf das Einkommensteuerrecht ergibt sich ein abschließender Katalog der Einkunftsarten, der für die Feststellung des Gesamteinkommens maßgebend ist. Zu berücksichtigen sind alle sieben Einkunftsarten des EStG, d.h. die in § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG unter der Überschrift „Umfang der Besteuerung“ genannten Einkünfte, u.a. sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 EStG; Fischer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., Stand: 15. April 2020, § 16 Rn. 18 f.). Zu diesen sonstigen Einkünften gehören u.a. Renten aus einem privaten Unfallversicherungsvertrag (Gerlach in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand Januar 2020, § 10 Rn. 142c). Diese grundsätzliche Verweisung auf das Steuerrecht in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Halbs. 1 SGB V ist allerdings für Renten außer Kraft gesetzt und gilt nur noch für die übrigen Einkünfte. Der allgemeinen Vorschrift über die Berücksichtigung des Gesamteinkommens i.S.d. § 16 SGB IV geht die Sonderregelung für Renten in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Halbs. 2 SGB V – Berücksichtigung des Zahlbetrages – vor. Diese Sonderregelung ist nicht beschränkt auf Renten der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern gilt für alle Renten, die zu den Einkünften i.S.d. Einkommensteuerrechts gehören (BSG, Urteil vom 25. Januar 2006 – B 12 KR 10/04 R – juris, Rn. 11 m.w.N.). Gehört eine Rente somit nach den Regelungen des Einkommensteuerrechts zu den Einkünften, ist sie im Rahmen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V im Gesamteinkommen zu berücksichtigen, aber mit dem Zahlbetrag und nicht nur mit dem steuerrechtlich maßgeblichen Ertragsanteil oder unter Berücksichtigung von steuerlichen Freibeträgen (BSG, Urteil vom 10. März 1994 – 12 RK 4/92 - juris, Rn. 19).70 (b) Bei den Rentenzahlungen der A und D aus der Unfall-Kombirente handelt es sich um steuerpflichtige sonstige Einkünfte nach § 22 EStG. Entgegen der Ansicht der Klägerin unterfallen diese nicht § 3 Nr. 1 lit. a EStG. Danach sind steuerfrei Leistungen aus einer Krankenversicherung, aus einer Pflegeversicherung und aus der gesetzlichen Unfallversicherung.71 (aa) Die Befreiung der Leistungen „aus einer Pflegeversicherung“ umfasst alle Leistungen aus der im SGB XI geregelten gesetzlichen und aus den vertraglichen Pflegeversicherungen (von Beckerath, in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 19. Aufl. 2020, § 3 Nr. 1 Rn. 5). Die Steuerfreiheit erfasst Pflegesachleistungen und die im SGB XI vorgesehenen Geldleistungen, insbesondere das Pflegegeld nach § 37 SGB XI (Levedag, in: Schmidt, EStG, 39. Aufl. 2020, § 3 Rn. 7) und die entsprechenden Leistungen aus einer privaten Pflegeversicherung. Nach § 192 Abs. 6 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ist der Versicherer bei der Pflegekrankenversicherung verpflichtet, im Fall der Pflegebedürftigkeit im vereinbarten Umfang die Aufwendungen für die Pflege der versicherten Person zu erstatten (Pflegekostenversicherung) oder das vereinbarte Tagegeld zu leisten (Pflegetagegeldversicherung).72 Eine Leistung solchen Inhalts erhält die Klägerin vorliegend von A und D nicht. Dies entnimmt der Senat deren Schreiben vom 20. April 2018, die ausdrücklich eine monatliche „Rente“ zugestehen. Dies deckt sich mit den Bestimmungen in den von der Klägerin vorgelegten BUB der A. Diese legt der Senat auch für den Vertragsinhalt mit D zugrunde. Denn die Klägerin hat selbst erklärt, dass diese identisch sind mit den Versicherungsbedingungen der D (vgl. bereits Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 9. Juli 2018, Bl. 10 der Verwaltungsakte). Nach Ziffern 1.1.1 und 5 BUB leistet das Versicherungsunternehmen eine „Rente“.73 Der Leistungsanspruch der Klägerin gegen die Versicherungsunternehmen resultiert auch nicht aus einem privaten Pflege-, sondern einem Unfallversicherungsvertrag. Bereits der vorgelegte Versicherungsschein bezeichnet die abgeschlossene Versicherung ausdrücklich als „Unfall-Versicherung“ und umfasst unter derselben Versicherungsnummer sowie die (allgemeinen) Leistungen der Unfallversicherung nach den AUB 2008 als auch die Unfall-Kombirente nach den BUB. Auch wenn die Leistungsart – Unfall-Kombirente – immer als eigenständiger Vertrag gilt, wird in der Präambel der BUB ausdrücklich bestimmt, dass die Unfall-Kombirente eine eigenständige Leistungsart im Rahmen der Unfall-Versicherung – also nicht der Pflegeversicherung – ist. Dem entspricht auch die weitere Festlegung in der Präambel, dass – vorbehaltlich abweichender Regelungen der BUB – grundsätzlich die Bestimmungen der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen der AUB 2008 gelten. Vertraglich versichert ist auch nicht spezifisch das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Zwar bestimmen die Ziffern 1.1.1 und 5.1 Satz 1 BUB als Leistungsfall u.a. eine Einstufung der Pflegestufe I, II oder III nach SGB. Nach Ziff. 5.1 Satz 2 BUB entspricht dies nach den Maßstäben der diesem Vertrag zugrunde liegenden Bewertungen einer Invalidität von mehr als 50 %. Damit wird deutlich, dass die Zuerkennung einer Pflegestufe nach dem SGB XI nur als (ein) Ausdruck des im Rahmen der Unfallversicherung versicherten Risikos der Invalidität gewertet wird. Auch die fehlende Differenzierung der Höhe der zugesagten Leistung nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit sowie häuslicher oder stationärer Pflege spricht gegen eine Versicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Dies zeigt deutlich der ebenfalls erfasste Leistungsfall in Ziffern 1.1.1 und 2.1 BUB. Dieser setzt ausschließlich einen unfallbedingten Grad der Invalidität von mindestens 50 % voraus, löst aber die gleiche Leistung (monatliche Rente in Höhe der vereinbarten Versicherungssumme) aus wie nach Ziffer 5 BUB die Zuerkennung einer Pflegestufe. Die weiteren Leistungsfälle der Unfall-Kombirente (Organkonzept und Verlust einzelner, definierter Grundfertigkeiten) werden nach dem dort jeweils vorgesehenen Bewertungsmaßstab ebenfalls auf einen Grad der Invalidität von mehr als 50 % bezogen. Versichertes Risiko auch der Unfall-Kombirente bleibt somit (allgemein) die Invalidität. Dass die gewährte Leistung den von der Klägerin angeführten Zwecken (Finanzierung von – privat organisierten – Pflegedienstleistungen) dienen soll, kann den BUB nicht entnommen werden. Eine solche Zweckbestimmung ist dort an keiner Stelle angesprochen. Dass die Leistung in gleicher Weise und Höhe auch bei den anderen drei Leistungsfällen gewährt wird, die eine Pflegebedürftigkeit gerade nicht voraussetzen, steht der behaupteten Zweckbestimmung entgegen. Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, spricht auch die ausdrückliche Bezeichnung der Leistung als „Rente“ nach dem allgemeinen Sprachgebrauch gegen eine solche Zweckbestimmung.74 (bb) Da es sich bei den vertraglichen Leistungen der privaten Versicherungsunternehmen A und D um solche der privaten Unfallversicherung handelt, sind diese nicht steuerfrei. § 3 Nr. 1 lit. a EStG kann nicht auf Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung ausgedehnt werden. Eine Gleichstellung von privater und gesetzlicher Versicherung hat der Gesetzgeber in dieser Norm nur für den Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung bestimmt und damit zu erkennen gegeben, dass eine derartige Gleichstellung bei der Unfallversicherung ausgeschlossen sein soll (vgl. Bundesfinanzhof [BFH], Urteil vom 14. März 1972 – VIII R 26/67 – juris, Rn. 9).75 Darin liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Der Gleichheitsgrundsatz bindet den Gesetzgeber nur insoweit, als nicht willkürlich Gleiches ungleich behandelt werden darf. Grundsätzlich entscheidet der Gesetzgeber, welche Elemente der zu ordnenden Lebensverhältnisse im Rechtssinne als gleich oder als ungleich behandelt werden können. Von Willkür kann erst dann gesprochen werden, wenn sich für gesetzliche Differenzierungen ein sachlich einleuchtender Grund nicht finden lässt und deshalb die Gesetzesbestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss. Das ist hier nicht der Fall. Der Grund für die Beschränkung der Steuerfreiheit in § 3 Nr. 1 EStG auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist sozialpolitischer Natur. Es sollen nur Leistungen an einen Personenkreis von der Steuer freigestellt werden, der dem Gesetzgeber auch bei der Regelung der Versicherungspflicht als schutzwürdig erschien (BFH, a.a.O., Rn. 10).76 (2) Das Gesamteinkommen der Klägerin übersteigt seit dem 1. Mai 2018 die maßgebliche Einkommensgrenze von einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße.77 Die Unfall-Kombirente der A wird in Höhe von 500,00 EUR monatlich, die der D in Höhe von 600,00 EUR monatlich ausgezahlt. Maßgeblich ist, wie oben dargelegt, der Zahlbetrag der Rente. Das Einkommen der Klägerin hieraus beträgt mithin insgesamt 1.100,00 EUR monatlich. Die Zahlungen der laufenden Leistungen wurden im April 2018 aufgenommen. Jedenfalls ab dem 1. Mai 2018 und damit im hier streitbefangenen Zeitraum hat die Klägerin die Renten in dieser Höhe tatsächlich ausgezahlt erhalten (Schreiben der A und D vom 20. April 2018).78 Die monatliche Bezugsgröße nach § 18 SGB IV betrug 2018 3.045,00 EUR (hiervon ein Siebtel: 435,00 EUR), 2019 3.115,00 EUR (hiervon ein Siebtel: 445,00 EUR) und beträgt 2020 3.185,00 EUR (hiervon ein Siebtel: 455,00 EUR). Mit einem monatlichen Einkommen von 1.100,00 EUR wurde und wird somit die Einkommensgrenze des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V überschritten.79 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG. Eine Kostenerstattung für den Beigeladenen, der einen Antrag nicht gestellt hat, ist nicht angemessen.80 5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht | {
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Tenor
I. Auf die sofortige Beschwerde wird der Kostenfestsetzungsbeschluss vom 31.08.2020 aufgehoben.
II. Das Verfahren wird zu erneuter Behandlung - nach einer gerichtlichen Entscheidung über den Antrag der Beklagten gemäß § 33 Abs. 1 RVG - an das Landgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden hat.
Gründe
I.
Die Parteien streiten um die Bemessungsgrundlage für eine anwaltliche Einigungs- und Terminsgebühr.
Der Kläger hat am 24.08.2017 eine Stufenklage zur Durchsetzung von Pflichtteilsansprüchen erhoben.
Nach Anerkenntnis des Auskunftsanspruches kam es am 29.11.2017 zu einer Zahlung der Beklagten in Höhe von 50.000,00 € an den Kläger. Nach zeitweiligem Ruhen des Verfahrens erging am 05.04.2018 ein Teilurteil gegen die Beklagte. Anschließend kam es zu Auseinandersetzungen über die Auskunftserteilung und ein Zwangsgeld, nach deren Beendigung der Kläger mit Schriftsätzen vom 06.02. sowie vom 05.03.2020 die Hauptsache insgesamt für erledigt erklärte. Das Gericht legte hierauf die Kosten des Rechtsstreits gemäß § 91 a Abs. 1 ZPO der Beklagten auf und setzte den Streitwert auf € 58.567,35 fest. Die Beklagte legte - nur - gegen die Kostenverteilung in Ziffer 1. dieses Beschlusses sofortige Beschwerde ein, die ohne Erfolg blieb.
Im Zuge des Kostenfestsetzungsverfahrens wandte sich die Beklagte mit Schriftsatz vom 26.05.2020 gegen das Festsetzungsgesuch des Klägers: Der Gegenstandswert für die Einigungs- und Terminsgebühr müsse die erfolgte Zahlung von € 50.000,00 berücksichtigen; Gegenstand des Vergleichs sei nurmehr der diese Summe übersteigende Restbetrag gewesen. Der Kläger verwies demgegenüber darauf, die Beklagte habe die Festsetzung des Streitwertes in dem Beschluss vom 18.03.2020 nicht angefochten.
Das Landgericht legte sodann in dem angefochtenen Festsetzungsbeschluss den Streitwert von € 58.567,35 zu Grunde. Die Beklagte habe eine Zahlung geleistet, dies jedoch insbesondere zur Verhinderung weiterer Vollstreckungsmaßnahmen des Klägers.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer sofortigen Beschwerde, zu deren Begründung sie im Wesentlichen anführt, sowohl Termins- wie auch Einigungsgebühr dürften nicht aus dem gerichtlich festgesetzten Gegenstandswert berechnet werden; bereits vor Anfall dieser Gebühren sei der Betrag von € 50.000,00 bezahlt worden; auf die übrige Begründung wird Bezug genommen.
II.
Die gemäß §§ 104 Abs. 3, 567, 569 ZPO zulässige sofortige Beschwerde - als solche ist die „Erinnerung“ auszulegen - hat in der Sache Erfolg; die Unterscheidung zwischen der Festsetzung von Gerichtskosten einerseits und der von Rechtsanwaltskosten andererseits wurde nicht hinreichend beachtet.
1. Richtig ist, dass im Kostenfestsetzungsverfahren grundsätzlich eine Bindung des Rechtspflegers an den gerichtlich bestimmten Streitwert besteht.
Gemäß § 23 Abs. 1 RVG bestimmen sich - im Grundsatz - die anwaltlichen Gebühren nach den Wertvorschriften, die für die Gerichtsgebühren gelten; deshalb ist - wiederum im Grundsatz - eine Festsetzung von Gerichtsgebühren auch für die Bemessung der Gebühren des Anwaltes maßgebend, das heißt der festgesetzte Streitwert gilt auch für diese.
Allerdings gibt es Fälle, in denen der für die Tätigkeit des Rechtsanwaltes maßgebende Wert anders ist als derjenige für die Gerichtsgebühren, beispielsweise wenn eine Klage während des Rechtsstreits teilweise zurückgenommen wird und anschließend noch ein gerichtlicher Termin stattfindet: Die Gerichtsgebühr bestimmt sich immer nach dem höheren Wert und dieser gilt auch für die Verfahrensgebühr des Rechtsanwaltes; der maßgebliche Gegenstandswert für die anwaltliche Terminsgebühr ist in diesem Falle jedoch geringer (vgl. z.B. OLG Frankfurt, Beschl. v. 07.03.2018 - 14 W 89/18; OLG München, Beschl. v. 13.12.2016 - 15 U 2407/16; LG Mainz, Beschl. v. 04.10.2018 - 1 O 264/16 oder KG Berlin, Beschl. v. 02.03.2018 - 26 W 62/17; aus der Senatsrechtsprechung etwa Beschl. v. 18.10.2016 - 11 WF 1225/16; Beschl. v. 10.08.2016 - 11 W 1152/16; aus der Literatur Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, RVG, 24. Aufl., § 32 Rn. 7 ff.). Entsprechendes kann auch bei einer (teilweisen) Erledigterklärung wie hier gelten.
2. Verfahrenstechnisch ist das Gericht dabei nicht gehalten, von sich aus neben der Festsetzung des Wertes für die Gerichtskosten auch die - möglicherweise unterschiedlichen - Gegenstandswerte für die Bemessung der Rechtsanwaltsgebühren zu bestimmen. Vielmehr obliegt es der Partei, die sich auf ein Auseinanderfallen von Gerichts- und Anwaltskosten beruft, gegebenenfalls einen Antrag nach § 33 Abs. 1 RVG zu stellen. In einem solchen Fall, wenn also die Festsetzung des Streitwertes für die Gerichtskosten nicht gemäß § 32 Abs. 1 RVG auch für die Anwaltsgebühren gilt, hat das Gericht, nämlich der Richter, über deren Höhe zu befinden.
Ein derartiger Fall liegt hier vor - es handelt sich um eine Stufenklage mit späterer Erledigungserklärung durch den Kläger (siehe hierzu aus neuerer Zeit speziell zur Stufenklage z.B. OLG Koblenz, Beschl. v. 12.10.2018 - 2 W 464/18 Tz 9 ff.; anschaulich auch OLG Brandenburg, Beschl. v. 16.03.2013 - 3 WF 1/12 Tz 12 ff.; Schneider/Wolf, RVG, 8. Aufl., § 33 Rn. 4 und Rn. 28).
Vorliegend hat die Beklagte zwar die Vorschrift des § 33 Abs. 1 RVG nicht genannt - das Vorbringen vom 26.05.2020 jedoch ist ohne weiteres als Antrag in diesem Sinne auszulegen: Es wird letztlich dargelegt, der Gegenstandswert für Einigungs- und Terminsgebühr des Klägervertreters müsse aus einem niedrigeren Wert als dem für die Gerichtskosten festgesetzten berechnet werden (siehe zur Annahme eines konkludenten Antrages in diesem Fall etwa BGH, Beschl. v. 27.03.2014 - IX ZB 52/13 Rn. 4 a.E.).
Demnach hätte die Rechtspflegerin den Antrag gemäß § 33 Abs. 1 RVG der zuständigen Richterin zur Entscheidung vorlegen müssen (BGH, Beschl. v. 27.03.2014 - IX ZB 52/13 Tz 4 ff.; OLG Koblenz, Beschl. v. 12.10.2018 - 2 W 464/18 Tz 9; OLG Brandenburg, a.a.O., Tz 14); ob es hierzu einer förmlichen Aussetzung des Verfahrens gemäß § 11 Abs. 4 RVG analog, 148 ZPO bedurfte (was nicht unbedingt zwingend erscheint), bedarf keiner Entscheidung.
Diese richterliche Entscheidung über den konkludent gestellten Antrag nach § 33 Abs. 1 RVG (Schriftsatz 26.05.2020, Bl. 89) ist nachzuholen (das Beschwerdegericht kann eine solche nicht treffen: §§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG gilt hier nicht). Anschließend kann die Höhe der Termins- und Einigungsgebühr berechnet werden.
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 23. Juli 2020 gegen Ziffer 3 Satz 2 des Bescheides vom 8. Juli 2020 wird angeordnet, soweit die Antragsgegnerin androht, die streitgegenständlichen Tiere im Wege des unmittelbaren Zwangs zu veräußern. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag der Antragstellerin,
2
die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die tierschutzrechtliche Ordnungsverfügung vom 8. Juli 2020 wiederherzustellen,
3
ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
4
Soweit die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung vom 8. Juli 2020 nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hinsichtlich der Anordnungen in Ziffern 1-2 ausgesprochen hat, ist der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO statthaft. Hinsichtlich der darüber hinaus in dem Bescheid enthaltenen Androhung des unmittelbaren Zwangs für den Fall der Nichtbefolgung der zuvor genannten Anordnungen ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO statthaft, da einem Widerspruch gegen diese Vollzugsmaßnahme bereits von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung zukommt (§ 248 Abs. 1 Satz 2 Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein - LVwG -, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO).
5
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.
6
Die Antragsgegnerin hat die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Haltungs- und Betreuungsverbotes sowie der Anordnung der Bestandsauflösung im Bescheid vom 8. Juli 2020 in einer den Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet. Das Erfordernis einer schriftlichen Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts soll neben der Information der Betroffenen und des mit einem eventuellen Aussetzungsantrag befassten Gerichts vor allem die Behörde selbst mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zwingen, sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst zu werden und die Notwendigkeit des Sofortvollzuges besonders sorgfältig zu prüfen. Die Anforderungen an den erforderlichen Inhalt einer solchen Begründung dürfen hierbei aber nicht überspannt werden. Diese muss allein einen bestimmten Mindestinhalt aufweisen. Dazu gehört es insbesondere, dass sie sich – in aller Regel – nicht lediglich auf eine Wiederholung der den Verwaltungsakt tragenden Gründe, auf eine bloße Wiedergabe des Textes des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO oder auf lediglich formelhafte, abstrakte und letztlich inhaltsleere Wendungen ohne erkennbaren Bezug zu dem konkreten Fall beschränken darf. Die Angabe qualitativ anderer Gründe unter Wiederholung der den Grundverwaltungsakt rechtfertigenden Erwägungen ist ausnahmsweise verzichtbar, wenn schon die gegebene Begründung des Verwaltungsaktes selbst die besondere Dringlichkeit der sofortigen Vollziehung und die von der Behörde insoweit vorgenommene Interessenabwägung erkennen lässt und die Behörde dies ausdrücklich feststellt (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18. Juni 2020 – 4 MB 21/20 –, juris Rn. 9 m. w. N.)
7
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Erwägungen der Antragsgegnerin lassen einen Einzelfallbezug erkennen. Aus der Begründung geht ferner hervor, dass der Antragsgegnerin der Ausnahmecharakter der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit im Einzelfall bewusst war. Sie geht ausführlich darauf ein, dass das Abwarten eines Rechtsbehelfs- bzw. möglichen Gerichtsverfahrens aus tierschutzrechtlichen Gründen nicht hinnehmbar und die sofortige Vollziehung der Anordnungen zu 1. bis 3. erforderlich sei, um die Tierhaltung durch die Antragstellerin unter Einhaltung tierschutzrechtlicher Vorschriften zur Wahrung des effektiven Tierschutzes aufzulösen. Darüber hinaus hat die Antragsgegnerin unter Bezugnahme auf bisher festgestellte Verstöße sowie die Missachtung der ordnungsrechtlich verfügten Auflagen seit 2015 durch die Antragstellerin und ihre Tochter begründet, warum auch in Zukunft nicht mit einer art- und verhaltensgerechten Tierhaltung zu rechnen ist. Ihr Bewusstsein über den Ausnahmecharakter verdeutlicht auch der Hinweis darauf, dass die sofortige Vollziehung der tierschutzrechtlichen Grundverfügung der Gefahrenabwehr dient und auch unter Berücksichtigung der Grundrechte der Antragstellerin keinen Aufschub duldet.
8
Im Übrigen kommt es auf die inhaltliche Richtigkeit der Erwägungen zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht an. Vielmehr trifft das Gericht in dem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO unter Würdigung aller relevanten Umstände eine eigene Entscheidung über die Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung. Daher ist es in diesem Zusammenhang nicht von Relevanz, ob die Erwägungen, die die Antragsgegnerin zur Anordnung der sofortigen Vollziehung veranlasst haben, zutreffen.
9
Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung im Falle des Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, also insbesondere in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes im öffentlichen Interesse von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wurde, ganz oder teilweise wiederherstellen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei regelmäßig auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse der Betroffenen einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne Weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs (wieder-) herzustellen, weil an einer sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtmäßig, bedarf es in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse von der Behörde im Einzelfall angeordnet wurde, noch eines besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung, das mit dem Interesse am Erlass eines Verwaltungsaktes in der Regel nicht identisch ist, sondern vielmehr ein qualitativ anderes Interesse ist. Insbesondere in Fällen der Gefahrenabwehr kann dieses besondere Vollzugsinteresse aber mit dem Interesse am Erlass des Bescheides selbst identisch sein (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 6. August 1991 – 4 M 109/91 –, juris).
10
Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich der Antrag als teilweise begründet.
11
Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ziffern 1 und 2 des angefochtenen Verwaltungsakts das private Interesse der Antragstellerin an einem einstweiligen Aufschub der Vollziehung, weil sich der angefochtene Bescheid bezüglich der dort getroffenen Anordnungen bei der hier lediglich möglichen summarischen Prüfung der Sachlage und der Beurteilung der Rechtslage auf dieser Grundlage als offensichtlich rechtmäßig erweist und die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. An der sofortigen Vollziehung der Ziffern 1. und 2. besteht auch ein besonderes öffentliches Interesse (I.). Soweit die Antragsgegnerin in Ziffer 3 den Sofortvollzug anordnet und ausweislich Ziffer 3 Satz 2 des Bescheidtenors die Auffassung vertritt, auch zur Veräußerung der Tiere befugt zu sein, erweist sich der Bescheid als rechtswidrig, weshalb an seiner sofortigen Vollziehung kein öffentliches Interesse bestehen kann (II.).
12
I. Ermächtigungsgrundlage für das in Ziffer 1 normierte Haltungs- und Betreuungsverbot für Tiere jeglicher Art ist § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Tierschutzgesetz (TierSchG). Danach kann dem- bzw. derjenigen, der/die den Vorschriften des § 2 TierSchG, einer Anordnung nach § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TierSchG oder einer Rechtsverordnung nach § 2a TierSchG wiederholt oder grob zuwidergehandelt und dadurch den von ihm/ihr gehaltenen oder betreuten Tieren erhebliche oder länger anhaltende Schmerzen, Leiden oder erhebliche Schäden zugefügt hat, das Halten oder Betreuen von Tieren einer bestimmten oder jeder Art untersagt werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er/sie weiterhin derartige Zuwiderhandlungen begehen wird. Nach § 2 Nr. 1 TierSchG muss, wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, dieses seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen. Er/Sie darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden (§ 2 Nr. 2 TierSchG). Die Person muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen (§ 2 Nr. 3 TierSchG). Dabei regelt § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TierSchG den Fall einer „tierschutzrechtlichen Unzuverlässigkeit“. Die Untersagung dient dem vorbeugenden Schutz der Tiere und kommt insbesondere dann in Betracht, wenn wegen mangelnder Eignung oder wegen Unzuverlässigkeit des Tierhalters oder der Tierhalterin die Gefahr besteht, dass den von ihm/ihr gehaltenen Tieren auch in Zukunft erhebliche Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden. Dabei genügt, wenn sich im Zeitpunkt des Bescheiderlasses derartige Schmerzen, Leiden oder Schäden bei einem Teil der Tiere eines Bestandes feststellen lassen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. April 2004 – 1 S 756/04 –, juris Rn. 10).
13
Soweit es zum Schutz der Tiere erforderlich ist, wird das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in § 2a Abs. 1 TierSchG ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Anforderungen an die Haltung von Tieren nach § 2 TierSchG näher zu bestimmen. Diese Konkretisierung ist u. a. durch die Tierschutz-Hundeverordnung (TierSchHuV) und die Tierschutznutztierverordnung (TierSchNutztV) vorgenommen worden.
14
Der gerichtlichen Prüfung ist vorauszuschicken, dass bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der tierschutzrechtlichen Anordnungen vom 8. Juli 2020 den zuständigen Amtstierärzten und -ärztinnen vom Gesetz eine vorrangige Beurteilungskompetenz bei der Beantwortung der Frage eingeräumt ist, ob die Anforderungen des § 2 TierSchG erfüllt sind. Das Gericht überprüft dann, ob sich die Beurteilungen dieser innerhalb der rechtlichen Vorgaben bewegen und unter Berücksichtigung der Einlassungen der Antragstellerin vertretbar sind. Die Einschätzung der Tierärzte und -ärztinnen wird vom Gesetz in § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TierSchG als maßgeblich angesehen. Als gesetzlich vorgesehene Sachverständige sind sie für Aufgaben wie diese eigens bestellt (vgl. § 15 Abs. 2 TierSchG). Ihrer fachlichen Beurteilung kommt besonderes Gewicht zu (siehe BVerwG, Beschluss vom 2. April 2014 – 3 B 62/13 –, juris Rn. 10; vgl. Hirt/Maisack/Moritz, TierSchG, 3. Auflage 2016, § 16a Rn. 23).
15
Danach erweist sich das in Ziffer 1 ausgesprochene Haltungs- und Betreuungsverbot für Tiere jeder Art als ermessensgerecht.
16
Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen des befassten Amtstierarztes Herr aaa und der befassten Amtstierärztin Frau Dr. xxx (im Weiteren „Amtstierärzt/innen“) und der Einschätzung als relevante Verstöße gegen das Tierschutzgesetz wird vollumfänglich auf die Feststellungen in den Kontrollberichten vom 28. und 30. April 2020 (Bl. 1145-1167 und 1181-1194 Beiakte C), die zugehörige Fotodokumentation (Bl.1300-1389 Beiakte C) sowie die Ausführungen im Vermerk vom 12. Mai 2020 (Bl. 1275-1993 Beiakte C) gegenüber der Antragsgegnerin sowie die Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug genommen. Die dort beschriebenen und weitgehend fotografisch dokumentierten Zustände der Tierhaltung belegen erhebliche Verstöße gegen die art- und bedürfnisgerechte Pflege der Tiere und deren verhaltensgerechte Unterbringung (§ 2 Nr. 1 TierSchG) sowie gegen das in § 2 Nr. 2 TierSchG normierte Gebot, die Möglichkeit von Tieren zur artgemäßen Bewegung nicht so einzuschränken, dass ihnen Schmerzen, vermeidbare Leiden oder Schäden entstehen.
17
So wurde bei der Kontrolle am 16. April 2020 festgestellt, dass nach wie vor Hunde dauerhaft in Zwingern gehalten werden, die den gesetzlichen Anforderungen des § 6 TierSchHuV nicht genügen, weil die gehaltenen Hunde weder den in Abs. 5 normierten Sichtkontakt zueinander noch den in Abs. 3 Satz 4 normierten freien Blick nach außen hatten (vgl. Bilddokumentation Bl. 1306 ff. Beiakte C). Auch die in Abs. 2 Nr. 1 normierten Mindestmaße für die Zwingerhaltung (Seitenlänge mindestens zwei Meter) waren teilweise nicht eingehalten. Die Zwinger waren darüber hinaus mit mehreren Kothaufen besetzt und die Wände teilweise durchtränkt von Urin (vgl. Bl. 1305 f. Beiakte C), was einen Verstoß gegen die in § 8 Abs. 1 Nr. 4 TierSchHuV normierte Pflicht zur täglichen Reinigung darstellt und zudem die Annahme rechtfertigt, dass die Tiere nicht den in § 2 Abs. 1 TierSchHuV vorgeschriebenen Auslauf im Freien erhielten. Die vorgenannten Feststellungen werden in der Sache von der Antragstellerin nicht substantiiert angegriffen. Die Unterbringung der vier bis fünf Hunde in der so ausgestalteten Zwingeranlage hat für die Hunde bereits zu länger anhaltenden Leiden bzw. teilweise erheblichen Schäden in Form von Verhaltensstörungen geführt. Hierzu führen die Amtstierärzt/innen nachvollziehbar und unter Verweis auf einschlägige Fachliteratur aus, dass das Erkundungs- und Sozialverhalten der Hunde durch die Haltung im Zwinger ohne regelmäßige Spaziergänge oder Training (jedenfalls seit Anhalten der Corona-Pandemie nicht) stark eingeschränkt sei. Der Rüde Feivel weise bereits seit Kontrollen im Jahr 2018 stereotype Verhaltensmuster durch „im Kreis laufen“ auf, die er auch bei den Kontrollen im April 2020 noch gezeigt habe. Auch das Verhalten der übrigen Hunde habe bei den Kontrollen einen enorm hohen Bedarf an menschlicher Zuneigung suggeriert. Auch dies lässt darauf schließen, dass sie nicht ihren natürlichen Bedürfnissen entsprechend durch die Halter/innen untergebracht und gepflegt werden. Der den Hunden in dem Auslauf auf dem Grundstück stundenweise gewährte Freilauf kann nicht die Interaktion mit Menschen bzw. das Spazierengehen und die Möglichkeit, auch fremde Duftmarken zu erkunden, ersetzen. Dies gilt vor allem bezüglich der gehaltenen Schäferhunde, die als Hüte- und Schutzhunde einen überdurchschnittlich ausgeprägten Lernwillen haben und ein menschenbezogenes, ausdauerndes und intelligentes Wesen beweisen, aufgrund dessen sie viel Ansprache und Auslastung brauchen (https://www.tierfreund.de/deutscher-schaferhund/, zuletzt abgerufen am 12. Oktober 2020). In der vornehmlichen Zwingerhaltung liegt ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1 TierSchHuV, wonach einem Hund ausreichend Auslauf im Freien (außerhalb des Zwingers) und Umgang mit der Person, die den Hund hält oder betreut, zu gewähren ist und Auslauf und Sozialkontakte dabei der Rasse, dem Alter und dem Gesundheitszustand des Hundes anzupassen sind.
18
Zudem wurde die Hündin Quinn trotz der bestehenden Hüftdysplasie und den damit einhergehenden und akuten Bewegungsproblemen (mehrfaches Wegknicken der Hinterhand während Kontrolle) nicht einem Tierarzt vorgestellt bzw. physiotherapeutisch behandelt, worin ein Verstoß gegen § 2 Nr. 1 TierSchG i. V. m. § 8 Abs. 2 Nr. 1 TierSchHuV liegt.
19
Auch die Geflügelhaltung auf dem Grundstück beziehungsweise den gepachteten Flächen nahe dem Wohngrundstück der Antragstellerin war bei den Kontrollen im April 2020 nach wie vor tierschutzrechtlich mangelhaft. Entgegen der Auflage, lediglich noch zehn Geflügel zu halten bzw. zu betreuen, wurden auf dem Grundstück weiterhin circa 80 (16. April 2020) bzw. jedenfalls deutlich über zehn (23. April 2020) Stück Geflügel gehalten. Auf der zur Geflügelhaltung genutzten Wiese sowie im Bereich der Schutzhütten wurden trotz vorangegangener Kontrollen und entsprechender Beseitigungsaufforderungen weiterhin zahllose Gegenstände, vor allem vielfältige Baumaterialien und sperrmüllartiger Unrat (Reifen, Tische, Wannen, Totholz, Zaungitter, Fässer, Planen/Abdeckmaterial) gelagert, von denen erhebliche Verletzungsrisiken für das Geflügel ausgingen. Das Gelände war nicht hinreichend eingezäunt, sodass Tiere auf die Straße laufen konnten, die Unterstellmöglichkeiten waren unzureichend gegen Beutegreifer gesichert und für die nächtliche Unterbringung bestand kein ausreichender Schutz vor Witterung und Mardern. Die Tränkvorrichtungen waren schmutzig. Bei zwei Hähnen, die tierschutzwidrig im Keller des gemeinsamen Wohnhauses gehalten wurden, und einem Puter wurden bei einer während der anderweitigen pfleglichen Unterbringung erfolgten tierärztlichen Untersuchung chronische, eitrige Sinusitis diagnostiziert. Der Puter litt zudem an einem entzündeten Fußwurzelgelenk mit Knochenveränderungen. Sowohl ein Hahn als auch der Puter mussten aufgrund des nicht mehr vertretbaren Tierleides euthanasiert werden. Die festgestellten Zustände der Haltungseinrichtungen sowie der Tiergesundheit stellen – von der Antragsgegnerin zurecht angenommen – Verstöße gegen § 2 TierSchG i. V. m. § 3 Abs. 2 Nrn. 1 und 3, § 4 Abs. 1 Nrn. 3, 4 und 6 TierSchNutztV dar, wonach Haltungseinrichtung nach ihrer Bauweise und ihrem Zustand so beschaffen sein müssen, dass eine Verletzung der Tiere – so sicher wie nach dem Stand der Technik möglich – ausgeschlossen ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 1) und den Tieren ausreichend Schutz vor Witterungseinflüssen und Beutegreifern geboten wird, soweit dies für den Erhalt der Gesundheit erforderlich ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 3). Auch müssen kranke Tiere unverzüglich dem Tierarzt vorgestellt (§ 4 Abs. 1 Nr. 3), mit Futter und Wasser in ausreichender Qualität und Menge versorgt werden (§ 4 Abs. 1 Nr. 4) und an Haltungseinrichtungen festgestellte Mängel unverzüglich abgestellt werden bzw. die Tiere vor den durch die Mängel drohenden Gefahren geschützt werden (§ 4 Abs. 1 Nr. 6).
20
Darüber hinaus wurden während der anderweitigen pfleglichen Unterbringung bei einem zweiten Puter einseitig beschnitte Schwungfedern festgestellt. Das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen von Wirbeltieren ist gemäß § 6 Abs. 1 TierSchG verboten und stellt mithin einen Verstoß gegen das TierSchG dar.
21
Die fehlende Behandlung des akuten Hufreheschubes des Ponys Peppina stellt ebenfalls einen Verstoß gegen § 2 Nr. 1 TierSchG dar, denn nach der auf den Leitlinien der Gesellschaft für Pferdemedizin (https://www.bundestieraerztekammer.de/tieraerzte/leitlinien/downloads/171011_GPM-Hufrehe-Leitfaden-web.pdf, zuletzt abgerufen am 14. Oktober 2020) basierenden Therapieempfehlung für Hufrehe besteht das Prinzip bei der Behandlung darin, die Ursache zu beseitigen, die Grundkrankheit zu behandeln und Schäden am Hufbeinträger durch eine engmaschige Kontrolle des Krankheitsverlaufes zu begrenzen.
22
Zudem liegt im Halten von mehr als zwei Hunden, zwei Ponys und zehn Geflügel ein Verstoß gegen die bestandskräftig durch Verfügung vom 18. Juni 2019 angeordnete Bestandsreduzierung, mithin ein für § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TierSchG tatbestandmäßiger Verstoß gegen eine Anordnung im Sinne des § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TierSchG.
23
Das in der Folge mit Verfügung vom 8. Juli 2020 ausgesprochene Haltungs- und Betreuungsverbot für Tiere jeglicher Art ist ermessensfehlerfrei. Es konnte insbesondere gegenüber der Antragstellerin ergehen. Es spricht bereits Überwiegendes dafür, dass sie jedenfalls hinsichtlich der oben aufgeführten Hunde in den Zwingern, des Geflügels und der drei Ponys als (Mit-)Halterin anzusehen ist. Sie ist aber jedenfalls Tierbetreuerin, so dass gegen sie die Anordnungen nach § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TierSchG erlassen werden konnte.
24
Unter Berücksichtigung des ordnungsrechtlichen Charakters des § 16a TierSchG ist für die Tierhaltereigenschaft das tatsächliche, umfassende Sorgeverhältnis gegenüber einem Tier entscheidend. Dementsprechend ist als Tierhalter/in grundsätzlich der- bzw. diejenige anzusehen, der/die an der Haltung des Tieres ein eigenes Interesse und eine grundsätzlich nicht nur vorübergehende Besitzerstellung und die Befugnis hat, über Betreuung und ggf. Existenz des Tieres zu entscheiden. Abzustellen ist mithin darauf, in wessen Haushalt oder Betrieb das Tier gehalten wird, wem – unabhängig von der Eigentümerstellung – die Bestimmungsmacht über das Tier zusteht und wer aus eigenem Interesse für die Kosten des Tieres aufkommt (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 4. Juli 2016 – 1 A 1198/14 –, juris Rn. 43). Im Rahmen der §§ 2, 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TierSchG geht es darum, wer für die wiederholten oder groben Zuwiderhandlungen und die den Tieren dadurch entstandenen erheblichen oder länger anhaltenden Schmerzen, Leiden oder Schäden verantwortlich ist und ob bzgl. dieser Person Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie weiterhin derartige Zuwiderhandlungen begehen wird. Die vorgenannten Kriterien müssen nicht alle kumulativ vorliegen, um die Tierhalter/inneneigenschaft einer Person zu begründen. Vielmehr handelt es sich bei sämtlichen Gesichtspunkten um Indizien, deren Einschlägigkeit anhand der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu überprüfen ist und die erforderlichenfalls gegeneinander abzuwägen sind, wobei auch mehrere Personen nebeneinander Halter sein können (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06. Juni 2013 – OVG 5 S 10.13 –, juris Rn. 5 m. w. N.).
25
In Anwendung dieser Maßstäbe spricht bereits Überwiegendes für eine (Mit-)Halterinneneigenschaft der Antragstellerin. So war diese bis zur Bestandreduzierungsverfügung der Antragsgegnerin vom 18. Juni 2019 unzweifelhaft als Mithalterin der Ponys, des Geflügels und der Hunde anzusehen, da sie zum einen Miteigentümerin war (vgl. Bl 417 Beiakte A), die Hunde auf eigene Kosten gezüchtet und die Verkaufserlöse eingezogen hat (dies gilt auch für die Hunde Honey und Feivel von Herrn bbb) und die übrigen Tiere gemeinsam mit ihrer Tochter versorgt und auf dem gemeinsamen Wohngrundstück gehalten hat. Dies war nach Angaben ihrer Tochter gegenüber der Antragsgegnerin auch am 19. Juli 2019 noch unverändert der Fall (vgl. Bl. 857 Beiakte B). Die arbeitsteilige Verantwortungsübernahme für Geflügel, Ponys und Hunde hielt entgegen den als Schutzbehauptungen zu klassifizierenden Einwänden der Antragstellerin zur Eigentümerstellung des Herrn yyy bzw. der Frau Ewert auch noch bis zu den weiteren Kontrollen im April 2020 an. Hierfür sprechen die Zeugenaussagen einer Nachbarin (Bl. 1140 Beiakte C), die zu berichten wusste, dass die Antragstellerin nach wie vor morgens die Versorgung der Tiere auf der Weide sicherstellt, als auch eine weitere Zeugenaussage einer Nachbarin, die die Antragstellerin mehrmals die Woche mit zwei bis drei Hunden zum Hundeplatz fahren sehe (Vermerk Frau Dr. xxx vom 12. Mai 2020, Bl. 1277 Beiakte C). Dass die Tiere sich seit Juni 2019 im Eigentum von Herrn yyy befinden sollen, ist zum einen für die rechtliche Beurteilung der Haltereigenschaft unerheblich und erscheint zum anderen als unglaubhafte Schutzbehauptung. So wurde weder durch Herrn yyy noch durch die Antragstellerin nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, wie dieser – trotz arbeitsbedingter Abwesenheit unter der Woche (vgl. Stellungnahme der Antragstellerin vom 24. Mai 2020 zur Anhörung, Bl. 1493 Beiakte C) – die Tiere versorgt haben will. Es ist auch nicht dargelegt worden, dass er die in den Zwingern gehaltenen Hunde und das Geflügel aus eigenem Interesse und auf eigene Kosten betreut und versorgt hat. So ist die Versorgung – auch mit tierärztlicher Behandlung und Medikamenten – immer wieder durch die Antragstellerin und ihre Tochter vorgenommen worden. Dass die Antragstellerin wesentliche Bestimmungsmacht über die Tiere hatte und diese auch aus eigenem Interesse an den Tieren genutzt hat, wird auch aus ihren Reaktionen in den Kontrollen sowie ihrer Stellungnahme deutlich, wenn sie sich zunächst beispielsweise für die Haltung der Hähne in dem (dem Wohnhaus der Antragstellerin zugehörigen) Keller rechtfertigt (Separierung der Hähne aus gesundheitlichen Gründen) und erst in einem Nachsatz darauf hinweist, dass sich die Tiere darüber hinaus seit Juni 2019 im Besitz von Herrn yyy befänden. Der diesbezügliche Kaufvertrag vom 23. Juni 2019 erscheint auch deshalb als Scheingeschäft, weil Herr yyy im Telefonat gegenüber einer Mitarbeiterin der Antragsgegnerin am 31. Juli 2019 noch versichert hat, die Tiere seien zwar an neue Eigentümer abgegeben worden, er könne aber keine Namen nennen, weil die Übereignung per Handschlag stattgefunden habe (vgl. Telefonvermerk Bl. 867 Beiakte B). Dass Herr yyy für die Tiere unabhängig von einer etwaigen Eigentümerstellung auch nicht die tatsächliche Verantwortung übernommen hat, zeigt sein Verhalten während der Kontrollen im April 2020. Hier wusste er zum Beispiel weder von der Existenz seines (vermeintlichen) Ausbildungshundes Connor im letzten Zwinger noch konnte er Angaben zur Behandlung der Hähne mit Medikamenten machen. Auch gab Herr yyy an, dass die Antragstellerin und ihre Tochter die Verletzungen der Hähne versorgten (Bl. 1156 Beiakte C). Auch im Übrigen mussten die Antragstellerin und ihre Tochter bei den Kontrollen Herrn yyy, der im Übrigen auch bereits seit 1. Februar 2020 wieder in Kaltenkirchen wohnhaft ist, bei Fragen zu den Tieren immer wieder mit Antworten „unter die Arme greifen“. All diese Umstände sowie der Verbleib des Tierbestandes auf den gleichen, teilweise zum Wohngrundstück gehörenden, teilweise von den Bewohner/innen gepachteten Flächen, die gemeinsam in Anspruch genommene „Futterküche“ im Keller des Wohnhauses der Antragstellerin, das Separieren kranker Tiere im gemeinsamen Keller und der bisherige Verfahrensverlauf legen die Annahme nahe, dass nach wie vor die Antragstellerin und ihre Tochter die draußen gehaltenen Hunde, Ponys und das Geflügel gehalten haben. Hierzu hat die Antragstellerin im Ortstermin am 16. April 2020 selbst angegeben, sich gemeinsam mit ihrer Tochter um alle fünf Ponys zu kümmern, wenn die Eigentümer/innen nicht da sind (Bl. 1163 Beiakte C).
26
Jedenfalls war die Antragstellerin Betreuerin der im Zwinger gehaltenen Hunde, der Ponys und des Geflügels. Betreuer im Sinne des § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TierSchG ist, wer es in einem rein tatsächlichen Sinn übernommen hat, für das Tier (generell oder nur in einer einzelnen Beziehung, z. B. Fütterung) zu sorgen oder es zu beaufsichtigen. Im Gegensatz zum Halter kann die Beziehung des Betreuers auch nur ganz kurzfristiger Natur sein und sie kann auch ausschließlich oder überwiegend im fremden Interesse und/oder nach den Weisungen eines anderen ausgeübt werden. Kennzeichnend dafür, dass eine Person „Betreuer“ ist, ist eine solche Einwirkungsmöglichkeit auf das Tier, dass der Person dadurch die Aufgaben des § 2 zwangsläufig zuwachsen. In diesem Sinne betreut ein Tier schon die Person, die – ohne Halter zu sein – für das Tier einzelne Aufgaben wie bspw. Fütterung, Transport, Ausführen, Verwahren, Hilfe bei der Pflege übernommen hat (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, 3. Aufl. 2016, TierSchG § 2 Rn. 5 m. w. N.). Die Anforderungen des § 2 TierSchG sind als dauerhafte Handlungspflichten des Tierhalters bzw. Tierbetreuers ausgestaltet, setzen in der Regel besondere Kenntnisse und Fähigkeiten (vgl. § 2 Nr. 3 TierSchG) sowie Vorkehrungen zur verhaltensgerechten Unterbringung voraus und sind ihrer Art nach nicht auf einen anderen übertragbar, ohne dass dieser selbst damit faktisch die Stellung eines Tierhalters oder Tierbetreuers übernehmen müsste (OVG Schleswig, Urteil vom 28. Januar 2016 – 4 LB 46/14 –, juris Rn. 38). Da die Antragstellerin immer wieder – mindestens partiell – die tatsächliche Verantwortung für die Tiere übernommen hat, liegen die Voraussetzungen vor.
27
Soweit die Antragsgegnerin auf Seite 8 des angegriffenen Bescheides anführt, die Antragstellerin habe die im Dachgeschoss tierschutzwidrig gehaltenen (vier) Hunde und 16 Katzen jedenfalls sehenden Auges geduldet, folgt hieraus weder ein Verstoß gegen die bestandskräftige Verfügung zur Bestandsreduzierung noch gegen das TierSchG, weil die Haltereigenschaft der Antragstellerin, die allein eine Garantenpflicht zugunsten der Tiere zu statuieren vermag, nicht dargelegt ist. Da die Antragsgegnerin das Haltungs- und Betreuungsverbot aber vornehmlich auf die übrige, oben beschriebene Tierhaltung gestützt hat, folgt hieraus kein Ermessensfehlgebrauch.
28
Die nach § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TierSchG zudem erforderliche negative Prognose, dass der/die Tierhalter/in bzw. Tierbetreuer/in auch weitere Zuwiderhandlungen gegen § 2 TierSchG begehen wird, kann in der Regel aufgrund der Zahl oder der Schwere der Verstöße angenommen werden. Eine Kette von Verfehlungen gegen § 2 TierSchG kann die Annahme weiterer Verstöße rechtfertigen (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. (2016), § 16a, Rn. 45; VG Würzburg, Beschluss vom 9. April 2011 – W 5 S 11.242 –, juris, Rn. 49). Vorliegend ist entscheidend, dass es bei den von der Antragstellerin gehaltenen bzw. betreuten Tiere teilweise erheblichen tierschutzrechtlichen Verstößen durch die fortgesetzte Fehlhaltung gekommen ist, infolge derer einige Tiere bereits notgetötet werden mussten und/oder erhebliche oder länger anhaltende Schmerzen oder Leiden erleben mussten. Erschwerend hinzu kommt, dass die Antragstellerin sich zum Schutz vor behördlichen Sanktionen immer noch versucht, durch vertragliche Scheinkonstruktionen ihrer Verantwortung als Tierhalterin und -betreuerin zu entziehen. Vor diesem Hintergrund erweist sich das ausgesprochene Haltungs- und Betreuungsverbot für Tiere als verhältnismäßig. Das Verbot dient dem legitimen Zweck des in Art. 20a GG verfassungsrechtlich verbürgten Schutzes der Tiere und ist als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen. Die Anwendung eines milderen Mittels kommt nicht in Betracht, weil die Antragstellerin sich über Jahre hinweg und auch unter Reduzierung ihres Tierbestandes nicht in der Lage gezeigt hat, die erforderlichen Haltungsbedingungen für Hunde, Geflügel und Ponys nachhaltig zu gewährleisten. Das Haltungs- und Betreuungsverbot ist auch verhältnismäßig im engeren Sinn, da angesichts der langanhaltenden, erheblichen und trotz behördlichen Einschreitens fortgesetzten Unzulänglichkeiten in der Tierhaltung der Antragstellerin die Belange des Tierschutzes gemäß Art. 20a GG höher zu gewichten sind als ihr Interesse am Erhalt ihrer Tierhalterinneneigenschaft.
29
In der Folge ist auch die in Ziffer 2 des Bescheides vom 8. Juli 2020 verfügte Bestandsauflösung binnen eines Monats nach Zustellung des Bescheides offensichtlich rechtmäßig. Rechtsgrundlage ist § 16a Abs. 1 Satz 1 (ggfs. i. V. m. § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3) TierSchG (vgl. zur Ermächtigungsgrundlage für die Bestandauflösung Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. (2016), § 16a, Rn. 52), dessen Voraussetzungen nach obigen Ausführungen erfüllt sind. Es bedarf entgegen der Auffassung der Antragstellerin auch keiner konkreten Zuordnung von Tieren zu ihrer „Haltungseinheit“. Soweit die auf dem Grundstück A-Straße befindlichen Tiere nicht zu ihrer Tierhaltung gehören, ist die Antragstellerin durch Ziffer 2 des Bescheides bereits nicht beschwert. Die Bestandsauflösung stellt gegenüber der Einziehungs- und Veräußerungsverfügung das mildere Mittel dar, weil es der Antragstellerin offenbleibt, einen neuen Halter für die in ihrem (Mit-)Eigentum stehende Hunde und anderen Tiere zu finden und damit die von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte eigentumsrechtliche Verfügungsbefugnis selbst auszuüben. Die Frist zur Bestandauflösung ist nicht zu beanstanden. Die Pflicht zum Nachweis des Verbleibs jedes Tieres unter Angabe von Name und Anschrift des Übernehmers findet ihre Rechtsgrundlage in § 16 Abs. 2 TierSchG und stellt sich als verhältnismäßig dar, um der Behörde die Überwachung der Bestandauflösung zu ermöglichen und die tierschutzgerechten Haltungsbedingungen der abgegebenen Tiere bei den neuen Haltern zu überprüfen und ggfs. sicherzustellen, dass Krankheitszustände fachkundig behandelt werden und das Tierwohl zukünftig sichergestellt ist. Soweit in Ziffer 2 Satz 2 die Abgabe der Tiere an die (ehemaligen) Lebensgefährten Herrn bbb und Herrn yyy untersagt werden, findet die Anordnung ihre Rechtsgrundlage in § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TierSchG, wonach die Behörde die im Einzelfall zur Erfüllung der Anforderungen des § 2 erforderlichen Maßnahmen anordnen kann. Die Einschränkung der Verfügungsbefugnis ist auch ermessensgerecht, insbesondere verhältnismäßig, weil die genannten Personen als (zeitweise) Mitglieder des Haushaltes bzw. der Halter- und Betreuergemeinschaft an der tierschutzwidrigen Haltung mitgewirkt bzw. diese jedenfalls in Kauf genommen und damit ihre „tierschutzrechtliche Unzuverlässigkeit“ bewiesen haben.
30
Es bestand schließlich auch ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Haltungs- und Betreuungsverbotes sowie der Bestandauflösung, welches das Interesse der Antragstellerin am vorläufigem Nichtvollzug dieser Regelungen überwiegt. Dieses ergibt sich aus der dringlichen Gebotenheit, weitere mögliche Leiden und Schmerzen der gehaltenen/betreuten Tiere zu vermeiden, die andernfalls im Fall der Einlegung von Rechtsbehelfen und dem Verbleib der Tiere währenddessen bei der Antragstellerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einträten. Dieses Interesse geht über das allgemeine Interesse, tierschutzrechtliche Verfügungen durchzusetzen, hinaus.
31
II. Da die Anordnungen unter den Ziffern 1 und 2 rechtmäßig sind, ist auch die in Ziffer 3 Satz 1 ausgesprochene Androhung des unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung der Bestandsauflösung in Gestalt der kostenpflichtigen Wegnahme/Sicherstellung dennoch gehaltener Tiere dem Grunde nach nicht zu beanstanden. Sie beruht auf §§ 228, 229 Abs. 1 Nr. 2, 235 Abs. 1 Nr. 3, 236, 239 LVwG. Erhebliche rechtliche Bedenken bestehen jedoch hinsichtlich der in Ziffer 3 Satz 2 durch die Antragsgegnerin geäußerten Auffassung, sie könne im Wege des Verwaltungszwangs die sichergestellten Tiere auch veräußern. Denn ob und unter welchen Voraussetzungen die Antragsgegnerin ausnahmsweise ein Tier ohne vorhergehenden Verwaltungsakt dem Halter fortnehmen und es veräußern kann, richtet sich nach Landesrecht (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Januar 2012 – 7 C 5/11 –, juris Rn. 27). Dabei ist zu beachten, dass die hier per Grundverwaltungsakt der Bestandsauflösung aufgegebene Handlungspflicht der Antragstellerin auf die Herausgabe der Tiere (vgl. § 228 Abs. 1 LVwG) beschränkt ist. Eine Pflicht zur Eigentumsübertragung bzw. Duldung der Eigentumseinziehung wird hierdurch nicht statuiert und kann folglich auch nicht im Wege des Verwaltungszwangs vollstreckt werden. Hierzu bedarf es einer bislang nicht ersichtlichen bestandskräftigen oder sofort vollziehbaren Einziehungsverfügung (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. (2016), § 16a, Rn. 53 f.), die gegenüber der Antragstellerin zunächst zu erlassen ist, da die Voraussetzungen des Sofortvollzug nach § 230 Abs. 1 LVwG nicht vorliegen dürften.
32
Der Ausspruch über die Kosten ergeht gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.
33
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 2, 52 Abs. 2, 63 Abs. 2 Gerichtskostengesetz.
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Tenor
Die Anträge werden abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Die am 12. Oktober 2020 sinngemäß gestellten Anträge,
3die aufschiebende Wirkung der Klage – 7 K 6153/20 – gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 9. Oktober 2020 anzuordnen,
4hilfsweise insoweit anzuordnen, als sie die Absonderung des Antragstellers über den 13. Oktober 2020 hinaus bestimmt.
5haben keinen Erfolg.
6Die mit dem Haupt- und Hilfsantrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig. Die Anträge sind insbesondere wegen der gesetzlichen Anordnung des Entfallens der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG) statthaft.
7Sie sind jedoch unbegründet.
8Das Gericht macht von der ihm durch § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eingeräumten Befugnis, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt anzuordnen, Gebrauch, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das private Interesse des Betroffenen, von Vollziehungsmaßnahmen (vorerst) verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Durchsetzung der getroffenen Maßnahme überwiegt. Bei der Interessenabwägung spielt neben der gesetzgeberischen Grundentscheidung die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des zu vollziehenden Verwaltungsakts eine wesentliche Rolle. Ergibt diese – im Rahmen des Eilrechtschutzes allein mögliche und gebotene summarische – Prüfung, dass der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn an der Vollziehung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts kann grundsätzlich kein öffentliches Interesse bestehen. Erweist sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt nach der gesetzgeberischen Wertung das behördliche Aussetzungsinteresse. Erscheinen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen, ist die Entscheidung auf der Grundlage einer umfassenden Folgenabwägung vorzunehmen.
9Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe fällt die Interessenabwägung vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus.
10Es spricht bereits Überwiegendes dafür, dass die Ordnungsverfügung vom9. Oktober 2020 nach summarischer Prüfung rechtmäßig ist.
11Die Anordnung der Absonderung des Antragstellers in die häusliche Quarantäne wegen des Verdachts auf eine Infektion mit dem Krankheitserreger SARS-CoV-2 findet ihre Ermächtigungsgrundlage in §§ 28 Abs. 1 Satz 1, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern (als den in Satz 1 genannten Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischem Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind) angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden.
12An der formellen Rechtmäßigkeit der angegriffenen Ordnungsverfügung bestehen keine Bedenken. Der Bescheid wird sich voraussichtlich auch als materiell rechtmäßig erweisen.
13Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage dürften vorliegen.
14Für die Anordnung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen ist es nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG erforderlich, aber auch ausreichend, dass eine übertragbare Krankheit aufgetreten ist, deren Weiterverbreitung verhindert werden soll. Das ist vorliegend der Fall. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19 wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Der Krankheitserreger SARS-CoV-2 ist grundsätzlich leicht von Mensch zu Mensch übertragbar.
15Robert Koch-Institut (RKI), Risikobewertung zu COVID-19, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
16Weltweit haben sich in derzeit 235 Ländern mehr als 38 Millionen Menschen mit dem Krankheitserreger SARS-CoV-2 infiziert und sind mehr als eine Million Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung gestorben.
17WHO, Coronavirus disease (COVID-19) pandemic, abrufbar unter: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019?gclid=EAIaIQobChMI6O-T_4y27AIVA-h3Ch18VQ2rEAAYASAAEgLwD_D_BwE; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
18Im Bundesgebiet sind zwischenzeitlich über 340.000 infizierte und mehr als 9.700 gestorbene Personen registriert. In Nordrhein-Westfalen beläuft sich die Zahl der registrierten Infizierten auf über 84.000 Menschen, über 1.900 Menschen sind im Zusammenhang mit COVID-19 verstorben.
19RKI, COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, Stand: 15. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
20Bei dem Antragsteller handelt es sich um einen Ansteckungsverdächtigen im Sinne des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Ansteckungsverdächtiger ist gemäß § 2 Nr. 7 IfSG eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Die Aufnahme von Krankheitserregern ist "anzunehmen", wenn der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte. Die Vermutung, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss naheliegen. Eine bloß entfernte Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Demzufolge ist die Feststellung eines Ansteckungsverdachts nicht schon gerechtfertigt, wenn die Aufnahme von Krankheitserregern nicht auszuschließen ist. Andererseits ist auch nicht zu verlangen, dass sich die Annahme "geradezu aufdrängt". Erforderlich und ausreichend ist, dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil.
21Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 22. März 2012, – 3 C 16/11 –, juris, Rn. 31.
22Für die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckungsgefahr gilt allerdings kein strikter, alle möglichen Fälle gleichermaßen erfassender Maßstab. Vielmehr ist der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Im Falle eines hochansteckenden Krankheitserregers, der bei einer Infektion mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung führen würde, drängt sich angesichts der schwerwiegenden Folgen auf, dass die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontakts genügt. Das Beispiel zeigt, dass es sachgerecht ist, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, "flexiblen" Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.
23BVerwG, Urteil vom 22. März 2012, a.a.O., Rn. 32.
24Ob gemessen daran ein Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG zu bejahen ist, beurteilt sich unter Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen Krankheit und der verfügbaren epidemiologischen Erkenntnisse und Wertungen sowie anhand der Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition der betreffenden Person und über deren Empfänglichkeit für die Krankheit. Das zugrunde liegende Erkenntnismaterial muss belastbar und auf den konkreten Fall bezogen sein. Die Feststellung eines Ansteckungsverdachts setzt voraus, dass die Behörde zuvor Ermittlungen zu infektionsrelevanten Kontakten des Betroffenen angestellt hat; denn ohne aussagekräftige Tatsachengrundlage lässt sich nicht zuverlässig bewerten, ob eine Aufnahme von Krankheitserregern anzunehmen ist. Die Ermittlungspflicht der Behörde folgt bereits aus dem allgemein für das Verwaltungsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 24 Abs. 1 VwVfG). Sie lässt sich darüber hinaus aus § 25 Abs. 1 IfSG ableiten. Nach dieser Bestimmung stellt das Gesundheitsamt die erforderlichen Ermittlungen insbesondere über Art, Ursache, Ansteckungsquelle und Ausbreitung der Krankheit an, wenn Anhaltspunkte für einen Krankheits-, Krankheitsverdachts-, Ansteckungsverdachts- oder Ausscheidungsfall vorliegen. Zur Systematik von § 25 und § 28 IfSG heißt es in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich, dass vor der Anordnung von Schutzmaßnahmen regelmäßig Ermittlungen angestellt werden müssen, um die Annahme eines Krankheits- oder Ansteckungsverdachts abzusichern. Die Behörde entscheidet über Art und Umfang der Ermittlungen (§ 24 Abs. 1 Satz 2 VwVfG). Die gebotene Ermittlungstiefe zu möglichen Kontakten des Betroffenen mit infizierten Personen oder Gegenständen wird insbesondere durch die Eigenheiten der Krankheit, namentlich die Ansteckungsfähigkeit des Krankheitserregers, sowie durch die epidemiologischen Erkenntnisse vorgegeben. Die Ermittlungen können danach von Fall zu Fall mehr oder weniger intensiv ausfallen.
25BVerwG, Urteil vom 22. März 2012, a.a.O., Rn. 33 f.
26Dies vorangestellt spricht Überwiegendes dafür, dass die Antragsgegnerin nach den aktuellen epidemiologischen Erkenntnissen davon ausgehen durfte, der Antragsteller habe Krankheitserreger aufgenommen, wobei an den Wahrscheinlichkeitsmaßstab für den infektionsrelevanten Kontakt aufgrund der Folgenschwere des möglichen Schadenseintritts lediglich geringe Anforderungen zu stellen sind.
27Nach der Risikobewertung des RKI als nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 IfSG) handelt es sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle weiterhin zu. Die Anzahl der neu übermittelten Fälle war in Deutschland von etwa Mitte März bis Anfang Juli rückläufig. Seit Ende Juli werden wieder deutlich mehr Fälle übermittelt. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein kontinuierlicher Anstieg der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Dynamik nimmt in fast allen Regionen zu. Nach wie vor gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig. Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch. Bei der überwiegenden Zahl der Fälle verläuft die Erkrankung zwar mild. Die Wahrscheinlichkeit für schwere und auch tödliche Krankheitsverläufe nimmt mit zunehmendem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu. Es kann aber auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen (z.B. Isolierung, Quarantäne, physische Distanzierung) ab. Sie ist aktuell in weiten Teilen Deutschlands gering, kann aber örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten.
28RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 7. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html; zuletzt abgerufen am: 15. Oktober 2020.
29Das RKI geht für den Bereich der SARS-CoV-2-Infektionen für Kontaktpersonen der Kategorie I mit engem Kontakt zu einem bestätigten COVID-19 Fall von einem höheren Infektionsrisiko aus. Als Kontaktpersonen der Kategorie I werden unter anderem Personen in relativ beengter Raumsituation oder schwer zu überblickender Kontaktsituation mit dem bestätigten COVID-19-Fall (z.B. Kitagruppe, Schulklasse), unabhängig von der individuellen Risikoermittlung, eingestuft.
30Vgl. RKI, Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Coronavirus SARS-CoV-2, Stand: 24. September 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Kontaktperson/Management.html; zuletzt abgerufen am 30. September 2020.
31In seiner Tabelle 1 zur Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Coronavirus SARS-CoV-2 (Stand: 24. September 2020) gibt das RKI folgende Orientierung für eine im Einzelfall adäquate Einstufung von Kontaktpersonen als Kategorie 1:
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35RKI, Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Coronavirus SARS-CoV-2, Stand 24. September 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Kontaktperson/Management.html; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
36Dies vorangestellt dürfte die Antragsgegnerin den Antragsteller zu Recht als Kontaktperson der Kategorie I eingeordnet haben. Der Antragsgegnerin ist ausweislich der Verwaltungsvorgänge am 7. Oktober 2020 bekannt geworden, dass eine Lehrperson aus der Schule des Antragstellers im Rahmen einer Reihentestung am 6. Oktober 2020 positiv auf den Krankheitserreger SARS-CoV-2 getestet worden ist. Der Antragsteller hielt sich am 6. Oktober 2020 jedenfalls für 45 Minuten mit der infizierten Lehrperson in einem Klassenraum auf. Nach den Ermittlungen der Antragsgegnerin trug die infizierte Lehrperson in dieser Zeit nicht durchgängig einen Mund-Nasen-Schutz bzw. eine Mund-Nasen-Bedeckung. Ebenso konnte durch die Ermittlungen nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob alle Schüler (darunter auch der Antragsteller) durchgängig einen Mund-Nasen-Schutz bzw. eine Mund-Nasen Bedeckung trugen. Hierauf kommt es aufgrund der Aerosolexposition wegen der Dauer des Kontaktes von über 30 Minuten nach der vorstehenden Orientierungshilfe des RKI indes nicht an.
37Soweit der Antragsteller vorträgt, die Dauer des Kontaktes zur Infizierten Lehrperson liege mit 45 Minuten nur sehr geringfügig über dem in der Tabelle 1 des RKI angegebenen Wert für Kontakte mit relevanter Aerosolexposition (unabhängig vom Abstand zum Quellfall) von 30 Minuten und es habe zudem eine durchgängige Lüftung des Klassenraumes durch die Öffnung der Tür und jeweils einem Flügel der drei großen gegenüber der Tür liegenden Flügelfenster im Raum stattgefunden, dringt er mit diesem Einwand unter Zugrundelegung des geringen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes für den infektionsrelevanten Kontakt nicht durch. Zwar dürfte die hier durchgeführte Lüftung des Klassenraumes jedenfalls für eine gewisse Reduktion des Infektionsrisikos sprechen. Ob die vorgenommene Lüftung des Raumes indes ausreichend war, kann nach dem Vortrag des Antragstellers nicht festgestellt werden. Für einen ausreichenden Frischluftaustausch durch Querlüften mittels Öffnen der Klassenzimmertüre ist jedenfalls notwendig, dass im Flur ebenfalls geöffnete Fenster vorhanden sind.
38Vgl. Stellungnahme der Kommission Innenraumlufthygiene am Umweltbundesamt, Das Risiko einer Übertragung von SARS-CoV-2 in Innenräumen lässt sich durch geeignete Lüftungsmaßnahmen reduzieren, Stand: 12. August 2020, abrufbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/2546/dokumente/irk_stellungnahme_lueften_sars-cov-2_0.pdf; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
39Dies hat der Antragsteller nicht vorgetragen. Ob die vorliegend vorgenommene Lüftung ausreichend war, konnte von der Antragsgegnerin im Rahmen einer effektiven Gefahrenabwehr auch nicht festgestellt werden. In Zeiten der Epidemie ist eine belastbare Beurteilung einer ausreichenden Lüftung schwierig. So ist der durch freie Lüftung erreichbare Luftaustausch abhängig von der Witterung und dem Nutzerverhalten. Bei geringen Temperaturdifferenzen zwischen Raum und äußerer Umgebung sowie niedrigen Windgeschwindigkeiten ist der Luftaustausch beispielsweise eher gering.
40Vgl. Voß S., A. Gritzki, K. Bux: Infektionsschutzgerechtes Lüften – Hinweise und Maßnahmen in Zeiten der SARS-CoV-2-Epidemie. 1. Auflage, 24.09.2020. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2020, S. 12, abrufbar unter: https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fokus/Lueftung.pdf?__blob=publicationFile&v=11; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
41Im Klassenraum des Antragstellers sind auch keine CO2-Messgeräte verwendet worden, anhand der die Antragsgegnerin die Effektivität des Lüftens hätte beurteilen können.
42Vgl. Empfehlungen des RKI für Schulen, Präventionsmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie, Stand: 12. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Praevention-Schulen.pdf?__blob=publicationFile; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
43Eine CO2-Messung lässt zwar nicht unmittelbar auf eine ggf. vorhandene Virenbelastung der Raumluft schließen, jedoch kann die CO2-Konzentration der Raumluft als Indikator für den Luftaustausch dienen.
44Vgl. Voß S., A. Gritzki, K. Bux: Infektionsschutzgerechtes Lüften – Hinweise und Maßnahmen in Zeiten der SARS-CoV-2-Epidemie. 1. Auflage, 24.09.2020. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2020, S. 11, abrufbar unter: https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fokus/Lueftung.pdf?__blob=publicationFile&v=11; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
45Weitere Ermittlungen – insbesondere durch Einholung eines Sachverständigengutachtens – hatte die Antragsgegnerin zur Wahrung der Effektivität der Gefahrenabwehr nicht vorzunehmen.
46Bei der Kontaktdauer von 45 Minuten handelt es sich darüber hinaus keinesfalls um eine lediglich geringfügige Überschreitung des Wertes von 30 Minuten, sondern um eine Überschreitung von 50%. Ferner ist die Lehrkraft – wie der Antragsteller selbst ausführt –gegen Ende der Stunde kurze Zeit durch den Raum gegangen und hat Fragen der Schüler/innen beantwortet, was trotz des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes bzw. einer Mund-Nasen-Bedeckung für diesen kurzen Zeitraum einer Aerosolverbreitung geführt haben dürfte. Auch menschliche Bewegung und Tätigkeiten (Kochen, Reinigen) führen nämlich zu Luftbewegungen im Innenraum. Daher können Partikel innerhalb kurzer Zeit über mehrere Meter transportiert und im Innenraum verteilt werden.
47Vgl. Stellungnahme der Kommission Innenraumlufthygiene am Umweltbundesamt, Das Risiko einer Übertragung von SARS-CoV-2 in Innenräumen lässt sich durch geeignete Lüftungsmaßnahmen reduzieren, a.a.O.
48Nur der Vollständigkeit halber wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die oben abgebildete Tabelle des RKI entgegen den Ausführungen des Antragstellers für die Öffentlichkeit nicht unzugänglich, sondern vielmehr auf der Homepage des RKI unter dem oben angegebenen Link abrufbar ist.
49Der Antragsteller ist entgegen seiner Auffassung auch nicht aufgrund der am 8. und am 13. Oktober 2020 durchgeführten negativen Tests nicht mehr als ansteckungsverdächtige Person anzusehen. Ein Testergebnis stellt während der Inkubationszeit lediglich eine Momentaufnahme dar. Dass bei den durchgeführten Testungen keine Erreger des SARS-CoV-2 nachgewiesen werden konnten, bedeutet nicht, dass der Antragsteller bei dem Kontakt mit der infektiösen Lehrperson am 6. Oktober 2020 keine Krankheitserreger aufgenommen hat. Eine zweimalige Testung asymptomatischer Kontaktpersonen der Kategorie I wird zwar grundsätzlich empfohlen. Dies soll aber zum Zwecke einer frühzeitigen Erkennung von prä- oder asymptomatischen Infektionen erfolgen. Die vom RKI empfohlene Quarantänezeit wird durch ein negatives Testergebnis nicht verkürzt.
50Vgl. Beschluss der Kammer vom 30. September 2020, – 7 L 1939/20 –.
51Hinsichtlich der Anordnung einer Absonderung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist der Antragsgegnerin Ermessen eingeräumt. Dieses Ermessen dürfte die Antragsgegnerin, soweit es der Überprüfung des Gerichts unterliegt (§ 114 Satz 1 VwGO), ordnungsgemäß ausgeübt haben. Vom Gericht überprüfbare Ermessenfehler sind nicht ersichtlich. Sie hat von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung – Infektionsschutz – entsprechenden Weise Gebrauch gemacht, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht überschritten und insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingehalten.
52Die Antragsgegnerin hat das ihr zustehende Ermessen erkannt. Sie ist zudem zutreffend davon ausgegangen, dass die häusliche Absonderung geeignet ist, die Verbreitung der übertragbaren Krankheit zu verhindern und außerdem das für die betreffende Person mildeste Mittel darstellt, so dass die Auswahlentscheidung der Antragsgegnerin hinsichtlich der Art und Weise der Unterbringung nicht zu beanstanden sein dürfte. Auch die Dauer der angeordneten häuslichen Absonderung ist nicht zu beanstanden. Eine kürzere Absonderungsdauer stellt kein gleich geeignetes Mittel dar, um die Verbreitung des Krankheitserregers in der Bevölkerung zu vermeiden.
53Das RKI empfiehlt für Kontaktpersonen der Kategorie I eine häusliche Quarantäne für die Dauer von 14 Tagen.
54Vgl. RKI Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Coronavirus SARS-CoV-2, a.a.O.
55Die Einstufung der Kontaktpersonen der Kategorie I als Ansteckungsverdächtige für die Dauer von 14 Tagen ist insoweit überzeugend, als dass die Inkubationszeit der Erkrankung bis zu 14 Tage beträgt.
56Vgl. RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Stand: 18. September 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText5; zuletzt abgerufen am 15. Oktober 2020.
57Das Gericht hat keinen Anlass, an dieser wissenschaftlichen Beurteilung des RKI, welches ausweislich § 4 IfSG als wissenschaftlicher Berater der Bundes- und Landesbehörden fungiert, zu zweifeln. Ein Zweifel ergibt sich insbesondere nicht aus dem Vortrag des Antragstellers, die Präsidentin der EU-Kommission, Frau Von der Leyen, habe sich nach einem Kontakt mit einer auf den Krankheitserreger SARS-CoV-2 positiv getesteten Person bei einem Treffen in Portugal nur sieben Tage in Quarantäne begeben. Der Vortrag ist unerheblich, weil der Maßstab für die Beurteilung epidemiologische Erkenntnisse – in erster Linie des RKI – sind, nicht hingegen Verhaltensweisen von Politikern, deren Hintergründe und genaue Umstände im Einzelnen nicht bekannt und daher nur schwer beurteilbar sind.
58Im Rahmen der von ihr vorgenommenen Abwägung des Zwecks und des Mittels hat die Antragsgegnerin festgestellt, dass die sich durch die Absonderung ergebenden Einschränkungen für den Antragsteller nicht außer Verhältnis zu dem Ziel stehen, eine Weiterverbreitung des Krankheitserregers in der Bevölkerung zu verhindern.
59Schließlich kann das Gericht aus dem Vergleich des Antragstellers mit dem hypothetischen Auftritt eines COVID-19 Falles in einem Restaurant keinen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG feststellen. Soweit der Antragsteller beispielhaft ausführt, es würden nicht alle im Restaurant hypothetisch anwesenden 60 Personen mit einer Quarantäne belegt, handelt es sich lediglich um Mutmaßungen, deren Richtigkeit das Gericht nicht prüfen kann. Im Übrigen würde die fehlerhafte Behandlung solcher Fälle nicht dazu führen, dass der Antragsteller gleichermaßen fehlerhaft behandelt werden darf (Keine Gleichbehandlung im Unrecht).
60Doch selbst, wenn man den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache als offen ansehen wollte, führt eine allgemeine Interessenabwägung zu einem klaren Überwiegen des öffentlichen Interesses an dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung und der Sicherung des Gesundheitssystems gegenüber dem kurzfristigen Eingriff in das Grundrecht des Antragstellers auf Freiheit seiner Person gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Würde der Vollzug der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung vom 9. Oktober 2020 ausgesetzt, erwiese diese sich aber als rechtmäßig, so könnten aufgrund der bekanntermaßen vorkommenden schweren Verläufe bis hin zu Todesfällen bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 erhebliche und möglicherweise irreversible Gesundheitsschäden nicht nur beim Antragsteller, sondern auch bei seinen Kontaktpersonen und für den Fall, dass das Gesundheitssystem nicht standhält, insgesamt in der Bevölkerung eintreten. Erwiese sich die Allgemeinverfügung in der Hauptsache hingegen als rechtswidrig, wäre die Freiheit des Antragstellers zwar kurzfristig eingeschränkt, doch wäre der Schutz der menschlichen Gesundheit jedenfalls im vorläufigen Rechtschutz als höherrangig einzustufen.
61Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da die angeordnete häusliche Absonderung am 20. Oktober 2020 endet, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Halbierung des Streitwertes für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.
62Rechtsmittelbelehrung:
63(1) Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.
64Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingelegt werden.
65Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.
66Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
67Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
68Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
69(2) Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
70Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
71Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
72Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
73Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
74War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000 € festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Urteilsrichtigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Daraus ergibt sich nicht, dass sich die Klägerin vorliegend auf eine Verletzung des in Rede stehenden planungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots berufen könnte.
4Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, die Klägerin nutze Teile ihres Wohnhauses S.-straße 23 ohne die erforderliche Baugenehmigung, nachbarliche Rücksichtnahme nach Maßgabe von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB könne aber nur derjenige verlangen, der eine schutzwürdige Position besitze. Diese das Urteil selbständig tragende Feststellung hat die Klägerin mit ihrem Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend erschüttert. Belange eines Betroffenen, die unter Missachtung der Rechtsordnung entstanden sind, dürfen nach der Rechtsprechung als unbeachtlich eingestuft werden, wenn auch eine nachträgliche Legalisierung ausscheidet.
5Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.9.1992 - 7 C 6.92 -, BauR 1993, 325, und Beschluss vom 22.10.2002 - 9 VR 13.02 -, juris..
6Die Klägerin hat zwar im Zulassungsverfahren behauptet, sie habe einen Antrag auf nachträgliche Legalisierung gestellt. Damit ist indes nicht in der für die Darlegung ernstlicher Zweifel im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erforderlichen Substantiierung aufgezeigt, dass eine nachträgliche Legalisierung in Betracht kommt. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Beklagte - unabhängig vom Ergebnis des angesprochenen Baugenehmigungsverfahrens der Klägerin - von Amts wegen verpflichtet ist, im erforderlichen Umfang die Einhaltung der mit bestandskräftiger Baugenehmigung festgelegten Regelungen zum Lieferverkehr des auf dem Grundstück der Beigeladenen betriebenen Lebensmittelmarkts zu kontrollieren und ggf. durchzusetzen.
7Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, es entspricht der Billigkeit, dass die Klägerin auch die im Zulassungsverfahren entstandenen Kosten der Beigeladenen trägt, weil diese einen Sachantrag gestellt und sich damit selbst einem prozessualen Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
8Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.
9Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe v on 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt eine Erlaubnis nach dem Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG).
2
Unter dem 25.09.2017 zeigte sie unter Beifügung einer Gewerbeummeldung den Betrieb eines Prostitutionsgewerbes, welches seit dem 01.05.2013 betrieben wird, an. Mit Schreiben vom 16.12.2017 beantragte sie unter Beifügung diverser Unterlagen die Erteilung einer Erlaubnis nach § 12 ProstSchG für die Wohnung,xxx3 in Xxx. Diese ist belegen im nicht beplanten Innenbereich der Stadt Xxx. In unmittelbarer Nähe befinden sich eine Orthopädiepraxis, ein Haar-, Kosmetik- und Pediküre-Studio, ein Frisörsalon und eine Goldschmiede.
3
Nach Anhörung lehnte der Beklagte das Begehren der Klägerin mit Bescheid vom 04.01.2019 ab. Zur Begründung gab er im Wesentlichen an, dass die Erlaubnis zu versagen gewesen sei, weil die örtliche Lage des Prostitutionsgewerbes dem öffentlichen Interesse widerspreche. Die Wohnung liege in einem Gebiet ohne Bebauungsplan. Faktisch sei dieses Gebiet als Mischgebiet bzw. als Gebiet mit mischgebietsähnlichem Charakter anzusehen. Zulässig seien dort nur Gewerbebetriebe, die das Wohnen nicht wesentlich störten. Zu letzterem gehöre nur die sog. Wohnungsprostitution, hingegen nicht ein bordellartiger Betrieb. Ein solcher liege bei dem von der Klägerin betriebenen Gewerbe vor. In Mischgebieten sie dieser indes generell störend und damit unzulässig.
4
Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 16.05.2019 zurück. Er trug im Wesentlichen vor, dass es sich um ein faktisches Mischgebiet nach § 6 Baunutzungsverordnung (BauNVO) handele. Ein bordellartiger Betrieb, wie ihn die Klägerin betreibe, sei als störend in einem solchen Gebiet anzusehen. Eine – generell zulässige – Wohnungsprostitution liege nicht vor. Von einer solchen könne nur gesprochen werden, wenn die Prostituierten in der Wohnung auch selbst wohnten. Auch die örtliche Lage des Prostitutionsgewerbes widerspreche dem öffentlichen Interesse.
5
Die Klägerin hat unter dem 17.06.2020 Klage erhoben.
6
Sie trägt vor, dass es sich nicht um ein Mischgebiet bzw. ein Gebiet mit mischgebietsähnlichen Charakter handele. Vielmehr sei von einem Kerngebiet auszugehen. In den Blick zu nehmen sei insbesondere, dass die Fußgängerzone der Stadt Xxx mit diversen Gewerbebetrieben das Gebiet maßgeblich präge. Im Übrigen sei bis zum Jahre 2013 in den Örtlichkeiten eine Gaststätte mit Live-Musik beheimatet gewesen. Es handele sich nicht um einen bordellartigen Betrieb, sondern um eine sog. Terminwohnung, wie sie das VG Sigmaringen in einem Urteil angenommen habe. Dabei handele es sich um einen Übergangsbereich zwischen Wohnungsprostitution und bordellartigen Betrieb, der indes eher mit der Wohnungsprostitution vergleichbar sei.
7
Die Klägerin beantragt,
8
den Bescheid vom 04.01.2019 und den Widerspruchsbescheid vom 16.05.2019 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihr die beantragte Erlaubnis zu erteilen.
9
Der Beklagte beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Er führt im Wesentlichen aus, dass das von der Klägerin betriebene Gewerbe baurechtlich unzulässig sei. Das Gebiet, in dem sich die Wohnung befinde, weise mischgebietsähnlichen Charakter auf. Eine prägende Wirkung der Fußgängerzone der Stadt Xxx sei nicht zu verzeichnen; diese läge in einer zu großen Entfernung zu der Wohnung. Auszugehen sei von einem bordellartigen Betrieb, welcher in einem Mischgebiet bzw. einem Gebiet mit mischgebietsähnlichen Charakter unzulässig sei. Maßgeblich sei wie die Prostitution bzw. die Nutzung dem Gebäude, in dem die Prostitution stattfinde, ein Gepräge gebe. Vorliegend sei nicht von einer Wohnungsprostitution auszugehen; die Nutzung werde nicht durch Wohnen geprägt, weil ein Daueraufenthalt der Prostituierten nicht zu verzeichnen sei, diese vielmehr wöchentlich wechselten. Die von der Klägerin herangezogene Rechtsprechung sei nicht einschlägig.
12
Die Kammer hat den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter durch Beschluss vom 27.08.2020 zur Entscheidung übertragen.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
14
Die Klage ist zulässig.
15
Zwar hat die Klägerin ihren in der Klageschrift lediglich auf Aufhebung der streitbefangenen Bescheide gerichteten Antrag mit Schriftsatz vom 05.10.2020 dahingehend ergänzt, dass nunmehr auch die Verpflichtung begehrt wird, ihr eine Erlaubnis nach dem ProstSchG zu erteilen. Dabei handelt es sich zwar um eine Klagänderung in Form der Klagerweiterung. Diese ist indes – unabhängig von der Zustimmung des Beklagten – zulässig, weil sachdienlich. Sachdienlichkeit ist immer dann anzunehmen, wenn auch für die geänderte Klage der Streitstoff im Wesentlichen derselbe bleibt, die Klagänderung die endgültige Beilegung des Streites fördert und dazu beiträgt, dass ein weiterer sonst zu erwartender Prozess vermieden wird (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 91, Rn. 19).
16
Diese Voraussetzungen liegen vor.
17
Der Streitstoff bleibt im Wesentlichen der gleiche, ein weiterer Prozess wird durch die Einbeziehung des neuen Klagantrags vermieden und der ergänzende Klagantrag konnte vom Gericht im Termin mitverhandelt werden, ohne dass dies zu einer Verzögerung des Verfahrens führte.
18
Die Klage ist indes unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte verpflichtet wird, ihr eine Erlaubnis nach dem ProstSchG zu erteilen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
19
Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung ist die Vorschrift des § 14 Abs. 2 Nr. 5 ProstSchG. Danach ist die (erforderliche) Erlaubnis nach § 12 ProstSchG zu versagen, wenn das Betriebskonzept oder die örtliche Lage des Prostitutionsgewerbes dem öffentlichen Interesse widerspricht, insbesondere, wenn sich dadurch eine Gefährdung der Jugend oder schädliche Umweltwirkungen iSd Bundesimmissionsschutzgesetzes oder Gefahren oder sonstige Nachteile oder Belästigung für die Allgemeinheit befürchten lassen.
20
Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
21
Die örtliche Lage der Prostitutionsstätte ist nicht mit dem öffentlichen Interesse vereinbar. Die Vorschrift des §§ 14 Abs. 2 Nr. 5 ProstSchG ist der Bestimmung des § 4 Abs. 1 Nr. 3 des Gaststättengesetzes (GastG) nachgebildet (vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen vom 25.05.2016 – BT-Drs. 18/8556 S. 79). Demnach darf die zuständige Behörde in die Prüfung, ob die Prostitutionsstätte dem öffentlichen Interesse widerspricht, auch baunutzungs- und bauplanungsrechtliche Belange einbeziehen (vgl. BT-Drs. a.a.O., vgl. auch Metzner, Gaststättengesetz, § 4 Rn. 221).
22
Das Gewerbe der Klägerin widerspricht dem öffentlichen Interesse. Vorliegend ist - weil ein Bebauungsplan nicht besteht - nicht von einem Mischgebiet nach § 6 BauNVO, aber von einem Gebiet mit mischgebietsähnlichen Charakter auszugehen. Einen Kerngebietscharakter weist es indes nicht auf, insbesondere geht vom xxx, in dem sich die Fußgängerzone der Stadt Xxx befindet, wegen der viel zu großen Entfernung keine prägende Wirkung aus. Vielmehr bestimmen Wohnbebauung und einige nicht störende Betriebe die Umgebung der Wohnung.
23
Bei dem von der Klägerin betriebenen Prostitutionsgewerbe handelt es sich auch nicht um eine sog. Wohnungsprostitution, sondern um eine unzulässige, weil die dortige Wohnnutzung störend, nicht erlaubnisfähige Prostitution in Form eines bordellartigen Betriebes
24
Wohnungsprostitution, deren Mischgebietsverträglichkeit in der Rechtsprechung bereits bejaht worden ist (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 13.02.1998 – 5 S 2570.96 -, juris Rn. 16, vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 28.06.1995 – 4 B 197.95 -, juris Rn. 3 und OVG Münster, Beschluss vom 12.02.2020 – 2 A 287/20 -, juris Rn. 7) setzt begrifflich voraus, dass die Prostitution in einer einzelnen Wohnung ausgeübt wird, in der die Prostituierte wohnt und dabei nebenher der Prostitution nachgeht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.2014 – 6 C 28.13 -, juris Rn. 21). Außerdem darf die gewerbliche Nutzung nach außen nur wohnähnlich in Erscheinung treten. Sie darf dem Gebäude, in dem sie ausgeübt wird, nicht das „Gepräge“ geben (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 24.06.2015 – 2 A 325.15 – Nr. 17). Gehen die Aktivitäten der Prostituierten unter dauerhafter Nutzung der Räumlichkeiten nach Art und Umfang hierüber hinaus, liegt keine Wohnungsprostitution mehr vor. Ein solcher Betrieb ist dann zu den bordellartigen Betrieben (oder sogar zu den Bordellen) zu zählen. Bordellartigen Betriebe sind mit der im Mischgebiet bzw. in einem Gebiet mit mischgebietsähnlichen Charakter zulässigen Wohnnutzung unverträglich (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.10.2019 – juris, Rn. 52 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Sie sind regelmäßig mit nach außen wirkenden Begleiterscheinungen verbunden (sog. „milieubedingte Unruhe“). Ihr belästigender Charakter folgt aus dem städtebaulichen Konfliktpotential, welches das Nebeneinander von Prostitutionstätigkeit und Wohnen begründet. Bei der gebotenen typisierenden Betrachtungsweise ist mit milieutypischen Begleiterscheinungen wie Belästigungen durch alkoholisierte oder unzufriedene Kunden, organisierter Kriminalität, Menschen- und Drogenhandel, ausbeutender Zuhälterei, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Verstößen gegen das Waffenrecht und Gewaltkriminalität zu rechnen. Hinzukommt ein mit der Ansiedlung von bordellartigen Betrieben verbundener und möglicher sog. „Trading - Down - Effekt“ (typischer Entwicklungstrend vom vollständigen Angebot mit pulsierendem Leben zu zunehmenden Leerständen inklusive ausbleibender Kundschaft bzw. Mieter, vgl. https://de.linkfang.org/wiki/Trading-Down_(Raumplanung); vgl. zum Ganzen auch: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.10.2019 a.a.O.).
25
Nach ihren eigenen Angaben der Klägerin vermietet die Klägerin nicht nur an eine Prostituierte, sondern die Wohnung wird an unterschiedliche Prostituierte im wöchentlichen Wechsel vermietet. Nicht ausreichend ist in diesem Zusammenhang, dass diese sich dort (zeitweise) ganztägig aufhalten, Essen zu sich nehmen und dort übernachten. Denn maßgeblich ist, dass der zeitliche Aufenthalt der Prostituierten in der Wohnung von vornherein stark begrenzt ist. Ein Daueraufenthalt besteht nicht, die Wohnung wird – wie ausgeführt – nur vorübergehend, typischerweise für eine Woche, von derselben Person gemietet. Auch wenn die Damen über einen Hausschlüssel verfügen, ein Aufenthaltsraum sowie Küche sowie Bad vorhanden sind, fehlt es an einer auf Dauer angelegten Häuslichkeit. Eine Nutzung, die darauf beruht, die betreffenden Räume einem ständig wechselnden Personenkreis gegen Entgelt zu überlassen, weist auch kein wohnähnliches Erscheinungsbild auf. Damit scheidet eine Wohnungsprostitution aus. Der insoweit dann anzunehmende bordellartige Betrieb ist aber – wie ausgeführt – in dem hier vorhandenen Gebiet unzulässig. Unerheblich ist dabei - in diese Richtung deutet der Vortrag des Ehemannes der Klägerin in der mündlichen Verhandlung - das Fehlen konkreter Beschwerden der Nachbarschaft sowie der Umstand, dass die Fenster gegen unbefugte Einsichtnahme Dritter abgedunkelt sind. Entscheidend ist, dass eine typisierende Betrachtungsweise geboten ist, wonach es auf die Umstände des Einzelfalles nicht ankommt und dessen Besonderheiten nicht geeignet sind, die planungsrechtliche Unzulässigkeit der hier streitbefangenen Nutzung zu beseitigen (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 12.05.2020 a.a.O.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.10.2019 a.a.O., Rn. 61; vgl. auch VGH Mannheim, Urteil vom 13.02.1998 a.a.O., Rn. 16).
26
Die von der Klägerin in Bezug genommene Entscheidung des VG Sigmaringen (Urteil vom 23.04.2009 - 6 K 2729/07 - juris) führt zu keinem anderen Ergebnis. Der dortige Sachverhalt ist mit dem vorliegenden nicht vergleichbar (das dortige Vorhaben richtete sich nach der Ortsbausatzung der dortigen Beklagten, wonach in den sog. Gemischten Gebieten vorrangig gewerbliche Nutzungen bis zur Grenze des Industrieviertels zulässig sein sollten).
27
Den Hinweis der Klägerin auf die vorherige Nutzung der Räumlichkeiten (Gaststättenbetrieb mit Live-Musik) hält das Gericht für die hier zu entscheidende Frage für unerheblich. Zum einen enthielte auch ein solches Vorhaben Störpotenzial. Dessen ungeachtet kann für die hier maßgebliche Entscheidung aus früheren Nutzungen nicht eine wie auch immer geartete Bindungswirkung angenommen werden. Das gilt auch, wenn eine solche Nutzung möglicherweise zuvor von der Stadt Xxx geduldet worden war.
28
Im Übrigen verweist das Gericht auf den Inhalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 16.05.2019 und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen Ausführungen Bezug (§ 117 Abs. 5 VwGO).
29
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 VwGO, sie ist gemäß §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO vorläufig vollstreckbar.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragstellerin.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist unbegründet.
3Die mit der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen sind, veranlassen den Senat nicht zu einer Änderung des angegriffenen Beschlusses, mit dem das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat festzustellen, dass die Klage 1 K 607/20 der Antragstellerin gegen das Schreiben der Antragsgegnerin vom 4. März 2020 aufschiebende Wirkung hat.
4Das Verwaltungsgericht hat sich für die Ablehnung des Antrags auf die Annahme gestützt, die Klage habe keine aufschiebende Wirkung. Das Schreiben der Antrags-gegnerin vom 4. März 2020 sei nicht als Verwaltungsakt zu qualifizieren. Es handele sich um eine innerbetriebliche Maßnahme ohne Außenwirkung, die rechtlich wie eine Umsetzung zu behandeln sei. Der Antragstellerin sei die Vorgesetztenfunktion für die Abteilung 11.1 und für das Sachgebiet 11.24 entzogen worden, ihre übrigen Aufgaben, die nach ihren eigenen Angaben noch ca. ein Drittel ihrer Tätigkeit ausmachten, seien unberührt geblieben. Ihrem objektiven Sinngehalt nach handele es sich um eine Maßnahme, die die dienstliche Verrichtung der Antragstellerin betreffe. Die tatsächlichen Auswirkungen der Maßnahme, z. B. der vollständige Entzug von Leitungsfunktionen oder eine Diskrepanz der verbleibenden Aufgaben mit der Geschäftsordnung, seien für ihre Rechtsnatur unerheblich. Lediglich das Tätigkeits-gebiet der Antragstellerin, also das Amt im konkret-funktionellen Sinne, habe sich durch die verringerte Aufgabenverteilung verändert. Eine solche Aufgabenänderung könne rechtlich unter den Begriff der Umsetzung gefasst werden. Zumindest ein Teil-entzug von Aufgaben sei in seinen Auswirkungen wie eine Umsetzung zu behandeln, stelle aber insofern ein „Minus“ dar, als mit letzterer durch die Zuweisung eines anderen Amtes (im konkret-funktionellen Sinn) die auf dem bisherigen Dienstposten wahrgenommenen Aufgaben vollständig mit denen eines neuen Dienstpostens aus-getauscht würden. Der Beamte sei gegen die Entziehung des Amtes im konkret-funktionellen Sinn in erheblich geringerem Maße rechtlich geschützt als gegen die Entziehung des Amtes im statusrechtlichen und im abstrakt-funktionellen Sinne und habe keinen Anspruch auf unveränderte oder ungeschmälerte Ausübung des ihm übertragenen konkreten Dienstpostens. Der Dienstherr könne aus jedem sachlichen Grund den Aufgabenbereich des Beamten verändern, solange diesem ein amtsangemessener Aufgabenbereich verbleibe.
5Diese Erwägungen werden mit dem Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Frage gestellt.
6Die Antragstellerin macht geltend, das Verwaltungsgericht habe sich mit der entscheidenden Frage, wie die Verfügung der Antragsgegnerin auszulegen sei, überhaupt nicht befasst. Für die Auslegung der Verfügung sei § 133 BGB heranzuziehen, der auch auf öffentlich-rechtliche Erklärungen Anwendung finde. Danach sei bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und es komme darauf an, wie die Erklärung aus der Sicht des Empfängers bei objektiver Betrachtung zu verstehen sei. Maßgeblich sei der geäußerte Wille des Erklärenden, wie er sich dem Empfänger nach dem Wortlaut der Erklärung und den sonstigen Umständen darstelle, die der Empfänger bei Zugang der Erklärung erkennen könne. Dabei sei zunächst der Wortlaut der Verfügung zu untersuchen gewesen. In der Verfügung heiße es, die Antragstellerin werde „ab sofort bis auf Weiteres von folgenden Aufgaben entbunden“. Bereits der Begriff „Entbindung“ spreche dafür, dass die Antragstellerin die Verfügung als teilweises Verbot der Führung der Dienstgeschäfte (§ 39 BeamtStG) habe verstehen dürfen und müssen. Das Wort „Entbindung“ sei im Duden aufgeführt als Synonym für das Wort „Suspendierung“, welche wiederum einen anderen Ausdruck für das Verbot der Führung der Dienstgeschäfte darstelle. Auch der übrige Wortlaut spreche nicht für eine Organisationsentscheidung, sondern eine Maßnahme infolge eines Fehlverhaltens. In der Begründung der Verfügung werde ausgeführt, dass die Vorschläge und Handlungen der Antragstellerin „unange-messen“ gewesen seien und nicht dem an sie „herangetragenen Handlungsauftrag“ entsprochen hätten. Dies verdeutlichten auch die sonstigen Umstände, insbesondere der Geschehensablauf am 4. März 2020, welcher der Verfügung vorausgegangen sei. In der Besprechung an diesem Tag habe der Kanzlervertreter, Herr LVD U. U1. , behauptet, die Antragstellerin habe gegen eine Weisung verstoßen. Er habe sinngemäß behauptet, die Antragstellerin sei nicht befugt gewesen zu veran-lassen, dass die Fahrer in die Aufgaben der Hausmeister und die Mitarbeiter der Außenbereichspflege in die Aufgaben der Hochschulwache eingewiesen würden. Zudem habe er der Antragstellerin vorgeworfen, sie habe die Fahrt des Rektorats nach C. verhindern wollen. Angesichts des Wortlauts und der sonstigen Um-stände habe der Antragsgegnerin klar sein müssen, dass sich ihr geäußerter Wille für die Antragstellerin als Empfängerin als Sanktion darstelle.
7Entgegen der Ansicht der Antragstellerin ist das Schreiben der Antragsgegnerin vom 4. März 2020 für einen objektiven Empfänger weder aufgrund des Wortlauts noch aufgrund der sonstigen Umstände oder der Kombination aus beidem als Verbot der Führung der Dienstgeschäfte zu verstehen. Die Antragsgegnerin hat darin weder - wie es aber bei einer derart weitreichenden Maßnahme zu erwarten gewesen wäre - die maßgebliche Norm des § 39 BeamtStG noch den Begriff des Verbots der Führung der Dienstgeschäfte verwandt und auch nicht sinngemäß unter die Voraussetzungen der Vorschrift subsumiert. Allein der Umstand, dass der Duden den Begriff der Entbindung als Synonym für den Begriff der Suspendierung ausweist, rechtfertigt das von der Antragstellerin für richtig gehaltene Verständnis nicht. Auch die von ihr vorgebrachten Umstände, dass der Kanzlervertreter ihr einen Verstoß gegen eine Weisung und die Verhinderung einer Reise des Rektorats vorgeworfen habe, führen zu keinem anderen Ergebnis. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des weiteren Wortlauts des Schreibens, in dem von Vorschlägen und Handlungen die Rede ist, die „unangemessen“ gewesen seien und nicht dem an die Antragstellerin „herangetragenen Handlungsauftrag“ entsprochen hätten. Denn das Verbot der Führung der Dienstgeschäfte stellt, anders als die Antragstellerin meint, keine Sanktion dar, sondern dient der dienstrechtlichen Gefahrenabwehr. Auf ein vorwerfbares Fehlverhalten des von dem Verbot betroffenen Beamten kommt es nicht an.
8Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. Juli 2015 - 6 A 1454/13 -, juris Rn. 11 m. w. N.; Kohde, in: v. Roetteken/Rothländer, BeamtStG, 19. Update Juni 2020, IV. Zweck des Amtsführungsverbots Rn. 23.
9Die Verknüpfung der getroffenen Maßnahme mit einem vermeintlichen Fehlverhalten der Antragstellerin führt somit nicht, wie sie annimmt, eindeutig zu der von ihr für richtig gehaltenen Auslegung. Vielmehr kann der Dienstherr - selbstverständlich - auch auf ein Fehlverhalten der Beamtin oder des Beamten mit einer organisatorischen Änderung im Hinblick auf das funktionelle Amt im konkreten Sinne reagieren.
10Soweit die Antragstellerin rügt, für eine Umsetzung fehle es an einer sie betreffenden „Hinumsetzung“ und es sei insbesondere keine Umsetzung ihrer Person oder des Herrn U1. auf zwei neu kreierte unbenannte Dienstposten erfolgt, stellt dies die Ausführungen des Verwaltungsgerichts ebenfalls nicht in Frage. Das Verwaltungs-gericht ist nicht von einer Umsetzung der Antragstellerin ausgegangen, sondern hat lediglich ausgeführt, dass der Teilentzug von Aufgaben in seinen Auswirkungen wie eine Umsetzung zu behandeln sei, aber insofern ein „Minus“ darstelle, als dass im Rahmen einer Umsetzung durch die Zuweisung eines anderen Amtes im konkret-funktionellen Sinn die auf dem bisherigen Dienstposten wahrgenommenen Aufgaben vollständig ausgetauscht würden.
11Auch der Einwand der Antragstellerin, der Versuch des Verwaltungsgerichts, die „Aufgabenänderung“ rechtlich unter den Begriff der Umsetzung zu fassen bzw. in ihren Auswirkungen entsprechend zu behandeln, gehe an den organisatorischen Vorgaben und Hintergründen der Antragsgegnerin vorbei, da diese Fragen auf der Grundlage der bestehenden internen Regelungen der Antragsgegnerin zu beurteilen seien, verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg. Der Verweis auf die Vorgaben der Geschäftsordnung der Zentralen Hochschulverwaltung in Verbindung mit dem Geschäftsverteilungsplan und dem Organisationsplan führt nicht weiter. Die Frage der Vereinbarkeit der durch die Antragsgegnerin getroffenen Maßnahme mit den internen Regeln der Hochschule und die zutreffende Wiedergabe der Auswirkungen der Maßnahme im Organisationsplan berühren nicht die Einordnung der Maßnahme als Verwaltungsakt oder Organisationsentscheidung, sondern betreffen gegebenenfalls deren Rechtmäßigkeit, welche jedoch im Rahmen des vorliegenden Antrags auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage nicht Prüfungsgegenstand ist.
12Soweit die Antragstellerin darauf verweist, dass die Möglichkeit einer Umgehung der hohen Anforderungen des § 39 BeamtStG drohe, wenn auch die Untersagung, einen nach wie vor vorhandenen Dienstposten voll auszufüllen, nur eine Umsetzung oder „etwas wie eine Umsetzung“ darstelle, rechtfertigt auch dies keine Änderung des angefochtenen Beschlusses. Denn wie auch die abschließend von der Antragstellerin zitierte Entscheidung des 1. Senats des beschließenden Gerichts zur missbräuchlichen Verwendung der Gestaltungsbefugnis des Dienstherrn betrifft dieser Einwand die Rechtmäßigkeit der konkreten Maßnahme und nicht ihre Rechtsnatur.
13Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
14Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66
15Abs. 3 Satz 3 GKG).
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"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
} |
Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 15.000,00 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.
3Das fristgemäße Zulassungsvorbringen führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
4Der Kläger hat schon nicht i. S. d. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt, dass das Vorhaben bauplanungsrechtlich zulässig sein könnte. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, das Vorhabengrundstück liege im Außenbereich gemäß § 35 BauGB, in dem eine Wohnnutzung grundsätzlich unzulässig sei.
5Soweit der Kläger dem entgegen hält, er begehre vorliegend nur eine Nachtragsbaugenehmigung, die Außenmaße des Gebäudes und wesentliche Bauelemente würden von dem Vorhaben nicht verändert, bereits früher seien Teile des Erdgeschosses neben den Stallungen als Landarbeiterwohnung genutzt worden, so dass die beantragte Änderung des Nutzungszwecks von einer Landarbeiterstelle hin zu einer reinen Wohnnutzung weniger als 30 % der Fläche des bestehenden Gebäudes beträfe, weckt dies keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.12.2012 - 2 B 1250/12 -, BRS 79 Nr. 153 = BauR 2013, 1111.
7Die Änderung der Nutzung von einer Landarbeiterstelle mit Wohnung und Stallungen hin zu einer reinen Wohnnutzung betrifft die Art der baulichen Nutzung und führt dazu, dass sich insgesamt die Genehmigungsfrage neu stellt.
8Soweit das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, dass der beantragten Genehmigung der bauordnungsrechtliche Belang der ausreichenden Löschwasserversorgung entgegen steht, führt das Vorbringen des Klägers ebenfalls nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Urteilsrichtigkeit.
9Das Verwaltungsgericht hat unter Verweis auf die Stellungnahmen der Brandschutzingenieurin des Kreises X. vom 7.5.2013 und vom 10.11.2015 darauf abgestellt, dass keine ausreichende Löschwasserentnahmestelle vorhanden sei, da für Bauvorhaben im Außenbereich regelmäßig 48 m³ Löschwasser pro Stunde für zwei Stunden (= 96 m³ Löschwasser) im 300 m Löschbereich vorgehalten werden müssten. Soweit der Kläger geltend macht, die Löschwasserversorgung könne auch über die Löschfahrzeuge der Feuerwehr Y. sowie der Freiwilligen Feuerwehren C. und W. mit jeweils einer Löschgruppe und den Einsatz eines Großtank-Fahrzeuges sichergestellt werden, führt dies schon deshalb zu keinem anderen Ergebnis, weil nach dem nicht substantiiert angegriffenen Inhalt der zitierten brandschutzfachlichen Stellungnahmen das im Brandfall erforderliche Löschwasser innerhalb des genannten Löschbereichs verfügbar sein muss.
10Soweit der Kläger auf die Möglichkeit der Löschwasserversorgung über eine Trockensteigleitung verweist, weckt auch dies keine ernstlichen Zweifel. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass eine solche Trockensteigleitung mangels Vorlage entsprechender Planungsunterlagen nicht Gegenstand des streitgegenständlichen Bauantragsverfahrens ist. Insoweit bestand für das Verwaltungsgericht auch nicht die Verpflichtung, der Beklagten eine Frist zur Stellungnahme zur Möglichkeit einer Löschwasserversorgung über eine Trockensteigleitung einzuräumen.
11Der weitere Einwand des Klägers, hinsichtlich der Wohnnutzung liege aus verschiedenen Gründen eine aktive Duldung der Beklagten vor und diese könne sich nach 30 Jahren nicht auf das Fehlen einer Baugenehmigung berufen, verhilft dem Antrag ebenfalls nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat insoweit richtiger Weise darauf verwiesen, dass diese Fragestellung für das Begehren der Erteilung einer neuen Baugenehmigung ohne Belang ist.
12Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe sich nicht hinreichend mit seiner Argumentation zur hier maßgeblichen maximalen Verjährungsfrist von 30 Jahren auseinandergesetzt. Dies führt nicht zu einer Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Damit ist eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung nicht in der erforderlichen Weise ausformuliert und im Übrigen auch nicht der Sache nach aufgeworfen. Es ist aus obigen Gründen schon nicht hinreichend dargelegt, dass es auf diese Fragestellung überhaupt in entscheidungserheblicher Weise ankommen könnte.
13Auch die Verfahrensrüge i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO greift nicht durch. Es ist aus den vorstehenden Gründen nicht hinreichend dargelegt, dass das Verwaltungsgericht vor der abschließenden Entscheidung weitere Sachverhaltsaspekte hätte aufklären müssen. Die weitere Sachverhaltsaufklärung ist von dem bereits im Klageverfahren anwaltlich vertretenen Kläger auch nicht beantragt worden, die Erforderlichkeit einer solchen Sachaufklärung drängte sich mit Blick auf den hier nur zu beurteilenden Streitgegenstand auch keineswegs auf. Soweit der Kläger "eine Vorfestlegung" des Verwaltungsgerichts rügt, fehlt es schon an der Darlegung konkreter Anhaltspunkte für die Annahme eines Verfahrensmangels im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.
14Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
15Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.
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"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
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Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 13. Oktober 2020 - 8 K 4139/20 - wird zurückgewiesen.Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.1 Die Antragstellerin ist Schülerin der Jahrgangsstufe 12 eines Gymnasiums in .... Am 02.10.2020 wurde ein positiver Fall einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in dieser Klassenstufe gemeldet. Am 05.10.2020 wurden fünf weitere positive Fälle in der Klassenstufe 12 bekannt. In der Folge stellte das Gymnasium seinen Präsenzunterricht ein. Dieser soll nach der Homepage der Schule am 19.10.2020 wiederaufgenommen werden.2 Das Landratsamt ... ordnete mit Bescheid vom 06.10.2020 gegenüber der Antragstellerin die häusliche Quarantäne an und gab ihr zusätzlich auf, zweimal täglich die Körpertemperatur zu messen und täglich Tagebuch zu Symptomen, Körpertemperatur, allgemeinen Aktivitäten und Kontakten zu weiteren Personen zu führen. Im Bescheid ist angeordnet, dass die Quarantäne am 02.10.2020 beginnt, ab da 14 Tage beträgt und dass sie am 17.10.2020 endet.3 Einen mit Schriftsatz vom 11.10.2020 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe gestellten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den genannten Bescheid lehnte das Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 13.10.2020 ab, da der angefochtene Bescheid voraussichtlich rechtmäßig sei und eine allgemeine Interessenabwägung, selbst wenn man den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache bezüglich der Absonderung als offen ansehen wollte, zu einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung sowie der Sicherung des Gesundheitssystems gegenüber dem zeitlich begrenzten Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin auf Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG führen würde. Der Beschluss ging dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin ausweislich des Faxaufdrucks des vorgelegten Beschlusses am 13.10.2020 ab 15:37 Uhr zu. Mit Schriftsatz vom 15.10.2020, beim Verwaltungsgerichtshof heute um 02:55 Uhr eingegangen, hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt. Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen.II.4 Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die fristgerecht dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), geben dem Senat keinen Anlass, über den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abweichend vom Verwaltungsgericht zu entscheiden.5 Der Senat folgt der Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts. Bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt des Senats im Beschwerdeverfahren sind, sollte sich der Bescheid in der Hauptsache als rechtswidrig erweisen, nicht hinnehmbare, das öffentliche Interesse überwiegende Beschränkungen der Freiheit der Antragstellerin auch angesichts des hohen Gewichts ihrer grundrechtlichen Positionen nicht erkennbar und mit der erst heute eingelegten Beschwerde auch nicht dargelegt. Denn mit dem Ablauf des heutigen Tages enden die Anordnungen aus dem streitigen Bescheid. Demgegenüber überwiegen in der Abwägung die öffentlichen Interessen am Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung auch für den Rest des heutigen Tages, da sich die Bemessung der Quarantäne auf 14 Tage an der nach Einschätzung des Senats nachvollziehbaren, medizinisch begründeten Empfehlung des Robert Koch-Instituts ausrichtet.6 Dies gilt auch angesichts des Umstands, dass sich dem Senat nicht unmittelbar erschließt, welche rechtliche Vorgaben nach der Vorstellung der Landesregierung für den Umgang mit Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in Schulen gelten sollen. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 der CoronaVO Schule vom 31.08.2020 besteht für Einrichtungen nach § 1 Abs. 1 dieser Verordnung ein Zutritts- und Teilnahmeverbot für Schülerinnen und Schüler, für Kinder, Lehrkräfte sowie sonstige Personen, die in Kontakt zu einer mit dem Coronavirus infizierten Person stehen oder standen, wenn seit dem letzten Kontakt noch nicht 14 Tage vergangen sind, ohne dass die Vorschrift näher bestimmt, welche Art von Kontakt das Zutritts- und Teilnahmeverbot zur Folge haben soll. Die Handreichung des Ministeriums für Soziales und Integration „Vorgehen und Maßnahmen des Gesundheitsamtes bei Auftreten von Coronafällen in Schulen und Kindertageseinrichtungen“ geht zum einen davon aus, dass bei „engen Kontaktpersonen (15 Minuten face-to-face Kontakt)“ durch die Ortspolizeibehörden eine Quarantäne für 14 Tage angeordnet wird und dass für nicht enge Kontaktpersonen in der Regel keine Veranlassung besteht, Maßnahmen zum Infektionsschutzrecht zu ergreifen; ferner ist dort ausgeführt, dass in der Regel die Quarantäne im schulischen Umfeld nur die Klasse eines betroffenen Schülers umfasst (https://km-bw.de/site/pbs-bw-km-root/get/documents_E-844958586/KULTUS.Dachmandant/KULTUS/KM-Homepage/Artikelseiten%20KP-KM/1_FAQ_Corona/Schreiben%20Min%20Schuljahr%2020_21/SM%20Vorgehen%20Gesundheitsamt%20bei%20Fällen%20in%20Schulen%20und%20Kindertageseinrichtungen.pdf). Nicht eindeutig erscheint dem Senat daher, ob nach dieser Handreichung alle Schüler einer Klasse, in der es einen bestätigten Infektionsfall gibt, als „enge Kontaktpersonen (15 Minuten face-to-face Kontakt)“ unabhängig davon anzusehen sein sollen, ob ein face-to-face Kontakt von 15 Minuten oder mehr im Einzelfall stattgefunden hat. Andererseits hat sich das Landratsamt für die Einstufung der Antragstellerin als Kontaktperson der Kategorie I auf die Handreichung „Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Coronavirus SARS-CoV 2“, Stand: 24.09.2020 des Robert Koch-Instituts (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Kontaktperson/Management.html) berufen, dort aber nicht auf die Gruppe „Personen mit kumulativ mindestens 15-minütigen Gesichts- (‚face-to-face‘) Kontakt mit einem Quellfall, z.B. im Rahmen eines Gesprächs“, sondern auf die Gruppe „Personen in relativ beengter Raumsituation oder schwer zu überblickender Kontaktsituation mit dem bestätigten COVID-19-Fall (z.B. Kitagruppe, Schulklasse), unabhängig von der individuellen Risikoermittlung“.7 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG.8 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). | {
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Tenor
Ziffer 1. des angefochtenen Beschlusses wird geändert. Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.579,43 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat Erfolg. Die gegen den angefochtenen Beschluss fristgerecht vorgebrachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat bei der hier veranlassten Überprüfung beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 i. V. m. Satz 1 und 3 VwGO), erschüttern die tragenden Gründe der angefochtenen Entscheidung. Da sich der erstinstanzliche Beschluss auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist, ist das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung auf die Beschwerde hin zu korrigieren und der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage (VG Köln, 23 K 6663/19) gegen den Entlassungsbescheid der Antragsgegnerin vom 30. Juli 2019 in der Gestalt des Beschwerdebescheides vom 16. Oktober 2019 anzuordnen,
4abzulehnen.
5Das Verwaltungsgericht hat diesem Antrag im Kern mit der folgenden Begründung entsprochen: Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiege das öffentliche Vollzugsinteresse, weil sich der Entlassungsbescheid bei summarischer Prüfung als (offensichtlich) rechtswidrig erweise. Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG lägen nach vorläufiger Einschätzung nicht vor. Zwar sei der Antragsteller Soldat auf Zeit im vierten Dienstjahr gewesen und liege eine schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten vor. Der Antragsteller habe, ohne angegriffen oder provoziert worden zu sein, am (Abend des) 20. September 2018 im Zuge eines in der Kaserne veranstalteten Sport-/Oktoberfestes zum einen dem Stabsgefreiten (StGefr) I. mit der Taschenlampe seines Handys ins Gesicht geleuchtet und diesem sodann gewaltsam und gegen dessen Willen mit dem Handrücken ins Gesicht gelangt und zum anderen den Oberstabsgefreiten (Unteroffizieranwärter) (OStGefr (UA)) F. mit den Worten beleidigt, welchen Schwanz dieser eigentlich blase. Durch dieses Verhalten habe er (wie im angefochtenen Bescheid auf S. 4 ausgeführt) gegen die Pflicht zum treuen Dienen nach § 7 SG, die Pflicht zur Fürsorge gemäß § 10 Abs. 3 SG, die Kameradschaftspflicht nach § 12 SG und die "allgemeine Wohlverhaltenspflicht gemäß § 17 Abs. 1 SG" verstoßen. Es fehle aber an einer ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung. Diese sei zunächst regelmäßig bei Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich anzunehmen, die unmittelbar die (materielle oder – hier nur in Betracht kommend – personelle) Einsatzbereitschaft der Bundeswehr beeinträchtigten. Eine solche Dienstpflichtverletzung liege hier nicht vor. Für deren Annahme müsse das Verhalten des Soldaten geeignet sein, Spannungen in den inneren Dienstbetrieb der Bundeswehr hineinzutragen, die sich negativ auf den Zusammenhalt der Truppe, auf ein reibungsloses Zusammenspiel der Einsatzkräfte im Rahmen des Prinzips von Befehl und Gehorsam und damit letztlich auf die Einsatzfähigkeit im Ganzen und die militärische Ordnung auswirkten. Das Fehlverhalten des Antragstellers habe zwar bei einer dienstlich veranlassten Veranstaltung stattgefunden, aber nicht unmittelbar in Ausübung des Dienstes. Es sei nicht erkennbar, dass sein Verhalten dazu angetan gewesen sei, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Soldaten und ihre Bereitschaft, füreinander einzustehen, zu zerstören. Ferner könne eine ernstliche Gefährdung i. S. v. § 55 Abs. 5 SG auch bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb des militärischen Kernbereichs vorliegen. Bei solchen Dienstpflichtverletzungen könne regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handele, wenn die begründete Gefahr bestehe, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr), oder wenn es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handele, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftrete oder um sich zu greifen drohe, so dass ohne die fristlose Entlassung ein Anreiz zu ähnlichem Verhalten für andere Soldaten gegeben wäre (Nachahmungsgefahr). Keiner der beiden Fälle liege hier voraussichtlich vor. Eine Straftat von erheblichem Gewicht sei nicht gegeben. Zwar lägen mehrere Pflichtverstöße zu Lasten zweier Kameraden vor; diese seien aber einem einheitlichen Gesamtgeschehen zuzuordnen. Außerdem sei das Strafverfahren nach § 153a Abs. 1 StPO gegen eine Geldauflage von 400,00 Euro eingestellt worden und führe der Vertrauensverlust gegenüber dem Antragsteller allenfalls zu einer mittelbaren Beeinträchtigung der personellen Einsatzbereitschaft der Truppe. Für eine Wiederholungsgefahr seien keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich. Auch die Annahme einer Nachahmungsgefahr habe die Antragsgegnerin nicht nachvollziehbar begründet. Mit der allgemeinen Erwägung, ohne Entlassung könne in der Truppe der Eindruck entstehen, der Dienstherr dulde die Misshandlung oder Beleidigung Untergebener, sei nicht dargelegt, weshalb das Fehlverhalten des Antragstellers Anreiz zur Nachahmung bieten sollte. Auch sei hiermit nicht erkennbar gemacht, dass es sich bei dem Fehlverhalten des Antragstellers um ein typisches Teilstück einer als allgemeine Erscheinung auftretenden Neigung zur Disziplinlosigkeit handele. Insgesamt spreche nichts dafür, dass dem befürchteten Schaden für die militärische Ordnung hier nicht durch eine disziplinarrechtliche Sanktion wirksam hätte begegnet werden können.
6Hiergegen macht die Antragsgegnerin im Kern geltend: Der Eilantrag sei unbegründet. Das Verwaltungsgericht habe unzutreffend und ohne hinreichende Begründung angenommen, dass das Fehlverhalten des Antragstellers den Kernbereich der militärischen Ordnung nicht berühre. Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sei vielmehr unmittelbar betroffen, und zwar insbesondere durch die schwerwiegenden Verstöße gegen die den Antragsteller treffenden Pflichten aus den §§ 7, 10 Abs. 3, 12 und 17 Abs. 2 SG. Mit diesen Verstößen sowie mit der Verletzung der Pflichten aus den §§ 10 Abs. 6 und 17 Abs. 1 SG habe er das in ihn als Soldat auf Zeit (SaZ) gesetzte Vertrauen grob missbraucht. Die zentrale Pflicht des § 7 SG, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen, sei gewichtig verletzt, weil der Antragsteller im dienstlichen Zusammenhang eine Straftat (Misshandlung des StGefr I. ) begangen und sich damit gegen die Rechtsordnung gestellt habe. Der dienstliche Zusammenhang folge daraus, dass der Antragsteller – damals Stabsunteroffizier (Feldwebelanwärter) – die Pflichtverletzungen innerhalb einer militärischen Anlage und Untergebenen nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 (richtig: Nr. 3), Abs. 3 VorgV gegenüber begangen habe. Unerheblich sei insoweit die Einstellung nach § 153a StPO, da diese die Antragsgegnerin nicht binde. Ferner liege mit der Misshandlung und der Beleidigung ein schwerwiegender Verstoß gegen die Pflicht vor, die Würde, die Ehre und die Rechts des Kameraden zu achten (§ 12 Satz 2 SG). Diese Pflichtenregelung solle Handlungsweisen verhindern, die objektiv geeignet seien, den militärischen Zusammenhalt, mithin das gegenseitige Vertrauen und die Bereitschaft, füreinander einzustehen, zu gefährden, damit den Dienstbetrieb zu stören und letztlich auch die Einsatzbereitschaft der Truppe zu beeinträchtigen. Eine Kameradschaftspflichtverletzung, wie sie hier vorliege, betreffe mithin immer den Kernbereich der militärischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund sei die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht nachvollziehbar, es sei nicht erkennbar, dass das Verhalten des Antragstellers das Zusammengehörigkeitsgefühl der Soldaten und ihre Bereitschaft, füreinander einzustehen, zerstören könne, zumal der Antragsteller und die Geschädigten in derselben Einheit eingesetzt gewesen seien. In der Beleidigung des OStGefr (UA) F. liege zusätzlich ein Verstoß gegen die Pflicht des Soldaten aus § 10 Abs. 6 SG, bei seinen Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten. Durch die Provokation und den Schlag gegen den StGefr I. habe der Antragsteller ferner gegen seine elementare Fürsorgepflicht aus § 10 Abs. 3 SG verstoßen, nach der jeder Vorgesetzte seine Untergebenen nach Recht und Gesetz zu behandeln habe. Dass mit der Sportveranstaltung nicht unmittelbar die Ausübung des Dienstes verbunden gewesen sei, sei entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts unerheblich. Der Antragsteller sei nämlich als Vorgesetzter verpflichtet gewesen, in Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel zu geben (§ 10 Abs. 1 SG), Disziplin zu wahren und die dienstliche Stellung des Vorgesetzten in seiner Person auch außerhalb des Dienstes zu achten (§ 17 Abs. 1 SG), und sein Fehlverhalten außerhalb des Dienstes habe insbesondere angesichts des gegebenen Vertrauensverlustes in den Dienst hineingewirkt. Das Fehlverhalten seinen Kameraden gegenüber sei ohne weiteres objektiv geeignet, bei einem außenstehenden Dritten Zweifel an der persönlichen Integrität und charakterlichen Eignung des Antragstellers zu begründen und damit dessen Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit zu beeinträchtigen, weshalb es auch der Wohlverhaltenspflicht des § 17 Abs. 2 SG widerspreche. Die Einsatz- und Verwendungsbreite des Antragstellers sei beeinträchtigt, da der Antragsteller durch sein Fehlverhalten das in ihn gesetzte Vertrauen seiner Vorgesetzten zerstört habe; dies führe letztlich zu einer geringeren Einsatzfähigkeit der Einheit.
7Dieses Beschwerdevorbringen zeigt auf, dass das Verbleiben des Antragstellers, der sich bei seiner Entlassung unstreitig im vierten Dienstjahr befand und ebenso unstreitig die o. g. Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat, in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung ernstlich gefährden würde, und erschüttert damit die den angefochtenen Beschluss allein tragende gegenteilige Begründung. Dass sich der Beschluss aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweisen könnte, die Rechtmäßigkeit der auf § 55 Abs. 5 SG gestützten Entlassungsverfügung also unter anderen Gesichtspunkten Bedenken unterliegen könnte, ist nicht erkennbar.
8Nach § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Die fristlose Entlassung nach dieser Vorschrift ist keine disziplinarische Maßnahme, sondern soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten. Sie stellt ein Mittel dar, um eine Beeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. Bereits aus dem Wortlaut der Norm folgt, dass diese Gefahr gerade als Auswirkung einer Dienstpflichtverletzung des Soldaten drohen muss, was aufgrund einer nachträglichen Prognose zu beurteilen ist.
9Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 8, und OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2012 – 1 A 846/12 –, juris, Rn. 44 f., jeweils m. w. N.
10Das hier allein in Rede stehende Tatbestandsmerkmal einer drohenden ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung meint mit dem Merkmal der militärischen Ordnung den Inbegriff der Elemente, die die Einsatzbereitschaft der Soldaten und damit die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr nach den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen erhalten. Dabei genügt es nicht, wenn Randbereiche des Militärischen berührt werden, vielmehr muss es sich um Regeln und Einrichtungen handeln, die über diese Randbereiche hinausgehen.
11Vgl. das Senatsurteil vom 5. Dezember 2012–1 A 846/12 –, juris, Rn. 40 f., und ferner Poretschkin, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 55 Rn. 21, jeweils m. w. N.
12Eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung ist regelmäßig zu bejahen, wenn die Einsatzbereitschaft der Soldaten erheblich vermindert und infolge dessen die Verteidigungsbereitschaft der Truppe, d. h. der einzelnen betroffenen Einheit bzw. letztlich auch der Bundeswehr im Ganzen, in Frage gestellt wird.
13Vgl. den Senatsbeschluss vom 1. März 2006– 1 B 1843/05 –, juris, Rn. 23.
14Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung bei einem Verbleiben des Soldaten auf Zeit in seinem Dienstverhältnis ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar können Dienstpflichtverletzungen auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten. Jedoch ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann.
15Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 9, und OVG NRW, Urteil vom 5. Dezember 2012 – 1 A 846/12 –, juris, Rn. 44 f., jeweils m. w. N.
16Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die die personelle oder materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unmittelbar beeinträchtigen. Hierunter fallen schon begrifflich nur (schwere) innerdienstliche Dienstpflichtverletzungen oder ein außerdienstliches Verhalten, das unmittelbar hierauf gerichtet ist.
17Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 10 und 12, m. w. N.
18Die Frage, ob der Kernbereich der militärischen Ordnung berührt wird, ist dabei anhand objektiver Kriterien und nicht etwa nach dem persönlichen Empfinden der zuständigen militärischen Vorgesetzten oder der personalbearbeitenden Dienststelle zu beantworten.
19Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 13.
20Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen der Bundeswehr beurteilen zu können.
21Vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Januar 2013– 2 B 114.11 –, juris, Rn. 10, m. w. N.
22Nach Maßgabe des Vorstehenden sind hier (hinreichend schwere) Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich gegeben, die die personelle oder materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unmittelbar beeinträchtigen.
23Zunächst liegt, wie die Beschwerde zu Recht geltend macht, mit den zwar nicht in Ausübung des Dienstes, aber innerhalb einer militärischen Liegenschaft bei einem für die Soldaten ausgerichteten Fest und damit im dienstlichen Zusammenhang verwirklichten Straftaten zu Lasten des StGefr I. und des OStGefr (UA) F. jeweils ein schwerwiegender Verstoß gegen die in Bezug auf jeden anderen aktiven Soldaten der Bundeswehr geltenden
24– vgl. insoweit etwa Poretschkin, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 12 Rn. 5, m. w. N. –
25Pflicht zur Kameradschaft (§ 12 Satz 2 SG) vor, der objektiv geeignet ist, die Einsatzbereitschaft der Truppe zu beeinträchtigen. Der Zweck der hier verletzten Pflicht, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten (§ 12 Satz 2 SG), wird durch die Vorschrift des § 12 Satz 1 SG verdeutlicht, nach der der Zusammenhalt der Bundeswehr wesentlich auf Kameradschaft beruht. Hieraus ergibt sich, dass die Gebote des § 12 Satz 1 SG nicht um des einzelnen Soldaten willen normiert worden sind, sondern Handlungsweisen verhindern sollen, die objektiv geeignet sind, den militärischen Zusammenhalt, mithin das gegenseitige Vertrauen und die Bereitschaft, füreinander einzustehen, zu gefährden, den Dienstbetrieb zu stören und dadurch letztlich auch die Einsatzbereitschaft der Truppe zu beeinträchtigen.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2016– 2 WD 21.15 –, juris, Rn. 30, m. w. N.; ferner etwa Poretschkin, in: Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, 10. Aufl. 2018, § 12 Rn. 1, m. w. N.
27Eine Kameradschaftspflichtverletzung, wie sie hier nach dem Inhalt des § 12 SG unabhängig davon vorliegt, ob der Antragsteller und die Geschädigten der gleichen Einheit (Dienststelle SysZ 23 AbgFachGrp N. ) angehörten, was naheliegt, oder ob mit dem Antragsteller von einer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Einheiten ("Hörsälen" dieser Dienststelle) ausgegangen werden kann, betrifft dementsprechend grundsätzlich immer den Kernbereich der militärischen Ordnung.
28Vgl. Sohm, in: Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, § 55 Rn. 74, wonach Dienstvergehen zum Nachteil von Kameraden grundsätzlich eine ernstliche Gefährdung befürchten lassen.
29Der Bewertung der Verstöße als schwerwiegend und ihrer Zuordnung zum Kernbereich der militärischen Ordnung steht das – zuletzt mit der Beschwerdeerwiderung vom 18. Juni 2020 erfolgte – Vorbringen des Antragstellers nicht entgegen.
30Zunächst greift insoweit nicht das Argument durch, es liege ein einheitlicher und nicht etwa ein mehraktiger Geschehensablauf vor. Es ist schon zweifelhaft, ob hinsichtlich der beiden Taten überhaupt – worauf der Vortrag wohl zielt – "dieselbe Handlung" i. S. v. § 52 Abs. 1 StGB vorliegen kann, weil die Angriffe sich gegen verschiedene höchstpersönliche Rechtsgüter unterschiedlicher Geschädigter richteten und weil die einzelnen Ausführungshandlungen nicht wenigstens teilidentisch waren: Dem (nach provozierendem Leuchten in das Gesicht des StGefr I. erfolgten) Schlag mit der Hand in dessen Gesicht, der dessen Brille verrutschen ließ, folgte erst nach dem der Beruhigung dienenden Dazwischentreten zunächst des StUffz T. und sodann des OStGefr (UA) F. die Beleidigung des Letztgenannten. Das mag aber offen bleiben. Der nicht provozierte, sondern eine selbst vorgenommene Provokation steigernde tätliche Angriff auf den StGefr I. und die nachfolgende Beleidigung eines Einschreitenden stellen nämlich auch bei Annahme eines einheitlichen Geschehensablaufs einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Kameradschaftspflicht dar. Das gilt umso mehr, als der Antragsteller, der damals Stabsunteroffizier (Feldwebelanwärter) war, seine Pflichtverletzungen gegenüber Untergebenen nach § 1 Abs. 3 Satz 1 und 2 SG i. V. m. § 4 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 VorgV begangen hat.
31Das Gewicht der Pflichtverletzungen reduziert sich auch nicht deshalb, weil, wie der Antragsteller meint ("Indizwirkung"), die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 153a StPO eingestellt hat. Das gilt schon deshalb, weil eine solche Entscheidung die Antragsgegnerin nicht bindet. Unabhängig davon betrifft die Norm bereits den Bereich oberhalb der "kleinen Kriminalität", in dem § 153 StPO nicht mehr anwendbar ist, und erlaubt eine Einstellung des Verfahrens nur dann, wenn die Auflagenoder Weisungen, die dem Beschuldigten zur Ahndung erteilt und von diesem erfüllt werden, geeignet sind, das (also grundsätzlich zu bejahende) öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht.
32Vgl. etwa Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, StPO § 153a Rn. 1.
33Ferner ergibt sich eine für den Antragsteller günstigere Bewertung auch nicht aus dem von ihm geltend gemachten Umstand, er habe sich bei seinen Dienstvergehen in einem emotionalen Ausnahmezustand befunden, weil bei ihm Stunden zuvor eine Untersuchung der Schilddrüse mit noch ungesicherten Befund stattgefunden und er eine Krebserkrankung befürchtet habe. Zwar hatte er am 20. September 2018 tatsächlich diese Sorge mit sich herumgetragen, wie sich aus den Bekundungen des Hauptmanns D. ergibt, dem der Antragsteller hiervon unter Tränen berichtet hatte (Niederschrift über dessen Vernehmung vom 19. Oktober 2018, Beiakte Heft 1, Blatt 11). Dass gerade die Sorge um die eigene Gesundheit wesentlich mitbestimmend für seinen sich in Aggressionen gegen die beiden Geschädigten äußernden Kontrollverlust gewesen sein soll, ist aber schon für sich genommen kaum nachvollziehbar. Jedenfalls aber kann dem Antragsteller dieses Vorbringen nicht abgenommen werden. Er hat nämlich erst mit anwaltlichem Schreiben vom 23. September 2019 geltend gemacht, die emotionale Ausnahmesituation habe (zusammen mit der "aufgewühlten Stimmung" zwischen den "Hörsälen") zu seinem Fehlverhalten geführt, nicht aber schon bei seiner Vernehmung am 22. Oktober 2018 oder in der anwaltlichen Stellungnahme vom 8. März 2019, die die Taten vielmehr allein auf eine aufgeheizte Stimmung zwischen den "Hörsälen" 23 und 25 zurückführt. Einen nachvollziehbaren Grund dafür, diesen als entlastend angesehenen Umstand nicht schon von Anfang an vorgebracht zu haben, hat der Antragsteller nicht vorgetragen. Namentlich ergibt sich ein solcher Vortrag nicht aus dem Schriftsatz vom 25. Oktober 2019. Die darin aufgestellte Behauptung, er habe diesen Umstand für sich behalten und allein damit fertig werden wollen, steht nämlich in deutlichem, nicht aufgelösten Widerspruch dazu, dass der Antragsteller seine Sorge bereits am 20. August 2018 einem Vorgesetzten, Hauptmann D. , geschildert hat.
34Schließlich greift auch nicht der Einwand des Antragstellers durch, er habe am Folgetag (21. September 2018) bei allen Beteiligten um Entschuldigung gebeten und sich um ein weiteres gedeihliches Auskommen bemüht. Namentlich folgt aus ihm nicht, dass, wie der Antragsteller meint, keine "nachhaltige Störung des Zusammenhalts" mehr vorliege. Hierbei mag zwar unter Rückgriff auf den Inhalt der Stellungnahme der Vertrauensperson des "Hörsaals" 23 ("Hörsaal" des Antragstellers) davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller die Geschädigten um Entschuldigung gebeten hat, obwohl die Geschädigten in ihren Vernehmungen vom 9. bzw. 11. Oktober 2018 nur von Entschuldigungsversuchen anderer Personen als des Antragstellers berichtet haben. Für das Vorliegen eines Dienstvergehens nach § 12 Satz 2 SG reicht, weil die Norm den militärischen Zusammenhalt sichern und damit die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten will, aber das Vorliegen einer objektiven Pflichtverletzung aus, weshalb es unbeachtlich ist, ob der Betroffene dem Täter nachträglich verziehen hat.
35Vgl. Eichen, in: Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 11, m. w. N.
36Dass in Bezug auf § 55 Abs. 5 SG, der die gleiche Zielrichtung wie § 12 Satz 2 SG hat, etwas anderes gelten könnte, ist nicht erkennbar.
37Anders OVG Saarl., Beschluss vom 10. Juni 2020– 1 A 353/18 –, juris, Rn. 15, das die Betroffenheit des militärischen Kernbereichs in einem ähnlichen, aber minder gewichtigen Fall (Schlag ins Gesicht eines Untergebenen bei einem "Zugabend" in der Kaserne bei Alkoholisierung beider Betroffenen) mit der Begründung verneinen will, der Täter und der Geschädigte hätten sich in nüchternem Zustand ausgesprochen und Letzterer erhebe keine Vorwürfe gegen den Täter.
38Die Antragsgegnerin hat ihre Einschätzung, nach der Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich vorliegen, die die personelle oder materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unmittelbar beeinträchtigen, ferner auch darauf gestützt, dass der Antragsteller mit seinem Verfehlungen vom 20. September 2018 insbesondere auch gegen die ihn treffenden Pflichten aus den §§ 7, 10 Abs. 3 und 17 Abs. 2 SG sowie – ferner – aus den §§ 10 Abs. 6, 17 Abs. 1 SG verstoßen und insoweit namentlich auch das Vertrauen seiner Vorgesetzten in ihn verloren und damit seine uneingeschränkte Einsetzbarkeit eingebüßt habe. Auf die entsprechenden, oben im Kern wiedergegebenen zutreffenden Erwägungen aus der Beschwerdebegründung, denen das Gericht folgt, wird zur Meidung unnötiger Wiederholungen Bezug genommen.
39Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
40Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG sowie § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 (Dienstverhältnis auf Zeit), Satz 2 und 3 GKG. Auszugehen ist nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 GKG von dem Jahresbetrag der Bezüge, die dem jeweiligen Antragsteller nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Einleitung der jeweiligen Instanz (hier: Beschwerdeerhebung am 29. Mai 2020) bekanntgemachten, für Soldatinnen und Soldaten des Bundes geltenden Besoldungsrechts unter Zugrundelegung der jeweiligen Erfahrungsstufe fiktiv für das innegehabte Amt im Kalenderjahr der Einleitung der Instanz zu zahlen sind. Nicht zu berücksichtigen sind dabei die nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 und Satz 3 GKG ausgenommenen Besoldungsbestandteile. Der nach diesen Maßgaben zu bestimmende Jahresbetrag ist, da ein Dienstverhältnis auf Zeit in Rede steht, zunächst gemäß § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG um die Hälfte zu reduzieren und sodann, da nur eine vorläufige Regelung begehrt wird, die die Hauptsache nicht vorwegnimmt, noch einmal zu halbieren.
41Zu Letzterem vgl. den Senatsbeschluss vom 13. Januar 2020 – 1 B 1640/19 –, juris, Rn. 22 f., m. w. N.
42Der nach den vorstehenden Grundsätzen zu ermittelnde Jahresbetrag beläuft sich hier angesichts des von dem Antragsteller zuletzt innegehabten Amtes nach A 6 BBesO bei Zugrundelegung der hier maßgeblichen Erfahrungsstufe 2 für das maßgebliche Jahr 2020 auf 30.317,72 Euro (für Januar und Februar 2020 jeweils noch 2.481,41 Euro + 22,95 Euro Erhöhungsbetrag = 2.504,36 Euro, multipliziert mit 2 = 5.008,72 Euro; für die übrigen Monate jeweils schon 2.507,71 Euro + 23,19 Euro Erhöhungsbetrag = 2.530,90 Euro, multipliziert mit 10 = 25.309,00 Euro). Ein Viertel dieses Betrages beläuft sich auf 7.579,43 Euro.
43Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung gemäß § 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 776.880,18 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin macht Werklohnforderungen geltend.
Nach vorhergehender Ausschreibung wurde die Klägerin vom Beklagten mit Vergabeschreiben vom 25.01.2018 mit der Baumaßnahme „S.“. Grundlage für den Auftrag war das Angebot der Klägerin vom 18.12.2017 sowie das Bietergespräch vom 12.01.2018. Die Einbeziehung der VOB/B wurde vereinbart.
Im Leistungsverzeichnis, welches dem Angebot zugrunde lag, heißt es in der Positionsnummer 05.02.0010 (Anlage K4):
Boden lösen und entsorgen (Deichaufstandsfläche)
Boden profilgerecht oder nach Unterlagen des AG lösen, laden, fördern.
(…) Boden der Klassen 3 bis 5,
aus „Deichhinterweg, Deichaufstandsfläche und bestehendem Deichkörper, Böschungen mit einer Neigung bis 1 : 1,5 und flacher“
Boden lösen und in Eigentum des AN übernehmen und einer Verwertung nach Wahl des AN zuführen.
Unter der Positionsnummer 05.02.0120 (Anlage K3) war die Lieferung und der Einbau von Deichschüttmaterial nach konkreten geologischen und bodenmechanischen Eigenschaften des eingebauten Schüttmaterials gefordert.
In der Baubeschreibung, welche Teil der Ausschreibung war, heißt es unter Ziffer 11 (Anlage K5):
Im Planungsbereich des rückverlegten Deichneubaus sind keine Bodenaufschlüsse vorhanden. Entlang des bestehenden Deichs, parallel zum gegenständlichen Bauabschnitt, wurden im Jahr 2010 zwei Baugrunderkundungen (siehe Anlage 7) in einem Abstand von ca. 600 m durchgeführt. Diese dienen als Planungsgrundlage und geben den Bodenaufbau incl. bestehender Deichauffüllung wieder.
(…)
Ergänzende Baugrunderkundung 2017
Im Mai 2017 wurden ergänzend, im Abstand von ca. 100 m, insgesamt 19 Schürfe zur Erkundung der Deckschichten in Deichaufstandsfläche der neu gebauten Trasse durchgeführt. Unter einer Oberbodenschicht von ca. 30 cm bis 35 cm steht in den Ackerflächen größtenteils eine sandige teils schluffige Schicht mit einer Mächtigkeit von 20 cm bis 130 cm an. Darunter folgt die anstehende Kiesschicht.
Am 12.01.2018 nahm der Zeuge P für die Klägerin an einem Bietergespräch im Wasserwirtschaftsamt L. teil, an welchem auch die Zeugin W und der Zeuge E teilnahmen. Ausweislich des Protokolls wurde auf die genannten LV-Positionen wie folgt eingegangen (Anlage K7):
Zu LV-Pos. 05.02.0010 „Boden lösen und entsorgen (Deichaufstandsfläche)“ gibt Herr P an, dass der vergleichsweise günstige Einheitspreis in der Wiederverwertung des gelösten Bodens begründet ist der Kalkulation des EP's ist das lösen [sic] des Sandes und das Einmischen in das gelieferte Deichschüttmaterial berücksichtigt. Es wird davon ausgegangen, dass nur 10% des gelösten Sandes entsorgt werden müssen. Die hierfür anfallenden Entsorgungskosten sind in dem EP enthalten.
Zu LV-Pos. 05.02.0120 „Deichschüttmaterial liefern, einb., verdicht.“ gibt Herr P an, dass als Schüttmaterial eine Mischung von Liefermaterial und dem anstehenden Sand vorgesehen ist. Dem vorgesehenen Liefermaterial, welches sich an der gröberen Grenze des vorgebebenen [sic] Körnungsbandes befindet, wird der zuvor gelöste Sand mittels Schubraupen mit Aufreißern beigemischt. Die Eignungsprüfung des gemischten Materials erfolgt anhand von Probefeldern im Baufeld mit angemessener Vorlaufzeit vor Beginn der Deichschüttung in Abstimmung mit dem AG. Ein gemeinsamer Termin von Eigen- und Fremdüberwacher ist vorgesehen. Falls das gemischte Material nicht die geforderten Eigenschaften erfüllt, ist Liefermaterial verfügbar, welches ohne die Beimischung von Sand alle geforderten Eigenschaften erfüllt. (…) Die Grube, aus der das Deichschüttmaterial entnommen wird, ist noch nicht bekannt und wird vom Bieter nachgereicht. Die Kornvertellung des vorgesehenen Materials sowie die Bodenkennwerte erfragt der Bieter bei seinem Lieferanten und reicht diese ebenfalls nach. Darüber hinaus findet sich im Protokoll eine Überprüfung der Kalkulation aus der Urkalkulation der Klägerin hinsichtlich der beiden genannten Positionen.
Dem Angebot der Klägerin lag somit zugrunde, dass die Klägerin 90% des auszuhebenden Materials wieder zum Einbau bei Herstellung des Deichs benützen konnte.
Beginn der Arbeiten war am 09.02.2018, am 23.10.2018 wurden die Arbeiten durch das WWA abgenommen.
Nach Baubeginn stellte die Klägerin fest, dass das vorhandene Material für den Wiedereinbau ungeeignet war. Daraufhin meldete die Klägerin mit Schreiben vom 13.03.2018 Mehrkosten an, was auch Gegenstand einer Besprechung mit dem WWA am 20.03.2018 war. Eine Einigung hinsichtlich etwaiger Mehrkosten gab es nicht. Der Beklagte bestand auf Fortführung der Arbeiten und einer gegebenenfalls gerichtlichen Geltendmachung der Mehrkosten im Nachgang.
Weitere Folge des nicht geeigneten Materials war auch, dass die Klägerin nunmehr Material auf die Baustelle zufahren musste. Diese Zufahrt erfolgte über die B im Westen von L. Die Stadt L untersagte der Klägerin nach Anwohnerbeschwerden die Nutzung dieser Straße per Email vom 30.07.2018 (Anlage K27). Die Lastwagen mussten daraufhin Umwege fahren. Mit Schreiben vom 10.08.2018 meldete die Klägerin insoweit Mehrkosten an, was seitens des WWA abgelehnt wurde.
Die Klägerin behauptet, dass sie aufgrund der Angaben in der Ausschreibung und der Ergebnisse der Bodengutachten davon ausgehen konnte, dass das auszuhebende Material tatsächlich zum Wiedereinbau benutzt werden könne. Nachdem das Protokoll des Bietergesprächs vom 12.01.2018 nach dessen eindeutigem Inhalt zum Vertragsbestandteil werden sollte, sei es auch zur Geschäftsgrundlage gemacht worden. Der Mehraufwand für die Anlieferung des Materials berechne sich auf 736.675,56 €. Bezüglich des Nachtrags 3 führt die Klägerin an, dass sich die Baubeschreibung die Zufahrt zur Baustelle auf der Ostseite über die B und Flutmulde hätte erfolgen können. Bei der Arbeitsvorbereitung habe das WWA per E-Mail vorgegeben, dass im Osten die Zufahrt über die B erfolgen solle. Deswegen ergäben sich Mehrkosten in Höhe von 40.204,62 € netto.
Die Klägerin beantragt,
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 776.880,18 netto zzgl. Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der D BK hieraus seit dem 15.02.2019 zu bezahlen.
De Beklagte beantragt
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass das Leistungsverzeichnis allein die Entsorgung des Materials vorgesehen hätte, nicht aber die Wiederverwendung. Weil das Deichschüttmaterial konkrete bodenmechanische Eigenschaften aufweisen solle, habe es ausdrücklich geliefert werden müssen. Auch eine Eignungsprüfung des Materials sei erforderlich gewesen, weswegen ein Anteil von 90% wiederverwendbaren Materials reine Spekulation der Klägerin gewesen sei. Das WWA habe die Wiederverwendbarkeit ausdrücklich in Frage gestellt und nachgefragt, wie die Klägerin bei Ungeeignetheit des Materials vorgehen wolle. Die Klägerin habe dann auf den Zukauf hingewiesen und angegeben, dies sei bereits einkalkuliert. Entgegen der Auffassung der Klägerin ergäbe sich aus der Baubeschreibung gerade nicht, welche Qualität der auszuhebende Boden habe. Bezüglich des Nachtrags 3 habe die Klägerin die Zufahrten frei wählen können, Vorschriften des Beklagten habe es insoweit nicht gegeben. Es sei auch schließlich die Klägerin gewesen, die ihrer eigenen Genehmigung, welche sei bei der Stadt L beantragt habe, zuwider gehandelt habe. Ein Einwirken des Beklagten habe es insoweit nicht gegeben.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugen P, E und W. Für die Einzelheiten wird verwiesen auf die Sitzungsniederschrift vom 22.09.2020 (Bl. 128 ff. d.A.).
Zur Vervollständigung des Tatbestands wird verwiesen auf sämtliche Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, sowie sonstige Aktenteile.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet. Zusatzvergütung kann die Klägerin nicht beanspruchen.
I. Ein weiterer Werklohnanspruch der Klägerin besteht nicht auf Grundlage des § 2 Abs. 5 VOB/B.
II. Die Parteien haben sich durch den Zuschlag vom 25.01.2018 (Anlage K1), welcher auf die Ausschreibung vom 24.11.2017 (Anlage B1) und das Bietergespräch vom 12.01.2018 (Anlage K7) basierte, vertraglich verbunden. Die Geltung der VOB/B wurde vereinbart.
III. Eine Auslegung von Baubeschreibung und Leistungsverzeichnis ergibt, dass eine Wiederverwertung des in der Deichaufstandsfläche ausgehobenen Materials nicht Gegenstand der vom Beklagten ausgeschriebenen Arbeiten gewesen ist. Im Falle einer Ausschreibung nach der VOB/A, wie hier vorliegend, ist für die Auslegung der Leistungsbeschreibung die Sicht der möglichen Bieter als Empfängerkreis maßgebend. Das Verständnis nur Einzelner kann nicht berücksichtigt werden (Ingenstau/Korbion, VOB/B, 21. A., § 2 Abs. 5, Rn. 5). Bei der Auslegung kommt dabei dem Wortlaut der Leistungsbeschreibung besondere Bedeutung zu. Nicht im Wortlaut enthaltene Einschränkungen können nur zum Tragen kommen, wenn sie von allen gedachten Empfängern in gleicher Weise verstanden werden mussten (Ingenstau/Korbion, a.a.O.).
Der Zeuge E hat nachvollziehbar und plausibel angegeben, dass abgesehen von der Klägerin kein weiterer Bieter für die hier streitgegenständliche Baumaßnahme die Idee hatte, das Aushubmaterial aus der Deichaufstandsfläche für die Aufschüttung des Deiches wiederzuverwerten und durch Einmischung des Aushubs Material einzusparen. Bereits dies ist ein Hinweis darauf, dass aus Sicht eines möglichen Bieters das Leistungsverzeichnis in Position 05.02.0010 in Verbindung mit der Einbauposition 05.02.0120 nicht zwingend so verstanden werden konnte, dass das Material für das Aufschütten des Deichs aus der Deichaufstandsfläche entnommen und mit eingemischt werden kann. Dies umso mehr, als sich zumindest aus der Positionsnummer 0010 nicht ergibt, welche genauen bodenmechanischen Eigenschaften das Material hat, während hingegen Position 0120 sehr konkrete Eigenschaften vorgab, um eine Haltbarkeit des Deiches im Hochwasserfall zu gewährleisten.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich auch aus der Baubeschreibung in Ziffer 11 (Anlage K5) gerade kein Hinweis darauf, dass das Material in der Deichaufstandsfläche zum Wiederverwenden für den Deich geeignet ist. Gleich der erste Satz stellt klar, dass im Planungsbereich keine Bodenaufschlüsse vorhanden sind. Die nachfolgend aufgeführten Bohrprofile, die allesamt aus dem Jahr 2010 stammen, basieren aus Baugrunduntersuchungen beim parallel verlaufenden bestehenden Deich, geben also die Bodenverhältnisse in einem anderen Bereich wieder. Abgesehen von der örtlichen Differenz zeigen die Bohrprofile auch nicht den ursprünglich anstehenden Boden, sondern den Bodenaufbau nach Fertigstellung des Deiches, also nach Aushub des Originalbodens und ggf. Austausch der Aufstandsfläche und Aufschüttung des Deiches selber. Es ist nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage die Klägerin davon ausgehen konnte, dass die Bohrprofile aus dem Paralleldeich geeignet sein sollten, das natürlich anstehende Material in der hier streitgegenständlichen Deichaufstandsfläche des Bauvorhabens widerzuspiegeln und Rückschlüsse auf den gewachsenen Boden zuzulassen. Dies trägt die Klägerin nicht vor und konnte auch der Zeuge P auf Nachfrage nicht erklären. Für ihn war die Angabe in der Baubeschreibung „bei der Kalkulation ausreichend“, obwohl sich der Abschnitt zu den ergänzenden Baugrunderkundungen im Jahr 2017 in einer ungefähren Angabe zu Mächtigkeit und Zusammensetzung der Schicht unterhalb der Ackerflächen erschöpft. Die Mächtigkeit soll zwischen 20 cm und 130 cm schwanken, ohne dass sich aus dem Text der genaue Verlauf ergibt, insbesondere ob die 130 cm über weitere Strecken anzutreffen sind. Immerhin umfasst die ergänzende Erkundung einen Bereich von fast zwei Kilometern Länge. Die Zusammensetzung des Materials bleibt völlig im Ungefähren, wobei entgegen der Auffassung des Zeugen P gerade keine „größtenteils sandige teils schluffige Schicht“, sondern „größtenteils eine sandige teils schluffige Schicht“ vorgefunden wurde. Die sandige teils schluffige Schicht (deren Verhältnis zwischen Sand und Schluff schon nicht definiert ist!) soll also den größten Teil ausmachen, wobei dies rein semantisch einen Bereich zwischen 50% und 100% umfasst (und damit unklar bleibt, woraus der Rest des Materials besteht, das nicht „sandig teils schluffig“ ist). Die Baubeschreibung war in dieser Hinsicht gerade nicht geeignet, Rückschlüsse auf das Material zu ziehen. Dies hat der Zeuge P eingangs der Erörterung der Baubeschreibung auch zugegeben, als er angab, „per Baubeschreibung war beschrieben, dass unter dem Oberboden eine Sachschicht vorhanden ist, die für den Einbau nicht geeignet ist“ (Protokoll S. 3). Wie dann aber eine Wiederverwertung des prinzipiell ungeeigneten Materials mit einer Quote von 90% möglich sein sollte, blieb das Geheimnis des Zeugen. Bereits hier ist festzuhalten, dass die Klägerin weder während der Ausschreibung noch beim Bietergespräch eine Rückfrage diesbezüglich für nötig befunden hat, nicht einmal, als die Zeugen E und W im Bietergespräch unstreitig (s. Aussage P) die Klägerin auf die aus ihrer Sicht Ungeeignetheit des Aushubmaterials für den Deichbau hinwiesen.
Weitere Bohrprofile oder ähnliche genauere Angaben gibt es für die Fläche des Deichneubaus nicht und werden auch von der Klägerin nicht behauptet.
Vor dem Hintergrund dieser Baubeschreibung und dem eindeutigen Text im Leistungsverzeichnis ist für den möglichen Bieter somit (lediglich) ausschlaggebend, dass er das Material lösen muss und damit verfahren kann, wie er möchte.
Entgegen der Auffassung des Beklagten schließt das Leistungsverzeichnis nicht aus, dass eine Wiederverwertung des Bodens ausgeführt wird. Allerdings kann das Leistungsverzeichnis auch nicht so verstanden werden, dass eine Wiederverwertung des gelösten Bodens auch sicher möglich ist, um die in Position 0120 geschilderten bodenmechanischen Eigenschaften des neuen Deichs zu erreichen. Erst recht nicht mit einer Quote von 90%. Eine solche Wiederverwertung hätte sicherlich positive Nebeneffekte im Sinne einer Ressourcenschonung und der Vermeidung unnötigen Lkw-Verkehrs gehabt. Aus den Vergabeunterlagen ergibt sich aber kein Hinweis, dass ein Bieter mit solch einer Möglichkeit rechnen konnte.
IV. Die Beweisaufnahme hinsichtlich des Bietergesprächs vom 12.01.2018 hat ergeben, dass es keine Vertragsgrundlage zwischen den Parteien gegeben hat, die in der Deichaufstandsfläche entnommenen Bodenschichten seien für die Wiederverwertung im neu herzustellenden Deich geeignet. Schon aus dem Protokoll ergibt sich keine Billigung eines solchen Vorgehens. Im Protokoll ist nur festgehalten, dass der Zeuge P die Grundlage der Kalkulation erläutert. Alle Zeugen haben übereinstimmend angegeben, dass eine Nachfrage erfolgte, weil die Klägerin in der Hinsicht deutlich günstiger war als die anderen Bieter. Auch waren sich alle drei Zeugen einig, dass das WWA im Zuge des Vergabeverfahrens davon ausgegangen ist, dass das ausgehobene Material in der Deichaufstandsfläche zum Wiedereinbau ungeeignet ist. Dies erklärt auch die Nachfrage zur Position 0120, in welchem sich das WWA versicherte, dass die Klägerin im Falle eines Zuschlags auch Material zur Verfügung hat, mit welchem sie den Deich im Wege der Zulieferung aufschütten kann. Auch dies wurde seitens der Klägerin bestätigt. Wie die Zeugin W überzeugend und auch nachvollziehbar ausgeführt hat, konnte der Zuschlag erst erteilt werden, als die Klägerin die Bodenkennwerte, welche im letzten Absatz auf Seite 7 des Bietergesprächprotokolls festgehalten sind, nachreichte. Als diese zur Zufriedenheit des WWA ausfielen, konnte der Zuschlag am gleichen Tag noch erteilt werden. Daraus ergibt sich, dass es für das WWA essentiell wichtig war, dass die Aufschüttung die im LV genannten bodenmechanischen Eigenschaften einhält, da die Klägerin den Zuschlag nur erhalten konnte, wenn das Zulieferungsmaterial die Vorgaben auch einhält. Es ergibt sich daraus aber gerade nicht, dass eine Wiederverwertung des Materials für das WWA relevant gewesen wäre. Dann wäre naheliegend gewesen, dass sich das WWA auch die Eigenschaften des Aushubmaterials nachweisen lässt.
Außerdem hat keiner der drei Zeugen auf ein irgendwie geartetes Einverständnis des Beklagten zu einer Wiederverwertung Angaben gemacht. Auch der Zeuge P hat eingeräumt, dass das WWA auf nicht geeignetes sandiges Material hingewiesen hat. Ebenso hat er ausgesagt, der Auftraggeber (also der Beklagte) habe die vermutete Folge einer Wiederverwertung des Aushubmaterials, nämlich eine Reduktion des Lkw-Verkehrs, zur Kenntnis genommen. Eine Billigung dieses Vorgehens ist dies nicht. Die Zeugen E und W hingegen sind für die relevanten LV-Positionen eindeutig davon ausgegangen, das Material werde aus dem Boden gelöst und anschließend weggefahren. Diese beide Zeugen gaben an, man habe auf die Ungeeignetheit des abzufahrenden Materials für den Deichaufbau hingewiesen. Der Zeuge E hat angegeben, man habe Bedenken an der Vorgehensweise der Klägerin geäußert, allerdings der Klägerin dieses Vorgehen auch nicht untersagt. Auch dies ist keine Billigung dergestalt, dass man von einer einvernehmlichen Vertragsgrundlage der Wiederverwertung des ausgehobenen Bodens ausgehen konnte.
Daraus folgt allerdings, dass zum Zeitpunkt des Bietergesprächs und damit auch des Zuschlags beide Seiten nicht von einer übereinstimmenden Vertragsleistung ausgegangen sind, die später anders ausgeführt wurde, was aber Grundvoraussetzung für einen Anspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B wäre (Ingenstau/Korbion, Rn. 6). Insbesondere der Beklagte hat zwar zur Kenntnis genommen, dass die Klägerin eine Wiederverwertung plane, allerdings hat die Klägerin auch die Lieferung von neuem Material zugesagt, sollte sich das Material (wie später tatsächlich der Fall) für den Wiedereinbau nicht tauglich sein. Ausgeführt wurde ausweislich der Auslegung von Leistungsverzeichnis und Baubeschreibung gerade diejenige Leistung, welche ursprünglich auch Grundlage der Ausschreibung gewesen ist.
V. Daraus ergibt sich hinsichtlich es hier geltend gemachten Nachtrags 2 (Lieferung von geeignetem Material für den Deich) keine Änderung der Preisgrundlagen aufgrund eines Eingriffes des Beklagten, mithin also kein Anspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B.
Denn von § 2 Abs. 5 VOB/B sind gerade diejenigen Fälle nicht erfasst, in denen die angeblich geänderte Leistung bereits vom bisher bestehenden vertraglichen Leistungsumfang erfasst ist (Ingenstau/Korbion, Rn. 16). Wie oben ausgeführt war der vertragliche Leistungsumfang in der Ausschreibung mit einer Neulieferung von Deichmaterial ausgeschrieben. Das Risiko einer Fehlkalkulation trägt dann die Klägerin als Auftragnehmerin, wenn sie sich vor Abgabe ihres Angebots nicht nach den Einzelheiten der geplanten Ausführung erkundigt hat, die sie weder dem Leistungsverzeichnis noch den damals überlassenen Planungsunterlagen hinreichend entnehmen konnte, die sie aber für eine zuverlässige Kalkulation hätte kennen sollen (Ingenstau/Korbion, Rn. 17; BGH, Urteil vom 25.06.1987, Az. VII ZR 107/86; OLG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22.02.2013, Az. 12 U 120/12). Unklarheiten darf die Klägerin als Auftragnehmerin nicht einfach akzeptieren und durch für sie günstige Kalkulationsannahmen ausfüllen, sondern muss Zweifel bereits vor Abgabe des Angebots ausräumen. Ein damit einhergehender Kalkulationsirrtum kann von der Klägerin nicht auf den Beklagten abgewälzt werden, vor allem, wenn dies wie vorliegend auf einer erkennbaren Fehleinschätzung der Baubeschreibung durch die Klägerin beruht:
Der Zeuge P hat auf Nachfrage des Beklagtenvertreter eingeräumt, dass er Bautechniker ist, aber keine geologische Ausbildung hat. Die Frage, woher er seine Annahme einer 90%igen Wiederverwertungsquote des ausgehobenen Materials für den Deichneubau nahm, konnte der Zeuge nicht beantworten. Er gab zu, dass er die Wiederverwertungsquote selber geschätzt hatte und dies mit seiner Erfahrung aus anderen Aufträgen begründet. Auf welcher Tatsachenbasis er diese Quote bestimmt hat, nachdem die Baubeschreibung so unklar formuliert hat, blieb offen. Er verwies zwar auf die Baubeschreibung, konnte aber nicht erklären, woraus sich daraus Grundlagen für die Schätzung ergeben haben sollen. Vielmehr „ging er davon aus“, dass „sandschluffiges Material“ einen Anteil von 15% Schluff hat. Wie er darauf kommt, einen solchen Anteil hier anzunehmen bleibt unerfindlich, weil in der ganzen Bauschreibung für die hier relevante Fläche „sandschluffiges Material“ nicht erwähnt wird.
Nachdem es nicht auf subjektive Auslegung der Leistungsbeschreibung durch die Klägerin ankommt, sondern auf die Sicht aller möglichen Bieter (siehe oben), die Baubeschreibung und das Leistungsverzeichnis sich zur Geeignetheit des Materials gerade aber nicht verhalten (siehe oben Ziffer 2), hätte die Klägerin entweder eine Wiederverwertung ihrem Angebot nicht zugrundelegen dürfen oder sich aber um weitere Informationen hinsichtlich des Aushubmaterials bemühen müssen. Genau dies hat sie allerdings unterlassen, sodass das Kalkulationsrisiko gerade sie trifft. Dies ändert sich auch nicht durch die Tatsache, dass die Klägerin Eigentümerin des Aushubmaterials wird. Denn allein aus diesem Eigentumsübergang konnte die Klägerin nicht zu Recht auf eine Möglichkeit der Wiederverwertung hoffen (OLG Nürnberg, Beschluss vom 10.08.2018, Az. 2 U 2188/17, Rn. 3 - juris).
Entgegen der Auffassung der Klägerin sind die Angaben der Parteien, also des Zeugen P für die Klägerin und der Zeugen E und W im Bietergespräch vom 12.01.2018 nicht geeignet, die von der Klägerin angeblich avisierte Wiederverwertung des Bodens zur Vertragsgrundlage zu machen. Der BGH hat im Urteil vom 10.09.2009 (Az. VII ZR 82/08) eindeutig entschieden, dass die Kalkulationsgrundlage nicht einmal dann Geschäftsgrundlage des Vertrags wird, wenn sie gegenüber dem Auftragsgeber offengelegt wird. Vielmehr müssen besondere Umstände hinzukommen, welche die Annahme rechtfertigen, der Auftraggeber habe die Kalkulation in seinen Geschäftswillen ungeachtet dessen aufgenommen, dass es grundsätzlich Sache und Risiko des Unternehmers ist, wie er kalkuliert (Rn. 25 - juris). Es reicht entgegen der Auffassung der Klägerin also nicht aus, dass im Bietergesprächprotokoll unter Ziff. 1 festgehalten wird, dass „das vorliegende Protokoll des Bietergesprächs im Fall einer Auftragserteilung Bestandteil des Auftragsschreibens wird“ und in der Schlussformel bestimmt wird, dass „im Falle der Auftragsvergabe dieses Protokoll und alle Inhalte uneingeschränkt Vertragsbestandteil werden.“ Nachdem der Zeuge E zur Überzeugung des Gerichts eindeutig angegeben hat, man habe ein entsprechendes Vorgehen der Klägerin nicht gebilligt und darüber hinaus das Aushubmaterial zum Wiedereinbau für ungeeignet gehalten, ist ein entsprechender Geschäftswille seitens des Beklagten nicht anzunehmen, da Geschäftswille des Beklagten war, für die Standsicherheit des Deiches die erforderlichen bodenmechanischen Eigenschaften des Aufschüttmaterials zu gewährleisten. Was mit dem Aushub passierte, war dem Beklagten egal. Aus diesem Grund sollte der Aushub auch in das Eigentum des Bieters übergehen. Aus dem Protokoll ergibt sich eine entsprechende Billigung jedenfalls nicht.
Dies wird durch die eindeutige Aussage der Zeugin W gestützt, man habe seitens des WWA ausdrücklich nachgefragt, ob die von der Klägerin in der Kalkulation genannten Preise auch für den Fall gelten, dass man Material neu zuliefern müsse, sich also die Kalkulationsgrundlage der Klägerin als Irrtum erweist. Dies wurde nach Aussage der Zeugin W eindeutig bejaht. Wie die Zeugin richtig angegeben hat, konnte die Klägerin den Zuschlag auch nur deswegen erhalten, eben weil sie für den Fall der Anlieferung des Materials den gleichen Preis zusicherte. Andernfalls hätte sie gemäß § 15 Abs. 2 und 3 VOB/A den Zuschlag nicht erhalten dürfen. Eine Nachverhandlung über den Preis hätte nicht stattfinden dürfen. Wäre also die Wiederverwertung des Aushubs auch seitens des Beklagten Vertragsgrundlage geworden, hätte diese Nachfrage nicht erfolgen müssen/dürfen (dann wäre die Vergabe aber rechtswidrig gewesen).
Daran ändert auch nichts, dass man seitens der Zeugen E und W die Kalkulation hinsichtlich der beiden hier streitigen Positionen 0010 und 00120 im Einzelnen dahingehend überprüfte, ob sie sich aus der Urkalkulation richtig ergeben hatte. Der Zeuge E hat angegeben, dies habe nur zum Inhalt gehabt, ob die Berechnung an sich richtig ist. Eine Billigung oder anderweitige Überprüfung, ob das Aushubmaterial tatsächlich zum Aufbau des neuen Deichs geeignet ist, auch dass der Beklagte dies für zulässig und richtig erachte, war damit gerade nicht verbunden. Es handelte sich vielmehr nur um eine rein mathematische Prüfung. Selbst wenn dies anders gewesen wäre, ist ein öffentlicher Auftraggeber in der Regel nicht verpflichtet, die Angebote der Bieter auf mögliche Kalkulationsirrtümer zu überprüfen (BGH, Urteil vom 07.07.1998, Az. X ZR 17/97). Vorliegend wurde seitens des Beklagten sogar ausdrücklich nachgefragt, ob eine Lieferung zum gleichen Preis möglich ist, was der Zeuge P, auch welchen Gründen auch immer, bejaht hat. Der Zeuge P hat diesbezüglich keine Angaben getätigt, was dazu passt, dass man sich bei der Klägerin (aus welchen Gründen auch immer) keine näheren Gedanken zur wahren Zusammensetzung des Aushubmaterials gemacht hat und ohne genaue Angaben und geologische Kenntnisse eine Wiederverwertungsquote von 90% annimmt.
Darüber hinaus scheitert ein Anspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B auch daran, dass eine rechtsgeschäftliche Anordnung des Beklagten (dazu Ingenstau/Korbion, Rn. 21) nicht vorliegt. Bereits aus dem Bietergespräch ergibt sich (siehe oben) keine Vertragsgrundlage, dass eine Wiederverwertung des Aushubmaterials Vertragsgrundlage gewesen sein soll und zwingend von der Klägerin so vorgegangen werden soll. Auch aus dem Leistungsverzeichnis ergibt sich dies nicht. Wie man Anlage K20 außerdem entnehmen kann, lag ein Einverständnis des Beklagten für eine Änderungsanordnung gerade nicht vor, da der Beklagte bereits damals der Auffassung war, dass ein Neueinbau von Material vertraglich geschuldet war.
Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass geänderte Bodenverhältnisse, die üblicherweise einen Anspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B auslösen (zum Ganzen Ingenstau/Korbion, Rn. 27) gerade nicht vorliegen, weil die Ursache für die Preismehrung hier auf Fehlern in der Angebotserstellung durch die Klägerin selber beruht.
Deswegen geht auch der Verweis der Klägerin auf die „Baugrundrisikorechtsprechung“ des BGH (Anlage K22) fehl. Der BGH begründet seinen Anspruch auf Mehrvergütung gerade damit, dass „bestimmte Bodenverhältnisse“ beschrieben werden, welche sich nachher als falsch oder weitgehend unzutreffend herausstellen. Dies ist hier aber, wie bereits ausführlich dargelegt, gerade nicht der Fall, da die Baubeschreibung nicht nur ausdrücklich festhält, dass im Planungsbereich „keine Bodenaufschlüsse“ vorhanden sind (deutlicher geht es wohl kaum), vielmehr ist auch die ergänzende Untersuchung aus 2017 denkbar ungenau. Von einem „Bodengutachten“ kann nicht ansatzweise die Rede sein. Auch der Hinweis, die Baugrunderkundungen im Paralleldeich würden als „Planungsgrundlage“ dienen, ändert daran nichts. Denn damit kann man vielleicht kalkulieren, wie viel Material benötigt wird. Da diese Profile aber nicht gewachsenen Boden wiedergeben, kann kein Rückschluss auf das Aushubmaterial gezogen werden.
I.Ebenso wenig besteht ein Anspruch nach § 2 Abs. 5 für den Nachtrag 3, den die Klägerin für Mehrkosten beim Transport des Anlieferungsmaterials auf Grund geänderter Straßenführung geltend macht.
Ein Mehranspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B kommt dann in Betracht, wenn sich die Bauumstände gegenüber den ausgeschriebenen Gegebenheiten auf der Baustelle ändern. Ist also in der Ausschreibung für die erforderlichen Erdtransporte ein bestimmter Transportweg vorgeschrieben und vorgesehen worden und hat sich dieser Transportweg nach Vertragsschluss dahingehend geändert, dass er für den Schwerlastverkehr gesperrt wird und werden dadurch längere Transportwege hervorgerufen, kann ein solcher Anspruch geltend gemacht werden (Ingenstau/Korbion, Rn. 10). Anders ist dies allerdings, wenn der Vertrag die Regelung enthält, dass die Wahl der Transportwege dem Auftragnehmer obliegt und er die erforderlichen Informationen einzuholen hat (a.a.O.).
Im vorliegenden Fall ergibt sich bereits aus den Vergabeunterlagen, dass Vorgaben seitens des Beklagten für die zu benutzenden Straßen und Wege nicht erfolgten. Bereits die Formulierung in Ziffer 7 der Baubeschreibung (Anlage K23) trifft keine Festlegung, da dort unverbindliche Vorschläge für die Zufahrten gemacht werden (“kann … erfolgen“). Relevant ist jedenfalls die Schlussbestimmung in Ziffer 7, nach welcher die Überprüfung sämtlicher möglicher Zufahrten und die Erholung möglicher Genehmigungen Sachen des Auftragnehmers sind. Auch im Leistungsverzeichnis (Anlagen B9 Pos. 01.01. und B10 Allgemeine Hinweise) ist eine Verpflichtung der Klägerin enthalten, sich vor Abgabe eines Angebots vor Ort über die vorhandenen Zufahrtsmöglichkeiten zu informieren. Ein darauf aufbauender Kalkulationsirrtum, der insbesondere mittelbar auch daraus resultiert, dass man einem Kalkulationsirrtum hinsichtlich des wiederverwertbaren Aushubmaterials unterliegt (siehe oben) geht allein zu Lasten der Klägerin (BGH, Urteil vom 25.06.1987, Az. VII ZR 107/86).
Hinzu kommt, dass die Beschwerden der Anwohner sich auf die B bezogen, die verkehrsrechtliche Anordnung der Stadt L. vom 17.04.2018 (Anlage B14) die B aber gar nicht enthalten hat und darüber hinaus diese Anordnung auf dem eigenen Antrag der Klägerin beruht. Aus diesem Grund ist in der E-Mail der Mitarbeiterin des Straßenverkehrsamts der L. vom 30.07.2018 an den Beauftragten der Klägerin, Herrn H (Anlage K27), auch nicht die Rede davon, dass die B benutzt werden darf. Vielmehr müsse eine andere Route beantragt und ausschließlich diese genutzt werden. Das ist auch der Grund, warum im Änderungsbescheid der Stadt L. vom 30.07.2018 (Anlage K29) wörtlich die Feststellung enthalten ist, man habe entgegen der Anordnung vom 17.04.2018, die allein auf den Antrag der Klägerin zurückgeht, die B angefahren. Eine Änderung der Anfahrroute wird darin nicht vorgenommen. Auch die E-Mail der Zeugin W an den Herrn H von der Klägerin vom 26.02.2018 (Anlage K25) spricht lediglich von möglichen Zufahrtswegen, die auch nur ein „Angebot“ des WWA seien. Eine Anordnung des Beklagten oder eine Änderung der Leistungsbeschreibung gibt es schlicht nicht.
Darüber hinaus kann ein Anspruch nach § 2 Abs. 5 VOB/B wohl kaum darauf gestützt werden, dass die Klägerin entgegen ihrer selbst beantragten verkehrsrechtlichen Anordnung, für welche sie ausweislich des LV selbst verantwortlich war zuwider handelt und dann Mehraufwendungen zu tragen hat, die wiederum auf einem Kalkulationsirrtum beruhen, den sie selbst verschuldet hat. Nachdem also eine vertragliche Vereinbarung diesbezüglich gar nicht vorhanden ist (OLG Brandenburg, Urteil vom 17.10.2007, Az. 4 U 48/07), konnte der Beklagte auch den Vertrag insoweit gar nicht ändern. Die Auffassung der Klägerin würde im Gegenteil dazu führen, dass der Beklagte für das Fehlverhalten von Subunternehmern der Klägerin haften würde, was der Beklagte aber gar nicht beeinflussen kann. § 278 BGB weist das Risiko dieses Fehlverhalten aber allein der Klägerin als der Vertragspartnerin der Subunternehmer zu.
II. Ein Anspruch aus § 2 Abs. 6 VOB/B besteht nicht. Eine zusätzliche Leistung liegt nicht vor, eine solche wurde von der Klägerin auch nicht behauptet. Denn nach dem Vortrag der Klägerin wurde vom Beklagten gerade keine neue, vom bisherigen Vertragsinhalt nicht erfasste zusätzliche Leistung gefordert (Ingenstau/Korbion, Rn. 8). Vielmehr beruhte die „geänderte“ Leistung der Klägerin darauf, dass sich das Aushubmaterial eben nachfolgend nicht wiederverwerten ließ. Dass die Klägerin das Material lösen und anschließend (mit diesem oder anderem Material) den Deich aufschütten musste, ist zwischen den Parteien gar nicht streitig. Auch nach der Auffassung der Klägerin, die sich aus der Aussage des Zeugen P hinreichend ergibt, war die Wiederverwertung eine Option, ebenso wie die Zulieferung. Das Bietergesprächsprotokoll offenbart, dass man zumindest über die Zulieferung von Material gesprochen hat. Eine irgendwie geartete Erweiterung des Leistungsinhalts liegt somit gar nicht vor.
III. Ein Anspruch aus § 313 BGB ergibt sich nicht, da die Wiederverwertung auf der streitgegenständlichen Baustelle gerade nicht Vertrags- bzw. Geschäftsgrundlage geworden ist (siehe oben).
IV. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin gemäß § 91 ZPO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit resultiert aus § 709 ZPO. Der Streitwert folgt der Klageforderung.
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Rostock vom 19. Oktober 2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens für beide Rechtszüge.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Streitig ist, ob die Beklagte berechtigt war, gegen unstreitige Vergütungsansprüche der Klägerin mit einem Rückzahlungsanspruch in Höhe von 5.815,38 € aufzurechnen, weil diese wegen einer entsprechenden Überzahlung für die Behandlung des Versicherten der Beklagten F. zu Unrecht bereichert war. Die Beteiligten streiten insbesondere darüber, ob als Nebendiagnose die R63.3 (Ernährungsprobleme und unsachgemäße Ernährung) kodiert werden durfte.
2
Der 1956 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte B. F. (Versicherter), wurde vom 01. Juli 2009 bis 23. Juli 2009 vollstationär im Krankenhaus der Klägerin, Klinik für Strahlentherapie, Abteilung Radioonkologie, behandelt. Er litt unter einem Plattenepithelkarzinom des Ösophagus, weshalb er sich erstmals am 25. Juni 2009 in der Ambulanz vorgestellt hatte. Bei Verdacht auf pulmonale Metastasen sollte eine palliative Strahlentherapie, ggf. auch eine Chemotherapie erfolgen. Der Versicherte befand sich laut Entlassungsbericht bei Aufnahme in deutlich reduziertem Allgemeinzustand und kachektischem Ernährungszustand. Im klinischen Befund wird ein Gewicht von 62 kg bei einer Körpergröße von 179 cm angegeben. Die Ernährung war per os nur mit flüssiger Kost möglich. Ergänzend erfolgte je zwei- bis dreimal täglich eine Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit über ein Gastrostoma mittels Magensonde (perkutane endoskopische Gastrostomie, nachfolgend: PEG-Sonde), welche im Rahmen eines vorangegangenen Krankenhausaufenthalts in der Klinik für Innere Medizin der Klägerin im Juni 2009 gelegt wurde. Wegen golfballgroßer Metastasen am Hals mit ausgeprägter Schmerzsymptomatik erfolgte eine medikamentöse Schmerztherapie, wegen paraklinischer Entzündungshinweise eine antimikrobielle Therapie. In der Patientenakte ist für den 16. und 19. Juli 2009 Erbrechen (von Sondennahrung) dokumentiert; am 17. Juli 2009 findet sich der Eintrag „7:30 Pat. mit Luftnot vorgefunden, V. a. Flüssigkeit „verschluckt“. In der Pflegedokumentation heißt es insoweit (Eintrag vom 17. Juli 2009, 10:00): „Patient hat sich heute morgen an den Medikamenten stark verschluckt, verdacht auf Aspiration, hatte starke Luftnot, Arzt wurde informiert, Untersuchungen folgen“. Für den gleichen Tag ist eine Röntgenaufnahme des Thorax dokumentiert. Nach planmäßiger Durchführung der Bestrahlung wurde der Versicherte am 23. Juli 2009 entlassen.
3
Mit Rechnung vom 10. September 2009 rechnete die Klägerin gegenüber der Beklagten Behandlungskosten in Höhe von insgesamt 12.858,36 Euro auf Grundlage der DRG G27A (Strahlentherapie bei Krankheiten und Störungen der Verdauungsorgane, mehr als ein Belegungstag, mehr als 8 Bestrahlungen, mit äußerst schweren CC) mit einer Bewertungsrelation (BWR) von 4,548 ab. Die Klägerin hatte als Hauptdiagnose C15.0 (bösartige Neubildung: zervikaler Ösophagus) und als Nebendiagnosen C77.0 (Sekundäre und nicht näher bezeichnete bösartige Neubildung: Lymphknoten des Kopfes, des Gesichtes und des Halses), C78.0 (Sekundäre bösartige Neubildung der Lunge) sowie R63.3 (Ernährungsprobleme und unsachgemäße Ernährung) und Z43.1 (Versorgung eines Gastrostomas) verschlüsselt.
4
Die Beklagte glich die Rechnung vollständig aus, beauftragte jedoch den MDK mit der Prüfung der Nebendiagnosen, was der MDK der Klägerin mit Schreiben vom 06. Oktober 2009 anzeigte. Mit Gutachten vom 19. März 2010 kam er zu dem Ergebnis, dass die Nebendiagnose R63.3 neben der Z43.1 nicht kodierfähig sei. Die Klägerin widersprach unter Hinweis auf die Kodierrichtlinien (D003d), wonach das Symptom hier ein eigenständiges Krankheitsbild darstelle und als behandlungsrelevant und kodierbar anzusehen sei. Der MDK hielt unter dem 21. September 2010 an seiner Auffassung fest. Bei einem Ösophaguskarzinom sei eine Stenose mit Unfähigkeit zur oralen Nahrungsaufnahme kein eigenständiges Problem, sondern bloßer Befund der Erkrankung. Zudem sei der Versicherte mit einem Gastrostoma versorgt und hierüber ernährt worden. Ohne Kodierung der R63.3 resultiere die DRG G27B (Strahlentherapie bei Krankheiten und Störungen der Verdauungsorgane, mehr als ein Belegungstag, mehr als 8 Bestrahlungen, ohne äußerst schwere CC, BWR: 2,467).
5
Die Beklagte verrechnete nach erfolgloser Aufforderung zur Gutschrift am 27. Juni 2011 den nach ihrer Auffassung zu viel gezahlten Betrag in Höhe von 5.815,38 Euro mit einer anderweitigen, unstreitigen Forderung der Klägerin.
6
Die Klägerin hat am 23. Dezember 2013 bei dem Sozialgericht A-Stadt Klage erhoben und ausgeführt, mittels der Z43.- und im speziellen Z43.1 (Versorgung eines Gastrostomas) werde lediglich die Versorgung des Gastrostomas selbst, nicht aber die Versorgung des Patienten über das Gastrostoma kodiert. Ein Ösophaguskarzinom könne in unterschiedlichen Stadien verlaufen und von unterschiedlichen Geweben ausgehen. Die Ernährungsprobleme würden von Begleiterkrankungen und Art des Karzinoms beeinflusst. Insbesondere spiele das Stadium einer Erkrankung eine wesentliche Rolle, ob z. B. Ernährungsprobleme vorlägen. Im Übrigen seien die Kodierrichtlinien im Jahre 2010 angepasst worden. Auf die deutungspflichtige Eigenständigkeit eines Problems sei verzichtet worden. Die DKR wiesen unmittelbar darauf hin, dass ein Symptom als Nebendiagnose zu kodieren sei, wenn ein Symptom ein eigenständiges, wichtiges Problem für die medizinische Betreuung darstelle. Das Symptom habe hier ein eigenständiges Problem dargestellt. Eine Einschränkung der DKR D003 ergebe sich auch nicht durch die DKR D012 zur Ätiologie- und Manifestationsverschlüsselung (Kreuz-Stern-Verschlüsselung), da ein typisches Allgemeinsymptom vorgelegen habe, welches selbst keine Aufschlüsse über den Charakter, die Ursache oder die Lokalisation zugelassen habe. Es handele sich nicht um eine Manifestation der Grunderkrankung, sondern um ein Symptom.
7
Die Klägerin hat beantragt,
8
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 5.815,38 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28. Juni 2011 zu zahlen.
9
Die Beklagte hat beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Zur Begründung hat sie im Wesentlichen auf die Ausführungen des MDK verwiesen, der mit weiterem Gutachten vom 12. Dezember 2016 ausgeführt hat, das Kapitel XVIII der ICD-10 2009 trage die Überschrift „Symptome und abnorme klinische und Laborfunde, die andernorts nicht klassifiziert sind (R00 – R99)“. In der Einführung zu diesem Kapitel heiße es, dass das Kapitel (subjektive und objektive) Symptome, abnorme Ergebnisse von klinischen oder sonstigen Untersuchungen sowie ungenau bezeichnete Zustände bezeichne, für die an anderer Stelle keine klassifizierbare Diagnose vorliege. Für die Kodierung der vorliegenden Ernährungsstörung sei daher die Diagnose E90* (Ernährungs- und Stoffwechselstörung bei andernorts klassifizierten Krankheiten) zutreffend. Diese Diagnose finde sich in der ICD-10 im Kapitel VI. Konkret handele es sich vorliegend um eine Ernährungsstörung aufgrund des vorliegenden Ösophaguskarzinoms, sodass die zu kodierende Diagnose E90* den Sachverhalt konkret und umfassend wiederspiegele. Das Symptom (Ernährungsstörung) sei eindeutige und unmittelbare Folge der zugrunde liegenden Krankheit. Gerade weil das Symptom Ernährungsstörung des Versicherten unmittelbare Folge des Grundleidens sei, könne es laut DKR nicht als Nebendiagnose verschlüsselt werden. Die bei dem Versicherten unzweifelhaft vorliegende Ernährungsstörung mit entsprechendem Ressourcenverbrauch erfülle die Nebendiagnosedefinition D003d der DKR 2009 und sei folglich als Nebendiagnose zu kodieren. Zur klassifikatorisch korrekten Darstellung im DRG-System sei die Ernährungsstörung mit der Nebendiagnose E90* zu verschlüsseln. Es handele sich aufgrund des ätiologischen Zusammenhangs um eine Diagnose, die über das Kreuz-Stern-System zu verschlüsseln sei. Bei Streichung der Nebendiagnose R63.3 und Ergänzung der Nebendiagnose E90* resultiere die DRG G27B.
12
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Herrn Dr. T., Facharzt für Innere Medizin, vom 20. Oktober 2016, worin ein Ernährungsproblem organischen Ursprungs bejaht wird. Das Symptom R63.3 müsse, um kodiert werden zu können, ein eigenständiges, wichtiges Problem für die medizinische Betreuung darstellen UND dürfe nicht eindeutig und unmittelbar Folge der zugrunde liegenden Krankheit sein. Das Ernährungsproblem sei unmittelbare Folge des Grundleidens und habe eine durchgängige, nicht temporäre Unterstützung durch die Sondenkost erfordert. Es sei zudem ein hoher Pflegeaufwand (mit dreimal täglichem Verabreichen von Sondennahrung über das Gastrostoma, Kontrolle von Ein-/Ausfuhr, Kontrolle der PEG-Sondenlage, Kontrolle der Bauchhaut auf entzündliche Veränderungen an der Eintrittsstelle der Sonde) dokumentiert worden. Das Ernährungsproblem habe ein eigenständiges wichtiges medizinisches Problem dargestellt. Die Kodierung der Nebendiagnose R63.3 sei daher korrekt. Mit Ergänzungsgutachten vom 14. April 2017 hielt der Sachverständige an seiner ursprünglichen Auffassung nicht länger fest und führte aus, das Ernährungsproblem könne nicht als Symptom kodiert werden, da es unmittelbare Folge des Grundleidens gewesen sei. Die Ernährungsstörung sei als Nebendiagnose über die Ätiologie- und Manifestationsverschlüsselung (Kreuz-Stern-System) als E90* zu verschlüsseln. Daraus resultiere die DRG G27B.
13
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 19. Oktober 2017 abgewiesen und zur Begründung nach umfassender Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingungen des vorliegenden Vergütungsstreits ausgeführt, die Klägerin habe die Nebendiagnose R63.3 zu Recht kodiert. Nach den Deutschen Kodierrichtlinien, Version 2009 (DKR 2009) gelte für die Kodierung von Symptomen als Nebendiagnosen gemäß DKR D003d folgendes:
14
„Ein Symptom wird nicht kodiert, wenn es im Regelfall als eindeutige und unmittelbare Folge mit der zugrunde liegenden Krankheit vergesellschaftet ist. Stellt ein Symptom jedoch ein eigenständiges, wichtiges Problem für die medizinische Betreuung dar, so wird es als Nebendiagnose kodiert (siehe auch ICD-10-GM Kapitel XVIII).“
15
„Unstreitig“ habe bei dem Versicherten ein Ernährungsproblem vorgelegen. Der Versicherte habe wegen einer Verengung der Speiseröhre keine feste Nahrung zu sich nehmen können. Unstreitig sei ferner, dass dieses Ernährungsproblem einen Ressourcenverbrauch verursacht habe. Bei diesem Ernährungsproblem handele es sich auch um ein Symptom der zugrunde liegenden Krankheit. Entgegen der Auffassung des MDK und auch des Sachverständigen könne das Ernährungsproblem vorliegend als Nebendiagnose R63.3 und nicht „lediglich“ über das Kreuz-Stern-System als E90* kodiert werden. Sowohl der Sachverständige als auch der MDK verneinten die Kodierbarkeit der Nebendiagnose R63.3 mit der Begründung, die Ernährungsstörung sei eindeutige und unmittelbare Folge der zugrunde liegenden Krankheit und könne aus diesem Grund nicht als Symptom kodiert werden. Selbst wenn man aber das Ernährungsproblem als eindeutige und unmittelbare Folge der Haupterkrankung werte, überzeuge die vom Sachverständigen und vom MDK daraus gezogene Schlussfolgerung nicht, denn die DKR D003d ermögliche auch die Kodierung eines mit der zugrunde liegenden Krankheit vergesellschafteten Symptoms, wenn es ein eigenständiges, wichtiges Problem für die medizinische Betreuung darstelle. Zwar schließe der erste Satz der einschlägigen Kodiervorschrift grundsätzlich die Möglichkeit der Kodierung von solchen Symptomen aus, die mit der Haupterkrankung vergesellschaftet seien. Der zweite Satz regele jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz, wie an der Formulierung „jedoch“ deutlich werde. Somit könne auch ein mit der Haupterkrankung vergesellschaftetes Symptom als Nebendiagnose kodiert werden, wenn es ein eigenständiges, wichtiges Problem für die medizinische Betreuung darstelle. Der gegenteiligen Auffassung des Landessozialgerichts Hamburg (Urteil vom 24. April 2014, L 1 KR 6/12) werde nicht gefolgt.
16
Im Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung der Kammer fest, dass vorliegend ein eigenständiges, wichtiges Problem in diesem Sinne vorgelegen habe. Insoweit folge die Kammer den Ausführungen des Sachverständigen, der überzeugend auf den hohen Pflegeaufwand (dreimal tägliche Verabreichung von Sondennahrung, Ein- und Ausfuhrkontrolle), die hiermit einhergehende Prophylaxe eines alimentären Marasmus´ bei untergewichtigem Patienten und die Tatsache hingewiesen habe, dass der Versicherte flüssige Kost noch oral habe aufnehmen können. Das hiermit einhergehende Aspirationsrisiko habe sich am 17. Juli 2009 auch realisiert. Zudem habe der Versicherte zwischenzeitlich unter Würgereiz gelitten und am 19. Juli 2009 die Sondennahrung erbrochen, wodurch deutlich werde, dass sich die Ernährung auch über die PEG-Sonde problematisch gestaltet habe.
17
Die Nebendiagnose R63.3 habe auch zusätzlich zur Nebendiagnose Z43.1 (Versorgung eines Gastrostomas) kodiert werden können, da mit diesem Code lediglich die Versorgung des Gastrostomas selbst (z. B. Reinigung, Kontrolle des Sitzes), nicht aber die Versorgung des Patienten über das Gastrostoma abgebildet werde.
18
Gegen das der Beklagen am 13. November 2017 zugestellte Urteil richtet sich ihre Berufung vom 12. Dezember 2017, mit der sie ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiterverfolgt. Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Sie betont, dass die Kodierung von R63.3 nur in Betracht komme, wenn an anderer Stelle keine klassifizierbare Diagnose vorliege. Zudem verweist sie auf die bereits vom Sozialgericht zitierte Entscheidung des LSG Hamburg, wonach ein im Sinne der DKR 2009 D003d „vergesellschaftetes Symptom nie und ein nicht in diesem Sinne vergesellschaftetes Symptom nur dann kodiert werden kann, wenn es ein wichtiges Problem für die medizinische Betreuung darstellt“.
19
Die Beklagte beantragt,
20
das Urteil des Sozialgerichts Rostock vom 19. Oktober 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
21
Die Klägerin beantragt,
22
die Berufung zurückzuweisen.
23
Sie verweist auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung und führt unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 16. Oktober 2019 – L 6 KR 100/14 –, juris) ergänzend aus, dass die Kodierung eines Symptoms aus dem Kapitel XVIII (hier R63.3) einem bloßen „Zustand“ aus Kapitel XXI (hier Z43.1 bzw. Z 93.1) als spezifischer vorzuziehen sei, ferner, dass zwischen dem Gastrostoma einerseits und der hierin liegenden PEG-Sonde nebst der über diese erfolgende Versorgung andererseits zu unterscheiden sei.
Entscheidungsgründe
24
Die Berufung der Beklagte ist zulässig und begründet.
25
Die Beklagte war berechtigt, mit einem Betrag in Höhe von 5.815,38 Euro aufzurechnen, da die Klägerin aus der streitigen Behandlung keinen über 7.042,98 Euro hinausgehenden Vergütungsanspruch hatte. Wegen der Zulässigkeit der allgemeinen Leistungsklage und der gesetzlichen und vertraglichen Grundlagen des Vergütungsanspruchs der Klägerin wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die insoweit zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts verwiesen.
26
Zur Klarstellung sei vorangestellt, dass sowohl die Hauptdiagnose (C15.0, Ösophagus-Karzinom) als auch die den Schweregrad (CCL - Complication or comorbidity level) erhöhenden onkologischen Nebendiagnosen (C77.0, CCL: 2 und C78.0, CCL: 3) von der Klägerin zutreffend kodiert worden sind, was auch seitens der Beklagten und des MDK nicht in Frage gestellt wird. Auf die vorgenannten Nebendiagnosen ist zumindest ein diagnostischer Aufwand (CT und Rö-Thorax) und wohl auch ein therapeutischer Aufwand (Schmerztherapie) entfallen. Der Patientenakte ist zwar nicht ganz eindeutig zu entnehmen, wann diese Nebendiagnosen erstmals gestellt worden sind. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senates (Urteil vom 19. August 2020 – L 6 KR 2/16 –, juris) führt aber ein diagnostischer Aufwand zur Abklärung einer Begleiterkrankung auch dann zu deren Kodierfähigkeit, wenn das Ergebnis dieser Diagnostik keine weiteren (diagnostischen, therapeutischen oder pflegerischen) Folgen hat. Eine konkrete Erkrankung, sei sie auch nur eine vermutete oder befürchtete, selbst wenn sie sich noch nicht zu einer Verdachtsdiagnose verdichtet hat, macht eine gerade auf ihre Bestätigung (oder ihren Ausschluss) gerichtete Untersuchung im Sinne der DKR erforderlich; bestätigt die Untersuchung das Vorliegen der Erkrankung, führt dies zu deren Kodierbarkeit als Nebendiagnose. Auch dann, wenn die Bestrahlung vorliegend nicht auch auf die Absiedlungen gerichtet gewesen sein sollte, hinderte dies daher nicht die Kodierbarkeit der Metastasen.
27
Ebenfalls zutreffend wurde von der Klägerin die Nebendiagnose Z43.1 (Versorgung eines Gastrostomas) kodiert, da im Pflegebericht mehrfach einschlägige pflegerische Maßnahmen dokumentiert sind. In der Basis-DRG G27 hat diese Nebendiagnose allerdings einen CCL-Wert von 0, sodass sie nicht erlösrelevant ist.
28
Um anstelle der von der Beklagten favorisierten DRG G27B die von der Klägerin abgerechnete, höherwertige G27A anzusteuern, bedarf es nach Prüfung durch den Senat mithilfe des sog. Webgroupers weiterer mindestens 2 CCL-Punkte. Diese könnte die streitige Nebendiagnose R63.3 beisteuern, nicht jedoch die E90*. Der weiter in Betracht zu ziehende Schlüssel R64 (Kachexie) ginge sogar mit einer CCL-Gewichtung von 3 einher. Diese Diagnose ist aber zum einen von der Klägerin ihrer Abrechnung tatsächlich nicht zugrunde gelegt worden, womit der Klageanspruch auch nicht hierauf gestützt werden kann, vgl. BSG, Urteil vom 09. April 2019 – B 1 KR 3/18 R. Zum anderen dürfte trotz des in der Epikrise und in der Pflegeanamnese als „kachektisch“ beschriebenen Ernährungszustands des Versicherten bei einem BMI von 19,4 (62 kg bei 179 cm) und fehlendem zeitnahen Gewichtsverlust tatsächlich auch nach keiner einschlägigen Definition eine Kachexie vorgelegen haben.
29
Für die vom Sozialgericht demnach zutreffend als entscheidend herausgearbeitete Frage nach der Kodierbarkeit der R63.3 ist ferner zu beachten, dass die vom Sozialgericht wiedergegebene Regelung zur Symptom-Kodierung in den DKR 2009 von der ab 2010 geltenden Regelung abwich, die für Symptome fortan schlicht „die Regelungen zur Kodierung von Nebendiagnosen entsprechend“ gelten lässt, womit jeder Aufwand für eine Kodierbarkeit ausreicht, auch wenn kein „wichtiges Problem“ vorliegt.
30
Das Sozialgericht hat vorliegend, dem Sachverständigen folgend, ein solches „eigenständiges, wichtiges Problem für die medizinische Betreuung“ angenommen. Ob diese Bewertung zutrifft, erscheint allerdings zweifelhaft. Dass der Versicherte dreimal täglich Beutel mit Sondennahrung bzw. Flüssigkeit zu versorgen war, dürfte bereits nicht als Problem, sondern vielmehr als Ergebnis der Lösung eines im Rahmen des Voraufenthalts des Versicherten behobenen Problems anzusehen sein. Die Unmöglichkeit der Aufnahme fester Nahrung und das damit einhergehende Risiko, den Versicherten nicht hinreichend mit Nährstoffen versorgen zu können, ist bereits im Juni 2009, noch vor dem hier streitigen Krankenhausaufenthalt von der Klinik für Innere Medizin der Klägerin durch Anlage eines Gastrostomas mit PEG-Sonde beseitigt worden. Die Versorgung des Versicherten mit Beutelnahrung und -flüssigkeit im Rahmen des hier zu beurteilenden Aufenthalts dürfte zwar mit Mehrkosten, nicht jedoch mit einem nennenswerten Zusatzaufwand in personeller bzw. zeitlicher Hinsicht einhergegangen sein, weil es vom Aufwand her dem Reichen oral zuzuführender Nahrung und Flüssigkeit entspricht, vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16. Oktober 2019 – L 6 KR 100/14, juris. Zu der Frage, inwiefern in der bloßen Tatsache der Sondenernährung mit einhergehender ausreichender Nährstoffzufuhr ein „Problem“ zu sehen ist, hat der Senat in der vorgenannten Entscheidung (a. a. O., Rn. 38) ausgeführt:
31
„Die bloße Tatsache, dass ein mit einem Gastrostoma versorgter Patient mit Sondenkost ernährt wird, begründet zur Überzeugung des Gerichts weder die Kodierbarkeit von „Ernährungsproblemen“ (R63.3) noch von „Ernährungsstörungen“ (E90*). Vielmehr ist mit dem spezifischen Kode Z93.1 (Vorhandensein eines Gastrostomas) dieser Umstand bereits abgebildet, sodass es einer zusätzlichen Kodierung weiterer, unspezifischer Diagnosen bzw. Symptome ohnehin nicht bedarf, bzw. diese wegen des Prinzips der spezifischen Verschlüsselung ausgeschlossen ist. Da durch den medizinischen Eingriff (Gastrostoma) eine ausreichende Nährstoffversorgung des Patienten gerade gewährleistet wird, besteht für die Annahme von „Störungen“ oder „Problemen“ letztlich solange kein Anlass, wie es nicht auch zu konkreten Störungen oder Problemen kommt, die dann jeweils zu dokumentieren sind und denen in geeigneter Weise zu begegnen ist.“
32
Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, bietet der vorliegende Fall keinen Anlass. Die vom Sachverständigen und - ihm folgend - vom Sozialgericht zur Begründung der „Wichtigkeit“ angeführte „Ein- und Ausfuhrkontrolle“ beinhaltet letztlich nichts anderes als die Kontrolle, ob der Beutel leer und die Urinflasche voll ist, womit sich die Handhabung nicht wesentlich von derjenigen beim per os ernährten Patienten unterscheidet. Auch die „Prophylaxe eines alimentären Marasmus“ stellt nicht mehr als eine redundante Beschreibung von „Nahrungszufuhr“ dar. Soweit der Sachverständige schließlich auf die „Kontrolle der PEG-Sondenlage, Kontrolle der Bauchhaut auf entzündliche Veränderungen an der Eintrittsstelle der Sonde“ verweist, handelt es sich hierbei eindeutig um Aufwand, der gerade und vollständig dem spezifischen Schlüssel Z43.1 zuzuordnen ist. Mit einem „Ernährungsproblem“ hat dies nichts zu tun. Dieser Aufwand ist auch nicht im Sinne der (ebenfalls erst mit den DKR 2010 ausdrücklich eingeführten) Regelung „auf mehrere Diagnosen ausgerichtet“, sondern allein auf das Stoma/die Sonde und nur ganz mittelbar auf die gestörte Nahrungsaufnahme zurückzuführen, die zuvor Ursache für die Stoma-Anlage gewesen ist. Abweichend von der o. g. Entscheidung des Senats ist lediglich zu berücksichtigen, dass vorliegend anstelle des Schlüssels Z93.1 der Schlüssel Z43.1 (Versorgung eines Gastrostomas) zu verwenden war, der das Vorhandensein eines Gastrostomas denknotwendig mit abbildet, womit die Verschlüsselung von Z93.1 entbehrlich wird.
33
Auch die vorliegend (abweichend vom 16. Oktober 2019) dokumentierten Vorfälle im Zusammenhang mit der Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung (Verschlucken mit V. a. Aspiration, Erbrechen) rechtfertigen im Ergebnis nicht die Kodierung von Ernährungsproblemen oder -störungen. Es ist zunächst zweifelhaft, ob das einmalige „Sichverschlucken“ an Medikamenten und das zweimalige Erbrechen als „Ernährungsprobleme und unsachgemäße Ernährung“ bezeichnet werden können, zumal ein Zusammenhang mit dem ebenfalls dokumentierten C2- und Nikotinabusus sowie mit der strahlentherapeutischen Behandlung nicht ausgeschlossen erscheint. Erst Recht ist fraglich, ob in den dokumentierten Ereignissen eineigenständiges, wichtiges Problem für die medizinische Betreuung zu sehen ist.
34
Die fehlende Kodierbarkeit von R63.3 folgt aber jedenfalls aus dem sowohl den DKR als auch der ICD-10 immanenten Grundsatz der möglichst spezifischen Verschlüsselung.
35
Sowohl das Sozialgericht als auch die Klägerin verkennen insoweit, dass die in den DKR formulierten Voraussetzungen für die Kodierung eines Symptoms (anstelle einer Krankheit) im Einzelfall zwar notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingungen für die Verschlüsselung eines Symptoms als Nebendiagnose darstellen. Dass den DKR im Konfliktfall „Vorrang vor allen anderen Richtlinien“ zukommt (D002f der DKR 2009 hinsichtlich der Festlegung der Hauptdiagnose), bedeutet keineswegs, dass von der ICD-10 geforderte Voraussetzungen für die Verschlüsselung bestimmter Kodes nur deshalb unbeachtlich wären, weil die DKR bestimmte weitere Bedingungen formulieren.
36
Wie für jede Kodierung einer Krankheit ist daher zunächst zu verlangen, dass nach dem Klassifikationssystem der ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision, SGB-V-Ausgabe) in der jeweils zeitlich einschlägigen Version (hier: Version 2009, Stand 24. September 2008) überhaupt eine Verschlüsselung in Betracht kommt. Das setzt wiederum voraus, dass der in Betracht kommende Schlüssel überhaupt erforderlich ist, um einen Zustand möglichst spezifisch und vollständig abzubilden. Hierzu wäre der von der Klägerin gewählte Schlüssel R63.3 (Ernährungsprobleme und unsachgemäße Ernährung) wegen seiner kaum zu übertreffenden Weite nur geeignet, wenn anderswo kein spezifischerer Schlüssel existiert, der den Zustand ebenfalls vollständig, aber spezifischer beschreibt. „Grundsätzlich gilt: Es ist so spezifisch wie möglich zu verschlüsseln“ (ICD-10-GM, Version 2009, S. 5). Hinzuweisen ist insoweit ferner auf die zahlreichen in den DKR enthaltenen Beispiele, in denen jeweils der spezifischere dem allgemeineren Code vorgezogen wird, etwa D002f, Beispiel 8 der DKR 2009. Auch die unter dem Titel „Basiswissen Kodieren“ vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) herausgegebenen Hinweise, wonach man prinzipiell versuchen sollte, „so spezifisch wie möglich zu kodieren“ und bspw. Kodes der sog. Resteklassen (nicht näher bezeichnet, Sonstige) zu vermeiden. Dieser Grundsatz gilt umso mehr, wenn ein Schlüssel aus dem sog. Symptom-Kapitel XVIII der ICD-10 in Rede steht. Dieses Kapitel ist bereits nach seiner Überschrift („Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind“) als subsidiär anzusehen. In der Kapitel-Einleitung wird zudem hervorgehoben, dass „[diejenigen] Symptome, die mit ziemlicher Sicherheit auf eine bestimmte Diagnose hindeuten, […] unter den entsprechenden Kategorien in anderen Kapiteln der Klassifikation aufgeführt“ sind. Eine vergleichbare, die Subsidiarität betonende Regelung findet sich hingegen nicht für das Kapitel XXI („Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen“), dem der Kode Z43.1 zugeordnet ist, welcher jedenfalls das Vorhandensein des Gastrostomas (incl. der liegenden PEG-Sonde, vgl. die Vorbemerkung zu Z43.-: „Einführung von Sonden […]“) und die Tatsache der hierüber erfolgenden Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit abbildet. Auch die zugrundeliegende Erkrankung, das Plattenepithelkarzinom des Ösophagus, ist mit dem Schlüssel für die Hauptdiagnose (C15.0 - bösartige Neubildung: zervikaler Ösophagus) bereits abgebildet.
37
Soweit die Klägerin darauf verweist, dass die Karzinom-Erkrankung keineswegs stets, sondern nur abhängig von ihrem Stadium mit Ernährungsproblemen infolge einer Stenosierung der Speiseröhre einhergeht, trifft dies zwar zu. Dieser Einwand führt indes noch nicht zur Kodierbarkeit des unspezifischen Symptoms „Ernährungsprobleme“, da gerade für die Schluckstörung spezifischere Kodes zur Verfügung stehen. Gemäß D009a der DKR 2009 sind ICD-10-Verzeichnisse zu verwenden, um die korrekte Schlüsselnummer-Zuordnung zu bestimmen. Wenn eine bestimmte Bezeichnung nicht in den ICD-10-Verzeichnissen auffindbar ist, sind darin verfügbare alternative Bezeichnungen zu prüfen. Im Alphabetischen Verzeichnis der ICD-10-GM 2009 findet sich unter „Schlucken / - Störung“ ein Verweis auf den Schlüssel R13.9, der im Systematischen Verzeichnis mit „Sonstige und nicht näher bezeichnete Dysphagie - Schluckbeschwerden o. n. A.“ definiert ist. Im gleichen Kode-Block findet sich neben dieser „Resteklasse“ auch der Kode R13.0 (Dysphagie mit Beaufsichtigungspflicht während der Nahrungsaufnahme), der vorliegend im Hinblick auf den dokumentierten V. a. Aspiration ebenfalls in Betracht kommt.
38
Keiner dieser beiden R13.- Kodes ist in der Basis-DRG G27 mit einem CCL-Wert verbunden, sodass sie nicht erlösrelevant sind. Als erheblich spezifischere Kodes sind sie jedoch vorrangig gegenüber dem von der Klägerin favorisierten Schlüssel zu verwenden. Die von der Klägerin gestellte Rechnung erweist sich mithin im Ergebnis als unzutreffend, womit die entsprechende Forderung nicht entstanden ist, was wiederum die Beklagte zu der vertragskonformen Verrechnung berechtigt hat.
39
Im Ergebnis kommt nach alledem in Fällen einer Gastrostoma-Anlage mit PEG-Sonde die Verschlüsselung des hierfür ursächlichen Symptoms überhaupt nur für denjenigen Krankenhaus-Aufenthalt in Betracht, in dem der Magenzugang geschaffen und die PEG-Sonde gelegt wird, ggf. auch für die Phase einer Sonden-Entwöhnung. Selbst in diesen Fällen ist wegen des Grundsatzes der spezifischen Verschlüsselung jedoch der Kode R13.9 (Sonstige und nicht näher bezeichnete Dysphagie, Schluckbeschwerden o. n. A.) oder R13.0 (Dysphagie mit Beaufsichtigungspflicht während der Nahrungsaufnahme) zu wählen, wenn – wie hier – gerade die eingeschränkte Schluckfunktion die Sonde erforderlich macht. Der unspezifische Kode für eine Ernährungsstörung / ein Ernährungsproblem kommt lediglich bei anders nicht abbildbaren Ursachen in Betracht, bspw. im Falle eines apallischen Syndroms (G93.80), vgl. insoweit auch die Kodierempfehlung Nr. 171 der SEG 4 (Sozialmedizinische Expertengruppe Vergütung und Abrechnung).
40
Nach alledem kann wie bereits in der Entscheidung vom 16. Oktober 2019 – L 6 KR 100/14 – dahinstehen, ob die vom Sozialgericht abweichend von dem Urteil des Landessozialgerichts Hamburg (Urteil vom 24. April 2014, L 1 KR 6/12; gleichlautend Urteil vom 19. Dezember 2013 – L 1 KR 74/12) vorgenommene Auslegung der bis 2009 maßgeblichen Regelung der DKR zur Verschlüsselung von Symptomen zutrifft, oder ob nicht tatsächlich ein „vergesellschaftetes Symptom nie und ein nicht in diesem Sinne vergesellschaftetes Symptom nur dann kodiert werden kann, wenn es ein wichtiges Problem für die medizinische Betreuung darstellt“. Für letztere Auffassung spricht allerdings in systematischer Hinsicht, dass ein vergesellschaftetes Symptom in diesem Sinne ganz unabhängig vom Umfang des hierdurch verursachten Aufwands bereits durch die Kodierung der Diagnose abgebildet wird, sodass es der (zusätzlichen) Kodierung des Symptoms nicht bedarf. Folgte man der Auffassung des Sozialgerichts, stellte die diesbezügliche Änderung der DKR ab dem Jahr 2010 zudem eine Beschränkung der Möglichkeiten der Symptom-Kodierung dar, während sie gemeinhin als Erweiterung angesehen wird. Es erscheint schließlich wenig naheliegend, bspw. R50.9 (Fieber, nicht näher bezeichnet) zu kodieren, wenn das Fieber als Symptom (und eindeutige und unmittelbare Folge) miteiner J10.0 (Grippe mit Pneumonie, sonstige Influenzaviren nachgewiesen) vergesellschaftet ist, ganz unabhängig davon, ob sich im konkreten Fall gerade das Fieber als ein „eigenständiges, wichtiges Problem für die medizinische Betreuung“ darstellt. Ist ein Symptom „im Regelfall […] vergesellschaftet“, so kann es im Übrigen schon rein sprachlich kaum zugleich als „eigenständig“ angesehen werden.
41
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
42
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
| {
"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
} |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Aachen vom 24.05.2019 – 1 Ca 1135/18 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Beschwerdewert: 5.091,52 €
1G r ü n d e
21. Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist nach §§ 62 Abs. 2 Satz 1, 78 Satz 1 ArbGG, 793, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft und auch fristgerecht (§ 569 Abs. 1 ZPO) eingelegt worden.
32. Die Beschwerde ist unbegründet, das Arbeitsgericht hat den Vollstreckungsantrag des Klägers zu Recht zurückgewiesen.
4a) Bei der Prüfung, welche Verpflichtungen durch einen Vollstreckungstitel festgelegt werden, können neben der Entscheidungsformel auch der Tatbestand und die Entscheidungsgründe des Urteils herangezogen werden. Soweit das Gericht auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen verwiesen hat, können auch diese bei der Auslegung des Titels berücksichtigt werden (BAG, Beschluss vom 05.02.2020– 10 AZB 31/19 – m.w.N.).
5b) Entgegen der Ansicht des Klägers hat das Arbeitsgericht im Zwangsvollstreckungsverfahren keine neue materiell-rechtliche Prüfung des tenorierten Beschäftigungsanspruchs vorgenommen, die der Entscheidung im Erkenntnisverfahren widerspricht. Zutreffend ist zunächst der Hinweis des Klägers, dass die Beklagte mit Urteil vom 09.08.2018 u.a. verurteilt wurde, den Kläger als stellvertretenden Projektleiter des Projektes „SMART Wartungs- und Instandsetzungsplattform für Windenergieanlagen“ zu beschäftigen. Der Tenor enthält dem Wortlaut nach keine Befristung dieser Beschäftigungspflicht. Jedoch hatte die Beklagte bereits mit Schriftsatz vom 26.04.2018 (Bl. 106 ff. d. A.), auf den durch das Urteil aufgrund Bezugnahme am Ende des Tatbestandes Bezug genommen wurde, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Mitarbeit des Klägers im genannten Projekt die bis zum 31.01.2019 befristete Arbeitszuweisung mit Schreiben vom 30.07.2016 (Bl. 111 f. d. A.) zugrunde liegt. Die Befristung dieser Anordnung hat der Kläger im Erkenntnisverfahren nicht in Frage gestellt. Folgerichtig weist auch der unstreitige Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils die bis zum 31.01.2019 befristete wissenschaftliche Mitarbeit des Klägers im Projekt „SMART Wartungs- und Instandsetzungsplattform für Windenergieanlagen“ aus. Der Streit der Parteien betraf nicht Zeitdauer des Einsatzes, sondern ausschließlich den Inhalt der Tätigkeit. Das Arbeitsgericht hat sich daher konsequent in den Entscheidungsgründen nicht mit der Rechtswirksamkeit einer befristeten Arbeitszuweisung befasst, sondern materiell überprüft, ob der Entzug der Position des stellvertretenden Projektleiters mit Schreiben vom 04.07.2017 (Bl. 121 d. A.) den Anforderungen billigen Ermessens im Sinne des§ 106 Satz 1 GewO gerecht wird. Der Hinweis des Klägers auf erstellte Tätigkeitsdarstellungen und -bewertungen ist nicht sachdienlich. Zum einen befasst sich die vorhergehende Tätigkeitsdarstellung und -bewertung vom 01.09.2014/11.12.2014 (Bl. 113 ff. d. A.) nicht mit den späteren Verhältnissen aufgrund der Arbeitszuweisung vom 30.07.2016. Zum anderen kann eine Tätigkeitsdarstellung und -bewertung vom 03.12.2018 schon aufgrund des zeitlichen Ablaufs keine Rolle spielen, da sie nach Verkündung des Urteils am 09.08.2018 verfasst wurde. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass das Arbeitsgericht mit in jeder Hinsicht überzeugenden Gründen, dokumentiert im Beschluss vom 08.05.2019 und dem Nichtabhilfebeschluss vom 24.06.2019, den Zwangsvollstreckungsantrag des Klägers zurückgewiesen hat.
63. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 891 Satz 3, 97 Abs. 1 ZPO.
74. Für die Zulassung der Rechtsbeschwerde fehlt es unter Berücksichtigung der §§ 78 Satz 2, 72 Abs. 2 ArbGG an einem gesetzlich begründeten Anlass. Dieser Beschluss ist daher nicht anfechtbar.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500 € festgesetzt.
Gründe
A.
1
Der 12-jährige Antragsteller, der aus dem Westerwald stammt, besucht als Internatsschüler die ... Klasse des A-Gymnasiums in Kaiserslautern, eine Klasse hochbegabter Schülerinnen und Schüler.
Er begehrt die Befreiung vom Präsenzunterricht und die Erteilung von Fernunterricht.
Einen entsprechenden Antrag der Mutter des Antragstellers mit Datum vom 10. September 2020 lehnte der Antragsgegner mit Schreiben vom 16. September 2020 ab. Dagegen richtete sich der Widerspruch des Antragstellers mit Anwaltsschreiben vom 22. September 2020.
2
Am 24. September 2020 hat der Antragsteller außerdem um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
Er macht geltend, er leide chronisch an Asthma bronchiale und gehöre daher zu einer Risikogruppe für die Erkrankung COVID-19. Gleiches gelte für seinen 73-jährigen Vater, der erhebliche Vorerkrankungen habe. Dazu legt er zunächst die ärztliche Bescheinigung der Hausärzte B und C vom 7. September 2020 (Bl. 18 GA) vor und legt dar, das von der Schule vorgelegte spezielle Konzept („geschützter Präsenzunterricht“) sei nicht geeignet, den gesundheitlichen Gefahren und den pädagogischen und psychologischen Anforderungen gerecht zu werden. In der Altersgruppe der betroffenen Schüler sei die Einhaltung der Regeln nicht zu erwarten. Er werde separiert und wie ein Aussätziger behandelt. Problematisch sei, dass ein Platz für ihn am geöffneten Fenster vorgesehen sei, was die Gefahr einer Atemwegserkrankung berge. Dies sei für einen Asthmatiker eine Zumutung.
Da er eine Schule für Hochbegabte besuche, sei er eigenständiges Lernen gewohnt und könne Aufgaben zu Hause allein bearbeiten und anschließend der Schule übermitteln. Eine Entfremdung von der Klassengemeinschaft sei nicht zu befürchten, da er gut integriert sei und zwischenzeitlich Kontakte pflege.
Gefährdungen sei er nicht nur in der Schule ausgesetzt, sondern auch auf dem Weg vom Westerwald nach Kaiserslautern in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Im Übrigen besuche sein jüngerer Bruder die ... Klasse eines Gymnasiums in …, wo ihm die Möglichkeit des Fernunterrichts eingeräumt werde. Die Situation an den Schulen verschärfe sich Tag für Tag.
3
Mit weiterem Schriftsatz vom 6. Oktober 2020 trägt der Antragsteller ergänzend vor, sein Vater habe seit Anfang 2016 Herzprobleme und sei stationär im Bundeswehrzentralkrankenhaus behandelt worden. Aus der Patientenakte ergebe sich wiederkehrend Vorhofflimmern, Linksherzinsuffizienz und Hypertonie. Dazu legt er diverse medizinische Unterlagen vor (Bl. 55 ff GA). Die Mutter des Antragstellers leide an einer Stoffwechselerkrankung mit Lebensmittelallergie und der jüngere Bruder unter Adipositas.
Der Antragsteller verweist auf einen Elternbrief der Kultusministerin vom 13. August 2020, in dem vom „Lernen zuhause“ und vom „Lernen gestalten im Präsenz- und Fernunterricht“ die Rede ist. Dieses Angebot müsse nur umgesetzt werden. Ideal wäre eine Zuschaltung des Antragstellers zum normalen Unterrichtsgeschehen per Video.
Die Familie sei auch zu einer amtsärztlichen Untersuchung bereit.
Mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2020 wird schließlich noch das Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin D vom 7. Oktober 2020 vorgelegt (Bl. 78 GA), wonach dem in seiner Behandlung befindlichen Antragsteller „vorwiegend allergisches Asthma bronchiale und einfache chronische Bronchitis“ attestiert wird. Weiter heißt es: „Der o.g. Schüler leidet an chronischen Krankheiten und seine Eltern auch, da die Ansteckungsgefahr in der Schule sehr groß ist für den Schüler sowie auch für die Eltern ist aus medizinischer Sicht eine Sonderbeschulung notwendig“.
4
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner zu verpflichten, ihn vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache vom Präsenzunterricht zu befreien und ihm Fernunterricht zu erteilen.
5
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
6
Er macht geltend, eine Befreiung vom Präsenzunterricht sei nur in besonderen Ausnahmefällen möglich. Aus dem dafür vorzulegenden Attest müsse sich nachvollziehbar mindestens ergeben, auf welcher Grundlage der Arzt seine Diagnose gestellt habe und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstelle. Der Arzt müsse darlegen, aus welchen konkreten Gründen dem Antragsteller trotz des Schutzkonzepts der Schule unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation die Teilnahme am Präsenzunterricht nicht möglich sei.
Zu berücksichtigen sei, dass dem Antragsteller ein „geschützter Präsenzunterricht“ ermöglicht werde, der in einem 60 m² großen Klassensaal stattfinde, der für 32 Schüler ausgelegt sei, aber nur von maximal 15 zeitgleich genutzt werde. Insoweit sei dem Antragsteller – auch unter Berücksichtigung der Grunderkrankung – der Schulbesuch zumutbar. Die Schule habe ihm schon mit E-Mail vom 21. September 2020 die im Einzelnen für ihn vorgesehenen Schutzmaßnahmen mitgeteilt (Bl. 42 f). Dazu gehöre die Gewährleistung eines Abstands von 1,50 m im Klassenraum, eine Befreiung von Gruppen- und Partnerarbeiten sowie vom Sport- und Ethikunterricht und die Unterbringung in einem Einzelzimmer im Internat. Insbesondere in einer Klasse für Hochbegabte sei zu erwarten, dass die Hygieneregeln eingehalten würden. Dass der Antragsteller dort wie ein Aussätziger behandelt werde, wie er befürchte, sei nicht zu erwarten, da er laut Auskunft der Eltern „gut integriert“ sei. Auch ein weiterer Schüler werde derzeit im Hochbegabtenzweig bereits in „geschützter Präsenz“ unterrichtet. Während der Phasen der Stoßlüftung könne der Antragsteller warme Kleidung anziehen, um Erkältungen vorzubeugen. Auch, dass die Schule bereit sei, gegebenenfalls Hygienemaßnahmen weiterzuentwickeln, zeige, dass dem Gesundheitsschutz des Antragstellers ausreichend Gewicht beigemessen werde. Einen allumfassenden Gesundheitsschutz während der aktuellen Pandemie gebe es nicht. Die An- und Abreise zur Schule liege im Verantwortungsbereich der Eltern. Was die Vorerkrankung des Vaters des Antragstellers anbelange, verweist der Antragsgegner auf den Hygieneplan Schule, wonach eine Befreiung vom Präsenzunterricht als ultima ratio zu verstehen sei.
Auch aus dem neuen Attest vom 7. Oktober 2020 gehe aber nicht hervor, dass dem Antragsteller unter Berücksichtigung der in der Schule individuell getroffenen Vorkehrungen die Teilnahme an einem „geschützten Präsenzunterricht“ nicht möglich sei.
7
Schließlich bezieht sich der Antragsgegner noch auf eine Stellungnahme der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz vom 21. September 2020 (Bl. 90 GA), wonach es aus kinderärztlicher Sicht nur extrem selten Diagnosen gebe, die eine Befreiung vom Präsenzunterricht rechtfertigten. Dies gelte insbesondere auch für die Diagnose „Asthma“. Nachdem in den zurückliegenden Monaten bereits über lange Zeit überhaupt kein Schulunterricht stattgefunden habe, solle dies für die Zukunft, wenn irgendwie möglich, im Interesse der beschulten Kinder vermieden werden.
B.
8
Der zulässige Antrag ist in der Sache unbegründet.
9
I. Das Begehren des Antragstellers ist gemäß §§ 122, 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – auszulegen. Danach ist hier vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO zu gewähren, denn bei dem Widerspruch des Antragstellers handelt es sich um einen Verpflichtungswiderspruch, sodass diesem auch keine aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO zukommt (vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 18. Januar 2017 – 1 ME 189/16 –, BauR 2017, 870). Er wendet sich nämlich gegen das Schreiben des Antragsgegners vom 16. September 2020, mit dem dieser es abgelehnt hat, den Antragsteller auf der Grundlage des Hygieneplan-Corona für die Schulen in Rheinland-Pfalz in der aktuellen 5. Fassung vom Präsenzunterricht zu befreien.
10
II. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn die Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder um drohende Gefahren zu verhindern oder wenn sie aus anderen Gründen erforderlich ist. Dabei darf grundsätzlich nicht die Hauptsache vorweggenommen werden. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nach der in Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG – gewährleisteten Rechtsschutzgarantie jedoch dann, wenn der in der Hauptsache geltend gemachte Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist und wegen des Nichterfüllens dieses Anspruchs schwere, unzumutbare oder nicht anders abwendbare Nachteile drohen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 123 Rn. 13 ff.). Diese Voraussetzungen sind wie alle Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO – i. V. m. § 123 Abs. 3 VwGO). Ob eine Regelungsanordnung nötig erscheint, beurteilt sich nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Wird eine Vorwegnahme der Hauptsache begehrt, ist des Weiteren erforderlich, dass mit einer qualifiziert hohen Wahrscheinlichkeit das Bestehen eines materiellen Anspruchs festgestellt wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Dezember 2018 – 6 S 2448/18 –, VBLBW 2019, 294).
11
III. Nach diesen Grundsätzen kommt der Erlass einer Regelungsanordnung nicht in Betracht, denn ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht.
12
1. Ein Anspruch des Antragstellers darauf, aus gesundheitlichen Gründen vom Präsenzunterricht befreit zu werden, folgt zunächst nicht aus der Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz – 11. CoBeLVO – vom 11. September 2020 in der Fassung vom 16. September 2020.
Gemäß § 12 Abs. 1 Sätze 1 und 2 der 11. CoBeLVO findet der Schulbetrieb gemäß den Vorgaben des für die Angelegenheiten des Schul- und Unterrichtswesens zuständigen Ministeriums im Einvernehmen mit dem für die gesundheitlichen Angelegenheiten zuständigen Ministerium statt. Der „Hygieneplan-Corona“ für die Schulen in Rheinland-Pfalz“ ist anzuwenden. Weiter heißt es in der Vorschrift:
13
„Sofern der reguläre Unterricht wegen der in Satz 1 und 2 genannten Vorgaben nicht im vorgesehenen Umfang als Präsenzunterricht stattfindet, erfüllen die Schulen ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag durch ein pädagogisches Angebot, das auch in häuslicher Arbeit wahrgenommen werden kann. Die Schulpflicht besteht fort und wird auch durch die Wahrnehmung des pädagogischen Angebots zur häuslichen Arbeit erfüllt. Schülerinnen und Schüler, die aus Infektionsschutzgründen nicht am Präsenzunterricht teilnehmen, erhalten ein pädagogisches Angebot zur häuslichen Arbeit.“ (§ 12 Abs. 1 Satz 3 bis 5 11. CoBeLVO).
14
Daraus ergibt sich kein Anspruch der einzelnen Schülerinnen und Schüler auf eine Befreiung vom Präsenzunterricht. § 12 Abs. 1 Satz 3 11. CoBeLVO knüpft zunächst gerade daran an, dass Präsenzunterricht – pandemiebedingt – überhaupt nicht stattfindet. Satz 5 berücksichtigt zwar den Fall, dass Schülerinnen und Schüler aus Infektionsschutzgründen nicht am Präsenzunterricht teilnehmen; diese erhalten ein pädagogisches Angebot zur häuslichen Arbeit. Zu den Voraussetzungen für eine Nichtteilnahme wird in der Verordnung selbst allerdings keine Regelung getroffen, erst recht wird insoweit keine individuelle Rechtsposition formuliert.
15
2. Eine andere Beurteilung lässt auch die Berücksichtigung des gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 11. CoBelVO anzuwendenden „Hygieneplan-Corona für die Schulen in Rheinland-Pfalz“ (im Folgenden: Hygieneplan) in der vorliegenden, seit dem 17. August 2020 geltenden Fassung nicht zu.
Dort heißt es:
16
„4. SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER MIT GRUNDERKRANKUNGEN
17
Auch Schülerinnen und Schüler mit Grunderkrankungen unterliegen der Schulpflicht. Gleichzeitig muss ihrem Gesundheitsschutz höchster Stellenwert beigemessen werden.
18
Eine generelle Zuordnung zu einer Risikogruppe für einen schweren COVID-19- Krankheitsverlauf ist aus medizinischer Sicht insbesondere für Kinder und Jugendliche nicht möglich. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) geht davon aus, dass Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, die gut kompensiert bzw. gut behandelt sind, auch kein höheres Risiko für eine schwerere COVID-19-Erkrankung zu fürchten haben, als es dem allgemeinen Lebensrisiko entspricht. 8 Insofern muss im Einzelfall durch die Eltern/Sorgeberechtigten in Absprache mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten äußerst kritisch geprüft und abgewogen werden, inwieweit das mögliche erhebliche gesundheitliche Risiko eine längere Abwesenheit vom Präsenzunterricht und somit Isolation der Schülerin oder des Schülers zwingend erforderlich macht.
19
In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob eine reguläre Beschulung mit gesonderten Hygienemaßnahmen eine Alternative zur Befreiung von der Präsenzpflicht darstellen kann (geschützte Präsenz), damit die Anbindung an die Schule und möglichst auch an die Klassengemeinschaft nicht verloren geht (z.B. Abstand zu Mitschülerinnen und Schülern, Tragen einer höherwertigen Schutzmaske). Es werden dann nur einzelne Aktivitäten, bei denen Kontakte nur schwer vermieden werden können, in Distanz fortgeführt oder räumlich und zeitlich getrennt von den Mitschülerinnen und Mitschülern durchgeführt (z.B. Sport), während Präsenzveranstaltungen immer vorrangig durchgeführt werden. Dieses Vorgehen bietet sich ggf. nach Absprache mit dem behandelnden Arzt/der behandelnden Ärztin an.
20
Wird eine Befreiung vom Präsenzunterricht für medizinisch erforderlich gehalten, ist dieses durch ein ärztliches Attest nachzuweisen und der Schule vorzulegen. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler erhalten ein Angebot im Fernunterricht, das dem Präsenzunterricht gleichsteht.“
21
Aus dem Regelungszusammenhang mit der Corona-Bekämpfungsverordnung und der Zweckbestimmung als Ergänzung zu dem für jede Schule geltenden Hygieneplan ergibt sich, dass in dem Hygieneplan selbst lediglich organisatorische Anweisungen für den Schulbetrieb gegeben werden, die sich im Fall von Punkt 4 –Schülerinnen und Schülern mit Grunderkrankungen – ausschließlich an die jeweilige Schulleitung richten. Rechtsansprüche der Schülerinnen und Schüler mit Grunderkrankungen auf eine bestimmte Verfahrensweise sollen damit ersichtlich nicht begründet werden. So ist auch im Hinblick auf die „geschützte Präsenz“ nur davon die Rede, dass zu prüfen ist, ob dies eine Alternative zur Befreiung von der Präsenzpflicht darstellen kann (s. auch zur entsprechenden bayrischen Vorschrift: VG Regensburg, Beschluss vom 17. September 2020 – RO 14 E 20.2226 –, Rn. 39, juris, m.w.N.).
22
Erst recht vermag der vom Antragsteller in Bezug genommene Elternbrief der Kultusministerin vom 13. August 2020, in dem vom „Lernen gestalten im Präsenz- und Fernunterricht“ die Rede ist, keinen weitergehenden Rechtsanspruch des einzelnen Schülers zu vermitteln.
23
3. Damit ergibt sich aus der Corona-Bekämpfungsverordnung – auch – in Verbindung mit dem genannten Hygieneplan kein den bestehenden schulrechtlichen Regelungen vorgehender spezieller infektionsschutzrechtlicher Anspruch auf Befreiung vom Präsenzunterricht.
Mit der in § 64 Abs. 1 SchulG begründeten Verpflichtung der Schülerinnen und Schüler, regelmäßig am Unterricht und an sonstigen für verbindlich erklärten Schulveranstaltungen teilzunehmen, wird die sich aus § 7 und § 56 Abs. 1 SchulG ergebende Schulbesuchspflicht konkretisiert (s. Grumbach/Bickenbach/Seckelmann/Thews, Kommentar zum Schulgesetz Rheinland-Pfalz, zu § 64, Nr. 1). Dabei berücksichtigt § 56 Abs. 4 Satz 3 SchulG den Umstand, dass Schülerinnen und Schülern aus gesundheitlichen Gründen für längere Zeit nicht schulbesuchsfähig sind und ermöglicht die Erteilung von Hausunterricht. Eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Befreiung vom Präsenzunterricht ergibt sich daraus nicht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der letzten Änderung des Schulgesetzes. Nach § 1 Abs. 6 Satz 3 SchulG in der Fassung vom 26. Juni 2020 können digitale Lehr- und Lernformen an die Stelle des Präsenzunterrichts treten, ohne dass damit die durch Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz – GG – vermittelten Befugnisse des Staates zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung des öffentlichen Schulwesens, seiner Ausbildungsgänge sowie des dort erteilten Unterrichts (s. BVerwG, Urteil vom 16. April 2014 – 6 C 11/13 –, Rn. 13, juris)
in Richtung eines Anspruchs auf digitale Alternativen zum Präsenzunterricht eingeengt werden sollen.
24
4. Nach den vorstehend skizzierten Regelungen entfällt die Schulbesuchspflicht nur für solche Schülerinnen und Schüler, die nicht schulbesuchsfähig sind (vgl. § 56 Abs. 4 Satz 3 SchulG). Diese Voraussetzung hat der Antragsteller aber auch unter Berücksichtigung des neu vorgelegten ärztlichen Attests vom 7. Oktober 2020 (Bl. 78 GA) nicht hinreichend nachgewiesen.
25
a) Die Prüfung der Schulbesuchsfähigkeit unter Pandemiebedingungen erfolgt im Fall von Schülerinnen und Schülern mit Grunderkrankungen bzw. mit Angehörigen mit risikoerhöhenden Grunderkrankungen nach den Vorgaben des „Hygieneplan-Corona für die Schulen in Rheinland-Pfalz“. Hierfür bedarf es der Vorlage eines ärztlichen Attests (Punkt 4 letzter Absatz). Aus dessen Inhalt muss sich in Anlehnung an die zur Befreiung von der Maskenpflicht für Schülerinnen und Schüler entwickelten Grundsätze (s. Beschluss der Kammer vom 10. September 2020 – 5 L 757/20.NW –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. September 2020 – 13 B 1368/20 –, juris; vgl. auch: VG Regensburg, Beschluss vom 17. September 2020 – RO 14 E 20.2226 –, Rn. 40, juris) regelmäßig nachvollziehbar ergeben, welche konkret zu benennenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund des Schulbesuchs alsbald zu erwarten sind und woraus diese im Einzelnen resultieren. Relevante Vorerkrankungen sind dabei konkret zu bezeichnen. Darüber hinaus muss im Regelfall erkennbar werden, auf welcher Grundlage der attestierende Arzt zu seiner Einschätzung gelangt ist. Die Schulleitung bzw. das Gericht muss, wie auch in anderen Rechtsgebieten, aufgrund konkreter und nachvollziehbarer Angaben in den ärztlichen Bescheinigungen in die Lage versetzt werden, das Vorliegen der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen selbständig zu prüfen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. September 2020 – 13 B 1368/20 –, Rn. 11 - 15, juris, m.w.N.).
26
Dies gilt in besonderer Weise für ärztliche Atteste, die als Grundlage für eine wegen der Corona-Pandemie zu gewährende Befreiung vom Präsenzunterricht dienen sollen. Nach Punkt 4 des Hygieneplans sind mithilfe des ärztlichen Attests drei Fragen zu klären:
27
(1.) Davon ausgehend, dass nach der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, die gut kompensiert bzw. gut behandelt sind, auch kein höheres Risiko für eine schwerere COVID-19-Erkrankung zu fürchten haben, als es dem allgemeinen Lebensrisiko entspricht, muss es sich um einen Ausnahmefall handeln, der durch Feststellungen zum Krankheits- und Behandlungsverlauf und den damit verbundenen spezifischen Ansteckungsrisiken konkretisiert wird.
(2.) Zudem muss nach dem Hygieneplan „äußerst kritisch“ geprüft und abgewogen werden, inwieweit das mögliche erhebliche gesundheitliche Risiko eine längere Abwesenheit vom Präsenzunterricht und somit eine Isolation der Schülerin oder des Schülers zwingend erforderlich macht. Auch hierzu muss sich das ärztliche Attest verhalten.
(3.) Da der Hygieneplan auch die Prüfung fordert, ob eine reguläre Beschulung mit gesonderten Hygienemaßnahmen eine Alternative zur Befreiung von der Präsenzpflicht darstellen kann (geschützte Präsenz), damit die Anbindung an die Schule und möglichst auch an die Klassengemeinschaft nicht verloren geht, bedarf es insoweit einer ärztlichen Stellungnahme zu den möglichen „milderen Mitteln“.
28
Insgesamt bedeutet dies, dass eine pandemiebedingte Befreiung von der Präsenzpflicht nur auf der Grundlage solcher ärztlichen Atteste erfolgen kann, die zu den drei genannten Punkten nachvollziehbare Aussagen treffen.
29
b) Diesen Anforderungen wird das Attest des Allgemeinmediziners D vom 7. Oktober 2020 in keiner Weise gerecht.
Es fehlt bereits an einer Aussage dazu, inwieweit die dem Antragsteller bescheinigten Erkrankungen „vorwiegend allergisches Asthma bronchiale“ bzw. „einfache chronische Bronchitis“ vom attestierenden Arzt – noch im September ließ sich der Antragsteller offenbar in einer anderen Hausarztpraxis behandeln (vgl. ärztliche Bescheinigung der Hausärzte B und C vom 7. September 2020 (Bl. 18 GA) – bisher überhaupt behandelt wurden, also ob sie von ihm derzeit als „gut kompensiert bzw. gut behandelt“ eingeschätzt werden oder nicht, welche Medikamente in welchen Zeiträumen eingenommen wurden, welche Fehlzeiten der Antragsteller in der Vergangenheit aufgrund seiner Erkrankungen hatte, etc.
Eine Substantiierung zu der Frage eines erhöhten Risikos des Antragstellers für eine schwerere COVID-19-Erkrankung lässt sich der Bescheinigung damit schon nicht entnehmen. Darüber hinaus fehlt eine Feststellung dazu, ob der aktuelle Gesundheitszustand des Antragstellers einem Schulbesuch aus medizinischer Sicht entgegensteht, denn es wird lediglich erklärt, dass eine „Sonderbeschulung“ notwendig sei, ohne dass klargestellt wird, was darunter zu verstehen ist. Angesichts des derzeit nicht vorhersehbaren Endes der Pandemiesituation lässt das Attest nicht erkennen lassen, dass der behandelnde Arzt die Folgen einer längerfristigen Isolation für den Antragsteller mit in seine Beurteilung einbezogen hat. Ebenso ist in keiner Weise ersichtlich, dass dem Arzt die seitens der Schulleitung angekündigten detaillierten Maßnahmen zur Gewährleistung einer „geschützten Präsenz“ überhaupt bekannt waren und von ihm berücksichtigt wurden.
30
c) Die multiplen Erkrankungen des Vaters des Antragstellers und erst recht die Feststellungen zur gesundheitlichen Situation der Mutter und des Bruders lassen keine andere Bewertung des geltend gemachten Anspruchs zu, denn insoweit macht der Hygieneplan ebenfalls klare Vorgaben:
31
„5. ANGEHÖRIGE MIT RISIKOERHÖHENDEN GRUNDERKRANKUNGEN
32
Sofern eine Schülerin oder ein Schüler mit einem Angehörigen – insbesondere Eltern, Großeltern oder Geschwister – in häuslicher Gemeinschaft lebt und bei diesem Angehörigen eine relevante Erkrankung, bei der eine Infektion mit SARS-Cov-2 ein besonders hohes gesundheitliches Risiko darstellt, besteht, sind vorrangig Maßnahmen der Infektionsprävention innerhalb der häuslichen Gemeinschaft zum Schutz dieser Angehörigen zu treffen.
33
Die Nichtteilnahme von Schülerinnen und Schülern am Präsenzunterricht kann zum Schutz ihrer Angehörigen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen und nur vorübergehend in Betracht kommen. Dies setzt voraus, dass ein ärztliches Attest des betreffenden Angehörigen vorgelegt wird, aus dem sich die Corona-relevante Vorerkrankung ergibt.
34
Eine Entbindung von der Teilnahme am Präsenzunterricht kommt vor allem dann in Betracht, wenn sich die oder der Angehörige aufgrund des individuellen Verlaufs ihrer oder seiner Vorerkrankung vorübergehend in einem Zustand erhöhter Vulnerabilität befindet. Die Verpflichtung der Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme am Fernunterricht und zur Teilnahme an Prüfungen bleibt bestehen.
35
Entsprechendes gilt für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte.“
36
Entsprechende Nachweise, die den erforderlichen „eng begrenzten“ Ausnahmefall belegen, fehlen. Insoweit kann zu den Bedenken gegen die Aussagefähigkeit der für den Vater vorgelegten ärztlichen Unterlagen zunächst Bezug genommen werden auf die Ausführungen des Antragsgegners in der Antragserwiderung. Ohnehin stellt der Hygieneplan zum Schutz der Angehörigen mit risikoerhöhenden Grunderkrankungen vorrangig auf Maßnahmen der Infektionsprävention innerhalb der häuslichen Gemeinschaft zum Schutz dieser Angehörigen ab. Zu diesem Punkt verhält sich das vorgelegte ärztliche Attest ebenfalls in keiner Weise. Darüber hinaus ist auch unklar, ob dem Arzt überhaupt bekannt war, dass der Antragsteller in einer kleinen Lerngruppe von nur ca. 15 Schülerinnen und Schülern beschult wird und im Internat untergebracht ist, was möglicherweise auch risikominimierende Aspekte hinsichtlich der Gefahr einer Ansteckung für den vorerkrankten Vater hat.
37
5. Auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlich geschützten Rechte des Antragstellers und seiner Eltern ergeben sich keine weiterreichenden Ansprüche auf eine Befreiung vom Präsenzunterricht.
38
a) Ein Anspruch auf Befreiung vom Präsenzunterricht lässt sich nicht aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG herleiten (so auch VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 28. August 2020 – 1 L 435/20 –, Rn. 9 - 23, juris; VG Ansbach, Beschluss vom 22. September 2020 – AN 2 E 20.01762 –, Rn-. 24 f, juris; vgl. auch: VG Sigmaringen, Urteil vom 13. Juli 2020 – 4 K 1791/20 –, juris; VG München, Beschluss vom 25. August 2020 – M 26b E 20.2763 –; VG Regensburg, Beschluss vom 17. September 2020 – RO 14 E 20.2226 –, juris).
Zu den sich aus dem grundrechtlichen Schutz ergebenden Anforderungen an die gebotenen Hygienemaßnahmen im Schulbetrieb während der Corona-Pandemie führt der VGH Baden-Württemberg in einem Beschluss vom 18. September 2020 – 1 S 2831/20 – Folgendes aus:
39
Zwar ist das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, sondern umfasst auch die Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen und es vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit zu schützen. Doch kommt dem Gesetzgeber auch dann, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen, ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Was konkret zu tun ist, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten, hängt von vielen Faktoren ab, im Besonderen von der Eigenart des Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter (vgl. zuletzt BVerfG, Urt. v. 26.02.2020 - 2 BvR 2347/15 - Rn. 224 m.w.N.). Dabei hat er auch anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung zu tragen, kann die gesellschaftliche Akzeptanz der angeordneten Maßnahmen berücksichtigen und ein behutsames oder auch wechselndes Vorgehen im Sinne langfristig wirksamen Lebens- und Gesundheitsschutzes für angezeigt halten. Die Verletzung einer Schutzpflicht liegt demnach nur vor, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. zuletzt BVerfG, Beschl. v. 12.05.2020 - 1 BvR 1027/20 - juris Rn. 6f. m.w.N.). Die Verfassung gebietet dabei keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher Gesundheitsgefahr. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt dies im Zusammenhang mit der SARS-CoV2-Pandemie umso mehr, als ein „gewisses Infektionsrisiko mit dem neuartigen Corona-Virus derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko gehört“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.05.2020 - 2 BvR 483/20 - juris Rn. 8).
40
Aus alledem folgt, dass sich die gerichtliche Prüfung aufgrund dieses Beurteilungs- und Einschätzungsvorranges auf offensichtliche Verstöße beschränkt. Das eingesetzte Mittel ist verfassungsrechtlich nur dann zu beanstanden, wenn es objektiv untauglich oder schlechthin ungeeignet wäre, der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Rechnung zu tragen (zum Ganzen: BVerfG, Beschl. vom 29.09.2010 - 1 BvR 1789/10 - juris Rn. 18).
(VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. September 2020 – 1 S 2831/20 –, Rn. 10 - 11, juris)
41
Hiervon ausgehend besteht kein Anlass zu der Annahme, dass die im „Hygieneplan-Corona für die Schulen in Rheinland-Pfalz“ formulierten Vorgaben zur Entscheidung über eine Befreiung vom Präsenzunterricht die sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebende staatliche Schutzpflicht missachten. Vielmehr zeigen die differenzierten Anforderungen den Versuch, im Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz und Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. VG München, Beschluss vom 25. August 2020 – M 26b E 20.2763 –, Rn. 27, juris) einerseits und dem – ebenfalls grundgesetzlich gesicherten – staatlichen Bildungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) andererseits einen praktikablen Ausgleich zu finden. Nach aktueller Einschätzung gibt es dabei keine ins Auge springenden Bewertungsdefizite. Insbesondere ist derzeit nicht zu erkennen, dass mit den im Hygieneplan (Stand 17. August 2020) aufgestellten Grundsätzen die spezifischen Risiken, die mit der Gesamtveranstaltung Schule in Pandemiezeiten einhergehen, unterschätzt worden sind. Vielmehr habe sich nach den Worten der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, Stefanie Hubig, in einem Radiointerview vom heutigen Tag gezeigt, dass der Schulstart gut geklappt habe und die Bildungseinrichtungen keine Treiber der Pandemie seien (https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/hubig-schulschliessungen-104.html).
42
b) Was die individuellen Gesichtspunkte anbelangt, so ist zu berücksichtigen, dass die Schule dem Antragsteller mit den im Einzelnen schriftlich formulierten besonderen Maßnahmen das im Hygieneplan vorgegebene Konzept der geschützten Präsenz konsequent umgesetzt hat. Die Befreiung von Sport- und Ethikunterricht zeigt ebenso wie die Internatsunterbringung in einem Einzelzimmer die Bereitschaft, den gesamten Schulalltag auf besondere Ansteckungsrisiken des Antragstellers hin zu überprüfen und insoweit auf seine gesundheitlichen Probleme einzugehen.
Insgesamt werden dem Antragsteller verglichen mit den „Durchschnittsschülerinnen und –schülern“ erhebliche Privilegien eingeräumt. Dies gilt auch bereits im Hinblick darauf, dass die Einhaltung des Mindestabstands von 1,5 m im Klassenraum gesichert ist, der ohnehin mit einer Größe von 60 m² bei der Klassenstärke von nur 15 Schülerinnen und Schülern unter dem Aspekt des Ansteckungsrisikos nach allgemeiner Einschätzung äußerst vorteilhaft ist. Da der Antragsteller selbst vorträgt, in seiner Klasse gut integriert zu sein, ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sich für die Erfordernisse des Schul- und Internatsalltags unter „Corona-Bedingungen“ – lüften, Abstand halten in der Mensa etc. – keine handhabbaren Lösungen finden lassen.
Letztendlich wird aber nicht verkannt, dass damit das Ansteckungsrisiko nicht auf Null reduziert wird, zumal der Antragsteller offenbar wöchentlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen seiner Westerwälder Heimatort und Kaiserslautern pendeln muss. Dies beruht allerdings auf der individuellen Entscheidung der Eltern für die weit entfernt gelegene Schule.
43
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
44
Der Wert des Streitgegenstandes wurde gemäß §§ 52 Abs. 2, 63 Abs. 2 Gerichtskostengesetz i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen auf die Hälfte des Regelstreitwerts festgesetzt.
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"jurisdiction": "Germany",
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"language": "de"
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Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Meidung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000,00 EUR, ersatzweise für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, der Ordnungshaft, oder der Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, die Ordnungshaft zu vollziehen an den Geschäftsführern der Beklagten, zu unterlassen,
identische oder ähnliche Abbildungen der Figur ,,C T ",
die einem T nachempfunden und gekennzeichnet sind durch eine aufrechte Haltung als ,,Zweibeiner" mit einem überproportional großen Kopf, großen dunklen und mit einem braunen Schatten umrandeten Augen, mit einem hellen rundlichen Gesicht mit hervorstehenden Backen und einer schwarzen ,,Spitznase", mit nach oben abstehenden Ohren, einem kleinen Mund, einem braunen Fell und einem großen buschigen Schwanz, wie nachstehend beispielhaft wiedergegeben,
Bilddatei entfernt
auf Spielwaren und/oder Kinderprodukten wie nachstehend wiedergegeben :
a)
Bilddatei entfernt
b)
Bilddatei entfernt
ohne Zustimmung der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland zu vervielfältigen, zu verbreiten, anzubieten und/oder in den Verkehr zu bringen und/oder jede der vorgenannten Handlungen von Dritten vornehmen zu lassen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin zu den im Tenor zu 1) genannten Produkten Auskunft zu erteilen, und zwar untergliedert nach jedem Produkt, über deren Herkunft und Vertriebsweg durch Vorlage vollständiger und geordneter Verzeichnisse sowie geeigneter Belege über
a) Namen und Anschriften aller Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer der Vervielfältigungsstücke sowie der gewerblichen Abnehmer und Verkaufsstellen in Bundesrepublik Deutschland, insbesondere Internet-Shops und Onlinehändler, für die sie bestimmt waren,
b) die Menge der erhaltenen, bestellten und/oder in der Bundesrepublik
Deutschland ausgelieferten Vervielfältigungsstücke,
c) die Preise, die für die Vervielfältigungsstücke bezahlt wurden,
sowie Rechnung zu legen über alle bislang mit den im Klageantrag zu 1) genannten Produkten in der Bundesrepublik Deutschland erzielten Gewinne.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte der Klägerin Schadensersatz zu leisten hat, wie er sich anhand der Auskunft und Rechnungslegung gemäß vorstehender Ziffer 2) ergibt.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 10.000,00 EUR vorläufig vollstreckbar.
1T A T B E S T A N D:
2Die Klägerin ist ein Tochterunternehmen des X mit Sitz in Köln. Sie befasst sich unter anderem mit dem Erwerb und der Auswertung von Urheber- und Merchandisingrechten, insbesondere durch Vergabe von Verwertungsrechten an Figuren von Buch-, Film- und Fernsehproduktionen für die Herstellung und den Vertrieb entsprechender Lizenzprodukte. Dabei bietet die Klägerin unter anderem Lizenzen zu den Kinderklassikern „Die Maus“, „Der kleine Maulwurf“ und auch betreffend den streitgegenständlichen „C T “ an.
3Die Beklagte ist der S Verlag. Sie ist seit den 1980er Jahren als Verlag mit dem Autor P , dem Schöpfer von „C T “, verbunden. Sie hat bisher alle 12 Bände der Buchreihe „C T “ verlegt und ist Inhaber der Verlagsrechte an sämtlichen Bänden der C -T -Reihe.
4Ursprünglich war die Beklagte auch Inhaberin der Verfilmungsrechte und der Merchandisingrechte an den von ihr verlegten Bänden, auch an den Bänden 1 bis 3 der Reihe. Auf Wunsch des Autors P übertrug die Beklagte diesem die Filmrechte an den Bänden 1 bis 3 bereits im Jahr 2006 zurück.
5Mit Verlagsvertrag vom 08.05.2008 übertrug der Autor P der Beklagten die Verlagsrechte am Bd. 4 der C -T -Reihe mit dem Titel „C T wird nicht müde“. Darin heißt es unter § 1 Nr. 7, dass der Autor P der Beklagten für die Dauer des Hauptrechtes die ausschließlichen Nutzungsrechte einräumt, die nach Maßgabe der nebenstehenden „Erläuterungen“ vergeben werden. In den „Erläuterungen“ zu dem Verlagsvertrag ist auch folgendes aufgeführt:
6„Merchandising: Das Recht zur kommerziellen Auswertung des Werkes/der Produktion durch Herstellung und Vertrieb von Waren aller Art unter Verwendung von Vorkommnissen, Namen, Titeln, Figuren, Abbildungen etc. wie durch Erbringung von Dienstleistungen aller Art, die im Zusammenhang mit der Verwendung der Figuren, Abbildungen etc. stehen“.
7Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage B1 (Bl. 98 ff. der Akte) Bezug genommen.
8Der Autor P schloss mit Herrn F den „Options- und Verfilmungsvertrag“ vom 25.01.2010. Darin heißt es zum „Optionsvertrag“ unter Nr. 1. zum Vertragsgegenstand unter anderem:
9„1.1 . Der Autor ist Urheber der Texte, Zeichnungen und Figuren der Bücher
10C T
11C T wurde entfernt
12C T wurde entfernt
13(alle erschienen im S Verlag)
14und die nachfolgend insgesamt als ,,Werk" bezeichnet werden.
151.2. Der Produzent beabsichtigt, das Werk zur Herstellung einer Fernsehserie und deren Auswertung weiter zu entwickeln und Fernsehveranstaltern zur Verfilmung als Fernseh-Serienproduktion anzubieten.“
16Zum „Verfilmungsvertrag“ heißt es zum Vertragsgegenstand unter Nr. 1:
17„Vertragsgegenstand dieser Vereinbarung ist die mit Optionsausübung erfolgte Übertragung sämtlicher an dem Werk bereits entstandenen und noch entstehenden urheberrechtlichen und sonstigen Nutzungsrechte zum Zwecke der Herstellung einer auf dem (weiterentwickelten) Werk beruhenden Fernseh-Serienproduktion und deren weltweiten, auch wiederholten Auswertung in allen Medien in ausschließlicher, inhaltlich unbeschränkter Form für die Dauer der gesetzlichen Schutzfrist.“
18Unter Nr. 3 zur Rechteeinräumung (Auswertung) ist folgendes geregelt:
19„Der Autor überträgt dem Produzenten zur ausschließlichen beliebig häufigen Nutzung sämtlicher bei ihm entstandener urheberechtlichen Nutzungs-, Leistungsschutz und sonstigen Rechte an dem Werk inhaltlich, zeitlich und örtlich uneingeschränkt. Diese Rechteübertragung umfasst insbesondere, ohne hierauf beschränkt zu werden das Recht, das Werk vollständig oder teilweise, bearbeitet oder unbearbeitet, auch in Verbindung mit anderen Werkteilen wie nachfolgend beschrieben, zu nutzen:"
20Es folgt eine Aufführung der übertragenen Rechte, wie dem Senderecht, dem Videogramm Recht, dem Theaterrecht, dem Bearbeitungsrecht und andere Rechte.
21In dieser Aufführung der übertragenen Rechte heißt es unter Nr. 3.8 dann wie folgt:
22„Das Merchandisingrecht, d.h. das Recht zur kommerziellen Auswertung des (weiterentwickelten) Werks und der daraus resultierenden die Produktionen durch die Herstellung und Verbreitung von Waren aller Art (z.B. Puppen, Spielzeug, Stofftiere, Sportartikel, Haushalts-, Bad- und Küchenwaren, Kleidungsstücke, Druckschriften einschließlich Comics, Tonträger, Kopfbedeckungen, Buttons etc.) und/oder den unter Ziff. 1.3 bezeichneten Medien und/oder die Vermarktung von Dienstleistungen aller Art (z.B. Theme-Parks, Partys, Disco-Veranstaltungen), die unter Verwendung von Vorkommnissen, Namen, Titeln, Figuren, Abbildungen einzelner oder aller Mitwirkender oder sonstigen Zusammenhängen, mit oder ohne Bezug zu der vertragsgegenständlichen Produktion, erfolgen, einschließlich des Rechts, die Produktion ganz oder teilweise durch Herstellung und Vertrieb von Spielen/Computerspielen einschließlich interaktiver Computerspiele und/oder sonstigen Multimedia-Produktionen auszuwerten sowie unter Verwendung derartiger Elemente oder durch Verwendung bearbeiteter oder unbearbeiteter Ausschnitte aus der Produktion für Waren und Dienstleistungen zu nutzen und zu werben. Ausgenommen von dieser Rechteübertragung sind Merchandising-Artikel, die der S Verlag bereits vergeben hat, nämlich:
23Plüschtier . JUMBO ISBN ###-#-####-####-#. € 14,95 UVP“
24Wegen der Einzelheiten wird auf die Kopie dieses Vertrages in der Anlage K7 (Bl. 26 ff. der Akte) Bezug genommen.
25F übertrug unter dem 15.03.2011 die von ihm mit dem Vertrag vom 25.01.2010 (Anlage K7) erworbenen Rechte auf die K GmbH (Anlage K6, Bl. 25 der Akte).
26Mit "Vertragsänderung" vom 04.10.2012 bzw. 26.10.2012 gab die Beklagte an den Autor P unter anderem die Merchandisingrechte wie folgt zurück:
27"Zwischen
28Herrn
29P
3013 J
31##### B
32Frankreich
33(im Folgenden ,,Autor" genannt)
34und der
35S Verlag GmbH
36I Str. ##
37##### S1
38(im Folgenden ,,Verlag" genannt)
39wird zu den Verlagsverträgen vom 28. Mai / 10. Juni 2002, 4.März 1985 bzw. 29. Mai 2002 sowie vom 2. Februar 1996 bzw. 28. Mai 2002 sowie den dazu bisher abgeschlossenen Addenda über die Werke
40C T (1 )
41C wurde entfernt (2)
42C T wurde entfernt (3)
43folgende Änderung vereinbart:
44Der Verlag gibt dem Autor rückwirkend zum 25. Januar 2010 die folgenden Rechte für die drei o.g. Werke zurück:
45- das Senderecht
46- die Hörspielrechte
47- die Hörbuchrechte (Tonträger)
48- die Merchandisingrechte
49Ausgenommen von der Rechterückgabe sind folgende Lizenzen, die der Verlag bereits vergeben hat:
50Merchandising:
51C Plüschfigur(JUMBO, ISBN ###-#-####-####-#)
52Hörbuch:
53Das Beste von C T (JUMBO, ISBN ###-#-####-####-#)
54C T (Erweiterte Gesamtausgabe) (JUMBO, lSBN ###-#-####-####-#)
55C T (JUMBO, ISBN ###-#-####-####-#)
56C T wurde entfernt (JUMBO, ISBN ###-#-####-####-#)
57C T wurde entfernt (JUMBO, ISBN ###-#-####-####-#)
58C T (Schwyzertüütsch) (JUMBO, ISBN ###-#-####-####-#)
59C T wurde entfernt (Schwyzertüutsch) (JUMBO, ISBN ###-#-####-####-#)
60Diese Lizenzen kann der Verlag bei Bedarf auch verlängern.
61Der Autor verpflichtet sich im Gegenzug, eventuell durch die Verfilmung entstehende neue Geschichten zunächst dem Verlag zur Auswertung in Buchform anzubieten."
62Wegen der Einzelheiten wird auf die als Anlage zum Protokoll vom 06.08.2020 zur Akte gereichte Kopie dieses Vertrages (Bl. 200 der Akte) Bezug genommen.
63Diese „Vertragsänderung“ erfolgte auf Wunsch des Autors P , um zu verhindern, dass dieser gegenüber seinem Vertragspartner, F, vertragsbrüchig werden würde (Seite 3 und 4 des Schriftsatzes der Beklagten vom 09.08.2019, Bl. 63 der Akte).
64Herr F übte unter dem 16.01.2013 die Option aus dem Option- und Verfilmungsvertrag (Anlage K7) aus (Anlage K8, Bl. 31 der Akte).
65Die K GmbH schloss mit der Klägerin unter dem Datum vom 13.12.2012 unter dem 06.02.2013 bzw. 11.02.2013 zunächst in Form einer Kurzfassung eine Vereinbarung, mit der unter anderem die Nutzungsrechte an der von der Klägerin mitfinanzierten Fernsehserienproduktion „C T “ übertragen worden (Anlage K5, Bl. 23 ff. der Akte).
66Diese Übertragung der Nutzungsrechte wurde zwischen der K GmbH und der Klägerin mit der Langfassung vom 15.01.2015 bzw. 19.01.2015 konkretiesiert. Darin heißt es unter anderem wie folgt:
67„Präambel
681. Vertragsgegenstand
69Mit Verfilmungsvertrag vom 25.01.2010 hat K von dem Urheber der Figur C T , P , sämtliche urheberrechtlichen Nutzungs-, Leistungsschutz und sonstigen Rechte erworben um eine Fernseh-Serienproduktion herzustellen und diese weltweit auszuwerten.
70Die X mg hat sich an den Herstellungskosten der Fernsehserie ,,C T “ Zeichentrickserie, 26 x 7 Minuten (HDCam 1080/50i), deutsche Sprachfassung (im nachfolgenden als ,,Produktion" bezeichnet) beteiligt und erwirbt im Gegenzug die Auswertungsrechte an der Produktion.
71Zur Regelung der Konditionen der Rechteübertragung treffen die Vertragsparteien folgende Vereinbarung, welche die zwischen den Parteien am 6.2./11.2.2013 sowie am 18.12./23.12.2013 geschlossenen Vereinbarungen ersetzt:
721. Vertragsgegenstand
73Gegenstand dieses Vertrages ist die Übertragung von Nutzungsrechten an der Produktion durch K auf die X mg gegen eine finanzielle Beteiligung an den Herstellungskosten der Produktion.
742. Rechteübertragung
75K überträgt der X mg das Recht, die Produktion - unter den Einschränkungen gemäß Ziff. 3 - exklusiv sowie zeitlich unbeschränkt in unveränderter, bearbeiteter oder umgestalteter Form nach Maßgabe des folgenden Rechtekataloges zu verwerten oder verwerten zu lassen:"
76Nachfolgend sind dann die Rechte aufgeführt, etwa das Senderecht, das Recht der öffentlichen zugänglich machen, das Videogrammrecht, das Theaterrecht, das Bearbeitungsrecht und anderes mehr.
77Unter (e) ist dann folgendes im Vertrag aufgeführt:
78„das Merchandisingrecht,
79d.h., das Recht zur kommerziellen Auswertung der Produktion durch die Herstellung und Verbreitung von Waren aller Art (z.B. Puppen, Spielzeuge, Stofftiere. Sportartikel, Haushalts-, Bad- und Küchenwaren, Kleidungsstücke, Druckschriften einschließlich Comics, Tonträger, Kopfbedeckungen, Buttons etc.) und/oder die Vermarktung von Dienstleistungen aller Art (z.B. Walking Act, Themen-Park, Partys, Disco-Veranstaltungen), die unter Verwendung von Vorkommnissen, Namen, Titeln, Figuren, Abbildungen einzelner oder aller Mitwirkender oder sonstigen Zusammenhängen, mit oder ohne Bezug zu der vertragsgegenständlichen Produktion, erfolgen, einschließlich des Rechts, die Produktion ganz oder teilweise durch Herstellung und Vertrieb von Spielen/Computerspielen einschließlich interaktiver Computerspiele und/oder sonstigen Multimedia-Produktionen sowie Spiele Apps, online-Spiele etc. auszuwerten sowie unter Verwendung derartiger Elemente oder durch Verwendung bearbeiteter oder unbearbeiteter Ausschnitte aus der Produktion für Waren und Dienstleistungen zu nutzen und zu werben.
80Die Übertragung des Merchandisingrechts umfasst nicht nur die vertragsgegenständliche Produktion, sondern auch alle weiteren Staffeln der Produktion die zukünftig durch K entstehen und produziert werden, einschließlich eines etwaigen Kinofilms.“
81Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage K3 (Bl. 16 ff. der Akte) Bezug genommen.
82Bei der Herstellung der von der Klägerin mitfinanzierten und ausgewerteten Fernseh-Serie C T wurde mit der Erstellung der Zeichnungen nicht der Autor P beauftragt und wurden auch nicht die ursprüngliche Illustrationen aus den Büchern der Beklagten verwendet, sondern wurden die Figuren einschließlich der Figur des C T neu gezeichnet. Die Figur des C T ist beispielhaft aus der nachfolgend eingeblendeten Anlage B4 (Bl. 108 der Akte) ersichtlich:
83Bilddateien entfernt
84Dabei handelt es sich bei der unteren Abbildung um eine von dem Autor P gezeichnete Figur des C T und bei der oberen Abbildung um eine solche aus der Fernseh-Produktion der Klägerin.
85Die Klägerin als Lizenzgeberin und die Beklagte als Lizenznehmerin schlossen unter dem 14.10.2014 bzw. 30.10.2014 einen Lizenzvertrag. Dieser beinhaltet folgende Präambel:
86„Die Lizenznehmerin ist seit über 30 Jahren Inhaberin der ausschließlichen Nutzungsrechte an dem Werk „C T “ (im folgenden „Originalwerk“) von P (im folgenden „der Autor“) mit Ausnahme der Merchandising- und Verfilmungsrechte. Diese liegen beim Autor. Der Autor hat mit Vereinbarung vom 25.01.2010 dem Produzenten F (im folgenden „der Produzent“) die ausschließlichen Verfilmungs- und Merchandisingrechte an dem Originalwerk eingeräumt und ihm gestattet, das Originalwerk zu diesem Zweck weiterzuentwickeln und optisch zu modernisieren. Die Gestattung der Bearbeitung / Weiterentwicklung erfolgte unter der Bedingung, dass das Verlagsrecht im Hinblick sowohl auf die (modernisierten) alten Geschichten als auch die neu zu schaffenden Geschichten beim Autor bzw. der Lizenznehmerin verbleiben bzw. dieser eingeräumt werden. Der Autor hat daher auch im Rahmen der Übertragung der Merchandisingrechte ausdrücklich klargestellt, dass insoweit keine Bücher hergestellt und vertrieben werden dürfen. Mit Vereinbarung vom 13.12.2012 hat der Produzent die ihm vom Autor eingeräumten Rechte an die Lizenzgeberin übertragen.
87Daraufhin hat die Lizenzgeberin den Produzenten einerseits mit der Gestaltung neuer C -Geschichten, andererseits mit der Modernisierung der bereits existierenden Geschichten aus dem Originalwerk beauftragt und sich die erforderlichen ausschließlichen Nutzungsrechte einräumen lassen. Die auf diesem Wege neu entstandenen Bildergeschichten werden im folgenden als „Artwork“, die neugestalteten alten Geschichten als „Remake“ bezeichnet.
88Die Lizenznehmerin möchte in Zukunft die Geschichten im neuen „Look“ auch für ihre Bücher übernehmen. Die nachfolgende Vereinbarung regelt die Übertragung der insoweit erforderlichen Nutzungsrechte am „Artwork“ bzw. dem „Remake“.
89Soweit nachfolgend von exklusiven oder ausschließlichen Nutzungsrechten die Rede sein wird, bezieht sich dies nach der Diktion der Lizenzgeberin ausschließlich auf das „Produkt“ Buch in allen seinen Erscheinungsformen.“
90Wegen der Einzelheiten wird auf die Kopie dieses Vertrages in der Anlage K 20 (Bl. 141 ff. der Akte) Bezug genommen.
91Anfang des Jahres 2019 bewarb die Beklagte in ihrem Katalog „Kinder- und Jugendbuch – März bis August 2019“ unter der Rubrik „C s wunderbare Welt“ die klagegegenständlichen beiden Merchandisingprodukte „C Kuscheltuch“ und „C s Pflasterbox“ (Anlage K9, Bl. 32 ff. der Akte). Beide Produkte wurden auch über die Handelsplattform Amazon angeboten (Anlage K 10, Bl. 36 der Akte). Die Klägerin erwarb die Produkte im Rahmen von Testkäufen (Anlage K 11, Bl. 38 der Akte, und Anlage K 12, Bl. 39 der Akte).
92Die Beklagte teilte der Klägerin mit, dass sie im Rahmen einer behutsamen Programmerweiterung plane, über Bücher hinaus auch so genannte Non-Books, unter anderem ein C -Kuscheltuch, fest in ihr Sortiment aufzunehmen (E-Mail des Geschäftsführers L vom D vom 13.02.2019, Anlage K 13, Bl. 40 der Akte).
93Die Klägerin ist der Ansicht, sie sei Inhaberin der ausschließlichen Verfilmungs- und Merchandisingrechte an dem Werk „C T “.
94Die Klägerin beantragt,
951. die Beklagte zu verurteilen, es bei Meidung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000,00 EUR, ersatzweise für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, der Ordnungshaft, oder der Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, die Ordnungshaft zu vollziehen an den Geschäftsführern der Beklagten, zu unterlassen,
96identische oder ähnliche Abbildungen der Figur,,C T ",
97die einem T nachempfunden und gekennzeichnet sind durch eine aufrechte Haltung als ,,Zweibeiner" mit einem überproportional großen Kopf, großen dunklen und mit einem braunen Schatten umrandeten Augen, mit einem hellen rundlichen Gesicht mit hervorstehenden Backen und einer schwarzen ,,Spitznase", mit nach oben abstehenden Ohren, einem kleinen Mund, einem braunen Fell und einem großen buschigen Schwanz, wie nachstehend beispielhaft wiedergegeben,
98Bilddatei entfernt
99auf Spielwaren und/oder Kinderprodukten wie nachstehend wiedergegeben :
100a)
101Bilddatei entfernt
102b)
103Bilddatei entfernt
104ohne Zustimmung der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland zu vervielfältigen, zu verbreiten, anzubieten und/oder in den Verkehr zu bringen und/oder jede der vorgenannten Handlungen von Dritten vornehmen zu Iassen.
1052. der Klägerin zu den im Klageantrag zu 1) genannten
106Produkten Auskunft zu erteilen, und zwar unterglieded nach jedem Produkt,
107über deren Herkunft und Vertriebsweg durch Vorlage vollständiger und geordneter
108Verzeichnisse sowie geeigneter Belege über
109a) Namen und Anschriften aller Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer der Vervielfältigungsstücke sowie der gewerblichen Abnehmer und Verkaufsstellen in Bundesrepublik Deutschland, insbesondere lnternet-Shops und Onlinehändler, für die sie bestimmt waren,
110b) die Menge der erhaltenen, bestellten und/oder in der Bundesrepublik
111Deutschland ausgelieferten Vervielfältigungsstücke,
112c) die Preise, die für die Vervielfältigungsstücke bezahlt wurden,
113sowie Rechnung zu legen über alle bislang mit den im Klageantrag zu 1) genannten Produkten in der Bundesrepublik Deutschland erzielten Gewinne.
1143. festzustellen, dass die Beklagte der Klägerin Schadensersatz zu leisten hat, wie er sich anhand der Auskunft und Rechnungslegung gemäß vorstehender Zitfer 2) ergibt, hilfsweise, dass die Beklagte die ungerechtfertigte Bereicherung herauszugeben hat, wie sie sich anhand der Auskunft und Rechnungslegung gemäß vorstehen der Zitter 2) ergibt.
115Die Beklagte beantragt,
116die Klage abzuweisen.
117Die Beklagte ist der Auffassung, sie sei jedenfalls infolge ihres Vertrages vom 08.05.2008 mit dem Autor P zur Auswertung der Figur des „C T “ durch die beiden streitgegenständlichen Merchandisingprodukte berechtigt. Zurückübertragen habe sie P lediglich die Merchandisingrechte an den Bänden 1 bis 3. Die Klägerin habe Merchandisingrechte lediglich an der Produktion erworben, wobei es sich allein um die Fernsehserienproduktion handele. Die in den Büchern und in den Fernsehserien verwendeten Figuren würden sich auch unterscheiden, wie sich unter anderem aus der Anlage B4 ergebe. Wäre das Merchandisingrecht an der Figur des „C T “ vollständig an die Klägerin übergegangen, würde eine Auswertung etwa des Rechtes des Autors auf Wiederverfilmung gemäß § 88 Abs. 2 UrhG mangels finanzieller Unterstützung durch Merchandising leerlaufen.
118Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der von den Parteien gewechselten Schriftsätze und die von den Parteien vorgelegten Unterlagen und Schriftstücke Bezug genommen.
119E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :
120Die Klage ist begründet.
1211. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus §§ 97 Abs. 1 Satz 1, 15, 16, 17 i.V.m. 31 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG auf Unterlassung der Verbreitung und der Vervielfältigung der streitgegenständlichen Merchandisingprodukte C Kuscheltuch und C kleine Pflasterbox.
122a) Bei der Figur des „C T “ handelt es sich um ein gemäß § 2 Abs.1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG geschütztes Werk.
123Figuren und Darstellungen in Bildgeschichten, ebenso wie Comic-Figuren, zählen zu den Werken der bildenden Kunst, sofern sie die erforderliche Schöpfungshöhe aufweisen (vgl. BGH GRUR 1994, 191, 193 – Asterix-Persiflagen, GRUR 2004, 855, 856 – Hundefigur). Dabei beschränkt sich der Schutz der Comic-Figur nicht auf den Schutz der konkreten zeichnerischen Darstellungen in verschiedenen Körperhaltungen, Schutz genießen vielmehr auch die allen Einzeldarstellungen zu Grunde liegenden Gestalten als solche (BGH GRUR 1994, 191, 192 – Asterix-Persiflagen; 1995, 47, 48 rosaroter Elefant; vergleiche in diesem Sinne auch Urteil der Kammer vom 02.06.2014 - 14 O 36/14 - Der kleine Maulwurf).
124Nach diesen Maßstäben ist die Figur des „C T “ urheberrechtlich geschützt. Die Figur des „C T “ verfügt über ein hinreichendes Maß an Individualität und Schöpfungshöhe. Er ist gekennzeichnet durch vermenschlichte, tieruntypische Merkmale, wie etwa die großen dunklen Augen, einen im Verhältnis zum Körper übergroßen Kopf, seine aufrechte Stellung als Zweibeiner, den abstehenden Ohren, dem braunen Fell, einem buschigen Schwanz sowie durch einen freundlichen und sympathisch wirkenden Gesichtsausdruck, welche der Figur ein unverwechselbares, eigentümliches Gepräge geben.
125An dem Bestehen urheberrechtlichen Schutzes an der Figur des "C T " besteht zwischen den Parteien auch kein Streit.
126b) Die Klägerin ist als ausschließliche Nutzungsrechtsinhaberin betreffend das Merchandisingrecht an der Figur des „C T “ aktivlegitimiert.
127aa) Bei dem Merchandisingrecht handelt es sich um ein selbstständiges Nutzungsrecht, welches gesondert zu erwerben ist, und zwar auch im Bereich des Films; denn gem. §§ 88 ff. UrhG erhält der Filmhersteller nur die Rechte für die Verwertung des Films selbst, nicht aber für die Vermarktung einzelner Elemente außerhalb des Films (Dreier/Schulze, UrhG, 6. Aufl., vor § 31 Rn. 189, beck-online).
128bb) Die Klägerin hat mit der Vereinbarung mit dem Datum vom 13.12.2012 mit der K GmbH in der Kurzfassung (Anlage K5) bzw. mit dem Vertrag in der Langfassung mit der K GmbH aus Januar 2015 (Anlage K3), der die Kurzfassung ersetzt hat, das ausschließliche Merchandisingrecht an der Figur des „C T “ erworben. Denn das der Klägerin von der K GmbH unter Nr. 2 2.1 (e) eingeräumte Merchandisingrecht umfasst nach der vertraglichen Definition das Recht zur kommerziellen Auswertung der Produktion durch die Herstellung und Verbreitung von Waren aller Art, und zwar insbesondere auch unter Verwendung der Figuren der Produktion und dabei ausdrücklich auch mit oder ohne Bezug zu der vertragsgegenständlichen Produktion. Dabei ist von den Vertragsparteien die Fernsehserie „C T “ als die Produktion bezeichnet (vergleiche Präambel in der Anlage K3). Die Figur des „C T “ ist maßgeblicher Bestandteil der Fernsehserie, mithin der Produktion. Die kommerzielle Auswertung (auch) der Figur des „C T “ durch Herstellung und Verbreitung von Waren aller Art einschließlich der streitgegenständlichen Produkte Kuscheltuch und Pflasterbox unterfällt mithin dieser vertraglichen Vereinbarung.
129Die Übertragung des Nutzungsrechts erfolgte auch „exklusiv“ (Nr. 2 2.1 des Vertrages aus Januar 2015, Anlage K3), also zur Nutzung unter Ausschluss aller anderen Personen und damit als ausschließliches Nutzungsrecht im Sinne von § 31 Abs. 3 UrhG.
130cc) Die Einräumung des Merchandisingrechts war auch wirksam. Denn die K GmbH konnte der Klägerin das ausschließliche Merchandisingrecht (auch) an der Figur des „C T “ wirksam einräumen.
131Allerdings war ursprünglich die Beklagte nicht nur Inhaberin des Verlagsrechts an der Buch-Reihe des „C T “, sondern hatte der Autor P ihr ebenfalls neben dem Verfilmungsrecht auch das Merchandisingrecht eingeräumt. Damit konnte der Autor P Herrn F mit dem „Options- und Verfilmungsvertrag“ (Anlage K7) im Zeitpunkt des Abschlusses dieses Vertrages am 25.01.2010 das darin aufgeführte Merchandisingrecht nicht wirksam übertragen bzw. ihm die Option zu dessen Erwerb einräumen. Zwar ist auch in diesem Vertrag unter Nr. 3 3.8 geregelt, dass das Merchandisingrecht als Recht zur kommerziellen Auswertung des Werks die Herstellung und Verbreitung von Waren aller Art unter Verwendung (auch) der Figuren des Werks übertragen werden sollte. Darunter fällt (auch) die Figur des „C T “.
132Da die Beklagte jedoch am 25.01.2010 noch Inhaberin des Merchandisingrechts war, hätte der Autor P darüber nicht verfügen können.
133Dies haben die Beteiligten jedoch geändert, indem der Autor P mit der Beklagten mit Vertrag aus Oktober 2012 (Anlage zum Protokoll vom 06.08.2020) vereinbart hat, dass rückwirkend auf den 25.01.2010 die Merchandisingrechte von der Beklagten wieder auf den Autor P zurückübertragen worden sind.
134Dabei kann zunächst dahinstehen, ob eine derartige Übertragung der (dinglichen) Merchandisingrechte mit Rückwirkung auf den 25.01.2010 rechtlich wirksam vereinbart werden konnte. Denn jedenfalls konnte der Autor P mit dem (Rück-)Erwerb der Merchandisingrechte von der Beklagten im Oktober 2012 seiner gegenüber Herrn F im Januar 2010 eingegangenen, infolge des ungekündigten Vertrages fortbestehenden Verpflichtung nachkommen und jedenfalls im Oktober 2012 auch diese Merchandisingrechte übertragen.
135Mit dem Vertrag vom 04.10.2012 bzw. 26.10.2012 zwischen Herrn P und der Beklagten hat die Beklagte das Merchandisingrecht auch umfassend an Herrn P zurückübertragen. Daran ändert nichts, dass in dem Vertrag nach seinem Wortlaut nur auf die Verlagsverträge zu den Bänden 1 bis 3 und die darin gewährten Rechte Bezug genommen und – neben dem Senderecht, den Hörspielrechten sowie den Hörbuchrechten – die mit diesen Verträgen übertragenen Merchandisingrechte an den Autor P zurückübertragen worden sind. Dies folgt aus der Auslegung der Erklärungen der Vertragsparteien des Autors P und der Beklagten, §§ 133, 157 BGB.
136Nach §§ 133, 157 BGB ist bei der Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen der wirkliche Wille der Erklärenden zu erforschen. Dabei ist vom Wortlaut der Erklärung auszugehen (BGH, Urteil vom 19. Januar 2000 - VIII ZR 275/98, NJW-RR 2000, 1002 Rn. 20 mwN; MünchKomm.BGB/Busche, 6. Aufl. 2012, § 133 Rn. 56) und demgemäß in erster Linie dieser und der ihm zu entnehmende objektiv erklärte Parteiwille zu berücksichtigen. Bei der Willenserforschung sind aber auch der mit der Erklärung verfolgte Zweck, die Interessenlage der Parteien und die sonstigen Begleitumstände zu berücksichtigen, die den Sinngehalt der gewechselten Erklärungen erhellen können (BGH, Urteil vom 16. November 2007 - V ZR 208/06, NJW-RR 2008, 683 Rn. 7 mwN). Dabei sind empfangsbedürftige Willenserklärungen, bei deren Verständnis regelmäßig auch der Verkehrsschutz und der Vertrauensschutz des Erklärungsempfängers maßgeblich ist, so auszulegen, wie sie der Empfänger nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen musste (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 24. Februar 1988 - VIII ZR 145/87, BGHZ 103, 275, 280; Urteil vom 18. Dezember 2008 - I ZR 23/06, NJW 2009, 774 Rn. 25; Urteil vom 27. Januar 2010 - VIII ZR 58/09, NJW 2010, 2422 Rn. 33 - insoweit nicht in BGHZ 184, 128, 137 abgedruckt; MünchKomm.BGB/Busche, aaO, § 133 Rn. 12 mwN; BGH, Urteil vom 16. Oktober 2012 – X ZR 37/12 –, BGHZ 195, 126-134, Rn. 18, vgl. auch OLG Köln, Urteil vom 31. August 2018 – 6 U 57/18).
137Nach diesem Maßstab hat die Beklagte die Merchandisingrechte (auch) an der Figur des „C T “ in dem Vertrag aus Oktober 2012 umfassend an den Autor P zurückübertragen.
138Zunächst steht die Bezugnahme in dem Vertrag auf die Bände 1 bis 3 der Buchreihe des „C T “ diesem Auslegungsergebnis nicht entgegen. Denn zurückübertragen hat die Beklagte in dem Vertrag nicht nur die Merchandisingrechte, sondern auch das Senderecht, die Hörspielrechte und die Hörbuchrechte. Für diese 3 Nutzungsrechte ist sinnvoll, die Werke ausdrücklich zu benennen. Denn damit erfolgt eine klare Abgrenzung, für welche Bücher, also für welche Geschichten das Senderecht, die Hörspielrechte und die Hörbuchrechte zurückübertragen werden sollten.
139Für das Merchandisingrecht gilt dies nicht, da die Figur des „C T “ in allen Bänden und auch in allen anderen Produktionen einschließlich der Fernsehserie vorkommt. Es entspricht im vorliegenden Fall den Interessen der vertragschließenden Parteien, dass die Beklagte die Merchandisingrechte vollständig an den Autor P zurückübertragen hat. Denn auch nach der Darstellung der Beklagten bestand der Sinn und Zweck des Vertrages vom 25.01.2010 und der darin vereinbarten Rückübertragung der Nutzungsrechte gerade darin, zu verhindern, dass der Autor P gegenüber seinem Vertragspartner, Herrn F, vertragsbrüchig werden wird. Der Autor P hatte sich gegenüber Herrn F hinsichtlich des Merchandisingrechts jedoch zur Übertragung als ausschließliches Recht verpflichtet, Nr. 3 S. 1 in Verbindung mit Nr. 3 3.8 des Verfilmungsvertrags (Anlage K7), und zwar wie gesagt ausdrücklich mit oder ohne Bezug zu der Fernsehserie der Klägerin. Damit aber der Autor P Herrn F das ausschließliche Merchandisingrecht (auch) an der Figur des „C T “ zur Nutzung auch ohne Bezug zur Fernsehserie übertragen konnte, mussten alle anderen Personen von dem Merchandisingrecht ausgeschlossen sein, § 31 Abs. 3 UrhG, also auch die Beklagte.
140Anders als die Beklagte meint, kann das ausschließliche Merchandisingrecht an der Figur des „C T “ auch nicht mehrfach vergeben werden, insbesondere nicht getrennt nach den von der Beklagten verlegten Büchern in Buchform und der Fernsehserie der Klägerin. Denn wie bereits dargelegt, beschränkt sich der Schutz der Comic-Figur nicht auf den Schutz der konkreten zeichnerischen Darstellungen in verschiedenen Körperhaltungen, Schutz genießen vielmehr auch die allen Einzeldarstellungen zu Grunde liegenden Gestalten als solche (BGH GRUR 1994, 191, 192 – Asterix - Persiflagen; 1995, 47, 48 rosaroter Elefant). Wie sich aber plastisch aus der von der Beklagten selbst vorgelegten Gegenüberstellung (Anlage B4) der ursprünglichen, von dem Autor P geschaffenen und der im Rahmen der Erstellung der Fernsehserie der Klägerin gezeichneten Figur des „C T “ ergibt, stimmen die den Urheberrechtsschutz ausmachenden, prägenden Merkmale bei beiden Figuren überein:
141Bilddateien entfernt
142Beide Gestaltungen sind geprägt durch die Merkmale großer dunkler Augen, einen im Verhältnis zum Körper übergroßen Kopf, ihre aufrechte Stellung als Zweibeiner, die abstehenden Ohren, dem braunen Fell, einem buschigen Schwanz sowie durch einen freundlichen und sympathisch wirkenden Gesichtsausdruck, welche der Figur ein unverwechselbares, eigentümliches Gepräge geben. Deshalb wäre der Inhaber ausschließlicher Nutzungsrechte an der unteren Gestaltung berechtigt, eine Nutzung wie sie sich aus der oberen Gestaltung ergibt, zu untersagen, da die obere Gestaltung im Verhältnis zur unteren Gestaltung (allenfalls) eine unfreie Bearbeitung im Sinne von § 23 UrhG darstellt, welche der Erlaubnis des ausschließlich Berechtigten bedarf. Gleiches gilt für den umgekehrten Fall: Lägen die ausschließlichen Nutzungsrechte an der Figur des „C T “ bei dem Urheber der oberen Gestaltung, könnte er aus den gleichen Gründen die Nutzung der unteren Gestaltung untersagen. Deshalb scheidet eine Unterscheidung nach der in den Büchern oder in der Fernsehserie verwendeten konkreten Abbildung aus.
143Auch wenn man davon ausgehen wollte, dass der Wortlaut der Vereinbarung aus Oktober 2012 mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulässt, ergäbe sich nichts anderes. Denn in einem solchen Fall ist im Rahmen der Auslegung derjenigen der Vorzug zu geben, die zu einem vernünftigen, widerspruchsfreien und den Interessen beider Vertragsparteien gerecht werdenden Ergebnis führt (BGH, Urteil vom 12. April 2007 - VII ZR 236/05, Rn. 32 nach Juris, NJW 2007, 1952; Urteil vom 15. November 2001 - I ZR 158/99, BGHZ 149, 337, 353; Urteil vom 7. Februar 2002 - I ZR 304/99, BGHZ 150, 32, 39; Urteil vom 31. Oktober 1995 - XI ZR 6/95, BGHZ 131, 136, 138; Urteil vom 11. Mai 1995 - VII ZR 116/94, BauR 1995, 697 = ZfBR 1995, 259).
144Diese Auslegungsgrundsätze führen im vorliegenden Fall jedoch dazu, dass das ausschließliche Merchandisingrecht (insbesondere auch) an der Figur des „C T “ von der Beklagten an den Autor P zurückübertragen worden ist.
145Denn wie bereits ausgeführt, musste der Autor P das Merchandisingrecht vollständig von der Beklagten (zurück)erwerben, um seinerseits seiner vertraglichen Verpflichtung zur Übertragung des Merchandisingrechts an Herrn F nachkommen zu können. Damit entspricht es in erheblichem Umfang dem Interesse des Autors P , das Merchandisingrecht auch in diesem Umfang zu erhalten. Aber auch das Interesse der Beklagten steht einer derartigen Auslegung nicht entgegen. Denn die Beklagte führt selbst aus, dass auch sie mit dem Abschluss dieses Vertrages mit P bezweckt hat, diesem die Erfüllung seines Vertrages mit Herrn F zu ermöglichen. Insbesondere sind auch im Übrigen die Interessen der Beklagten in diesem Vertrag berücksichtigt. So ist zum Merchandising ausdrücklich aufgenommen worden, dass die von der Beklagten erteilte Lizenz an die K1 & Verlag GmbH für das Merchandising mit der C Plüschfigur mit der im einzelnen aufgeführten ISBN-Nummer weiter zulässig ist, die Beklagte mithin ihre bisherige Auswertung des Merchandisingrechts aufrechterhalten konnte. Hinzu kommt, dass die Beklagte eine weitere Auswertung des Merchandisingrechts über Jahrzehnte hinweg nicht vorgenommen hat, sondern erst Anfang des Jahres 2019 damit begonnen hat, Merchandisingprodukte hinsichtlich der Figur des „C T “ herzustellen und zu verbreiten. Vor allem war – und ist – die Auswertung ihres Verlagsrechts, also die Auswertung der Figur des „C T “ im Bereich "Buch", durch die so verstandene Auslegung in keiner Weise eingeschränkt.
146Demgegenüber hätte der Autor P bei einer Auslegung, dass das Merchandisingrecht nur hinsichtlich der genannten drei Bände von der Beklagten übertragen würde, wie dargelegt nicht das ausschließliche Merchandisingrecht erworben. Die Beklagte wäre vielmehr weiterhin Inhaber des ausschließlichen Merchandisingrechts geblieben. Dies folgt aus dem Vertrag des Autors P mit der Beklagten vom 08.05.2008 (Anlage B 1). Denn darin ist der Beklagten ebenfalls das ausschließliche Merchandisingrecht (auch) an der Figur des „C T “ eingeräumt worden. Nach dem Verständnis der Beklagten wäre die Gültigkeit dieses Vertrags aber von der Rückübertragung des Merchandisingsrechts im Vertrag aus Oktober 2012 nicht berührt worden und wäre die Beklagte mithin weiterhin Inhaber des ausschließlichen Merchandisingrechts (auch) an der Figur des „C T “. Damit würde jedoch die Vereinbarung über die Rückübertragung des Merchandisingrechts im Vertrag aus Oktober 2012 leerlaufen und im Ergebnis unwirksam bleiben, weil die Beklagte dem Autor P kein Merchandisingrecht einräumen würde.
147Es ist aber schon vom Grundsatz her nicht davon auszugehen, dass die Parteien von vornherein etwas Unwirksames vereinbaren wollten. Bei der Auslegung von Willenserklärungen ist vielmehr nach der Rechtsprechung des BGH (vergleiche NJW-RR 2003, 1136),
148"wenn sich nicht zweifelsfrei anderes ergibt, davon auszugehen, dass die Parteien das Vernünftige gewollt haben BGHZ 79, 16 [18f.] = NJW 1981, 816; BGH, NJW 1994, 1537 [1538]). Es ist deshalb der Deutung der Vorzug zu geben, die einen Vertrag als widerspruchsfrei erscheinen lässt (Mayer-Maly/Busche, in: MünchKomm, 4. Aufl., § 133 Rdnr. 56 m.w. Nachw.) und in den Grenzen des Gesetzes zu einer sachgerechten Regelung führt (BGHZ 134, 325 [329] = NJW 1997, 1003)".
149Selbst bei widersprüchlichen Bestimmungen ist deshalb einer Auslegung der Vorzug zu geben, bei welcher jeder Vertragsnorm eine tatsächliche Bedeutung zukommt, wenn sich die Regelungen ansonsten als ganz oder teilweise sinnlos erweisen würden (vergleiche BGH NJW 2005, 2618). Auf der Grundlage dieser Erwägungen ist daher von der vollständigen Rückübertragung des ausschließlichen Merchandisingrechts auf den Autor P auszugehen.
150Dass die Beklagte dies letztlich selbst so gesehen hat, ergibt sich zur Überzeugung der Kammer nicht zuletzt aus dem zwischen der Klägerin und der Beklagten geschlossenen Lizenzvertrag aus Oktober 2014. Denn wenn dort in der Präambel von beiden Parteien festgehalten wird, dass die Merchandising- und Verfilmungsrechte nicht bei der Beklagten, sondern beim Autor liegen, entspricht dieses Verständnis dem vorstehend dargelegten Auslegungsergebnis. Hinzu kommt des Weiteren, dass ebenfalls in der Präambel dieses Vertrages die Rechtekette vom Autor über Herrn F bis zur Klägerin aufgeführt ist und die Parteien damit die Inhaberschaft der Klägerin an dem Merchandisingrecht übereinstimmend hergeleitet und bekundet haben. Die von der Beklagten aufgeworfene Frage, ob damit ein Anerkenntnis im Rechtssinne verbunden sein könnte, ist insoweit unerheblich. Maßgeblich ist insofern allein, dass beide Parteien übereinstimmend von der in der Präambel dargestellten Rechteinhaberschaft der Klägerin an den Merchandisingrechten ausgegangen sind.
151dd) Der Autor P hat das ausschließliche Merchandisingrecht auch wirksam Herrn F übertragen.
152Dazu ist es zunächst Gegenstand des Options- und Verfilmungsvertrages vom 25.01.2010 (Anlage K7) geworden. Insofern kann auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen werden, insbesondere soweit die Auslegung des Umfanges des Merchandisingrechts betroffen ist. Auch hier gilt, dass die Aufführung (nur) der ersten drei Bände aus der T -Buchreihe nicht zu der Auslegung führt, dass das Merchandisingrecht hinsichtlich der Figur des „C T “ nur beschränkt übertragen worden wäre. Nicht zuletzt sind auch bei der Übertragung des Merchandisingrechts in diesem Vertrag die Interessen der Beklagten gewahrt, als das Plüschtier und dessen Verwertung als Merchandising-Artikel ausdrücklich ausgenommen ist.
153Dem steht auch nicht entgegen, dass das Merchandisingrecht für eine eventuell vom Autor P in Zukunft durchgeführte Wiederverfilmung nach § 88 Abs. 2 UrhG vornehmen würde. Dies könnte er auch ohne den Vertrieb von Merchandisingprodukten. Er hätte zudem bei Abschluss des Vertrages mit Herrn F die Möglichkeit gehabt, entsprechend abweichende Vereinbarungen zu treffen. Dies ist jedoch wie dargelegt nicht geschehen. Zutreffend verweist die Klägerin zudem darauf, dass der Autor P sich eine Umsatzbeteiligung an den Verwertungserlösen auch hinsichtlich der Merchandisingverwertung gesichert hat, Nr. 6 6.3 des Options- und Verfilmungsvertrags (Anlage K7).
154Es bestehen auch keine Zweifel daran, dass Herr F sein Optionsrecht aus dem vorstehenden Vertrag (Anlage K7) wirksam ausgeübt hat. Dies ergibt sich aus dem Schreiben vom 16.01.2013 (Anlage K8).
155Die Rechte aus dem Vertrag vom 25.01.2010 hatte Herr F bereits zuvor mit Vereinbarung vom 15.03.2011 (Anlage K6) auf die K GmbH übertragen.
156d) Es liegt auch eine Übernahme der Figur des „C T “ vor.
157Dies gilt entgegen der Auffassung der Beklagten auch für das Kuscheltuch. Denn zunächst weist auch dieses mindestens einige der wesentlichen, den Urheberrechtsschutz prägenden Gestaltungsmerkmale auf, nämlich einen überproportional großen Kopf, große dunkle Augen in einem hellen rundlichen Gesicht mit nach oben abstehenden Ohren und braunem Fell. Hinzu kommt, dass es im Katalog der Beklagten und auch in der Produktverpackung ausdrücklich als Merchandisingprodukt der Figur des „C T “ beworben und gekennzeichnet wird.
158Erst recht ist die Figur des „C T “ auf der Pflasterbox übernommen, da sie dort mit sämtlichen aufgezählten Merkmalen abgebildet ist. Auf die von der Beklagten aufgeworfene Thematik des ebenfalls mit abgebildeten Stoffhasen kommt es nicht an, dieser ist nicht Gegenstand der Klage.
159e) Die Beklagte ist passivlegitimiert, da sie unstreitig die beiden hier streitgegenständlichen Produkte, nämlich das Kuscheltuch sowie die Pflasterbox, hergestellt hat bzw. hat herstellen lassen und zum Verkauf angeboten hat bzw. hat anbieten lassen, womit sie in das Vervielfältigungsrecht und das Verbreitungsrecht der Klägerin betreffend Merchandisingprodukte eingegriffen hat. Denn beide Produkte sind Merchandisingprodukte, welche die Figur des „C T “ auswerten.
160e) Dies war auch rechtswidrig, da es an einer Zustimmung der Klägerin gefehlt hat.
161f) Auch die für den Unterlassungsanspruch weiterhin erforderliche Wiederholungsgefahr ist gegeben. Denn grundsätzlich indiziert eine Rechtsverletzung die Wiederholungsgefahr und kann in aller Regel nur durch eine strafbewehrte Unterlassungsverpflichtungserklärung beseitigt werden (vergleiche statt aller: Schricker/Loewenheim-Wimmers, Urheberrecht, 5. Auflage, § 97 Rn. 216 ff. mit zahlreichen Nachweisen); eine solche hat die Beklagte jedoch nicht abgegeben.
162Von der Rechtsprechung werden ansonsten strenge Maßstäbe an den Entfall der Wiederholungsgefahr gestellt, selbst die Betriebseinstellung, die Liquidation des Betriebes oder die Umstellung auf eine andere Ware genügen nicht (vergleiche Schricker/Loewenheim-Wimmers, Urheberrecht, 5. Auflage, § 97 Rn. 217 unter Hinweis auf BGH GRUR 1957, 342 – Underberg; BGH GRUR 1965, 198 – Küchenmaschine; BGH GRUR 1995, 1045 - Brennwertkessel). Derartige Umstände sind jedoch nicht ersichtlich.
1632. Der Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung folgt aus § 242 BGB in erweiterter Auslegung der §§ 259, 260 BGB. Der Verletzte kann zur Vorbereitung eines bezifferten Schadensersatzanspruchs vom Verletzer Auskunft und Rechnungslegung verlangen; dieser nichtselbstständige, so genannte akzessorische Auskunftsanspruch ist im Urheberrecht ebenso wie im gewerblichen Rechtsschutz gewohnheitsrechtlich anerkannt (vergleiche statt aller: Dreier/Specht in: Dreier/Schulze, Urheberrechtsgesetz, 5. Auflage, § 97 Rn. 78 mit zahlreichen Nachweisen).
1643. Die Klägerin hat gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Feststellung der Schadensersatzpflicht.
165Die Klägerin kann von der Beklagten gemäß §§ 97 Abs. 2 S. 1, 16, 17 UrhG Ersatz des ihr durch die rechtswidrige Vervielfältigung und Verbreitung der streitgegenständlichen, urheberrechtlich geschützten Figur des „C T “ in Form des Kuscheltuchs und der Pflasterbox, wie sie Gegenstand des Klageantrags zu 1) sind, verlangen. Der Beklagten fällt zumindest Fahrlässigkeit zur Last (§ 276 Abs. 2 BGB), weil sie sich hinsichtlich der Befugnis zur Vervielfältigung und Verbreitung der Figur des „C T “ nicht vergewissert hat, über entsprechende Lizenzrechte zu verfügen.
166Im Urheberrecht werden - ebenso wie im gewerblichen Rechtsschutz - an die Beachtung der erforderlichen Sorgfalt strenge Anforderungen gestellt. Nach ständiger Rechtsprechung handelt fahrlässig, wer sich - wie hier die Beklagte - erkennbar in einem Grenzbereich des rechtlich Zulässigen bewegt, in dem er eine von der eigenen Einschätzung abweichende Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit des fraglichen Verhaltens in Betracht ziehen muss (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 1997 - I ZR 79/95, GRUR 1998, 568, 569 - Beatles-Doppel-CD; Urteil vom 23. April 1998 - I ZR 205/95, GRUR 1999, 49, 51 - „Bruce Springsteen and his Band“; BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 – I ZR 168/06 – Scannertarif - Rn. 42; Urteil vom 18. September 2014 – I ZR 76/13 – CT-Paradies).
167Nach der aufgezeigten vertraglichen Situation musste die Beklagte zumindest ernsthaft damit rechnen, dass eine von ihrer Auffassung abweichende Beurteilung der vertraglichen Vereinbarungen zur Rechteübertragung in Betracht kommt.
168Es besteht auch ein Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO. Insbesondere ist die Klägerin auf die Auskunft der Beklagten zum Umfang des Vertriebs wie beantragt angewiesen. Aufgrund der im gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht bestehenden Besonderheiten entspricht es für diesen Bereich einhelliger Meinung, dass das für eine Klage auf Feststellung der Schadensersatzpflicht nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Interesse grundsätzlich auch dann besteht, wenn der Kläger im Wege der Stufenklage (§ 254 ZPO) auf Leistung klagen kann (vergleiche dazu im Einzelnen BGH, Urteil vom 15. Mai 2003 – I ZR 277/00 – Feststellungsinteresse III, juris).
169Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.
170Streitwert: 40.000,00 EUR
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Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Gründe
I
1
Der Kläger zu 2 meldete für den Kläger zu 1 bei dem Beklagten für den 28. April 2017 eine Versammlung auf dem Platz der Vereinten Nationen direkt vor dem Eingang des World Conference Center in Bonn (WCCB) an, die anlässlich und parallel zur Jahreshauptversammlung der Beigeladenen stattfinden sollte.
2
Mit Bescheid vom 21. April 2017 bestätigte der Beklagte die Anmeldung der Versammlung unter Auflagen, er verlagerte den Versammlungsort aber vom Bereich des Haupteingangs des WCCB in den südöstlichen Bereich des Platzes (Ziffer 1 des Bescheids). Zur Begründung führte er aus, es sei zwingend erforderlich, die ca. 3 500 Teilnehmer der Jahreshauptversammlung vor Betreten des Gebäudes in einem vor dem Eingang errichteten Zelt und damit im Bereich des geplanten Versammlungsortes einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen. Das Kongresszentrum besitze für eine zügige Abwicklung keine ausreichenden Räumlichkeiten und eine Kontrolle vor Betreten des Gebäudes sei aus Sicherheitsgründen vorzugswürdig. Zur Herstellung der praktischen Konkordanz sei daher eine Verlegung der Versammlung und eine Abtrennung des Zugangsbereichs durch Zäune geboten. Der zugewiesene Bereich erlaube es den Versammlungsteilnehmern weiterhin, von den ankommenden Aktionären der Beigeladenen wahrgenommen zu werden und mit diesen zu interagieren.
3
Die von den Klägern angestrengten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und die mittlerweile auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellte Klage blieben erfolglos, soweit sie sich gegen die vorliegend noch streitige Verlagerung der Versammlung wandten. Das Berufungsurteil vom 4. Februar 2020 führt aus, die Verlagerung sei zur Vermeidung eines Nutzungskonflikts von § 15 Abs. 1 VersG gedeckt gewesen. Die Versammlungsbehörde habe hinreichend konkret dargelegt, dass andernfalls die unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und des Art. 12 Abs. 1 GG stehende Hauptversammlung und die berechtigten Sicherheitsinteressen der Beigeladenen beeinträchtigt würden. Das Berufungsgericht habe nach Durchführung eines Augenscheins und auf der Grundlage der Darlegungen der Beigeladenen keinen Anlass, an der Einschätzung der Versammlungsbehörde zu zweifeln, dass die vorhandenen Räumlichkeiten sich nicht dazu eigneten, 3 500 Aktionäre innerhalb eines Zeitfensters von ca. 45 Minuten einer Sicherheitsüberprüfung an den vorgesehenen acht Kontrollstellen zu unterziehen, ohne die notwendigen Rettungs- und Fluchtwege zu blockieren. Zudem lasse sich so der Gefahr vorbeugen, dass etwaige Konflikte ins Gebäude verlagert würden oder sich Unbefugte Zutritt zum Gebäude verschafften. Der von den Klägern angeregten Einholung eines Sachverständigengutachtens oder weiterer Zeugenaussagen bedürfe es nicht, weil die für eine tragfähige Gefahrenprognose erforderlichen Umstände bekannt gewesen seien. Dass die Versammlungsbehörde die Grundlage für ihre Gefahrenprognose auch aus Gesprächen mit der Beigeladenen als Ausrichterin der Hauptversammlung gewonnen habe, sei nicht zu beanstanden. Die Versammlungsfreiheit der Kläger werde nicht unverhältnismäßig beschränkt, weil die Versammlung in unmittelbarer Nähe zum Kongresszentrum und damit in symbolträchtiger Nähe zur Hauptversammlung habe stattfinden können und die Teilnehmer ihr Anliegen sowohl gegenüber der Öffentlichkeit als auch gegenüber den Besuchern der Hauptversammlung hätten kundtun können. Mit ihrer Beschwerde wenden sich die Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision.
II
4
Die auf das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde der Kläger ist zwar fristgerecht erhoben und mit Fax vom 9. April 2020 auch innerhalb der Frist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet worden. Sie bleibt aber ohne Erfolg.
5
1. Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass die Beschwerde eine Rechtsfrage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft, die sich in dem erstrebten Revisionsverfahren als entscheidungserheblich erweist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>). Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt für die Geltendmachung dieses Zulassungsgrundes die Bezeichnung einer konkreten Rechtsfrage, die für die Revisionsentscheidung erheblich sein wird, und Ausführungen zu dem Grund, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll. Die Beschwerde muss erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 23. Januar 2001 - 6 B 35.00 - WissR 34 <2001>, 377 Rn. 2 <= juris Rn. 3> und vom 9. Juli 2019 - 6 B 2.18 - NVwZ 2019, 1771 Rn. 7).
6
Die Beschwerde erachtet folgende Fragen als grundsätzlich bedeutsam:
"Reicht es in einer Situation, in welcher die Rechtsgüter zweier Privatrechtssubjekte (Versammlungsrecht einerseits, geschäftliche Privatveranstaltung andererseits) aufeinandertreffen für die Tragfähigkeit einer Gefahrenprognose der Versammlungsbehörde aus, sich allein auf ein mündlich dargelegtes Sicherheitskonzept(s) des Privatveranstalters zu verlassen oder muss die Versammlungsbehörde als Hoheitsträger im Rahmen der Amtsermittlung für die Gefahrenprognose eigenständige Ermittlungen zur Gefahrenlage vornehmen?"
"Darf die Versammlungsbehörde im Rahmen der Maßnahmen nach § 15 VersG von der zu stellenden Gefahrenprognose selbst betroffenen privaten Dritten die Kompetenz zum Erstellen ebendieser Gefahrenprognose faktisch übertragen, indem die Erforderlichkeit von dessen Sicherheitskonzept, welches gleichzeitig das Versammlungsrecht des Anmelders einschränkt, prüfungslos angenommen wird?"
"Darf hoheitliches Handeln in Form von Verfügungen gem. § 15 VersG auf eine Gefahrenprognose gestützt werden, welcher Tatsachenbehauptungen zugrunde gelegt werden, welche ausschließlich von einem privaten Dritten stammen und von der Versammlungsbehörde ohne eigene Prüfung übernommen werden?"
7
Dazu macht sie geltend, der Beklagte sei im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids nicht über die Details des Sicherheitskonzepts der Beigeladenen informiert gewesen und habe deren Angaben weder auf Plausibilität prüfen können noch seiner Entscheidung zugrunde legen dürfen. Mit diesem Vorbringen wird die Beschwerde den Darlegungsanforderungen an eine Grundsatzfrage (§ 133 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht gerecht.
8
Die von der Beschwerde in mehreren Varianten zugespitzte Fragestellung wäre in dem erstrebten Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, da das Oberverwaltungsgericht keine entsprechende Tatsachengrundlage festgestellt hat. Es ist vielmehr davon ausgegangen, dass die relevanten Eckpunkte des Sicherheitskonzepts (Schaffung einer Sicherheitszone vor dem WCCB durch Aufstellen eines Zelts zur Durchführung der Sicherheitsüberprüfung der Teilnehmer der Hauptversammlung, räumliche Trennung der Besucher der Hauptversammlung und der Versammlungsteilnehmer durch eine Zaunanlage) dem Beklagten bereits vor Erlass der Auflage bekannt waren (UA S. 14). Des Weiteren hat bereits im Verwaltungsverfahren vor Erlass des Bescheids ein Ortstermin u.a. mit drei Vertretern des Beklagten stattgefunden, bei dem die Örtlichkeiten gemeinsam in Augenschein genommen worden sind und die Beigeladene das Sicherheitskonzept konkret vor Ort erläutert hat (Verwaltungsvorgang Bl. 87 ff.). Angesichts dieser Ermittlungsmaßnahme (§ 26 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 VwVfG NW) kann nicht die Rede davon sein, dass der Beklagte keine eigenständige Aufklärung und Würdigung der tatsächlichen Umstände als Grundlage seiner Gefahrenprognose vorgenommen hätte. In tatrichterlicher Würdigung der Umstände des Einzelfalles hat die Vorinstanz schließlich ausgeführt, dass der Beklagte keine weitergehenden Erkenntnisse des Sicherheitskonzepts der Beigeladenen benötigt habe, um eine tragfähige Gefahrenprognose treffen zu können (UA S. 18 f.). Wegen der Bindung des Revisionsgerichts an die nicht mit Erfolg angegriffenen tatsächlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) der Vorinstanz sind die von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen für das Berufungsurteil und damit auch für das Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich.
9
Sie erweisen sich zudem - soweit sie sich unabhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles überhaupt einer abstrakten Rechtssatzbildung als zugänglich erweisen - nicht als klärungsbedürftig. Denn es entspricht ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass die zuständige Behörde Maßnahmen nach § 15 Abs. 1 VersG nur aufgrund einer konkreten tatsachengestützten Gefahrenprognose treffen darf, an die mit Blick auf die Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit keine zu geringen Anforderungen zu stellen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2014 - 6 C 1.13 - Buchholz 402.44 VersG Nr. 19; allgemein zu Maßnahmen nach § 15 VersG: BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233, 341/81 - BVerfGE 69, 314 <353 f.>). Damit ist implizit auch gesagt, dass die zuständige Behörde die ihr übertragene Aufgabe der Stellung einer Gefahrenprognose nicht aus der Hand geben darf und deren tatsächliche Grundlagen selbständig im Rahmen des § 24 VwVfG zu ermitteln hat. Das schließt aber nicht aus, dass sie bei der Erarbeitung der Prognosegrundlagen auch auf die Angaben der an einem Verwaltungsverfahren Beteiligten bzw. von einer bevorstehenden Verwaltungsmaßnahme Betroffenen zurückgreift und diese im Rahmen der ihr obliegenden freien Beweiswürdigung selbständig würdigt.
10
2. Die Kläger erstreben die Durchführung eines Revisionsverfahrens auch unter Verweis auf das Vorliegen eines Verfahrensfehlers, § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Das Berufungsurteil habe es unter Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO versäumt, den Vortrag der Versammlungsbehörde und der Beigeladenen, die Räumlichkeiten des Kongresszentrums eigneten sich nicht dafür, 3 500 Aktionäre innerhalb eines Zeitfensters von ca. 45 Minuten einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen, näher aufzuklären. Es wäre erforderlich gewesen und hätte sich dem Gericht aufdrängen müssen, durch eine Anfrage beim Kongresszentrum oder durch Einvernahme eines kundigen Mitarbeiters die Richtigkeit dieser Annahme zu untersuchen. Alternativ oder kumulativ hätte ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen. Eine weitere Aufklärung hätte den Beleg für die augenscheinlich zu bejahende Tatsache erbracht, dass die Kapazitäten des auf die Ausrichtung internationaler Kongresse fokussierten neu eröffneten Kongresszentrums für die Sicherheitsüberprüfung im Gebäude ausreichend gewesen wären und ein Zeltaufbau auf dem für die Versammlung ins Auge gefassten Vorplatz nicht erforderlich gewesen wäre. Mit diesem Vorbringen genügt die Beschwerde nicht den Darlegungsanforderungen an einen Aufklärungsmangel des Berufungsgerichts.
11
Zur ordnungsgemäßen Begründung einer Aufklärungsrüge muss gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände, die für das Gericht entscheidungserheblich waren, Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären, welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern deren Berücksichtigung auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Vorinstanz zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen. Dabei müssen die Beweismittel, deren Heranziehung sich dem Berufungsgericht hätte aufdrängen müssen, angegeben werden und es muss dargelegt werden, inwiefern das Urteil im Einzelnen auf der unterbliebenen Heranziehung beruht oder beruhen kann (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 31. Mai 2017 - 6 C 42.16 [ECLI:DE:BVerwG:2017:310517U6C42.16.0] - BVerwGE 159, 64 Rn. 31). Diesen Anforderungen genügt der Vortrag der Beschwerde nicht.
12
Zum einen lässt die Beschwerde außer Acht, dass das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) einen Augenschein durch den Berichterstatter eingenommen hat. Aus welchen Gründen die von der Beschwerde angeführten Beweistatsachen, die Räumlichkeiten des WCCB eigneten sich (nicht) dazu, 3 500 Aktionäre innerhalb eines Zeitraums von ca. 45 Minuten einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen, und damit zusammenhängend auch die (Un-)Möglichkeit der Installation von acht Sicherheitsschleusen im Gebäude ohne Blockade der notwendigen Rettungs- und Fluchtwege einer weiteren Aufklärung bedurft hätte, die sich der Vorinstanz auf der Basis seiner materiellrechtlichen Rechtsauffassung hätte aufdrängen müssen, wird von der Beschwerde nicht dargelegt. Zum anderen waren diese Fragen für die Entscheidung der Vorinstanz nicht allein ausschlaggebend. Denn das Berufungsgericht hat die Berechtigung der Überlegung des Beklagten nicht in Zweifel gezogen, die Sicherheitsüberprüfung vor das Kongresszentrum zu verlegen, um auf diese Weise der Gefahr vorzubeugen, dass sich etwaige Konflikte vom Vorplatz ins WCCB hineinverlagern oder sich Unbefugte zum WCCB Zutritt verschafften (UA S. 15, 18). Für diesen alternativen Argumentationsstrang im Rahmen der tatrichterlichen Beurteilung der behördlichen Gefahrenprognose erweisen sich die von der Beschwerde als aufklärungsbedürftig angesehenen Tatfragen als unerheblich.
13
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO). Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
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Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller begehrt, aufgrund der SARS-CoV-2-Epidemie nicht zum Präsenzunterricht herangezogen zu werden.
2
Der XX Jahre alte Antragsteller steht als beamteter Lehrer im Dienst des Landes Schleswig-Holstein. Er ist an der Gemeinschaftsschule XXX in XXX tätig. Der Antragsteller leidet u.a. an arterieller Hypertonie (Herzinfarkt 2015, mehrere Stents), Adipositas und Diabetes mellitus. Laut mehrerer vom Antragsteller vorgelegter ärztlicher Atteste (vom 21.04. sowie vom 04. und 05.08.2020) besteht bei ihm aufgrund seiner Vorerkrankungen bei einer etwaigen Infektion mit dem Virus SARS-CoV2 eine deutlich erhöhte Gefahr für einen schweren Krankheitsverlauf; der Antragsteller sei daher als sog. Risiko-Patient einzustufen. Die Betriebsärztin kam in ihrer Stellungnahme vom 13.08.2020 gleichwohl zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller unter Berücksichtigung des Schulstandortes, des Schultyps, der vorgegebenen Hygienerichtlinien, der daraus resultierenden Gefährdungsbeurteilung, des aktuellen Infektionsgeschehens und des schulischen Infektionsrisikos trotz der vorliegenden Gesundheitsstörungen im Rahmen der arbeitsvertraglich bzw. dienstrechtlich festgelegten Aufgaben an seiner Schule einsetzbar sei.
3
Bereits am 06.08.2020 hat der Antragsteller um gerichtlichen Eilrechtsschutz ersucht. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend:
4
Die Erbringung der Dienstleistung in Form des Präsenzunterrichts sei für ihn unzumutbar, da die Arbeitsschutzbestimmungen nicht eingehalten würden. Eine einzelfallbezogene Bewertung der für ihn bestehenden Gefahrenlage habe nicht stattgefunden. Viele Schülerinnen und Schüler sowie Kolleginnen und Kollegen kehrten vermutlich aus Urlaubsgebieten zurück, die sich aktuell wieder zu Risikogebieten entwickelten. Für seine Schule bestehe keine entsprechende Vorgabe, dass Schülerinnen und Schüler nur in solcher Zahl in die Schule zurückkehrten, wie dies zum Infektionsschutz gerade für ihn notwendig wäre.
5
Es existiere kein ausreichendes Hygienekonzept an seiner Schule und die konkrete Umsetzung des Konzeptes, die die Betriebsärztin sich nicht angesehen haben dürfte, weise diverse Mängel auf. So würden Abstände zwischen Schülern und Lehrkräften in den Klassenräumen nicht immer eingehalten. In Notfallsituationen und für aufsichtführende Lehrkräfte auf dem Hof könne der Abstand nicht eingehalten werden. Beim Anstehen in der Mensa, am Bäckerwagen, im Rahmen der Einbahnstraßenregelung im T-Gebäude, bei Regenpausen, an den Fahrradständern, am Ende der Pause am Eingang und auf dem Schulweg würden Kohorten durchmischt. Außerhalb der Schule begegneten die Schüler anderen Kindern aus verschiedenen Kohorten. Viele Fenster im Hauptgebäude ließen sich nicht öffnen. Im T-Gebäude habe trotz geöffneter Fenster bei gleicher Temperatur außen und innen kaum ein Gasaustausch stattgefunden. Im Pavillon habe ebenfalls „schlechte Luft“ geherrscht. Lüften werde im Winter vermehrt zu Erkältungen führen. Bei mehrstündigen Klausuren funktioniere das Lüftungskonzept nicht. Regenpausen seien in dem Konzept nicht bedacht worden. Die Möglichkeit von Schmierinfektionen sei nicht ausgeschlossen. Die Desinfektion in den naturwissenschaftlichen Räumen und für die Lehrercomputer funktioniere nicht. Nicht alle desinfizierten beim Verlassen der Räume die Pulte der Lehrkräfte. Dies gelte auch für die Toiletten. Sportgeräte würden gemeinsam genutzt. Das Waschen der Hände nur am Anfang und am Ende des Sportunterrichts scheine nicht ausreichend. Im Lehrerzimmer gelte keine Maskenpflicht. Im Unterricht nähmen die Kinder die Masken ab und schafften es nicht, sich diese aufzusetzen, bevor sie sich den Lehrkräften näherten. Es seien bislang keine FFP2-Masken bereitgestellt worden. Beim Kopieren und im Lehrerzimmer hätten viele Kollegen keine Maske auf, bei den Dienstversammlungen in der Mensa würden viele Kollegen diese erst auf Bitten aus dem Kollegium aufsetzen. Risikopatienten würden im Hygieneplan nicht berücksichtigt. Bestimmungen und Anweisungen seien nicht immer klar. Beim Hygieneplan fehle ein wirksames Kontrollsystem. Kritikpunkte, die Kolleginnen und Kollegen vorgetragen hätten, seien im Hygieneplan nicht eingearbeitet worden. Ein Lehrer sei für seine Kritik sowohl vom Personalrat als auch von der Schulleitung massiv kritisiert worden. Ein Lehrerzimmer für Risikogruppen sei derzeit nicht vorhanden. Eine ordnungsgemäße Gefährdungsbeurteilung durch die Betriebsärztin unter Berücksichtigung seiner schweren Erkrankungen habe nicht stattgefunden.
6
Schließlich habe sich das Infektionsgeschehen insbesondere auch im Kreis Stormarn verschlechtert.
7
Der Antragsteller beantragt,
8
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu untersagen, ihn - den Antragsteller - zum Präsenzunterricht heranzuziehen.
9
Der Antragsgegner beantragt,
10
den Antrag abzulehnen.
11
Er ist der Auffassung, dass der Antrag in der gestellten Form bereits unzulässig sei, da er vorbehaltlos und zeitlich nicht befristet gestellt sei. Jedenfalls sei der Antrag unbegründet. Der Antragsteller wäre durch die Wahrnehmung seiner Dienstpflichten nicht erheblichen Gefahren für seine Gesundheit ausgesetzt. Er habe keine Anhaltspunkte, an der Richtigkeit der individuell zu dem Antragsteller vorgenommenen arbeitsmedizinischen Bewertung zu zweifeln. Der Antragsteller sei in seiner Schule aktuell keinem über dem allgemeinen Lebensrisiko liegenden Risiko einer Infektion ausgesetzt. Er habe mit der Handreichung für Schulen „Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen im Rahmen des Schulbetriebs unter dem Aspekt des Schutzes vor Ansteckung durch das SARS-CoV-2“ vom 23. Juni 2020 sowie den „Corona-Reaktions-Plan Schule SH“ generelle Rahmenbedingungen zum Schutz der Beschäftigten geschaffen, die an der jeweiligen Schule umzusetzen seien. An der Gemeinschaftsschule XXX sei ein individueller Hygieneplan erstellt worden, der laufend überprüft und entsprechend den aktuell geltenden Vorgaben überarbeitet werde. Der Hygieneplan „Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen im Rahmen des Schulbetriebs unter dem Aspekt des Schutzes vor Ansteckung durch das SARS-CoV-2“ beinhalte Maßnahmen in Bezug auf die persönliche Hygiene für Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler, Maßnahmen in Bezug auf die Raumhygiene für Klassenzimmer, Fachräume, Lehrerzimmer, Kopierraum und Schulgebäude, Hygiene im Sanitärbereich, Infektionsschutz in den Pausen, Hygienemaßnahmen bei der Wegeführung sowie Regelungen zu Konferenzen und zur Meldepflicht.
12
Die Betriebsärztin habe die Schule des Antragstellers am 02.09.2020 gemeinsam mit dem Schulleiter und dem örtlichen Personalrat besichtigt und dem Schulleiter bestätigt, dass das aufgestellte Konzept von den organisatorischen Ansätzen gut strukturiert sei und einen ausreichenden Schutz der Lehrkräfte vor einer arbeitsplatzbedingten Covid-19-Infektion biete. Hinsichtlich der von der Betriebsärztin beanstandeten Lüftungssituation in den Klassenräumen im 1. OG Altbau solle durch Öffnung der stillgelegten Notausstiegsfenster Abhilfe geschaffen werden. Für Lehrkräfte mit einem gesundheitlichen Risiko werde ein zusätzlicher externer Schutzraum (ein Risikolehrkräftezimmer) angeboten. Der Umfang der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Bereich der Schulen sei nunmehr in einer Landesverordnung geregelt. Vom Leiter der Gemeinschaftsschule werde bestätigt, dass ein Mindestabstand von 1,5 Metern zur Lehrkraft einzuhalten sei. Werde der Abstand unterschritten, sei eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, und zwar auch in Dienstversammlungen und Konferenzen. Der Zugang zu den Kopierräumen sei begrenzt und es seien Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen. Lehrkräfte der Gemeinschaftsschule hätten die Möglichkeit gehabt, sich an dem Hygienekonzept zu beteiligen und Verbesserungsvorschläge anzubringen. Im Hygieneplan sei vorgesehen, diesen regelmäßig zu überprüfen und ggf. zu ändern, um neue Vorgaben einzuarbeiten oder den Plan den Gegebenheiten der Schule entsprechend besser anzupassen. Die Kontrolle des Konzeptes erfolge durch jede einzelne Lehrkraft. Es liege damit auch im Einflussbereich des Antragstellers, den Abstand einzuhalten und von den Schülerinnen und Schülern sowie den anderen Lehrkräften die Einhaltung der Vorgaben einzufordern. Seinen persönlichen Schutz könne der Antragsteller durch das Tragen einer FFP 2-Maske und/oder eines sog. Face Shields noch erhöhen. Der Gefahr von Schmierinfektionen könne er durch persönliche Hygienemaßnahmen entgegenwirken. Die Landesverordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus vom 01.09.2020 gewährleiste den Schutz durch ein Hereintragen der Infektion durch Reisende.
13
Damit seien unter Fürsorge- und Arbeitsschutzgesichtspunkten hinreichende Vorkehrungen getroffen worden, die geeignet seien, das Risiko einer Ansteckung auf ein vertretbares und zumutbares Maß zu begrenzen. Einen allumfassenden Gesundheitsschutz könne es während der pandemischen Lage nicht geben. Es gebe ihn im Übrigen auch in zahlreichen anderen Tätigkeitsbereichen nicht. Der besonderen Situation nach den Sommerferien werde durch zusätzliche präventive Schutzmaßnahmen wie die dringende Empfehlung zum Tragen von Schutzmasken und die Teststrategie des Bundes für die Rückkehrenden aus Risikogebieten ausreichend Rechnung getragen.
II.
14
Der nach §§ 122, 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sinngemäß darauf gerichtete Antrag des Antragstellers,
15
dem Antragsgegner einstweilig zu untersagen, ihn zum Präsenzunterricht heranzuziehen, bis der Antragsgegner ausreichende Maßnahmen zur Vermeidung einer Infektion bei ihm mit SARS-CoV-2 während seines Dienstes getroffen hat,
16
ist (noch) zulässig. Zwar ist der ursprünglich gestellte Antrag des Antragstellers hinsichtlich der Untersagung, ihn zum Präsenzunterricht heranzuziehen, weder zeitlich noch sachlich befristet. Er ist daher nicht geeignet, Gegenstand eines auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gerichteten Verfahrens zu sein. Es fehlt insofern - auch in Anbetracht der Grundsätze der ausnahmsweisen Zulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache wegen der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) - am vorläufigen Charakter des Rechtschutzbegehrens. Vielmehr wäre unmittelbare Folge der Stattgabe des ursprünglichen Antrags eine inzidente Feststellung der Dienstunfähigkeit, die jedoch die Regelungen der §§ 41 ff. Landesbeamtengesetz Schleswig-Holstein (LBG SH) umgehen würde. Dies ist vom Antragsteller offensichtlich nicht gewollt, mit der Folge, dass sein Antrag auszulegen ist. So rügt er im Wesentlichen, dass der Dienstherr und die Schule, an der er unterrichtet, keine ausreichenden Schutzmaßnahmen getroffen haben, um seinem individuell erhöhten Gesundheitsrisiko, das mit einer Infektion mit SARS-CoV-2 besteht, gerecht zu werden. Aus diesem Grund ist sein Antrag entsprechend seinem Begehren insofern zu begrenzen und seine Zulässigkeit zu bejahen.
17
Der Antrag bleibt allerdings in der Sache ohne Erfolg. Er ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht kann eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 VwGO). Dazu hat der Antragsteller Tatsachen glaubhaft zu machen, aus denen sich ergibt, dass ihm ein Anspruch, ein Recht oder ein sonstiges schützenswertes Interesse zusteht (sog. Anordnungsanspruch) und ferner, dass dieser Anordnungsanspruch in Folge einer Gefährdung durch vorläufige Maßnahmen gesichert werden muss, somit eine Eilbedürftigkeit besteht (sog. Anordnungsgrund, § 123 Abs. 3 VwGO in Verb. mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
18
Zwar hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Für die Kammer bestehen keinerlei Zweifel an der Eilbedürftigkeit einer Entscheidung, da das Schuljahr 2020/2021 bereits am 10. August 2020 begonnen hat, und damit der Antragsteller verpflichtet ist, im Rahmen seiner Dienstpflichten Präsenzunterricht durchzuführen.
19
Es fehlt jedoch an einem Anordnungsanspruch. Ein solcher setzt voraus, dass dem Antragsteller trotz der vom Antragsgegner und von der Gemeinschaftsschule XXX ergriffenen Maßnahmen die Durchführung von Präsenzunterricht unter Abwägung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn mit seiner beamtenrechtlichen Einsatzpflicht unzumutbar ist.
20
Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn wird verfassungsrechtlich durch Art. 33 Abs. 5 GG garantiert. Sie hat einfachgesetzliche Konkretisierungen in § 45 BeamtStG erfahren. Danach hat der Dienstherr im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses für das Wohl der Beamtinnen und Beamten und ihrer Familien zu sorgen und die Beamtinnen und Beamten bei ihrer amtlichen Tätigkeit und in ihrer Stellung zu schützen. Von der Fürsorgepflicht ist auch die Pflicht des Dienstherrn umfasst, für die Ausübung des Amtes angemessene Arbeitsbedingungen zu schaffen (BVerwG, Urteil vom 24.01.2013 - 5 C 12/12 - juris Rn. 24 mit weit. Nachw.). Der Beamte hat kraft der Fürsorgepflicht des Dienstherrn einen Anspruch gegen diesen auf Schutz nicht nur vor sicheren, sondern schon vor ernstlich möglichen Beeinträchtigungen seiner Gesundheit durch Einwirkungen am Arbeitsplatz (BVerwG, Urteil vom 13.09.1984 - 2 C 33/82 - juris Rn. 18).
21
Darüber hinaus sind die Vorschriften des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) unmittelbar auch auf Beamte anwendbar, § 2 Abs. 2 Nr. 4 ArbSchG (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 22.11.2017 - 2 LA 117/15 - juris Rn. 11). Dieses wird wiederum durch die Regelungen der Arbeitsstättenverordnung noch näher konkretisiert. Danach ist der Dienstherr verpflichtet, die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben und sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst geringgehalten wird, § 4 Nr. 1 ArbSchG. Nach § 4 Nr. 6 ArbSchG sind dabei auch spezielle Gefahren für besonders schutzbedürftige Beschäftigtengruppen zu berücksichtigen. Hieraus folgt im Einzelnen auch ein ggf. gerichtlich durchsetzbarer Anspruch des Beamten auf Einhaltung der gesetzlichen Arbeitsschutzvorschriften. Die Auswahl zwischen mehreren möglichen Mitteln zur Abhilfe liegt allerdings im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn (BVerwG, Urteil vom 13.09.1984, a.a.O., Rn. 19).
22
Der danach dem Antragsteller zustehende Anspruch auf Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften gewährt ihm jedoch nicht das Recht, seinen Dienst an der Gemeinschaftsschule XXX in Form von Präsenzunterricht zu verweigern. Ob diesbezüglich ein Verweigerungsrecht entsprechend § 273 BGB besteht, richtet sich nach den Umständen im jeweiligen Einzelfall. Das Interesse des Arbeitgebers, die Arbeitsleistung zu erhalten, ist abzuwägen mit dem individuellen Interesse des Arbeitnehmers an der Einhaltung der beanspruchten arbeitsrechtlichen Schutzpflichten. Entsprechendes gilt im öffentlichen Dienstrecht, wo die vom Antragsteller beanspruchte, durch arbeitsschutzrechtliche Regelungen konkretisierte Fürsorgepflicht des Dienstherrn in einem vergleichbaren Verhältnis zu seiner beamtenrechtlichen Einsatzpflicht (§ 34 Satz 1 BeamtStG) steht. Ein Recht zur Verweigerung der Arbeits- oder Dienstleistung besteht nur, wenn diese bei Nichteinhaltung der Schutzvorschriften unzumutbar ist (HessVGH, Beschluss vom 14.05.2020 - 1 B 1308/20 - juris Rn. 10 mit weit. Nachw.). Maßgeblich für die Beurteilung des Einzelfalls sind dabei insbesondere die vom Dienstherrn im Hinblick auf die Coronapandemie für den jeweiligen Dienstort aufgestellten Schutzkonzepte. Bieten diese neben dem Schutz der Allgemeinheit ausreichende Maßnahmen zum Individualschutz, um die Wahrscheinlichkeit einer Infektion des Beamten unter Berücksichtigung seiner Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe möglichst zu vermeiden, muss ein darüberhinausgehendes Dienstverweigerungsrecht ausgeschlossen sein.
23
Diesen - strengen - Maßstab für die Annahme eines Dienstverweigerungsrechts seitens eines Beamten zugrunde gelegt, ist ein Anspruch des Antragstellers auf Verweigerung des Präsenzunterrichts nicht glaubhaft gemacht. Die nach dem Vorstehenden gebotene Bewertung der Zumutbarkeit zur Heranziehung zum Dienst geht zu Lasten des Antragstellers aus. Denn die hier vom Antragsgegner und der Schule getroffenen Maßnahmen werden dem sich aus der Fürsorgepflicht und den arbeitsrechtlichen Schutzpflichten ergebenden Maßstab gerecht. Der Antragsteller ist nach § 34 Satz 1 BeamtStG verpflichtet, seine Kernaufgabe der Unterrichtserteilung zu erfüllen. Die Unterrichtserteilung erfolgt grundsätzlich gegenüber den Schülerinnen und Schülern in persönlicher Präsenz. Im Ergebnis führt die besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe nicht dazu, dass ihm die Erfüllung dieser Pflicht als Kern seiner beamtenrechtlichen Einsatzpflicht gegenwärtig nicht zugemutet werden kann.
24
Zwar gehört der Antragsteller grundsätzlich aufgrund seiner Erkrankungen zur Gruppe der besonders schutzbedürftigen Beschäftigten. Er ist unter Zugrundelegung der Information des Robert Koch-Instituts (SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 - COVID-19 - Stand: 02.10.2020) zunächst Teil einer der Personengruppen, bei denen im Fall einer Infektion mit SARS-CoV-2 häufiger schwere Krankheitsverläufe beobachtet werden. Die ergriffenen konkreten und im gerichtlichen Verfahren umfassend dargelegten Maßnahmen erscheinen gegenwärtig ausreichend, um das Risiko einer Erkrankung des Antragstellers an SARS-CoV-2 auch in Anbetracht der bei ihm erhöhten Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs auf ein zumutbares Maß zu reduzieren. Zu dieser Einschätzung ist die Betriebsärztin, eine Fachärztin für Arbeitsmedizin, nach einer Begehung der Gemeinschaftsschule XXX auf der Basis der einschlägigen rechtlichen Regelungen (ArbSchG, Biostoffverordnung und Infektionsschutzgesetz) gelangt. Sie hat die vom Antragsteller vorgelegten Atteste, das schulische Hygienekonzept und das derzeitige regionale Infektionsgeschehen berücksichtigt. Hinsichtlich der von ihr ausschließlich beanstandeten Lüftungssituation in den Klassenräumen des 1. Obergeschosses im Altbau soll laut Auskunft des Schulleiters in den Herbstferien durch Öffnung der stillgelegten Notausstiegsfenster Abhilfe geschaffen werden. Das Hygienekonzept der Schule als solches hat die Betriebsärztin als gut strukturiert und ausreichend angesehen, um die Lehrkräfte vor einer arbeitsplatzbedingten Covid 19 Infektion zu schützen.
25
Die Einwände des Antragstellers richten sich in erster Linie gegen die unzureichende Umsetzung des Konzeptes. Soweit der Antragsteller fehlende Regelungen für Regenpausen beanstandet, hat der Schulleiter in seiner Stellungnahme mitgeteilt, dass die Schüler in diesen Pausen in den ihnen zugewiesenen Pausenhofzonen verbleiben, also nicht in den Gängen bzw. den Klassenräumen. Hinsichtlich der Verpflichtung, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, fehlt es zwar im Hygienekonzept der Schule an einer Regelung. Einer solchen bedarf es jedoch auch nicht, da die Landesverordnung über besondere Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 an Schulen (Schulen-Coronaverordnung) vom 06.10.2020 in § 2 die Mund-Nasen-Bedeckungspflicht auf dem Gelände von Schulen regelt. Entsprechende Bestimmungen finden sich auch in der Handreichung für Schulen „Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen im Rahmen des Schulbetriebs unter dem Aspekt des Schutzes vor Ansteckung durch das SARS-CoV-2" vom 23. Juni 2020 (Stand 24.08.2020). Ein gesondertes Zimmer für Risikolehrkräfte (Schutzraum) mag noch nicht eingerichtet sein, wird dem Antragsteller jedoch laut Auskunft des Schulleiters angeboten, sobald er seinen Dienst an der Schule wiederaufnimmt. Soweit der Antragsteller die unzureichende Umsetzung des Hygienekonzeptes an der Schule beanstandet, muss er sich entgegenhalten lassen, dass es auch seine Aufgabe als an der Schule unterrichtende Lehrkraft ist, für eine Durchsetzung der aufgestellten Regeln, etwa die Einhaltung von Abständen und die Maskenpflicht im Unterricht und bei Dienstveranstaltungen zu sorgen. Darauf weisen der Antragsgegner und der Schulleiter der Gemeinschaftsschule zutreffend hin. Einen Aufenthalt in der von ihm angesprochenen Mensa und an den Fahrradständern, wo nach den Ausführungen des Antragstellers eine Durchmischung von Kohorten stattfindet, kann der Antragsteller vermeiden. Vom Antragsteller beanstandete Vorgänge auf dem Schulweg und außerhalb der Schule entziehen sich dem Einflussbereich der Schule und des Antragsgegners. Für die Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften ist der Dienstherr nur im Bereich der Schule verantwortlich. Der von dem Antragsteller angesprochene Bäckerwagen, an dem die Kohorten durchmischt würden, kommt nicht mehr. Es bleibt dem Antragsteller auch unbenommen, sein Pult selbst vor jedem Unterricht zu desinfizieren, durch eigene Hygienemaßnahmen mögliche Schmierinfektionen zu vermeiden und die Schüler im Sportunterricht - sollte er diesen überhaupt erteilen - zu weiteren, aus seiner Sicht erforderlichen Hygienemaßnahmen anzuhalten. Ein Austausch der Innenraumluft in den Klassenzimmern und Fachräumen ist laut Hygienekonzept der Schule durch mehrmals tägliches Stoßlüften zu gewährleisten. Eine entsprechende Regelung findet sich unter Ziffer 5 der Handreichung für Schulen „Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen im Rahmen des Schulbetriebs unter dem Aspekt des Schutzes vor Ansteckung durch das SARS-CoV-2“, wobei ein Querlüften auch nach Ansicht der Betriebsärztin bei Außentemperaturen von unter 15° nicht mehr möglich sein dürfte. Der beim Stoßlüften eher geringen Gefahr von Erkältungskrankheiten kann durch entsprechende Kleidung vorgebeugt werden.
26
Die Kammer hat auch keinen Anlass daran zu zweifeln, dass sowohl der Antragsgegner als auch die Schule des Antragstellers entsprechend auf das jeweilige aktuelle Infektionsgeschehen und etwaige steigende Fallzahlen reagieren werden. Der öffentliche Gesundheitsdienst hat gemäß § 34 Absatz 9 Infektionsschutzgesetz (IfSG) die notwendigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, soweit der Fall eintritt, dass die Gefahr einer Weiterverbreitung des Virus besteht. Beim Antragsgegner ist eine sog. Covid 19 Taskforce eingerichtet. Durch die 24-stündige Erreichbarkeit der mit der Hygiene beauftragten Betriebsärztin ist gewährleistet, dass umgehend auf eine mögliche Positiv-Testung von Schülern oder Lehrkräften reagiert werden kann. Die vorgesehenen Abläufe werden im „Corona-Reaktions-Plan Schule SH“ verdeutlicht, den der Antragsgegner vorgelegt hat. Zwar sind mittlerweile auch in Schleswig-Holstein wieder steigende Infektionszahlen zu beobachten (vgl. https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/coronavirus/Coronavirus-in-SH-65-neue-Infektionen-bestaetigt,corona4736.html). Allerdings erfolgen die meisten Ansteckungen nicht in der Schule, sondern im privaten Bereich (s. https://www.ndr.de/nachrichten/info/Corona-Faelle-Anteil-der-unter-35-Jaehrigen-stark-gestiegen,corona4170.html).
27
Aus dem Anspruch auf Fürsorge und aus den arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften ergibt sich kein Anspruch des Antragstellers darauf, an der Schule eine NulIrisiko-Situation anzutreffen. Ein allumfassender Gesundheitsschutz während einer pandemischen Lage kann nicht sichergestellt werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Schulen Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne des Infektionsschutzgesetzes sind, vgl. § 33 Nr. 3 IfSG. Mithin besteht in einer Gemeinschaftseinrichtung bereits eine allgemeine Infektionsgefährdung in Bezug auf sämtliche Infektionserkrankungen, denen sich eine Lehrkraft aufgrund ihrer Dienstleistungspflicht grundsätzlich auszusetzen hat. Seiner Pflicht als Dienstherr, mögliche Gesundheitsgefahren für die Lehrkräfte auf ein zumutbares Maß zu verringern, ist der Antragsgegner hinreichend nachgekommen.
28
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1 VwGO.
29
Die Streitwertentscheidung folgt aus §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG).
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Tenor
Der Bescheid vom 16. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Bewertung seiner Klausur.
2
Er ist als Student bei der Beklagten im Bachelorstudiengang „A...“ eingeschrieben. Am 27. Juni 2019 nahm er an der Klausur im Modul „B...“ teil. Vor dem Beginn der Bearbeitungszeit wurden die Studenten von den Aufsichtsführenden über die bestehenden Regelungen bei der Klausurbearbeitung, insbesondere auf die Klausurgrundsätze des Fachbereichs C... der D... hingewiesen. Dabei wurde auch erläutert, dass im Falle des Klingelns eines Handys dies als Täuschungsversuch gewertet würde.
3
Der Kläger hatte sein Handy vor der Bearbeitung in den Flugmodus versetzt und dieses ca. 40 Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt in seiner Tasche verstaut.
4
Um 10.00 Uhr - während der Bearbeitungszeit - klingelte der Wecker des klägerischen Handys. Daraufhin verwies die Aufsichtsführende, Frau E..., den Kläger aus dem Klausursaal. In der Folge wurde die Klausur des Klägers mit Bescheid vom 16. Oktober 2019 wegen einer Täuschungshandlug mit „nicht ausreichend“ bewertet.
5
Hiergegen wandte sich der Kläger mit seinem Widerspruch und trug vor, ein Täuschungsversuch liege nicht vor, da das bloße Mitführen von unerlaubten Gegenständen keine von der in der einschlägigen Vorschrift der Prüfungsordnung erfasste Täuschungshandlung und auch keine Benutzung eines nicht zugelassenen Hilfsmittels darstelle. Eine Benutzung eines solchen Hilfsmittels komme erst dann in Betracht, wenn sich dieses bei der Anfertigung der Klausur bei den Arbeitsmitteln auf dem Arbeitstisch oder im unmittelbaren Zugriff des Kandidaten befinde. Dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen.
6
Im zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2020 führte der Prüfungsausschuss für den Bereich „A...“ aus, der Kläger habe eine Täuschungshandlung begangen, indem er sein Handy in nicht ausgeschaltetem Zustand in den Klausursaal gebracht habe. Dies ergebe sich aus Nr. 6 der Klausurgrundsätze, welche den Teilnehmern der Klausur bekannt gewesen und auf welche diese vor Beginn der Klausur nochmals hingewiesen worden seien. Die Mitnahme des Handys sei durch den Kläger auch vorsätzlich erfolgt, da er dieses bewusst in den Flugmodus geschaltet habe. Irrelevant sei, dass sich das nicht ausgeschaltete Handy nicht unmittelbar am Arbeitsplatz befunden habe, sondern in ca. 40 m Entfernung von diesem. Auch Sende- und Empfangsgeräte, welche sich nicht unmittelbar am Arbeitsplatz im Klausurraum befänden, könnten zur Täuschung verwendet werden. Unter anderem sei die Kommunikation mit Dritten während der Klausur möglich. Das Ertönen der Weckerfunktion eines Handys an sich stelle bereits eine erhebliche Störung der Arbeitsfähigkeit aller Prüfungsteilnehmer dar. Hinzu komme die Störung durch die unvermeidbaren Rufe der Klausuraufsicht zur Identifikation des Störers, gerichtet an alle Klausurteilnehmer. Da die Störung durch die Weckerfunktion des Handys schnell beseitigt werden müsse, sei dieses Vorgehen durch die Klausuraufsicht unvermeidbar. Ansonsten würde die unmittelbare Störung durch die Weckerfunktion des Handys noch geraume Zeit andauern. Diese erhebliche Störung des ordnungsgemäßen Prüfungsablaufes durch den Kläger sei ebenfalls vorsätzlich erfolgt, da dieser sein Handy auf „Flugmodus“ eingestellt habe, anstatt es auszuschalten. Damit habe er die Störung billigend in Kauf genommen.
7
Die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides enthält u.a. folgende Formulierung: „Die elektronische Form wird durch eine qualifiziert signierte Datei gewahrt, die nach den Maßgaben der Landesverordnung über den elektronischen Rechtsverkehr mit den öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten vom 9. Januar 2006 (GVBl. S. 33) in der jeweils geltenden Fassung zu übermitteln ist.“
8
Der Kläger hat am 7. Februar 2020 bei Gericht einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für eine später einzureichende Klage gestellt. Die Kammer hat dem Kläger mit Beschluss vom 3. März 2020 - dem Kläger zugestellt am 5. März 2020 - Prozesskostenhilfe gewährt.
9
Mit seiner am 14. April 2020 erhobenen Klage trägt der Kläger vor, er habe am Vortag der Klausur um 10.00 Uhr einen wichtigen Termin gehabt und hierfür den Wecker auf seinem Handy für 10.00 Uhr eingestellt. Am Tag der Klausur habe er vergessen, diesen Wecker auszustellen. Ein vorsätzlicher Täuschungsversuch liege somit nicht vor. In anderen Fällen, die ihm bekannt seien, hätten die Klausurbearbeiter trotz Klingelns ihres Weckers weiterschreiben dürfen. Bereits aus diesem Grund sei die Entscheidung der Beklagten wegen eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG rechtswidrig und ermessensfehlerhaft. Durch den Flugmodus seien alle Funktionen, die zur Kommunikation oder Interaktion mit anderen Endgeräten oder Übertragungseinrichtungen dienten, deaktiviert. Er sei davon ausgegangen, dass auch die Weckerfunktion durch den Flugmodus deaktiviert werde. Auf das 40 m entfernte Handy habe er während der Klausurbearbeitung keinen Zugriff gehabt, sodass auch für ihn keine Möglichkeit bestanden habe, die Prüfung zu manipulieren. Dieses habe auch nicht als „elektronischer Spickzettel“ genutzt werden können; die Bluetooth-Reichweite eines Handys betrage nur ca. 10 m. Diese sei im Übrigen ausgeschaltet gewesen und es habe sich an seinem Arbeitsplatz auch kein Empfangsgerät befunden. Die Entscheidung, seine Klausur aufgrund einer „Störung“ mit „nicht ausreichend“ zu bewerten, sei unverhältnismäßig. Er habe, nachdem der Wecker geklingelt habe, seinen Platz nicht verlassen und sich nicht zu seiner Tasche begeben. Die Störung durch die Klausuraufsicht sei vermeidbar gewesen. Diese hätte die Tasche mitsamt dem Handy aus dem Klausurraum entfernen können, ohne die Klausurteilnehmer durch laute Rufe zu stören.
10
Der Kläger beantragt,
11
den Bescheid vom 16. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2020 aufzuheben.
12
Die Beklagte beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Sie trägt unter Wiederholung und Vertiefung der Begründung des Widerspruchsbescheides vor, der Kläger habe gegen Nr. 6 der Klausurgrundsätze verstoßen, indem er ein nicht ausgeschaltetes Handy in den Prüfungsraum mitgebracht habe. Dieser habe das Handy während der Klausurbearbeitung als elektronischen Spickzettel nutzen können. „Bluetooth“ könne auch im Flugmodus des Handys genutzt werden. Überdies habe der Kläger durch das Ertönen des Weckrufes eine Störung begangen, welche nach der Prüfungsordnung zur Bewertung der Prüfungsleistung mit „nicht ausreichend“ führe. Diese Störung sei vorsätzlich erfolgt, da er das Handy lediglich in den Flugmodus geschaltet habe. Die Ahndung des Täuschungsversuchs bzw. der Störung mit der Note „nicht ausreichend“ sei auch wegen der Erheblichkeit des Verstoßes verhältnismäßig. Überdies habe es sich bei der streitgegenständlichen Klausur nur um einen Verbesserungsversuch gehandelt. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liege nicht vor. Klingelnde Handys würden bei den Klausuren des Fachbereichs C... der D... bereits seit Jahren, mindestens seit dem Studienbeginn des Klägers, konsequent geahndet, da in den Klausurgrundsätzen des Fachbereiches C... bereits seit Jahren festgelegt sei, dass elektronische Sende- und Empfangsgeräte nur in ausgeschaltetem Zustand in den Prüfungsraum gebracht werden dürften.
15
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 29. September 2020 ihr Einverständnis zu einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung erklärt.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Beteiligten zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze sowie ein Heft Verwaltungs- und Widerspruchsakten verwiesen; sämtliche Unterlagen sind Gegenstand der Beratung gewesen.
Entscheidungsgründe
17
Die zulässige Klage, über welche das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO), ist begründet. Der Bescheid vom 16. Oktober 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I.
18
Die Klage ist zulässig.
19
Die Kammer kann offenlassen, ob der Kläger innerhalb der Monatsfrist des § 74 Abs. 1 VwGO Klage erhoben hat bzw. ob ihm Wiedereinsetzung in die Klagefrist gewährt werden muss. Denn die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids ist unrichtig i.S.d. § 58 Abs. 2 VwGO, sodass die dort vorgesehene Jahresfrist maßgeblich ist. Innerhalb dieser Jahresfrist ist Klage erhoben worden.
20
Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist unrichtig i.S.v. § 58 Abs. 2 VwGO, wenn entweder erforderliche Angaben nach § 58 Abs. 1 VwGO oder nicht erforderliche Angaben unzutreffend oder irreführend sind, soweit letztere geeignet sind, die Einlegung des Rechtsbehelfs nennenswert zu erschweren (vgl. W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 25. Aufl. 2019, § 58 Rn. 10 ff.). Zwar sind Angaben zur Form keine notwendigen Angaben i.S.v. § 58 Abs. 1 VwGO (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 1978 - 6 C 77.78 -, juris, Rn. 22; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 8. März 2012 - 1 A 11258/11 .OVG -). Werden in der Rechtsbehelfsbelehrung aber - wie hier geschehen - Angaben zur Form aufgeführt, sind diesbezügliche Fehler geeignet, die Einlegung des Rechtsbehelfes zu erschweren (BVerwG, a.a.O., Rn. 23; OVG RP, a.a.O.). Der Rechtsbehelfsführer kann in diesen Fällen nicht sicher beurteilen, in welcher Form er seinen Rechtsbehelf erheben kann.
21
Nicht relevant für die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung ist, welche konkrete Form der Beteiligte letztlich für die Einlegung seines Rechtsbehelfs gewählt hat. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass er bei korrekter Belehrung eine andere Form gewählt hätte. Entsprechend ist es ohne Bedeutung, dass der Kläger im vorliegenden Fall für die Erhebung seiner Klage die Schrift- und nicht die elektronische Form gewählt hat. Selbst wenn die Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung nicht kausal für die Verspätung des Rechtsbehelfes war, führt dies nicht zur Unanwendbarkeit von § 58 Abs. 2 VwGO (vgl. OVG RP, a.a.O.). Maßgeblich kommt es darauf an, dass der unrichtige Inhalt der Rechtsbehelfsbelehrung generell geeignet ist, die Einlegung des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs zu erschweren. Es braucht nicht nachgewiesen zu werden, dass die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung die Nichteinlegung des Rechtsbehelfs innerhalb der Klagefrist tatsächlich verursacht hat (BVerwG, a.a.O., Rn. 26).
22
Die Rechtsbehelfsbelehrung ist nach diesen Maßstäben im vorliegenden Fall unrichtig, weil sie eine unzutreffende Angabe in Bezug auf die Form der Klageerhebung beinhaltet und diese geeignet ist, die Erhebung der Klage zu erschweren. Die Rechtsbehelfsbelehrung weist im letzten Absatz auf die elektronische Form hin, welche durch eine qualifiziert signierte Datei gewahrt werde und nimmt diesbezüglich auf die „Landesverordnung über den elektronischen Rechtsverkehr mit den öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten vom 9. Januar 2006 (GVBl. S. 33)“ Bezug. Bei der Jahreszahl 2006 dürfte es sich um einen Schreibfehler handeln, da die entsprechende Landesverordnung im Jahr 2008 erlassen worden ist. Selbst wenn dies alleine noch nicht zur Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung führen sollte, ist eine solche aber deshalb anzunehmen, weil die entsprechende Landesverordnung bei Ergehen des Widerspruchsbescheides bereits durch die Landesverordnung über den elektronischen Rechtsverkehr vom 10. Juli 2015 (GVBl. S. 175) aufgehoben worden war.
23
Damit ist die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig und die Jahresfrist i.S.d. § 58 Abs. 2 VwGO maßgeblich.
II.
24
Die Klage ist auch begründet.
1.
25
Rechtsgrundlage für die Bewertung der streitgegenständlichen Klausur mit der Note „nicht ausreichend“ ist § 16 Abs. 3 Satz 1 der Ordnung für die Prüfung im Bachelorstudiengang A... an der D... vom 3. Juli 2013 (im Folgenden: PO) in Verbindung mit den dazu ergangenen einschlägigen Klausurgrundsätzen (im Folgenden: KG). Die Voraussetzungen der genannten Norm liegen nicht vor.
26
Nach § 16 Abs. 3 Satz 1 PO gilt die betreffende Prüfungsleistung als mit „nicht ausreichend“ bewertet, wenn der Student versucht, das Ergebnis der Prüfungsleistung durch Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel zu beeinflussen. In Bezug auf elektronische Sende- und Empfangsgeräte bestimmt Nr. 6 KG folgendes:
27
„Elektronische Sende- und Empfangsgeräte dürfen nur in ausgeschaltetem Zustand in den Prüfungsraum gebracht werden. Eine Mitnahme solcher Geräte an den Arbeitsplatz ist untersagt und gilt als Täuschungsversuch mit der Rechtsfolge, dass die betreffende Prüfungsleistung mit der Note,nicht bestanden' bewertet wird“.
28
Unter dem Blickwinkel der im Prüfungsrecht wesentlichen Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG sowie der rechtsstaatlichen Prinzipien der Rechtsklarheit und -vorhersehbarkeit handelt es sich bei Nr. 6 KG um eine Konkretisierung des § 16 Abs. 3 Satz 1 PO. Dies zugrunde gelegt, hätte der Kläger gegen Nr. 6 Satz 1 KG verstoßen, wenn man sein Handy als „eingeschaltet“ unterstellt. Dies bedeutet indes keinen Täuschungsversuch, wie Nr. 6 Satz 2 KG zeigt. Danach gilt (lediglich) die Mitnahme eines Sende- und Empfangsgerätes an den Arbeitsplatz als Täuschungsversuch. Erst ab diesem Schritt und nicht früher ist mithin nach dem Willen der Beklagten das Stadium eines sanktionierten Täuschungsversuchs erreicht. Eine solche Mitnahme des klägerischen Handys an den Arbeitsplatz lag - zwischen den Beteiligten unstrittig - hingegen nicht vor.
29
Unklarheiten in Bezug auf die Auslegung des § 16 Abs. 3 Satz 1 PO gehen unter dem Blickwinkel des verfassungsrechtlich gebotenen Gesetzesvorbehaltes zu Lasten der Beklagten. Sofern diese auch die Situation eines im Flugmodus befindlichen und entfernt vom Arbeitsplatz im Prüfungsraum aufbewahrten Mobiltelefons als zum Nichtbestehen der betreffenden Prüfungsleistung führenden Täuschungsversuch einordnet, hätte dies klar geregelt werden müssen. Die Kammer verweist diesbezüglich auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Februar 2019 - 6 C 3.18 -, wonach Sanktionsnormen im Rahmen berufsbezogener Prüfungen nach dem Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG strengen Anforderungen in Bezug auf ihre Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit unterliegen. Das Bundesverwaltungsgericht führt hierzu (a.a.O. Rn. 15) unter anderem folgendes aus:
30
„15a. Berufsbezogene Prüfungen sollen Aufschluss darüber geben, ob die Prüflinge über diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die einen Erfolg der Berufsausbildung und eine einwandfreie Berufsausübung erwarten lassen. Auf Grund des Gesetzesvorbehalts des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG obliegt es dem zuständigen Normgeber, den Prüfungsstoff, das Prüfungssystem, das Prüfungsverfahren sowie die Bestehensvoraussetzungen festzulegen (BVerfG, Beschlüsse vom 17. April 1991 - 1 BvR 419/81 u.a. - BVerfGE 84, 34 <45> und - 1 BvR 1529/84 u.a. - BVerfGE 84, 59 <72> sowie näher: BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2013 - 6 C 18.12 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 418 Rn. 19 ff.; Beschluss vom 22. Juni 2016 - 6 B 21.16 [ECLI:DE:BVerwG:2016:220616B6B21.16.0] - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 424 Rn. 10 und Urteil vom 15. März 2017 - 6 C 46.15 [ECLI:DE:BVerwG:2017:150317U6C46.15.0] - Buchholz 451.33 SprG Nr. 4 Rn. 11, 14). Dem Gesetzesvorbehalt unterfällt insbesondere auch jede Form der Sanktionierung des Fehlverhaltens eines Prüflings (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. November 1979 - 1 BvR 1022/78 - BVerfGE 52, 380 <388>; BVerwG, Beschluss vom 7. Dezember 1976 - 7 B 157.76 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 78 S. 59; Urteil vom 21. März 2012 - 6 C 19.11 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 412 Rn. 21 sowie Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 30, 221, 228). Dieser Gesetzesvorbehalt wird konkretisiert durch das prüfungsspezifische Bestimmtheitsgebot. Danach muss vor allem die Grenze zwischen dem Bestehen und dem Nichtbestehen einer Prüfung von dem Normgeber eindeutig gezogen sein (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 9. Juni 1993 - 6 B 35.92 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 315 S. 286, vom 9. Juni 1995 - 6 B 100.94 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 350 S. 79 f. und vom 13. Mai 2004 - 6 B25.04 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 406 S. 66). Dementsprechend unterliegen die Rechtsgrundlagen für die Verhängung von Sanktionen, die sich auf das Bestehen einer Prüfung auswirken, besonders strengen Bestimmtheitsanforderungen. Sowohl das zu sanktionierende Verhalten als auch die an dieses geknüpfte Sanktionsfolge müssen so klar ersichtlich sein, dass jeder Prüfling sein Verhalten problemlos danach ausrichten und jede Gefahr des Eingriffs in sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG vermeiden kann (BVerwG, Beschluss vom 7. Dezember 1976 - 7 B 157.76 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 78 S. 59 f.; Urteil vom 21. März 2012 - 6 C 19.11 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 412 Rn. 21,25 a.E.).“
31
Nach Maßgabe dieser höchstrichterlichen Grundsätze erachtet die Kammer den hier streitigen Sachverhalt - selbst bei Unterstellung einer Empfangsbereitschaft des klägerischen Mobiltelefons - als nicht mehr von der Sanktionsnorm des § 16 Abs. 3 Satz 1 PO gedeckt. Damit bedarf es keiner weiteren Aufklärung der Frage, ob das entfernt vom Arbeitsplatz des Klägers in einer Tasche abgelegte Handy kommunikationsbereit war.
2.
32
Die Benotung der Klausur des Klägers mit „nicht ausreichend“ kann auch nicht auf eine Störung des Prüfungsablaufs nach § 16 Abs. 3 Sätze 2 und 3 PO gestützt werden.
33
Der vorliegende Fall erfordert es nicht, die entsprechende Regelung
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„Studierende, die den ordnungsgemäßen Ablauf der Prüfung stören, können von den jeweils Prüfenden oder Aufsichtsführenden von der Fortsetzung der Prüfung ausgeschlossen werden. In diesem Fall gilt die betreffende Prüfungsleistung als mit,nicht ausreichend' bewertet.“
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auf deren Wirksamkeit hin zu überprüfen. Denn auch bei deren Zugrundelegung liegen die Voraussetzungen für einen Ausschluss des Klägers von der Fortsetzung der Prüfung nicht vor.
36
Es erscheint bereits fraglich, ob eine auf der Tatbestandsseite der Norm geforderte Störung des ordnungsgemäßen Ablaufs der Prüfung bejaht werden kann. Unter Beachtung des Grundrechts des Art. 12 Abs. 1 GG spricht einiges dafür, dass der Begriff der Störung ein vorsätzliches Handeln, sprich ein Wissen und Wollen in Bezug auf das ordnungswidrige Verhalten, impliziert. Bei dem vorliegenden Sachverhalt ist dagegen nur von einem fahrlässigen Verhalten auszugehen, nämlich einem Außerachtlassen der gebotenen Sorgfalt in Bezug auf die Einhaltung der Ordnungsvorschriften.
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Dies mag indes dahinstehen, da jedenfalls das durch § 16 Abs. 3 Satz 2 PO eröffnete Ermessen nicht im Rahmen des § 1 Abs. 1 des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes i. V. m. § 40 i. V. m. § 2 Abs. 3 Nr. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz ausgeübt worden ist. Danach hat die Behörde, wenn sie ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Diese Grenzen sind hier überschritten, da bei der Entscheidung über den Ausschluss des Klägers von der Prüfungsleistung der verfassungsrechtlich abgesicherte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend gewahrt wurde. Dieses Prinzip beinhaltet das Gebot der Erforderlichkeit der getroffenen Maßnahme und eines angemessenen Ausgleichs der beteiligten Interessen. Durch die Regelung des § 16 Abs. 3 Satz 2 PO soll eine möglichst zuverlässige Ermittlung der Fähigkeiten und Kenntnisse der anderen Prüflinge gewährleistet werden. Dem konnte die Beklagte genügen, ohne gegenüber dem Kläger sogleich eine Ausschlussentscheidung zu treffen. Durch das Ausschalten der Weckerfunktion, auch wenn dies einige Minuten gedauert haben mag, war die Störung dauerhaft beseitigt und ein Zeitverlust der übrigen Prüflinge hätte bei Bedarf durch eine kurze Schreibzeitverlängerung aufgefangen werden können. Angesichts der Grundrechtsrelevanz der nach § 16 Abs. 3 Satz 2 PO getroffenen Entscheidung hätte zudem Berücksichtigung finden müssen, dass keine Anhaltspunkte für eine mit Absicht begangene Störung des Prüfungsablaufs vorliegen.
38
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
39
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Entscheidung wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 der Zivilprozessordnung.
40
Beschluss
41
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt (§§ 52, 63 Abs. 2 GKG).
| {
"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
} |
Tenor
Der Vollzug von § 1 der Verordnung der Antragsgegnerin vom 21.8.2020 über das Offenhalten von Verkaufsstellen zum Erhalt, zur Stärkung und Entwicklung eines vielfältigen stationären Einzelhandels am 18.10.2020 wird im Wege einer einstweiligen Anordnung ausgesetzt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag,
2§ 1 der Verordnung der Antragsgegnerin vom 21.8.2020 über das Offenhalten von Verkaufsstellen zum Erhalt, zur Stärkung und Entwicklung eines vielfältigen stationären Einzelhandels am 18.10.2020 bis zur Entscheidung über den unter dem Aktenzeichen 4 D 180/20.NE geführten Normenkontrollantrag vorläufig außer Vollzug zu setzen,
3ist zulässig und begründet.
4Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO liegen vor. Nach dieser Bestimmung kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
5Das ist hier der Fall. Schon gemessen an dem für eine normspezifische einstweilige Anordnung allgemein anerkannten besonders strengen Maßstab erweist sich die angegriffene Regelung als offensichtlich rechtswidrig und nichtig. Ihre Umsetzung beeinträchtigt die Antragstellerin so konkret, dass eine einstweilige Anordnung deshalb dringend geboten ist.
6Die umstrittene Verordnungsregelung ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 LÖG NRW nicht gedeckt. Abgesehen davon, dass bezogen auf die in Rede stehende Verordnung die nach § 6 Abs. 4 Satz 7 LÖG NRW erforderliche Anhörung aus den Verwaltungsvorgängen nicht ersichtlich ist, wird die Regelung dem in § 6 LÖG NRW konkretisierten verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, der ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewährleistet und für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiert, zweifelsfrei nicht gerecht.
7Nach den den Beteiligten bekannten rechtlichen Maßstäben, die der Senat unter anderem bereits in seinen Beschlüssen vom 28.8.2020 ‒ 4 B 1261/20.NE ‒ und vom 3.9.2020 – 4 B 1253/20.NE – nochmals zusammengestellt hat, trägt die angegriffene Regelung in der streitgegenständlichen Verordnung der Antragsgegnerin dem verfassungsrechtlich geforderten Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen nicht ausreichend Rechnung. Sie stellt bereits nicht sicher, dass die für die Verkaufsstellenfreigabe jenseits bloß wirtschaftlicher Umsatzinteressen der Verkaufsstelleninhaber und alltäglicher Erwerbsinteressen potentieller Kunden angeführten Sachgründe für das Publikum während der freigegebenen Zeiten als gerechtfertigte Ausnahmen von der sonntäglichen Arbeitsruhe zu erkennen sind. Stattdessen prägt die beschlossene und auf die in § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 4 LÖG NRW genannten Sachgründe sowie die Bekämpfung der Umsatzeinbrüche aufgrund der Corona-Pandemie gestützte Sonntagsöffnung wegen ihrer öffentlichen Wirkung den Charakter des Tages in der vor allem durch den Einzelhandel geprägten Innenstadt von Warendorf in besonderer Weise. Sie dient erklärtermaßen der Zielsetzung, an dem festgesetzten Sonntag Kaufkundschaft in die Innenstadt zu locken und hierdurch Ladeninhabern dort die Möglichkeit zu bieten, Umsatz zu generieren, nachdem die Warendorfer Händler durch den pandemiebedingten Shutdown im Frühjahr 2020 und die danach andauernde Kaufzurückhaltung schwerer betroffen seien als die Händler umliegender Gemeinden. Warendorf habe nämlich in der Vergangenheit oft anlässlich verschiedener großer Veranstaltungen Kunden angezogen; entsprechende Umsätze fehlten in diesem Jahr. Zudem befänden sich im Mittelzentrum Warendorf eine im Vergleich zu den umliegenden Grundzentren hohe Anzahl an Geschäften aus dem Sortiment Textilien, Bekleidung und Schuhe, in dem besonders hohe Umsatzeinbußen zu verkraften gewesen seien. Der Ausnahmecharakter drücke sich auch darin aus, dass für 2020 insgesamt (jeweils durch eigenständige Ordnungsbehördliche Verordnung) nur drei verkaufsoffene Sonntage vorgeschlagen würden. Es geht also trotz der räumlichen Beschränkung auf die Innenstadt um eine Sonntagsöffnung mit großer prägender Wirkung für den öffentlichen Charakter des in Rede stehenden Tages, die geschäftlich besonders geprägte Bereiche erfasst und gegenständlich unbeschränkt ist. Von ihr geht eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeit und Betriebsamkeit aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet wird. Sie läuft nach dem Wegfall der ursprünglich geplanten Anlassveranstaltung nunmehr ohne einen Sachgrund mit überwiegender Prägekraft für den Charakter des Tages im Öffnungszeitraum jeweils auf eine weitgehende Gleichstellung mit den Werktagen und ihrer geschäftigen Betriebsamkeit hinaus, wodurch das verfassungsrechtlich stets zu wahrende Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes jedenfalls unterschritten wird.
8Letztlich laufen alle ausdifferenziert angeführten Gründe auch in ihrer Kumulation auf das von der Antragsgegnerin unterstützte Interesse hinaus, dem lokalen Einzelhandel an dem für die Ladenöffnung freigegebenen Sonntag sozusagen als Ausgleich für anlassbezogene verkaufsoffene Sonntage, die wegen der Corona-Pandemie ausgefallen sind, mit deren Einnahmen der Handel aber fest kalkuliert hat, anlasslos zusätzliche Einnahmen zu ermöglichen, um massive Einnahmeeinbußen während des Lockdowns und in der Zeit danach auszugleichen, und darüber hinaus in dem Stadtgebiet der Antragsgegnerin ohnehin bestehenden Problemlagen durch Förderung der Umsätze des ansässigen Einzelhandels entgegenzuwirken. Auf diese Weise sollen auch Arbeitsplätze erhalten werden. Da die Verkaufsstellenöffnung auch am streitgegenständlichen Sonntag wegen der Corona-Pandemie nicht auf einen besonderen örtlichen Anlass gestützt werden kann, hat die Antragsgegnerin im Wesentlichen Sachgründe angeführt, die das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie NRW in seinem seit dem 30.9.2020 aufgehobenen Erlass vom 9.7.2020, aktualisiert am 14.7.2020, im ganzen Land gleichermaßen als gegeben ansah, die bis Ende des Jahres praktisch überall für jeden Sonntag angeführt werden können und die schon deswegen das verfassungsrechtlich erforderliche Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen nicht wahren und zur Begründung einer auch am Gleichheitssatz zu messenden örtlichen Ausnahmeregelung ungeeignet sind. Soweit die Antragsgegnerin von einer besonderen Betroffenheit der Händler in ihrer Innenstadt ausgeht, ist dies zum einen schon nicht nachvollziehbar und zum anderen verfassungsrechtlich mangels Erkennbarkeit für sich allein zur Rechtfertigung einer Ladenöffnungsfreigabe gerade am 18.10.2020 ohnehin unzureichend. Denn etwaige örtliche Besonderheiten könnten in vergleichbarer Weise für jeden anderen Sonntag angeführt werden.
9Allein die zeitliche Beschränkung auf insgesamt drei Sonntagsöffnungen im Stadtgebiet kann das Fehlen eines zureichenden erkennbaren Sachgrundes nicht ausgleichen. Es ist höchstrichterlich geklärt, dass der Ausnahmecharakter der Sonntagsöffnung nicht auf deren Seltenheit und Kürze reduziert werden darf.
10Vgl. BVerwG, Urteil vom 22.6.2020 – 8 CN 1.19 –, GewArch 2020, 373 = juris, Rn. 16 bis 18.
11Selbst seltene ungerechtfertigte Ausnahmen von dem Gebot sonn- und feiertäglicher Arbeitsruhe bleiben ungerechtfertigte Ausnahmen, die einen Teil des Handels angesichts der – auch in den Nachbargemeinden an dem fraglichen verkaufsoffenen Sonntag – überwiegend durchgehaltenen sonntäglichen Arbeitsruhe unzulässig begünstigen, wegen ihrer Unzulässigkeit nach geltendem Recht auch den Beschäftigten nicht zuzumuten sind und gewerkschaftliche Aktivität über Gebühr erschweren. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilen vom 22.6.2020 ebenso klargestellt wie das Erfordernis rechtssicherer Maßstäbe für verfassungsrechtlich tragfähige Ausnahmen vom grundsätzlichen Sonntagsöffnungsverbot. Das selbstverständlich schützenswerte und von der Politik verfolgte Interesse an der Erhaltung des stationären Einzelhandels muss sich auch in Mittelzentren mit regulären Umsätzen, die die örtliche Kaufkraft übersteigen (hier: Einzelhandelszentralität von 106,8), im Rahmen der für alle geltenden Gesetze vollziehen und darf nicht auf Kosten derer gehen, die den verfassungsrechtlich fest abgesteckten Rahmen einhalten. Dabei ist unerheblich, ob das Ausschöpfen werktäglich vollständig freigegebener Verkaufsöffnungszeiten in jeder Gemeinde wirtschaftlich gleichermaßen sinnvoll erscheint.
12Seit über zehn Jahren ist durch das Bundesverfassungsgericht geklärt, dass Ausnahmen von der sonntäglichen Arbeitsruhe eines erkennbaren gewichtigen besonderen Sachgrundes bedürfen, der nicht darin liegen darf, dass der Handel auch an Sonn- und Feiertagen Umsatz erzielen möchte. Dabei hatte seinerzeit bereits das Bundesverfassungsgericht rein tatsächlich nur zu vernachlässigende beschäftigungspolitische Effekte von Sonntagsladenöffnungen festgestellt.
13Vgl. BVerfG, Urteil vom 1.12.2009 – 1 BvR 2857/07 u. a. –, BVerfGE 125, 39 = juris, Rn. 157, 170.
14Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, nachdem die Antragsgegnerin auf einen entsprechenden Hinweis auf zahlreiche einschlägige Entscheidungen, in denen die höchstrichterlich geklärten verfassungsrechtlichen Maßstäbe wiederholt dargelegt und in vergleichbaren Fallgestaltungen angewandt worden sind, ohne inhaltliches Eingehen hierauf lediglich mitgeteilt hat, eine gerichtliche Entscheidung sei gewünscht, die Verordnung solle aus politischen Gründen nicht aufgehoben werden, für Oktober sei auch keine Ratssitzung vorgesehen.
15Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
16Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG, und trägt dem Umstand Rechnung, dass eine einstweilige Regelung bezogen auf eine Freigabe für einen Sonntag begehrt wird, wofür der Senat in ständiger Praxis den Auffangstreitwert heranzieht.
17Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.6.2016 – 4 B 504/16 –, NVwZ-RR 2016, 868 = juris, Rn. 48 ff., m. w. N.
18Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Kostenfestsetzungsbeschluss vom 30.07.2020 dahingehend abgeändert, dass die von der Beklagten an den Kläger zu erstattenden Kosten 19.752,63 € statt (16.304,83 €) betragen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Der Beschwerdewert beträgt 3.447,80 €.
Gründe
I.
Der Kläger machte im Verfahren Schadensersatzansprüche wegen Arzthaftung gegen die Beklagte geltend. Dem zwischen den Parteien geschlossene Vergleich zufolge trägt die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits.
Der Kläger beantragte im Kostenfestsetzungsverfahren unter anderem, die Kosten zweier Privatgutachten gegen die Beklagte festzusetzen. Die Beklagte wandte sich gegen die Festsetzung der Kosten der Privatgutachter. Das vorgerichtliche Gutachten von Prof. Dr. S. sei nicht erforderlich gewesen, weil bereits zwei Gutachten in dem der Klage vorausgegangenen Schlichtungsverfahren eingeholt worden seien. Es sei vom Gericht auch nicht verwertet worden. Das erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung zur Schadenshöhe eingeholte Gutachten von Prof. Dr. M. sei schon aufgrund dieses Umstands nicht sachdienlich gewesen.
Am 30.07.2020 erging Kostenfestsetzungsbeschluss, mit dem die von der Beklagte an den Kläger zu erstattenden Kosten auf 16.304,83 € festgesetzt wurden. Die Ersatzfähigkeit der Kosten des Privatgutachtens von Prof. Dr. S. und Prof. Dr. M. verneinte die Rechtspflegerin. Der Kostenfestsetzungsbeschluss wurde dem Kläger am 24.08.2020 zugestellt.
Der Kläger legte mit Schriftsatz vom 02.09.2020, eingegangen per Telefax am selben Tag, sofortige Beschwerde gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss ein.
Der Kläger führt aus, das Gutachten von Prof. Dr. S. sei zur Prozessvorbereitung erforderlich gewesen. In dem von der Schlichtungsstelle eingeholten orthopädischen und unfallchirurgischen Gutachten von Prof. Dr. S. sei ein Behandlungsfehler verneint worden. Im ebenfalls von der Schlichtungsstelle eingeholten gefäßchirurgischen Gutachten sei nur ein Diagnosefehler bejaht worden, während der Klägervertreter der Auffassung gewesen sei, dass ein Befunderhebungsfehler vorlag. Gerade auch weil aus chirurgischer Sicht ein Behandlungsfehler im Schlichtungsverfahren nicht festgestellt worden sei, sei die Einholung des fachtraumatologischen Gutachtens des Prof. Dr. S. erforderlich gewesen, der einen Befunderhebungsfehler festgestellt habe. Das Gutachten sie nicht nur zur Beurteilung der Prozessaussichten, sondern auch zur rechtlichen Begründung der Klageschrift, die an vielen Stellen auf das Gutachten Bezug nehme, notwendig gewesen.
Das Gutachten von Prof. Dr. M. sei zu einem Zeitpunkt eingeholt worden, als die Haftung der Beklagten nur dem Grunde nach feststand. Ohne das Gutachten, aufgrund dessen sich die Parteien über die Höhe der Vergleichssumme geeinigt hätten, sei noch mit einer erheblichen Verfahrensdauer zu rechnen gewesen. Durch das Gutachten sei eine umfangreiche Beweisaufnahme zur Schadenshöhe vermieden worden. Das Gutachten sei notwendig gewesen, um die Schadenshöhe gegenüber der Beklagten nachzuweisen, ohne das Gutachten sei von einer geringeren Vergleichssumme auszugehen gewesen.
Die Beklagte hält die Gutachterkosten nicht für erstattungsfähig. Die vorgerichtlich durch die Schlichtungsstelle eingeholten Gutachten seien ausreichend gewesen, um den Kläger in die Lage zu versetzen, in der Klage vorzutragen. Das Gutachten von Prof. M. habe gegenüber dem gerichtlichen Sachverständigengutachten, das einen bleibenden Schaden bestätigt habe, keine neuen Erkenntnisse gebracht. Die Vergleichsverhandlungen seien durch das neue Gutachten eher erschwert worden.
Die Rechtspflegerin half der sofortigen Beschwerde unter dem 08.10.2020 nicht ab und legte die Akten dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor.
II.
Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde (§§ 104 Abs. 3, 567, 569 ZPO) hat auch in der Sache Erfolg. Dem Kläger sind von der Beklagten die Kosten des vorgerichtlich eingeholten Privatgutachten des Prof. Dr. S. zu erstatten, ebenso die Kosten des während des Verfahrens eingeholten Privatgutachtens des Prof. Dr. M. Der Festsetzungsbetrag erhöht sich daher um die Kosten der beiden Gutachten in Höhe von 1.919,00 € und 1.528,80 € auf 19.752,63 €.
1. Nach der Rechtsprechung des BGH sind nach § 91 Abs. 1 ZPO erstattungsfähige notwendige Kosten solche, die für Maßnahmen anfallen, die eine verständige und wirtschaftliche vernünftig denkende Partei als sachdienlich ansehen darf. Für die Beurteilung ist auf den Zeitpunkt der Veranlassung der die Kosten auslösenden Maßnahme abzustellen (BGHZ 192, 140). Dabei kann die Partei grundsätzlich nur solche außergerichtlichen Kosten geltend machen, die ihr selbst entstanden sind.
Die Kosten eines von einer Partei eingeholten Privatgutachtens sind nach einhelliger Meinung nur ausnahmsweise als Kosten des Rechtsstreits anzusehen. Sie können dann ausnahmsweise zu den erstattungsfähigen Kosten gehören, wenn sie unmittelbar prozessbezogen sind (BGH a.a.O.; BGH DS 2013, 188; BGH VersR 2009, 563). Holt eine Partei ein privates Sachverständigengutachten unmittelbar prozessbezogen ein, wird die Frage, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftig denkende Partei die kostenauslösende Maßnahme als sachdienlich ansehen durfte, in der Rechtsprechung des BGH in den Fällen bejaht, in denen die Partei in Folge fehlender Sachkenntnis ohne die Einholung des Privatgutachtens nicht zu einem sachgerechten Vortrag in der Lage war (BGH DS 2017, 132, 133). In aller Regel sind die Kosten für ein im Laufe des Rechtsstreits auf Veranlassung einer Partei erstelltes Privatgutachten nicht erstattungsfähig (OLG Köln, NJW-RR, 2010, 751, 751). Entscheidend ist, ob die Partei im Zeitpunkt der Einholung des Privatsachverständigengutachtens die Aufwendung dieser Kosten als notwendig und sachdienlich ansehen konnte.
Die Einholung eines Privatgutachtens während des Rechtsstreits ist in der Regel dann notwendig und sachdienlich, wenn der Partei die nötige Sachkunde fehlt, um ihren Anspruch schlüssig zu begründen, sich gegen die geltend gemachten Ansprüche sachgerecht zu verteidigen oder zu einem ihr ungünstigen, vom Gericht selbst eingeholten Sachverständigengutachten gezielt Stellung nehmen zu können (s. BGH NJW 1990, 122, 123; BGH NJW 2007, 1532; Senatsbeschlüsse vom 19.09.2018 - 11 W 1324/18, 08.05.2014 - 11 W 630/14, 05.06.2013 - 11 W 751/13 und 22.02.2016 - 11 W 192/16; OLG Hamm NJW-RR 1996, 830). Die Kosten eines prozessbegleitend privat eingeholten Sachverständigengutachtens sind deshalb lediglich ausnahmsweise erstattungsfähig, wenn das Gutachten prozessbezogen ist und zudem die eigene Sachkunde der Partei für ein klares Urteil in tatsächlicher Hinsicht nicht ausreicht, so dass sie sich berechtigterweise außer Stande sieht, ihrer Darlegungslast zu genügen, einen gebotenen Beweis anzutreten oder die Angriffe des Gegners sachkundig abzuwehren (OLG Köln a.a.O.). Eine komplette sachverständige Begleitung des Prozesses ist zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung in aller Regel nicht erforderlich (OLG Köln a.a.O.). Es steht der Partei zwar jederzeit frei, einen solchen sachverständigen Rat einzuholen, die Kosten sind jedoch nur im Ausnahmefall vom Gegner zu erstatten. Dass die Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen über „normale Fachkenntnisse“ hinausgehen, ist der Regelfall bei der Bestellung eines gerichtlichen Sachverständigen und kann nicht dazu führen, dass die Partei in jedem Fall Kosten für die Hinzuziehung eines Privatsachverständigen zur Überprüfung der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen hinzuziehen kann.
Bei der Entscheidung ist aber auch zu beachten, dass das Kostenfestsetzungsverfahren auf eine rasche, vereinfachte, anhand der Prozessakten vorzunehmende gebührenrechtliche Überprüfung zugeschnitten und deshalb knapp, bündig und formal ausgestaltet ist. Die Voraussetzungen zur Berücksichtigung eines Ansatzes sind im Kostenfestsetzungverfahren dazulegen und gemäß §§ 104 Abs. 2 S. 1, 294 ZPO glaubhaft zu machen, dem Rechtspfleger bzw. dem Gericht ist also die Einschätzung zu vermitteln, dass die Voraussetzungen „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit“ feststehen (BGH, Beschluss vom 13.07.2011 - IV ZB 8/11 Rz. 10; Senatsbeschluss vom 22.02.2016 - 11 W 192/16; Zöller-Herget, ZPO, 33. Aufl., § 104 Rz. 8).
2. Vorliegend sind diese Voraussetzungen für beide Privatgutachten erfüllt.
a) Unter Zugrundlegung dieser Erwägungen müssen die Kosten des Privatgutachtens von Prof. Dr. S. als erstattungsfähig angesehen werden, weil sie aus Sicht einer vernünftigen Partei erforderlich waren. Ein von der Schlichtungsstelle eingeholten Gutachten hatte einen Behandlungsfehler verneint, das weitere nur einen Diagnosefehler bejaht. Der Kläger wollte seine Ansprüche jedoch auf das Vorliegen eines Befunderhebungsfehlers stützen (mit der Folge einer günstigeren Beweissituation für den Kläger). Um hierzu geeigneten Vortrag zu halten, war die Einholung des Privatgutachtens von Prof. S. erforderlich, auf welches der Kläger auch in der Klage verschiedentlich Bezug nimmt. Der Kläger selbst verfügt hierzu nicht über die erforderlichen Fachkenntnisse.
b) Das Privatgutachten Prof. Dr. M. ist ebenfalls als erstattungsfähig anzusehen. Aus Sicht einer vernünftigen Partei war die Einholung erforderlich. Die Parteien befanden sich auf Anregung des Gerichts in Vergleichsverhandlungen während ein Verkündungstermin bestimmt war. Die Beklagte hatte den Kläger im nach der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz vom 30.01.2020 ausdrücklich aufgefordert, den Schaden konkret darzulegen, damit in sinnvolle Vergleichsverhandlungen eingetreten werden könne. Entgegen dem Vortrag der Beklagten im Kostenfestsetzungsverfahren stand daher aufgrund der bisher erhobenen Beweise die Schadenshöhe noch nicht fest. Das Gutachten diente auch nicht nur der Vorbereitung der Vergleichsverhandlungen der Parteien. Bei einer Weiterführung des Verfahrens, das nicht entscheidungsreif war, hätte der Kläger zur Schadenshöhe ebenfalls konkret vortragen müssen, insbesondere zur Frage der zukünftigen Auswirkung des Gesundheitsschadens auf die verschiedenen Lebensbereiche. Hierzu fehlen dem Kläger ebenfalls die erforderlichen Fachkenntnisse.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
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"language": "de"
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Tenor
Der Antrag wird verworfen.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 30.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Berufungszulassungsantrag ist unzulässig. Die Kläger haben die zweimonatige Antragsbegründungsfrist nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO versäumt. Diese lief mit dem 28. September 2020 ab, weil das Verwaltungsgericht das angefochtene Urteil den Prozessbevollmächtigten der Kläger am 28. Juli 2020 zugestellt hat. Bis heute haben die Kläger keine Antragsbegründung eingereicht. Die vollumfängliche Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Vortrag in der Antragsschrift vom 28. August 2020, die außerdem keine Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO nennt, stellt keine Antragsbegründung nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dar. Über die Antragsbegründungsfrist hat das Verwaltungsgericht die Kläger in der Rechtsmittelbelehrung zum angefochtenen Urteil zutreffend belehrt. Gründe für eine Wiedereinsetzung nach § 60 VwGO in die Antragsbegründungsfrist sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Dem Antrag der Prozessbevollmächtigten der Kläger im Schriftsatz vom 28. September 2020 auf Verlängerung der Begründungsfrist konnte der Senat aus den Gründen der Berichterstatterverfügung vom 29. September 2020 nicht stattgeben. Auch ein rechtzeitiger Hinweis auf diese Rechtslage, die einem Rechtsanwalt ohnehin hätte bekannt sein müssen,
3vgl. zur gesetzlichen Frist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO: BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2010 ‑ 8 B 124.09 ‑, juris, Rn. 4,
4war dem Senat unmöglich, weil der genannte Schriftsatz am Tag des Fristablaufs erst nach Dienstschluss bei Gericht eingegangen ist.
5Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
6Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG. Die Bedeutung von Staatsangehörigkeitsausweisen für die Kläger, auf die es nach diesen Vorschriften für die Streitwertfestsetzung ankommt, bemisst der Senat in ständiger Praxis in Anlehnung an Nr. 42.2 des Streitwertkatalogs 2013 (NWVBl. 2014, Heft 1, Sonderbeilage, S. 11) mit dem doppelten Auffangwert nach § 52 Abs. 2 GKG für jeden Kläger.
7OVG NRW, Beschlüsse vom 29. Juli 2020 ‑ 19 A 3048/19 ‑, juris, Rn. 18, vom 24. März 2020 ‑ 19 A 169/19 ‑, juris, Rn. 78 f., und vom 29. Januar 2020 ‑ 19 A 3378/19 ‑, juris, Rn. 7 f.
8Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 4. Kammer - vom 6. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1. und 2. sind nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird unter Abänderung der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Streitwertfestsetzung für beide Rechtszüge auf je 11.250,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin begehrt Eilrechtsschutz gegen eine den Beigeladenen zu 1. und 2. von der Antragsgegnerin für die Errichtung eines Einfamilienhauses mit zwei Einstellplätzen auf einem zu ihrem Grundstück rückwärtig gelegenen Grundstück erteilte Baugenehmigung; maßgeblich streitig ist im vorliegenden Beschwerdeverfahren der Gehalt einer ein Wegerecht begründenden Grunddienstbarkeit.
2
Die Antragstellerin und die Beigeladenen sind - bereits seit Mitte der 1970er Jahre - Grundstücksnachbarn an der Südseite des im Ortsteil F. der Antragsgegnerin gelegenen G. weg, der von der dort in Nord-Südost-Richtung verlaufenden H. straße nach Westen abzweigt und nach dem Grundstück G. weg 5 (Flurstück 129 der Flur 1 Gemarkung F.) in die freie Landschaft führt. Das inzwischen im Eigentum ihres Sohnes und ihrer beiden Töchter stehende Wohngrundstück der Antragstellerin G. weg 1A (Flurstücke 128/14 und 128/16) grenzt östlich an das in deren Eigentum stehende Wohngrundstück der Beigeladenen G. weg 3 (Flurstücke 128/2, 128/7 und 128/17) an und umschließt es südlich.
3
Die Antragstellerin ist zudem Eigentümerin des westlich der H. straße gelegenen Flurstücks 128/18 mit der postalischen Anschrift H. straße 9. Das 1.546 m² große Grundstück ist mit einem aufgrund einer Baugenehmigung aus 1993 ausgebauten und sanierten Fachwerkhaus mit aktuell fünf von der Antragstellerin vermieteten Wohneinheiten bestanden. Im Eigentum der Beigeladenen zu 2. stehen das Flurstück 128/24 und das daran nordöstlich angrenzende Flurstück 128/23, aus denen sich das hier streitbefangene Baugrundstück H. straße 9a zusammensetzt. Die 1.994 m² bzw. 30 m² großen Flurstücke waren bisher unbebaut.
4
Das Flurstück 128/24 liegt rückwärtig zu dem Flurstück 128/18 und hat auch an keiner anderen Stelle Anschluss an die in südlicher Richtung nach dem Grundstück H. straße 7 (Flurstück 128/20) nach Südwesten abknickende H. straße oder eine andere öffentliche Straße. Mit seiner Nordseite grenzt es an das Wohngrundstück der Antragstellerin. An seiner Ostseite liegen, wie bereits angeführt, das Flurstück 128/23 und südlich davon das Eigentumsgrundstück der Antragstellerin. Mit seiner Südseite schließt das Flurstück 128/24 an das in diesem Bereich mit einer großen Scheune bebaute Grundstück H. straße 5 (Flurstück 127/2) an. Westlich des Flurstücks 128/24 befinden sich nur Grünflächen. Zwar hat das Flurstück 128/23 unmittelbaren Anschluss an den G. weg, allerdings nur in einer Breite von etwa 2 m. Von dort aus verläuft es unter allmählicher Ausdehnung auf eine Breite von über 10 m zwischen der Ostseite des Wohngrundstücks der Antragstellerin und den Westseiten der Grundstücke G. weg 1 (Flurstücke 128/22 und 128/25) und H. straße 11 (Flurstücke 128/10 und 128/12) zum Flurstück 128/24.
5
Die Eigentümerstellung der Antragstellerin an dem Flurstück 128/18 besteht seit 1995. Zunächst hatten es ihre drei Kinder durch notariell beurkundeten Grundstückskaufvertrag vom 5. Dezember 1988, bei dessen Abschluss der Sohn der Antragstellerin von seinem Vater vertreten wurde, für 90.000,- DM von dem Ehepaar I. und J. K. erworben. Das bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem - damals stark sanierungsbedürftigen - Fachwerkhaus bestandene Flurstück 128/18 war zuvor durch Teilung des Flurstücks 128/15 gebildet worden. Das andere neu entstandene Flurstück 128/19, das als Pferdeweide genutzt wurde, verblieb im Eigentum der Eheleute K.. Herr K. verstarb bereits 1990. Frau K. vererbte das Flurstück 128/19 zusammen mit den Flurstücken 128/10 und 128/13 an die Beigeladene zu 2., ihre Nichte und ihr Patenkind. Im Jahr 2004 entstanden daraus die Flurstücke 128/24 und 128/23 sowie die nach der Umbildung von der Beigeladenen zu 2. veräußerten Flurstücke 128/22 und 128/25.
6
Bei der im Juni 1989 erfolgten Eintragung der Kinder der Antragstellerin als Eigentümer des Flurstücks 128/18 in das Grundbuch wurde auch eine Grunddienstbarkeit in Form eines Wegerechts an einem 3 m breiten Streifen des Grundstücks für den jeweiligen Eigentümer des Flurstücks 128/19 sowie ein Höchstbetrag des Wertersatzes gemäß § 882 BGB in Höhe von 10.000,- DM eingetragen. Entsprechende Vereinbarungen enthält § 7 des Vertrags vom 5. Dezember 1988, in dem die Grunddienstbarkeit als Recht, „einen Streifen von 3 m Breite an der nördlichen Grenze des Flurstücks 128/18 als Weg zum vorschriftsmäßigen Anschluß des Flurstücks 128/19 an das öffentliche Straßennetz anzulegen, zu unterhalten und zu benutzen“, benannt wird. Die Lage des 3 m breiten Streifens wurde in einem anliegenden Plan farblich gekennzeichnet.
7
Der Abstand zwischen der durch die Grunddienstbarkeit gesicherten Überwegung und der zu ihr gelegenen Seitenwand des Fachwerkhauses beträgt nach den von der Antragstellerin nicht substantiiert bestrittenen Angaben der Beigeladenen 5,60 m. Drei der fünf Wohneinheiten - eine im Erdgeschoss und zwei im Obergeschoss - haben zu dieser Seite Schlafräume. Die Mieterin der durch die Baugenehmigung aus 1993 als Weinstube genehmigten, später umgenutzten Erdgeschosswohnung hat sich aus eigenem Entschluss in dem Bereich zwischen Überwegung und Hauswand eine Terrasse errichtet.
8
Für das Baugrundstück und die anderen südlich des G. weg und westlich bzw. nordwestlich der H. straße gelegenen Flurstücke besteht kein Bebauungsplan. Nach dem Flächennutzungsplan der Antragsgegnerin 1981 gehörte das damalige Flurstück 128/19 zu den Flächen für die Landwirtschaft; zudem soll es als Friedhofserweiterungsfläche vorgesehen gewesen sein. Seit der 2004 wirksam gewordenen Neufassung des Flächennutzungsplans wird das dem früheren Flurstück 128/19 in etwa entsprechende Flurstück 128/24 wie die direkt am G. weg und an der H. straße gelegenen Grundstücke hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung als Dorfgebiet dargestellt. Diese Änderung hatten die Beigeladenen mit der Begründung angeregt, dass auf dem Flurstück eine Bebauung mit ein bis zwei Wohneinheiten vorgesehen sei.
9
Einem 2016 gestellten Antrag der Beigeladenen auf Erteilung einer Baugenehmigung zur Errichtung von zwei Wohnhäusern mit je zwei Wohneinheiten, acht Garagen und einem Hausanschlussraum auf dem Baugrundstück kam die Antragsgegnerin nicht nach. Die Ablehnung wurde nach Rücknahme der von den Beigeladenen erhobenen Verpflichtungsklage im Oktober 2019 rechtsbeständig.
10
Am 20. Juli 2018 erteilte die Antragsgegnerin den Beigeladenen - im vereinfachten Genehmigungsverfahren - die hier streitgegenständliche Baugenehmigung, die die „Errichtung eines Einfamilienhauses mit Abstellraum sowie zwei Einstellplätzen und Hausanschlussraum“ auf dem Baugrundstück gestattet. Der Standort des Wohnhauses mit einer Grundfläche von 11,50 m x 10,50 m mit angrenzendem Abstellraum befindet sich in der nach Auffassung der Antragsgegnerin im unbeplanten Innenbereich liegenden östlichen Hälfte des Flurstücks 128/24 unweit seiner südlichen Grenze. Im Übergang zum Flurstück 128/23 soll ein Wendekreis angelegt werden, an den die beiden Einstellplätze im Abstand von 3 m zur nördlichen, mit dem Wohngrundstück der Antragstellerin gemeinsamen Grenze des Flurstücks 128/24 westlich angrenzen. Der Hausanschlussraum wird auf dem Flurstück 128/23 an der Grenze zum Grundstück H. straße 11 errichtet.
11
Zur planungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens wurde in einem internen Prüfbericht festgehalten, dass die nähere Umgebung des Baugrundstücks einem Dorfgebiet entspreche, in dem das geplante Wohnhaus hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung allgemein zulässig sei. Bei Anlegung der beiden notwendigen Einstellplätze im nordöstlichen Bereich des Flurstücks 128/24 seien keine unzumutbaren Beeinträchtigungen für die Nachbarschaft zu erwarten. Die Erschließung des Baugrundstücks sei aufgrund des eingetragenen Wegerechts über das Eigentumsgrundstück der Antragstellerin und der Möglichkeit der Leitungsverläufe über das Flurstück 128/23 gesichert.
12
Gegen die ihr förmlich bekannt gegebene Baugenehmigung legte die Antragstellerin fristgerecht Widerspruch ein, zu dessen Begründung sie maßgeblich geltend machte, dass die zu Lasten ihres Grundstücks eingetragene Grunddienstbarkeit die genehmigte Nutzung nicht umfasse. Bei ihrer Bestellung habe es sich bei dem Flurstück 128/19 um eine einfache Wiese gehandelt. Das Wegerecht habe Herrn K., der hiervon auch nur sporadisch Gebrauch gemacht habe, lediglich die Möglichkeit geben sollen, die Wiese weiterhin zu erreichen, um dort auch als Rentner Pferde halten zu können. Die Errichtung eines Wohnhauses mit zwei Einstellplätzen auf dem jetzigen Flurstück 128/24 stelle sich als nicht vorhersehbare und willkürliche Nutzungsänderung dar. Aus ihr ergebe sich auch eine solche zusätzliche Belastung ihres Grundstücks, dass ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme vorliege. So befände sich an der Überfahrt eine Terrasse mit Sitzplätzen; zudem sei eine Wohnung direkt auf den Weg ausgerichtet. Auch wegen des geringen Abstandes zu den Wohn- und Schlafräumen ihrer Mieter seien die mit dem An- und Abfahrtsverkehr verbundenen Immissionen nicht zumutbar.
13
Im Oktober 2018 stellten die Beigeladenen einen zusätzlichen Bauantrag. Nach ihren Angaben zwingen Rentabilitätserwägungen zu einer Vorhabenerweiterung. Sie möchten deshalb im östlichen Teil des Baugrundstücks nördlich an das von der Baugenehmigung vom 20. Juli 2018 erfasste Einfamilienhaus angrenzend ein zweites Einfamilienhaus mit einer Grundfläche von 11,50 m x 10,50 m mit Abstellraum sowie im nordöstlichen Grundstücksbereich zwei zusätzliche Stellplätze errichten. Die Antragsgegnerin kündigte den Beigeladenen unter dem 11. Oktober 2019 die Ablehnung ihres Antrags an. Der Neubau eines weiteren Wohnhauses würde den gesamten Fahrzeugverkehr in den rückwärtigen Bereich hinein verdoppeln, so dass dann von einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Grundstücksnachbarn auszugehen sei.
14
Den Widerspruch der Antragstellerin gegen die den Beigeladenen am 20. Juli 2018 erteilte Baugenehmigung wies die Region B-Stadt demgegenüber durch Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 2019 als unbegründet zurück. Daraufhin hat die Antragstellerin am 4. Juli 2019 Anfechtungsklage erhoben. Ihren zudem am 20. September 2019 gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage hat das Verwaltungsgericht nach Übertragung des Rechtsstreits auf die Einzelrichterin mit Beschluss vom 6. Februar 2020 abgelehnt. Die planungsrechtliche Zulässigkeit des durch die Baugenehmigung vom 20. Juli 2018 erfassten Vorhabens der Beigeladenen richte sich nach § 34 BauGB. Der Auffassung der Antragstellerin, dass das Baugrundstück im Außenbereich liege, sei nicht zu folgen. Dem in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Erfordernis einer gesicherten Erschließung komme schon keine nachbarschützende Funktion zu. Die zu Lasten des Eigentumsgrundstücks der Antragstellerin eingetragene Grunddienstbarkeit lasse aber auch die genehmigte Wohnnutzung zu. Schließlich sei nicht ersichtlich, dass die Nutzung des Wegerechts und die Anordnung der Stellplätze gegenüber der Antragstellerin rücksichtslos seien.
II.
15
Die dagegen erhobene Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg. Die zulässige Beschwerde, auf deren fristgerecht vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, ist unbegründet.
16
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht die Anforderungen an den Erfolg eines Nachbareilantrags nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO nicht zu gering angesetzt. Nach der Rechtsprechung des Senats kommt eine Stattgabe erst dann in Betracht, wenn Überwiegendes für die Annahme spricht, der Rechtsbehelf des Nachbarn sei jedenfalls derzeit begründet (vgl. Senatsbeschl. v. 18.2.2020 - 1 ME 103/19 -, juris Rn. 8 m.w.N.). Hierfür ist allein maßgeblich, ob die Antragstellerin durch die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 20. Juli 2018 in ihren Rechten verletzt ist; auf deren objektive Rechtmäßigkeit kommt es nicht an (vgl. BVerwG, Urt. v. 6.10.1989 - 4 C 14.97 -, juris Rn. 9). Eine Verletzung der Antragstellerin in eigenen Rechten ist aber auch aufgrund des Beschwerdevorbringens nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit dargetan.
17
Für die Entscheidung über die Beschwerde kann offenbleiben, ob - wie das Verwaltungsgericht und die Antragsgegnerin meinen - das Flurstück 128/24 bzw. jedenfalls seine für die Bebauung vorgesehene östliche Hälfte im unbeplanten Innenbereich gemäß § 34 BauGB liegt, weil es als Baulücke an dem durch die Straßenrandbebauung des G. weg und der H. straße gebildeten Bebauungszusammenhang teilnimmt. Denn es ist weder dargetan noch ersichtlich, dass eine Außenbereichslage des Baugrundstücks der Antragstellerin zu weitergehenden Rechten verhelfen würde. Das Erfordernis einer gesicherten Erschließung besteht - unabhängig von der Frage dessen nachbarschützenden Gehalts - nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB und § 35 Abs. 1 Halbs. 1 BauGB gleichermaßen. Einen Anspruch darauf, dass auf einem an ihr Eigentumsgrundstück angrenzenden Außenbereichsgrundstück nur nach § 35 Abs. 1 Halbs. 2 BauGB privilegierte und gemäß § 35 Abs. 2 BauGB zulassungsfähige Vorhaben errichtet werden, hat die Antragstellerin nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht fest, dass sich der Nachbarschutz im Rahmen von § 35 BauGB auf die Einhaltung des in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB verankerten Gebots der Rücksichtnahme beschränkt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.4.1995 - 4 B 47.95 -, juris Rn. 1). Ihre Auffassung, dass das Flurstück 128/24 schon zum Außenbereich gehöre, hat die Antragstellerin in der Beschwerdebegründung auch nicht weiter vertieft. Sie greift maßgeblich die Annahmen des Verwaltungsgerichts an, dass die verkehrliche Erschließung des Baugrundstücks durch die zu Lasten des in ihrem Eigentum stehenden Grundstücks eingetragene Grunddienstbarkeit gesichert und die Nutzung des Wegerechts nicht rücksichtlos sei. Mit ihren insoweit vorgetragenen Einwänden vermag die Antragstellerin aber nicht durchzudringen.
18
Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die der Baugenehmigung vom 20. Juli 2018 zugrundeliegende Bewertung der Antragsgegnerin, die verkehrliche Erschließung sei aufgrund des eingetragenen Wegerechts über das Eigentumsgrundstück der Antragstellerin gesichert, überprüft. Zwar ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass sich Nachbarn ohne eine sie eigentumsrechtlich unmittelbar belastende Wirkung der angefochtenen Baugenehmigung nicht auf ein etwaiges Fehlen der gesicherten Erschließung berufen können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.7.2010 - 4 B 19/10 -, juris Rn. 3 m.w.N.). Vorliegend kommt aber eine solche Rechtsverletzung der Antragstellerin im Hinblick auf ihr grundrechtlich geschütztes Eigentumsrecht in Betracht. Denn, wie das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls entschieden hat, ergibt sich ausnahmsweise dann unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ein Abwehranspruch, wenn eine rechtswidrige Baugenehmigung durch die in ihr enthaltene verbindliche Feststellung, dass das Vorhaben mit dem Baurecht übereinstimmt, dem Nachbarn, der sich im Zivilprozess gegen die Inanspruchnahme seines Grundstücks auf der Grundlage des § 917 Abs. 1 BGB zur Wehr setzt, den Vortrag abschneidet, die Benutzung des Baugrundstücks sei schon deshalb nicht ordnungsgemäß, weil sie dem öffentlichen Baurecht widerspreche. Obwohl die Baugenehmigung unbeschadet privater Rechte Dritter ergeht (vgl. auch Senatsbeschl. v. 12.7.1999 - 1 L 4258/98 -, juris Rn. 9), löst sie in Richtung auf die Entstehung eines Notwegerechts gleichsam eine Automatik aus. Deshalb hat sie aus Sicht des betroffenen Nachbarn insoweit Eingriffsqualität (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11.5.1998 - 4 B 45.98 -, juris Rn. 8; siehe auch Senatsurt. v. 21.1.2016 - 1 LB 57/15 -, juris Rn. 14). Zwar schafft die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein in Rede stehende vorläufige Ausnutzbarkeit der Baugenehmigung der Beigeladenen noch keine vollendeten Tatsachen in Bezug auf das Recht der Antragstellerin, von der Bestellung eines über die zulasten ihres Eigentumsgrundstücks eingetragene Grunddienstbarkeit hinausgehenden Notwegerechts nach § 917 Abs. 1 BGB verschont zu bleiben (vgl. Senatsbeschl. v. 5.4.2019 - 1 ME 16/19 -, n.v., Beschlussabdruck S. 4). Der Erfolg des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens hängt jedoch von der Begründetheit des Rechtsbehelfs in der Hauptsache ab. Deswegen ist bereits in ihm eine etwaige sich mit dem Eintritt der Bestandskraft der Baugenehmigung vom 20. Juli 2018 ergebende Verletzung des Eigentumsrechts der Antragstellerin in den Blick zu nehmen.
19
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist das Prüfungsergebnis des Verwaltungsgerichts, nach dem das als Dienstbarkeit gemäß § 1018 BGB eingetragene Wegerecht auch die Nutzung zur Erschließung des Flurstücks 128/24 als Wohngrundstück, d.h. als Zufahrt zu den dort zu errichtenden Stellplätzen erfasst, nicht zu beanstanden. Ihr Vorwurf, das Verwaltungsgericht habe bei der Ermittlung des ursprünglichen Inhaltes und des Sinns der Grunddienstbarkeit in entsprechender Anwendung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die geschilderten Umstände außerhalb des Textes der Urkunde fehlerhaft herangezogen und gewichtet, trifft nicht zu.
20
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die auch die Antragstellerin der Beurteilung zugrunde legen will, gilt, dass Inhalt und Umfang einer - wie im vorliegenden Fall - zeitlich unbegrenzten Dienstbarkeit nicht in jeder Beziehung von vornherein für alle Zeiten festliegen, sondern gewissen Veränderungen unterworfen sind, die sich aus der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung ergeben. Maßgeblich ist nicht die augenblickliche, bei Bestellung der Grunddienstbarkeit gerade bestehende Benutzung; es kommt vielmehr auf den allgemeinen, der Verkehrsauffassung entsprechenden und äußerlich für jedermann ersichtlichen Charakter des betroffenen Grundstücks an sowie auf das Bedürfnis, von dem Wegerecht in diesem Rahmen Gebrauch zu machen. Dementsprechend kann der Umfang einer Dienstbarkeit mit dem Bedürfnis des herrschenden Grundstücks wachsen, wenn sich die Bedarfssteigerung in den Grenzen einer der Art nach gleichbleibenden Benutzung dieses Grundstücks hält und nicht auf eine zur Zeit der Dienstbarkeitsbestellung nicht vorhersehbare oder auf eine willkürliche Benutzungsänderung zurückzuführen ist (vgl. z.B. BGH, Urt. v. 11.4.2003 - V ZR 323/02 -, juris Rn. 13 m.w.N.).
21
Weiter ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die der Senat bereits in seinem auch von dem Verwaltungsgericht zitierten, mangels anderslautender höchstrichterlicher Entscheidungen noch hinreichend aktuellen Urteil vom 2. Juli 1999 zusammengefasst hat, dass sich der Umfang eines nach § 1018 BGB als Grunddienstbarkeit bestellten Wegerechts in erster Linie nach dem Wortlaut der Eintragung bzw. der Bewilligung bemisst, welche dieser Eintragung zugrunde liegt, sowie nach den sonstigen ohne weiteres erkennbaren Umständen. Ist das Wegerecht danach ohne Einschränkung eingeräumt worden, kommt eine solche allenfalls dann und insoweit in Betracht, als ein unbefangener Betrachter unter Berücksichtigung des Grundbuchinhalts und aller zu seiner Auslegung verwertbaren Umstände daraus den eindeutigen Schluss auf eine Einschränkung ziehen würde. Es müsste mit anderen Worten ohne weiteres erkennbar sein, dass das nur dem Wortlaut nach uneingeschränkt eingeräumte Wegerecht in Wahrheit geringeren Umfangs hatte bestellt sein sollen (Senatsurt. v. 2.7.1999 - 1 L 5277/96 -, juris Rn. 40 m.w.N.).
22
Nach diesen Maßgaben lässt die zu Lasten des Grundstücks der Antragstellerin eingetragene Grunddienstbarkeit die Nutzung der Überwegung mit Kraftfahrzeugen zur verkehrlichen Erschließung des Baugrundstücks als Wohngrundstück zu. Denn das durch § 7 des Grundstückskaufvertrags vom 5. Dezember 1988 konkretisierte Recht, einen Streifen von 3 m Breite an der nördlichen Grenze des Flurstücks 128/18 als Weg zum vorschriftsmäßigen Anschluss des Flurstücks 128/19 bzw. jetzt 128/24 an das öffentliche Straßennetz anzulegen, zu unterhalten und zu benutzen, enthält nicht nur keine Einschränkung hinsichtlich der Art oder des Zwecks der Nutzung. Die in dem Vertragstext verwandte Formulierung „zum vorschriftsmäßigen Anschluss an das öffentliche Straßennetz“ zielt darüber hinaus ersichtlich auf das Erfordernis einer gesicherten (verkehrlichen) Erschließung, wie es für die Zulässigkeit von Vorhaben nach §§ 30, 34 und 35 BauGB bestimmt ist. Der Vortrag der Antragstellerin, dass das Wegerecht allein die Bewirtschaftung der Weide habe sichern sollen, es nur dafür ausgelegt sei, gelegentlichen Traktorverkehr zur Pflege der Weide und im Übrigen Personenverkehr in der Person des ehemaligen Eigentümers sowie weniger mit der Pflege der Weide betrauter Personen zu gewährleisten, findet daher in dem Wortlaut der Bewilligung keinen Niederschlag.
23
Es ist auch nicht - aus Sicht eines unbefangenen Betrachters - ohne weiteres zu erkennen, dass das dem Wortlaut nach uneingeschränkt eingeräumte Wegerecht in Wahrheit geringeren Umfangs hatte bestellt sein sollen. Die im Beschwerdeverfahren erfolgte Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ihrer beiden bei Abschluss des Kaufvertrags vom 5. Dezember 1988 anwesenden Töchter vom 21. Dezember 2018 hilft der Antragstellerin nicht weiter. Zwar tragen die Töchter der Antragstellerin darin vor, dass nach den von Herrn J. K. und ihrem Vater zu dem Grundstücksverkauf entwickelten Vorstellungen zu keiner Zeit eine Bebauung des Flurstücks 128/19 in Erwägung gezogen worden, sondern es um die reine Nutzung zur Tierhaltung gegangen sei, auch habe die Pferdeweide nach Aufgabe der Nutzung unentgeltlich dem Eigentümer des Flurstücks 128/18 übertragen werden sollen, um Teile der Wiese zu Gartengrundstücken für die Bewohner des Fachwerkhauses umzuwandeln. Die geltend gemachten Abreden sind aber in den Kaufvertrag nicht aufgenommen und auch sonst nicht verschriftlicht worden. Auch zu dem Eigentumsübergang, bei dem der vorliegende Rechtsstreit nicht entstanden wäre, ist es in den seit dem Tod von Herrn K. bereits verstrichenen 30 Jahren nicht gekommen. Um für jedermann ersichtliche Umstände, die zu einer einschränkenden Lesart der Grunddienstbarkeit zwingen, handelt es sich daher nicht. Insoweit ist auch nicht erheblich, dass die Beigeladenen im Widerspruch hierzu vorgetragen haben, dass das damalige Flurstück 128/19 von den Eheleuten K. von vornherein als Wohngrundstück für ihre, der Beigeladenen, Tochter vorgesehen gewesen sei, und im Beschwerdeverfahren von der Antragsgegnerin eine entsprechende eidesstattliche Versicherung der Beigeladenen und ihrer Tochter vom 16. März 2020 vorgelegt worden ist. Das vom Bundesgerichtshof postulierte vorrangige Abstellen auf den Wortlaut der Eintragung bzw. der ihr zugrundeliegenden Bewilligung unter Einbeziehung offen zu Tage tretender objektiver Umstände lässt die Notwendigkeit umfangreicher Beweiserhebungen durch Vernehmung der Parteien oder von Zeugen über die bei Vertragsschluss bestehenden Vorstellungen entfallen. Der Vorwurf der Antragstellerin, das Verwaltungsgericht hätte sich bei seiner Bewertung nicht auf die Gegenüberstellung des sich widersprechenden Vorbringens beschränken dürfen, weil die Töchter der Antragstellerin aus eigener Wahrnehmung berichten könnten, während die Beigeladenen dies nur vom Hörensagen könnten, geht insoweit ins Leere. Die betreffenden Erwägungen waren für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Übrigen nicht tragend. Denn es heißt in dem erstinstanzlichen Beschluss weiter, dass sich in keinem Fall feststellen lasse, dass bei Eintragung des Wegerechts für jeden Unbeteiligten ersichtlich eine Nutzungseinschränkung für die seinerzeit vorhandene Nutzung des Grundstücks habe vereinbart werden sollen.
24
Richtig mag der Einwand der Antragstellerin sein, dass das von dem Verwaltungsgericht übernommene Argument der Beigeladenen, der bei Vertragsschluss vereinbarte Höchstbetrag des Wertersatzes gemäß § 882 BGB von 10.000,- DM spreche dafür, dass das Wegerecht bewusst nicht eingeschränkt worden sei, rechtlich nicht stichhaltig ist. Daraus lässt sich für die Beschwerde, deren Erfolg die Darlegung von eine einschränkende Lesart der Grunddienstbarkeit gebietenden Umstände voraussetzen würde, jedoch nichts ziehen.
25
Eine das Wegerecht betreffende Nutzungsbeschränkung ergibt sich auch nicht aus der 1988 bestehenden baurechtlichen Situation des Flurstücks 128/19, das im Flächennutzungsplan der Antragsgegnerin 1981 als Fläche für Landwirtschaft dargestellt wurde und anscheinend zudem als Friedhofserweiterungsfläche vorgesehen war. Selbst wenn auf dem damals wohl auch nach Auffassung der Antragsgegnerin im Außenbereich liegenden Grundstück eine Wohnbebauung planungsrechtlich nicht zulässig war, hätte die Grunddienstbarkeit - jedenfalls bis zu einer etwaigen Erweiterung des Friedhofs - z.B. für eine landwirtschaftsbezogene bauliche Nutzung in Anspruch genommen werden können, mit der ebenfalls eine häufigere Befahrung der Überwegung mit Kraftfahrzeugen verbunden gewesen wäre. Das von der Antragstellerin herausgestellte Fehlen eines zugleich vereinbarten Leitungsrechts ist dabei nicht erheblich. Denn die Versorgung des Grundstücks mit Elektrizität und Wasser hätte auch über die anderen im Eigentum der Eheleute K. stehenden Flurstücke, insbesondere deren damaliges Wohngrundstück G. weg 1, erfolgen können.
26
Schließlich stellt sich die durch die Baugenehmigung vom 20. Juli 2018 genehmigte Wohnnutzung auch nicht als eine zur Zeit der Dienstbarkeitsbestellung nicht vorhersehbare oder willkürliche Benutzungsänderung dar. Nach der Anlage zum Grundstückskaufvertrag vom 5. Dezember 1988, in der die genaue Lage des Wegerechts dargestellt ist, war das Flurstück 128/19 bereits damals an drei Seiten von Wohnbebauung umgeben. Eine zukünftige Einbeziehung des Grundstücks in das Dorfgebiet war daher in Betracht zu ziehen.
27
Die Antragstellerin vermag auch nicht die Bewertung des Verwaltungsgerichts zu erschüttern, dass die mit dem den Beigeladenen genehmigten Bauvorhaben verbundene Inanspruchnahme des Wegerechts dem Gebot der Rücksichtnahme genügt. Dabei kann dahinstehen, ob die Erwägung, es erscheine bereits zweifelhaft, ob sich die Antragstellerin in Kenntnis des sich aus der Grunddienstbarkeit ergebenden Nutzungsanspruchs überhaupt auf eine Rücksichtslosigkeit berufen könne, überzeugt. Diese war für die Entscheidung nicht tragend. Maßgeblich hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf abgestellt, dass der bei einem Einfamilienhaus mit zwei genehmigten Stellplätzen zu erwartende Kfz-An- und Abfahrtsverkehr nur gering und deswegen den Bewohnern der an dieser Seite des Fachwerkhauses gelegenen Wohneinheiten zumutbar sei, zumal nach § 12 BauNVO grundsätzlich eine Vermutung der Nachbarverträglichkeit des durch die Nutzung von Stellplätzen und Garagen verursachten Lärms bestehe; darüber hinaus verblieben bei dem genehmigten Standort der Stellplätze westlich des Wendekreises im Übergang zum Flurstück 128/23 auch ungestörte Ruhebereiche im südwestlichen Teil des Grundstücks der Antragstellerin.
28
Soweit die Antragstellerin die weitere Ausführung des Verwaltungsgerichts angreift, die Bewohner des Fachwerkhauses hätten selbst Lärm in den die Überwegung betreffenden Grundstücksbereich hineingetragen, weil sie sich - wie sich aus in den Akten befindlichen Lichtbildern ergibt - in dem verbleibenden 5,60 m breiten Streifen zur Hauswand hin Stellplätze für ihre eigenen Kraftfahrzeuge angelegt hätten, erscheint zwar ihr Einwand, das nicht vertragskonforme Verhalten einzelner Mieter dürfe ihr nicht einfach zugerechnet werden, sämtlichen Wohnungen seien Stellplätze in einem zur Straße gelegenen Carport fest zugeordnet, nicht unberechtigt. Am Ergebnis der rechtlichen Beurteilung ändert sich dadurch aber nichts.
29
Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der Garagen und Stellplätze in ruhigen rückwärtigen Gartenbereichen hinter Wohnhäusern gerade im Hinblick auf den die Nachbarschaft regelmäßig am stärksten belastenden Zu- und Abgangsverkehr oft rechtlichen Bedenken begegnen, richtet sich die Frage ihrer Zumutbarkeit gleichwohl nach der Eigenart des Baugebiets und hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.3.2003 - 4 B 59.02 -, juris Rn. 6). Hier entspricht die Eigenart der näheren Umgebung des Baugrundstücks nach der Einschätzung der Antragsgegnerin, gegen die Bedenken weder geltend gemacht noch ersichtlich sind, einem Dorfgebiet, dem im Hinblick auf Lärmimmissionen schon nicht dieselbe Schutzwürdigkeit wie einem Allgemeinen oder sogar Reinen Wohngebiet zukommt. Zudem verbleibt es dabei, dass bei lediglich einer auf dem Flurstück 128/24 wohnenden Familie, die zwei Kraftfahrzeuge unterhält, auch unter Einbeziehung von Besucher- und Lieferverkehr von keiner häufigen Ausnutzung des Wegerechts, insbesondere nicht zur Nachtzeit, ausgegangen werden kann. Auch zu einem Begegnungsverkehr auf der Überwegung, der im Hinblick auf deren Breite von nur 3 m problematisch sein könnte, dürfte es allenfalls sehr selten kommen. Selbst für die Mieterin der Erdgeschosswohnung, die sich - wohl mangels eines eigenen rückwärtigen Gartenbereichs - in dem Bereich zwischen Weg und Hauswand eine Terrasse eingerichtet hat, sind wenige tägliche Vorbeifahrten mit einem Kraftfahrzeug nicht unzumutbar.
30
Ob ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme auch dann zu verneinen wäre, wenn die von den Beigeladenen gewünschte Verdoppelung des Bauvorhabens verwirklicht würde, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens, in dem einstweiliger Rechtsschutz gegen die Baugenehmigung vom 20. Juli 2018 begehrt wird. Darauf hat bereits das Verwaltungsgerichts die Beigeladenen, die um Einbeziehung ihres Bauantrags aus Oktober 2018 gebeten hatten, hingewiesen.
31
Letztlich vermag die Antragstellerin auch mit ihrem Vorwurf, das Verwaltungsgericht habe die von dem Baustellenverkehr ausgehende Lärmbelästigung nicht zutreffend gewürdigt, nicht durchzudringen. § 3 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 NBauO bestimmt, dass (auch) bei der Durchführung von Baumaßnahmen unzumutbare Belästigungen oder unzumutbare Verkehrsbehinderungen nicht entstehen dürfen. Zu dieser Vorgabe des Bauordnungsrechts, deren Einhaltung gegebenenfalls im Rahmen eines Antrags auf bauaufsichtliches Einschreiten der Antragsgegnerin zu verfolgen wäre, verhält sich die den Beigeladenen im vereinfachten Genehmigungsverfahren erteilte Baugenehmigung gemäß § 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 NBauO schon nicht. Im Übrigen spricht gegen eine Berücksichtigung von Baustellenlärm im Rahmen des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme, dass dieser - wie auch das Verwaltungsgericht angemerkt hat - stets zeitlich befristet ist.
32
Der Kostenentscheidung liegen die Vorschriften der §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO zugrunde. Nach der neueren Rechtsprechung des Senats folgt aus der Rechtsstellung nach § 65 Abs. 2 VwGO allein nicht, dass die Belastung des unterlegenen Verfahrensbeteiligten mit den außergerichtlichen Kosten des notwendig Beigeladenen als billig im Sinne von § 162 Abs. 3 VwGO anzusehen ist (vgl. Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 1 ME 99/19 -, juris Leitsatz 2 und Rn. 23). Zu Gunsten der Beigeladenen hinzutretende Gesichtspunkte sind aber hinsichtlich des Beschwerdeverfahrens nicht zu erkennen. Einen eigenen Antrag haben die Beigeladenen nicht gestellt und sich mangels vor dem Oberverwaltungsgericht nach § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO erforderlicher Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten - anders als im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht - auch sonst nicht förderlich einbringen können. Die von den Beigeladenen und ihrer Tochter unter dem 16. März 2020 abgegebene eidesstattliche Versicherung ist von der Antragsgegnerin mit der Beschwerdeerwiderung vorgelegt worden.
33
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Wie der Senat nach Erlass des erstinstanzlichen Beschlusses entschieden hat, beträgt der Streitwert für baurechtliche Nachbarklagen, in denen die Beeinträchtigung von Wohnungen eines Mehrfamilienhauses geltend gemacht wird, grundsätzlich 7.500,00 EUR pro betroffene Wohnung. Für das vorliegende Eil- und Beschwerdeverfahren ist der Streitwert - davon ist auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen - gemäß Nr. 18b) der u.a. im Internetauftritt des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts veröffentlichten Streitwertannahmen der Bausenate nach dem 1. Januar 2002 zu halbieren (1/2 x 3 x 7,500,00 EUR).
34
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird auf 26.036,82 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag des Antragstellers,
2
der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, die Stelle einer hauptamtlichen Stadträtin (Senatorin)/eines hauptamtlichen Stadtrates (Senator) mit der Beigeladenen oder anderweitig endgültig zu besetzen,
3
hat keinen Erfolg.
4
Auf Antrag kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit, und einen Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO in Verb. mit § 920 Abs. 2 ZPO).
5
Hier ist bereits zweifelhaft, ob mit der Wahl der Beigeladenen nicht bereits vollendete Tatsachen geschaffen worden sind und dem Antragsteller insoweit überhaupt noch ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite steht. Die Wahl eines Zeitbeamten ist im Verhältnis zu der außerdem erforderlichen nachfolgenden Ernennung nicht nur eine unselbständige Vorbereitungshandlung. Ihr kommt insofern Außenwirkung zu, als der Gewählte, wenn er die Wahl annimmt und die übrigen beamtenrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, einen Rechtsanspruch auf Ernennung hat. Damit entfallen zugleich Rechtsansprüche der nicht gewählten Bewerber (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 25.06.1992 - 5 M 2798/92 - juris Rn. 22 m.w.N.).
6
Selbst wenn sich das Verfahren durch die Wahl des Beigeladenen nicht in der Hauptsache erledigt hat, fehlt es jedoch an einem Anordnungsanspruch des Antragstellers gegenüber der Antragsgegnerin. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er durch die von der Antragsgegnerin bzw. ihrem Bürgermeister vorzunehmende Ernennung der Beigeladenen zur Senatorin in eigenen Rechten verletzt wird.
7
Handelte es sich bei dem ausgeschriebenen Amt um das eines Laufbahnbeamten, so hätte allerdings jeder Mitbewerber nach Art. 33 Abs. 2 GG einen Anspruch darauf, dass die Behörde ihre Auswahl nach fehlerfreiem Ermessen und in einem gesetzmäßigen Verfahren trifft. Dieser Anspruch könnte durch einstweilige Anordnung gesichert werden.
8
Nach Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Danach sind öffentliche Ämter nach Maßgabe des Leistungsgrundsatzes zu besetzen. Die Geltung dieses Grundsatzes wird durch Art. 33 Abs. 2 GG unbeschränkt und vorbehaltlos gewährleistet. Art. 33 Abs. 2 GG vermittelt ein grundrechtsgleiches Recht auf leistungsgerechte Einbeziehung in die Bewerberauswahl. Ein Bewerber um ein öffentliches Amt kann verlangen, dass seine Bewerbung nur aus Gründen zurückgewiesen wird, die durch den Leistungsgrundsatz gedeckt sind (sog. Bewerbungsverfahrensanspruch, vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.11.2012 - 2 VR 5/12 - juris Rn. 23). Zwar ist der Begriff des öffentlichen Amts in Art. 33 Abs. 2 GG weit zu verstehen. Er umfasst alle beruflichen und nebenamtlichen Funktionen staatlicher Organisation und ist nicht auf die Ausübung hoheitlicher Befugnisse beschränkt. Dazu werden die Amtspositionen in Bund und Ländern gezählt, die mit Beamten, Angestellten des öffentlichen Dienstes, Richtern oder Soldaten besetzt werden (Hense, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 33 Rn. 9; Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 33 Rn. 23; Battis, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Aufl., Art. 33 Rn. 24).
9
Art. 33 Abs. 2 GG erfasst jedoch nicht bzw. nur sehr eingeschränkt solche Ämter auf staatlicher oder kommunaler Ebene, die durch demokratische Wahlen der Wahlbürger oder durch eine Wahl des von diesen gewählten Wahlkörpers besetzt werden, wie z.B. das Amt eines kommunalen Wahlbeamten (BVerfG, Beschluss vom 20.09.2016 - 2 BvR 2453/15 - juris Rn. 21; Hense, a.a.O.; Badura, a.a.O., Rn. 24, Battis, a.a.O., Rn. 25). Um ein solches Amt handelt es sich auch bei dem bzw. der hier in Rede stehenden Senator bzw. Senatorin, der bzw. die von der Bürgerschaft der Antragsgegnerin gewählt wird.
10
Bei einem Kommunalbeamten auf Zeit, bei der die Bewerberauswahl durch eine Wahl vollzogen wird, ist vom Gesetzgeber in Kenntnis der politischen Ausrichtung der meisten Kommunalvertretungen ein faktischer Einfluss der politischen Position der Bewerber auf die Auswahlentscheidung in Kauf genommen worden. Die Tätigkeit kommunaler Wahlbeamter ist u.a. durch eine enge Verzahnung mit dem kommunalen politischen Raum gekennzeichnet, ferner durch das Agieren auf der Grundlage eines Vertrauensvorschusses, durch das Überzeugen und Gewinnen von Mehrheiten.
11
Mit dem Wesen der Wahl als einer freien, nur den Bindungen des Gesetzes und des Gewissens unterworfenen Entscheidung ist es nicht zu vereinbaren, ihr dieselben Grenzen wie einer Ermessensentscheidung zu setzen. Eine Wahl nach Ermessen wäre keine echte Wahl. Eine Anfechtung wegen Ermessensmissbrauchs ist deshalb mit dem Wesen der Wahl unvereinbar (vgl. zum Ganzen: OVG Lüneburg, Beschluss vom 27.06.1992 a.a.O. Rn. 24 mit zahlreichen Nachweisen).
12
Insoweit können die bei der Konkurrenz von Laufbahnbeamten von der Rechtsprechung entwickelten Vorgaben (wie z. B. die vom Antragsteller geforderte - ausreichend - begründete Mitteilung an die nicht berücksichtigten Bewerber - sog. Konkurrentenmitteilung) vorliegend keine Geltung beanspruchen. Unbeschadet dessen hat die Antragsgegnerin in ihrem Erwiderungsschriftsatz nachvollziehbar dargelegt, dass der Antragsteller über alle die Wahl betreffenden Verfahrensschritte hinreichend und rechtzeitig informiert worden ist.
13
Allerdings darf die Bürgerschaft der Antragsgegnerin die Wahlbeamten nicht willkürlich und unter vollständiger Außerachtlassung der Grundsätze des Art. 33 Abs. 2 GG oder allein nach der Parteizugehörigkeit der Bewerber auswählen. Auch wenn Art. 33 Abs. 2 GG infolge der Einflüsse des Kommunalverfassungsrechts auf die Stellung des kommunalen Wahlbeamten nur in eingeschränktem Maße gilt, haben kommunale Wahlkörperschaften eine fachbezogene Wahlentscheidung zu treffen. Der Wahlbeamte braucht zwar nicht die Laufbahnvorschriften zu erfüllen. Er muss indes gemäß § 67 Abs. 2 SHGO die für sein Amt erforderliche Eignung, Befähigung und Sachkunde besitzen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 27.06.1992 a.a.O. Rn. 25 m.w.N. zum vergleichbaren niedersächsischen Recht).
14
Ob diesen Anforderungen durch die Wahl der Beigeladenen Genüge getan ist, unterliegt indessen nicht der Überprüfung im vorliegenden Verfahren. Denn die erwähnte Vorschrift dient -- anders als Art. 33 Abs. 2 GG -- allein öffentlichen Interessen, nicht aber dem Interesse der Mitbewerber. Zu einer gerichtlichen Überprüfung kann es deshalb nur im Kommunalverfassungsstreit oder dann kommen, wenn die Aufsichtsbehörde die Wahl beanstandet hat (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 27.06.1992 a.a.O. Rn. 25 m.w.N.)
15
Da der Antragsteller mithin durch die Wahl der Beigeladenen nicht in eigenen Rechten verletzt sein kann, fehlt es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs (so ausdrücklich OVG Lüneburg Beschluss vom 27.06.1992 a.a.O. Rn. 27).
16
Selbst wenn man - entgegen diesen Ausführungen - von einer möglichen Rechtsverletzung des Antragstellers ausginge, könnte eine, insoweit auch von ihm zu rügende fehlende Eignung der Beigeladenen nur dann bejaht werden, wenn ein sog. konstitutives Anforderungsprofil vorliegt und die Beigeladene dieses nicht erfüllt. Allenfalls dann erscheint denkbar, dass sich ein unterlegener Bewerber unmittelbar darauf berufen kann.
17
Konstitutiv (zwingend) sind solche Kriterien, die objektiv überprüfbar, insbesondere ohne die ansonsten gebotene Rücksichtnahme auf Wertungsspielräume des Dienstherrn eindeutig und unschwer festzustellen sind. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es für die Bestenauslese einen ganz neuen, von den dienstlichen Beurteilungen jedenfalls vom Ausgangspunkt her abgekoppelten Maßstab enthält. Bei einem solchen speziellen konstitutiven Anforderungsprofilmerkmal einerseits und der dienstlichen Beurteilung andererseits handelt es sich vom Ansatz her um unterschiedliche Modelle und Maßstäbe für die Auswahl nach dem Leistungsprinzip. Wer ein solches konstitutives Anforderungsprofilmerkmal nicht erfüllt, kommt für die Auswahl von vornherein nicht in Betracht, mag er auch besser dienstlich beurteilt sein. Erst wenn es darum geht, ggf. eine Auswahl unter mehreren, das konstitutive Anforderungsprofilmerkmal erfüllenden Bewerbern zu treffen, kommt den dienstlichen Beurteilungen oder ggf. anderen zur Bewertung der Eignung maßgeblichen Aspekten Bedeutung zu. Die Abgrenzung zwischen einem konstitutiven und einem deklaratorischen Anforderungsprofilmerkmal ist eine Frage der Auslegung des Ausschreibungstextes, welche entsprechend § 133 (BGB) danach zu erfolgen hat, wie die Erklärung aus Sicht des Empfängers bei objektiver Betrachtung zu verstehen ist (vgl. Beschluss der Kammer vom 09.09.2015 - 12 B 29/20 - juris Rn. 13 m.w.N.)
18
Handelt es sich hingegen um nicht konstitutive, sondern um deklaratorische (beschreibende) Anforderungsmerkmale, ist die verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Wahlentscheidung der Bürgerschaft darauf beschränkt zu prüfen, ob die Wertungen der Mitglieder der Bürgerschaft im Ergebnis vertretbar sind oder (objektiv) auf Willkür beruhen (vgl. OVG Greifswald, Beschluss vom 09.01.2015 - 2 M 102/14 - juris Rn. 18).
19
Dass die Beigeladene die in der Ausschreibung genannten - konstitutiven - Anforderungen, die insoweit konstituierend für ihre Eignung sein dürften, nicht erfüllt, ist nicht ersichtlich.
20
Sie hat das erforderliche wissenschaftliche Hochschulstudium in Form des Lehramtsstudiums für Realschulen absolviert. Daran ändert auch nichts, dass ein Studium der Kultur-oder Sozialwissenschaften „vorzugsweise“ gewünscht wird, weil dieses Attribut nicht konstitutiv ist, d.h. nicht zwingend gefordert wurde.
21
Die Beigeladene kann auch eine mindestens fünfjährige Führungserfahrung aufweisen. Dabei ist es unerheblich, dass sie nicht an der Spitze ihres Dezernats gestanden hat; denn Führungserfahrung erlangt man auch als Abteilungsleiterin mit einer unbestimmten Anzahl Beschäftigter, denen gegenüber sie weisungsbefugt war.
22
Die übrigen in der Ausschreibung enthaltenen Profilmerkmale sind lediglich deklaratorischer Natur, so dass die Wahlentscheidung der Bürgerschaft der Antragsgegnerin hinsichtlich der Frage, ob die Beigeladene dem Anforderungsprofil in der Stellenausschreibung entspricht, nur darauf zu überprüfen ist, ob die Wertungen, die in dem Wahlergebnis zum Ausdruck gebracht worden sind, im Ergebnis nicht vertretbar sind oder (objektiv) auf Willkür beruhen. Beides ist vor dem Hintergrund des allen Beteiligten bekannten Lebenslaufes mit den bisherigen beruflichen Tätigkeiten der Beigeladenen zu verneinen, da Anhaltspunkte für ein willkürliches Verhalten der Bürgerschaft bzw. deren Mitglieder bei ihrer Wahlentscheidung nicht ersichtlich sind.
23
(Dass es im Vorfeld der Wahl möglicherweise eine Absprache zwischen den der Bürgerschaft angehörenden politischen Parteien bzw. Gruppierungen gegeben hat, begründet keine Willkür; sie entlässt das Wahlgremium insbesondere nicht aus seiner Verantwortung, seine Entscheidung an § 67 Abs. 2 SHGO zu orientieren).
24
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da sie keinen eigenen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko auf sich genommen hat.
25
Der Wert des Streitgegenstandes beträgt gemäß §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und 6 Satz 1 Nr. 2 GKG die Hälfte der Summe der für sechs Monate zu zahlenden Bezüge des angestrebten Amtes mit Ausnahme nicht ruhegehaltfähiger Zulagen (Bes.Gr. B 4, monatliches Endgrundgehalt i.H.v. 8678,94 Euro x 6: 2 = 26.036,82 Euro).
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Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts München II vom 11.07.2019, Az. 14 O 5325/18 wie folgt abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 575,06 Euro zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 8.408,40 Euro vom 07.02.2019 bis 04.05.2019, aus einem Betrag von 5.575,06 Euro von 05.05.2019 bis 12.02.2020 und aus einem Betrag von 575,06 Euro seit dem 13.02.2020.
II. Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen und wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
III. Von den Kosten der ersten Instanz trägt der Kläger 96% und die Beklagte 4%, von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger 90% und die Beklagte 10%.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
1.
Gründe
I.
Die Klagepartei begehrt Schadensersatz wegen des Erwerbs eines Fahrzeugs, das von der Manipulation der Schadstoffsoftware im sogenannten Dieselskandal betroffen ist. Die Klagepartei erwarb am 29.06.2014 von einer Privatperson einen PKW SEAT Alhambra zum Kaufpreis von 22.900,00 Euro.
Im Fahrzeug ist ein von der Beklagten hergestellter Motor der Baureihe EA189 eingebaut, bei dem das Abgasrückführungssystem so manipuliert ist, dass im Prüfmodus im Gegensatz zum normalen Betriebsmodus die Grenzwerte für Stickoxide eingehalten werden.
Im September 2015 räumte die Beklagte die Verwendung der entsprechenden Software öffentlich ein. Das Kraftfahrbundesamt (KBA) sah in der Software in dem Motor EA 189 eine unzulässige Abschalteinrichtung, die zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit der davon betroffenen Fahrzeuge entfernt werden müsse. Die Beklagte entwickelte daraufhin ein Update zum Zwecke der Beseitigung der Software. Die für Pkw der Marke SEAT zuständige Behörde hat das Update freigegeben. Das Update wurde auf das streitgegenständliche Fahrzeug aufgespielt.
Zum Zeitpunkt der Übernahme des Fahrzeugs durch der Kläger hatte dieses einen Kilometerstand von 24.083 km. Am 12.02.2020 verkaufte der Kläger das Fahrzeug bei einem Kilometerstand von 195.000 km zum Verkaufspreis von 5.000,00 Euro.
Die Klagepartei ist der Ansicht, ihr stünde gegen die Beklagte ein Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB zu.
Der Kläger hat in erster Instanz beantragt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises des Fahrzeugs in Höhe von 22.900,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 07.12.2018 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klagepartei Schadensersatz zubezahlen für weitere Aufwendungen und Schäden, die aufgrund des Erwerbs und des Unterhalts des Fahrzeugs SEAT Alhambra mit der FIN …17 entstanden sind und entstehen werden.
Dies (Antrag Ziff 1 und 2) Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs SEAT Alhambra mit der FIN …17 sowie Zahlung einer Nutzungsentschädigung für die Nutzung des Fahrzeugs durch die Klagepartei, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei Zinsen in Höhe von 4% aus dem Kaufpreis in Höhe von 22.900,00 Euro seit dem 30.06.2014 bis zum 06.12.2018 zu zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs SEAT Alhambra mit der FIN …17 seit dem 07.12.2018 in Annahmeverzug befindet.
5. Die Beklagte wird verurteilt, die durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 633,32 Euro nebst Zinsen in Höhe Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 07.12.2018 zu bezahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es fehle an substantiiertem Vortrag der Klagepartei zu Kenntnis und Schädigungsvorsatz der Beklagten sowie am Nachweis der Kausalität.
Das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen nach § 540 Abs. 1 ZPO Bezug genommen wird, hat die Klage abgewiesen. Der Feststellungsantrag sei zu unbestimmt und daher unzulässig. Im Übrigen sei die Klage zwar zulässig, aber unbegründet. Insbesondere fehle es an einem Schaden.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, in der er seinen erstinstanzlichen Vortrag wiederholt und vertieft. Nachdem der Kläger zunächst im Wesentlichen die gleichen Anträge gestellt hat wie in erster Instanz (Schriftsatz vom 23.09.2020, S. 1, 2, Bl. 106 f d.A.), hat der Kläger mit Schriftsatz vom 17.09.2020 (Bl. 221 f d.A.) die Berufung hinsichtlich der begehrten Verurteilung zur Zahlung von Deliktszinsen zurückgenommen.
Im Hinblick auf den Verkauf des Fahrzeugs am 12.02.2020 beantragt der Kläger zuletzt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Schadensersatz in Höhe von 3.715,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz und zwar vom 07.12.2018 bis 12.02.2020 auf einen Betrag von 22.900,00 Euro und seither auf einen Betrag in Höhe von 3.715,00 Euro zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs SEAT Alhambra mit der FIN …17 vom 07.12.2018 bis zum 12.02.2020 in Annahmeverzug befand.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 633,32 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 07.12.2018 zu bezahlen.
4. Im Übrigen wird der Rechtsstreit für erledigt erklärt.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Erledigterklärung stimmt die Beklagte nicht zu und verteidigt das landgerichtliche Urteil.
Ergänzend wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15.10.2020 Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung des Klägers hat nur insoweit Erfolg, als die Beklagte zur Zahlung von 575,06 Euro nebst Zinsen zu verurteilen war. Im Übrigen ist die Berufung unbegründet.
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung von 575,06 Euro aus § 826 BGB.
1.1. Die Änderung seines Antrags insoweit, als er nunmehr Rückzahlung des Kaufpreises in Höhe von 22.900,00 Euro abzüglich von 14.185,00 Euro Nutzungsentschädigung und Abzüglich 5.000,00 Euro Verkaufserlös, insgesamt 3.715,00 Euro, verlangt und den Antrag im Hinblick auf den Verkauf des Fahrzeugs im Übrigen für erledigt erklärt, ist zulässig. Es liegt keine Klageänderung i.S. des § 533 BGB vor, sondern nur eine teilweise Reduzierung des Antrags gemäß § 264 Nr. 2 ZPO.
1.2. Dem Kläger steht dem Grunde nach ein Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises aus § 826 BGB zu.
1.2.1. Das sittenwidrige Verhalten der Beklagten im Sinne des § 826 BGB liegt in dem Inverkehrbringen des mit einer Abschaltautomatik versehenen Motors EA 189, ohne auf die entsprechende Software hinzuweisen. Die Motorsoftware, die bei einem erkannten Prüfstandlauf eine verstärkte Abgasrückführung aktivierte, stellt eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der VO Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.07.2007 dar (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 17; BGH Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 11). Die Beklagte brachte den Motor mit der unzulässigen Software in den Verkehr, ohne die Typengenehmigungsbehörden darauf hinzuweisen. Auf diese Weise spiegelte sie konkludent und der Wahrheit zuwider vor, dass der Motor ohne eine derartige unzulässige Einrichtung betrieben wird, und erschlich die Typengenehmigung durch eine Täuschung der zuständigen Behörde (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 18; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 11). Damit hat die Beklagte die Gefahr geschaffen, dass bei einer Entdeckung der Software eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung nach § 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung hätte erfolgen können (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 19 ff; BGH Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 11).
Das Verhalten der Beklagten ist verwerflich. Die Beklagte handelte mit dem Ziel, Fahrzeuge kostengünstiger als sonst möglich zu produzieren, und damit zur Erhöhung ihres Gewinns. Dieses Ziel ist dann verwerflich, wenn es - wie vorliegend - auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung durch arglistige Täuschung der zuständigen Typengenehmigungs- und Marktüberwachungsbehörde - des KBA - erreicht werden soll und dies mit einer Gesinnung verbunden ist, die sich sowohl im Hinblick auf die für den einzelnen Käufer möglicherweise eintretenden Folgen als auch im Hinblick auf die insoweit dem Schutz von Gesundheit und Umwelt dienenden Vorschriften gegenüber gleichgültig zeigt (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 22 ff; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 11).
Dass streitgegenständlich vorliegend ein Fahrzeug der Marke SEAT und nicht der Marke VW ist, führt zu keiner anderen Beurteilung. Entscheidend ist das Inverkehrbringen des mit der unzulässigen Software ausgestatteten Motors durch die Beklagte. Dieser ist in dem streitgegenständlichen Fahrzeug verbaut.
1.2.2. Es ist von einer Kenntnis der Beklagten von den Tatumständen, die die Sittenwidrigkeit begründen, auszugehen. Nach dem Klägervortrag hatten zumindest einzelne Mitglieder des damaligen Vorstands und weitere Mitglieder der höheren Leitungsebene der Beklagten im Sinne des § 31 BGB Kenntnis von Existenz und Zweck der Software (Klageschrift S. 8 und S. 11, Bl. 8 und 11 d.A. sowie Anlage K 6). Dies hat die Beklagte nicht hinreichend detailliert und also nicht wirksam bestritten. Die Beklagte trifft insoweit eine sekundäre Darlegungslast (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 39 ff; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 13 ff.; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 367/19, juris Tz. 17 ff), der sie im vorliegenden Fall nicht nachgekommen ist.
Insbesondere übersieht die Beklagte, dass ihr nicht nur die Kenntnis und das Verhalten des Vorstands, sondern auch der weiteren verfassungsmäßig berufenen Vertreter i.S. des § 31 BGB zuzurechnen ist (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 43). Der Vortrag der Beklagten, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen und die Entscheidung über die Entwicklung und Verwendung der Software sei unterhalb der Vorstandsebene getroffen worden, genügt mithin gerade nicht.
1.2.3. Der Schaden des Klägers liegt in dem Abschluss des von ihm so ungewollten Kaufvertrages über das bemakelte Fahrzeug (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 48 ff; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 16).
1.2.3.1. Der Kläger ist veranlasst durch das sittenwidrige Verhalten der Beklagten eine ungewollte Verpflichtung eingegangen. Dabei kann dahinstehen, ob er einen Vermögensschaden dadurch erlitten hat, dass bei Erwerb des Fahrzeugs eine objektive Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung nicht gegeben war. Denn ein Schaden ist hier jedenfalls eingetreten, weil der Kläger durch den ungewollten Vertragsschluss eine Leistung erhalten hat, die aufgrund der jedenfalls möglichen Betriebsbeschränkung oder -untersagung nach § 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung für seine Zwecke nicht voll brauchbar war (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 48 ff, Tz. 53 ff; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 16).
1.2.3.2. Es steht ferner zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger das Fahrzeug in Kenntnis der wahren Sachlage nicht erworben hätte. Wie ausgeführt, bestand bei Erwerb des Fahrzeugs im Jahr 2014 die Gefahr, dass es im Falle einer Entdeckung der Manipulationssoftware zu einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung nach § 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung kommen könnte. Insbesondere gab es im Kaufzeitpunkt kein Software-Update zur Beseitigung des Problems und es war 2014 in keiner Weise absehbar, ob zu einem späteren Zeitpunkt ein derartiges Software-Update entwickelt werden könnte. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist auszuschließen, dass ein Käufer ein Fahrzeug erwirbt, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung zumindest theoretisch droht, wenn gleichzeitig unklar ist, ob überhaupt, wenn ja zu welchem Zeitpunkt und wie, vor allem ohne Nachteil für den Käufer, der Mangel behoben werden kann (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 49 ff; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 16).
Dass der Kläger hierüber anders gedacht hätte, ist nicht ersichtlich; insbesondere hat er in seiner Anhörung in erster Instanz ausgeführt, dass ihm beim Erwerb des Fahrzeugs der praktische Nutzen wichtig gewesen sei (Protokoll vom 08.05.2019, S. 3, Bl. 79 d.A.).
1.2.3.3. Der Schaden ist nicht durch das nachträgliche Aufspielen des Software-Updates entfallen. Der ungewollte Vertragsschluss im Juni 2014 wird nicht durch ein Update Jahre später rückwirkend zu einem gewollten Vertrag (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 58; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 367/19, juris Tz. 22).
1.3. Allerdings muss sich der Kläger eine Nutzungsentschädigung in Höhe von 17.324,94 Euro sowie den erzielten Verkaufspreis von 5.000,00 Euro im Wege des Vorteilsausgleichs in Abzug bringen lassen.
1.3.1. Die Grundsätze des Vorteilsausgleichs gelten auch für einen Anspruch aus § 826 BGB. Andernfalls würde der Ersatzanspruch in die Nähe eines dem deutschen Recht fremden Strafschadensersatzes gerückt. Dem steht auch das unionsrechtliche Effizienzgebot nicht entgegen (ausführlich BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 66 ff und Tz. 76; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 16).
Eine Schätzung der Vorteile nach § 287 ZPO, wobei der Bruttokaufpreis durch die voraussichtliche Restlaufleistung geteilt und dieser Wert mit den gefahrenen Kilometern multipliziert wird, erscheint als geeignete Methode (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 80 ff). Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt es nicht darauf an, welche Nachteile der Kläger erlitten hätte, wenn er ein anderes Fahrzeug erworben und genutzt hätte (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 82).
Der Senat schätzt nach § 287 Abs. 1 ZPO die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen SEAT Alhambra auf 250.000 km. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgebend:
Bei dem streitgegenständlichen SEAT Alhambra handelt es sich um ein robustes Mittelklassefahrzeug aus dem Baujahr 2013, das grundsätzlich auf eine umfangreichere Nutzung ausgelegt ist. Nach verbreiteter Ansicht sind die Gesamtlaufleistungen für derartige Fahrzeuge neueren Baujahrs in der mittleren und gehobenen Klasse im Bereich von 250.000 km bis 300.000 km anzusiedeln (250.000 km: BGH BeckRS 2015, 1267; KG NJW-RR 2014, S. 57, 58; OLG Braunschweig BeckRS 2019, 40569; 300.000 km: OLG Koblenz NJW 2019, S. 2237, 2246; OLG Oldenburg BeckRS 2020, 1974 Tz. 86; allg. Staudinger/Kaiser, BGB, 2012, § 346 Rn. 261 mwN). Eine erheblich niedrigere Laufleistung, etwa eine solche von nur 150.000 km, wird der heutigen Fahrzeugtechnik regelmäßig nicht mehr gerecht, umgekehrt erscheint die Annahme von deutlich mehr als 300.000 km, gar 500.000 km überzogen (vgl. Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2020, Rz. 3571). Es gilt einerseits zu berücksichtigen, dass neuere Fahrzeuge infolge fortschreitender Technik eine höhere Motorlaufleistung erreichen (BeckOGK/Schall, BGB, 1.3.2020, § 346 Rn. 437); die Karosserie hat nicht zuletzt wegen eines erheblich verbesserten Korrosionsschutzes eine Lebensdauer von weit über 10 Jahren (Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2020, Rz. 3573). Andererseits macht die in moderneren Fahrzeugen verbaute Elektronik das Fahrzeug störanfälliger. Ein Schaden in diesem Bereich löst mitunter hohe Kosten aus, was bei einem bereits länger genutzten Fahrzeug die Frage der wirtschaftlichen Rentabilität einer Reparatur aufwerfen kann. Dies wirkt sich negativ auf die ex ante zu erwartende Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs aus (BeckOGK/Schall, BGB, 1.3.2020, § 346 Rn. 437).
1.3.2. Zudem ist dem Kläger im Wege des Vorteilsausgleichs der erzielte Verkaufspreis in Höhe von 5.000,00 Euro anzurechnen.
Ein Vorteilsausgleich ist vorzunehmen, wenn zwischen dem schädigenden Ereignis und dem Vorteil ein adäquater Kausalzusammenhang besteht und die Anrechnung des Vorteils dem Zweck des Schadensersatzes entspricht, d.h. den Geschädigten nicht unzumutbar belastet und den Schädiger nicht unbillig begünstigt (BGH NJW 2019, S. 215, 216 Tz. 17; BGH, NZG 2010, S. 1029, 1030, Tz. 35). Vorliegend besteht die sittenwidrige Schädigung des Klägers im Abschluss des so nicht gewollten Kaufvertrags über ein mangelhaftes Fahrzeug. Eigentum und Besitz an dem Fahrzeug hat der Kläger infolge dieses Vertragsschlusses erhalten. Nach völlig einhelliger Rechtsprechung hat der Kläger, wenn er als Schadenersatz die Erstattung des Kaufpreises von der Beklagten fordert, den adäquat kausal erlangten Vorteil, Eigentum und Besitz des Fahrzeugs, an die Beklagte herauszugeben (s. z.B. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 12). Dies ist weder dem Kläger unzumutbar noch wird dadurch die Beklagte unbillig begünstigt. Nichts anderes gilt, wenn der Kläger noch vor der Rückerstattung des Kaufpreises durch die Beklagte das Fahrzeug veräußert hat. Der dadurch erlangte Verkaufspreis steht noch immer in adäquat kausalem Zusammenhang zur sittenwidrigen Schädigung durch die Beklagte. Dass ein Käufer, der mit einem für ihn nachteiligen Vertrag belastet wird, das Fahrzeug weiterverkauft und mithin anstelle des Fahrzeugs nunmehr den Verkaufspreis als Vorteil hat, erscheint weder fernliegend noch außerhalb eines adäquaten Kausalzusammenhangs. Die Anrechnung des erzielten Verkaufspreises ist weder dem Kläger unzumutbar noch wird die Beklagte dadurch unbillig begünstigt. Insbesondere behaupten vorliegend die Parteien selbst nicht, dass der erzielte Verkaufspreis von 5.000,00 Euro im Verhältnis zum Wert des Fahrzeugs unangemessen hoch oder viel zu niedrig wäre.
Der Ansicht des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung vom 15.10.2020, dem Kläger sei ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte in Form der Erstattung des Kaufpreises verwehrt, da der Kläger infolge der Veräußerung des Fahrzeugs nicht mehr zur Herausgabe des erhaltenen Vorteils in der Lage sei, vermag der Senat nicht zu folgen.
Soweit der Beklagtenvertreter auf § 326 Abs. 1 BGB verwiesen hat, übersieht er, dass es vorliegend nicht um Leistungspflichten aus einem gegenseitigen Vertrag geht. Vielmehr besteht lediglich ein Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 826 BGB, der per se um die anzurechnenden Vorteile vermindert ist (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl, vor § 249 Rz. 71).
Zudem hätte die Ansicht des Beklagtenvertreters zur Folge, dass der Geschädigte verpflichtet wäre, bis zur rechtskräftigen Durchsetzung der Ansprüche gegen den Schädiger - was unter Umständen erhebliche Zeit in Anspruch nehmen kann - das Fahrzeug zu behalten. Eine derartige Beschränkung ist dem Geschädigten, zumal im Falle einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung, unzumutbar. Soweit der Geschädigte im Rahmen des Verkaufs einen viel zu niedrigen Preis erzielt oder gar das Fahrzeug verschenkt hätte, wäre § 254 Abs. 2 Satz 1 letzter HS BGB zu prüfen (vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl., vor § 249 Rz. 70). Indessen behauptet dies im vorliegenden Fall auch die Beklagte nicht.
2. Die Berufung des Klägers hat insoweit Erfolg, als ihm Verzugszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 8.408,40 Euro vom 07.02.2019 bis 04.05.2019, aus einem Betrag von 5.575,06 Euro von 05.05.2019 bis 12.02.2020 und aus einem Betrag von 575,06 Euro seit dem 13.02.2020 aus § 291, § 288 Abs. 1 BGB zustehen.
Soweit der Kläger weitergehende Verzugszinsen fordert, ist die Berufung unbegründet, da ihm ein entsprechender Anspruch nicht zusteht.
2.1. Ein Anspruch auf Verzugszinsen aus § 286, § 288 Abs. 1 BGB besteht nicht, da es jedenfalls am Verschulden der Beklagten nach § 286 Abs. 4 BGB fehlt.
Zwar hat der Kläger die Beklagte mit Schreiben vom 22.11.2018 (Anlage K 5) aufgefordert, Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises bis spätestens 06.12.2018 zu zahlen, „Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe des Fahrzeugs, sowie Zahlung einer Nutzungsentschädigung für die durch unsere Mandantschaft gefahrenen km“.
Eine Zuvielforderung steht einer Mahnung zwar grundsätzlich nicht entgegen, wenn sie als Aufforderung zum Bewirken der eigentlich geschuldeten Leistung zu verstehen und davon auszugehen ist, dass der Gläubiger auch die geringere, geschuldete Leistung annimmt (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl, § 286 Rz. 20). Indessen fehlt es dann am Verschulden des Schuldners, wenn er die wirklich geschuldete Leistung nicht selbst errechnen kann, weil sie von ihm unbekannten internen Daten das Gläubigers abhängt (BGH NJW 2006, S. 3271 Tz. 16). So liegt der Fall hier. Dem Schreiben des Klägervertreters vom 22.11.2018 lässt sich zwar die grundsätzliche Bereitschaft, einen Abzug als Nutzungsentschädigung zu akzeptieren, entnehmen. Indessen war es der Beklagten nicht möglich, die tatsächlich geschuldete Leistung selbst zu errechnen. Wieviel Kilometer der Kläger mit seinem Fahrzeug gefahren war, hat dieser in dem Schreiben vom 22.11.2018 nicht mitgeteilt. Dass der Beklagten aus sonstigen Gründen vor Klageerhebung der Kilometerstand bekannt gewesen wäre, ist vom Kläger nicht vorgetragen.
2.2. Dem Kläger steht lediglich ein Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen nach §§ 291, 288 Abs. 1 BGB im ausgeurteilten Umfang zu. Maßgeblich für die Berechnung der Forderung des Klägers war für den Zeitraum vom 07.02.2019 bis 04.05.2019 der Kilometerstand am 04.05.2019 von unstreitig 167.048 km, für den Zeitraum bis zum Verkauf am 12.02.2020 der Kilometer von 195.000 km an diesem Tag und für die Zeit nach dem Verkauf des Fahrzeugs der im Tenor zugesprochene Anspruch von 575,06 Euro.
3. Der Antrag des Klägers auf Feststellung, dass sich die Beklagte vom 07.12.2018 bis zum 12.02.2020 in Annahmeverzug befunden hatte, ist zulässig, aber unbegründet. Auch insoweit bleibt die Berufung des Klägers ohne Erfolg.
Es fehlt an einem ordnungsgemäßen Angebot des Klägers i.S. der §§ 294, 295 BGB. Ein zur Begründung des Annahmeverzugs auf Seiten der Beklagten ausreichendes Angebot liegt dann nicht vor, wenn der Kläger zwar die Rückgabe des Fahrzeugs anbietet, aber durchgängig die Zahlung eines höheren Betrags verlangt, als er hätte beanspruchen können, insbesondere sich gegen die Anrechnung der Nutzungsentschädigung wehrt (BGH, Urteil vom 25.05.2019, VI ZR 252/19, juris Tz. 85; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 30).
Vorliegend hat der Kläger im Schreiben vom 22.11.2018 (Anlage K 5) Zahlung des gesamten Kaufpreises gefordert „Zug um Zug gegen Zahlung einer Nutzungsentschädigung für die durch unsere Mandantschaft gefahrenen km“. Ein konkreter Betrag ist ebensowenig genannt wie eine Mitteilung, wieviel km der Kläger tatsächlich gefahren war und von welcher Gesamtlaufleistung der Kläger bei einer Berechnung der Nutzungsentschädigung ausgeht.
Auch in der Klageschrift hat der Kläger zwar ausgeführt, er wolle sich eine Nutzungsentschädigung anrechnen lassen, stellt diese der Höhe nach aber „in das Ermessen des Gerichts“ und erklärt zudem, er gehe von einer Laufleistung von 300.000 bis 500.000 km aus (Klageschrift S. 15, Bl. 15 d.A.). Konkret berechnet der Kläger eine Nutzungsentschädigung erst in dem nach Verkauf des Fahrzeugs am 12.02.2020 eingereichten Schriftsatz vom 17.09.2020 (Bl. 221 d.A.).
4. Ein Anspruch des Klägers auf Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten besteht ebenfalls nicht. Auch insoweit bleibt die Berufung des Klägers ohne Erfolg. Ein solcher Anspruch könnte sich zwar grundsätzlich aus § 826 BGB ergeben. Indessen hat die Beklagte vorgetragen, der Kläger sei rechtsschutzversichert und der Anspruch des Klägers auf Erstattung der Rechtsanwaltskosten sei auf die Rechtsschutzversicherung übergegangen. Dies hat der Kläger nicht bestritten. Damit ist der Kläger für den Anspruch auf Erstattung der Rechtsanwaltskosten nicht aktivlegitimiert.
5. Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 17.09.2020 (Bl. 221 f d.A.) den Rechtsstreit aufgrund des Verkaufs des Fahrzeugs am 12.02.2020 im Übrigen für erledigt erklärt hat, verbleibt dieser Antrag ebenfalls ohne Erfolg.
Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vom 15.10.2020 (Protokoll S. 2, Bl. 225 d.A.) ausdrücklich die Zustimmung zur Erledigterklärung verweigert. Der Antrag des Klägers ist mithin als Antrag auf Feststellung auszulegen, dass sich die Klage abgesehen von den im Schriftsatz vom 17.09.2020 noch gestellten Zahlungsanträgen in der Hauptsache erledigt habe.
Dieser Feststellungsantrag ist zulässig, aber unbegründet.
5.1. Bezüglich der Zahlungsanträge stellt der Verkauf des Fahrzeugs kein erledigendes Ereignis dar. Der Anspruch des Klägers auf Rückzahlung des Kaufpreises aus § 826 BGB bestand von vornherein nur Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs. Der Kläger war im Wege des Vorteilsausgleichs zur Herausgabe und Rückübereignung des Fahrzeugs verpflichtet. Anstelle der Rückgabe des Fahrzeugs ist nunmehr der Anspruch auf Herausgabe des erzielten Verkaufserlöses getreten. Eine Erledigung in der Hauptsache liegt darin nicht.
5.2. Der Antrag auf Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger Schadensersatz zu zahlen für weitere Aufwendungen und Schäden, die aufgrund des Erwerbs und des Unterhalts des Kraftfahrzeugs entstanden sind und noch entstehen werden, war schon bei Verkauf des Fahrzeugs am 12.02.2020 unzulässig. Eine Erledigung ist daher nicht eingetreten.
Es fehlt am Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 2 ZPO. Bei reinen Vermögensschäden kommt eine Klage auf Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden dann in Betracht, wenn der Schadenseintritt wahrscheinlich ist (BGH, Urteil vom 10.07.2014, IX ZR 197/12, juris Tz. 10). Vorliegend haftet die Beklagte nicht wegen der Verletzung eines absolut geschützten Rechtsguts, sondern wegen der sittenwidrigen vorsätzlichen Herbeiführung eines ungewollten Vertragsschlusses. Der in dem Vertragsschluss selbst liegende Schaden wird bereits von der Verurteilung der Beklagten zur Kaufpreiserstattung umfasst (BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 29). Dass weitere konkrete Schäden wahrscheinlich oder auch nur möglich sind, hat der Kläger nicht ausreichend dargetan. Soweit der Kläger völlig pauschal auf Kosten für Reparaturen, Inspektionen, Gebühren, Auslagen und Zubehör, das nur für das Fahrzeug nutzbar sei, verweist, fehlt es schon an hinreichend konkretem Vortrag. Im Übrigen wären diese Positionen per se nicht erstattungsfähig. Aufwendungen, die zu den gewöhnlichen Unterhaltskosten zählen, sind in Fällen wie dem vorliegenden nicht ersatzfähig. Da der Kläger das Fahrzeug wie vorgesehen genutzt hat, handelt es sich nicht um vergebliche Aufwendungen (BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 354/19, juris Tz. 24).
Soweit der Kläger auf Schäden verweist, die nach Berichten anderer betroffener Autofahrer infolge des Aufspielens des Software-Updates auftreten können, wie erhöhter Kraftstoffverbrauch, gesteigerte Abnutzung der Rußpartikelfilter oder instabiles Fahrverhalten, genügt dies ebenfalls nicht. Zum einen handelt es sich insoweit um keine Schäden „aufgrund des Erwerbs und Unterhalts“, wie beantragt, sondern um befürchtete Schäden infolge des Aufspielens des Software-Updates. Zum anderen wurde das Update unstreitig bereits vor zwei Jahren aufgespielt. Dem Kläger wäre daher möglich und zumutbar konkreter darzutun, welche Schäden gerade infolge des Aufspielens des Updates bei seinem Fahrzeug noch zu erwarten sind.
6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 92 Abs. 1 ZPO. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Kläger unter anderem hinsichtlich des Anspruchs auf Deliktszinsen, den er in erster Instanz und in zweiter Instanz bis zur Rücknahme der Berufung insoweit verfolgt hat, unterlegen ist. Das derart erhebliche Unterliegen mit einer Nebenforderung ist kostenrechtlich relevant (BGH NJW 1988, 2173, 2175; OLG München BeckRS 2020, 16257 Rn. 47).
7. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Abs. 1 Nr. 10, § 711 ZPO.
8. Die Revision war nicht nach § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung.
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Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 10.05.2019, Az. 41 O 10570/18, in Tenor Ziff. 1 abgeändert wie folgt:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag von 10.559,93 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Betrag von 11.832,21 Euro vom 25.05.2018 bis 19.03.2019, sowie aus einem Betrag von 10.559,93 Euro seit 20.03.2019 sowie weitere Zinsen in Höhe von jeweils vier Prozent
- aus einem Betrag von 13.326,97 Euro vom 27.05.2011 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.07.2011 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.08.2011 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.09.2011 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.10.2011 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.11.2011 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.12.2011 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.01.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.02.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.03.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.04.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.05.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.06.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.07.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.08.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.09.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.10.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.11.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.12.2012 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.01.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.02.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.03.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.04.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.05.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.06.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.07.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.08.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.09.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.10.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.11.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.12.2013 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.01.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.02.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.03.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.04.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.05.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.06.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.07.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.08.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.09.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.10.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.11.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.12.2014 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.01.2015 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.02.2015 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.03.2015 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.04.2015 bis 24.05.2018,
- aus einem weiteren Betrag von 200 Euro vom 01.05.2015 bis 24.05.2018, zu zahlen, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs VW Caddy Trendline (FIN …38).
Im Übrigen wird bzw. bleibt die Klage insoweit abgewiesen.
II. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 10.05.2019, Az. 41 O 10570/18, in Tenor Ziff. 3 abgeändert wie folgt:
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 25.05.2018 bezüglich der Rücknahme des in Ziff. I bezeichneten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet.
Im Übrigen wird bzw. bleibt die Klage insoweit abgewiesen.
III. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.
IV. Von den Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz tragen der Kläger 23% und die Beklagte 77%. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger 20% und die Beklagte 80%.
V. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus diesem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
VI. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Parteien streiten um die Rückzahlung des Kaufpreises und Schadensersatz wegen des Erwerbs eines Fahrzeugs, das von der Manipulation der Schadstoffsoftware im sogenannten Dieselskandal betroffen ist. Die Klagepartei erwarb am 11.04.2011 von der Beklagten als Verkäuferin und Herstellerin einen PKW VW Caddy als Neuwagen zum Kaufpreis von 21.499,97 Euro. Der Kaufpreis wurde in Höhe von 9.600,00 Euro über ein Darlehen finanziert. Das mit der VW Bank geschlossene Darlehen wurde auf Weisung des Klägers an die Beklagte ausbezahlt. Das Darlehen war in monatlichen Raten zu je 200,00 Euro an die V. Bank zurückzuzahlen. Den restlichen Kaufpreis bezahlte der Kläger bei Übergabe des Fahrzeugs am 27.05.2011 aus eigenen Mitteln.
Im Fahrzeug ist ein Motor der Baureihe EA189 eingebaut, bei dem das Abgasrückführungssystem so manipuliert ist, dass im Prüfmodus im Gegensatz zum normalen Betriebsmodus die Grenzwerte für Stickoxide eingehalten werden. Der Kläger erklärte am 09.05.2018 den Rücktritt vom Kaufvertrag mit der Beklagten. Das Software-Update ließ der Kläger am 08.06.2018 aufspielen. Der km-Stand des Fahrzeugs betrug bei Schluss der mündlichen Verhandlung beim Landgericht am 19.03.2019 112.416 km, am Tag der mündlichen Verhandlung des Senats am 15.10.2020 127.210 km.
Die Klagepartei ist der Ansicht, ihr stünden gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche u.a. aus § 826 BGB sowie Ansprüche aus §§ 346, 347 BGB zu.
Wegen der Anträge der Klagepartei in erster Instanz wird Bezug genommen auf S. 6 bis 9 des landgerichtlichen Urteils vom 10.05.2019.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen Bezug genommen wird, hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Die Klagepartei habe einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises unter Abzug einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs aus § 826 BGB. Ferner schulde die Beklagte Verzinsung des gezahlten Kaufpreises und Ersatz der auf das Fahrzeug getätigten Verwendungen. Die Beklagte befinde sich seit 24.05.2018 in Annahmeverzug und habe daher auch daraus künftig noch entstehende Schäden oder Verwendungen des Klägers zu tragen.
Dagegen wenden sich beide Parteien mit ihren Berufungen.
Die Klagepartei rügt, das Landgericht habe bei der Berechnung der Nutzungsentschädigung zu Unrecht eine Gesamtlaufleistung von nur 250.000 km zugrunde gelegt. Auszugehen sei von mindestens 300.000 km, wofür die Klagepartei in erster Instanz auch Sachverständigengutachten angeboten habe. Zudem hat die Klagepartei ihren Feststellungsantrag präzisiert.
Wegen der Berufungsanträge des Klägers in zweiter Instanz wird Bezug genommen auf dessen Schriftsatz vom 22.09.2020, Bl. 424 bis 427 d.A.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Des Weiteren beantragt die Beklagte mit ihrer Berufung,
das landgerichtliche Urteil aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte rügt, das Landgericht habe zu Unrecht die Kausalität bejaht. Außerdem fehle es an einem Schaden des Klägers. Den Annahmeverzug habe das Landgericht zu Unrecht festgestellt. Ein Anspruch auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten bestehe nicht.
Ergänzend wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15.10.2020 Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nur teilweise begründet. Die zulässige Berufung des Klägers verbleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich der Nutzungsentschädigung in Höhe von - nur - 10.559,93 Euro, zuzüglich Verzugszinsen und Zinsen in Höhe von 4% wie oben im Tenor Ziff. I ausgeurteilt, Zug um Zug gegen Herausgabe des PKW. Insoweit hatte nur die Berufung der Beklagten zum Teil Erfolg.
1.1. Der Kläger hat Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises aus § 346 Abs. 1, § 323 Abs. 1, § 437 Nr. 2, § 434 Abs. 1 BGB.
1.1.1. Der Kläger hat den PKW VW Caddy im April 2011 als Neuwagen von der Beklagten als Verkäuferin erworben.
1.1.2. Das Fahrzeug wies bei Gefahrübergang einen Sachmangel i.S. des § 434 Abs. 1 Nr. 2 BGB auf. Die im Motor EA 189 verwendete Motorsoftware, die bei einem erkannten Prüfstandlauf eine verstärkte Abgasrückführung aktivierte, stellt eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der VO Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.07.2007 dar (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 17; BGH Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 11). Die Beklagte brachte den Motor mit der unzulässigen Software in den Verkehr, ohne die Typengenehmigungsbehörden darauf hinzuweisen. Auf diese Weise spiegelte sie konkludent und der Wahrheit zuwider vor, dass der Motor ohne eine derartige unzulässige Einrichtung betrieben wird, und erschlich die Typengenehmigung durch eine Täuschung der zuständigen Behörde (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 18; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 11). Damit hat die Beklagte die Gefahr geschaffen, dass bei einer Entdeckung der Software eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung nach § 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung hätte erfolgen können (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 19 ff; BGH Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 11). Die bei Gefahrübergang und auch noch bei Erklärung des Rücktritts am 09.05.2018 mangels Nachrüstung des Fahrzeugs zumindest latent bestehende Gefahr einer Betriebsuntersagung oder -beschränkung durch die Zulassungsbehörde führt dazu, dass dem betroffenem Fahrzeug die Eignung für die gewöhnliche Verwendung im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB fehlt (BGH, Hinweisbeschluss vom 08.01.2019, VIII ZR 225/17, juris Tz. 21).
1.1.3. Eine Nachfristsetzung vor Erklärung des Rücktritts am 09.05.2018 war nach § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB entbehrlich. Ein die sofortige Rückabwicklung des Kaufvertrags ohne vorherige Fristsetzung zur Nacherfüllung rechtfertigendes Interesse des Käufers liegt immer dann vor, wenn der Verkäufer dem Käufer einen Mangel bei Abschluss des Kaufvertrags arglistig verschwiegen hat (BGH NJW 2017, S. 3292, 3295 Tz. 29; BGH NJW 2007, S. 835, 836 f Tz. 10 ff). So liegt der Fall hier.
Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass bei Erwerb des Fahrzeugs durch den Kläger zumindest die Vorstandsmitglieder der Beklagten Dr. W. und Dr. H. von der Konstruktion und dem Einbau der Software in das streitgegenständliche Fahrzeug gewusst und dieses gebilligt haben. Die Beklagte treffe insoweit eine sekundäre Darlegungslast, der die Beklagte nicht nachgekommen sei (Urteil S. 12 f). Konkrete Anhaltspunkte i.S. des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, aus denen sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen durch das Landgericht insoweit ergeben könnten, sind nicht dargetan oder auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere hat das Landgericht zurecht eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten angenommen (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 39 ff; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 13 ff.; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 367/19, juris Tz. 17 ff). Der Vortrag der Beklagten in erster Instanz, sie habe derzeit keine Erkenntnisse, dass einzelne Vorstandsmitglieder an der Entwicklung der Software beteiligt gewesen seien, genügt dem nicht.
Unstreitig hat die Beklagte den Kläger vor Abschluss des Kaufvertrags nicht über die darin verbaute Software und die daraus resultierende Gefahr einer Betriebsuntersagung informiert. Eine Aufklärungspflicht besteht über alle Umstände, die für die Willensbildung des anderen Teils offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind (Palandt/Ellenberger, BGB, 79. Aufl. 2020, § 123 Rz. 5b). Damit war die Beklagte verpflichtet, den Kläger als Käufer vor Abschluss des Kaufvertrags über die von ihr entwickelte und im Fahrzeug installierte Software, von der der Kläger offensichtlich im Jahr 2011 keine Kenntnis haben konnte, zu unterrichten.
Wie bereits vom Landgericht angenommen steht es auch zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger das Fahrzeug in Kenntnis der wahren Sachlage nicht erworben, mithin den Kaufvertrag mit der Beklagten ohne die arglistige Täuschung nicht abgeschlossen hätte. Wie ausgeführt, bestand bei Erwerb des Fahrzeugs im Jahr 2011 die Gefahr, dass es im Falle einer Entdeckung der Manipulationssoftware zu einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung nach § 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung kommen könnte. Insbesondere gab es im Kaufzeitpunkt kein Software-Update zur Beseitigung des Problems und es war 2011 in keiner Weise absehbar, ob zu einem späteren Zeitpunkt ein derartiges Software-Update entwickelt werden könnte. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist auszuschließen, dass ein Käufer ein Fahrzeug erwirbt, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung zumindest theoretisch droht, wenn gleichzeitig unklar ist, ob überhaupt, wenn ja zu welchem Zeitpunkt und wie, vor allem ohne Nachteil für den Käufer, der Mangel behoben werden kann (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 49 ff; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 16).
1.1.4. Der Rücktritt am 09.05.2018 ist nicht nach § 218 BGB unwirksam, da die Beklagte sich nicht auf die Verjährung berufen hat. Im Übrigen wären für die Verjährung ohnehin gemäß § 438 Abs. 3 Satz 1 BGB infolge der arglistigen Täuschung durch die Beklagte die allgemeinen Verjährungsregelungen nach § 199 Abs. 1, § 195 BGB maßgeblich.
1.1.5. Der Rücktritt ist nicht nach § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB wegen Unerheblichkeit der Pflichtverletzung ausgeschlossen. Eine Unerheblichkeit ist jedenfalls bei einem arglistigen Verhalten des Schuldners in der Regel zu verneinen (BGH NJW 2006, S. 1960, 1961 Tz. 7). Wie ausgeführt liegt eine arglistige Täuschung des Klägers durch die Beklagte vor. Anhaltspunkte, dass dennoch ausnahmsweise die Pflichtverletzung als unerheblich anzusehen wäre, finden sich nicht.
1.2. Der Kläger hat indessen nach § 346 Abs. 2 Satz Nr. 1 BGB die von ihm gezogenen Nutzungen in Höhe von 10.940,04 Euro herauszugeben. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, der aktuelle Kilometerstand betrage 127.210 km. Dies hat der Beklagtenvertreter nicht bestritten. Das Fahrzeug wurde als Neuwagen erworben.
Ausgehend von einer Gesamtlaufleistung von 250.000 km errechnet sich damit ein Nutzungsersatz von 127.210 km x 21.499,97 Euro / 250.000 km, mithin 10.940,04 Euro.
1.2.1. Das Landgericht hat die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen VW Caddy auf 250.000 km geschätzt (LGU S. 14). Dies ist aus Sicht des Senats nicht zu beanstanden. Entgegen der Ansicht des Klägers bedurfte es nicht eines Sachverständigengutachtens zur Höhe der Gesamtlaufleistung. Gemäß § 287 Abs. 1 Satz 2, § 287 Abs. 2 BGB stand die Erholung des von Klägerseite angebotenen Sachverständigengutachtens im Ermessen des Gerichts. Vorliegend stünde die Einholung eines teuren und zeitaufwändigen Sachverständigengutachtens dazu, dass die Gesamtlaufleistung mindestens 300.000 km beträgt, in keinem Verhältnis zum insoweit streitigen Teil der Forderung, nämlich der Höhe der Nutzungsentschädigung. Im Übrigen liegen, wie nachstehend ausgeführt, ausreichend Schätzgrundlagen für die Ausübung des gemäß § 287 Abs. 1, Abs. 2 ZPO bestehenden Schätzungsermessens vor. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgebend: Bei dem streitgegenständlichen VW Caddy handelt es sich um ein robustes Mittelklassefahrzeug aus dem Baujahr 2011, das grundsätzlich auf eine umfangreichere Nutzung ausgelegt ist. Nach verbreiteter Ansicht sind die Gesamtlaufleistungen für derartige Fahrzeuge neueren Baujahrs in der mittleren und gehobenen Klasse im Bereich von 250.000 km bis 300.000 km anzusiedeln (250.000 km: BGH BeckRS 2015, 1267; KG NJW-RR 2014, S. 57, 58; OLG Braunschweig BeckRS 2019, 40569; 300.000 km: OLG Koblenz NJW 2019, S. 2237, 2246; OLG Oldenburg BeckRS 2020, 1974 Tz. 86; allg. Staudinger/Kaiser, BGB, 2012, § 346 Rn. 261 mwN). Eine erheblich niedrigere Laufleistung, etwa eine solche von nur 150.000 km, wird der heutigen Fahrzeugtechnik regelmäßig nicht mehr gerecht, umgekehrt erscheint die Annahme von deutlich mehr als 300.000 km, gar 500.000 km überzogen (vgl. Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2020, Rz. 3571). Es gilt einerseits zu berücksichtigen, dass neuere Fahrzeuge infolge fortschreitender Technik eine höhere Motorlaufleistung erreichen (BeckOGK/Schall, BGB, 01.03.2020, § 346 Rn. 437); die Karosserie hat nicht zuletzt wegen eines erheblich verbesserten Korrosionsschutzes eine Lebensdauer von weit über 10 Jahren (Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2020, Rz. 3573). Andererseits macht die in moderneren Fahrzeugen verbaute Elektronik das Fahrzeug störanfälliger. Ein Schaden in diesem Bereich löst mitunter hohe Kosten aus, was bei einem bereits länger genutzten Fahrzeug die Frage der wirtschaftlichen Rentabilität einer Reparatur aufwerfen kann. Dies wirkt sich negativ auf die ex ante zu erwartende Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs aus (BeckOGK/Schall, BGB, 01.03.2020, § 346 Rn. 437).
1.2.2. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die vorbezeichnete lineare Berechnungsmethode für die Nutzungsentschädigung eine taugliche Schätzgrundlage. Es kommt gerade nicht darauf an, welche Nachteile der Kläger erlitten hätte, wenn er ein anderes Fahrzeug erworben und genutzt hätte (ausführlich BGH, Urteil vom 25.02.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 80 ff; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 354/19, juris Tz. 12 f).
1.3. Dem Kläger stehen die von ihm beantragten, gestaffelten Zinsen in Höhe von 4% aus § 346 Abs. 1 BGB oder aus § 347 Abs. 1 Satz 1 BGB zu. Aufgrund des wirksamen Rücktritts des Klägers finden diese Vorschriften unmittelbare Anwendung. Der Kläger hat insoweit vorgetragen, die Beklagte müsse auf den Kaufpreis erzielte Zinserträge herausgeben. Zumindest habe die Beklagte Schuldzinsen in Höhe von 4% des Kaufpreises erspart. Diesen Vortrag hat die Beklagte nicht bestritten.
Ob dem Kläger ein Anspruch auf Deliktszinsen in Höhe von 4% aus § 849 BGB zusteht, ist vorliegend daher irrelevant.
1.4. Dem Kläger steht ein Zinsanspruch in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.05.2018 aus § 286 Abs. 1, § 288 Abs. 1 BGB zu, wie vom Landgericht ausgeurteilt.
Die Beklagte befand sich am 25.05.2018 in Verzug. Der Kläger hat mit Schreiben vom 09.05.2018 (Anlage K 5) den Rücktritt vom Kaufvertrag erklärt, einen Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung von 7.324,32 Euro Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs geltend gemacht und der Beklagten eine Frist zur Zahlung bis 23.05.2018 gesetzt. Das Schreiben vom 09.05.2018 enthielt eine wirksame Mahnung. Der Anspruch auf Rückzahlung wird mit der Rücktrittserklärung fällig (MüKoBGB/Gaier, 8. Aufl. 2019, BGB 346 Rz. 41). Die Mahnung kann mit der die Fälligkeit begründenden Handlung, vorliegend dem Ausspruch der Rücktrittserklärung, verbunden werden (BGH NJW 2017, S. 1823, 1826 Tz. 24). Dass die Mahnung sich auf einen höheren Betrag bezogen hat, da der Kläger die Nutzungsentschädigung ausgehend von einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km berechnet hat, ist ohne Belang. Eine Zuvielmahnung wäre dann schädlich, wenn der Schuldner die wirklich geschuldete Leistung nicht selbst errechnen kann, weil sie von ihm unbekannten internen Daten des Gläubigers abhängt (BGH, NJW 2006, S. 3271, 3272 Tz. 16). Vorliegend konnte jedoch die Beklagte aufgrund der Angabe der Laufleistung des PKW in der Anlage K 5 die Nutzungsentschädigung selbst ermitteln.
1.5. Der Anspruch besteht, wie vom Landgericht ausgeurteilt, gemäß § 346 Abs. 1 BGB nur Zug um Zug gegen Rückgabe des streitgegenständlichen Fahrzeugs.
2. Dem Kläger steht der vom Landgericht unter Tenor Ziff. 2 ausgeurteilte Anspruch auf Zahlung von 6.623,63 Euro nebst Zinsen aus § 347 Abs. 2 BGB bzw. § 826 BGB (wie vom Landgericht ausgeführt) zu. Insoweit finden sich keinerlei Ausführungen der Beklagten in zweiter Instanz zu den konkreten vom Landgericht zugesprochenen Positionen und Zinsen.
3. In Tenor Ziff. 3 hat das Landgericht zum einen festgestellt, dass sich die Beklagte seit 25.05.2018 in Annahmeverzug befinde, zum anderen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden weiteren Verzugsschaden hinsichtlich des in Tenor Ziff. I bezeichneten Fahrzeugs zu ersetzen.
3.1. Bezüglich der Feststellung des Annahmeverzugs verblieb die Berufung der Beklagten ohne Erfolg.
Zwar liegt kein wirksames Angebot i.S. des § 294 BGB oder § 295 BGB vor, wenn der Kläger die Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nicht zu den Bedingungen anbietet, von denen er sie hätte abhängig machen dürfen, insbesondere die Rückzahlung des Kaufpreises ohne Abzug der Nutzungsentschädigung fordert (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris Tz. 85; BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 397/19, juris Tz. 30). Vorliegend hat der Kläger indessen im Schreiben vom 09.05.2018 (Anlage K 5) erklärt, er wolle sich eine Nutzungsentschädigung anrechnen lassen und diese auch unter Mitteilung des aktuellen Kilometerstands berechnet. Zwar geht der Kläger dabei anders als das Landgericht und der Senat von einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km aus. Indessen ist die Frage der Gesamtlaufleistung Ergebnis einer durch das Gericht vorgenommenen Schätzung. In der Literatur und Rechtsprechung finden sich für vergleichbare Fahrzeuge Schätzungen der Gesamtlaufleistung zwischen 250.000 km und 300.000 km (s.o. Ziff. 1.2.1). Da sich die Schätzung des Klägers in diesem Rahmen hielt, ist von einem ordnungsgemäßen Angebot des Klägers auszugehen.
3.2. Die Berufung der Beklagten ist indessen begründet, soweit das Landgericht festgestellt hat, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden weiteren Verzugsschaden hinsichtlich des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu ersetzen. Diesem Antrag des Klägers fehlt das Feststellungsinteresse sowohl in der ausgeurteilten Formulierung als auch in der im Schriftsatz des Klägers vom 22.09.2020 (Bl. 426 d.A.) präzisierten Fassung, wonach festgestellt werden solle, dass die Beklagte dem Kläger Schäden in Zusammenhang mit der Täuschung im Zuge des Inverkehrbringens des Fahrzeugs zu ersetzen habe, insbesondere weitere notwendige Verwendungen gemäß § 347 Abs. 2 BGB, § 994 BGB und Mehraufwendungen gemäß § 304 BGB.
Ein Feststellungsinteresse setzt voraus, dass einem Recht oder einer Rechtsposition eine gegenwärtige Gefahr oder Unsicherheit droht und das erstrebte Urteil dazu geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen (BGH NJW 2019, S. 1002 Tz. 12; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 41. Aufl. 2020, § 256 Rn. 13).
Eine derartige gegenwärtige Gefahr oder Unsicherheit für das vom Kläger verfolgte Recht besteht hier nicht. Denn die Ersatzfähigkeit von Mehraufwendungen im Sinne des § 304 BGB, die dem Kläger unter Umständen noch entstehen könnten, ergibt sich bereits mit ausreichender Sicherheit aus der rechtskräftigen Feststellung des Annahmeverzugs durch das Landgericht in Verbindung mit der gesetzlichen Regelung des § 304 BGB. Die Norm erfasst auch notwendige Verwendungen. Ersatzfähig sind gemäß § 304 BGB auch Aufwendungen zum Erhalt der Sache (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl. 2020, § 304 Rn. 2). Notwendige Verwendungen sind aber gerade solche Verwendungen, die zur Erhaltung der Sache erforderlich sind (Palandt/Herrler, BGB, 79. Aufl. 2020, § 994 Rn. 5).
Ein Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO ergibt sich auch nicht aus einer Notwendigkeit, die Verjährung zu hemmen. Der Aufwendungsersatzanspruch nach § 304 BGB verjährt nach §§ 195, 199 BGB. Der Beginn der Dreijahresfrist setzt dabei u.a. die Entstehung des Anspruchs voraus, § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Der Anspruch aus § 304 BGB entstünde aber erst, wenn künftig noch ein Mehraufwand im Sinne der Norm bei dem Kläger anfallen würde. Vorher bedarf es daher keiner Hemmung. Der bei der Verjährung von Schadensersatzansprüchen zu beachtende Grundsatz der Schadenseinheit (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl. 2020, § 199 Rn. 14) gilt für den Aufwendungsersatzanspruch aus § 304 BGB nicht (so BGH NJW 2018, 2714 Tz. 31 für den Aufwendungsersatzanspruch aus § 670 BGB), da es sich bei diesem gerade nicht um einen Schadensersatzanspruch handelt (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl. 2020, § 304 Rn. 1).
4. Soweit das Landgericht in Tenor Ziff. 4 die Beklagte zur Zahlung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.171,67 Euro nebst Zinsen verurteilt, haben weder die Berufung des Klägers noch die der Beklagten Erfolg.
4.1. Entgegen der Rüge der Beklagten besteht der Anspruch wie vom Landgericht ausgeführt aus § 826 BGB dem Grunde nach. Zu den ersatzpflichtigen Aufwendungen des Geschädigten zählen grundsätzlich auch die durch das Schadensereignis erforderlich gewordenen Rechtsverfolgungskosten. Allerdings hat der Schädiger nicht schlechthin alle durch das Schadenereignis adäquat kausal verursachten Rechtsanwaltskosten zu ersetzen, sondern nur solche, die aus der Sicht des Geschädigten zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig waren (BGH NJW 2006, S. 1065 Tz. 5; BGH NJW 2012, S. 919, 921 Tz. 20). Dies war vorliegend aber der Fall. Dem Senat ist aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt, dass die Beklagte sich mit den Käufern der Dieselfahrzeuge vergleichsweise geeinigt hat. Es war daher im Rahmen einer zweckmäßigen Rechtsverfolgung nicht zu beanstanden, dass der Kläger zunächst unter Einschaltung eines Rechtsanwalts vorgerichtlich die Ansprüche gegen die Beklagte geltend gemacht und sich auf diese Weise bemüht hat, ein zeit- und kostenaufwändiges Klageverfahren zu vermeiden.
4.2. Die Rüge des Klägers, die Rechtsanwaltskosten seien aus einem Gegenstandswert von 22.216,85 Euro zu berechnen, greift nicht durch. Der Kläger verweist zur Begründung darauf, für die Berechnung des Gegenstandswerts sei hinsichtlich Klageantrag Ziff. 1 die in der Klageschrift angegebene Laufleistung 102.200 km maßgeblich, nicht die vom Landgericht zugrunde gelegte Laufleistung von 112.416 km bei Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz. Indessen übersieht der Kläger, dass die Beklagte eine Laufleistung von 102.200 km bei Klageerhebung zulässig mit Nichtwissen bestritten (Klageerwiderung S. 7, Bl. 38 d.A.) und der Kläger keinen Beweis angeboten hat. Mithin ist zugunsten der Beklagten die unstreitige Laufleistung am 19.03.2019, dem Tag der mündlichen Verhandlung in erster Instanz, von 112.416 km der Berechnung zugrundezulegen.
Die vom Landgericht angenommene Gesamtlaufleistung von 250.000 km ist nicht zu beanstanden (s.o. Ziff. 1.2.1).
4.3. Über die Hilfsanträge war nicht zu entscheiden. Der Kläger hat diese nur für den Fall gestellt, dass der Senat keine Anspruchsgrundlage für eine Rückabwicklung des Kaufvertrags sieht (Berufungsbegründung S. 3, Bl. 307 d.A.).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
6. Die Revision war nicht nach § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung. Die entscheidungserheblichen Rechtsfragen sind durch höchstrichterliche Urteile geklärt. Dass in Fällen, in denen die VW AG als Beklagte zugleich Verkäuferin ist, dem Käufer bei Rücktritt auch Ansprüche aus §§ 346, 347 BGB zustehen können, ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz.
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Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Landgerichts München II vom 10.05.2019, Az. 13 O 5363/18, in Ziffer 1. dahin abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger 11.092,29 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Dezember 2018 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Pkw Skoda Octavia mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer ….
2. Auf die Berufung des Klägers wird die Beklagte ferner verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 218,40 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 19.09.2020 zu bezahlen.
3. Im übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 16% und die Beklagte 84%.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
6. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger kaufte am 06.04.2015 zum Preis von 14.280 € von seiner Schwiegertochter den Pkw Skoda Octavia Combi 2.0 TDI mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer …96 für seinen Geschäftsbetrieb. Der Kläger übernahm in der Folgezeit das Fahrzeug und zahlte den Kaufpreis in zwei Tranchen: Am 31.03.2015 zahlte der Kläger 14.000 € und am 06.05.2015 die restlichen 280 €.
Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor EA 189 ausgestattet. Die Software für diesen Motor erkennt, ob das Fahrzeug sich auf dem Prüfstand oder der Straße befindet und verändert entsprechend den Betriebsmodus: Im Prüfstandmodus findet eine erhöhte Abgasrückführung statt; dies hat einen optimierten, niedrigeren Stickoxidausstoß zur Folge als im Straßenmodus.
Im September 2015 räumte die Beklagte die Verwendung der entsprechenden Software öffentlich ein. Das Kraftfahrbundesamt (KBA) sah in der Software in dem Motor EA 189 eine unzulässige Abschalteinrichtung, die zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit der davon betroffenen Fahrzeuge - unter anderem auch des hier streitgegenständlichen - entfernt werden müsse. Die Beklagte entwickelte daraufhin ein Update zum Zwecke der Beseitigung der Software. Dieses wurde von der für Skoda zuständigen britischen Vehicle Certification Agency (VCA) am 05.05.2017 freigegeben. Der Kläger hat das Update nicht aufgespielt.
Zum Zeitpunkt der Übernahme des Fahrzeugs durch den Kläger hatte dieses einen Kilometerstand von 54.158 km. Am 09.09.2019 legte der Kläger das Fahrzeug bei einem Kilometerstand von 109.037 km still. Dies war auch noch der Kilometerstand zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 15.10.2020.
Der Kläger hat in erster Instanz beantragt,
1) die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 11.623,32 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.12.2018 sowie weitere Zinsen in Höhe von jeweils vier Prozent
- aus einem Betrag von 14.000,00 € vom 31.03.2015 bis zum 19.12.2018 und
- aus einem Betrag von 280,00 € vom 06.05.2015 bis zum 19.12.2018
zu bezahlen, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs Skoda Octavia Combi 2.0 TDI (FIN: …),
2) festzustellen, dass sich die Beklagte seit dem 20.12.2018 bezüglich der Rücknahme des in Ziffer 1) bezeichneten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet und insoweit verpflichtet ist, dem Kläger jeden weiteren Verzugsschaden hinsichtlich des in Ziffer 1) bezeichneten Fahrzeugs zu ersetzen,
3) die Beklagte ferner zu verurteilen, als Nebenforderung an den Kläger die noch zu erstattenden außergerichtlichen Anwaltskosten von weiteren 805,20 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
Wegen der vom Kläger in erster Instanz zusätzlich noch gestellten Hilfsanträge wird auf das Urteil des Landgerichts (Seite 5) verwiesen.
Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Mit Endurteil vom 10.05.2019 hat das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen nach § 540 Abs. 1 ZPO Bezug genommen wird, der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 14.280 € abzüglich einer auf den Rückgabezeitpunkt des Fahrzeugs zu errechnenden Nutzungsentschädigung nebst Zinsen seit 20.12.2018 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs. Des Weiteren hat das Landgericht festgestellt, dass die Beklagte sich seit 20.12.2018 mit der Rücknahme des Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet. Zudem hat es die Beklagte zur Zahlung von 805,20 € vorgerichtlicher Anwaltskosten nebst Zinsen verurteilt. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Landgerichtsurteil Bezug genommen.
Hiergegen haben sich zunächst beide Parteien mit ihren Berufungen gewandt. Die Beklagte hat ihre Berufung mit Schriftsatz vom 11.08.2020 wieder zurückgenommen.
Im Juli 2019 wandte der Kläger für das Fahrzeug Reparaturkosten in Höhe von 218,40 € netto auf. Der Kläger hat daraufhin in der Berufungsinstanz seine Klage dahingehend erweitert, dass er Zahlung weiterer 218,40 € nebst Rechtshängigkeitszinsen begehrt.
Zu seiner Berufung beantragt der Kläger daher zuletzt:
I. Das Urteil des Landgerichts München II vom 10.05.2019 (Aktenzeichen: 13 O 5363/18) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag i.H.v. 11.092,29 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.12.2018 sowie weitere Zinsen in Höhe von jeweils vier Prozent
- aus einem Betrag von 14.000,00 € vom 31.03.2015 bis zum 19.12.2018 und
- aus einem Betrag von 280,00 € vom 06.05.2015 bis zum 19.12.2018 zu bezahlen, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs Skoda Octavia Combi 2.0 TDI (FIN: …96).
III. Die Beklagte wird ferner verurteilt, an den Kläger einen Betrag i.H.v. 218,40 € nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
IV. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagtenpartei seit dem 20.12.2018 bezüglich der Rücknahme des in Ziffer II bezeichneten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet sowie dass die Beklagtenpartei verpflichtet ist, der Klagepartei dem Grunde nach jeden materiellen Schaden in Zusammenhang mit der arglistigen Täuschung zulasten der Klagepartei im Zuge der Inverkehrbringung des in Ziffer II bezeichneten und mit einer mangelhaften und manipulativ wirkenden Motorsteuerung ausgestatteten klägerischen Fahrzeugs (welcher eine von der Beklagten bei der Motorenentwicklung getroffene strategische Entscheidung, die Typengenehmigung von Fahrzeugen wie das in Ziffer II bezeichnete durch arglistige Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamts zu erschleichen, vorausging) zu ersetzen, insbesondere
- sämtliche weiteren notwendigen Verwendungen i.S.v. § 347 Abs. 2 BGB bzw. § 994 BGB bzgl. des in Ziffer II bezeichneten Fahrzeugs (insbesondere erforderliche Reparaturkosten, die nicht gewöhnliche Erhaltungskosten sind) sowie
- sämtliche Mehraufwendungen i.S.v. § 304 BGB seit Eintritt des Annahmeverzugs der Beklagtenpartei am 20.12.2018 hinsichtlich des in Ziffer II bezeichneten Fahrzeugs (insbesondere erforderliche Stellplatzkosten, Transportkosten und/oder Abmeldekosten).
V. Die Beklagte wird ferner verurteilt, als Nebenforderung an den Kläger die noch zu erstattenden außergerichtlichen Anwaltskosten von weiteren 805,20 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
Die Beklagte beantragt
die Zurückweisung der Berufung des Klägers.
Ergänzend wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15.10.2020 Bezug genommen.
II.
Infolge der Berufungsrücknahme durch die Beklagte war allein noch über die Berufung des Klägers zu entscheiden. Diese ist zulässig und teilweise begründet.
1. Die Berufung des Klägers ist zulässig. Dies gilt auch für die im Rahmen der Berufung erfolgte Klageerweiterung in Höhe von 218,40 € nebst Rechtshängigkeitszinsen. Der Kläger macht damit Reparaturaufwendungen für das Fahrzeug geltend. Deren Ersatzfähigkeit dem Grunde nach war bereits in Form des gestellten Feststellungsantrags streitgegenständlich. Indem der Kläger (nur) für die konkrete Reparaturposition nach deren Anfall nach Rechtshängigkeit von seinem diesbezüglichen Feststellungsauf ein Leistungsbegehren umstellt, nimmt er eine nach § 264 Nr. 3 ZPO stets zulässige Klageänderung vor. Letzteres gilt auch für die Berufungsinstanz (Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 41. Aufl. 2020, § 533 Rn. 1).
2. Die Berufung des Klägers ist im tenorierten Umfang begründet.
2.1. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 11.092,29 € (Kaufpreis von 14.280 € abzüglich Nutzungsentschädigung von 3.187,71 €) nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 20.12.2018 Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des streitgegenständlichen Fahrzeugs aus § 826 BGB.
2.1.1. Indem die Beklagte den in dem streitgegenständlichen Skoda Octavia verbauten Dieselmotor EA 189 in den Verkehr gebracht hat, hat sie den Kläger als Käufer des Fahrzeugs sittenwidrig geschädigt im Sinne des § 826 BGB (vgl. BGH NJW 2020, 1962 ff.).
2.1.2. Als Rechtsfolge ist der Kläger von dem geschlossenen, von ihm so ungewollten Autokaufvertrag zu befreien. Dabei sind im Wege der Vorteilsausgleichung von ihm gezogene Nutzungen in Abzug zu bringen (BGH aaO Tz. 64 ff.). Zudem kann er, gleichfalls als Vorteilsausgleich, die Rückzahlung des um die Nutzungen verminderten Kaufpreises nur Zug um Zug gegen Rückgabe des gekauften Fahrzeugs verlangen.
Die Höhe des in Abzug zu bringenden Nutzungsausgleichs schätzt der Senat vorliegend in Übereinstimmung mit dem Kläger gemäß § 287 ZPO auf insgesamt 3.187,71 €. Hierzu war der von dem Kläger gezahlte Bruttokaufpreis für das Fahrzeug durch die voraussichtliche Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt zu teilen und dieser Wert mit den vom Kläger gefahrenen Kilometern zu multiplizieren (BGH aaO Tz. 80). Maßgeblicher Zeitpunkt ist dabei entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht die tatsächliche Rückgabe des Fahrzeugs, sondern der Tag der letzten mündlichen Verhandlung (BGH aaO Tz. 57). Die Gegenmeinung ist mit § 756 Abs. 1 ZPO nicht vereinbar, wonach die Vollstreckung einer Zug-um-Zug geschuldeten Forderung unter Umständen auch ohne die gleichzeitige oder vorherige Erbringung der Zug-um-Zug-Leistung, hier also ohne die Rückgabe des Fahrzeugs, möglich sein soll.
Der von dem Kläger gezahlte Bruttokaufpreis betrug 14.280 €. Der Kläger hat mit dem Fahrzeug unstreitig bis zum Tag der Verhandlung vor dem Senat 109.037 km - 54.158 km = 54.879 km zurückgelegt.
Das Landgericht hat die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Skoda Octavia Combi TDI auf 300.000 km geschätzt (LGU S. 16). Dies ist aus Sicht des Senats nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat sein gemäß § 287 ZPO bestehendes Schätzungsermessen fehlerfrei ausgeübt. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgebend:
Bei dem streitgegenständlichen Skoda Octavia Combi TDI handelt es sich um ein robustes Mittelklassefahrzeug aus dem Baujahr 2011, das grundsätzlich auf eine umfangreichere Nutzung ausgelegt ist. Nach verbreiteter Ansicht sind die Gesamtlaufleistungen für derartige Fahrzeuge neueren Baujahrs in der mittleren und gehobenen Klasse im Bereich von 250.000 km bis 300.000 km anzusiedeln (250.000 km: BGH BeckRS 2015, 1267; KG NJW-RR 2014, 57, 58; OLG Braunschweig BeckRS 2019, 40569; 300.000 km: OLG Koblenz NJW 2019, 2237, 2246; OLG Oldenburg BeckRS 2020, 1974 Tz. 86; allg. Staudinger/Kaiser, BGB, 2012, § 346 Rn. 261 mwN). Eine erheblich niedrigere Laufleistung, etwa eine solche von nur 150.000 km, wird der heutigen Fahrzeugtechnik regelmäßig nicht mehr gerecht, umgekehrt erscheint die Annahme von deutlich mehr als 300.000 km, gar 500.000 km überzogen (vgl. Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2020, Rz. 3571). Es gilt einerseits zu berücksichtigen, dass neuere Fahrzeuge infolge fortschreitender Technik eine höhere Motorlaufleistung erreichen (BeckOGK/Schall, BGB, 1.3.2020, § 346 Rn. 437), die Karosserie hat nicht zuletzt wegen eines erheblich verbesserten Korrosionsschutzes eine Lebensdauer von weit über 10 Jahren (Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2020, Rz. 3573). Andererseits macht die in moderneren Fahrzeugen verbaute Elektronik das Fahrzeug störanfälliger. Ein Schaden in diesem Bereich löst mitunter hohe Kosten aus, was bei einem bereits länger genutzten Fahrzeug die Frage der wirtschaftlichen Rentabilität einer Reparatur aufwerfen kann. Dies wirkt sich negativ auf die ex ante zu erwartende Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs aus (BeckOGK/Schall, BGB, 1.3.2020, § 346 Rn. 437).
2.2. Der Kläger hat gegen die Beklagte des weiteren Anspruch auf Zahlung von 218,40 € als Ersatz für von ihm bezahlte (Netto-)Reparaturkosten im Juli 2019 aus § 304 BGB.
Infolge der Berufungsrücknahme durch die Beklagte steht zwischen den Parteien rechtskräftig fest, dass die Beklagte sich mit der Rücknahme des Fahrzeugs seit 20.12.2018 in Annahmeverzug befindet.
Der klägerseits behauptete und mit Anlage K 17 untermauerte Anfall der Nettoreparaturkosten wurde von der Beklagten nicht bestritten. Es handelt sich um einen Aufwand zur Erhaltung des Fahrzeugs im Sinne des § 304 BGB.
Die aus dem Betrag zugesprochenen Zinsen seit 19.09.2020 ergeben sich aus § 291 BGB iVm § 187 Abs. 1 BGB analog. Dem Beklagtenvertreter wurde die Klageerweiterung am 18.09.2020 gemäß § 195 ZPO von Anwalt zu Anwalt zugestellt (Bl. 432 der Akte).
2.3. Die Berufung des Klägers erwies sich demgegenüber als unbegründet, soweit der Kläger 4% Zinsen aus dem gezahlten Kaufpreis bis 19.12.2018 begehrte.
Ein Anspruch des Klägers aus § 849 BGB besteht nicht, da der Kläger als Gegenleistung für die Hingabe des Kaufpreises ein in tatsächlicher Hinsicht voll nutzbares Fahrzeug erhalten hatte (vgl. BGH NJW 2020, 2796 Tz. 19).
Ein Anspruch ergibt sich entgegen der Meinung des Klägervertreters auch nicht aus einer analogen Anwendung der §§ 346 Abs. 1, 347 BGB. Es fehlt an einer vergleichbaren Interessenlage. Die §§ 346, 347 BGB sind vertragliche Folgeansprüche. Vorliegend bestand zwischen den Parteien indes unstreitig kein Vertragsverhältnis. Abgesehen davon beruhen die §§ 346, 347 BGB auf dem Gedanken, dass der Rückgewährschuldner aus einer zurückzugewährenden Sache Nutzungen gezogen hat (§ 346 Abs. 1 BGB) oder solche nach den Regeln ordnungsmäßiger Wirtschaft hätte ziehen müssen (§ 347 Abs. 1 BGB). Hier hat die Beklagte indes von dem Kläger kein Geld erhalten, der Kläger hat das Fahrzeug nicht bei ihr gekauft. Folglich konnte sie auch keinen Kapitalnutzen aus dem Geld ziehen.
2.4. Die Berufung des Klägers ist ferner unbegründet, soweit der Kläger mit ihr Feststellung begehrt, dass die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger Schäden in Zusammenhang mit der Täuschung im Zuge der Inverkehrbringung des Fahrzeugs bzw. dessen Motors zu ersetzen, insbesondere weitere notwendige Verwendungen gemäß § 994 BGB und Mehraufwendungen gemäß § 304 BGB.
Es fehlt insoweit an einem Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO.
Ein solches setzt voraus, dass einem Recht oder einer Rechtsposition eine gegenwärtige Gefahr oder Unsicherheit droht und das erstrebte Urteil dazu geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen (BGH NJW 2019, 1002 Tz. 12; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 41. Aufl. 2020, § 256 Rn. 13).
Eine derartige gegenwärtige Gefahr oder Unsicherheit für das vom Kläger verfolgte Recht besteht hier nicht. Denn die Ersatzfähigkeit von Mehraufwendungen im Sinne des § 304 BGB, die dem Kläger unter Umständen noch entstehen könnten, ergibt sich bereits mit ausreichender Sicherheit aus der rechtskräftigen Feststellung des Annahmeverzugs durch das Landgericht in Verbindung mit der gesetzlichen Regelung des § 304 BGB. Die Norm erfasst auch notwendige Verwendungen. Ersatzfähig sind gemäß § 304 BGB auch Aufwendungen zum Erhalt der Sache (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl. 2020, § 304 Rn. 2). Notwendige Verwendungen sind aber gerade solche Verwendungen, die zur Erhaltung der Sache erforderlich sind (Palandt/Herrler, BGB, 79. Aufl. 2020, § 994 Rn. 5).
Ein Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO ergibt sich auch nicht aus einer Notwendigkeit, die Verjährung zu hemmen. Der Aufwendungsersatzanspruch nach § 304 BGB verjährt nach §§ 195, 199 BGB. Der Beginn der Dreijahresfrist setzt dabei u.a. die Entstehung des Anspruchs voraus, § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Der Anspruch aus § 304 BGB entstünde aber erst, wenn künftig noch ein Mehraufwand im Sinne der Norm bei dem Kläger anfallen würde. Vorher bedarf es daher keiner Hemmung. Der bei der Verjährung von Schadensersatzansprüchen zu beachtende Grundsatz der Schadenseinheit (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl. 2020, § 199 Rn. 14) gilt für den Aufwendungsersatzanspruch aus § 304 BGB nicht (so BGH NJW 2018, 2714 Tz. 31 für den Aufwendungsersatzanspruch aus § 670 BGB), da es sich bei diesem gerade nicht um einen Schadensersatzanspruch handelt (Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl. 2020, § 304 Rn. 1).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 516 Abs. 3 ZPO. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Kläger unter anderem hinsichtlich des geltend gemachten Zinsanspruchs bis 19.12.2018 - was einem Betrag von rund 2.100 € entspricht - unterlegen ist. Das derart erhebliche Unterliegen mit einer Nebenforderung ist kostenrechtlich relevant (BGH NJW 1988, 2173, 2175; OLG München BeckRS 2020, 16257 Rn. 47).
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
5. Die Revision war nicht nach § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung. Auch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert die Entscheidung des Revisionsgerichts nicht.
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Tenor
I. Auf die Berufung der Verfügungsklägerin wird das Endurteil des Landgerichts München II vom 10.09.2020 aufgehoben.
II. Den Verfügungsbeklagten wird - jedem für sich - geboten, es zu unterlassen, vom Baugrundstück aus einen Baukran in den Luftbereich über dem Grundstück zu schwenken oder Schwenken zu lassen.
III. Den Verfügungsbeklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen das Unterlassungsgebot in Ziffer II ein Ordnungsgeld bis zu 250.000 €, und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angedroht.
IV. Die Verfügungsbeklagten tragen samtverbindlich die Kosten des Rechtsstreits.
V. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Verfügungsklägerin verlangt von den Verfügungsbeklagten im Wege der einstweiligen Verfügung, es zu unterlassen, den Kranarm eines Baukrans über ihr Grundstück zu schwenken oder schwenken zu lassen.
Die Verfügungsklägerin ist Eigentümerin des Grundstücks … . Der Verfügungsbeklagte zu 1) ist Eigentümer des Nachbargrundstück … Er errichtet dort derzeit mit Hilfe der Verfügungsbeklagten zu 2) ein Mehrfamilienhaus mit Tiefgarage.
Mit Schriftsatz vom 04.08.2020 (Anlage K 13) zeigte der Verfügungsbeklagte zu 1) der Verfügungsklägerin beabsichtigte Bauarbeiten auf seinem Grundstück an, die auch das Aufstellen eines Krans und ein Überschwenken des Baukrans über das Grundstück der Verfügungsklägerin vorsahen. Hierauf wurde seitens der Verfügungsklägerin mit Schriftsatz vom 11.08.2020 (Anlage K 17) erklärt, dass, solange keine näheren Angaben vorlägen, in keiner Weise einem Überschwenken des Krans zugestimmt werde. Sie teilte auch der Verfügungsbeklagten zu 2) mit Schriftsatz vom 19.08.2020 (Anlage K 19) mit, dass eine Bauabwicklung mit Nutzung eines Krans, der über das Grundstück schwinge, keinesfalls akzeptiert und dagegen gerichtlich vorgegangen werden würde.
Den unangegriffenen Feststellungen des Landgerichts zufolge wurde gleichwohl am 24.08.2020 zum Zwecke der Durchführung dieses Bauvorhabens auf dem Grundstück des Verfügungsbeklagten zu 1) etwa mittig ein Kran mit einem Schwenkbereich von ca. 40 m aufgestellt. Der Ausleger des Krans kann über das Anwesen der Verfügungsklägerin bis zur W-straße schwenken. Beim Schwenken über das Grundstück der Verfügungsklägerin hat der Ausleger eine Höhe zum Dachfirst von rund 17 m. Die Verfügungsbeklagten haben angekündigt, den Kran in der Weise zu handhaben, dass der Ausleger nur lastenfrei über das Grundstück der Verfügungsklägerin schwenkt.
Das Landgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nach mündlichen Verhandlung mit der Begründung abgewiesen, die Verfügungsklägerin müsse ein Überschwenken ihres Grundstückes ohne Last gem. § 905 S. 2 BGB dulden. Hiergegen richtet sich die Berufung der Verfügungsklägerin. Im Berufungsverfahren streiten die Parteien insbesondere darum, ob das Überschwenken nur ohne oder auch mit Last erfolgt.
Der Senat hat in der Ladungsverfügung darauf hingewiesen, dass die Berufung Aussicht auf Erfolg haben dürfte. Auf die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts in dem angefochtenen Urteil wird ergänzend Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Die gestellten Anträge ergeben sich aus dem Protokoll. Im Übrigen wird von der Darstellung des Tatbestands abgesehen, §§ 542 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Gründe
Die zulässige Berufung der Verfügungsklägerin ist begründet.
1. Das Landgericht hat übersehen, dass die Verfügungsbeklagten das in Art. 46 b Abs. 3 BayAGBGB (Hammerschlags- und Leiterrecht) vorgesehene Verfahren für eine Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks der Verfügungsklägerin nicht vollständig eingehalten haben. Daher ist ihnen diese Inanspruchnahme derzeit schon wegen verbotener Eigenmacht gem. §§ 858, 862 BGB im Wege der einstweiligen Verfügung zu untersagen, ohne dass es darauf ankäme, ob die Verfügungsklägerin materiell-rechtlich eine entsprechende Duldungspflicht treffen könnte (vgl. Palandt/Weidenkaff, BGB, 78. A. 2019, § 861 Rz. 11 mwN). Im Einzelnen:
a) Das von den Verfügungsbeklagten praktizierte Überschwenken des Grundstücks der Verfügungsklägerin fällt - sowohl mit Last als auch ohne - unter Art. 46 b Abs. 1 BayAGBGB.
(1) Nach dieser im Jahr 2012 auch in Bayern eingeführten Vorschrift muss der Eigentümer eines Grundstücks unter dort näher definierten Voraussetzungen (dazu s.u.) dulden, dass das Grundstück von dem Eigentümer des Nachbargrundstücks und von diesem beauftragten Personen zwecks Errichtung, Veränderung, Instandhaltung oder Beseitigung einer baulichen Anlage betreten wird und dass auf dem Grundstück Gerüste und Geräte aufgestellt werden oder auf dieses übergreifen sowie die zu den Arbeiten erforderlichen Baustoffe über das Grundstück gebracht oder dort niedergelegt werden.
(2) Das Überschwenken eines Baukrans stellt ein „Übergreifen von Geräten“ auf das Nachbargrundstück im Sinne dieser Vorschrift dar.
Art. 46 b Abs. 1 BayAGBGB regelt in Anlehnung an parallele Vorschriften in anderen Ländern die Voraussetzungen, unter denen der Grundstückseigentümer oder ein obligatorisch oder dinglich Nutzungsberechtigter und die von ihm beauftragten Personen wie Architekt, Handwerker etc. das Nachbargrundstück zur Durchführung von Bauarbeiten an einer baulichen Anlage auf seinem Grundstück betreten und für die Arbeiten auch vorübergehend nutzen dürfen (LT-Drs. 16/9583 S. 5).
Eine derartige vorübergehende Nutzung des Nachbargrundstücks stellt auch dessen Überschwenken mit einem Kranausleger dar, wie nicht zuletzt § 905 S. 1 BGB zeigt, wonach sich das Recht des Eigentümers eines Grundstücks auch auf den Raum über der Oberfläche erstreckt. Es entspricht daher allgemeiner Meinung, der sich der Senat anschließt, dass die sog. „Überschwenkfälle“ grundsätzlich unter Art. 46 b Abs. 1 BayAGBGB fallen (LG München I, Urteil vom 13.7.2018 - 11 O 2717/17, NJOZ 2019, 1221; Kichhof, ZfIR 2012, 777 [778]; Grziwotz/Saller, Bayerisches Nachbarrecht, 3. A. 2015, 4. Teil B. Rz. 13, beck-online; für Baden-Württemberg ebenso OLG Karlsruhe, Urteil vom 11.12.1991 - 6 U 121/91, NJW-RR 1993, 91; für Hessen OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 11.01.2011 − 4 W 43/10, NJOZ 2011, 1015, beck-online).
b) Demzufolge mussten die Verfügungsbeklagten auch das sich aus Art. 46 b Abs. 3 BayAGBGB ergebende Verfahren einhalten. Das haben sie zumindest nicht vollständig getan:
(1) Gem. Art. 46 b Abs. 3 BayAGBGB ist die Absicht, das Recht nach Absatz 1 auszuüben, sowie Art und Dauer der Arbeiten mindestens einen Monat vor deren Beginn dem Eigentümer und Nutzungsberechtigten des betroffenen Grundstücks von dem die Arbeiten veranlassenden Eigentümer oder Nutzungsberechtigten anzuzeigen.
(2) Diese Anzeige haben die Verfügungsbeklagten hier vorliegend zwar noch erstattet. Gleichwohl waren sie nach der Ablehnung ihres Ansinnens durch die Verfügungsklägerin aber nicht berechtigt, eigenmächtig zur Selbsthilfe zu schreiten:
Wie der BGH zu der inhaltsgleichen Regelung des § 16 NachbG NRW entschieden hat, ist diese Anzeige Voraussetzung für die Ausübung des Rechts, nicht aber Bedingung des Duldungsanspruchs. Erklärt sich der Verpflichtete nicht, darf der Berechtigte das Nachbargrundstück ohne Weiteres für die Durchführung der Arbeiten betreten und nutzen. Verweigert der Verpflichtete dies, darf der Berechtigte das Recht - außer in dem Fall des Notstands (§ 904 BGB) - nicht im Wege der Selbsthilfe durchsetzen. Vielmehr muss er Duldungsklage erheben und darf das Nachbargrundstück erst auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung in Anspruch nehmen (BGH, Urteil vom 14.12.2012 - V ZR 49/12, NZM 2013, 243; Palandt/Herrler, BGB, 78. A. 2019, § 858 Rz. 6; für NRW ebenso schon OLG Düsseldorf, OLGR 2001, 178, 179 und OLG Hamm, BauR 2002, 669, 670; BeckRS 2011, 29520). Das entspricht auch der, soweit ersichtlich, einhelligen Rspr. der anderen deutschen Obergerichte, in deren Ländern vergleichbare Regelungen bestehen (für Niedersachsen: OLG Braunschweig NdsRpfl 1971, 231, 232; für Berlin: KG, OLGZ 1977, 448 = NJW 1977, 2364 (LS); für Baden-Württemberg: OLG Karlsruhe, NJW-RR 1993, 91; für Hessen: OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 11.01.2011 − 4 W 43/10, NJOZ 2011, 1015, beck-online).
Da der bayerische Gesetzgeber Art. 46 b BayAGBGB in Anlehnung an parallele Vorschriften in anderen Ländern - und somit auch in Kenntnis der Rspr. der dortigen Obergerichte zu diesen Parallelvorschriften - geschaffen hat (LT-Drs. 16/9583 S. 5, s.o.), gilt dasselbe nunmehr auch in Bayern (so im Ergebnis auch Grziwotz/Saller, aaO, Rn. 16, beck-online), sodass die Verfügungsbeklagten derzeit verbotene Eigenmacht i.S.v. § 858 BGB begehen, gegen die sich die Verfügungsklägerin im Wege der einstweiligen Verfügung wehren kann.
c) Auf einen Notstand i.S.v. § 904 BGB berufen sich die Verfügungsbeklagten nicht - ein solcher ist auch nicht ersichtlich.
d) Entgegen ihrer Auffassung können sich die Verfügungsbeklagten zur Rechtfertigung ihres Tuns auch nicht auf § 905 S. 2 BGB berufen, wonach der Eigentümer Einwirkungen nicht verbieten kann, die in solcher Höhe oder Tiefe vorgenommen werden, dass er an der Ausschließung kein Interesse hat.
Denn gem. Art. 124 Satz 1 EGBGB bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften, welche das Eigentum an Grundstücken zugunsten der Nachbarn noch anderen als den im Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmten Beschränkungen unterwerfen, unberührt. Zu diesen landesgesetzlichen Vorschriften gehören nach allgemeiner Meinung auch die landesrechtlichen Hammerschlags- und Leiterrechte (vgl. Palandt/Herrler, BGB, 78. A. 2019, Art. 124 Rz. 3; MüKoBGB/Säcker, 7. Aufl. 2018, EGBGB Art. 124 Rn. 5).
Der bayerische Gesetzgeber war daher - ebenso wie die anderen Landesgesetzgeber, s.o. - nicht gehindert, für die Inanspruchnahme des Luftraums über fremden Grundstücken schärfe Vorschriften vorzusehen als das BGB. Insbesondere durfte er hierfür Verfahrensvorschriften wie die Anzeigepflicht in Art. 46 b Abs. 3 BayAGBGB vorsehen, womit auch die entsprechende Rspr. des BGH und der anderen Obergerichte für die Folgen einer Verweigerung des Verpflichteten Anwendung findet.
2. Daher bedarf derzeit keiner Entscheidung, ob, wie das Landgericht meint, sich eine materiell-rechtliche Duldungspflicht hier unmittelbar aus § 905 S. 2 BGB ergeben könnte. Allerdings spricht viel dafür, dass auch insoweit Art. 46 b Abs. 1 BayAGBGB die vorrangige Regelung darstellt (so LG München I, Urteil vom 13.7.2018 - 11 O 2717/17, NJOZ 2019, 1221; für Baden-Württemberg OLG Karlsruhe, Urteil vom 11.12.1991 - 6 U 121/91, NJW-RR 1993, 91; für Hessen OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 11.01.2011 − 4 W 43/10, NJOZ 2011, 1015, beck-online). Danach dürfte nur auf das Nachbargrundstück übergegriffen werden, wenn und soweit
1.das Vorhaben anders nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohen Kosten durchgeführt werden kann,
2.die mit der Duldung verbundenen Nachteile oder Belästigungen nicht außer Verhältnis zu dem von dem Berechtigten erstrebten Vorteil stehen und
3.das Vorhaben öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht widerspricht.
Insbesondere 1. dürfte im Rahmen einer Duldungsklage im Streitfall nicht ohne Beteiligung eines Sachverständigen für Baustelleneinrichtung geklärt werden können.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, da das vorliegende Urteil nicht anfechtbar ist, § 542 II ZPO.
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 3 K 2033/20 des Antragstellers gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 5. 8. 2020 wird hinsichtlich der Ziffern 2 und 4 angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2500 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage 3 K 2033/20 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 5. 8. 2020 hinsichtlich der Ziffern 2 und 4 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Er ist in Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller seine Klage zulässigerweise auf eine isolierte Anfechtungsklage gegen die Ordnungsverfügung vom 5. 8. 2020 beschränkt hat, weil die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer jedenfalls nach der Übergabe des bisherigen WG-Zimmers des Antragstellers am 24. 9. 2020 von der Antragsgegnerin auf die Ausländerbehörde des Landkreises H. übergegangen ist, in den der Antragsteller umgezogen ist. Die isolierte Anfechtungsklage ist ausnahmsweise zulässig, weil zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein – dem Grunde nach eigentlich statthaftes – Verpflichtungsbegehren von der Antragsgegnerin nicht mehr erfüllt werden kann, durch den ablehnenden Bescheid der ehemals zuständigen Behörde aber eine Beschwer gegeben ist. Die von dem Antragsteller mit Schriftsatz vom 22. 9. 2020 vorgenommene Antragserweiterung auf ein Verpflichtungsbegehren ist hingegen nicht mehr zu berücksichtigen, weil diese Erweiterung zum einen unzulässigerweise unter die Bedingung der Zuständigkeit der Antragsgegnerin gestellt worden ist und zum anderen nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfrist erfolgt ist. Die einmonatige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO gegen die dem Antragsteller am 8. 8. 2020 zugestellte Ordnungsverfügung vom 5. 8. 2020 lief gemäß § 56 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 222 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 8. 9. 2020 ab. Mit der Klageerhebung am 3. 9. 2020 hat der Antragsteller seinen Klageantrag ausdrücklich auf eine isolierte Anfechtungsklage beschränkt und erklärt, er wolle ein Verpflichtungsbegehren einstweilen nicht verfolgen. Mit Ablauf der Klagefrist ist damit insofern teilweise Bestandskraft eingetreten.
6Der mit diesem Inhalt und weiterhin zu Recht auf die Ziffern 2 und 4 der Ordnungsverfügung beschränkte Antrag ist begründet.
7Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Sein privates Aussetzungsinteresse überwiegt ausnahmsweise das nach der gesetzlichen Wertung des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG bzw. § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 112 JustG NRW grundsätzlich vorrangige öffentliche Interesse an der Vollziehung. Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Ziffer 2 der Verfügung und die Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 der Verfügung sind offensichtlich rechtswidrig.
8Die Antragsgegnerin hat die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 a Abs. 1 AufenthG zu Unrecht abgelehnt.
9Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass die Antragsgegnerin – wie der Antragsteller meint – bei Erlass der Ordnungsverfügung unzuständig war. Der Antragsteller hatte vor Erlass der Ordnungsverfügung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin, was die Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach § 14 Abs. 1 Satz 3 ZustAVO begründet hatte. Die Zuständigkeit der Ausländerbehörde des Landkreises H. ist hingegen vor dem 24. 9. 2020 und damit bei Erlass und Zustellung der Ordnungsverfügung noch nicht begründet worden.
10Die zuständige Behörde ist bei länderübergreifender Zuständigkeitsproblematik in zwei Schritten zu bestimmen. In einem ersten Schritt ist festzustellen, welches Bundesland die Verbandskompetenz zur Sachentscheidung besitzt. Erst im zweiten Schritt ist auf der Grundlage des Landesrechts des zur Sachentscheidung befugten Bundeslandes zu ermitteln, welche Behörde innerhalb des Landes örtlich zuständig ist. Da eine Zuständigkeitsermittlung auf der ersten Stufe der Verbandkompetenz nicht nach landesrechtlichen Vorschriften erfolgen kann, sind weder das Ordnungsbehördengesetz NRW noch die Verordnung über Zuständigkeiten im Ausländerwesen NRW vom 10. 9. 2019 anwendbar.
11Vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 22. 3. 2012 – 1 C 5.11 –, juris, Rdn. 19; OVG NRW, Beschluss vom 18. 12. 2015 – 18 A 60/13 –, S. 3/4 des Beschlussabdrucks.
12Fehlen – wie hier – spezielle koordinierte landesrechtliche Zuweisungsregelungen zur Verwaltungskompetenz, ergibt sich ein aufeinander abgestimmtes System im Wege der entsprechenden Anwendung der zur örtlichen Zuständigkeit getroffenen Regelungen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder, die insoweit inhaltsgleich sind und – wie in Nordrhein-Westfalen – mit § 3 VwVfG übereinstimmen. Diese Regelungen finden daher entsprechende Anwendung, wenn das für die Ausführung einer bundesrechtlich begründeten Aufgabe zuständige Land auf andere Weise nicht zu ermitteln ist.
13Nach der demnach entsprechenden Anwendung des mit § 3 Abs. 1 Nr. 3 lit. a VwVfG übereinstimmenden § 3 Abs. 1 Nr. 3 lit. a VwVfG NRW ist das Land Niedersachsen zum Zeitpunkt des Erlasses und der Zustellung der Ordnungsverfügung nicht zuständig gewesen. Maßgeblich ist dafür nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 lit. a VwVfG NRW, im Bezirk welcher Behörde die natürliche Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies war am 5. 8. 2020 und auch am 8. 8. 2020 noch nicht in Niedersachsen. Der Antragsteller hat zwar eine Bescheinigung vorgelegt, nach der er sich am 10. 8. 2020 nach H. in Niedersachsen umgemeldet und als Datum des Umzugs den 5. 8. 2020 angegeben hat. Dass der Umzug und damit die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts nach H. aber tatsächlich bereits am 5. 8. 2020 stattgefunden hat, ist durch die nachträglichen Feststellungen der Antragsgegnerin nachhaltig erschüttert worden. Dabei ist für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts zwar nicht von entscheidender Bedeutung, wann der Antragsteller den Mietvertrag für das WG-Zimmer gekündigt hat und ob das Klingelschild und der Briefkasten noch mit seinem Namen versehen waren. Maßgeblich ist vielmehr, dass die Mitarbeiter der Antragsgegnerin bei ihrem Besuch in der Wohnung des Antragstellers am 11. 9. 2020, also über einen Monat später, feststellen konnten, dass der Umzug tatsächlich noch nicht stattgefunden hatte. Abgesehen davon, dass nach dem von der Antragsgegnerin aufgenommenen Vermerk das Zimmer noch regulär eingerichtet war und sich dort Pfandflaschen, Lebensmittel und eine volle Ausstattung an Badezimmerartikeln befanden, hat der Antragsteller den Mitarbeitern der Antragsgegnerin gegenüber selbst angegeben, dass er sich gerade im Umzug befinde und in ein bis zwei Wochen ausziehen wolle. Auch dass der Antragsteller die Ordnungsverfügung vom 5. 8. 2020 am 11. 9. 2020 immer noch in der Wohnung aufbewahrt hatte, aus der er bereits am 5. 8. 2020 ausgezogen sein wollte, obwohl er inzwischen bereits einen Rechtsanwalt eingeschaltet hat und ihm die Ordnungsverfügung gezeigt haben muss, spricht deutlich gegen einen bereits am 5. 8. 2020 erfolgten Umzug und dafür, dass der Antragsteller auch am 11. 9. 2020 immer noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in N. hatte. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass für den Umzug nicht erforderlich sein dürfte, dass das Zimmer bereits vollständig geräumt ist, aber unter dem geschilderten Eindruck der in der Wohnung in N. noch vorgefundenen Sachen hat der Antragsteller auch nichts dafür vorgetragen, dass er einen wesentlichen Teil seiner Sachen bereits am 5. 8. 2020 nach H. verbracht hätte, so dass davon auszugehen wäre, dass er bereits seit diesem Zeitpunkt dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hätte.
14Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Ziffer 2 der Ordnungsverfügung vom 5. 8. 2020 ist aber materiell rechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 25 a Abs. 1 AufenthG sind gegeben. Die Altersgrenze musste der Antragsteller bei der Verlängerung nicht mehr einhalten, denn diese Voraussetzung ist nach ihrem Sinn und Zweck nur auf die erstmalige Erteilung der Aufenthaltserlaubnis anzuwenden und bei der Verlängerung gegenstandslos geworden.
15Vgl. Burr in: GK-AufenthG, 105. Aktualisierungslieferung, August 2020, § 25 a AufenthG, Rdn. 35.
16Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1 a, 2 und 3 AufenthG liegen vor. Die Beklagte hat zu Unrecht angenommen, dass § 5 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG nicht erfüllt ist, da die Identität des Antragstellers nicht geklärt sei, weil er in seinen Asylverfahren zunächst die aserische, dann die russische Staatsangehörigkeit und einen abweichenden Aliasnamen angegeben hatte. Durch die Vorlage der armenischen Geburtsurkunde, deren Echtheit auch von den Ausländerbehörden nie in Zweifel gezogen wurde, sind aber bereits seit dem Jahr 2010 Name, Geburtsdatum und -ort sowie Staatsangehörigkeit des Antragstellers geklärt.
17Der Antragsteller erfüllt zwar nicht die Passpflicht des § 3 AufenthG als allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, weil er nicht im Besitz eines armenischen Nationalpasses ist. Es ist aber eine Ausnahme von der Regel gegeben. Eine Ausnahme von der Regel liegt vor, wenn entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten ist.
18Vgl. BVerwG, Urteile vom 30. 4. 2009 – 1 C 3.08 –, juris, Rdn. 13, und 13. 6. 2013 – 10 C 16.12 –, juris, Rdn. 16.
19Was die Erfüllung der Passpflicht betrifft, ist in Anlehnung an die frühere Regelung in § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 ein Ausnahmefall gegeben, wenn der Ausländer sich um einen Pass bemüht hat und ihn in zumutbarer Weise nicht erlangen kann.
20Vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, 105. Aktualisierungs-lieferung, August 2020, § 5 AufenthG, Rdn. 99.
21Ausreichende Bemühungen hat der Antragsteller unternommen. Er hat bei der armenischen Botschaft wegen der Ausstellung eines Nationalpasses angefragt und die Antwort erhalten, dass ihm ein Pass nur ausgestellt werde, wenn er seinen Wehrdienst in Armenien ableiste. Ein Freikaufen sei erst ab dem 27. Lebensjahr möglich. Diese Umstände führen im Einzelfall des Antragstellers dazu, dass er einen Pass in zumutbarer Weise nicht erlangen kann.
22Für die Unzumutbarkeit der Erlangung eines Passes kann auf die in § 5 Abs. 2 und 3 AufenthV vorgesehenen Kriterien zurückgegriffen werden. Nach dem in § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV zu Tage tretenden Grundsatz ist die Erfüllung der Wehrpflicht grundsätzlich als zumutbar anzusehen, sofern sich nicht ausnahmsweise aus zwingenden Gründen anderes ergibt. Hierbei ist zum einen die Wertung des deutschen Gesetzgebers zu berücksichtigen, wonach die Durchsetzung der vormaligen Wehrpflicht auch ein zwingender Passversagungsgrund sein konnte (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 8 PassG). Infolgedessen ist es keineswegs ein sachfremder Grund, wenn ein Staat die Passerteilung von der Erfüllung der Wehrpflicht abhängig macht.
23Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 27. 8. 2002 – 11 PA 284/02 –, juris, Rdn. 6.
24Zum anderen ist auch die Folge einer Anerkennung der Wehrpflicht als unzumutbar in den Blick zu nehmen: Sie stellt einen Eingriff in die Passhoheit des Heimatstaates dar, der den Ausländer faktisch von der Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflicht im Heimatstaat freistellt.
25Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 4. 4. 2011 – 13 ME 205/10 –, juris, Rdn. 8.
26Soweit es um eine Unzumutbarkeit der Wehrpflicht in der armenischen Armee selbst geht, kann eine konkrete Gefährdung des Antragstellers nicht angenommen werden. Es sprechen aber zwingende, in der Person des Antragstellers liegende Gründe für eine Unzumutbarkeit der Ableistung des Wehrdienstes. Die Rückkehr nach Armenien zur Ableistung des Wehrdienstes wäre für den Antragsteller unter den jetzigen Umständen unverhältnismäßig.
27Dies ist zum einen der Fall, weil er überhaupt keine Bindung zu dem Land hat und die armenische Staatsangehörigkeit nur noch ein formales Band darstellt. Der Antragsteller ist im Februar 1999 im Alter von drei Jahren nach Deutschland eingereist, ohne danach jemals nach Armenien zurückgekehrt zu sein. Wie sich aus den Akten, insbesondere aus der Kommunikation mit der armenischen Botschaft glaubhaft ergibt, spricht er nicht einmal die armenische Sprache. Unter diesen Umständen ist es unzumutbar, vom Antragsteller zu verlangen, den Wehrdienst in Armenien abzuleisten.
28Vgl. zu einem ähnlichen Fall auch OVG Bremen, Beschluss vom 8. 12. 2010 – 1 B 295/10 –, juris, Rdn. 8.
29Weiterhin würde die Ableistung des Wehrdienstes dazu führen, dass der Antragsteller seine Promotion zunächst nicht zu Ende führen könnte und seinen Arbeitsplatz als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität N. verlieren würde. Im Rahmen des § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV sind auch die Wertungen des deutschen Gesetzgebers zu Wehrpflichtangelegenheiten zu berücksichtigen.
30Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 4. 4. 2011 – 13 ME 205/10 –, juris, Rdn. 8.
31Vorliegend kommt es insoweit entscheidend auf § 12 Abs. 4 WPflG an. Auch nach Aussetzung der Wehrpflicht haben die Vorschriften des Wehrpflichtgesetzes weiter Gültigkeit, insbesondere die Wertungen des § 12 WPflG.
32Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 20. 6. 2014 – 24 K 5492/12 –, juris, Rdn. 22.
33Nach Satz 1 dieser Bestimmung soll ein Wehrpflichtiger vom Wehrdienst auf Antrag zurückgestellt werden, wenn die Heranziehung zum Wehrdienst für ihn wegen persönlicher, insbesondere häuslicher, wirtschaftlicher oder beruflicher Gründe eine besondere Härte bedeuten würde. Nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 lit. e WPflG liegt eine solche besondere Härte in der Regel vor, wenn die Einberufung des Wehrpflichtigen eine bereits begonnene Berufsausbildung unterbrechen oder die Aufnahme einer rechtsverbindlich zugesagten oder vertraglich gesicherten Berufsausbildung verhindern würde. Auch wenn der Antragsteller sein eigentliches Chemiestudium bereits beendet hat und die Promotion keine Berufsausbildung im engeren Sinne ist, ist der Rechtsgedanke dieser Vorschrift zu übertragen, da die Promotion – gerade im Fach Chemie – dennoch besonders bedeutsam für die späteren Berufsaussichten ist. Es wäre für den Antragsteller unzumutbar, seine Promotion für einen längerfristigen Zeitraum zur Ableistung seines Wehrdienstes unterbrechen zu müssen. Es ist nicht gewährleistet, dass er nach einer Rückkehr ohne weiteres an seine bisherige Arbeit mit demselben Thema anknüpfen könnte, schon weil nicht auszuschließen ist, dass die Forschung inzwischen über sein Promotionsthema hinweggegangen ist.
34Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es beim Antragsteller um die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis wegen einer langjährigen Integration in Deutschland geht. Im Falle einer längerfristigen Ausreise des Antragstellers besteht für ihn keine Möglichkeit, nach Deutschland dauerhaft zurückzukehren, er würde also seinen derzeitigen Aufenthaltsanspruch endgültig verlieren.
35Vgl. dazu auch OVG Bremen, Beschluss vom 8. 12. 2010 – 1 B 295/10 –, juris, Rdn. 7.
36Sein bisheriger Aufenthaltstitel ist abgelaufen, die Fiktionswirkung seines Verlängerungsantrags ist durch die Ordnungsverfügung vom 5. 8. 2020 beendet worden. Eine nach Ableistung der Wehrpflicht in Armenien zu beantragende Neuerteilung seiner bisherigen Aufenthaltserlaubnis nach § 25 a Abs. 1 AufenthG wäre dann wegen Nichterfüllung der Altersvoraussetzung nicht mehr möglich. Bei anderen humanitären Aufenthaltstiteln, die an die Verwurzelung in Deutschland und Entwurzelung im Heimatland anknüpfen, wäre der längerfristige Aufenthalt im Heimatland ebenfalls von erheblichem Nachteil für den Antragsteller. Das bedeutet, dass der Antragsteller, würde er den Wehrdienst ableisten, zwar in den Besitz eines armenischen Passes gelangen würde, zugleich aber an einer Rückkehr nach Deutschland gehindert wäre. Mit der Passbeschaffung würde er mithin nicht die Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis schaffen, sondern er würde im Ergebnis seine derzeitige aufenthaltsrechtliche Stellung dauerhaft verlieren. Dass dies unverhältnismäßig ist, leuchtet unmittelbar ein.
37Der Antragsteller ist auch nicht darauf zu verweisen, eine sofortige Rückstellung vom Wehrdienst in Armenien erreichen. Hier ist zunächst zu berücksichtigen, dass selbst eine erreichte Rückstellung in Armenien nicht zwingend bedeuten muss, dass der armenische Staat dem Antragsteller für den Zeitraum der Rückstellung einen Pass ausstellt. Darüber hinaus müsste der Antragsteller auch für eine Rückstellung vom Wehrdienst zur Wehrregistrierung (Musterung) nach Armenien reisen und mithin seine Promotion und Tätigkeit am Institut für einen gewissen Zeitraum unterbrechen.
38Schließlich ist ihm auch ein Freikaufen vom Wehrdienst nicht möglich. Nach der Auskunft der armenischen Botschaft ist dies erst nach dem 27. Lebensjahr möglich. Der Antragsteller ist derzeit 25 Jahre alt. Weder ist ihm ein Freikaufen aktuell möglich, noch ist ihm zuzumuten, weitere zwei Jahre bis zur Eröffnung der Freikaufmöglichkeit auf die Aufenthaltserlaubnis zu verzichten.
39Da die aufschiebende Wirkung bezüglich Ziffer 2 der Ordnungsverfügung angeordnet wird, muss dies auch bezüglich der Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 erfolgen.
40Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
41Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
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Tenor
Auf den Antrag der Antragsteller werden § 2 und § 3 der Verordnung des Wirtschafts- und Sozialministeriums zur Eindämmung von Übertragungen des Corona-Virus (SARS-CoV-2) durch Beherbergungsverbote (Corona-Verordnung Beherbergungsverbot – CoronaVO Beherbergungsverbot) vom 15. Juli 2020 (in der ab 29. August 2020 geltenden Fassung) vorläufig außer Vollzug gesetzt.Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.Der Streitwert wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.1 Die Antragsteller begehren mit ihrem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO die vorläufige Außervollzugsetzung der Verordnung des Wirtschafts- und Sozialministeriums zur Eindämmung von Übertragungen des Corona-Virus (SARS-CoV-2) durch Beherbergungsverbote (Corona-Verordnung Beherbergungsverbot – CoronaVO Beherbergungsverbot) vom 15. Juli 2020 (in der ab 29. August 2020 geltenden Fassung).2 Die Antragsteller, wohnhaft in ... im Kreis ... in ...-..., haben für die Zeit vom 16.10.2020 bis zum 23.10.2020 einen Aufenthalt im ... ... ... ... ... ... gebucht. Am 10.10.2020 wurde im Kreis ... der Schwellenwert von 50 neu gemeldeten Sars-CoV-2-Fällen pro 100.000 Einwohner in den vorangehenden sieben Tagen (sog. 7-Tage-Inzidenz) überschritten.3 Zur Begründung ihres Antrags tragen die Antragsteller vor, die Bestimmung des § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot, die ihnen grundsätzlich den Aufenthalt in der gebuchten Unterkunft unmöglich mache, sei unverhältnismäßig und willkürlich. Das Beherbergungsverbot greife ohne rechtfertigenden Grund in ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 GG ein. Es seien keine Fälle bekannt, in denen innerdeutsche Reisen von Familien in ein alleingenutztes Ferienhaus zu einer Verbreitung des Coronavirus beigetragen hätten. Es gebe mildere Mittel als ein Beherbergungsverbot, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Hierzu sei in erster Linie auf bestehende Abstands-und Hygieneregeln sowie die strenge Einhaltung bestehender Hygienekonzepte hinzuweisen. An der Unverhältnismäßigkeit ändere auch die Ausnahmeregelung in § 2 Abs. 2 CoronaVO Beherbergungsverbot nichts. Alle drei geregelten Ausnahmetatbestände seien praktisch nicht geeignet, die Verhältnismäßigkeit zu gewährleisten. Die Möglichkeit zur Vorlage eines negativen Coronatests gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 CoronaVO Beherbergungsverbot diskriminiere Gäste aus Regionen mit schlechten Testkapazitäten und Familien. Es sei bei vorangehenden Testungen in der Familie nie gelungen, das Testergebnis innerhalb von weniger als 72 Stunden zu erlangen, der Zeitpunkt des Tests sei daher nicht verlässlich zu planen. Weiterhin müsse der Test privat bezahlt werden und belaste die Antragsteller mit ihren drei Kindern mit Gesamtkosten i.H.v. 774,55 EUR (154,91 EUR pro Test) erheblich. Der Erlass der einstweiligen Anordnung sei auch zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten. Die Familie sei dringend erholungsbedürftig und könne wegen der Schulferien nicht auf einen anderen Termin ausweichen. Im Übrigen habe die Buchung 2.500 EUR gekostet.4 Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten. Er hält die angegriffene Verordnung für rechtmäßig und den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht für dringend geboten. Das Beherbergungsverbot sei verhältnismäßig. Aus einem Fehlen der Evidenz des Beherbergungsverbots sei nicht das Gegenteil zu beweisen. Zahlreiche Ferienregionen, unter anderem in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, hätten im Hinblick auf die Eindämmung des Infektionsgeschehens in der jüngeren Vergangenheit sehr gute Erfahrungen mit Reisebeschränkungen gemacht. Im Übrigen rechtfertige der bundesweite Anstieg der Infektionszahlen die Maßnahme. Angesichts von mehr als 5000 nachgewiesenen Neuinfektionen pro Tag sei aktuell nicht die Zeit, Beschränkungen zurückzunehmen. Die bestehenden Hygienekonzepte der Beherbergungsbetriebe könnten das Beherbergungsverbot nicht ersetzen. Dieses verfolge unter anderem den Zweck, weiteres Einschleppen von Infektionen aus Risikogebieten nach Baden-Württemberg zu vermeiden. Das Beherbergungsverbot gelte bereits seit drei Monaten und habe in der Vergangenheit niemanden gestört. Es sei räumlich und zeitlich begrenzt für den Fall, dass in einem bestimmten Gebiet die 7-Tage-Inzidenz den Wert von 50 überschreite. Im Übrigen sei es dem Einzelnen gem. § 2 Abs. 3 CoronaVO Beherbergungsverbot jederzeit möglich, einen Ausnahmetatbestand für sich geltend zu machen. Auf die Testkapazitäten in den Risikogebieten habe der Verordnungsgeber keinen Einfluss. Die Tatsache, dass für die Durchführung des Coronatests Kosten anfielen, sei für die Zumutbarkeit der Maßnahme nicht relevant. Der Erlass der einstweiligen Anordnung sei auch nicht dringend geboten, die privaten Interessen der Antragsteller überwögen nicht das öffentliche Interesse an der Verringerung von Gefahren für Leben und Gesundheit der Bevölkerung.5 Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.II.6 Der – sachdienlich ausgelegt (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO) – auf die vorläufige Außervollzugsetzung von § 2 und § 3 der CoronaVO Beherbergungsverbot gerichtete Antrag der Antragsteller ist zulässig und begründet.7 1. Der Antrag ist zulässig.8 Ein Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zulässig, wenn ein in der Hauptsache gestellter oder noch zu stellender Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 VwGO voraussichtlich zulässig ist (vgl. zu dieser Voraussetzung Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 47 Rn. 387) und die gesonderten Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO erfüllt sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.9 a) Die Statthaftigkeit des Antrags in der Hauptsache folgt aus § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, § 4 AGVwGO. Danach entscheidet der Verwaltungsgerichtshof auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO über die Gültigkeit von im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften. Dazu gehören Verordnungen - wie hier - der Landesregierung.10 b) Die Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist gewahrt.11 c) Die Antragsteller sind antragsbefugt. Die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO hat jede natürliche oder juristische Person, die geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Es genügt dabei, wenn die geltend gemachte Rechtsverletzung möglich erscheint (ausf. dazu Senat, Urt. v. 29.04.2014 - 1 S 1458/12 - VBlBW 2014, 462 m.w.N.). Nach diesem Maßstab besteht die Antragsbefugnis. Es ist nicht von vornherein nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass die Antragsteller in ihrem Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) und ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt werden. Zwar richtet sich das Beherbergungsverbot gem. § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsbetriebe unmittelbar nur an Beherbergungsbetriebe. Durch das Verbot der Beherbergung wird es den Antragstellern aber faktisch unmöglich, als Gast in dem gewünschten Beherbergungsbetrieb aufgenommen zu werden, diese mittelbare Betroffenheit ist zur Begründung der Antragsbefugnis ausreichend (Eyermann/Hoppe, 15. Aufl. 2019, VwGO § 47 Rn. 42).12 d) Für den Antrag in der Hauptsache und den nach § 47 Abs. 6 VwGO liegt auch ein Rechtsschutzinteresse vor. Denn mit einem Erfolg dieser Anträge könnten die Antragsteller ihre Rechtsstellung jeweils verbessern.13 2. Der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist auch begründet.14 Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Satzung oder Rechtsvorschrift zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, ZfBR 2015, 381; Beschl. v. 16.09.2015 - 4 VR 2/15 -, juris; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 09.08.2016 - 5 S 437/16 -, juris m.w.N.; Beschl. v. 13.03.2017 - 6 S 309/17 - juris). Mit diesen Voraussetzungen stellt § 47 Abs. 6 VwGO an die Aussetzung des Vollzugs einer untergesetzlichen Norm erheblich strengere Anforderungen, als § 123 VwGO sie sonst an den Erlass einer einstweiligen Anordnung stellt (BVerwG, Beschl. v. 18.05.1998 - 4 VR 2/98 - NVwZ 1998, 1065).15 An diesen Maßstäben gemessen ist der Antrag der Antragsteller begründet. Der gegen die CoronaVO Beherbergungsverbot gestellte Normenkontrollantrag hat aller Voraussicht nach Erfolg (a). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch geboten (b).16 a) Ein Normenkontrollantrag gegen § 2 CoronaVO Beherbergungsverbot wäre voraussichtlich begründet. Das dort geregelte Beherbergungsverbot für Gäste, die sich in einem Land-, Stadtkreis oder einer kreisfreien Stadt innerhalb der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten oder darin ihren Wohnsitz haben, in dem der Schwellenwert von 50 neu gemeldeten SARS-CoV-2-Fällen pro 100.000 Einwohner in den vorangehenden sieben Tagen (7-Tage-Inzidenz) überschritten wurde, ist voraussichtlich rechtswidrig.17 aa) Für die Regelungen in § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot besteht eine ausreichende Rechtsgrundlage in § 32 Satz 1, 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG. Wenn - wie im Fall des Coronavirus unstreitig der Fall - eine übertragbare Krankheit festgestellt ist, können nach § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Krankheit durch eine Verordnung der Landesregierung getroffen werden. Gem. § 32 Satz 2 IfSG können die Landesregierungen die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen. Solche Verordnungsermächtigungen hat die Landesregierung in § 16 ihrer Corona-Verordnung vom 23.06.2020 (in der ab 12.10.2020 gültigen Fassung) normiert. In § 16 Abs. 7 Nr. 2 CoronaVO hat sie das Wirtschaftsministerium und das Sozialministerium ermächtigt, durch gemeinsame Rechtsverordnung für „das Beherbergungsgewerbe“ zum Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus Bedingungen und Anforderungen, insbesondere Hygienevorgaben, festzulegen.18 Mit solchen repressiven Bekämpfungsmaßnahmen gehen zulässigerweise auch stets präventive Wirkungen einher, solche präventiven Folgen sind gerade bezweckt. Daher ist die Landesregierung insbesondere nicht auf Maßnahmen nach § 16 oder § 17 IfSG beschränkt. Dabei ermächtigt § 28 Abs.1 IfSG nach seinem Wortlaut, seinem Sinn und Zweck und dem Willen des Gesetzgebers zu Maßnahmen auch gegenüber Nichtstörern (vgl. ausf. zum Ganzen Senat, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 S 925/20 - juris; Beschl. v. 23.04.2020 - 1 S 1003/20 -; je m.w.N.).19 bb) Die Verordnungsermächtigung des § 32 Satz 1, 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG verstößt nicht gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. Das von den Antragstellern geltend gemachte und hier betroffene Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) ist in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG ausdrücklich aufgeführt.20 cc) Das durch § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot angeordnete Beherbergungsverbot greift jedoch in unverhältnismäßiger Weise in das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG ein und ist daher verfassungswidrig.21 (1) Der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG ist eröffnet. Art. 11 Abs. 1 GG schützt die Freizügigkeit aller Deutschen, d.h. das Recht, unbehindert durch die deutsche Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Wohnsitz und Aufenthalt zu nehmen (BVerfG, Urt. v. 17.12.2013 – 1 BvR 3139/08 – E 110, 177, 190f.; Urt. v. 17.03.2004 – 1 BvR 1266/00 – E 134, 242, 323). Aufenthalt meint dabei das vorübergehende Verweilen an einem Ort. In Abgrenzung zur Fortbewegungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) muss der Aufenthalt im Rahmen von Art. 11 Abs. 1 GG eine gewisse Dauer und soziale Relevanz besitzen (BeckOK GG/Ogorek, 44. Ed. 1.12.2019, GG Art. 11 Rn. 11 m.w.N.). Ganz überwiegend wird (zumindest) das vorübergehende Verlassen des bisherigen Lebenskreises gefordert (Durner, in Maunz/Dürig, GG, Stand Februar 2020, Art. 11 Rn. 82). Dies ist beim vorübergehenden Verlassen des Wohnorts zum Zwecke des Urlaubs erfüllt.22 (2) In den Schutzbereich dieses Grundrechts greift der Antragsgegner mit § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot schwerwiegend ein. Die Antragsteller werden daran gehindert, in einem Beherbergungsbetrieb gem. § 1 CoronaVO Beherbergungsverbot zu übernachten. Aufgrund der weiten Anreise vom Wohn-ort der Antragsteller nach ... ist die geplante Reise damit faktisch unmöglich oder zumindest nur bei Vorliegen eines der in § 2 Abs. 2 CoronaVO Beherbergungsverbot normierten Ausnahmetatbestände möglich.23 (3) Dieser gravierende Eingriff in das Grundrecht der Antragsteller aus Art. 11 Abs. 1 GG ist voraussichtlich nicht gerechtfertigt.24 In das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur in dem Fall eingegriffen werden, wenn es zur Bekämpfung von Seuchengefahr erforderlich ist (Art. 11 Abs. 2 GG).25 Diesen Anforderungen wird die angefochtene Vorschrift nicht gerecht. Sie dient zwar einem legitimen Zweck (a) und stellt ein geeignetes (b) sowie erforderliches Mittel dar (c). Der Verbotstatbestand in § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot erweist sich aber als unangemessen (unverhältnismäßig im engeren Sinne, dazu (d)).26 (a) § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot dient einem legitimen Zweck. Der Verordnungsgeber verfolgt damit das Ziel, die Pandemie des Virus SARS-CoV-2 (Coronavirus) zum Schutze der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger (und damit eine Seuchengefahr i.S.d. Art. 11 Abs. 2 GG) zu bekämpfen. Zu diesem Zweck sollen Infektionsgefahren wirksam und zielgerichtet reduziert, Infektionswege nachvollziehbar gemacht und die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgungskapazitäten gewährleistet werden (§ 1 Abs. 1 CoronaVO; vgl. zur Legitimität dieser Zwecksetzung nur Senat, Beschl. v. 23.04.2020, a.a.O., und v. 09.04.2020, a.a.O.).27 (b) Das Verbot in § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot stellt auch ein geeignetes Mittel dar, um dieses Ziel zu erreichen.28 Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann, wobei dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Eignung ein Beurteilungsspielraum zusteht (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.06.1984 - 1 BvR 1494/78 - BVerfGE 67, 157, 173 ff.; Beschl. v. 09.03.1994 - 2 BvL 43/92 u.a. - BVerfGE 90, 145, 172 f.; je m.w.N.). Diese Anforderungen erfüllt § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot. Die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus ist von der WHO als Pandemie eingestuft worden. Die bisherigen Erfahrungen in der Bundesrepublik und in anderen Staaten zeigen, dass die exponentiell verlaufende Verbreitung des besonders leicht im Wege der Tröpfcheninfektion und über Aerosole von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus nur durch eine strikte Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann. Das Verbot der Beherbergung von Gästen, die in einem Risikogebiet in Deutschland ihren Wohnsitz haben oder sich dort aufgehalten haben, ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet. Denn es trägt zur Reduzierung der Mobilität in der Bundesrepublik und damit zur Sicherstellung der Verfolgbarkeit von Infektionsketten sowie allgemein zur Minimierung der Sozialkontakte und damit zu einer Verlangsamung der Ausbreitung des Virus bei.29 (c) Das Verbot in § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot ist zur Erreichung der von dem Verordnungsgeber verfolgten Ziele auch aller Voraussicht im Rechtssinne erforderlich.30 Ein Gesetz ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können, wobei dem Gesetzgeber auch insoweit ein Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.06.1984, a.a.O., und v. 09.03.1994, a.a.O., jeweils m.w.N.).31 Die von den Antragstellern aufgezeigten alternativen Maßnahmen - insbesondere die bereits in der CoronaVO normierten Hygienevorschriften wie z.B. die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, die Abstandsregeln sowie die strenge Einhaltung von Hygienekonzepten in Beherbergungsbetrieben, weiterhin die mögliche Verpflichtung zur Nutzung der „Corona Warn-App“, Selbstauskunft sowie verpflichtendes Fiebermessen bei der Ankunft - stellen Mittel dar, die sie zwar weniger belasten, die aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ebenso effektiv sind wie ein Beherbergungsverbot, mit dem eine potentielle Eintragung eines Infektionsherds vom Herkunfts- in den Zielort gänzlich ausgeschlossen werden kann.32 (d) Das Verbot in § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot ist aber nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Eingriffszweck und Eingriffsintensität stehen nicht in einem angemessenen Verhältnis zueinander.33 Der Antragsgegner verfolgt mit den oben beschriebenen Zielen den Schutz von hochrangigen, ihrerseits den Schutz der Verfassung genießenden wichtigen Rechtsgütern. Die Vorschrift dient, wie gezeigt, dazu, - auch konkrete - Gefahren für das Leben und die körperliche Unversehrtheit einer potenziell großen Zahl von Menschen abzuwehren. Die angefochtene Norm bezweckt zugleich, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems in Deutschland durch die Verlangsamung des Infektionsgeschehens sicherzustellen. Der Antragsgegner kommt damit der ihn aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich treffenden Schutzpflicht nach.34 Der Senat misst den von dem Antragsgegner verfolgten Eingriffszwecken ein sehr hohes Gewicht bei. Er geht insbesondere davon aus, dass die Gefahren, deren Abwehr die angefochtene Vorschrift dient, weiterhin bestehen und sich ohne auch normative Gegenmaßnahmen in kurzer Zeit exponentiell vergrößern können. Das RKI führt in seiner aktuellen „Risikobewertung zu COVID-19“ (Stand 07.10.2020) unter anderem aus:35 „Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle weiterhin zu. Die Anzahl der neu übermittelten Fälle war in Deutschland von etwa Mitte März bis Anfang Juli rückläufig. Seit Ende Juli werden wieder deutlich mehr Fälle übermittelt, viele davon standen zunächst in Zusammenhang mit Reiseverkehr. Seit Ende August (KW 35) werden wieder vermehrt Übertragungen in Deutschland beobachtet. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein kontinuierlicher Anstieg der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Dynamik nimmt in fast allen Regionen zu. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen, insbesondere im Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis und bei Gruppenveranstaltungen und es werden wieder vermehrt COVID-19-bedingte Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen gemeldet. Nach wie vor gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig. Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch.“ (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, zuletzt abgerufen am 14.10.2020).36 Diese Einschätzung des RKI beruht auf einer Auswertung der zurzeit vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und ist inhaltlich nachvollziehbar. Sie gibt dem Senat Anlass, die vom Antragsgegner mit § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot verfolgten Zwecke mit einem sehr hohen Gewicht in die gebotene Abwägung einzustellen. Der Senat verkennt nicht, dass aktuell ein erneuter Anstieg der Übertragung des Coronavirus in der Bevölkerung zu beobachten ist (vgl. näher dazu RKI, Lagebericht vom 13.10.2010, abrufbar unter www.rki.de). Dies rechtfertigt es zweifellos, weiterhin auch normative und mit Grundrechtseingriffen verbundene Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen.37 Auch unter Berücksichtigung dieses hohen Gewichts steht der Eingriffszweck im gegenwärtigen Zeitpunkt gleichwohl nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der mit der Vorschrift verursachten Eingriffsintensität.38 Durch das Beherbergungsverbot wird es Reisenden aus innerdeutschen „Risikogebieten“, egal aus welchem Grund sie reisen, de facto unmöglich, sich für einen längeren als nur tagweisen Aufenthalt nach Baden-Württemberg zu begeben, weil sie dort keine Unterkunftsmöglichkeit gegen Entgelt in Anspruch nehmen können.39 Der Antragsgegner hat bereits nicht dargelegt, dass im Zusammenhang mit der Beherbergung ein besonders hohes Infektionsrisiko besteht, dem mit so drastischen Maßnahmen begegnet werden müsste. Zwar gibt es nach den Analysen des Robert-Koch-Instituts im ganzen Bundesgebiet zahlreiche Ausbrüche in verschiedenen Lebensbereichen zu beobachten:40 „In den meisten Kreisen handelt es sich zumeist um ein diffuses Geschehen mit vermehrten Häufungen in Zusammenhang mit privaten Feiern im Familien- und Freundeskreis. In einigen Fällen liegt ein konkreter größerer Ausbruch als Ursache für den starken Anstieg in den betroffenen Kreisen vor. Zum Anstieg der Inzidenz tragen aber nach wie vor viele kleinere Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen bei, sowie Ausbrüche in Krankenhäusern, Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, Gemeinschaftseinrichtungen, Kindertagesstätten und Schulen, verschiedenen beruflichen Settings sowie in Zusammenhang mit religiösen Veranstaltungen [bei].“ (RKI-Lagebericht v. 13.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Okt_2020/2020-10-13-de.pdf?__blob=publicationFile).41 Hiernach sind derzeit jedoch trotz steigender Fallzahlen in der Bundesrepublik keine Ausbruchsgeschehen in Beherbergungsbetrieben bekannt, vielmehr ist aktueller „Treiber“ der Pandemie das Feiern in größeren Gruppen oder der Aufenthalt in Bereichen, wo die Abstands- und Hygieneregeln aufgrund räumlicher Enge, z.B. in der Schule oder in verschiedenen Wohnsituationen (z.B. Pflegeheimen oder Flüchtlingsunterkünfte), nicht eingehalten werden. Alleine der Verweis des Antragsgegners auf die „sehr guten Erfahrungen mit Reisebeschränkungen“ in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern vermag diesen Befund nicht substantiiert in Frage zu stellen. Zwar sind die Inzidenzen in Schleswig-Holstein und v.a. Mecklenburg-Vorpommern weiterhin sehr gering. Ein Nachweis, dass ein Beherbergungsverbot hierzu einen messbaren Beitrag geleistet hat, ist damit nicht erbracht, zumal in den vergangenen Wochen aufgrund der in allen Bundesländern vergleichsweise niedrigen Fallzahlen das Beherbergungsverbot in den jeweiligen Landesverordnungen ohnehin nicht zur Anwendung gelangt ist. Daraus wird ersichtlich, dass Reisen mit Übernachtungen gerade in die genannten Bundesländer möglich waren, ohne dass sich die Infektionszahlen – durch potentiell asymptomatische Infizierte – dadurch merklich erhöht hätten oder Ausbruchsgeschehen in Beherbergungsbetrieben bekannt wurden.42 Es erscheint darüber hinaus auch nach allgemeiner Lebenserfahrung und vor allem vor dem Hintergrund der in Beherbergungsbetrieben schon nach der allgemeinen CoronaVO einzuhaltenden Hygienevorschriften wenig wahrscheinlich, dass gerade die Beherbergung von Gästen aus innerdeutschen „Risikogebieten“ besonders hohe Infektionsrisiken birgt. So gelten in Beherbergungsbetrieben gem. § 14 Nr. 12 CoronaVO allgemeine Infektionsschutzvorgaben. Sie sind verpflichtet, die Hygieneanforderungen nach § 4 CoronaVO einzuhalten, ein Hygienekonzept nach Maßgabe von § 5 CoronaVO zu erstellen und eine Datenverarbeitung nach § 6 CoronaVO durchzuführen. Weiterhin gelten ein Zutritts- und Teilnahmeverbot nach § 7 CoronaVO sowie besondere Vorschriften für Veranstaltungen gem. § 10 CoronaVO. Der Verordnungsgeber hat hier ein umfassendes Regelwerk einzuhaltender Hygienemaßnahmen erstellt, welches gerade eine Infektionsgefahr in den Betrieben verhindern soll. Durch das Zutrittsverbot nach § 7 CoronaVO besteht darüber hinaus ein zusätzlicher Schutz vor Infizierten oder Verdachtspersonen, sodass bereits mit dieser Vorschrift sichergestellt ist, dass keine infektiösen oder wahrscheinlich infektiösen Gäste beherbergt werden.43 Der Antragsgegner kann alldem schließlich nicht mit Erfolg entgegenhalten, das Beherbergungsverbot in § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot sei deshalb angemessen, weil es angesichts der zurzeit wieder steigenden Infektionszahlen zur Vermeidung einer weiteren Ausbreitung des Infektionsgeschehens „aktuell nicht die Zeit sei, Beschränkungen zurückzunehmen“.44 Diese Betrachtung greift verfassungsrechtlich zu kurz. Der Verordnungsgeber ist durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet, fortlaufend und differenziert zu prüfen, ob konkrete Grundrechtseingriffe auch weiterhin zumutbar sind (stRspr., vgl. nur Senat, Beschl. v. 18.05.2020 – 1 S 1386/20 –, m.w.N.). Dabei hat er auch in den Blick zu nehmen, ob das Gesamtkonzept von Beschränkungen und Lockerungen noch in sich stimmig und tragbar ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 08.09.2020 – 13 B 902/20.NE –, juris Rn. 29). Der Verordnungsgeber hat zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie zunächst umfassende Beschränkungen getroffen, die nach und nach wieder aufgehoben wurden. Derzeit liegt der Fokus der Verordnungsbestimmungen auf der Sicherstellung der Abstands- und Hygieneregeln in Bereichen, in denen sich eine Vielzahl von Menschen begegnen und es daher aufgrund der Ansteckungsgefahr, die v.a. von Tröpfchen und Aerosolen ausgeht, zu einer Ausbreitung von Infektionen kommen kann. Weiterhin beschränkt der Verordnungsgeber aktuell die Gesamtzahl der Teilnehmer insbesondere bei Ansammlungen (§ 9 CoronaVO) und Veranstaltungen (§ 10 CoronaVO). Auf der anderen Seite sind bis auf Clubs und Discotheken (§ 13 Nr. 1 CoronaVO) sämtliche Geschäfte, Freizeit- und Sporteinrichtungen, Gaststätten, Bars und Vergnügungsstätten wieder – wenn auch mit den oben bereits erwähnten Schutzvorkehrungen (§§ 2 bis 7 CoronaVO) – geöffnet und stehen grundsätzlich allen Personengruppen, für die kein Zutritts- und Teilnahmeverbot nach § 7 CoronaVO gilt, unabhängig von ihrer Herkunft aus einem „Risikogebiet“ offen. Dass gerade Beherbergungsbetriebe, in denen nicht zwangsläufig eine große Zahl fremder Menschen aufeinandertreffen, sondern Gäste in abgeschlossenen Räumlichkeiten ggf. mit einer überschaubaren Personenanzahl übernachten und deren Kontaktdaten hinterlegt sind, davon ausgenommen sind, erschließt sich nicht.45 Vor diesem Hintergrund ist es den Antragstellern auch nicht zumutbar, sich auf den Ausnahmetatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 3 CoronaVO Beherbergungsverbot verweisen zu lassen, wonach durch Vorweisen eines (negativen) ärztlichen Zeugnisses, das sich auf eine molekularbiologische Testung auf das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus stützen muss und nicht älter als 48 Stunden sein darf (§ 3 CoronaVO Beherbergungsverbot), das Beherbergungsverbot nach § 2 Abs. 1 CoronaVO Beherbergungsverbot nicht gilt. Nach derzeitiger Sachlage erscheint es nicht hinreichend gewährleistet, dass ein solcher Test von Reisenden überhaupt so kurzfristig erlangt werden kann. Schon aus rein organisatorischer Sicht ist fraglich, ob dieses enge Zeitfenster, in dem eine Abstrichentnahme durch medizinisches Fachpersonal, der Transport der Proben ins Labor sowie die Übermittlung des Ergebnisses und schließlich das Erscheinen des Gastes im Beherbergungsbetrieb stattfinden muss, überhaupt eingehalten werden kann. Außerdem ist fraglich, ob die entstehenden Kosten (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/schwankende-preise-160-euro-fuer-einen-corona-test-17000225.html) zumutbar sind, dies kann jedoch nach dem vorstehend Gesagten hier offenbleiben.46 b) Aufgrund der Erfolgsaussichten (s. oben a)) in der Hauptsache besteht ein deutliches Überwiegen der von den Antragstellern geltend gemachten Belange gegenüber den von dem Antragsgegner vorgetragenen gegenläufigen Interessen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist daher im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO dringend geboten.47 Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass die angefochtene, aller Voraussicht nach rechtswidrige und deshalb unwirksame Regelung sie in ihrer Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG empfindlich trifft. Diese Belange überwiegen die gegenläufigen Interessen des Antragsgegners. Dessen Interessen sind zwar von, wie gezeigt, sehr hohem Gewicht. Denn die infektionsschutzrechtlichen Regelungen dienen dem Schutz von Leib und Leben einer Vielzahl vom Coronavirus Betroffener und der damit verbundenen Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems Deutschlands. Hieraus folgt aber nicht, dass die Antragsteller Beschränkungen v.a. ihres Grundrechts auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG durch eine voraussichtlich rechtswidrige Regelung bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens hinnehmen müssten.48 Wegen des engen Regelungszusammenhangs zwischen § 2 und 3 der CoronaVO Beherbergungsbetriebe sind diese beiden Vorschriften daher mit sofortiger Wirkung vorläufig außer Vollzug zu setzen.49 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.50 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG. Der Streitwert von 5.000,-- EUR ist im vorliegenden Eilverfahren wegen Vorwegnahme der Hauptsache nicht zu reduzieren.51 Dieser Beschluss ist unanfechtbar. | {
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Tenor
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 1. Juli 2019 wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Kläger wenden sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für ein grenzständiges Nebengebäude und fordern dessen Abriss; in der Sache streiten die Beteiligten darum, ob das Gebäude Aufenthaltsräume enthält.
2
Die Kläger und der Beigeladene sind Eigentümer benachbarter Wohngrundstücke. Unter dem 2.2.2018 erteilte der Beklagte dem Beigeladenen die Baugenehmigung für ein durch Grüneintrag als „Neubau Nebengebäude (Abstellen/Gartengeräte)“ bezeichnetes Vorhaben. Das Gebäude soll nach den Bauvorlagen eine Länge von 9 m an der gemeinsamen Grundstücksgrenze und eine Höhe von maximal 3 m aufweisen und einen Raum umfassen. Die Nettonutzfläche beträgt 35,07 m², die Gebäudehöhe im Inneren maximal 2,34 m. Das nicht gedämmte Gebäude soll ein Pultdach und zur grenzabgewandten Seite zwei Holztore sowie ein ca. 2 m² großes Fenster erhalten.
3
Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage mit den Anträgen, die Baugenehmigung aufzuheben und den Beklagten zum Erlass einer Beseitigungsanordnung zu verpflichten, hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt, das Vorhaben verletze keine drittschützenden Normen, insbesondere nicht die Abstandsvorschriften. Es dürfe nach § 5 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 NBauO ohne Grenzabstand errichtet werden, da es sich um ein Gebäude ohne Aufenthaltsräume handele. Aufenthaltsräume seien nach § 2 Abs. 8 NBauO solche, die zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet seien. Nicht nur vorübergehend sei ein Aufenthalt, wenn er sich regelmäßig über mehrere Stunden erstrecke. Welchem Nutzungszweck der Raum nach dem Willen des Bauherrn dienen solle, sei unerheblich; es genüge die objektive Eignung als Aufenthaltsraum, die sich maßgeblich danach beurteile, ob der Raum „aufenthaltsverdächtig“ sei. Entscheidend sei etwa, ob er die Anforderungen des § 43 NBauO erfülle und innerhalb der wärmegedämmten Gebäudehülle liege. Bastelräume (Hobby-Räume) seien keine Aufenthaltsräume, soweit sie nur für einen kurzfristigen Aufenthalt bestimmt und geeignet seien. Gemessen daran umfasse das Vorhaben keinen Aufenthaltsraum. Der angegebene Nutzungszweck „Abstellen/Gartengeräte“ beinhalte keinen dauerhaften Aufenthalt. Das Gebäude sei auch nicht „aufenthaltsraumverdächtig“. Weder die Höhe von unter 2,40 m in einem Raum, der nicht oberstes Geschoss i.S.d. § 43 Abs. 2 NBauO sei, noch die Fenstergröße - die Möglichkeit, die Holztore zu öffnen, sei nicht ausreichend - genügten den Anforderungen des § 43 NBauO an Aufenthaltsräume. Hinzu komme, dass die Herrichtung des Nebengebäudes zu einem Aufenthaltsraum nur unter unvertretbaren Kosten möglich sei. Die bloße Möglichkeit, den ungedämmten und unbeheizten Raum als Werk- oder Hobbyraum zu nutzen, genüge nicht, da diese Möglichkeit in jedem Nebengebäude i.S.d. § 5 Abs. 8 Nr. 2 NBauO bestehe. Verletze die Genehmigung keine Nachbarrechte, bestehe auch kein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten.
II.
4
Der dagegen gerichtete, auf den Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
5
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils sind dann dargelegt, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, mit seinem - fristgerechten - Vortrag wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich dadurch am Entscheidungsergebnis etwas ändern könnte; überwiegende Erfolgsaussichten sind nicht erforderlich. Ist die Entscheidung selbständig tragend auf mehrere Gründe gestützt, so muss hinsichtlich eines jeden dieser Gründe ein Zulassungsgrund vorgetragen sein und vorliegen.
6
Daran fehlt es hier. Innerhalb der Frist zur Darlegung der Zulassungsgründe (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) haben die Kläger lediglich die Bewertung des Verwaltungsgerichts angegriffen, der Innenraum des umstrittenen Nebengebäudes sei kein Aufenthaltsraum i.S.d. § 2 Abs. 8 VwGO. Die erstmals mit Schriftsatz vom 13. August 2020 vorgetragenen Bedenken gegen die Vereinbarkeit des Vorhabens mit brandschutzrechtlichen Vorgaben und der erstmals mit Schriftsatz vom 30. September 2020 vorgetragenen Einwand das (vorhandene) Gebäude überschreite die zulässige Gesamtgebäudelänge von 9 m, sind verfristet und daher im Zulassungsverfahren unbeachtlich.
7
Die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, das Vorhaben beinhalte keinen Aufenthaltsraum, haben die Kläger nicht schlüssig in Frage zu stellen vermocht. Das gilt zunächst, soweit das Verwaltungsgericht in Übereinstimmung mit der Kommentarliteratur (Mann, in: Große-Suchsdorf, Nds. Bauordnung, 10. Aufl. 2020, § 2 Rn. 111) den nicht nur vorübergehenden Aufenthalt als einen Aufenthalt definiert, der sich regelmäßig über mehrere Stunden erstreckt. Angesichts der Tatsache, dass Begriff „vorübergehend“ grammatikalisch in Abgrenzung zu „dauerhaft“ verwendet wird, ist diese Definition schon sprachlich überzeugend; das Argument, für sie ergebe sich aus dem Gesetzeswortlaut kein Anhaltspunkt, greift daher nicht. Im Übrigen rechtfertigen sich auch die Anforderungen an Aufenthaltsräume in § 43 NBauO nur, wenn damit Räume gemeint sind, an denen sich Menschen - und zwar nicht nur gelegentlich - mehrere Stunden am Tag aufhalten.
8
Zutreffend ist auch die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, der streitgegenständliche Raum sei weder zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt bestimmt noch geeignet. Für ersteres stellt das Verwaltungsgericht zu Recht auf die Nutzungsumschreibung in der Baugenehmigung „Abstellen/Gartengeräte“ ab, die einen mehr als vorübergehenden Aufenthalt nicht erfordert. Soweit die Kläger darauf verweisen, der Beigeladene habe selbst angegeben, in dem Raum auch gelegentlich Reparaturen an seinen Fahrrädern, Möbeln u.ä. durchführen zu wollen, ergibt sich daraus nichts Anderes. Wie dargelegt, macht auch ein mehrstündiger Aufenthalt einen Raum nicht zum Aufenthaltsraum, sofern er - wie dies bei den genannten häuslichen Reparaturarbeiten zu erwarten ist - auf gelegentliche Tätigkeiten beschränkt bleibt. Eine regelmäßige Nutzung der Räume für längere Reparaturarbeiten wäre von der Baugenehmigung nicht abgedeckt; die Aussagen des Beigeladenen im bisherigen Verfahren bieten auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass er eine solche beabsichtigt. Auch eine objektive Eignung des Raums zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt hat das Verwaltungsgericht überzeugend verneint. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die bloße abstrakte Möglichkeit, sich in einem Raum mehr als nur vorübergehend physisch aufzuhalten, für diese Eignung nicht genügt, da anderenfalls praktisch jeder Raum ein Aufenthaltsraum wäre. Vor dem Hintergrund, dass das Kriterium der Eignung Missbrauch vorbeugen soll (Mann, in: Große-Suchsdorf, Nds. Bauordnung, 10. Aufl. 2020, § 2 Rn. 112), ist erforderlich, dass die Nutzung nicht nur abstrakt möglich ist, sondern nach seiner Beschaffenheit auch konkret naheliegt. Insoweit hat das Verwaltungsgericht richtigerweise maßgeblich darauf abgestellt, dass der Raum gleich mehrere Voraussetzungen des § 43 NBauO nicht erfüllt; denn in dieser Norm, die entgegen dem Verständnis der Kläger für alle Aufenthaltsräume i.S.d. § 2 Abs. 8 NBauO gilt, hat der Gesetzgeber seine Einschätzung zum Ausdruck gebracht, unter welchen - kumulativ, nicht alternativ zu erfüllenden - Mindestvoraussetzungen ein nicht nur gelegentlicher längerer Aufenthalt in Räumen als physisch und psychisch akzeptabel angesehen wird. Fehlt es an diesen Voraussetzungen und kann das Defizit auch nicht mit einfachen Mitteln beseitigt werden, so liegt es im Regelfall auch fern, dass eine solche Nutzung tatsächlich erfolgen wird. Das gilt jedenfalls, wenn nicht andere Indizien gleichwohl eine Nutzung zum mehr als vorübergehenden Aufenthalt nahelegen; solche Indizien haben die Kläger indes nicht überzeugend benannt. Der Umstand, dass das einzige, seiner Größe nach zur Belichtung und Belüftung des Raums unzureichende Fenster „in Arbeitshöhe“ angebracht sei, genügt insoweit nicht.
9
Die Würdigung des Verwaltungsgerichts, dass der Innenraum des Vorhabens weder hinsichtlich seiner lichten Höhe, noch hinsichtlich der vorhandenen Fensterfläche den Anforderungen des § 43 NBauO genügt, ist zutreffend und wird von den Klägern nicht plausibel in Frage gestellt. Der diesbezügliche Vortrag der Kläger ist nicht ohne weiteres verständlich. Dass der Raum hinsichtlich seiner Grundfläche den Anforderungen nach § 43 Abs. 1 Satz 1, 1. Var. NBauO i.V.m. § 28 DVO-NBauO genügt, bedeutet nicht, dass auch die kumulativ geltenden Anforderungen an die lichte Höhe nach § 43 Abs. 1 Satz 1, 2. Var., Abs. 2 NBauO und an notwendige Fenster (§ 43 Abs. 3 NBauO i.V.m. § 20 Abs. 1 DVO-NBauO) erfüllt wären. Hierzu hat das Verwaltungsgericht das Nötige gesagt.
10
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
11
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO, 100 Abs. 1 ZPO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Senat hat das Passivrubrum von Amts wegen berichtigt. Nach dem Erlass des Ministerpräsidenten vom 20. Juli 2010 (Amtsbl. SH 2010, 526, dort Ziff. 1) wird das Land Schleswig-Holstein vorbehaltlich abweichender Regelung in Gesetzen und Verordnungen oder in den nachfolgenden Abschnitten durch die zuständige Fachministerin oder den zuständigen Fachminister im Rahmen ihres oder seines jeweiligen Geschäftsbereichs vertreten. Wie der Antragsgegner zutreffend ausgeführt hat, sind gemäß § 32 Satz 1 IfSG für den Erlass von Rechtsverordnungen über Maßnahmen nach § 28 IfSG, um solche geht es in der angegriffenen Landesverordnung, grundsätzlich die Landesregierungen zuständig. Diese können die Ermächtigung gemäß § 32 Satz 2 IfSG durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen. Das ist mit § 12 Abs. 1 Satz 1 der Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 1. Oktober 2020 in der Weise umgesetzt worden, dass dadurch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur für die hier angegriffene Landesverordnung zuständig geworden ist und daher das Land vertritt. Zwar hat die Antragstellerin sowohl das Land Schleswig-Holstein als auch das Bildungsministerium als Antragsgegner benannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sie bei Kenntnis der vorangestellten Delegationsbefugnis, von der vorliegend Gebrauch gemacht worden ist, den Antragsgegner sogleich zutreffend benannt hätte.
2
Der im Wege des Normenkontrolleilantrages gestellte Antrag,
3
die in § 2 Abs. 3, Abs. 4 und § 3 Abs. 3 getroffenen Regelungen der Landesverordnung über besondere Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 an Schulen (Schulen-Coronaverordnung – SchulencoronaVO) vom 6. Oktober 2020 bis zu einer Entscheidung über den Normenkontrollantrag außer Vollzug zu setzen,
4
ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
5
1. Der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 VwGO ist zulässig. Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht dies bestimmt. Eine entsprechende Bestimmung ist in § 67 Landesjustizgesetz enthalten. Die Antragstellerin wendet sich gegen §§ 2 Abs. 2, Abs. 4 und § 3 Abs. 3 der Landesverordnung über besondere Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 an Schulen (Schulen-Coronaverordnung – SchulencoronaVO) vom 6. Oktober 2020, mithin gegen untergesetzliche Normen in Form einer Landesverordnung.
6
Die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO setzt nicht voraus, dass das Normenkontrollverfahren in der Hauptsache bereits anhängig ist (vgl. Ziekow in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 386 m.w.N.).
7
Die Antragstellerin ist auch antragsbefugt, weil sie geltend machen kann, durch die in §§ 2 Abs. 3, Abs. 4 und § 3 Abs. 3 angeordnete Maskenpflicht in der Schule in ihrem Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (Recht auf körperliche Unversehrtheit), Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 (Allgemeines Persönlichkeitsrecht) sowie aus Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) verletzt zu sein.
8
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet, weil die Voraussetzungen gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, im Ergebnis nicht vorliegen.
9
Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn – wie hier – die in der Hauptsache angegriffene Norm in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthält oder begründet, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
10
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (vgl. auch OVG Schleswig, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 MR 4/20 -, juris Rn. 4).
11
Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 12; OVG Schleswig, a.a.O., Rn. 5).
12
Nach diesen Maßstäben kommt eine vorläufige Außervollzugsetzung der mit dem Normenkontrollantrag der Antragstellerin angegriffenen Bestimmungen der §§ 2 Abs. 3, Abs. 4 und § 3 Abs. 3 der Landesverordnung über besondere Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 an Schulen (Schulen-Coronaverordnung – SchulencoronaVO) vom 6. Oktober 2020 nicht in Betracht.
13
Nach § 2 Abs. 2 SchulencoronaVO sind aus genommen von der ( in Absatz 1 der Vorschrift angeordneten) Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung Schülerinnen und Schüler innerhalb des Unterrichtsraumes, wenn keine anderen Personen mit Ausnahme von Schülerinnen und Schülern derselben Kohorte und von an der Schule tätigen Personen anwesend sind (1.); Schülerinnen und Schüler in den ihrer Kohorte zugewiesenen Bereichen des Schulhofs oder der Mensa, wenn ein Mindestabstand von 1,5 Metern zu Personen außerhalb der eigenen Kohorte eingehalten wird (2.). Gemäß § 2 Abs. 3 SchulencoronaVO gilt Absatz 2 Nummer 1 für Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I mit der Maßgabe, dass diese von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung innerhalb des Unterrichtsraumes nur dann ausgenommen sind, wenn bei Prüfungen und mündlichen Vorträgen ein Mindestabstand von 1,5 Metern zu anderen Personen eingehalten wird. Gemäß § 2 Abs. 4 SchulencoronaVO gilt Absatz 2 Nummer 2 für Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I mit der Maßgabe, dass diese von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auf dem Schulhof und in der Mensa nur dann ausgenommen sind, wenn ein Mindestabstand von 1,5 Metern zu anderen Personen eingehalten wird. Gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 SchulencoronaVO sind ausgenommen von der (in Absatz 1 angeordneten) Pflicht zum Tragen einer Mund Nasen-Bedeckung Schülerinnen und Schüler sowie die sie begleitenden Personen, soweit sie einen Mindestabstand von 1,5 Metern zu Personen außerhalb der eigenen aus den Schülerinnen und Schülern bestehenden Kohorte einhalten. Gemäß § 3 Abs. 3 SchulencoronaVO gilt Abs. 2 Nummer 2 für Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I sowie die sie begleitenden Personen mit der Maßgabe, dass diese von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung bei schulischen Veranstaltungen außerhalb des Schulgeländes nur dann ausgenommen sind, soweit sie einen Mindestabstand von 1,5 Metern zu anderen Personen einhalten.
14
a) Die Anordnung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung auf dem Gelände von Schulen und bei schulischen Veranstaltungen außerhalb des Schulgeländes ist formell rechtmäßig.
15
Die in der Hauptsache angegriffene Landesverordnung findet in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587), eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage. Der Senat hat bereits in mehreren Verfahren entschieden, dass die im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Pandemie erlassenen Regelungen in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine hinreichende Rechtsgrundlage finden (vgl. etwa Beschl. des Senats v. 13.05.2020 - 3 MR 14/20 -; Beschl. v. 30.04.2020 – 3 MR 15/20 -, juris Rn. 17ff. und v. 09.04. 2020 – 3 MR 4/20 -, juris Rn. 8ff. sowie v. 07.04.2020 – 3 MB 13/20 -, juris Rn. 9ff.).
16
(1) Die Regelung des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verstößt nach summarischer Prüfung auch nicht gegen den Parlamentsvorbehalt („Wesentlichkeitstheorie“).
17
Der im Rechtsstaatsprinzip und im Demokratiegebot wurzelnde Parlamentsvorbehalt gebietet, dass in grundlegenden normativen Bereichen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, die wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden. Wann es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den dort verbürgten Grundrechten, zu entnehmen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1.04.2014 - 2 BvF 1/12 - juris Rn. 101 ff.).
18
Der Vorbehalt des Gesetzes erschöpft sich nicht in der Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe. Er verlangt vielmehr auch, dass alle wesentlichen Fragen vom Gesetzgeber selbst entschieden und nicht anderen Normgebern überlassen werden, soweit sie gesetzlicher Regelung zugänglich sind. Wie weit der Gesetzgeber die für den jeweils geschützten Lebensbereich wesentlichen Leitlinien selbst bestimmen muss, lässt sich dabei nur mit Blick auf den Sachbereich und die Eigenart des Regelungsgegenstandes beurteilen. Aus der Zusammenschau mit dem Bestimmtheitsgrundsatz ergibt sich, dass die gesetzliche Regelung desto detaillierter ausfallen muss, je intensiver die Auswirkungen auf die Grundrechtsausübung der Betroffenen sind. Die erforderlichen Vorgaben müssen sich dabei nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut des Gesetzes ergeben; vielmehr genügt es, dass sie sich mit Hilfe allgemeiner Auslegungsgrundsätze erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Vorgeschichte der Regelung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2017 - 1 BvR 1314/12 - juris Rn. 182; vgl. zum Vorstehenden Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 11.06.2020 – 3 R 102/20 –, juris Rn. 32ff. mwN).
19
Nach diesen Maßgaben und unter Zugrundelegung nachstehender Ausführungen ergeben sich keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Landesverordnungsgeber – fußend auf dem Infektionsschutzgesetz – die SchulenCoronaVO erlassen hat.
20
(2) Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht verletzt. Es verlangt, dass ein Gesetz, welches ein Grundrecht einschränkt, das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennt. Es findet allerdings nur Anwendung auf Grundrechte, die aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus stets betont, dass Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nur für Gesetze gilt, die darauf abzielen, ein Grundrecht über die in ihm selbst angelegten Grenzen hinaus einzuschränken. Als Formvorschrift bedarf die Norm enger Auslegung, wenn sie nicht zu einer leeren Förmlichkeit erstarren und den die verfassungsmäßige Ordnung konkretisierenden Gesetzgeber in seiner Arbeit unnötig behindern soll (vgl. (BVerfG, Kammerbeschl. v. 11.08.1999 – 1 BvR 2181/98 –, juris Rn. 55f. mwN).
21
Ein zielgerichteter (finaler) Grundrechtseingriff, der notwendig wäre, um das Zitiererfordernis auszulösen, ist § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG und § 32 Abs. 3 IfSG nicht immanent. Läge in der Pflicht, eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen, ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vor, wäre dies allenfalls als eine unbeabsichtigte Nebenfolge zu bewerten. Im Übrigen liegt, insoweit wird auf die nachstehenden Ausführungen verwiesen, kein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) vor.
22
Gemäß § 32 Satz 1 IfSG werden die Landesregierungen ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon ausschließen.
23
b) Die angegriffene Anordnung zum Tragen eines Mund-Nasen-Bedeckungsschutzes im schulischen Bereich begegnet auch keinen materiellen Bedenken.
24
Hat der Gesetzgeber nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG ausdrücklich die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen, zu denen Schulen § 33 Nr. 3 IfSG gehören, aufgenommen, stellt sich die Verpflichtung zum Tagen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Unterricht in diesem Zusammenhang eine Maßnahme zur Ermöglichung des Präsenzunterrichts dar und ist als betriebliche Regelung als einer gegenüber einer Schließung unterschwellige Maßnahme von der Ermächtigungsgrundlage der §§ 32 Satz 2, 28 Abs. 1 IfSG gedeckt (vgl. BayVGH, Beschl. v. 08.09.2020 – 20 NE 20.1999 -, juris Rn. 27).
25
(1) Die Voraussetzungen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen vor. Nach der aktuellen Risikobewertung des Robert-Koch-Instituts (RKI, Stand: 07.10.2020) ist eine Intensivierung der gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen nötig, um Infektionen im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich so weit wie möglich zu vermeiden. Hier können junge Erwachsene und Jugendliche und Personen mit vielen sozialen Kontakten durch Einhaltung der empfohlenen Maßnahmen (AHA + Lüften Regeln) in ganz besonderer Weise dazu beitragen, Übertragungen zu verhindern. Dazu zählen Hygienemaßnahmen, das Abstandhalten, das Einhalten von Husten- und Niesregeln, das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckung/Alltagsmaske in bestimmten Situationen (AHA-Regeln). Auch wenn die Anzahl der aktuellen Infektionen in Schleswig-Holstein derzeit im Vergleich mit anderen Bundesländern eher niedrig zu bewerten sein mag, besteht nach Einschätzung des RKI jedenfalls die Option zum Tragen eines Mund-Nase-Bedeckungsschutzes im Klassenraum (vgl. Präventivmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie, Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für Schulen, Stand: 12.10.2020).
26
Aus § 4 IfSG ergibt sich, dass das RKI eine vorrangige Rolle im Zusammenhang mit der Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen hat (so auch BayVGH, Beschl. v. 28.04.2020 - 20 NE 20.849 –, juris Rn. 33). Es ist als Bundesoberbehörde unter anderem dafür zuständig, den Gesundheitsbehörden auf allen Ebenen die Informationen zu geben oder zugänglich zu machen, die zur Erfüllung der jeweiligen Aufgaben notwendig sind (Beschl. des Senats v. 13.05.2020 – 3 MR 14/20 –, juris Rn. 21). Der Umstand, dass das RKI als Bundesoberbehörde dem Bundesminister für Gesundheit unterstellt ist, mindert die dem RKI eingeräumte Stellung daher nicht. Es verletzt auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG), dass die Exekutive als Verordnungsgeber sich auf die Expertise des RKI verlässt. Das RKI ermittelt und bewertet bundesweit im Zusammenwirken mit den Gesundheitsämtern der Länder und weiteren Gesundheitsbehörden auf Bundes- und Landesebene das Pandemiegeschehen und steht im ständigen Austausch mit Virologen und Fachmedizinern, um die weitere Entwicklung einschätzen zu können. Die Bundesländer ihrerseits nutzen diese Faktenbasis, um – bezogen auf ihre Situation vor Ort – die jeweils erforderlichen Maßnahmen (etwa im Verordnungswege aber auch durch Erlass erforderlich werdender Einzelmaßnahmen wie Allgemeinverfügungen) zu erlassen. Dabei sind sie an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Das heißt, dass die zu treffenden Maßnahmen und Anordnungen der jeweiligen Situation angepasst werden müssen und einer ständigen Beobachtung unterliegen, ob sie noch geeignet und erforderlich sind, dem Infektionsgeschehen entgegenzuwirken. Unter dem Eindruck des Fortschreitens der Pandemie können sich Gesichtspunkte dafür ergeben, für die Bewertung des Infektionsverlaufs auch die (Landes-)Parlamente stärker einzubinden als dies bisher der Fall gewesen ist. Gegenwärtig sieht der Senat jedoch noch nicht die Schwelle dafür erreicht, dass dies zwingend geboten wäre. Insbesondere vermag die von der Antragstellerin angeführte Grundrechtsrelevanz derzeit nichts dafür zu ergeben, dass ein anderer Aktions- bzw. Reaktionsrahmen zu wählen und dabei die Parlamente zu beteiligen wären. Insoweit wird auf die nachstehenden Ausführungen verwiesen. Zudem ergibt sich aus der relativen Kurzfristigkeit der angeordneten Ge- und Verbote - wie dies auch hier der Fall ist – dass die Intensivität der jeweiligen Eingriffsmaßnahmen (bisher) nicht besonders schwer zu gewichten ist.
27
(2) Aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG („die zuständige Behörde trifft die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.“) folgt, dass der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ umfassend ist und der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen eröffnet, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird. Dieses Ergebnis ergibt sich zum einen anhand der Gesetzesmaterialien (vgl. Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drucks. 8/2468, S. 27 zu dem insoweit vergleichbaren § 34 BSeuchG). Danach lässt sich die Fülle der Schutzmaßnahmen, die bei Ausbruch einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht von vornherein übersehen.
28
Gleichfalls hat das Bundesverwaltungsgericht zu den nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG möglichen Schutzmaßnahmen in seinem Urteil vom 22. März 2012 (3 C 16.11, juris Rn. 24) ausgeführt:
29
„bb) Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „wie“ – des Ergreifens – ist der Behörde, wie bereits ausgeführt, Ermessen eingeräumt (BR-Dr 566/99 S. 169). Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. Entw. eines vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Dr 8/2468, S. 27 zur Vorgängerregelung in § 24 BSeuchG).“
30
Aus alledem folgt, dass alle notwendigen Schutzmaßnahmen - und mithin auch das von der Antragstellerin angegriffene Gebot zum Tragen einer Alltagsmaske - auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden können. Der Landesverordnungsgeber war bzw. ist auch berechtigt, im Wege zeitlich befristeter Verordnungen zeitnah auf das sich stetig verändernde Infektionsgeschehen in seinem Zuständigkeitsbereich zu reagieren und die jeweils zu erlassenen Regelungen der aktuellen Situation anzupassen. Da die Ausbreitung der Infektion regional sehr unterschiedlich verläuft und die Bundesländer zuständig für das Infektionsschutzrecht sind, ist es auch nicht zu beanstanden, dass die Bundesländer - jeweils bezogen auf ihren Zuständigkeitsbereich - entsprechende Landesverordnungen erlassen.
31
(3) Die in den Vorschriften des § 2 Abs. 3, Abs. 4 und des § 3 Abs. 3 SchulenCoronaVO enthaltene Anordnung zum Tragen eines Mund-Nasen-Bedeckungsschutzes erweist sich - auch im Hinblick auf die nach Ansicht der Antragstellerin betroffenen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG - als verhältnismäßig. Der Senat hat bereits mit Beschluss vom 13. Mai 2020 (3 MR 14/20, juris) entschieden, dass die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Bereichen der Öffentlichkeit nach summarischer Prüfung nicht zu beanstanden ist. Aufgrund der hier vergleichbaren Situation – Ansammlung von größeren Menschenansammlungen auf begrenztem Raum, so dass der grundsätzliche Mindestabstand von 1,5 m nicht sicher eingehalten werden kann – können die dort getroffenen Feststellungen auch für das vorliegende Normenkontrolleilverfahren Geltung beanspruchen (vgl. ebenso Beschl. d. Senats v. 28.08.2020 – 3 MR 37/20 -, juris).
32
Der Senat hat bereits mit Beschluss vom 28. August 2020 (3 MR 37/20) im Anschluss an den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. August 2020 (13 B 1197/20.N-, juris Rn. 89f. mwN) durchgreifende Zweifel daran geäußert, dass der Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) tangiert sein könnte, da hinreichend belastbare Erkenntnisse dafür, dass das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in der Schule geeignet wäre, bei Schülerinnen und Schülern allgemeine Gesundheitsgehren im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hervorzurufen, gegenwärtig nicht bestehen. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat seinerseits darauf abgestellt, dass es nicht feststellbar sei, dass Alltagsmasken, wie sie für die Schule ausreichend sind, die Aufnahme von Sauerstoff oder die Abatmung von Kohlendioxid objektiv in relevanter Weise zu beeinträchtigen.
33
Dass es, wie die Antragstellerin meint, durch das mehrstündige Tragen einer Alltagsmaske zu gravierenden körperlichen Einschränkungen bei Kindern und Jugendlichen kommen kann, ist jedenfalls medizinisch nicht belegt und wird auf Seiten der Kinder- und Jugendmediziner, aber auch von Virologen, anderen Medizinern und Pädagogen durchaus auch befürwortend beurteilt wie der Antragsgegner im Rahmen seiner Erwiderungsschrift (dort Seite 6ff). ausführt.
34
Insoweit ist auch die von der Antragstellerin angeführte Dissertation von Ulrike Butz aus dem Jahr 2004 nicht geeignet, eine gegenteilige Annahme zuzulassen. Der Senat hat hierzu bereits in seinem Beschluss vom 28. August 2020 (3 MR 37/20 -, juris) ausgeführt, dass sich diese Schrift nicht zu der aktuellen Situation der Pandemie verhält und veraltet ist. Sie hat zudem andere, als hier vorgesehene Alltagsmasken untersucht, nämlich OP-Masken.
35
Dass es bei vermehrter körperlicher Anstrengung wie etwa beim Sportunterricht zu beschleunigter Atmung mit potentiellen körperlichen Einschränkungen kommen kann, hat der Verordnungsgeber erkannt und mit der in § 2 Abs. 2 Nr. 3 SchulenCoronaVO geregelten Ausnahme, dass während des Sportunterrichts kein Mund-nase-Schutz getragen werden muss, Rechnung getragen. Im Übrigen hat der Verordnungsgeber dem Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit dadurch Rechnung getragen, indem er für diejenigen Personen, die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen können und dies glaubhaft machen können, eine Ausnahme zugelassen hat (vgl. § 2 Abs. 1 SchulenCoronaVO i. V. m. § 2 Abs. 5 Satz 2 Corona-BekämpfVO).
36
Dass es bei unsachgemäßem und zu langem Tragen einer Maske zu Gesundheitsschäden infolge des Einatmens von Viren oder Bakterien kommen kann, ist nicht vollkommen auszuschließen. Hier obliegt es den Eltern, ihren Kindern ausreichend Masken mit in den Schulunterricht zu geben und diese anzuhalten, diese regelmäßig zu wechseln. Ebenso müssen die Eltern mit ihren Kindern das richtige Aufsetzen der Maske üben. Dass dies zehnjährigen Kindern selbst nach vorheriger Anleitung grundsätzlich nicht möglich sein soll, hält der Senat für nicht nachvollziehbar. Ebenso können die Lehrerinnen und Lehrer darauf achten, dass die Kinder ihre Masken nicht zu lange tragen, beispielsweise durch Ansprache in ihrem jeweiligen Unterricht. Ein gezielter Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit kann durch ein zu langes Tragen der Maske jedenfalls nicht begründet werden.
37
Schließlich hinkt der Vergleich mit den Anforderungen zum Maskentragen im Arbeitsleben, da dort gänzlich andere Bedingungen gegeben sind, als bei dem Gebot, im schulischen Umfeld eine Maske zu tragen. In diesem Kontext hat der Antragsgegner zutreffend darauf hingewiesen, dass die im Arbeitsschutz dauerhaft bestehenden Regelungen anderen Rahmenbedingungen unterliegen, als dies bei der lediglich vorübergehenden Maskentragungspflicht während der Pandemie der Fall ist.
38
Auch die von der Antragstellerin angeführten psychischen Beeinträchtigungen sind nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden. Im Übrigen ist hierbei zu berücksichtigen, dass die Maskentragungspflicht nur im schulischen Kontext und hier auch nur für die ersten zwei Wochen nach den Herbstferien besteht.
39
Auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) dürfte bei summarischer Betrachtungsweise nicht tangiert sein. Dass die Antragstellerin durch die Mund-Nasen-Bedeckung daran gehindert wird, mit ihren Mitmenschen nonverbal über die Mimik zu kommunizieren, stellt - zumal in Anbetracht der kurzen Laufzeit der SchulenCoronaVO – keinen Eingriff in ihr Allgemeines Persönlichkeitsrecht dar. Im Übrigen gelingt nonverbale Kommunikation auch über die nicht durch die Maske bedeckte Augenpartie.
40
Nach alledem kann die Antragstellerin lediglich einen Eingriff in ihr Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) anführen. Dieser Eingriff ist indes gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig.
41
Dass der Mund-Nasen-Bedeckungsschutz geeignet ist, einer Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus wirksam zu begegnen, hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 13. Mai 2020 (Az. 3 MR 14/20) festgestellt. Darin hat der Senat die Einschätzung vertreten, dass die Mund-Nasen-Bedeckung die Verbreitung mit Coronaviren kontaminierter Tröpfchen und Aerosole in einem Bereich, der den Mindestabstand unterschreitet, hemmt und damit dem Schutz der eine infizierte Person umgebenden Menschen dient. Der Senat nimmt weiterhin Bezug auf seine Ausführungen in dem Beschluss vom 28. August 2020 (3 MR 37/20, juris Rn. 26), mit dem er festgestellt hatte, dass das Tragen einer Alltagsmaske eine flankierende Maßnahme für den Fall darstellt, dass der erforderliche Mindestabstand von 1,5 Metern nicht eingehalten werden kann, was im schulischen Bereich - und hier insbesondere bei jungen Kindern - zwangsläufig der Fall sein dürfte. Es mag sein, dass jüngere Kinder am Infektionsgesehen nicht stark beteiligt sind, allerdings fehlen insoweit offenbar derzeit noch hinreichende belastbare Erkenntnisse. Angesichts des Wiederanfahrens des öffentlichen Lebens ist eine durchgängige, das heißt auch für den Schulbetrieb geltende Maskentragungspflicht nicht unverhältnismäßig, sondern im Gegenteil deshalb geboten und erforderlich, um einem weiteren raschen Wiederanstieg der Infektionszahlen und einem damit möglicherweise einhergehenden (erneuten) Herunterfahren gesellschaftsrelevanter Bereiche wirksam entgegenzuwirken.
42
Es ist auch kein milderes Mittel erkennbar, so dass die Anordnung, einen Mund-Nase-Schutz im schulischen Umfeld zu tragen, auch erforderlich ist. Die von der Antragstellerin angeführten, aus ihrer Sicht geeigneten und weniger eingriffsintensiven Mittel (Lüftungskonzept, Einsatz von mobilen Luftfiltern, Einsatz von Trennwänden sowie das Einhalten des Mindestabstands von 1,5 m) sind nicht gleich geeignet, den Zweck – Verhinderung des weiteren Anstiegs des Infektionsgeschehens insbesondere durch aus dem Herbsturlaub zurückkehrende Kinder und Eltern – zu erreichen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 28. September 2020 (Az. 1 BvR 1948/20, juris Rn. 4) unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Empfehlungen des RKI zum Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung zur Verringerung des Infektionsrisikos ausgeführt, dass eine Mund-Nasenbedeckung in geschlossenen Räumen (wie dort im Gerichtssaal) einen höheren Schutz vor Infektionen bieten dürfte als das bloße Einhalten eines Abstands und das Belüften der Räumlichkeiten. Auch der Einsatz von mobilen Luftfiltern oder der Einzug von Trennwänden im Klassenzimmer kann nicht als milderes Mittel in Betracht gezogen werden, weil diesen Mitteln keine gleich geeignete Wirkung zukommt, wie dem Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung. Für den Einsatz von Trennwänden ergibt sich dies schon daraus, dass sie keinen Rundumschutz für den jeweiligen Schüler bieten. Auch der Einsatz von Luftfiltern kann nicht in Betracht gezogen werden. Diese stehen nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung; die Beschaffung kann nicht ad hoc für tausende von Geräten verlangt werden, da die zur Verfügung stehende Zeit bis zum Ende der Herbstferien zu kurz bemessen ist und die Maskentragungspflicht sich lediglich auf einen beschränkten Zeitraum von zwei Wochen nach Ferienende bezieht.
43
Der Senat hat bereits in seinem Beschluss vom 28. August 2020 (3 MR 37/20, juris Rn. 26) darauf abgestellt, dass angesichts des Wiederanfahrens des öffentlichen Lebens eine durchgängige, das heißt auch für den Schulbetrieb geltende Maskentragungspflicht nicht unverhältnismäßig, sondern im Gegenteil deshalb geboten und erforderlich ist, um einem raschen Wiederanstieg der Infektionszahlen und einem damit möglicherweise einhergehenden (erneuten) Herunterfahren gesellschaftsrelevanter Bereiche wirksam entgegenzuwirken. Auch die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 28.09.2020 – 1 BvR 1948/20 -, juris Rn. 5) hält die Anordnung des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum (Gerichtsaal) für angemessen im engeren Sinne. Soweit dort auf die zeitlich begrenzte Dauer einer Gerichtsverhandlung abgestellt wird, ist der Antragstellerin zwar zuzugeben, dass der tägliche Schulunterricht länger andauern wird. Die streitige SchulencoronaVO lässt insoweit aber Ausnahmen von der Maskentragungspflicht zu. Es ergibt sich insoweit aus den Darlegungen der Antragstellerin nichts dafür, dass es ihr aus gesundheitlichen Gründen unzumutbar sein könnte, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen.
44
Der Anordnung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung wohnt keine diskriminierende Wirkung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG inne. Es findet keine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem statt.
45
Sofern Lehrkräfte von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Klassenraum befreit sind, soweit sie den Mindestabstand einhalten (vgl. § 2 Abs. 4 SchulencoronaVO), können diese, anders als Schülerinnen und Schüler, den Mindestabstand regelmäßig einhalten. Zudem sind Lehrerinnen und Lehrer gehalten, den Unterricht aktiv mit hohem stimmlichen Einsatz zu gestalten, was sich bei Einsatz einer Mund-Nasen-Bedeckung über einen langen Schultag als schwierig für diese gestalten dürfte.
46
Der Vergleich mit Veranstaltungen mit einer höheren Anzahl von Personen, die in geschlossenen Räumen zusammenkommen dürfen, übersieht, dass im Schulbereich nach den Herbstferien ein erhöhtes Gefährdungspotenzial aufgrund der Rückkehr von reisenden Schülern und deren Familien besteht.
47
Auch der Vergleich mit in anderen Bundesländern bestehenden Regelungen ergibt keine andere Bewertung, weil der Normgeber des jeweiligen Landes nur innerhalb seines Herrschaftsbereiches den Gleichheitssatz zu wahren hat.
48
Letztlich ergibt auch eine Folgenabwägung kein anderes, für die Antragstellerin günstigeres Ergebnis. Die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die Aussetzung der Verordnung überwiegen nicht die Gründe für den weiteren Vollzug. Der Gesundheitsschutz der Allgemeinheit ist in diesem Zusammenhang, gerade in Anbetracht der wieder signifikant ansteigenden Infektionszahlen, vorrangig zu gewichten. Insoweit gilt das, was vorstehend zur Verhältnismäßigkeit des unterstellten Grundrechtseingriffs ausgeführt worden ist, entsprechend.
49
Dass die Antragstellerin die derzeitige gesundheitliche Lage der Gesamtbevölkerung anders bewertet als der Verordnungsgeber, ist nicht geeignet, die diesem eingeräumte Einschätzungsprärogative durchgreifend in Zweifel zu ziehen. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. In diesem Zusammenhang verweist der Senat zudem auf die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der ersten Pandemiewelle (Beschl. v. 13.05.2020 – 1 BvR 1021/20, juris), wonach der Staat Regelungen treffen darf, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann. Wenn wie hier die Freiheits- und Schutzrechte der verschieden Grundrechtsträger in unterschiedliche Richtung weisen, haben der Gesetzgeber und auch die von ihm zum Verordnungserlass ermächtigte Exekutive nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Verfassungs wegen einen Spielraum für den Ausgleich dieser widerstreitenden Grundrechte. Dabei besteht wegen der im fachwissenschaftlichen Diskurs auftretenden Ungewissheiten und der damit unsicheren Entscheidungsgrundlage auch ein tatsächlicher Einschätzungsspielraum. Dieser Spielraum kann mit der Zeit – etwa wegen besonders schwerer Grundrechtsbelastungen und wegen der Möglichkeit zunehmender Erkenntnis geringer werden.
50
Dem bemüht sich der Verordnungsgeber auch im vorliegenden Fall dadurch Rechnung zu tragen, dass die Freiheitsbeschränkungen von vornherein befristet sind und das Infektionsgeschehen einer ständigen Beobachtung unterliegt.
51
Dem Antrag der Antragstellerin, den Antragsgegner aufzufordern, konkret darzulegen, ob und falls ja, inwieweit es in Bildungseinrichtungen zu Ansteckungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 gekommen ist, war nicht zu entsprechen. Insoweit wird Bezug genommen auf die Darstellung von Ausbrüchen in Schulen in der Veröffentlichung „Überwachung von COVID-19-Schulausbrüchen, Deutschland, März bis August 2020“ (dort Seite 2ff.) (https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560-7917.ES.2020.25.38.2001645#html_fulltext).
52
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
53
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Internet veröffentlichen „Hinweise für Einreisende aus dem In- und Ausland“ des Antragsgegners in den Fassungen vom 13.10.2020 und 14.10.2020 wird abgelehnt.
Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000, -- € festgesetzt.
Gründe
1
Die Kammer legt das nach dem Wortlaut des Antrages gegen das Land Schleswig-Holstein gestellte Antragsbegehren dahingehend aus, dass der Antrag gegen den oben bezeichneten Antragsgegner, das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren, gerichtet sein soll.
2
Nach § 78 Nr. 2 VwGO ist die Klage nicht gegen den Bund, das Land oder die Körperschaft, sondern gegen die Behörde selbst zu richten, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen oder den beantragten Verwaltungsakt unterlassen hat, sofern das Landesrecht dies bestimmt. Nach § 69 Abs. 1 und 2 Landesjustizgesetz des Landes Schleswig-Holstein sind fähig, am Verfahren beteiligt zu sein, auch Landesbehörden (§ 61 Nr. 2 VwGO). Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen sind nach dieser Vorschrift gegen die Landesbehörde zu richten, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen oder den beantragten Verwaltungsakt unterlassen hat (§ 78 Absatz 1 Nr. 2 VwGO). Wegen des akzessorischen Charakters eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens zum Hauptsacheverfahren ist der Antragsgegner auch in dem Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entsprechend den für das Verfahren zur Hauptsache geltenden §§ 78, 79 VwGO zu bestimmen (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20. Juni 2007 – 1 M 110/07 – juris Rn. 3 m.w.N.; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 21. November 1988 – 3 B 167/88 – juris Rn. 2; vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 1982 – 4 ER 401/91 – juris Rn. 19; Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 22. November 2018 – 1 B 232/18 –, Rn. 19, juris). Die Antragstellerinnen wenden sich gegen den Sofortvollzug einer Maßnahme des Antragsgegners, die sie als Verwaltungsakt ansehen. Demgemäß ist der Antrag gegen den Antragsgegner zu richten.
3
Das Rechtsschutzbegehren ist ausschließlich als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die „Hinweise für Einreisende aus dem In- und Ausland“ des Antragsgegners in den Fassungen vom 13.10.2020 und 14.10.2020 auszulegen. Eine weitergehende Auslegung kommt nach dem im Schriftsatz der Antragstellerinnen vom 13. Oktober 2020 in Kenntnis des Hinweises des Gerichts auf einen Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO und einer möglichen Verweisung an das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich erklärten Willen nicht in Betracht. Nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO darf das Gericht über das Antragsbegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Eine Bindung besteht hinsichtlich des erkennbaren Antragsziels, so wie sich dieses im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aufgrund des gesamten Beteiligtenvorbringens darstellt. Nach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes ist im Zweifel zugunsten eines Antragstellers anzunehmen, dass er den in der Sache in Betracht kommenden Rechtsbehelf einlegen wollte. Dies ist auch dann anzunehmen, wenn eine anwaltliche Vertretung vorliegt (BVerwG, Beschluss vom 13. Januar 2012 – 9 B 56/11 –, juris Rn. 7 f.; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2019 – 1 B 122/18 –, Rn. 12, juris). Der in dem Schriftsatz vom 13. Oktober 2020 erklärte Wille lässt jedoch keinen Zweifel am Antragsziel. Aus der Begründung des Antrages ergibt sich, dass die Antragsteller sich gegen die Festlegung der (inländischen) Hochinzidenzgebiete wenden.
4
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die „Hinweise für Einreisende aus dem In- und Ausland“ des Antragsgegners in den Fassungen vom 13.10.2020 und 14.102020 ist unzulässig. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung (von Widerspruch oder Anfechtungsklage, § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO) in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 bis 3, also insbesondere in den Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzugs, anordnen. Widerspruch und Anfechtungsklage kann im Grundsatz, abgesehen von hier nicht einschlägigen Ausnahmen, in zulässiger Weise nur gegen Verwaltungsakte erhoben werden. Bei den im Internet veröffentlichten Hinweisen für Einreisende aus dem In- und Ausland des Antragsgegners handelt es sich jedoch nicht um einen Verwaltungsakt, sodass ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage dagegen unzulässig ist.
5
Der nicht ausdrücklich durch das Gesetz geregelte, für die Anwendung der Verwaltungsgerichtsordnung maßgebende prozessrechtliche Begriff des Verwaltungsakts entspricht dem verwaltungsverfahrensrechtlichen Begriff des Verwaltungsakts, der in den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Bundes und der Länder näher bestimmt ist. Nach § 106 Abs. 1 LVwG ist Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere öffentlich-rechtliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Nach Absatz 2 der Vorschrift ist Allgemeinverfügung ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft.
6
Ob eine behördliche Maßnahme ein Verwaltungsakt ist, bestimmt sich in entsprechender Anwendung der zu §§ 133, 157 BGB entwickelten Maßstäbe nach ihrem objektiven Erklärungswert. Maßgeblich ist insofern, wie der Empfänger die Erklärung unter Berücksichtigung der ihm erkennbaren Umstände bei objektiver Würdigung verstehen muss. Dabei ist vom Wortlaut der Erklärung auszugehen und deren objektiver Gehalt unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts zu ermitteln; Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, Urteile vom 5. November 2009 - 4 C 3.09 - BVerwGE 135, 209 Rn. 21; vom 28. November 2019 – 5 A 4/18 –, Rn. 22, juris). Bei der Ermittlung des objektiven Erklärungswertes sind alle dem Empfänger bekannten oder erkennbaren Umstände heranzuziehen, insbesondere auch die grundsätzlich erforderliche Begründung des Verwaltungsakts (BVerwG, Urteil vom 18. Juni 1980 – BVerwG 6 C 55.79 – BVerwGE 60, 223, 228 f.). Die Begründung hat einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Regelungsgehalt. Sie ist die Erläuterung der Behörde, warum sie den verfügenden Teil ihres Verwaltungsakts so und nicht anders erlassen hat. Die Begründung bestimmt damit den Inhalt der getroffenen Regelung mit, sodass sie in aller Regel unverzichtbares Auslegungskriterium ist (BVerwG, Urteil vom 16. Oktober 2013 – 8 C 21/12 –, BVerwGE 148, 146-155, Rn. 14).
7
Vorliegend sprechen durchgreifende Anhaltspunkte dagegen, dass der Antragsgegner mit der Veröffentlichung der genannten Hinweise die Handlungsform eines Verwaltungsakts in Gestalt einer Allgemeinverfügung hat wählen wollen.
8
Zunächst fehlen in den im Internet veröffentlichten Hinweisen die Begriffe Verfügung oder Allgemeinverfügung oder vergleichbare Formulierungen, die auf die Handlungsform eines Verwaltungsaktes schließen lassen könnten. Es heißt dort einleitend wörtlich:
9
„Hinweise für Einreisende aus dem In- und AuslandDatum 14.10.2020Das müssen Einreisende und Urlauber: innen aus In- und Ausland beachten.Liebe Reisende,Schleswig-Holstein heißt Sie als Urlauberin oder Urlauber oder als Reiserückkehrende/r herzlich willkommen. Für eine Einreise nach Schleswig-Holstein gelten aufgrund der Corona-Pandemie verbindliche Einschränkungen, wenn Sie aus Gebieten mit einer hohen Ausbreitung des Coronavirus kommen. Wichtig ist, dass Sie noch vor Ihrer Einreise überprüfen, ob Sie zum Zeitpunkt der Einreise aus einem aktuell ausgewiesenen ausländischen Risikogebiet oder einem inländischen Hochinzidenzgebiet kommen!“
10
Weiter heißt es dann auf der Seite zur Einreise aus inländischen Hochinzidenzgebieten:
11
„Einreise aus inländischen HochinzidenzgebietenSeit Freitag, 9. Oktober 2020 gilt für Einreisende aus inländischen Hochinzidenzgebieten nach Schleswig-Holstein ein touristisches Beherbergungsverbot. Das bedeutet: Einreisende aus vom Land Schleswig-Holstein ausgewiesenen inländischen Hochinzidenzgebieten, die zu touristischen Zwecken in einer gewerblichen Unterkunft in Schleswig-Holstein unterkommen möchten, müssen beim Check-In über einen negativen Corona-Test verfügen, der nicht älter als 48 Stunden sein darf. Zwischen dem Ausstellen des Testergebnisses und der Einreise dürfen demnach nicht mehr als 48 Stunden verstrichen sein. Einreisende aus inländischen Hochinzidenzgebieten können sich grundsätzlich nicht kostenlos auf das Coronavirus testen lassen außer für den Fall, dass das Gesundheitsamt einen Test anordnet oder die Testung auf ärztliche Anweisung durchgeführt wird.
12
Ausnahmen: Beherbergungen aufgrund von Familienbesuchen und Pendelverkehren zu beruflichen Zwecken sind von dieser Regelung ausgenommen und können ohne vorherige Testung erfolgen, da sie keinem touristischen Zweck dienen.Maßgeblich für die Einstufung eines Kreises oder einer kreisfreien Stadt als Hochinzidenzgebiet durch das Land Schleswig-Holstein ist im Regelfall, ob in den jeweiligen Kreisen oder kreisfreien Städten mehr als 50 Personen pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten 7 Tagen positiv auf das Coronavirus getestet worden sind. Dafür werden in der Regel die aktuell veröffentlichten Werte des Robert-Koch-Instituts zu Grunde gelegt.In der untenstehenden Liste finden Sie die Gebiete, die eine Sieben-Tage-Inzidenz von über 50 pro 100.000 Einwohnern aufweisen und die vom Land Schleswig-Holstein als inländische Hochinzidenzgebiete ausgewiesen werden. Sollten Sie aus einer dieser Regionen kommen und ab Freitag, 9. Oktober, zu touristischen Zwecken ein gewerbliches Beherbergungsangebot in Schleswig-Holstein in Anspruch nehmen, müssen Sie beim Check-In über einen negativen Test verfügen.- Inländische Hochinzidenzgebiete sind:*- Berlin“
13
Es folgen dann die weiteren Gebiete.
14
Gegen ein Handeln des Antragsgegners in Form eines Verwaltungsakts spricht weiter, dass die Hinweise zwar eine Sieben-Tage-Inzidenz von über 50 pro 100.000 Einwohnern erwähnen, jedoch keine Begründung für die nach § 17 Abs. 2 der Corona-Bekämpfungsverordnung bei Vorliegen einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 50 pro 100.000 Einwohnern mögliche, jedoch nicht zwingend in jedem Einzelfall vorgeschriebenen Ausweisung eines inländischen Hochinzidenzgebietes enthalten, wie dies bei einem Handeln in der gewollten Form eines Verwaltungsakts zu erwarten wäre.
15
Die Bestimmung des § 17 Abs. 2 der Corona-Bekämpfungsverordnung regelt auch nicht, dass die Ausweisung als inländisches Hochinzidenzgebiet in der Handlungsform des Verwaltungsakts erfolgen soll. Gegen einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung spricht weiter, dass die Hinweise nicht die bei Verwaltungsakten übliche Rechtsbehelfsbelehrung enthalten.
16
Unter Berücksichtigung der dargestellten Anhaltspunkte spricht auch der Umstand, dass sich die Wirkung der Ausweisung der Hochinzidenzgebiete auf den gesamten Geltungsbereich der Verordnung erstreckt (vgl. insoweit zur Abgrenzung der Allgemeinverfügung von einer Rechtsnorm VGH Mannheim, Urteil vom 11. Juli 1997 – 8 S 2683 – NJW 1998, 21230) dafür, dass die Ausweisung der Gebiete nach dem erkennbaren Willen des Antragsgegners die Verordnung mit ihrer abstrakt-generellen Wirkung insoweit tagesaktuell ergänzen und zur Anwendung bringen soll, nicht aber nur einen abgrenzbaren konkreten Bereich hat regeln worden. Dies bedeutet nicht, dass insoweit ein Handeln durch Allgemeinverfügung in solchen Fällen schon grundsätzlich unzulässig wäre, jedoch ist ein solches Handeln durch Allgemeinverfügung vorliegend nach der erfolgten Auslegung des Handels des Antragsgegners nicht gegeben.
17
Daraus folgt nicht, dass die Antragstellerinnen keinen (vorläufigen) Rechtsschutz gegen die Ausweisung eines Hochinzidenzgebietes und die in § 17 Abs. 2 der Corona-Bekämpfungsverordnung geregelten Rechtsfolgen erreichen können. Ihnen steht die Möglichkeit zur Verfügung, Rechtsschutz über eine Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 VwGO und vorläufigen Rechtsschutzes über einen Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO bei dem Oberverwaltungsgericht zu erlangen (§ 47 Absatz 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 67 Landesjustizgesetz). Die Rechtsprechung hat etwa bei einem Verweis einer infektionsschutzrechtlichen Landesverordnung auf die jeweils aktuellen Veröffentlichungen von Risikogebieten durch das Robert-Koch-Institut eine Überprüfung der Festlegung von Risikogebieten durch das Robert-Koch-Institut bzw. das Bundesministerium im Rahmen eines Antrages gegen die Landesverordnung selbst vorgenommen (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. August 2020 – 13 B 1232/20 – juris Rn. 50 ff.). Im Übrigen ist die dynamische Verweisung in einer Rechtsverordnung auf die Veröffentlichung anderer Behörden für zulässig gehalten worden, sofern sie sich in dem durch die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Bundesstaatlichkeit gesetzten Rahmen bewegen. Dies soll auch für die dynamische Bezugnahme auf die nach fachlichen Kriterien erfolgende Einstufung und Ausweisung von Risikogebieten gelten (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Juli 2020 – 13 B 968/20.NE –, Rn. 96, juris).
18
Selbst wenn man vorliegend – was zweifelhaft ist – eine isolierte Anfechtung der Festsetzung von Hochinzidenzgebieten durch den Antragsgegner für zulässig halten sollte, wäre insoweit auch der Weg über die Normenkontrolle zu beschreiten. Eine Begrenzung der Überprüfung von Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung wird von der neueren Rechtsprechung zu § 47 Absatz 1 Nr. 2 VwGO nicht anerkannt, die auch solche abstrakt-generellen Normen, die die formellen Kriterien eines Gesetzes, einer Verordnung oder einer Satzung nicht erfüllen, als „Rechtsvorschriften“ ansieht, soweit ihnen Außenwirkung zukommt (BVerwG, Urteil vom 20. November 2003 – 4 CN 6.03 – BVerwGE 119, 217, 220 ff.; Urteil vom 20. November 2004 – 5 CN 1.03 – BVerwGE 122, 264, 265 ff.; vgl. auch die Regelung in § 64 LVwG für allgemeinverbindliche rechtswirksame Festsetzungen, Bekanntmachungen oder sonstige Anordnungen).
19
Soweit ein Antrag nach § 47 VwGO an das Oberverwaltungsgericht statthaft ist, wäre ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 VwGO durch einen entsprechenden Feststellungsantrag bei dem Verwaltungsgericht unzulässig (Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 30. April 2020 – 1 B 70/20 –, Rn. 5, juris).
20
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 iVm § 52 Abs. 2 GKG festgesetzt.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragsteller, die aus dem Kreis Recklinghausen stammen und von dort anreisen werden, beabsichtigen, die Zeit vom 16. bis 25. Oktober 2020 auf Sylt in einem gebuchten Familienappartement zu verbringen, der Antragsteller zu 1. zunächst zu beruflichen, die übrigen Familienmitglieder (Antragstellerinnen zu 2., 3. und 5. sowie der Antragsteller zu 4) ausschließlich zu touristischen Zwecken.
2
Sie beantragen,
3
durch Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO das sogenannte Beherbergungsverbot des § 17 Abs. 2 Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-Cov-2 SH bis zur Entscheidung über ihren angekündigten Normenkontrolleilantrag außer Vollzug zu setzen.
4
Der zulässige Eilantrag (1.) hat in der Sache keinen Erfolg (2.).
5
1. Der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 VwGO ist zulässig.
6
Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht dies bestimmt. Eine entsprechende Bestimmung ist in § 67 Landesjustizgesetz enthalten. Die Antragsteller wenden sich gegen § 17 Abs. 2 der Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS Cov-2 (Corona-Bekämpfungsverordnung – CoronaBekämpfVO) vom 1. Oktober 2020 in der Fassung vom 8. Oktober 2020, mithin gegen eine untergesetzliche Norm.
7
Die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO setzt nicht voraus, dass das Normenkontrollverfahren in der Hauptsache bereits anhängig ist (vgl. Ziekow in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 386 m.w.N.).
8
Die Antragsteller sind auch antragsbefugt, denn sie können jedenfalls geltend machen, zumindest in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in absehbarer Zeit verletzt zu werden (vgl. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO), wenn sie ihre Reise nach Sylt nicht wie beabsichtigt antreten können, weil sie nicht über ein negatives Testergebnis in Bezug auf eine Infektion mit dem Coronavirus verfügen, das nicht mehr als 48 Stunden vor Ankunft festgestellt worden ist.
9
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet, weil die Voraussetzungen gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, im Ergebnis nicht vorliegen.
10
Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; OVG Schleswig, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 MR 4/20 -, juris). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn – wie hier – die in der Hauptsache angegriffene Norm in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthält oder begründet, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
11
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange der Antragstellerin, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für die Antragstellerin günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.
12
Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; vgl. auch BayVGH, Beschl. v. 30.03.2020 – 20 NE 20.632 –, juris Rn. 31ff.).
13
Die Erfolgsaussichten eines noch einzureichenden Normenkontrollantrags sind offen. Ein solcher Antrag wäre weder offensichtlich unzulässig noch unbegründet. Die von den Antragstellern aufgeworfenen Fragen – insbesondere zur Verhältnismäßigkeit der Anknüpfung des Beherbergungsverbots an die sieben-Tage-Inzidenz von SARS-CoV-2-Neuinfektionen bezogen auf 100.000 Einwohner und Kreis bzw. kreisfreie Stadt – lassen sich angesichts der äußerst knappen Fristsetzung nicht im Eilverfahren abschließend beantworten. Die Antragsteller haben den Antrag am 13. Oktober 2020, nachmittags, anhängig gemacht und begehren eine Entscheidung noch am heutigen Tage.
14
Aufgrund der offenen Erfolgsaussichten ist eine Folgenabwägung anzustellen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.06.2020 - 1 BvQ 69/20 -, juris Rn. 11).
15
Durch den weiteren Vollzug der angegriffenen Verordnung kommt es zwar zu einem Eingriff jedenfalls in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit. Dabei hätten es die Antragsteller jedoch in der Hand, durch den Nachweis einer entsprechenden negativen Testung auf eigene Kosten den geplanten Aufenthalt auf Sylt zeitnah zu realisieren. Die vorherige Testung ist ihnen finanziell wie auch im Übrigen zumutbar. Dies gilt umso mehr, als eine Infektion oft unbemerkt auftritt und die Ansteckungsgefahr bereits vor dem Auftreten erster Symptome gegeben ist. Würde der Vollzug der Verordnung jedoch ausgesetzt, könnten ebenso wie die Antragsteller Personen aus inländischen Risikogebieten zu touristischen Zwecken unkontrolliert nach Schleswig-Holstein kommen. Sofern bei solchen Personen Infektionen mit dem Coronavirus vorlägen, ginge hiervon das Risiko von dessen möglicherweise unentdeckter und schwer kontrollierbarer Weiterverbreitung einher, womit entsprechende gesundheitliche Gefahren für die Gesamtbevölkerung verbunden wären. Nach dem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (Stand: 15.10.2020) ist gegenüber dem Vortag aktuell ein weiterer Anstieg an neu Infizierten um 6.638 zu verzeichnen. Dies bedeutet bereits jetzt ein exponentielles Wachstum der Infektionszahlen, woraus relativ umgehend Gefährdungen für das öffentliche Gesundheitswesen folgen. Der Verordnungsgeber ist angesichts des bundesweit zunehmend rasanten Anstiegs der Infektionen nicht gehalten, zuzuwarten, bis sich in Schleswig-Holstein die Situation in ähnlicher Weise entwickelt.
16
Aufgrund der Erfahrungen aus dem vergangenen Frühjahr, was ein „Lockdown“ für jeden einzelnen und insbesondere auch für die Wirtschaft – hier sind in erster Linie die Beherbergungsbetriebe zu nennen – bedeutet, überwiegen bei Gesamtsicht die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz vor einer Weiterverbreitung des Coronavirus gegenüber den Interessen der Antragsteller an einer touristischen Reise nach Sylt, ohne ein negatives Testergebnis vorlegen zu können. Dies gilt auch im Hinblick auf die Interessen der Beherbergungsbetriebe, Menschen zu touristischen Zwecken ohne Negativattest zu beherbergen. Nach vorläufiger Einschätzung ist das Erfordernis eines solchen Attestes ein hinzunehmender Eingriff in die Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG.
17
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
18
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde des Klägers gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt T. im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO liegen nicht vor.
31. Der Kläger hat bereits nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 114 Abs. 1 Satz 1, 115 ZPO). Die vom Kläger beim Verwaltungsgericht eingereichte, gemäß § 117 Abs. 2 und Abs. 4 ZPO erforderliche Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 16. Januar 2020 nebst Anlage ist, wie der Kläger selbst angibt (vgl. Schriftsatz vom 2. Juni 2020, Seite 1) veraltet, gibt also nicht die aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse wieder. Die Angabe im Schriftsatz vom 2. Juni 2020, der Kläger beziehe inzwischen „ALG Leistungen“ ist nicht belegt; einen entsprechenden Nachweis über den Bezug von Arbeitslosengeld hat der Kläger bislang nicht vorgelegt.
42. Unabhängig davon bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung aber auch keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Klage ist voraussichtlich unbegründet. Bei der im Prozesskostenhilfeverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass der Bescheid vom 11. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. November 2019, mit dem der Beklagte den Kläger zu Gebühren für einen Einsatz des Rettungsdienstes am 11. Juni 2019 in Höhe von insgesamt 609,44 Euro (550,62 Euro Einsatzpauschale Rettungswagen und 58,82 Euro Leitstellengebühr Rettungswagen) herangezogen hat, rechtmäßig ist.
5Rechtsgrundlage dieses Bescheides ist § 6 KAG NRW i. V. m. der Satzung des Beklagten über die Erhebung von Gebühren für Leistungen des Rettungsdienstes vom 18. April 2018 (GebS).
6Nach § 2 Abs. 1 GebS werden für die Einsätze des Rettungsdienstes des Beklagten Gebühren nach Maßgabe der Gebührensatzung erhoben. Gebührenpflichtig ist nach § 3 Abs. 2 GebS (u. a.), wer die Leistungen des Rettungsdienstes in Anspruch nimmt. Gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. a GebS beträgt die Gebühr für den Einsatz eines Rettungswagens (RTW) 550,62 Euro. Im Falle der missbräuchlichen Inanspruchnahme des Rettungsdienstes ist von der Person, die den Einsatz veranlasst hat, die Gebühr, die für die im missbräuchlichen Einsatz eingesetzten Rettungsmittel nach § 5 der Gebührensatzung anfällt, zuzüglich der entsprechenden Leitstellengebühr nach § 6 der Gebührensatzung zu zahlen, vgl. § 4 Abs. 8 GebS. Gemäß § 6 Abs. 2 Buchst. a GebS beträgt die Gebühr für die Tätigkeit der Leitstelle im Fall des Einsatzes eines RTW 58,82 Euro.
7Danach erfüllt der Kläger, der am 11. Juni 2019 Leistungen des Rettungsdienstes in Anspruch genommen hat (Transport von der B. in C. , zum N. F. ), den Gebührentatbestand und ist gebührenpflichtig. Die Einwände des Klägers gegen die ihm gegenüber erfolgte Gebührenfestsetzung stellen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Gebührenbescheids nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand nicht durchgreifend in Frage.
8a) Das gilt zunächst hinsichtlich der festgesetzten Gebühr für den Einsatz des RTW in Höhe von 550,62 Euro. Insoweit ist der Gebührentatbestand zweifellos erfüllt, weil der Kläger den Rettungsdienst am 11. Juni 2019 in Anspruch genommen hat. Ob die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes (medizinisch) notwendig war, ist entgegen der Auffassung des Klägers dagegen unerheblich für die Erfüllung des Gebührentatbestands. Gebührenschuldner ist gemäß § 3 Abs. 2 GebS derjenige, der die Leistungen des Rettungsdienstes in Anspruch nimmt. Die Frage, ob der Einsatz des Rettungsdienstes aus medizinischen Gründen notwendig war, kann allenfalls für die Frage eine Rolle spielen, ob die Kosten durch die Krankenversicherung übernommen werden. Gebührenschuldner ist aber in jedem Fall der Kläger, nicht seine (gesetzliche) Krankenversicherung. Die gesetzliche Krankenkasse ist lediglich im Innenverhältnis zum Versicherten nach § 60 SGB V zur Übernahme der Kosten des Rettungsdienstes verpflichtet. Es bleibt dem Kläger unbenommen, sich insoweit an seine Krankenkasse zu wenden. Die diesbezüglichen Nachfragen des Verwaltungsgerichts, ob seitens des Klägers eine Abrechnung mit der AOK erfolgt sei, hat der Kläger bislang nicht beantwortet.
9Der weitere Einwand des Klägers, nicht er, sondern seine Freunde hätten den RTW gerufen, greift ebenfalls nicht durch, weil neben demjenigen, der die Leistungen des Rettungsdienstes angefordert hat, auch derjenige Gebührenschuldner ist, der die Leistungen des Rettungsdienstes ‑ wie hier der Kläger ‑ in Anspruch nimmt (§ 3 Abs. 2 GebS).
10Soweit der Kläger meint, der Beklagte gehe zu Unrecht davon aus, dass ihm hinsichtlich der Gebührenerhebung für Einsätze des Rettungsdienstes kein Ermessensspielraum zur Verfügung stehe (vgl. Widerspruchsbescheid, S. 2), vielmehr könne der Beklagte nach § 3 Abs. 3 GebS in bestimmten Fällen die Forderungen von der Krankenkasse einziehen, führt dies ebenfalls nicht auf eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Gebührenbescheids. Die genannte Formulierung des Beklagten bezieht sich ersichtlich, weil ausdrücklich auf § 2 Abs. 1 GebS bezogen, auf das Entschließungsermessen, das heißt, auf die Frage, ob für den Einsatz des Rettungsdienstes überhaupt Gebühren erhoben werden. Hinsichtlich des „Ob“ der Gebührenerhebung steht dem Beklagten nach § 2 Abs. 1 GebS in der Tat kein Ermessen zu. Die Regelung in § 3 Abs. 3 GebS, wonach der Beklagte die Forderungen von der Krankenkasse oder dem Kostenträger einziehen kann, wenn die Mitgliedschaft desjenigen, der die Leistungen des Rettungsdienstes in Anspruch genommen hat, in einer Krankenkasse oder bei einem sonstigen Kostenträger feststeht, betrifft nicht das Entschließungsermessen des Beklagten. Im Übrigen hat der Beklagte diese Vorschrift berücksichtigt und eine Abrechnung mit der Krankenkasse des Klägers erwogen. Er hat insoweit aber ausgeführt, dass im vorliegenden Fall die direkte Abrechnung mit der Krankenkasse des Klägers nicht habe vorgenommen werden können, weil die aufnehmende Ärztin im N. F. die medizinische Notwendigkeit des RTW-Einsatzes nicht gesehen und folglich ihre Unterschrift verweigert habe. Daher fehle zur direkten Abwicklung mit der Krankenkasse die erforderliche Abrechnungsgrundlage (vgl. Widerspruchsbescheid, S. 2).
11Die vom Kläger gegen die Wirksamkeit der Gebührensatzung des Beklagten vorgebrachten Bedenken führen voraussichtlich ebenfalls nicht zum Erfolg der Klage. Das Vorbringen, dass „der Ermächtigungsgrundlage der die Abgabe begründende Tatbestand“ fehle, trifft bereits nicht zu. Welche Tatbestände gebührenpflichtig sind, regelt § 2 GebS. Danach ist insbesondere der Einsatz des Rettungsdienstes gebührenpflichtig, vgl. § 2 Abs. 1 GebS. Der behauptete und nicht näher begründete Verstoß „der Satzung“ gegen § 14 RettG NRW, insbesondere des § 2 Abs. 2 GebS gegen § 14 Abs. 5 Satz 3 RettG NRW, erschließt sich nicht. Insbesondere ist nicht zu erkennen, dass die in § 2 Abs. 2 GebS genannten Gebührentatbestände unzulässigerweise, namentlich im Widerspruch zu § 14 Abs. 5 Satz 3 RettG NRW, eine Gebührenpflicht auslösen. Die weitere pauschale Rüge, die „Gebührensätze“ seien unverhältnismäßig hoch und verstießen mangels Berücksichtigung des Zeitaufwandes gegen den Grundsatz der Leistungsproportionalität, ist, wie bereits das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, nicht substantiiert. Weiterer Vortrag ist insoweit bislang, auch im Beschwerdeverfahren, nicht erfolgt.
12b) Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand dürfte sich auch die festgesetzte Gebühr für die Tätigkeit der Leitstelle in Höhe von 58,82 Euro als rechtmäßig erweisen. Zwar enthält der angefochtene Gebührenbescheid ebenso wie der Widerspruchsbescheid hierzu keine ausdrückliche Begründung und hat sich der Beklagte auch im Klageverfahren - wohl mangels entsprechender Rüge des Klägers - bislang noch nicht dazu geäußert, warum neben der Einsatzpauschale für den RTW (§ 5 Abs. 1 Buchst. a GebS) auch eine Leitstellengebühr (§ 6 Abs. 2 Buchst. a GebS) festgesetzt worden ist. Gleichwohl spricht nach Aktenlage Überwiegendes dafür, dass die Voraussetzungen des § 4 Abs. 8 GebS vorliegen. Aufgrund des im Aktenvermerk des Beklagten vom 25. November 2019 (vgl. Bl. 11 des Verwaltungsvorgangs) geschilderten Geschehensablaufs am Tag des Einsatzes des Rettungsdienstes dürfte von einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Rettungsdienstes auszugehen sein.
13Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
14Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Tenor
§ 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Verordnung über Beherbergungsverbote zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Beherbergungs-Verordnung) vom 9. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 357) werden vorläufig außer Vollzug gesetzt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert des Verfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung einer infektionsschutzrechtlichen Verordnung, die ihm die Beherbergung von Personen aus Corona-Risikogebieten zu touristischen Zwecken untersagt.
2
Der Antragsteller betreibt einen Ferienpark in A-Stadt. Dort bietet er Ferienhäuser, Wanderurlaub und Mountain-Bike-Touren an.
3
Am 9. Oktober erließ das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, handelnd durch die Ministerin, die Niedersächsische Verordnung über Beherbergungsverbote zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Beherbergungs-Verordnung) mit folgendem Inhalt:
4
§ 1
Beherbergungsverbot
(1) 1In Hotels, Pensionen, Jugendherbergen und ähnlichen Beherbergungsbetrieben sind Übernachtungen zu touristischen Zwecken untersagt für Personen aus einem vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung festgelegten und veröffentlichten Gebiet oder einer Einrichtung, in dem oder in der die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt, die nicht über ein ärztliches Zeugnis in Papierform oder digitaler Form verfügen, das bestätigt, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 vorhanden sind. 2Ein aus einem fachärztlichen Labor stammender Befund ist ein ärztliches Zeugnis. 3Das ärztliche Zeugnis muss sich auf eine molekularbiologische Testung stützen, die höchstens 48 Stunden vor der Anreise vorgenommen worden ist. 4Maßgeblich für den Beginn der 48-Stunden-Frist ist der Zeitpunkt der Feststellung des Testergebnisses. 5Das Unterbringungsverbot nach Satz 1 gilt nicht für Gäste,
1. die zwingend notwendig und unaufschiebbar beruflich oder medizinisch veranlasst anreisen,
2. die einen sonstigen triftigen Reisegrund haben, insbesondere einen Besuch einer oder eines Familienangehörigen, einer Lebenspartnerin, eines Lebenspartners oder einer Partnerin oder eines Partners einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die Wahrnehmung eines Sorge- oder Umgangsrechts oder den Beistand oder die Pflege schutzbedürftiger Personen, oder
3. für die das für den Beherbergungsbetrieb zuständige Gesundheitsamt in begründeten Einzelfällen auf Antrag eine Ausnahme zugelassen hat.
(2) 1Für Übernachtungen in Ferienwohnungen, Ferienhäusern und auf Campingplätzen zu touristischen Zwecken gilt Absatz 1 entsprechend. 2Die Untersagung nach Satz 1 gilt nicht für die Nutzung von dauerhaft angemieteten oder im Eigentum befindlichen Immobilien und von dauerhaft abgestellten Wohnwagen, Wohnmobilen und ähnlichen Einrichtungen ausschließlich durch die Nutzungsberechtigten.
(3) 1Die Untersagung nach Absatz 1, auch in Verbindung mit Absatz 2, gilt nur für Personen, die nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung nach Absatz 1 Satz 1 nach Niedersachsen eingereist sind. 2Liegt das nach Absatz 1 Satz 1 veröffentlichte Gebiet oder die nach Absatz 1 Satz 1 veröffentlichte Einrichtung in Niedersachsen, so tritt an die Stelle des Zeitpunkts der Einreise der Zeitpunkt des Beginns der Beherbergung.
§ 2
Ordnungswidrigkeiten
(1) Verstöße gegen § 1 stellen Ordnungswidrigkeiten nach § 73 Abs. 1 a Nr. 24 des Infektionsschutzgesetzes dar und werden mit Geldbuße bis zu 25 000 Euro geahndet.
(2) Die nach dem Infektionsschutzgesetz zuständigen Behörden und die Polizei sind gehalten, die Bestimmungen dieser Verordnung durchzusetzen und Verstöße zu ahnden.
§ 3
Inkrafttreten
Diese Verordnung tritt am Tag nach ihrer Verkündung in Kraft.
5
Die Verordnung wurde im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 9. Oktober 2020, S. 357, verkündet.
6
Am 13. Oktober 2020 hat der Antragsteller bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht einen Normenkontrolleilantrag gestellt. Er hält das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot für rechtswidrig. Das Verbot verletze seine Berufs- und Eigentumsfreiheit und auch die grundgesetzlich gewährte Freizügigkeit.
7
Die angefochtenen Regelungen seien schon nicht hinreichend bestimmt. Das Verbot werde nach § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung durch eine Veröffentlichung von Risikogebieten durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung ausgelöst. Es bleibe aber unklar, in welcher Form und wo diese Veröffentlichung erfolgen solle. Dies sei aber unabdingbar, um rechtssicher Kenntnis von dem Verbot erlangen zu können. Darüber hinaus könne § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung nicht entnommen werden, ob es nur auf die Veröffentlichung des Ministeriums ankomme oder ob daneben auch tatsächlich in dem veröffentlichten Gebiet oder der veröffentlichten Einrichtung die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen betragen haben müsse.
8
Das Verbot sei auch zur Zielerreichung ungeeignet und nicht notwendig. § 1 Abs. 1 Sätze 1 bis 4 der Verordnung sähen eine Ausnahme von dem Verbot vor, wenn der Reisende ein auf eine höchstens 48 Stunden vor der Anreise vorgenommene molekularbiologische Testung gestütztes ärztliches Zeugnis vorlege, das bestätige, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 vorhanden seien. Eine solche Testung stelle schon als solche nur eine Momentaufnahme dar. Sie könne zudem Infektionen, die kurz vor oder während der Reise eingetreten seien, gar nicht erfassen. Es sei daher unklar, was der Verordnungsgeber mit dem einmaligen Test vor Reiseantritt erreichen wolle. Das Testerfordernis erhöhe lediglich die Unsicherheit der Reisewilligen, bei denen der Staat noch kurz zuvor darum geworben habe, Urlaub im Inland zu machen. Die in § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung vorgenommene Anknüpfung an schlichte Infiziertenzahlen sei ungeeignet, da sie keine verlässliche Auskunft über die Gefährdungslage gebe. Es müsse vielmehr auch die Anzahl der Testungen und die Zuordenbarkeit des Infektionsgeschehens zu lokalen Ereignissen, etwa vermehrten Infektionen in einzelnen Einrichtungen, berücksichtigt werden. Schließlich gebe es keine tatsächlichen Erkenntnisse dazu, dass touristische Reisen im Inland überhaupt signifikante Infektionsgefahren mit sich brächten. Nach einer nun bereits mehrere Monate andauernden Pandemie könne sich der Antragsgegner nicht mehr auf eine Einschätzungsprärogative berufen, sondern dürfe Maßnahmen nur noch auf tatsächliche Erkenntnisse stützen.
9
Der Antragsteller beantragt,
10
§ 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Verordnung über Beherbergungsverbote zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Beherbergungs-Verordnung) vom 9. Oktober 2020 vorläufig außer Vollzug zu setzen.
11
Der Antragsgegner beantragt,
12
den Antrag abzulehnen.
13
Er verteidigt die angefochtenen Verordnungsregelungen. Das Verbot sei hinreichend bestimmt. Die Veröffentlichung der Risikogebiete könne von jedem Normadressaten ohne Weiteres im Internetauftritt des Landes aufgefunden werden. Auf diesen Veröffentlichungsort sei in Pressemitteilungen ausdrücklich hingewiesen worden.
14
Das Beherbergungsverbot sei auch verhältnismäßig. Es ziele auf einen präventiven Infektionsschutz und solle eine Verteilung der Viruslast durch zu touristischen Zwecken umherreisende Personen verhindern und die Bildung neuer Infektionsherde und -ketten vermeiden. Zur Erreichung dieser Zwecke sei das Verbot förderlich. Reisebeschränkungen seien als eine wirkungsvolle Maßnahme zur Eindämmung des Infektionsgeschehens anerkannt. Mildere Maßnahmen stünden nicht zur Verfügung. Bei einem besonders betroffenen Landkreis mit hohen Infektionszahlen sei gerade aufgrund der teilweise symptomlosen und atypischen Krankheitsverläufe die Dunkelziffer hoch. Das hohe Risiko eines unwissentlichen und unentdeckten Verbreitens könne durch das Verbot reduziert werden. Entgegen der Annahme des Antragstellers seien auch hinreichende Testkapazitäten vorhanden, zumal nicht alle Reisewilligen von der Testmöglichkeit Gebrauch machen, sondern auf die Reise verzichten würden. Dies sei Ziel des Verbots. Das Verbot sei Teil eines Maßnahmenpaktes zur Verhinderung eines weiteren Lockdown. Bei der Festlegung von Risikogebieten unterscheide er. Für Gebiete außerhalb Niedersachsens würden die vom Robert Koch-Institut veröffentlichten Infiziertenzahlen herangezogen. Für niedersächsische Gebiete werte er die Daten des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes aus, um feststellen zu können, ob ein gesamter Landkreis oder nur ein Gebiet davon oder gar eine einzelne Einrichtung zum Risikogebiet erklärt werden müsse. Dabei berücksichtige er auch die Inzidenz-Dauer, das Alter der Infizierten, die Hospitalisierung, externe Effekte und Krankenhauskapazitäten. Die mangelnde Abbildung dieses Vorgangs in der Verordnung sei unerheblich. Infektionsraten während Reisen könnten sich auf die Ortsveränderung oder den Aufenthalt am Zielort beziehen. Derart konkrete Zahlen lägen nicht vor. Statistisch sei aber festzustellen, wie viele Personen sich in ihrem "Heimatlandkreis" oder an einem davon abweichenden Expositionsort infiziert hätten. In der 33. Meldewoche hätten sich etwa 77,1% im eigenen Landkreis, 18,5% im Ausland, 2,3% in einem anderen Bundesland und 2,1% in einem niedersächsischen Ort außerhalb der Meldekommune infiziert. Bei touristischen Reisen müsse zudem das veränderte Verhalten am Urlaubsort berücksichtigt werden, das verstärkte Aktivitäten und Kontakte mit anderen Personen bedinge. Die Verordnung werde täglich überprüft.
15
Das Verbot sei auch angemessen. Die Verbotswirkung sei durch die Ausnahmen und insbesondere die Möglichkeit der Befreiung durch einen negativen Corona-Test begrenzt. Die Differenzierung zwischen Reisen aus Gebieten innerhalb und außerhalb Niedersachsens sei sachlich geboten. Reisende aus anderen Bundesländern hätten regelmäßig längere Reisewege und wären daher durch ein erst im Beherbergungsbetrieb festgestelltes Verbot deutlich stärker betroffen. Die vorzunehmende Abwägung zwischen dem gebotenen Schutz von Leben und Gesundheit gehe zu Lasten wirtschaftlicher Beeinträchtigungen der Betreiber von Beherbergungsbetrieben aus.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
II.
17
Der zulässige (1.) Antrag ist begründet (2.) und führt zur vorläufigen Außervollzugsetzung der § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung mit allgemeinverbindlicher Wirkung (3.).
18
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
19
1. Der Antrag ist zulässig.
20
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Verordnung über Beherbergungsverbote zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Beherbergungs-Verordnung) vom 9. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 357) ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.).
21
Der Antragsteller ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da er geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung bestimmte grundsätzliche Verbot der Beherbergung zu touristischen Zwecken von Personen aus vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung veröffentlichten Risikogebieten oder -einrichtungen ist auch an den Antragsteller als Betreiber eines Ferienparks, der unter anderem Ferienhäuser für Übernachtungen zu touristischen Zwecken vermietet, adressiert und lässt es möglich erscheinen, dass er in seinem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist (vgl. zu dieser Qualifizierung des Eingriffs: Senatsbeschl. v. 16.4.2020 - 13 MN 77/20 -, juris Rn. 29). Eine darüberhinausgehende Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsposition dürfte hingegen nicht vorliegen. Denn dieser Schutz erfasst nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern; die hier durch die verordnete Beschränkung betroffenen bloßen Umsatz- und Gewinnchancen werden hingegen auch unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht von der Eigentumsgarantie erfasst (vgl. BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 -, BVerfGE 143, 246, 331 f. - juris Rn. 240; Beschl. v. 26.6.2002 - 1 BvR 558/91 -, BVerfGE 105, 252, 278 - juris Rn. 79 m.w.N.).
22
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
23
2. Der Antrag ist auch begründet.
24
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
25
Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung der § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung Erfolg. Ein in der Hauptsache noch zu stellender Normenkontrollantrag des Antragstellers wäre voraussichtlich begründet (a.). Zudem überwiegen die gewichtigen Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und der Allgemeinheit die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe (b.).
26
a. Ein vom Antragsteller in der Hauptsache noch zulässigerweise zu stellender Normenkontrollantrag hat voraussichtlich Erfolg. Nach der derzeit nur gebotenen summarischen Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung rechtswidrig sind und wegen der damit einhergehenden Verletzung des Antragstellers in seinem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO für unwirksam zu erklären sein werden.
27
(1) Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), in der hier maßgeblichen zuletzt durch das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise (Corona-Steuerhilfegesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geänderten Fassung. Eine Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, ist jedenfalls nicht offensichtlich (vgl. hierzu im Einzelnen: OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4. 2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020- 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.).
28
(2) Anhaltspunkte für eine formelle Rechtswidrigkeit der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung bestehen derzeit nicht.
29
Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) vom 9. Dezember 2011 (Nds. GVBl. S. 487), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. August 2020 (Nds. GVBl. S. 266), betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Verordnung zuständig.
30
Gemäß Art. 45 Abs. 1 Satz 2 NV ist die Verordnung von der das Ministerium vertretenden Ministerin ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 9. Oktober 2020, S. 357, verkündet worden.
31
§ 3 der Verordnung bestimmt, wie von Art. 45 Abs. 3 Satz 1 NV gefordert, den Tag des Inkrafttretens.
32
Auch dem Zitiergebot des Art. 43 Abs. 2 Satz 1 NV (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 - 2 BvF 3/90 -, BVerfGE 101, 1 - juris Rn. 152 ff. (zu Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG); Steinbach, in: Epping/Butzer u.a., Hannoverscher Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, 2012, Art. 43 Rn. 20 m.w.N.) dürfte die Verordnung genügen.
33
(3) Die in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung getroffenen Regelungen sind aber voraussichtlich materiell rechtswidrig.
34
(a) Die Verordnungsregelungen sind bereits nicht hinreichend bestimmt (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Beschl. v. 13.7.2018 - 1 BvR 1474/12 -, BVerfGE 149, 160, 203 - juris Rn. 120; Senatsbeschl. v. 29.4.2020 - 13 MN 120/20 -, juris Rn. 18 m.w.N.).
35
Der Senat teilt zwar nicht die Auffassung des Antragstellers, dass § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung nicht hinreichend klar zu entnehmen ist, ob es nur auf die Veröffentlichung des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung ankommt oder ob daneben auch tatsächlich in dem veröffentlichten Gebiet oder der veröffentlichten Einrichtung die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen betragen haben muss. Denn § 1 Abs. 1 Satz 1 (auch in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Satz 1) der Verordnung ordnet ein Beherbergungsverbot "für Personen aus einem vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung festgelegten und veröffentlichten Gebiet oder einer Einrichtung" an. Verbotsauslösend ist danach letztlich die Veröffentlichung durch das Ministerium. Die weitergehende Vorgabe, dass es sich um ein Gebiet oder eine Einrichtung handeln muss, "in dem oder in der die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt", richtet sich ersichtlich nur an das Ministerium und formuliert ein materielles Kriterium für dessen Festlegung (und nachfolgende Veröffentlichung) von Gebieten und Einrichtungen.
36
Der Senat teilt bei summarischer Prüfung auch nicht die Auffassung des Antragstellers, dass der Bestimmtheitsgrundsatz die Vorgabe eines konkreten Mediums für die Veröffentlichung durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in der Verordnung selbst erfordert (vgl. Senatsbeschl. v. 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 13; a.A. Bayerischer VGH, Beschl. v. 28.7.2020 - 20 NE 20.1609 -, juris Rn. 42 ff.).
37
§ 1 Abs. 1 Satz 1 (auch in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Satz 1) der Verordnung bestimmt aber nicht hinreichend klar, welche "Personen" von dem Beherbergungsverbot betroffen sein sollen. Die Anordnung des Beherbergungsverbots "für Personen aus einem vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung festgelegten und veröffentlichten Gebiet oder einer Einrichtung" lässt nicht erkennen, welcher konkrete Bezug der Personen zu dem festgelegten und veröffentlichten Gebiet oder der festgelegten und veröffentlichten Einrichtung gefordert wird. Es bleibt offen, ob die Personen in dem Gebiet ihren melderechtlichen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben müssen oder ob bereits ein kurzzeitiger vorübergehender Aufenthalt in dem Gebiet oder der Einrichtung genügt und bejahendenfalls welche konkrete Dauer dieser aufweisen muss. Diese Lücke vermag der Senat auch nicht unter Anwendung herkömmlicher Auslegungsmethoden zu füllen.
38
(b) Darüber hinaus genügen § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung den sich aus § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG ergebenden materiellen Anforderungen nicht.
39
Der Senat zieht dabei nicht in Zweifel, dass auch beim derzeitigen Stand der Corona-Pandemie die Voraussetzungen für ein staatliches Einschreiten weiterhin vorliegen (aa). Es bestehen aber durchgreifende Zweifel daran, dass das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot in seiner konkreten Ausgestaltung eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG ist (bb).
40
(aa) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das "Ob" eines staatlichen Handelns gegeben.
41
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.
42
Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.
43
Es wurden zahlreiche Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider (vgl. die Begriffsbestimmungen in § 2 Nrn. 3 ff. IfSG) im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellt. Die weltweite Ausbreitung von COVID-19, die offizielle Bezeichnung der durch den neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) als Krankheitserreger ausgelösten Erkrankung, wurde am 11. März 2020 von der WHO zu einer Pandemie erklärt. Weltweit sind derzeit mehr 38.000.000 Menschen mit dem Krankheitserreger infiziert und mehr als 1.080.000 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben (vgl. WHO, Coronavirus disease (COVID-19) Pandemic, veröffentlicht unter: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019, Stand: 15.10.2020). Derzeit sind im Bundesgebiet mehr als 340.000 Menschen infiziert und mehr als 9.700 Menschen im Zusammenhang mit der Erkrankung verstorben und in Niedersachsen mehr als 24.000 Menschen infiziert und mehr als 700 Menschen infolge der Erkrankung verstorben (vgl. Robert Koch-Institut (RKI), COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html, Stand: 15.10.2020). Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle weiterhin zu. Nach einer vorübergehenden Stabilisierung der Fallzahlen auf einem erhöhten Niveau ist aktuell ein starker Anstieg der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Dynamik nimmt in fast allen Regionen zu. Es kommt bundesweit zu Ausbruchsgeschehen (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 7.10.2020).
44
COVID-19 ist eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG. Die Erkrankung manifestiert sich als Infektion der Atemwege, aber auch anderer Organsysteme mit den Symptomen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert in Symptomatik und Schwere. Es wird angenommen, dass etwa 81% der diagnostizierten Personen einen milden, etwa 14% einen schwereren und etwa 5% einen kritischen Krankheitsverlauf zeigen. Obwohl schwere Verläufe auch bei Personen ohne Vorerkrankung auftreten und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden, haben ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für einen schweren Verlauf ab etwa 50 bis 60 Jahren), Männer, Raucher (bei schwacher Evidenz), stark adipöse Menschen, Personen mit bestimmten Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck) und der Lunge (z.B. COPD) sowie Patienten mit chronischen Nieren- und Lebererkrankungen, mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), mit einer Krebserkrankung oder mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison) ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung ist sehr infektiös, und zwar nach Schätzungen beginnend etwa ein bis zwei Tage vor Symptombeginn und endend - bei mild-moderaten Erkrankungen - jedenfalls zehn Tage nach Symptombeginn. Die Übertragung erfolgt hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel (größere Tröpfchen und kleinere Aerosole), die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen. Auch eine Übertragung durch kontaminierte Oberflächen kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist zwar offen, wie viele Menschen sich insgesamt in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren werden. Schätzungen gehen aber von bis zu 70% der Bevölkerung aus, es ist lediglich unklar, über welchen Zeitraum dies geschehen wird. Grundlage dieser Schätzungen ist die so genannte Basisreproduktionszahl von COVID-19. Sie beträgt ohne die Ergreifung von Maßnahmen 3,3 bis 3,8. Dieser Wert kann so interpretiert werden, dass bei einer Basisreproduktionszahl von etwa 3 ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden müssen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf bis sechs Tage bei einer Spannweite von einem bis zu 14 Tagen. Der Anteil der Infizierten, der auch tatsächlich erkrankt (Manifestationsindex), beträgt bis zu 85%. Laut der Daten aus dem deutschen Meldesystem werden etwa 14% der in Deutschland dem RKI übermittelten Fälle hospitalisiert. Unter hospitalisierten COVID-19-Patienten mit einer schweren akuten Atemwegserkrankung mussten 37% intensivmedizinisch behandelt und 17% beatmet werden. Die mediane Hospitalisierungsdauer von COVID-19-Patienten mit einer akuten respiratorischen Erkrankung beträgt 10 Tage und von COVID-19-Patienten mit einer Intensivbehandlung 16 Tage. Zur Aufnahme auf die Intensivstation führt im Regelfall Dyspnoe mit erhöhter Atemfrequenz (> 30/min), dabei steht eine Hypoxämie im Vordergrund. Mögliche Verlaufsformen sind die Entwicklung eines akuten Lungenversagens (Acute Respiratory Distress Syndrome - ARDS) sowie, bisher eher seltener, eine bakterielle Koinfektion mit septischem Schock. Weitere beschriebene Komplikationen sind zudem Rhythmusstörungen, eine myokardiale Schädigung sowie das Auftreten eines akuten Nierenversagens (vgl. zum Krankheitsbild im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Kluge/Janssens/Welte/Weber-Carstens/Marx/Karagiannidis, Empfehlungen zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19, in: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin v. 12.3.2020, veröffentlicht unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00063-020-00674-3.pdf, Stand: 30.3.2020). Eine Impfung ist in Deutschland nicht verfügbar. Verschiedene spezifische Therapieansätze (direkt antiviral wirksam, immunmodulatorisch wirksam) wurden und werden im Verlauf der Pandemie in Studien untersucht. Zwei Arzneimittel erwiesen sich jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten mit COVID-19 als wirksam. Als direkt antiviral wirksames Arzneimittel erhielt Remdesivir am 3. Juli 2020 eine bedingte Zulassung zur Anwendung bei schwer erkrankten Patienten durch die Europäische Kommission. Als immunmodulatorisch wirksames Arzneimittel erhielt Dexamethason eine positive Bewertung durch die Europäische Kommission für die Anwendung bei bestimmten Patientengruppen mit einer Infektion durch SARS-CoV-2. Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes lassen sich keine zuverlässigen Aussagen zu Langzeitauswirkungen und (irreversiblen) Folgeschäden durch die Erkrankung bzw. ihre Behandlung (z.B. in Folge einer Langzeitbeatmung) treffen. Allerdings deuten Studiendaten darauf hin, dass an COVID-19 Erkrankte auch Wochen bzw. Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome aufweisen können.
45
Während der Fall-Verstorbenen-Anteil bei Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1% liegt, steigt er ab 50 zunehmend an und liegt bei Personen über 80 Jahren häufig über 10% (vgl. zu Vorstehendem im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html?nn=13490888, Stand: 2.10.2020; Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Coronavirus SARS-CoV-2, veröffentlicht unter: www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, Stand: 6.10.2020).
46
Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur ein kleiner Teil der Erkrankungen schwer verläuft, kann das individuelle Risiko anhand der epidemiologischen und statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen, auch nach leichten Verläufen, sind derzeit noch nicht abschätzbar. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen ab. Sie ist aktuell in weiten Teilen Deutschlands gering, kann aber örtlich sehr schnell zunehmen und dann insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark belasten. Deshalb bleiben intensive gesamtgesellschaftliche Gegenmaßnahmen nötig, um die Folgen der COVID-19-Pandemie für Deutschland zu minimieren. Diese Maßnahmen verfolgen weiterhin das Ziel, die Infektionen in Deutschland so früh wie möglich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Hierdurch soll die Zeit für die Entwicklung von antiviralen Medikamenten und von Impfstoffen gewonnen werden. Auch sollen Belastungsspitzen im Gesundheitswesen vermieden werden (vgl. hierzu im Einzelnen und mit weiteren Nachweisen: RKI, Risikobewertung zu COVID-19, veröffentlicht unter: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, Stand: 7.10.2020).
47
Die danach vorliegenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG verpflichten die zuständigen Behörden zum Handeln (gebundene Entscheidung, vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 212 - juris Rn. 23).
48
Zugleich steht damit fest, dass die Maßnahmen nicht auf die Rechtsgrundlage des § 16 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Denn die Rechtsgrundlagen einerseits des § 16 Abs. 1 IfSG im Vierten Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Verhütung übertragbarer Krankheiten" und andererseits des § 28 Abs. 1 IfSG im Fünften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes "Bekämpfung übertragbarer Krankheiten" stehen in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander; der Anwendungsbereich des § 16 Abs. 1 IfSG ist nur eröffnet, solange eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1971 - BVerwG I C 60.67 -, BVerwGE 39, 190, 192 f. - juris Rn. 28 (zu §§ 10 Abs. 1, 34 Abs. 1 BSeuchG a.F.); Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 198/08 -, juris Rn. 40).
49
(bb) Nach summarischer Prüfung erweist sich das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot in seiner konkreten Ausgestaltung aber nicht als eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG.
50
§ 28 Abs. 1 IfSG liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.). Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" ist folglich umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 37; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35). "Schutzmaßnahmen" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG können daher auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.5.2020 - 13 MN 185/20 -, juris Rn. 27), wie sie in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung gegenüber den Betreibern von Hotels, Pensionen, Jugendherbergen und ähnlichen Beherbergungsbetrieben sowie Ferienwohnungen, Ferienhäusern und Campingplätzen getroffen worden sind (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 5.5.2020 - OVG 11 S 38/20 -, juris Rn. 26).
51
Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ("insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten") nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG "ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann". Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970 - 1 BvR 657/68 -, BVerfGE 28, 282, 289 - juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.1.1967 - 1 BvR 168/64 -, BVerfGE 21, 92, 93 - juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 -, BVerfGE 10, 89, 99 - juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.
52
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020 - 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
53
Diese objektive Notwendigkeit ist bei summarischer Prüfung für das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot nicht gegeben.
54
(α) Der Senat hat bereits erhebliche Zweifel an der Eignung und Erforderlichkeit des Beherbergungsverbots zur Erreichung des legitimen Ziels der Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19.
55
Das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot bewirkt unmittelbar nur, dass Personen aus vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung festgelegten und veröffentlichten Risikogebieten in niedersächsischen Hotels, Pensionen, Jugendherbergen und ähnlichen Beherbergungsbetrieben sowie Ferienwohnungen, Ferienhäusern und Campingplätzen zu touristischen Zwecken grundsätzlich nicht mehr übernachten dürfen. Mittelbare Folge dieses Verbots soll zudem sein, dass die genannten Personen von Einreisen zu touristischen Zwecken in das Land Niedersachsen absehen. Ob und in welchem Umfang diese mittelbare Folge wirklich erreicht wird, ist angesichts nicht unwahrscheinlicher tagestouristischer Aktivitäten von Personen aus einem Risikogebiet, das in Niedersachsen selbst oder in einem der an Niedersachsen angrenzenden neun Bundesländer belegen ist, offen. Von dem Verbot des § 1 Abs. 1 Satz 1 (in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Satz 1) der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung ausgenommen sind zudem Beherbergungen durch Private (oder besser: Übernachtungen bei Privaten, vgl. Nds. Landesregierung, Reisen & Tourismus – Antworten auf häufig gestellte Fragen, veröffentlicht unter: https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/antworten_auf_haufig_gestellte_fragen_faq/reisen-und-tourismus-antworten-auf-haufig-gestellte-fragen-186671.html, Stand: 14.10.2.2020 "Wichtig: Übernachtungen im privaten Bereich, also bei Freunden und Familienangehörigen etc. fallen nicht unter das Beherbergungsverbot!"), Beherbergungen zu anderen als touristischen Zwecken, Personen, die durch ein auf eine höchstens 48 Stunden vor der Anreise vorgenommene molekularbiologische Testung gestütztes ärztliches Zeugnis ihre Infektionsfreiheit nachweisen, und Personen, die einen der in § 1 Abs. 1 Satz 5 Nr. 1 bis 3 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung genannten Ausnahmetatbestände verwirklichen. Von dem bloßen Beherbergungsverbot gar nicht betroffen sind schließlich bloße Einreisen und Aufenthalte ohne Übernachtungen zu jedweden Zwecken, unter anderem Fahrten von Berufspendlern und Heimreisen niedersächsischer Bürgerinnen und Bürger aus Urlauben in Risikogebieten. Eine Eignung des streitgegenständlichen Verbots, zur Erreichung des legitimen Ziels der Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19 überhaupt beizutragen, kann danach von vorneherein nur für einen eng begrenzten und allenfalls geringen Teil des tatsächlichen Infektionsgeschehens im Bundesgebiet und im Land Niedersachsen gegeben sein.
56
Diese Eignung, jedenfalls aber die Erforderlichkeit des Verbots erscheint zweifelhaft. Denn das Beherbergungsverbot bezieht sich auf Sachverhalte, die jedenfalls nicht offensichtlich mit einer erhöhten Gefahr der weiteren Ausbreitung von COVID-19 verbunden sind.
57
(αα) Dies gilt zunächst für die mit dem Verbot unmittelbar nur untersagte Beherbergung zu touristischen Zwecken. Denn die Beherbergung als solche, also die Gewährung einer Übernachtungsmöglichkeit, dürfte bei lebensnaher Betrachtung kaum mit erhöhten Infektionsgefahren verbunden sein. Der Antragsgegner selbst hat die mit Reisen verbundenen Infektionsgefahren in anderen Normenkontrolleilverfahren betreffend Quarantäneregelungen für Auslandsreisende dann auch maßgeblich in den Reisewegen und den dort eintretenden Kumulationen von Reisenden gesehen, nicht aber in dem Aufenthalt am Reiseort oder gar im Beherbergungsbetrieb (vgl. etwa Senatsbeschl. v. 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 26; v. 11.5.2020 - 13 MN 143/20 -, juris Rn. 31).
58
(ββ) Dies gilt darüber hinaus aber auch für die Reisetätigkeit als solche. Der Antragsgegner hat auch auf Nachfrage des Senats keine nachvollziehbaren tatsächlichen Erkenntnisse dazu präsentieren können, welche Zahl von infizierten Personen in den letzten Wochen im Bundesgebiet und in Niedersachsen auf Reisen innerhalb des Bundesgebiets zurückzuführen sind. Seine Erkenntnisse zu Differenzen zwischen dem Wohnort und Expositionsort eines Infizierten sind insoweit unergiebig, denn sie lassen nicht erkennen, worauf diese Differenz beruht, etwa einer touristischen Reise oder Fahrten als Berufspendler oder zu anderen nicht touristischen Zwecken. Im Übrigen kann auch nach den Angaben des Antragsgegners allenfalls ein sehr geringer Anteil der Infizierten überhaupt auf Reisen innerhalb des Bundesgebiets zurückzuführen sein, und zwar die 2,3% der Infektionen in einem anderen Bundesland und die 2,1% der Infektionen in einem niedersächsischen Ort außerhalb der Meldekommune. Weitergehende Erkenntnisse ergeben sich auch nicht aus der vom Antragsgegner in Bezug genommenen Publikation des RKI, die sich maßgeblich mit der infektiologischen Bedeutung von Auslandsreisen beschäftigt, die schon mit Blick auf die Reisewege und mit diesen verbundene Kumulationen von Reisenden nicht mit Reisen innerhalb des Bundesgebiets vergleichbar sind.
59
(γγ) Dies gilt weiter auch für die in § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung vorgenommene Anknüpfung des Verbots an "Personen aus einem … Gebiet oder einer Einrichtung, in dem oder in der die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt". Diese Inzidenz soll die Grenze markieren, bis zu der die öffentliche Gesundheitsverwaltung in Deutschland zu einer Rückverfolgung der Infektionsketten maximal in der Lage ist und so das wichtige und legitime Ziel der Verhinderung der weiteren Ausbreitung durch Fallfindung mit Absonderung von Erkrankten und engen Kontaktpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko noch erreicht werden kann (vgl. Senatsbeschl. v 5.6.2020 - 13 MN 195/20 -, juris Rn. 33). Wird diese Grenze in einem bestimmten Gebiet überschritten, bestehen auch nach dem Dafürhalten des Senats durchaus tatsächliche Anhaltspunkte für ein dynamisches Infektionsgeschehen und eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit. Dies allein rechtfertigt es aber nicht ohne Weiteres, für alle Personen in einem solchen Gebiet eine einheitliche Gefahrenlage anzunehmen und diesen gegenüber unterschiedslos generalisierende infektionsschutzrechtliche Maßnahmen zu treffen. Vielmehr können vorhandene oder zumutbar zu ermittelnde tatsächliche Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen in dem betroffenen Gebiet zu einer differenzierten Betrachtung und zu unterschiedlichen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zwingen, etwa bei zu lokalisierenden und klar eingrenzbaren Infektionsvorkommen (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 28.7.2020 - 20 NE 20.1609 -, juris Rn. 45; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.7.2020 - 13 B 940/20.NE -, juris Rn. 54 ff.). Von diesem Ansatz geht auch das von der Niedersächsischen Landesregierung erstellte "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" (veröffentlicht unter: www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/vorsorgliches-handlungskonzept-zur-bekampfung-eines-gegebenenfalls-weiter-ansteigenden-infektionsgeschehens-in-der-covid-19-pandemie-193263.html, Stand: 5.10.2020) aus, wenn es ein nicht nur an den Infiziertenzahlen orientiertes Einschreiten vorsieht, sondern eine Einbeziehung weiterer Aspekte (bspw. Inzidenz-Dauer, Alter der Infizierten, Hospitalisierung, externe Effekte, Krankenhauskapazitäten) fordert. Selbst für das streitgegenständliche Beherbergungsverbot scheint das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung bei der Festlegung und Veröffentlichung von Risikogebieten diesen Ansatz zunächst auch praktisch verfolgt zu haben, als es in Niedersachsen belegene Gebiete trotz Überschreitens der Inzidenz ausdrücklich nicht als Risikogebiete ausgewiesen hat (vgl. dahin auch: Nds. Landesregierung, Reisen & Tourismus – Antworten auf häufig gestellte Fragen, veröffentlicht unter: https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/antworten_auf_haufig_gestellte_fragen_faq/reisen-und-tourismus-antworten-auf-haufig-gestellte-fragen-186671.html, Stand: 14.10.2020: "Wenn in einem Kreis oder in einer kreisfreien Stadt diese 7-Tages-Inzidenz höher liegt als 50, wird vom Gesundheitsministerium geprüft, ob es Hinweise dafür gibt, dass es sich um ein eng eingrenzbares Infektionsgeschehen handelt. Für Menschen aus Gebieten, in denen das der Fall ist, wird dann voraussichtlich kein Beherbergungsverbot verhängt."). Nur das Beherbergungsverbot, wie es in § 1 Abs. 1 Satz 1 (in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Satz 1) der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnet ist, verfolgt diesen Ansatz nicht. Denn normativ ist für die Festlegung von Gebieten, sei es auch unterhalb der Kreisebene, eine bloße Anknüpfung an die genannte Inzidenz vorgesehen und dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung keinerlei Spielraum (und auch keine objektiv nachvollziehbaren und damit hinreichend bestimmbaren Kriterien) für die in § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung vorgesehene Festlegung von Risikogebieten gegeben. Die darüber hinaus vorgesehene Festlegung und Veröffentlichung einzelner Einrichtungen scheint zwar eine kleinräumige Betrachtung zu ermöglichen. Unklar bleibt aber, wie insoweit die Inzidenz zu ermitteln ist und wie der Betreiber eines Beherbergungsbetriebs die Zuordnung eines Reisenden zu einer konkreten Einrichtung überprüfen können soll.
60
(δδ) Schließlich erscheint die Eignung und Erforderlichkeit des Beherbergungsverbots auch deshalb zweifelhaft, weil hinsichtlich seines Vollzugs gegenüber Personen aus Risikogebieten, die nicht in Niedersachsen belegen sind, ein strukturelles Vollzugsdefizit naheliegt (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen und sich daraus ergebenden Folgen: BVerwG, Urt. v. 16.12.2016 - BVerwG 8 C 6.15 -, BVerwGE 157, 126, 145 - juris Rn. 47 m.w.N.).
61
Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung gilt "die Untersagung nach Absatz 1, auch in Verbindung mit Absatz 2, … nur für Personen, die nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung nach Absatz 1 Satz 1 nach Niedersachsen eingereist sind". Personen aus Risikogebieten, die nicht in Niedersachsen belegen sind, unterliegen also nur dann einem Beherbergungsverbot, wenn spätestens im Zeitpunkt ihrer Einreise nach Niedersachsen das Gebiet, aus dem sie einreisen, vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung als Risikogebiet veröffentlicht worden ist. Um feststellen zu können, ob eine solche Person einem Beherbergungsverbot unterliegt, müssen die Betreiber von Beherbergungsbetrieben Kenntnis davon haben oder zumindest erlangen können, seit wann das Gebiet, aus dem die Person eingereist ist, als Risikogebiet veröffentlicht ist und wann die Person nach Niedersachsen eingereist ist. Schon die erstgenannte Kenntnis ist derzeit nicht zu erlangen. Denn das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung veröffentlicht unter https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/hinweise-fur-reisende-185450.html (Stand: 14.10.2020) nur eine werktäglich aktualisierte Liste von Risikogebieten. Aus dieser Liste ergibt sich nur, welches Gebiet d e r z e i t als Risikogebiet gilt, nicht aber seit wann dies der Fall ist. Mit Blick auf zurückliegende Einreisezeitpunkte bedürfte es insoweit für jedes festgelegte Risikogebiet der konkreten zeitlichen Angabe, seit wann dieses ein Risikogebiet ist. Neben diesem - durchaus behebbaren - Mangel vermag der rechtsunterworfene Betreiber eines Beherbergungsbetriebes aber in keinem Fall eine verlässliche Kenntnis davon zu erlangen, wann eine Person in das Land Niedersachsen eingereist ist. Dieser Einreisezeitpunkt wird in keiner Weise dokumentiert und dürfte selbst den einreisenden Personen mangels erkennbarer Grenzziehungen regelmäßig nicht bekannt sein, ist angesichts stunden- und minutengenauer Angaben in der Veröffentlichung des Ministeriums (Beispiel: "Stand: 14.10.2020 - 13:00 Uhr") aber durchaus relevant. Für Personen aus Risikogebieten, die nicht in Niedersachsen belegen sind, hängt die Durchsetzung des Beherbergungsverbots danach maßgeblich von deren nicht überprüfbaren Angaben zur Einreise nach Niedersachsen ab. Dieses normativ angelegte und strukturelle Vollzugsdefizit führt zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung von Personen, die aus einem in Niedersachsen belegenen Risikogebiet anreisen, für die nach § 1 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung der objektiv ohne Weiteres zu ermittelnde "Zeitpunkt des Beginns der Beherbergung" maßgeblich ist.
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(β) Ungeachtet der danach bestehenden erheblichen Zweifel an der Eignung und Erforderlichkeit des Beherbergungsverbots ist dieses in seiner konkreten Ausgestaltung durch § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung zur Erreichung des legitimen Ziels der Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19 jedenfalls nicht angemessen (so auch zu einer ähnlichen bayerischen Verordnungsregelung: Bayerischer VGH, Beschl. v. 28.7.2020 - 20 NE 20.1609 -, juris Rn. 45; a.A. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 11.5.2020 - 2 KM 389/20 OVG -, juris).
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Das angeordnete Beherbergungsverbot hat ersichtlich gravierende negative Auswirkungen für die Berufsausübung der betroffenen Betreiber von Hotels, Pensionen, Jugendherbergen und ähnlichen Beherbergungsbetrieben sowie Ferienwohnungen, Ferienhäusern und Campingplätzen. Diese sind einerseits gehalten, auf äußerst kurzfristige Änderungen der Verordnungslage zu reagieren, die nicht nur bei Einführung der Verordnung am 9. Oktober 2020 gegeben waren, sondern durch die fortlaufende Aktualisierung der Veröffentlichung von Risikogebieten mindestens werktäglich zu erwarten sind. Sie haben die Herkunft und ggf. Einreisezeitpunkte der Reisenden zu kontrollieren sowie durch Stornierungen gebuchter Aufenthalte und durch Abweisung Reisewilliger aus Risikogebieten das Verbot umzusetzen, um einen mit einer Geldbuße von bis zu 25.000 EUR bewehrten Rechtsverstoß zu vermeiden. Die sich aus diesem erheblichen Organisationsaufwand ergebenden Belastungen werden noch erhöht durch finanzielle Einbußen, die sich aus Stornierungen und mangelnde Wiederbelegungen ergeben können.
64
Eine signifikante Milderung dieser gravierenden negativen Auswirkungen durch die in der Verordnung durchaus vorgesehenen Ausnahmen vom Beherbergungsverbot vermag der Senat derzeit nicht festzustellen. Die in § 1 Abs. 1 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung für Reisende vorgesehene Möglichkeit, durch ein auf eine höchstens 48 Stunden vor der Anreise vorgenommene molekularbiologische Testung gestütztes ärztliches Zeugnis die Infektionsfreiheit nachzuweisen und so eine Ausnahme von dem Verbot zu erlangen, dürfte angesichts nur begrenzter theoretischer und bereits heute tatsächlich weitgehend ausgenutzter Testkapazitäten praktisch kaum zum Tragen kommen und auch der erstrebten Priorisierung von Testungen nach der Infektionswahrscheinlichkeit widersprechen (vgl. hierzu Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) v. 14.10.2020, dort S. 10 ff.: "Das RKI erreichen in den letzten Wochen zunehmend Berichte von Laboren, die sich stark an den Grenzen ihrer Auslastung befinden. Dies hat zur Folge, dass Abstrichproben, die nicht zeitnah bearbeitet werden können, aus überlasteten Laboren weiterverschickt werden müssen, was zu verlängerten Bearbeitungszeiten und Verzögerungen bei der Ergebnisübermittlung an die Gesundheitsämter führen kann."). Die darüber hinaus vorgesehenen Ausnahmen für Personen, "die zwingend notwendig und unaufschiebbar beruflich oder medizinisch veranlasst anreisen," (§ 1 Abs. 1 Satz 5 Nr. 1 der Verordnung) und "die einen sonstigen triftigen Reisegrund haben, insbesondere einen Besuch einer oder eines Familienangehörigen, einer Lebenspartnerin, eines Lebenspartners oder einer Partnerin oder eines Partners einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die Wahrnehmung eines Sorge- oder Umgangsrechts oder den Beistand oder die Pflege schutzbedürftiger Personen," (§ 1 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 der Verordnung) dürften eher Einzelfälle betreffen. Sie erhöhen zudem für den Betreiber eines Beherbergungsbetriebs den Organisationsaufwand, da anders als bei der Ausnahme nach §1 Abs. 1 Satz 5 Nr. 3 der Verordnung betreffend Personen "für die das für den Beherbergungsbetrieb zuständige Gesundheitsamt in begründeten Einzelfällen auf Antrag eine Ausnahme zugelassen hat" er festzustellen und zu verantworten hat, ob die Voraussetzungen der Ausnahme erfüllt sind, was angesichts der vom Verordnungsgeber verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe häufig nicht zweifelsfrei möglich sein wird. Die Ausnahme des § 1 Abs. 1 Satz 5 Nr. 3 der Verordnung dürfte angesichts der aktuellen Belastung der örtlichen Gesundheitsämter und auch wegen fehlender materieller Kriterien für die Bejahung einer Ausnahme praktisch leerlaufen.
65
Diese gravierenden negativen Auswirkungen für die Berufsausübung der betroffenen Betreiber von Beherbergungsbetrieben stehen in keinem angemessenen Verhältnis mehr zu der von vorneherein nur für einen eng begrenzten und allenfalls geringen Teil des tatsächlichen Infektionsgeschehens im Bundesgebiet und im Land Niedersachsen gegebenen Eignung des streitgegenständlichen Verbots, zur Erreichung des legitimen Ziels der Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19 überhaupt beizutragen, die ebenso wie die Erforderlichkeit zudem erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist.
66
b. Gewichtige Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und der Allgemeinheit überwiegen auch die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe.
67
Dabei erlangen die erörterten Erfolgsaussichten des in der Hauptsache gestellten oder zu stellenden Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Normenkontrolleilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag in der Hauptsache noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn die angegriffene Norm erhebliche Grundrechtseingriffe bewirkt, sodass sich das Normenkontrolleilverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweist (vgl. Senatsbeschl. v. 11.5.2020 - 13 MN 143/20 -, juris Rn. 36; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 31).
68
Auch wenn die Gültigkeitsdauer der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung nach deren § 3 nicht begrenzt ist, wiegt schon danach das Interesse des Antragstellers an einer einstweiligen Außervollzugsetzung der ihn betreffenden Regelungen der Verordnung schwer. Dieses Gewicht findet Bestätigung in den dargestellten ersichtlich gravierenden Auswirkungen des verordneten Beherbergungsverbots für die betroffenen Betreiber von Beherbergungsbetrieben. Der Senat sieht auch keinen Anlass, die wirtschaftliche Existenz der Betreiber und auch Angestellten von Beherbergungsbetrieben und deren Bedeutung für die Volkswirtschaft geringer zu gewichten, als andere unternehmerische Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen.
69
Hinzu kommen die offensichtlichen Auswirkungen für betroffene Reisewillige und die Allgemeinheit. Das bloße Verbot der Beherbergung bewirkt, anders als ein Verbot der Einreise in ein Bundesland (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 16.9.2020 - 1 BvR 1977/20 -, juris Rn. 6), zwar keinen Eingriff in die in Art. 11 Abs. 1 GG garantierte Freizügigkeit. Freizügigkeit bedeutet das Recht, unbehindert durch die deutsche Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen und auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen (vgl. BVerfG, Urt. v. 17.3.2004 - 1 BvR 1266/00 -, BVerfGE 110, 177, 190 f. - juris Rn. 33 m.w.N.). Die geschützte Aufenthaltnahme umfasst dabei nur solche Verhaltensweisen, die eine Bedeutung für die räumlich gebundene Gestaltung des alltäglichen Lebenskreises haben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.3.2008 - 1 BvR 1548/02 -, juris Rn. 25). Hieran fehlt es bei dem in der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordneten Verbot, in niedersächsischen Hotels, Pensionen, Jugendherbergen und ähnlichen Beherbergungsbetrieben sowie Ferienwohnungen, Ferienhäusern und Campingplätzen zu touristischen Zwecken beherbergt zu werden. Das Beherbergungsverbot greift aber in die allgemeine Handlungsfreiheit der Reisenden und Reisewilligen nach Art. 2 Abs. 1 GG ein. Das Gewicht dieses Eingriffs ist mit Blick auf die Einführung des Verbots sehr kurz vor den Herbstferien in Niedersachsen und tagesaktuelle Änderungen des Verbotsumfangs während der Geltungsdauer nicht zu vernachlässigen. Eine signifikante Milderung des Eingriffs ist angesichts nur begrenzter Testkapazitäten und mit einem Test verbundener Kosten auch nicht in der in § 1 Abs. 1 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung vorgesehenen Möglichkeit zu sehen, durch ein auf eine höchstens 48 Stunden vor der Anreise vorgenommene molekularbiologische Testung gestütztes ärztliches Zeugnis die Infektionsfreiheit nachzuweisen und so eine Ausnahme von dem Verbot zu erlangen. Im Übrigen widerspricht diese Ausnahme der im gerichtlichen Verfahren geäußerten Zielsetzung des Verordnungsgebers.
70
Den so beschriebenen und gewichteten Aussetzungsinteressen stehen keine derart schwerwiegenden öffentlichen Interessen gegenüber, dass eine Außervollzugsetzung der voraussichtlich rechtswidrigen Regelungen im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes unterbleiben müsste. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass das Beherbergungsverbot ein wesentlicher Baustein in der Strategie der Pandemiebekämpfung des Antragsgegners ist. Dagegen sprechen schon die dargestellte begrenzte Wirkung des Beherbergungsverbots, dessen mangelnde Orientierung am von der Niedersächsischen Landesregierung erstellten "Handlungskonzept zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens in der COVID 19 Pandemie" und auch die mangelnde Aufnahme des Verbots in die kurz zuvor am 7. Oktober 2020 erlassene (allgemeine) Niedersächsische Corona-Verordnung (Nds. GVBl. S. 346). Zudem bestehen angesichts teilweise fehlender und im Übrigen in verschiedenster Art und Weise geregelter Beherbergungsverbote in anderen Bundesländern auch unter Berücksichtigung der gerichtsbekannt sehr attraktiven und vielfältigen niedersächsischen Reiseziele keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass die Außervollzugsetzung zu einer übermäßigen Inanspruchnahme ausschließlich niedersächsischer Beherbergungsbetriebe durch Personen aus Risikogebieten führen würde. Die vorläufige Außervollzugsetzung der § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung schließt es auch nicht aus, dass Maßnahmen zur Verhinderung einer durch Reisen innerhalb des Bundesgebiets bedingten Verbreitung von COVID-19 getroffen werden dürfen. Dem Antragsgegner bleibt es unbenommen, sinnvolle und angemessene Reisebeschränkungen zu verordnen, wenn hierfür aufgrund nachvollziehbarer tatsächlicher Erkenntnisse eine objektive Notwendigkeit besteht.
71
3. Die vorläufige Außervollzugsetzung wirkt nicht nur zugunsten des Antragstellers in diesem Verfahren; sie ist allgemeinverbindlich (vgl. Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 36; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 611). Der Antragsgegner hat die hierauf bezogene Entscheidungsformel in entsprechender Anwendung des § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO unverzüglich im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt zu veröffentlichen.
72
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
73
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019
74
- 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
75
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde der Beteiligten zu 1 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beteiligte zu 1.
Geschäftswert: 20.000,- €
1Gründe:
2I.
3Auf Antrag der Beteiligten zu 1 stellte das Nachlassgericht am 22. Januar 2018 ein für die Dauer von sechs Monaten gültiges Europäisches Nachlasszeugnis aus, ausweislich dessen die Beteiligte zu 1 Erbin des Erblassers aufgrund notariell errichteter letztwilliger Verfügung vom 2. Februar 1973 ist. Als weiterer Erbe zu ½ wurde der Beteiligte zu 2 aufgeführt. Bereits am 15. November 2016 hatte der Beteiligte zu 2 mit notariell beurkundetem Vertrag seinen Erbanteil auf die Beteiligte zu 1 übertragen.
4Zum Nachlass gehört eine Eigentumswohnung in ... in Polen. Den unter Vorlage des Europäischen Nachlasszeugnisses vom 22. Januar 2018 von der Beteiligten zu 1 gestellten Antrag auf Eintragung als Alleineigentümerin wies das zuständige Gericht in Polen zurück. Nach dem erstinstanzlichen Vorbringen der Beteiligten zu 1 hätten die polnischen Behörden den Grundbesitz nicht dem Nachlass zuordnen können.
5Um ihre Eintragung in Polen erreichen zu können, hat die Beteiligte zu 1 am15. August 2019 beim Nachlassgericht ein Europäisches Nachlasszeugnis beantragt, das den Grundbesitz in Polen ausdrücklich als Nachlassgegenstand aufführt. Mit Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 13. Februar 2020 hat sie diesen Antrag wiederholt und hilfsweise beantragt, dass zusätzlich zur Angabe ihres Erbteils ein Hinweis auf die Erbteilsübertragung vom 15. November 2016 und seine dingliche Wirkung auf sämtliche Nachlassgegenstände im Nachlasszeugnis aufgenommen werde. Sie meint, trotz der Formstrenge des Europäischen Nachlasszeugnisses sei es möglich und nach Sinn und Zweck des Zeugnisses – die Erleichterung der Durchsetzung von Rechten bei einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug – auch geboten, im Zeugnis bestimmte Vermögenswerte anzugeben, die einem bestimmten Erben zustehen sollen. Jedenfalls diene es dem Zweck des Nachlasszeugnisses, wenn eine Erläuterung über die nach deutschem Recht unzweifelhaft eintretende Rechtsfolge des Erbteilsübertragungsvertrages vom 15. November 2016, aufgrund dessen sie auch dingliche Eigentümerin aller Nachlassgegenstände geworden sei, im Zeugnis aufgenommen würde.
6Das Nachlassgericht hat mit Beschluss vom 9. April 2020 die Anträge vom 13. Februar 2020 zurückgewiesen. Die Aufnahme des Grundbesitzes in das Europäische Nachlasszeugnis sei nicht zulässig, da entsprechende Angaben nicht in Art. 68 EuErbVO vorgesehen seien; insbesondere liege kein Fall der Zuweisung eines Nachlassgegenstandes mit dinglicher Wirkung durch den Erblasser vor, Art. 68 Buchstabe l) EuErbVO, denn nach deutschem Recht liege eine Universalsukzession vor. Mit dem Erbteilskauf erwerbe der Erwerber auch lediglich einen schuldrechtlichen Anspruch auf (dingliche) Übertragung des Erbteils im Ganzen. Die Auflistung in Art. 68 EuErbVO sei abschließend. Das entspreche auch der Ratio der Norm, eine in allen Mitgliedsstaaten standardisierte Bescheinigung zu schaffen. Die Vermutungswirkung des Art. 69 EuErbVO gelte für informatorische Angaben im Nachlasszeugnis ohnehin nicht. Es entspreche auch nicht dem Willen des Verordnungsgebers, einzelne Nachlassgegenstände zur Bescheinigung ihrer Nachlasszugehörigkeit im Zeugnis aufzuführen (Erwägung Nr. 71 EuErbVO). Auch die hilfsweise beantragte Aufnahme des Erbteilskaufs sei nicht in Art. 68 EuErbVO vorgesehen. Zwar sei es möglich, eine Erbannahme oder eine Ausschlagung anzugeben; davon unterscheide sich jedoch der Erbteilskauf, der den veräußernden Erben lediglich mit einer Forderung belaste.
7Gegen den ihren Verfahrensbevollmächtigten am 24. April 2020 zugestellten Beschluss wendet sich die Beteiligte zu 1 mit ihrer am 25. Mai 2020 eingegangenen Beschwerde, mit der sie sowohl ihr Haupt- als auch ihr Hilfsbegehren weiter verfolgt. Sie führt aus, das polnische Gericht habe die Auffassung vertreten, der Erbteilskauf habe die Immobilie in Polen nicht erfasst. Jene Ansicht widerspreche dem richtigerweise anzuwendenden deutschen Recht. Der von ihr begehrte Zusatz im Nachlasszeugnis würde entsprechendes dem polnischen Gericht deutlich machen und die Umschreibung des Eigentums in Polen ermöglichen bzw. erleichtern.
8Das Nachlassgericht hat am 10. Juli 2020 einen Nichtabhilfe- und Vorlagebeschluss erlassen. Es hat ausgeführt, soweit das polnische Gericht eine dem anzuwendenden deutschen Recht widersprechende Auffassung vertrete, sei die Beteiligte zu 1 auf das dortige Rechtmittel zu verweisen.
9Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
10II.
11Das Rechtsmittel der Beteiligten zu 1 ist dem Senat infolge der mit weiterem Beschluss vom 10. Juli 2020 ordnungsgemäß erklärten Nichtabhilfe zur Entscheidung angefallen, § 68 Abs. 1 Satz, 1, 2. Halbsatz FamFG.
12Es ist als befristete Beschwerde nach Maßgabe der §§ 58 ff. FamFG statthaft und auch im übrigen zulässig. In der Sache bleibt es ohne Erfolg. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Nachlassgericht sowohl den Haupt- als auch den Hilfsantrag der Beteiligten zu 1 zurückgewiesen. Auf die zutreffenden Ausführungen des Nachlassgerichts im angefochtenen Beschluss und im Nichtabhilfebeschluss zu den Gründen, aus denen die von der Beteiligten zu 1 begehrten Ergänzungen nicht im Europäischen Nachlasszeugnis aufgenommen werden können, wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen. Veranlasst sind lediglich folgende ergänzende Anmerkungen:
13Der vom Nachlassgericht eingenommene Rechtsstandpunkt entspricht der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, wonach bei Erbfällen mit Auslandsberührung die Angabe einzelner Nachlassgegenstände im Europäischen Nachlasszeugnis nicht in Betracht kommt, sofern – wie hier (nach Art. 21 Abs. 1 EuErbVO unterliegt die Rechtsnachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, in dem der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort hat) – deutsches Erbrecht zur Anwendung kommt (vgl. OLG Nürnberg ZEV 2017, 579 f., mit Anmerkung von Weinbeck; OLG München ZEV 2017, 580 f.; Münchener Kommentar/Dutta, 8. Aufl. 2020, EuErbVO Art. 63 Rn. 18 und Art. 68 Rn. 9 m.w.N.; Kroiß/Horn/Solomon-Köhler, Nachfolgerecht, 2. Aufl. 2019, Art. 68 EuErbVO Rn. 3). Der Senat sieht insbesondere mit Blick auf die Formstrenge des Art. 68 EuErbVO und die zwingend vorgeschriebene Verwendung des von der EU Kommission vorgegebenen Formulars (vgl. hierzu: BeckOGK/J. Schmidt, Stand: 1. August 2020, Art. 67 EuErbVO Rn. 13; Kroiß/Horn/Solomon-Köhler, a.a.O., Art. 68 EuErbVO Rn. 1) keinen Anlass, von der herrschenden Meinung abzuweichen.
14Ergänzend zu den vom Nachlassgericht bereits erwähnten und den entgegenstehenden Motiven des Verordnungsgebers für den Erlass der Erbrechtsverordnung sei auf die amtlichen Erwägungen unter Ziffern 9, 11, 14 und 15 verwiesen, wonach sich der Anwendungsbereich der Verordnung nur auf die zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen erstrecken soll (Nrn. 9 und 15). Aus Gründen der Klarheit ausgenommen sein sollen indes Fragen, die als mit Erbsachen zusammenhängend betrachtet werden können (Nr. 11); ebenfalls nicht erfasst sein sollen Rechte oder Vermögenswerte, die auf andere Weise als durch Rechtsnachfolge von Todes wegen entstehen oder übertragen werden (Nr. 14).
15Bei dem hier in Rede stehenden Erbschaftskauf – und nur dieser kommt hier als Grundlage für einen Übergang des gesamten Eigentums an der in Polen gelegenen Wohnung in Betracht – handelt es sich indes nicht um einen Fall der Rechtsnachfolge von Todes wegen, für den der Anwendungsbereich der EuErbVO eröffnet sein soll. Der Erbschaftskauf des BGB ist vielmehr ein schuldrechtlicher Kaufvertrag, auf den, soweit sich aus §§ 2371 ff. BGB nichts anderes ergibt, die Vorschriften der §§ 433 ff. BGB anwendbar sind. Der Erbschaftskauf bedarf der sachenrechtlichen Erfüllung. Er ändert insbesondere nichts an der Erbenstellung des Verkäufers, sondern der Käufer tritt nur wirtschaftlich und schuldrechtlich an die Stelle des Verkäufers (vgl. statt aller: BeckOGK/Grigas, Stand: 15. August 2020, § 2371 BGB Rn. 4 ff.). Auch in einem Erbschein, der in Verfahren ohne grenzüberschreitenden Bezug beantragt wird, kann nur der veräußernde Erbe eingetragen werden, der Erwerber eines Erbschaftskaufs kann nicht aufgeführt werden (BEckOGK/Grigas, a.a.aO., § 2371 Rn. 22; BeckOK/Litzenburger, 55. Edition, Stand: 1. August 2020, § 2371 BGB Rn. 22).
16Keine andere Betrachtungsweise rechtfertigt sich nach Auffassung des Senats mit Blick auf die von der Beteiligten zu 1 zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 1. März 2018 – C-558/16 (Mahnkopf), NJW 2018, 1377 ff.). Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs betraf die Frage, ob und wie in einem Europäischen Nachlasszeugnis die aus § 1371 Abs. 1 BGB folgende Erhöhung des Erbteils des überlebenden Ehegatten aufzunehmen ist. Für diesen besonderen Fall hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass § 1371 Abs. 1 BGB in erster Linie die Rechtsnachfolge nach dem Tod eines Ehegatten betreffe und nicht das eheliche Güterrecht. Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof den Anwendungsbereich der EuErbVO für eröffnet gehalten und die Angabe des erhöhten Erbteils des überlebenden Ehegatten im Europäischen Nachlasszeugnis bejaht. Damit vergleichen lässt sich der hier in Rede stehende Erbschaftskauf jedoch nicht, denn er berührt nicht die Frage der Rechtsnachfolge nach dem Tod des Erblassers und die Rechtsstellung eines Erben sowie seiner Erbansprüche, sondern er begründet ausschließlich ein Rechtsverhältnis zwischen einem Erben und dem Erwerber seines Erbteils und einen schuldrechtlichen Anspruch der Erbwerbers gegenüber dem Erben.
17III.
18Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Danach soll das Gericht die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels demjenigen Beteiligten auferlegen, der es eingelegt hat. Für einen Ausnahmefall ist hier nichts ersichtlich.
19Für eine Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 70 Abs. 2 Satz 1 FamFG besteht kein Anlass.
20Die Wertfestsetzung stützt sich auf §§ 61, 40 Abs. 1 Nr. 2 GNotKG und der für die Wertfestsetzung maßgebliche Nachlasswert errechnet sich auf der Grundlage der Angaben der Beteiligten zu 1 im Wertermittlungsbogen vom 6. Februar 2018.
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Tenor
Die Beschwerden des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 16.09.2020 werden zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
1Gründe:
2I.
3Der Antragsteller begehrt die Übernahme der Kosten für die Anschaffung eines digitalen Endgeräts nebst Zubehör für die Teilnahme am Schulunterricht.
4Der Antragsteller (*00.00.2008) steht - in Bedarfsgemeinschaft mit u.a. seiner Mutter - bei dem antragsgegnerischen Jobcenter im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Er besucht die I-Schule der antragsgegnerischen Stadt N. Am Präsenzunterricht in der Schule nimmt der Antragsteller derzeit nicht teil, weil er nach einem von ihm vorgelegten ärztlichen Attest aufgrund einer Asthmaerkrankung der Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung nicht nachkommen könne.
5Am 24.04.2020 beantragte er die Übernahme der Kosten für einen internetfähigen PC nebst Zubehör. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin ab (Bescheid vom 28.04.2020). Ein Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II liege nicht vor. Zunächst handele es sich nicht um einen unaufschiebbaren Bedarf, denn das Schuljahr habe auch für den Antragsteller bereits im August 2019 begonnen. Weiter bestehe auch keine atypische Bedarfslage. Vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller sich darauf berufe, ein PC im Haushalt werde auch abseits der Corona-Pandemie generell vorausgesetzt, um den Anforderungen in der heutigen Schulzeit gerecht zu werden, müsse von einer durchschnittlichen Lebenssituation ausgegangen werden. Diese sei auch planbar. Der Bedarf sei dem Antragsteller bereits seit geraumer Zeit bekannt gewesen und nunmehr lediglich aufgrund der Corona-Pandemie dringend geworden. Der Antragsteller hätte daher entsprechende Rücklagen bilden müssen. Schließlich handle es sich auch nicht um einen laufenden, sondern einen einmaligen Bedarf, weil es nur um die einmaligen Beschaffungs- und Anschlusskosten gehe. Zusätzlich wies die Antragsgegnerin darauf hin, dass die Möglichkeit bestehe, ein Darlehen nach § 24 Abs. 1 SGB II zu beantragen. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 04.08.2020). Zur Begründung ihres Widerspruchsbescheides führte die Antragsgegnerin aus, der Antragsteller müsse seinen Bedarf vorrangig beim Schulträger geltend machen. Nach Inkrafttreten der Richtlinie über die Förderung von digitalen Sofortausstattungen (Zusatzvereinbarung zur Verwaltungsvereinbarung DigitalPakt Schule 2019-2024 - Sofortausstattungsprogramm) an Schulen und in Regionen in Nordrhein-Westfalen (Runderlass des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 21.07.2020 - 411) könnten die Schulträger ab sofort die ihnen jeweils zugeteilten Bundesmittel beantragen und mobile Leihgeräte für bedürftige Schüler und Schülerinnen beschaffen.
6Hiergegen hat der Antragsteller Klage zum Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen erhoben. Am 07.09.2020 hat er zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
7Er hat behauptet, in seiner Familie sei kein Computer vorhanden, an dem er seine Schulaufgaben erledigen könne. Ein solcher sei aber notwendig, weil er aus gesundheitlichen Gründen eben nicht am Präsenzunterricht teilnehmen könne. Insoweit liege ein pandemiebedingter Mehrbedarf vor. Dieser weiche auch erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf ab, denn bei der Regelbedarfsermittlung 2017 seien für Datenverarbeitungsgeräte und Software in den für ihn maßgeblichen Regelbedarfssätzen lediglich 2,28 Euro monatlich berücksichtigt worden. Weiter sei der Bedarf auch nicht anderweitig gedeckt. Zum einen könne er nicht darauf verwiesen werden, entsprechende Einsparungen aus dem Regelbedarf zu tätigen. Weiter werde der Bedarf auch nicht durch die Leistungen für den Schulbedarf (§ 28 Abs. 3 S. 1 SGB II) gedeckt; diese umfassten höherwertige elektronische Geräte gerade nicht.
8Er hat beantragt,
9die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig zu verpflichten, ihm Kosten zur Anschaffung eines internetfähigen Computers nebst Zubehör zu gewähren.
10Die Antragsgegnerin hat beantragt,
11den Antrag abzulehnen.
12Sie hat sich im Wesentlichen auf die Gründe des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2020, bezogen.
13Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt (Beschluss vom 16.09.2020). Ein Anordnungsanspruch sei derzeit nicht ersichtlich. Zwar stellten die Kosten für die Anschaffung eines internetfähigen Computers zur Teilnahme an einem pandemiebedingten Schulunterricht im heimischen Umfeld grundsätzlich einen nach § 21 Abs. 6 SGB II anzuerkennenden Mehrbedarf dar. Vorliegend habe der Antragsteller aber unter Berücksichtigung des Runderlasses des Ministeriums für Schule und Bildung vom 21.07.2020 die Möglichkeit, über seinen Schulträger ein mobiles Endgerät für den Schulunterricht zu erhalten. Diese Richtlinie sehe ausdrücklich vor, dass dem Schüler über den Schulträger kostenlos ein Gerät zur Verfügung zu stellen sei.
14Hiergegen hat der Antragsteller am 16.09.2020 Beschwerde eingelegt.
15Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verfahren vor dem SG. Ergänzend führt er insbesondere aus, dass die Antragsgegnerin noch keinen konkreten Zeitpunkt nennen könne, zu dem die Möglichkeit bestehen würde, über den Schulträger ein mobiles Endgerät zu erhalten. Zudem sei schon ungewiss, ob er überhaupt zum begünstigten Personenkreis zählen werde.
16Der Antragsteller beantragt,
17den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 16.09.2020 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig zu verpflichten, ihm Kosten für die Anschaffung eines internetfähigen Endgeräts nebst Zubehör zu gewähren.
18Die Antragsgegnerin beantragt,
19die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 16.09.2020 zurückzuweisen.
20Sie verteidigt den angegriffenen Beschluss. Sie weist ergänzend darauf hin, dass der Antragsteller trotz ihres Hinweises in dem Bescheid vom 28.04.2020 bis heute kein Darlehen beantragt habe.
21Der Senat hat im Beschwerdeverfahren eine schriftliche Auskunft des Schulleiters der I-Schule eingeholt. Auf deren Inhalt wird Bezug genommen.
22II.
23Die Beschwerden müssen ohne Erfolg bleiben. Das SG hat sowohl den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als auch das Prozesskostenhilfegesuch zu Recht abgelehnt.
241. Die vom Antragsteller begehrte einstweilige Anordnung kann vorliegend nicht ergehen.
25a) Dabei bedarf im Ergebnis keiner Entscheidung, ob der Beschwerdestreitwert vorliegend die nach §§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) maßgebliche Summe von mehr als 750 Euro erreicht, weil die Beschwerde jedenfalls unbegründet ist (zum Offenlassen der Zulässigkeit bei Rechtsmittelentscheidungen vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, vor § 51 Rn. 13b).
26Bedenken gegen die Zulässigkeit der Beschwerde (wie auch des Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes selbst) ergeben sich auch nicht daraus, dass die Antragsgegnerin den Antragsteller in ihrem Bescheid vom 28.04.2020 auf die Möglichkeit hingewiesen hat, ein Darlehen (§ 24 Abs. 1 SGB II) zu beantragen, der Antragsteller einen entsprechenden Antrag aber bis heute nicht gestellt hat. Insbesondere entfällt das Rechtsschutzbedürfnis hierdurch nicht, weil es sich nicht um einen einfacheren und schnelleren Weg zur Durchsetzung des Begehrens des Antragstellers handelt (vgl. BSG Urteil vom 24.02.2011, B 14 AS 75/10 R, juris Rn. 10). Insoweit ist insbesondere unbeachtlich, dass der Antragsteller, soweit er in der Hauptsache unterliegen sollte, ähnlich wie bei einem Darlehen (§ 42a SGB II) verpflichtet wäre, etwaige zuvor aufgrund einer einstweiligen Anordnung erbrachte Leistungen zurückzugewähren (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 49). Entscheidend ist vielmehr, dass Gegenstand des Bescheides vom 28.04.2020 schon ausweislich des darin enthaltenen Hinweises allein die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II als Zuschuss sein dürfte. Mithin wäre der Antragsteller, sollte die Antragsgegnerin ihm auf Antrag ein Darlehen nach § 24 Abs. 1 SGB II gewähren, zunächst unabhängig vom Ausgang der hier zugrundeliegenden Hauptsache zur Rückzahlung desselben verpflichtet.
27b) Die Beschwerde ist aber jedenfalls unbegründet.
28Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer solchen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO). Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Tatsache reicht noch nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Es genügt jedoch, dass diese Möglichkeit unter mehreren relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung: BSG Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R; Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B; jeweils juris).
29Nach diesen Maßstäben kommt der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung vorliegend nicht in Betracht.
30a) Als Anspruchsgrundlage kommt vorliegend in erster Linie § 21 Abs. 6 S. 1 SGB II in Frage, wonach bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt wird, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Dabei ist bereits zweifelhaft, inwieweit ein Anordnungsanspruch besteht (dazu aa). Dies kann letztlich aber dahinstehen, weil es in jedem Fall an einem Anordnungsgrund fehlt (dazu bb).
31aa) Vorliegend ist bereits zweifelhaft, ob eine atypische Bedarfslage im Sinne des § 21 Abs. 6 S. 1 SGB II tatsächlich vorliegt.
32Keiner weiteren Ermittlung bedarf in diesem Zusammenhang, inwieweit der Antragsteller aktuell noch an einer Teilnahme am Präsenzunterricht gehindert ist. Der Antragsteller beruft sich hierbei auf ein Attest seines behandelnden Facharztes für Innere Medizin, Allergologie und Lungenheilkunde Dr. T. Laut diesem Attest kann der Antragsteller der Maskenpflicht in der Schule aufgrund eines Asthma bronchiale nicht nachkommen. Indes sind auch unter der aktuell gültigen Rechtslage zwar weiterhin alle Personen, die sich im Rahmen der schulischen Nutzung in einem Schulgebäude oder auf einem Schulgrundstück aufhalten, verpflichtet, eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen (§ 1 Abs. 3 S. 1 Coronabetreuungsverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen (CoronaBetrVO)). Hiervon sind aber zum einen Schülerinnen und Schüler ausgenommen, solange sie sich im Klassenverband im Unterrichtsraum aufhalten (§ 1 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 Buchst. b CoronaBetrVO), zum anderen kann die Schulleiterin oder der Schulleiter aus medizinischen Gründen von dieser Pflicht befreien (§ 1 Abs. 4 S. 1 CoronaBetrVO). An anderer Stelle beruft sich der Antragsteller allerdings auch darauf, dass er Mitschüler oder sonstige Verwandte wegen der bestehenden Ansteckungsgefahr nicht besuchen dürfe. Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Kurzattest des behandelnden Facharztes. Träfe diese Behauptung zu, könnte sie aber freilich auch einer Teilnahme am Präsenzunterricht entgegenstehen. Letztlich kann all dies aber dahinstehen.
33Zweifel daran, dass derzeit eine atypische Bedarfslage im Sinne des § 21 Abs. 6 S. 1 SGB II besteht, bestehen allerdings aufgrund der vom Senat eingeholten schriftlichen Auskunft des Schulleiters der vom Antragsteller besuchten Schule vom 29.09.2020. Aus dieser ergibt sich vielmehr, dass eine Beschulung des Antragstellers zumindest derzeit auch ohne die begehrten digitalen Endgeräte ausreichend sichergestellt ist. Im Einzelnen hat der Schulleiter hierzu ausgeführt, dass seit Beginn des neuen Schuljahres 2020/21 in allen Klassen und nahezu ohne zeitliche Einschränkungen wieder Präsenzunterricht erteilt werde. Es gebe an der Schule nur einen Schüler, der zur Risikogruppe zähle, und daher nicht an diesem Präsenzunterricht teilnehmen könne. Diesen Schüler - bei dem es sich um den Antragsteller handeln muss; hiervon gehen auch die Beteiligten ersichtlich aus - versorge seine Klassenlehrerin mit Arbeitsmaterial und Aufgaben und zwar in der Regel per Post oder indem sie ihm Arbeitsmaterial und Aufgaben persönlich überbringe. Der Kontakt zu diesem Schüler werde durch regelmäßige Kontakte aufrechterhalten und es würden Aufgaben besprochen. Schulbücher und Arbeitshefte hätten die Schüler zu Hause, darüber hinaus würden dem Leistungsstand angepasste individuelle Aufgabenpakete in Form von Fotokopien an die Schüler verschickt. Ein Online-Unterricht sei im Fall des genannten Schülers mangels technischer Ausstattung nicht möglich.
34Die Einlassungen des Antragstellers, mit der er der Auskunft des Schulleiters entgegengetreten ist, rechtfertigen keine andere Beurteilung. Zunächst hat der Antragsteller die Auskunft des Schulleiters jedenfalls insoweit selbst bestätigt, als er "einen Teil der Schulaufgaben in Papierform" erhalte. Im Übrigen vermögen seine Ausführungen - jedenfalls bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung - die Auskunft des Schulleiters nicht grundlegend zu erschüttern. Soweit er darauf verweist, dass "manche" Aufgaben eine Recherche mithilfe von Internetsuchmaschinen erforderten, ist nicht ersichtlich, dass es sich nicht bloß um völlig vereinzelte Fälle handelt und weshalb gerade diese für seinen Lernerfolg maßgeblich sein sollen. Auch soweit er darauf hinweist, dass seine Schule zusätzlich die sog. "Anton-App" nutze, trägt er lediglich vor, dass es sich um eine kostenlose App handele, die sowohl für Lehrer als auch Schüler eingesetzt werden könne und die Schulfächer Deutsch, Mathe, Sachunterricht, Biologie, Deutsch als Zweitsprache und Musik geeignet sei. Weshalb er aber auf die Nutzung dieser App zwingend angewiesen sein soll, ist nicht ersichtlich. Insbesondere erwähnt der Schulleiter diese App in seiner Auskunft nicht. Vielmehr führt der Schulleiter ausdrücklich aus, dass ein Online-Unterricht bei dem einen nicht am Präsenzunterricht teilnehmenden Schüler derzeit mangels eines entsprechenden Endgerätes nicht stattfinde.
35Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Antragsteller mit der Beschwerde eingereichten Bescheinigung der Schule, wonach zur Teilnahme am Schulunterricht ohne bzw. mit eingeschränktem Präsenzunterricht ein geeignetes internetfähiges Endgerät zwingend erforderlich sei, zudem ein für die Schülerinnen und Schüler verbindlicher Online-Unterricht stattfinde, Arbeitsmaterialien digital zur Verfügung gestellt würden und Leihgeräte anderweitig nicht zur Verfügung stünden. Diese Bescheinigung ist zum einen weder mit einem Datum versehen noch von der Schule unterzeichnet. Zum anderen wird in dieser Bescheinigung selbst einleitend "ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich nur um einen konkreten Corona-bedingten Mehrbedarf während der aktuellen Phase des ‚Home-schooling‘ handeln [könne]."
36Keiner Behandlung bedarf nach allem die Frage, inwieweit es sich bei dem geltend gemachten überhaupt um einen laufenden Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 S. 1 SGB II handelt (dafür LSG NRW Beschluss vom 22.05.2020, L 7 AS 719/20 B ER, juris Rn. 21; Landessozialgericht Schleswig-Holstein Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER (nicht veröffentlicht)).
37bb) In jedem Fall fehlt es aber an einem Anordnungsgrund. Ein Anordnungsgrund ist dann glaubhaft gemacht, wenn Eilbedürftigkeit im Sinne einer dringenden und gegenwärtigen Notlage, die eine sofortige Entscheidung unumgänglich macht, gegeben (OVG NRW Beschluss vom 28.08.2012, 12 B 925/12, juris Rn. 3; LSG NRW Beschluss vom 30.05.2011, L 19 AS 431/11 B ER, juris Rn. 13) und eine einstweilige Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile geboten ist (Senatsbeschluss vom 17.05.2005, L 12 B 11/05 AS ER). Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bzw. der Antragstellerin unter Berücksichtigung auch der widerstreitenden öffentlichen Belange ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist (Berlit, info also 1/2005, S. 3, 7).
38Vorliegend ist nicht ersichtlich, weshalb es dem Antragsteller zumindest derzeit nicht zumutbar sein sollte, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Zum einen ergibt sich aus der Auskunft des Schulleiters, dass die Ausstattung des Antragstellers mit dem begehrten digitalen Endgerät jedenfalls derzeit nicht zwingend erforderlich ist, um dessen erfolgreiche Teilnahme am Schulunterricht zu gewährleisten. Insoweit gelten die obigen Ausführungen auch hier. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Schulleiter in seiner schriftlichen Auskunft auch ausgeführt hat, dass zumindest überlegt werde, dem Antragsteller, sollte sich an der aktuellen Situation nichts ändern, nach Ende der Herbstferien wöchentlich zwei Stunden Hausunterricht zu erteilen. Darüber hinaus hat der Schulleiter in seiner schriftlichen Auskunft ausgeführt, dass die Schule derzeit zwar über keine eigenen Endgeräte verfüge, die sie Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stellen könne. Die Antragsgegnerin sei aber frühzeitig mit der Umsetzung des Sofortausstattungsprogrammes gestartet. Zwar werde nicht erwartet, dass vor Ende des Jahres Endgeräte an die Schule ausgeliefert würden. Dass hiermit aber auch zu einem späteren Zeitpunkt, etwa ab Beginn des zweiten Schulhalbjahres, nicht gerechnet werden könne, lässt sich der Auskunft des Schulleiters indes nicht entnehmen. Weiter hat der Schulleiter ausgeführt, dass, da sicher sei, dass die Zahl der zur Verfügung gestellten Geräte nicht ausreichen werde, alle bedürftigen Schülerinnen und Schüler zu versorgen, eine Priorisierung erforderlich sein werde. Schülerinnen und Schüler, die aufgrund von Vorerkrankungen nicht am Präsenzunterricht teilnehmen könnten, würden dabei aber "sicher vorrangig berücksichtigt werden." Offenkundig hat die Schule zur Umsetzung des Sofortausstattungsprogramms das Vorhandensein digitaler Endgeräte auch bei dem Antragsteller bereits abgefragt. Einen entsprechenden Vordruck der Schule hat der Antragsteller selbst zum Verfahren gereicht.
39Dass im Fall einer erneuten Schulschließung ggf. eine andere Beurteilung angezeigt ist (vgl. dazu LSG NRW Beschluss vom 22.05.2020, L 7 AS 719/20 B ER, juris Rn. 20), ist vorliegend ohne Belang. Zwar weist auch der Schulleiter in seiner Stellungnahme darauf hin, dass die Situation bei einer erneuten Schließung der Schule oder einer Quarantäne ganzer Klassen anders aussähe; dann könnten die Lehrkräfte bei entsprechender technischer Ausstattung der Schülerinnen und Schüler online mit ihren Klassen in Kontakt treten. Eine erneute Schulschließung wie auch eine Quarantäne gerade der Klasse des Antragstellers kann in der aktuellen Pandemielage zwar nicht ausgeschlossen werden, steht aber auch nicht konkret zu erwarten.
40b) Der Antragsteller kann den Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegend auch nicht nach § 73 S. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) beanspruchen. Danach können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Selbst wenn man § 73 S. 1 SGB XII neben § 21 Abs. 6 SGB II grundsätzlich für anwendbar hielte (dafür wohl BSG Urteil vom 28.11.2018, B 14 AS 48/17 R, juris Rn. 24: Reisekosten für den Besuch naher Angehöriger; Urteil vom 29.05.2019, B 8 SO 8/17 R, juris Rn. 15: Passbeschaffungskosten bei Ausländern; vgl auch Knickrehm/Hahn in Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 21 Rn. 66 m.w.N.), wäre aus den oben ausgeführten Gründen vielmehr zweifelhaft, ob dessen tatbestandliche Voraussetzungen überhaupt erfüllt sind. In jedem Fall fehlte es aber aus den oben ausgeführten Gründen auch hier an einem Anordnungsgrund. Eine Beiladung des Sozialhilfeträgers konnte daher zumindest für die Zwecke des Eilverfahrens unterbleiben (vgl. Keller a.a.O., § 86b Rn. 16).
41Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.
422. Soweit sich die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem SG richtet, ist sie ebenfalls erfolglos. Zwar hat der Senat dem Antragsteller mit Beschluss vom heutigen Tage für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt. Dies zwingt vorliegend aber nicht dazu, den angegriffenen Beschluss teilweise zu ändern und dem Antragsteller Prozesskostenhilfe auch schon für das Verfahren vor dem SG zu bewilligen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Entscheidung über ein Prozesskostenhilfegesuch ist vielmehr derjenige der Bewilligungsreife, d.h. wenn vollständige Angaben gemacht und entsprechende Belege eingereicht werden, die eine Prüfung des Gerichts grundsätzlich ohne weitere Nachfragen ermöglichen (dazu etwa Senatsbeschluss Beschluss vom 29.05.2012, L 12 BK 11/11 B, juris Rn. 7). Nach diesen Maßstäben ist das erstinstanzliche Prozesskostenhilfegesuch aber bis zur Entscheidung des SG über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht bewilligungsreif geworden. Vielmehr hat der Antragsteller dem SG keine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt.
43Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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Tenor
Der Beschluss der Vergabekammer Rheinland vom 30.09.2019 (VK 31/19-L) wird mit Ausnahme von Ziffer 4 des Tenors aufgehoben.
Der Antragsgegnerin wird bis zu einer fehlerfreien Wiederholung der Wertungsentscheidung untersagt, in dem Vergabeverfahren „Dienstleistungen von Architektur- und Ingenieurbüros sowie planungsbezogene Leistungen“, EU-Bekanntmachung 2018/S 090-203580 vom 12.05.2018, den Zuschlag zu erteilen.
Die weitergehende sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens, ausgenommen die ausscheidbaren gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten des Verfahrens nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB, welche die Antragsgegnerin alleine trägt, haben die Antragstellerin 20 % und die Antragsgegnerin und die Beigeladene jeweils 40 % zu tragen.
Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer haben die Antragsgegnerin und die Beigeladene als Gesamtschuldner zu tragen, wobei sich der Kostenanteil der Beigeladenen im Außenverhältnis auf die Hälfte reduziert. Die der Antragstellerin im Verfahren vor der Vergabekammer zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen haben die Antragsgegnerin und die Beigeladene jeweils zur Hälfte zu tragen.
Die Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten im Verfahren vor der Vergabekammer war für die Antragstellerin notwendig.
1G r ü n d e
2I.
3Mit Bekanntmachung im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union vom 12.05.2018 schrieb die Antragsgegnerin die Vergabe der Gründung einer Planungs- und Baugesellschaft mit einem privaten Partner im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb europaweit aus (Bekanntmachungsnummer 2018/S 090-203580).
4Der Auftrag war unter Ziffer II.1.4) der Bekanntmachung wie folgt beschrieben:
5„Es soll eine privatrechtliche Gesellschaft gegründet werden, die sich mit der Planung, dem Bau und gegebenenfalls, sofern ein entsprechender Beschluss des Stadtrats zu einem späteren Zeitpunkt gefasst werden sollte, dem Unterhalt und dem Betrieb von städtischen Gebäuden, insbesondere Schulgebäuden, beschäftigen sowie gegebenenfalls die Stellung als Eigentümer und Besitzer einnehmen soll. An der Gesellschaft sollen die Stadt L. als Mehrheitsgesellschafter und der Auftragnehmer als Minderheitsgesellschafter beteiligt sein.“
6Die Antragsgegnerin, die dringenden Handlungsbedarf für Bau- und Sanierungsmaßnahmen mit einem geschätzten Aufwand von 150 Millionen Euro an städtischen Gebäuden sah, versprach sich von der Gründung einer Planungs- und Baugesellschaft mit einem privaten Partner, die geplanten Maßnahmen schneller und kostengünstiger umsetzen und sanierte Gebäude wirtschaftlicher betreiben zu können.
7Die zu gründende Gesellschaft sollte ausweislich der Angaben unter Ziffer 3 der Leistungsbeschreibung für die von der Antragsgegnerin geplanten „Bau- und Sanierungsmaßnahmen insbesondere die vorbereitenden Kostenschätzungen und Maßnahmenbeschreibungen sowie sämtliche für die spätere Durchführung erforderlichen Planungs- und Ingenieurleistungen erbringen“. Mit der Ausschreibung sollte noch nicht die Beauftragung bestimmter Projekte verbunden sein. In einer „Projektliste“ auf Seite 4 der Leistungsbeschreibung waren jedoch zwölf dringliche Bauvorhaben genannt, die von der zu gründenden Planungs- und Baugesellschaft zunächst umgesetzt werden sollten.
8Vor Auftragsbekanntmachung hatte die Antragsgegnerin die Beigeladene in den Jahren 2016 bis 2018 mit Beratungsleistungen beauftragt, in deren Rahmen die Beigeladene auch Informationen über etwaige Maßnahmen an Schulen erhielt, die sich auf der Projektliste befinden. Zwischen den Verfahrensbeteiligten ist streitig, ob sich hieraus für das Vergabeverfahren Informationsvorsprünge der Beigeladenen gegenüber der Antragstellerin ergeben haben.
9Die Antragstellerin und die Beigeladene beteiligten sich beide erfolgreich am Teilnahmewettbewerb. Aus den dem Teilnahmeantrag der Beigeladenen beigefügten Unterlagen ergab sich, dass es sich bei ihr um eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung handelt, deren alleinige Gesellschafterin die Universitätsklinik N. ist. Ihr Unternehmensgegenstand war ausweislich des dem Teilnahmeantrag beigefügten Handelsregisterauszugs „die Übernahme von Bauherrenaufgaben und der Betrieb sowie die Verwaltung von Liegenschaften“. Die Antragsgegnerin bat die Beigeladene und die Universitätsklinik N. um eine schriftliche Bestätigung, dass die Beigeladene auch außerhalb des Gesundheitsbereichs im Rahmen der ausgeschriebenen Beteiligung an der zu gründenden Planungs- und Baugesellschaft tätig werden dürfe. Die Beigeladene bestätigte dies unter dem 21.09.2018. Das Universitätsklinikum N. erklärte mit Schreiben vom 19.09.2018, „dass die Satzung der [Beigeladenen] eine derartige Beteiligung an einer gemeinsamen Gesellschaft mit der Stadt L. zulässt und dies auch gilt, wenn es sich bei den Bauaufgaben nicht um solche des Universitätsklinikum N. handelt oder um Bauten im Bereich des Gesundheitswesens“. Das Universitätsklinikum versicherte weiter seine „grundsätzliche Unterstützung für eine solche Kooperation“, teilte aber auch mit, dass für „eine förmliche Gremienbefassung […] nach heutigem Stand die Konkretisierung der Beteiligung [fehlt], so dass wir uns […] eine entsprechende Gremienbefassung für den Zeitpunkt vorbehalten, zu dem die finalen Ergebnisse vorliegen.“ Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen erklärte zeitlich nachgehend mit Schreiben vom 29.11.2019 (Anlage BG01) zur Beteiligung der Beigeladenen am Vergabeverfahren:
10„Im Rahmen der aufgrund des Zustimmungsvorbehalts des MKW NRW vorgenommenen Prüfung hinsichtlich der geplanten Beteiligung der [Beigeladenen] an der Planungs- und Baugesellschaft L. GmbH haben sich keine rechtlichen Bedenken ergeben.
11Insbesondere war es der [Beigeladenen] nach der Rechtsverordnung für die Universitätskliniken Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster (UKVO) sowie der Satzung des UKK vom 14. Dezember 2016 nicht verwehrt, ein Angebot zur Beteiligung an der Planungs- und Baugesellschaft L. GmbH mit dem Inhalt abzugeben, wie es am 28.06.2019 geschah.“
12Nur die Antragstellerin und die Beigeladene traten nach Abschluss des Teilnahmewettbewerbs mit der Antragsgegnerin in Verhandlungen ein. Im Verhandlungsverfahren sollten die Bieter nach dem Inhalt der „Bewerbungsbedingungen und Vertragsunterlagen für das Vergabeverfahren“ in ihren Angeboten ein modellhaftes Konzept zur Gestaltung der Planungs- und Baugesellschaft vorlegen. Mit dem Verfahrensbrief vom 17.09.2018 (Bl. 1418-1421 der Vergabeakte) bat die Antragsgegnerin die Bieter, einen Businessplan für die zu gründende Gesellschaft aufzustellen und als Annahme zugrunde zu legen, dass die Gesellschaft in den ersten fünf Jahren ihrer Geschäftstätigkeit drei konkret genannte Projekte – Neubau der Albert-Schweitzer-Schule, Neubau einer dreizügigen Grundschule in L. T. sowie die Sanierung oder den Neubau der „Europaschule“ – mit bestimmten Bausummen übernehmen werde. Im Verfahrensbrief hieße es dazu:
13„Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Businessplan zugrunde zu legenden Annahmen um Modell-Annahmen handelt. Dies gilt jedenfalls für die gegenwärtige Phase des Verfahrens. Die Stadt L. behält sich vor, die Angaben zu den zu treffenden Annahmen im Laufe des Verfahrens zu präzisieren und zu konkretisieren.“
14Aus den Vergabeunterlagen ergab sich, dass zum Ende des Vergabeverfahrens voraussichtlich mehrere Verträge abgeschlossen werden sollten. In den „Bewerbungsbedingungen und Vertragsunterlagen für das Vergabeverfahren“ hieß es dazu auf Seite 18:
15„Es werden voraussichtlich ein Gesellschaftsvertrag, ein Leistungsvertrag, ggf. ein Dienstleistungsvertrag bezüglich Leistungen des Auftragnehmers für die Gesellschaft, ggf. ein Kooperations-/Garantie-/Partnerschaftsvertrag, ggf. ein Personalvertrag zur Einbindung von Mitarbeitern des Auftragnehmers und der Stadt sowie ggf. ein Nutzungsvertrag bezüglich technischer Ausrüstung oder Immobilien des Auftragnehmers und der Stadt geschlossen.“
16Aus dem Verfahrensbrief der Antragsgegnerin vom 17.09.2018 ergab sich, dass die Bieter einen Entwurf eines Geschäftsbesorgungsvertrags zwischen ihnen und der zu errichtenden Planungs- und Baugesellschaft vorlegen sollten. Darin sollten zukünftige Unterstützungsleistungen der Bieterunternehmen zugunsten der Planungs- und Baugesellschaft näher geregelt werden.
17Mit dem Verfahrensbrief vom 21.11.2018 wies die Antragsgegnerin die Bieter bezüglich der Ausgestaltung der geplanten Planungs- und Baugesellschaft auf Folgendes hin:
18„Klarstellend möchten wir Ihnen ergänzend zur Ausgestaltung der Planungs- und Baugesellschaft zunächst mitteilen, dass die zu gründende Gesellschaft im Sinne der Vorstellungen der Stadt L. sowie der späteren Angebotswertung im Idealfall keine „leere Hülle“ beziehungsweise keine Gesellschaft darstellen soll, durch die lediglich Leistungen und Zahlungen „durchgeleitet“ werden. Vielmehr soll die Gesellschaft, nach Maßgabe ihres Gesellschaftszwecks, als „echtes“ Unternehmen möglichst eigene wirtschaftliche Interessen entwickeln und verfolgen beziehungsweise im Rahmen ihrer Tätigkeit die Erzielung von Gewinnen für die Gesellschafter beabsichtigen.“
19Die Bieter sollten nach dem Inhalt dieses Verfahrensbriefs ferner ein vorzuschlagendes Personalkonzept mit Stellenplan für die Planungs- und Baugesellschaft vorlegen. Dazu hieß es auf Seite 11 des Verfahrensbriefs unter anderem:
20„Bitte stellen Sie das Stellenkonzept, das Sie vorschlagen, auf der Zeitschiene dar. Es soll deutlich werden, wie sich bei Umsetzung des vorgeschlagenen Stellenkonzepts die Wertschöpfung in der Planungs- und Baugesellschaft im Planungszeitraum entwickelt.“
21Vor Abgabe ihrer finalen Angebote erhielten die Bieter von der Antragsgegnerin mit Verfahrensbrief vom 07.06.2019 (Bl. 1692-1695 der Vergabeakte) die bei der Angebotserstellung zu berücksichtigenden, bei Zuschlagserteilung zu schließenden Vertragsentwürfe des Gesellschaftsvertrags der Planungs- und Baugesellschaft sowie des Leistungsvertrags zwischen dieser und der Antragsgegnerin. Dazu hieß es in dem Verfahrensbrief unter anderem:
22„In den Leistungsvertrag konnte nach interner Rücksprache der Stadt L. weiterhin nicht übernommen werden, dass die Gesellschaft im Rahmen der Budgetberechnung einen Risikoaufschlag einrechnen darf. Auch kann keine Fortschreibung des Budgets entsprechend bestimmter Preisentwicklungen vereinbart werden. Das begründet sich auch darin, dass solche Kostenaufschläge gegenüber der Kommunalaufsicht nicht zu rechtfertigen sind, da die Gesellschaft grundsätzlich nur der Eigenbedarfsdeckung der Stadt dienen soll ohne größere Gewinne zu erwirtschaften.“
23In dem den Bietern mit dem Verfahrensbrief zur Verfügung gestellten Gesellschaftsvertrag (Bl. 1832-1848 der Vergabeakte) hieß es in § 2 Abs. 3 und 4:
24„Die Gesellschaft ist so zu führen, dass die geltenden Gesetze, insbesondere die Vorschriften der Gemeindeordnung des Landes Nordrhein-Westfalen (Gemeindeordnung NW - GO NW) beachtet werden und der öffentliche Zweck nachhaltig erfüllt werden. Die Gesellschaft verfährt nach den Wirtschaftsgrundsätzen des § 109 GO NRW.
25Die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft soll keine wirtschaftlichen Verluste aufweisen.“
26Bereits am 04.12.2018 hatten die Bieterunternehmen die von der Antragsgegnerin für die Bewertung der Angebote vorgesehene Wertungsmatrix (Bl. 2008-2013 der Vergabeakte) übersandt erhalten. In der Wertungsmatrix waren drei qualitative Zuschlagskriterien, Struktur der Partnerschaft gewichtet mit 25 %, Planung und Realisierung von Bau- und Sanierungsmaßnahmen gewichtet mit 60 %, Businessplan der Planungs- und Baugesellschaft über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren gewichtet mit 15 %, genannt. Für alle drei Kriterien waren in der Wertungsmatrix weitere Unterkriterien vorgesehen.
27Im Rahmen des Zuschlagskriteriums 1 war ein Unterkriterium 4 mit der Bezeichnung „Umfang der Übernahme von Kosten- und anderen Umsetzungsrisiken durch den privaten Partner“, gewichtet mit 6,25 %, vorgesehen. Zur Erläuterung hieß es in der Wertungsmatrix:
28„Entscheidend ist, ob das vorgelegte Angebot in Bezug auf die Tragung von Kosten- und Umsetzungsrisiken aus Sicht der Stadt als „gut“, „befriedigend“ oder „ungenügend“ zu bewerten ist. Beurteilt wird die Vollständigkeit und Schlüssigkeit der von den Bietern vorgenommenen Analyse der Kosten- und anderer Umsetzungsrisiken (z.B. aufgrund von Kostensteigerungen im Verlauf der Projektumsetzung und geänderten Rahmenbedingungen u.a. bei besonderen Verhältnissen hinsichtlich des Baugrunds bzw. der Bausubstanz) sowie Erklärungen der Bieter, wie sie mit den genannten Risiken umgehen wollen, d.h. ob und in welchem Umfang die jeweiligen Risiken von der Stadt L. als Auftraggeberin der Gesellschaft und/oder Mehrheitsgesellschafterin der Gesellschaft, von der Gesellschaft als Auftragnehmerin der Stadt L. und vom Bieter als Auftragnehmer der Gesellschaft und/oder Minderheitsgesellschafter getragen werden sollen. Dass Angebot des Bieters, dessen angebotenen Vertragsinhalte (Geschäftsbesorgungsvertrag, Gesellschaftsvertrag) und sonstigen rechtsverbindlichen Erklärungen, eine möglichst geringe Risikotragung durch die Stadt L. bedeuten wird mit „gut“ bewertet. Bieter, die eine höhere Risikotragung durch die Stadt L. vorsehen, werden mit „befriedigend“ beziehungsweise „ungenügend“ bewertet.“
29Im Rahmen des Zuschlagskriteriums 3 war ein Unterkriterium 9 mit der Bezeichnung „eigene Personal- und Sachkosten“, gewichtet mit 3,75 %, vorgesehen. Hierzu hieß es in der Wertungsmatrix erläuternd:
30„Entscheidend ist, ob das Angebot im Hinblick auf die Angaben zu den Aufwendungen für eigenes Personal (Ziff. 7) und zu den Sachkosten (Ziff. 8 und 9) gemäß Business-Plan als „gut“, „befriedigend“ oder „ungenügend“ eingestuft wird. Bewertet wird die Plausibilität der Angaben zum Personalkonzept und zum Stellenplan für die Geschäftsführungs-, Pro-jekt-, Management- und sonstige Mitarbeiterebene sowie zu den Sachaufwendungen und bezogenen Leistungen im Verwaltungsbereich. Ein Angebot wird als „gut“ bewertet, wenn die Angaben zum Stellenkonzept und die Darstellung der Entwicklung der Personalaufwendungen und Sachkosten lt. Business-Plan im Verhältnis zur Entwicklung der Gesamtleistung den Wertschöpfungsgrad und seine Entwicklung im Planungszeitraum verdeutlichen und die Wirtschaftlichkeit des organisatorischen und rechtlichen Konzepts unterstreichen. Ein Angebot wird als „befriedigend“ oder „ungenügend“ bewertet, wenn die Angaben zum Stellenkonzept und die Darstellung der Entwicklung der Personalaufwendungen und Sachkosten lt. Business-Plan im Verhältnis zur Entwicklung der Gesamtleistung teilweise nicht oder gar nicht den Wertschöpfungsgrad und seine Entwicklung im Planungszeitraum verdeutlichen und die Wirtschaftlichkeit des organisatorischen und rechtlichen Konzepts unterstreichen.“
31Im Laufe des Verhandlungsverfahrens hatten zwischen den Bietern und der Antragsgegnerin drei Verhandlungsrunden und eine Telefonkonferenz stattgefunden. Das Unterkriterium 9 war am 28.01.2019 Gegenstand der 2. Verhandlungsrunde zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin gewesen. In dem Ergebnisprotokoll, von dessen Inhalt die Antragstellerin durch Akteneinsicht im Vergabenachprüfungsverfahren Kenntnis erlangt hat, ist dazu vermerkt:
32„Der Bieter wurde ergänzend darauf hingewiesen bezüglich des Unterkriteriums 9, dass bei Personal- und Sachkosten die Einstellung eigenen Personals grundsätzlich besser bewertet werden wird gemäß der Wertungsmatrix, wir aber dennoch die Erwägung des Bieters dazu verstehen, kein eigenes Personal einzustellen. Es muss sich also nicht unbedingt nachteilig auswirken, dass der Bieter für die Planungs- und Baugesellschaft kein eigenes Personal, sondern nur gestelltes Personal vorgesehen hat. Nach der stattgefundenen gegenseitigen Erläuterung der Wertungsmatrix akzeptiert der Bieter schließlich das Unterkriterium 9 und die damit verbundenen Wertungsmaßstäbe.“
33Als Teil des Berechnungsmodus für die durch ein Angebot insgesamt erreichte Punktzahl, nach der sich die Rangfolge der Angebote richten sollte, sah die Wertungsmatrix eine Punktevergabe für die Unterkriterien nach folgender Punkteskala vor:
34„Anforderungen gut erfüllt: 3 Punkte
35Anforderungen befriedigend erfüllt: 2 Punkte
36Anforderungen ungenügend erfüllt: 1 Punkt“
37Je nach Punktevergabe nach Maßgabe dieser Punkteskala konnten die für das jeweilige Unterkriterium entsprechend ihrem prozentualen Gewichtungsfaktor vorgesehenen Gesamtpunkte erreicht werden, für das Unterkriterium 4 zum Beispiel maximal 625 Punkte und für das Unterkriterium 9 maximal 375 Punkte.
38Die Antragstellerin und die Beigeladene gaben jeweils fristgerecht finale Angebote ab. Die Antragstellerin sah in ihrem Angebot in dem von ihr vorgelegten Entwurf des Geschäftsbesorgungsvertrags in § 3 unter Ziffer 3.5 eine Verpflichtung der Auftraggeberin, der zu errichtenden Planungs- und Baugesellschaft, vor, bezogene Leistungen mit Zuschlägen von 10 bzw. 3 % gegenüber der Antragsgegnerin abzurechnen. Es hieß dort:
39„Sofern der Zuschlag nicht vollständig über diesen Geschäftsbesorgungsvertrag an die Auftragnehmer ausbezahlt wird, verbleibt er in der Gesellschaft und dient dort u.a. der Deckung der allgemeinen Geschäftskosten.“
40Auf diese Regelung wies die Antragstellerin auch in ihrem Angebotsbegleitschreiben vom 28.06.2019 (Anlage Ast2) hin. Dort hieß es, dass die Zuschläge im Wesentlichen zur Deckung allgemeiner Geschäftskosten verwendet würden und im Übrigen einen geringfügigen Gewinnbeitrag leisten sollten, um den Anforderungen des § 109 GO NRW zu genügen. Mit ihrem Businessplan legte die Antragstellerin ein Personalkonzept vor, wonach in Summe, im Wesentlichen durch Personalgestellungen des privaten Partners, 8 Personen in die zu errichtende Gesellschaft eingebracht werden sollten. Dazu hieß es im Personalkonzept:
41„Alle weiteren operativen Mitarbeiter und das weitere Personal für die Projekte wird von den privaten Partnern und den Subunternehmern auf Anforderung der Gesellschaft – je nach Projektbedarf – gestellt.
42Durch das vorgeschlagene Personalkonzept soll Sorge getragen werden, dass die in der Gesellschaft anfallenden Verwaltungs- und Planungsprozesse zwar weitgehend autark ausgeführt werden können, hinsichtlich des Personaleinsatzes dennoch genügend Flexibilität eingeräumt wird.“
43Weil ihr Personalkonzept für den Betrachtungszeitraum keine eigenen Mitarbeiter der zu errichtenden Gesellschaft vorsah, waren im Businessplan der Antragstellerin keine Personalkosten der Planungs- und Baugesellschaft eingetragen.
44Die Antragsgegnerin bewertete das finale Angebot der Beigeladenen mit insgesamt 9.750 Punkten und dasjenige der Antragstellerin mit insgesamt 9.543,66 Punkten. Die Antragstellerin erreichte in den Unterkriterien 4 und 9 jeweils nur 2 von 3 möglichen Punkten („Anforderungen befriedigend erfüllt“). Das führte bei diesen Unterkriterien zu Abzügen von 208,34 bzw. 125 Wertungspunkten. Im Vergabevermerk (Bl. 1984-2007 der Vergabeakte) wird die Bewertung des Angebots der Antragstellerin beim Unterkriterium 4 unter anderem wie folgt begründet:
45„Der Bieter hat in Ergänzung zu dem Risikokonzept gemäß § 3 Abs. 4 des Leistungsvertrags einen zusätzlich Aufschlag von 10 % vorgesehen, der im Wesentlichen für die Deckung allgemeiner Geschäftskosten verwendet werden soll. Dieser Sicherheitsaufschlag ist nicht mit gemäß § 3 Abs. 4 des Leistungsvertrags vereinbar, da durch den zusätzlichen Aufschlag von 10 % auf die Kosten das Risiko für den Bieter abgemildert und das vorgegebene Risikokonzept durch den Bieter eingeschränkt wird. Auch in dem Schreiben zur Aufforderung zur Einreichung eines letztverbindlichen Angebots war noch einmal darauf hingewiesen worden, dass die Gesellschaft im Rahmen der Budgetberechnung einen Risikoaufschlag nicht einrechnen darf, da solche Kostenaufschläge gegenüber der Kommunalaufsicht nicht zu rechtfertigen sind, da die Gesellschaft grundsätzlich nur der Eigenbedarfsdeckung der Stadt dienen soll ohne größere Gewinne zu erwirtschaften.“
46Beim Unterkriterium 9 begründete die Antragsgegnerin die Bewertung des Angebots der Antragstellerin unter anderem wie folgt:
47„Laut Angaben von [Antragstellerin] soll die Gesellschaft kein eigenes Personal beschäftigen. Dies zeigt sich auch in dem vorgelegten Businessplan. Stattdessen sollen die technischen und kaufmännischen Prozesse durch Gestellung von Personal aus einem erfahrenen und fachkundigen Personal-Pool durchgeführt werden. Zwar wird nachvollziehbar dargestellt, dass die drei Referenzprojekte auf diese Weise zu wirtschaftlichen Kosten und zeitlich optimierten Bedingungen durchgeführt werden können. Nachteilig im Hinblick auf die Ziele der Stadt ist aber, dass, wie von der Stadt gewünscht, die Gesellschaft nicht mit eigenen bei ihr angestellten personellen Ressourcen versehen wird und damit die Voraussetzungen für Aufbau und Entwicklung eines Unternehmens, welches alle Unternehmensfunktionen im Wesentlichen selbst abdeckt, weniger gut geschaffen werden.“
48Die Antragsgegnerin teilte der Antragstellerin mit Schreiben vom 16.07.2019 (Anlage Ast3) mit, dass sie beabsichtige, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen, das 9.750 Punkte erreicht habe, während ihr, der Antragstellerin, Angebot nur mit 9.543,66 Punkten habe bewertet werden können. Als frühestmöglichen Zeitpunkt einer Zuschlagserteilung teilte sie der Antragstellerin den 29.07.2019 mit.
49Mit Rügeschreiben vom 22.07.2019 (Anlage Ast4) beanstandete die Antragstellerin mehrere Vergaberechtsverstöße. Sie rügte die Intransparenz und Fehlerhaftigkeit des Auswertungsvorgangs, weil die mitgeteilten Ergebnisse der Auswertung nicht nachvollziehbar seien, und verlangte eine Kopie der Angebotsauswertung. Die Antragsgegnerin habe es zudem entgegen § 7 Abs. 1 VgV versäumt, den durch die Vorbefassung der Beigeladenen erlangten Wissensvorsprung auszugleichen. Schließlich fehle der Beigeladenen die Eignung, weil es ihr rechtlich nicht erlaubt sei, die ausgeschriebenen Leistungen zu erbringen. Zu dem zweiten Rügegegenstand hieß es im Rügeschreiben unter anderem:
50„Die [Beigeladene] ist infolge der für die Stadt L. erbrachten Leistungen ein im Sinne von § 7 VgV vorbefasstes Unternehmen. [...]
51Wir beantragen Auskunft, in welchen Schulprojekten [die Beigeladene] für die Stadt L. tätig war. Nach unseren Kenntnissen war das Unternehmen in verschiedenen Schulprojekten für die Stadt L. beratend tätig, die jetzt gemäß § 2 Abs. 2 Leistungsvertrag Vertragsgegenstand sind.“
52Die Antragsgegnerin wies die Rügen mit Schreiben vom 24.07.2019 (Anlage Ast5), mit welchem sie das Wertungsergebnis durch Angabe der von der Beigeladenen bei den einzelnen Unterkriterien erreichten Punkte weiter aufschlüsselte, zurück. Zum Punktabzug beim Unterkriterium 9 führte die Antragsgegnerin in diesem Schreiben aus:
53„Das beruht darauf, dass Ihre Mandantschaft für die zu gründenden Planungs- und Baugesellschaft im Gegensatz zu dem obsiegenden Bieter gemäß dem eingereichten Businessplan keinen Aufbau von eigenem Personal über die Laufzeit des zu planenden Zeitraums vorgesehen hat. Dabei werden die Voraussetzungen für Aufbau und Entwicklung eines Unternehmens, welches alle Unternehmensfunktionen im Wesentlichen selbst abdeckt, weniger gut geschaffen.“
54Hieraufhin hat die Antragstellerin am 26.07.2019 einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Rheinland gestellt, mit dem sie ihr Rügevorbringen weiter vertieft hat und ihre Rüge eines Wertungsfehlers dahingehend konkretisiert hat, dass die Bewertung der Unterkriterien 4 und 11 durch die Antragsgegnerin fehlerhaft sei. Bei den beim Unterkriterium 4 negativ bewerteten Zuschlägen handele es sich nicht um Risiko-, sondern Generalunternehmerzuschläge, die im Wesentlichen der Deckung der allgemeinen Geschäftskosten dienten. Nachdem die Antragstellerin von der Vergabekammer Einsicht in die Vergabeakte erhalten hatte, hat sie mit Schriftsatz vom 20.08.2019 des Weiteren eine fehlerhafte Bewertung des Unterkriteriums 9 gerügt. Aus den Ausführungen der Wertungsmatrix zum Unterkriterium 9 sei nicht erkennbar gewesen, dass die Einstellung eigenen Personals besser bewertet werde.
55Die Antragstellerin hat beantragt,
56die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Vergabeverfahren aufzuheben und bei fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer erneut durchzuführen.
57Die Antragsgegnerin und die Beigeladene haben beantragt,
58 den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen.
59Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag mit Beschluss vom 30.09.2019 (VK 31/19-L) zurückgewiesen. Soweit er zulässig sei, sei der Nachprüfungsantrag unbegründet. Ein Verstoß gegen § 7 VgV liege nicht vor, denn die Beigeladene sei für die Antragsgegnerin nicht im Hinblick auf die Vorbereitung der Ausschreibung für die Beteiligung an der zu gründenden Gesellschaft tätig geworden. Die Beigeladene sei auch nicht wegen fehlender Eignung aus dem Vergabeverfahren auszuschließen. Ob die Beigeladene nach ihrem Innenverhältnis zum Universitätsklinikum N. an der Teilnahme am Vergabeverfahren gehindert sei, könne dahinstehen. Insoweit sei ihre Eignung nicht betroffen. Im Übrigen sei die Antragsgegnerin dem von der Antragstellerin gerügten Sachverhalt nachgegangen und habe aufgrund der Auskünfte der Beigeladenen und des Universitätsklinikums N., der Genehmigung des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen sowie des Handelsregisterauszugs von der Eignung der Beigeladenen ausgehen dürfen. Der Antragsgegnerin seien auch keine Fehler bei der Bewertung des Angebots der Antragstellerin unterlaufen.
60Gegen diese ihr am 07.10.2019 zugestellte Entscheidung wendet sich die Antragstellerin mit ihrer am 14.10.2019 beim Oberlandesgericht Düsseldorf eingegangenen sofortigen Beschwerde, mit der sie ihr Vorbringen im Hinblick auf die – allein noch weiterverfolgten – Rügen der vergaberechtswidrigen Nichtberücksichtigung einer Vorbefassung der Beigeladenen nach § 7 VgV, der fehlenden Eignung der Beigeladenen und der fehlerhaften Wertung bei den Unterkriterien 4 und 9 weiter vertieft. Die Antragstellerin ist im Zusammenhang mit der ihrer Meinung nach fehlenden Eignung der Beigeladenen der Ansicht, dass aus § 97 Abs. 1 GWB eine Pflicht des öffentlichen Auftraggebers folge, Wettbewerbsverzerrungen durch nicht zum Marktzutritt berechtigte Unternehmen zu verhindern. Der Beigeladenen dürfe wegen § 2 Abs. 1 UKVO i.V.m. § 2 Abs. 1 der Satzung des Universitätsklinikums N. der Zuschlag nicht erteilt werden. Ein Vertragsschluss sei nach § 134 BGB unwirksam. Bezüglich des Unterkriteriums 9 habe sie in den Gesprächen mit der Antragsgegnerin den Eindruck gewonnen, dass ihr Personalkonzept von der Antragsgegnerin positiv aufgenommen werde.
61Die Antragstellerin beantragt,
62die Antragsgegnerin zu verpflichten,
631. den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu erteilen,
642. hilfsweise für den Fall der Zurückweisung des Antrags zu 1., das Vergabeverfahren aufzuheben und bei fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut durchzuführen,
653. hilfsweise für den Fall der Zurückweisung der Anträge zu 1. und 2., die Kostenentscheidung der Vergabekammer aufzuheben und die Gebühr angemessen herabzusetzen.
66Die Antragsgegnerin und die Beigeladene beantragen,
67die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.
68Nach Ansicht der Antragsgegnerin und der Beigeladenen liegen die Voraussetzungen des § 7 VgV nicht vor und ist die Eignung der Beigeladenen nicht zweifelhaft. Nach Ansicht der Antragsgegnerin ist die Bewertung des Angebots der Antragstellerin beim Unterkriterium 4 gerechtfertigt, weil die Antragstellerin mit den von ihr im Geschäftsbesorgungsvertrag vorgesehenen Zuschlägen eine unzulässige Risikoverlagerung vorgenommen habe. Die Bewertung beim Unterkriterium 9 sei gerechtfertigt, weil die Antragstellerin nicht dargestellt habe, wie sie sich das Personalkonzept und die Entwicklung der Wertschöpfung vorstelle.
69Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer und die Vergabeakten verwiesen.
70II.
71Die gemäß § 171 Abs. 1 Satz 1 GWB statthafte sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und teilweise, im Umfang des hilfsweise verfolgten Beschwerdeantrags zu 2., auch begründet. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist statthaft, auch im Übrigen teilweise zulässig und, soweit er zulässig ist, entgegen der Annahme der Vergabekammer auch teilweise begründet. Die Entscheidung der Antragsgegnerin, der Beigeladenen den Zuschlag zu erteilen, ist aufgrund von Fehlern der Angebotswertung vergaberechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihrem Recht auf Einhaltung der Bestimmungen über das Vergabeverfahren gemäß § 97 Abs. 6 GWB mit der Folge, dass der Zuschlag derzeit nicht erteilt werden darf. Mit ihrem weitergehenden, auf die Erteilung des Zuschlags gerichteten Beschwerdeantrag zu 1. hat die Antragstellerin demgegenüber keinen Erfolg.
721.
73Der Nachprüfungsantrag ist insgesamt statthaft. Die mit der Ausschreibung beabsichtigte Beschaffung von Dienstleistungen in Form von Planungs- und Ingenieurleistungen im Rahmen eines Public-Private-Partnership-Projekts unterfällt § 103 Abs. 1 und 3 GWB (vgl. Senatsbeschluss vom 09.01.2013 – VII-Verg 26/12, zitiert nach juris, Tz. 48 und 56) und überschreitet den nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB maßgeblichen Schwellenwert.
742.
75Der statthafte Nachprüfungsantrag ist allerdings nur teilweise auch im Übrigen zulässig. Er ist unzulässig, soweit die Antragstellerin einen Verstoß gegen § 7 VgV rügt. Mit der Geltendmachung dieses Vergaberechtsverstoßes ist sie nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB ausgeschlossen, weil sie ihn nicht vor Einleitung des Nachprüfungsverfahrens ordnungsgemäß gerügt hat. Die von der Antragstellerin mit Schreiben vom 22.07.2020 erhobene Rüge eines Verstoßes der Antragsgegnerin gegen § 7 VgV genügte nicht den an eine ordnungsgemäße Rüge zu stellenden Anforderungen.
76Zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rüge hat der Senat im Beschluss vom 01.04.2020 – VII-Verg 30/19 – zuletzt Folgendes ausgeführt:
77„Die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rüge hat der Senat in jüngerer Zeit in mehreren Beschlüssen wiederholt ausführlich dargelegt (vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom 15.01.2020 – VII-Verg 20/19, vom 16.08.2019 – VII-Verg 56/18 – und vom 12.06.2019 – VII-Verg 54/18, jeweils zitiert nach juris). Danach ist an Rügen zwar ein großzügiger Maßstab anzulegen (siehe Senatsbeschluss vom 13.04.2011 – VII-Verg 58/10, zitiert nach juris, Tz. 53; OLG München, Beschluss vom 07.08.2007 – Verg 8/07, zitiert nach juris, Tz. 11 f.; OLG Dresden, Beschluss vom 06.02.2002 – WVerg 4/02, zitiert nach juris, Tz. 19). Da ein Bieter naturgemäß nur begrenzten Einblick in den Ablauf des Vergabeverfahrens hat, darf er im Vergabenachprüfungsverfahren behaupten, was er auf der Grundlage seines – oft nur beschränkten – Informationsstands redlicherweise für wahrscheinlich oder möglich halten darf, etwa wenn es um Vergaberechtsverstöße geht, die sich ausschließlich in der Sphäre der Vergabestelle abspielen oder das Angebot eines Mitbewerbers betreffen (vgl. Senatsbeschluss vom 13.04.2011 – VII-Verg 58/10, zitiert nach juris, Tz. 53; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 09.07.2010 – 11 Verg 5/10, zitiert nach juris, Tz. 51; OLG Dresden, Beschluss vom 06.06.2002 – WVerg 4/02, zitiert nach juris, Tz. 18 f.). Der Antragsteller muss aber – wenn sich der Vergaberechtsverstoß nicht vollständig seiner Einsichtsmöglichkeit entzieht – zumindest tatsächliche Anhaltspunkte oder Indizien vortragen, die einen hinreichenden Verdacht auf einen bestimmten Vergaberechtsverstoß begründen (siehe OLG München, Beschluss vom 11.06.2007 – Verg 6/07, zitiert nach juris, Tz. 31). Ein Mindestmaß an Substantiierung ist einzuhalten; reine Vermutungen zu eventuellen Vergaberechtsverstößen reichen nicht aus (siehe Senatsbeschluss vom 13.04.2011, VII-Verg 58/10, zitiert nach juris, Tz. 53; OLG Brandenburg, Beschlüsse vom 29.05.2012 – Verg W 5/12, zitiert nach juris, Tz. 4, und vom 20.11.2012 – Verg W 10/12, zitiert nach juris, Tz. 5; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 09.07.2010 – Verg 5/10, zitiert nach juris, Tz. 51; OLG München, Beschlüsse vom 07.08.2007 – Verg 8/07, zitiert nach juris, Tz. 11 f., und vom 02.08.2007 – Verg 7/07, zitiert nach juris, Tz. 15 f.). Da die Rüge einerseits den öffentlichen Auftraggeber in die Lage versetzen soll, einen etwaigen Vergaberechtsverstoß zeitnah zu korrigieren (Beschleunigung des Vergabeverfahrens, Selbstkontrolle des öffentlichen Auftraggebers), und andererseits Zugangsvoraussetzung zum Nachprüfungsverfahren ist, ist es unabdingbar, dass der Antragsteller – um unnötige Verzögerungen des Vergabeverfahrens zu vermeiden und einem Missbrauch des Nachprüfungsverfahrens vorzubeugen – bereits frühzeitig diejenigen Umstände benennt, aufgrund derer er vom Vorliegen eines Vergaberechtsverstoßes ausgeht. Aus Gründen der Beschleunigung wie auch zur Vorbeugung gegen den Missbrauch der Rüge beziehungsweise des Nachprüfungsverfahrens ist dem öffentlichen Auftraggeber in der Regel nicht zuzumuten, auf gänzlich unsubstantiierte Rügen hin in eine (ggf. erneute) Tatsachenermittlung einzutreten. Daher ist der Antragsteller gehalten, schon bei Prüfung der Frage, ob ein Vergaberechtsverstoß zu rügen ist, Erkenntnisquellen auszuschöpfen, die ihm ohne großen Aufwand zur Verfügung stehen. Zudem muss er, um eine Überprüfung zu ermöglichen, angeben, woher seine Erkenntnisse stammen (siehe Senatsbeschluss vom 13.04.2011, VII-Verg 58/10, zitiert nach juris, Tz. 53 f.; OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.11.2012, Verg W 10/12, zitiert nach juris, Tz. 5).“
78Diesen Anforderungen ist die Antragstellerin mit ihrer Rüge eines Verstoßes der Antragsgegnerin gegen § 7 VgV nicht gerecht geworden. Sie hat damit keine tatsächlichen Anhaltspunkte oder Indizien vorgetragen, die einen hinreichenden Verdacht auf einen bestimmten Vergaberechtsverstoß begründen konnten. Sie hat die Rüge allein darauf gestützt, dass die Beigeladene „nach ihren Kenntnissen“ bei verschiedenen Schulbauprojekten der Antragsgegnerin beratend tätig war. Näheres hat sie hierzu nicht ausgeführt, sondern die Antragsgegnerin nur um Auskunft ersucht, bei welchen Projekten dies der Fall war. Insbesondere hat die Antragstellerin nicht angegeben, woher sie die von ihr erwähnten Kenntnisse hat.
79Zwar hat die Antragsgegnerin im Schreiben vom 24.07.2020, mit dem sie die Rüge zurückgewiesen hat, bestätigt, dass die Beigeladene vor Einleitung des Vergabeverfahrens für sie tätig gewesen ist. Diese und die weiteren von der Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang erteilten Informationen haben die Antragstellerin aber nicht veranlasst, nunmehr vor Stellen des Nachprüfungsantrags noch eine ordnungsgemäße Rüge zu erheben, die ihr anknüpfend an die erteilten Informationen möglich war. Eine solche war nicht entbehrlich. Sie wäre nur dann ausnahmsweise entbehrlich gewesen, wenn die Antragsgegnerin mit ihrem Nichtabhilfeschreiben zum Ausdruck gebracht hätte, dass sie auch auf eine ordnungsgemäße, sich mit den mitgeteilten Informationen auseinandersetzende Rüge hin unumstößlich an ihrer Entscheidung festhalten würde (vgl. Senatsbeschluss vom 15.01.2020 – VII-Verg 20/19, zitiert nach juris, Tz. 67). Das lässt sich aus dem Inhalt des Schreibens vom 24.07.2020 aber nicht ableiten.
803.
81Der im Übrigen zulässige Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist auch teilweise begründet.
82a)
83Der Nachprüfungsantrag ist allerdings unbegründet, soweit die Antragstellerin die fehlende Eignung der Beigeladenen rügt.
84aa)
85Eine etwaige öffentlich-rechtliche Beschränkung des Tätigkeitsfelds der Beigeladenen durch Vorschriften der nordrhein-westfälischen Universitätsklinikum-Verordnung (UKVO) i.V.m. Vorschriften der Satzung des Universitätsklinikums N., wie sie die Antragstellerin geltend macht, lässt die Eignung der Beigeladenen nach den in § 122 GWB i.V.m. §§ 123, 124 GWB, 42 ff. VgV abschließend geregelten Eignungs- und Ausschlusstatbeständen nicht entfallen. Wie sich aus dem Wortlaut des § 122 Abs. 2 Satz 2 GWB, § 42 Abs. 1 VgV ergibt, darf es sich bei den vom öffentlichen Auftraggeber herangezogenen Eignungskriterien ausschließlich um die in § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 3 GWB genannten Kriterien handeln, die in §§ 42 ff. VgV weiter konkretisiert werden. Die Kriterien sind abschließend, für ungeschriebene Eignungskriterien, deren Verneinung zum Ausschluss des Bieters führen könnte, ist neben den normierten Ausschlusstatbeständen der §§ 123, 124 GWB kein Raum (Gnittke/Hattig, in: Müller-Wrede, GWB, § 122 Rn. 21 f.; Hausmann/von Hoff, in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, Kommentar zum GWB-Vergaberecht, 5. Aufl., § 122 Rn. 16). Das gilt auch für das vom Senat in früherer Rechtsprechung als von Bieterunternehmen zu erfüllen geforderte Eignungsmerkmal der „rechtlichen Leistungsfähigkeit“ (vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom 01.12.2015 – VII-Verg 20/15 – Pregabalin, zitiert nach juris, Tz. 23, vom 09.11.2011 – VII-Verg 35/11, zitiert nach juris, Tz. 26, vom 04.05.2009 – VII-Verg 68/08, zitiert nach juris, Tz. 110, vom 13.08.2008 – VII-Verg 42/07, zitiert nach juris, Tz. 27, und vom 21.02.2005 – VII-Verg 91/04, zitiert nach juris, Tz. 49 f.), für das nach der heutigen Gesetzessystematik über die gesetzlich geregelten Einzelaspekte hinaus kein Anwendungsbereich verbleibt. Danach kommt ein Ausschluss der Beigeladenen mangels Eignung hier nicht in Betracht.
86Die Beigeladene erfüllt die von der Antragsgegnerin gemäß § 122 Abs. 2 Satz 1 und 2 GWB wirksam aufgestellten Eignungsanforderungen. Den von der Antragsgegnerin zum Nachweis der Befähigung und Erlaubnis zur Berufsausübung gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GWB, § 44 Abs. 1 VgV mit der Auftragsbekanntmachung verlangten Handelsregisterauszug hat die Beigeladene vorgelegt. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin erfasst das Eignungsmerkmal der „Befähigung und Erlaubnis zur Berufsausübung“ gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GWB, § 44 VgV nur diesen Nachweis und ist insoweit abschließend (vgl. Hausmann/von Hoff, in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, Kommentar zum GWB-Vergaberecht, 5. Aufl., § 122 Rn. 17). Es erstreckt sich nicht auch darauf, ob die unternehmerische Tätigkeit der Beigeladenen mit den Vorschriften der UKVO und der Satzung des Universitätsklinikums N. zu vereinbaren ist.
87Andere Eignungsanforderungen hat die Antragsgegnerin nach der Gestaltung und dem Inhalt ihrer Auftragsbekanntmachung schon gar nicht wirksam aufgestellt (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 11.07.2018 – VII-Verg 24/18 – Poppelsdorfer Schloss). Allerdings würden auch weitere wirksam aufgestellte Eignungsanforderungen nach § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 3 GWB sich wegen ihres abschließenden Charakters nicht darauf erstrecken, dass die wirtschaftliche Betätigung der Beigeladenen auch von den Vorschriften der UKVO und der Satzung des Universitätsklinikums N. gedeckt ist.
88Schließlich liegt auch keiner der Ausschlusstatbestände der §§ 123, 124 GWB vor.
89Die Frage, ob die Beigeladene öffentlich-rechtlichen Tätigkeitsbeschränkungen nach den Vorschriften der UKVO und der Satzung des Universitätsklinikums N. unterliegt, betrifft damit nicht den Numerus clausus der gesetzlich vorgesehenen Eignungsanforderungen und in diesem Zusammenhang formulierten Ausschlusstatbestände, sondern einen davon nicht erfassten Aspekt der späteren Vertragserfüllung. Dass diese hier gefährdet sein könnte, ist jedoch nach den im Verfahren vorgelegten Erklärungen des Universitätsklinikums N. und des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen nicht zu erwarten. Entgegen der Ansicht der Antragstellerin wäre ein von der Beigeladenen abgeschlossener Vertrag auch nicht nach § 134 BGB nichtig, weil es sich bei den maßgeblichen Vorschriften der UKVO und der Satzung des Universitätsklinikums N., sollten sie das Tätigkeitsfeld der Beigeladenen beschränken, nicht um ein beiderseitiges Verbotsgesetz handelt.
90bb)
91Auf die von der Antragstellerin unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Eignung aufgeworfene Frage, ob die Beigeladene hinsichtlich ihres Tätigkeitsfelds öffentlich-rechtlichen Schranken unterliegt, kommt es auch aus anderen Gründen als denen mangelnder Eignung nicht an. Soweit der Senat, worauf sich die Antragstellerin beruft, in früheren Entscheidungen die Verletzung eines gesetzlichen Marktzutrittsverbots als einen Wettbewerbsverstoß beziehungsweise Verstoß gegen den Wettbewerbsgrundsatz aus § 97 Abs. 1 GWB a.F. angesehen hat, der zu einem Ausschluss des betreffenden Bieters vom Vergabeverfahren zwingt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 09.11.2011 – VII-Verg 35/11, zitiert nach juris, Tz. 26, vom 04.05.2009 – VII-Verg 68/08, zitiert nach juris, Tz. 109, vom 13.08.2008 – VII-Verg 42/07, zitiert nach juris, Tz. 24, und vom 17.06.2002 – Verg 18/02 = NZBau 2002, 626, 628 und 634), hält er hieran unter Geltung des für das vorliegende Vergabeverfahren maßgeblichen Vergaberechts in der Fassung des Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes nicht mehr fest.
92(1)
93Gegen den Ausschluss eines Unternehmens vom Vergabeverfahren wegen eines Verstoßes gegen den Wettbewerbsgrundsatz gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB spricht bereits, dass ein entsprechender Ausschlusstatbestand im Gesetz nicht geregelt ist. Weder § 123 GWB noch § 124 GWB sehen einen solchen Ausschlusstatbestand vor. Eine Ausschlussmöglichkeit ist dort nur für bestimmte Fälle möglicher Wettbewerbsbeeinträchtigungen vorgesehen, so in § 123 Abs. 1 Nr. 8, § 124 Abs. 1 Nr. 4 oder in § 124 Abs. 1 Nr. 9 GWB, aber nicht für den Fall eines Verstoßes gegen den Wettbewerbsgrundsatz des § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB als solchen.
94(2)
95Gegen den in der Vergangenheit auf den Wettbewerbsgrundsatz gestützten Ausschluss des Unternehmens spricht des Weiteren, dass dieser in § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB geregelte Grundsatz nicht geeignet ist, daraus konkrete normative Folgen abzuleiten. Soweit der Senat in der Vergangenheit das Gegenteil vertreten hat (vgl. Senatsbeschlüsse vom 04.05.2009 – VII-Verg 68/08, zitiert nach juris, Tz. 109, Beschluss vom 13.08.2008 – VII-Verg 42/07, zitiert nach juris, Tz. 22, vom 29.03.2006 – VII-Verg 77/05, zitiert nach juris, Tz. 54, und vom 17.06.2002 – Verg 18/02 = NZBau 2002, 626, 628), ist die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Literatur zu Recht kritisch hinterfragt worden (siehe OVG Münster, Beschluss vom 01.04.2008 – 15 B 122/08, zitiert nach juris, Tz. 16 ff.; Burgi, NZBau 2003, 539, 544; Ennuschat, NVwZ 2008, 966, 967; Mann, NVwZ 2010, 857, 861; Schneider, NZBau 2009, 352, 354). Die Aussage des § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB, dass öffentliche Aufträge und Konzessionen im Wettbewerb vergeben werden, beschreibt schon nach dem Wortlaut der Norm ein Verfahren (vgl. Ziekow, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 97 GWB Rn. 3), sagt aber nichts darüber aus, wer an diesem Verfahren teilnehmen kann. Die Antwort hierauf ergibt sich vielmehr aus zahlreichen Einzelvorschriften, die Bestimmungen über das Vergabeverfahren im Sinne von § 97 Abs. 6 GWB enthalten.
96Anderes lässt sich entgegen früherer Senatsrechtsprechung (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 13.08.2008 – VII-Verg 42/07, zitiert nach juris, Tz. 22) auch aus dem maßgeblichen europäischen Recht nicht ableiten. Art. 18 der Richtlinie 2014/24/EU, der „Grundsätze der Auftragsvergabe“ benennt und an dem sich § 97 GWB nicht nur in der Bezeichnung, sondern auch bezüglich zentraler Regelungsinhalte orientiert, thematisiert Wettbewerb nur in dem Sinne, dass dieser durch die Gestaltung von Vergabeverfahren nicht künstlich eingeschränkt werden darf. Dieser Gedanke der Freiheit und Öffnung des Wettbewerbs kommt auch in der Erwägung 1 der Richtlinie zum Ausdruck. Wie der Gerichtshof der Europäischen Union klargestellt hat, gilt diese Freiheit grundsätzlich auch für Unternehmen oder Einrichtungen der öffentlichen Hand (vgl. EuGH, Urteil vom 23.12.2009 – C-305/08, zitiert nach juris, Rn. 37 ff.). Auch diese sollen sich im Interesse der Öffnung des öffentlichen Auftragswesens für einen möglichst umfassenden Wettbewerb wie private Unternehmen an Vergabeverfahren beteiligen dürfen. Nach Gemeinschaftsrecht besteht ein Interesse an der Beteiligung möglichst vieler Bieter an einer Ausschreibung (EuGH, Urteil vom 23.12.2009 – C-305/08, zitiert nach juris, Rn. 37). Mit diesem Wettbewerbsverständnis ist es unvereinbar, den Marktzutritt von Unternehmen der öffentlichen Hand – gleich, ob er nach nationalem Recht zulässig ist oder nicht – als einen Verstoß gegen den Wettbewerbsgrundsatz im Sinne von § 97 Abs. 1 GWB als solchen zu verstehen.
97b)
98Der Nachprüfungsantrag ist begründet, soweit die Antragstellerin die Wertungsentscheidung der Antragsgegnerin zu den Unterkriterien 4 und 9 als fehlerhaft rügt. Die Bewertung des Angebots der Antragstellerin ist bei beiden Unterkriterien fehlerhaft.
99aa)
100Im Unterkriterium 4 sollte nach dem Inhalt der den Bietern vor Angebotsabgabe bekannt gemachten Bewertungsmatrix der „Umfang der Übernahme von Kosten- und anderen Umsetzungsrisiken durch den privaten Partner“ bewertet werden. Die Frage, welcher Erklärungswert dieser Angabe zukommt, ist nach den für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen (§§ 133, 157 BGB) zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 07.02.2014 – X ZB 15/13, zitiert nach juris, Tz. 31; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 18.07.2017 – 11 Verg 7/17, zitiert nach juris, Tz. 59). Dabei ist im Rahmen einer normativen Auslegung auf den objektiven Empfängerhorizont der potentiellen Bieter, also einen abstrakten Adressatenkreis, abzustellen (BGH, Beschluss vom 07.02.2014 – X ZB 15/13, zitiert nach juris, Tz. 31). Es kommt nicht darauf an, wie die Antragstellerin als einzelne Bieterin dieses Bewertungskriterium verstanden hat, sondern wie der durchschnittliche Bewerber des angesprochenen Bieterkreises sie verstehen musste oder durfte (Senatsbeschluss vom 13.12.2017 – VII-Verg 19/17, zitiert nach juris, Tz. 63).
101Bei Zugrundelegung dieses Auslegungsmaßstabs wird mit dem Unterkriterium 4 bewertet, wie Risiken nach dem Angebot der Bieter im Grundsatz verteilt werden, wer zum Beispiel die Folge- oder Mehrkosten trägt, wenn es zu Schwierigkeiten und Problemen im Zuge der Planungs- und Bauprozesse kommt. Der das Unterkriterium erläuternde Text der Wertungsmatrix verwendet insoweit den Begriff der Kostensteigerung. Zugleich ist dort zwar nicht wörtlich, aber sinngemäß von der Tragung von Kosten- und Umsetzungsrisiken die Rede. Dabei geht es um die grundsätzliche Haftungszuordnung. In den „Bewerbungsbedingungen und Vertragsunterlagen für das Vergabeverfahren“ wird insoweit auf Seite 16 auch von einer „Verringerung von Haushaltsrisiken durch zumindest teilweisen Risikotransfer auf einen privaten Partner“ gesprochen. Der Begriff des „Risikotransfers“ beschreibt einen Wechsel in der Haftungszuordnung.
102Danach mussten Bieter nicht davon ausgehen, dass mit dem Unterkriterium 4 die von ihnen in Ansatz gebrachte allgemeine Höhe abrechenbarer Kosten oder die Vergütung der Leistungen der zu errichtenden Gesellschaft bewertet wird. Zum einen sind Kosten für Planung und Bau schon Gegenstand der Bewertung beim Unterkriterium 5. Zum anderen ändert die Höhe der in Ansatz gebrachten abrechenbaren Kosten nichts an der Haftungszuordnung als solcher. Aus der Höhe kann sich allenfalls mittelbar eine Risikoerhöhung für die Kommune ergeben, wenn Kosten besonders hoch sind und sie hierfür haftet.
103Eine negative Berücksichtigung einer Anhebung des allgemeinen Kostenniveaus beim Unterkriterium 4 ließe sich vor diesem Hintergrund allenfalls für den Fall erwägen, dass ein Bieterunternehmen durch die Kostenstruktur eine verschleierte Risikoverlagerung zulasten der Gemeinde herbeiführt, es also praktisch zu einer Umgehung der in § 3 Abs. 4 des Leistungsvertrags vorgesehenen formalen Haftungszuordnung zulasten der Antragsgegnerin käme und ein Risikozuschlag eingeführt würde, der nach dem Verfahrensbrief vom 07.06.2019 unzulässig sein sollte. Dass es der Antragstellerin mit den vorgesehenen Zuschlägen gemäß § 3 Ziffer 3.5 des von ihr angebotenen Geschäftsbesorgungsvertrags um eine solche Umgehung ging, lässt sich jedoch nicht mit der dafür notwendigen Sicherheit feststellen. Das Vorbringen der insoweit darlegungsbelasteten Antragsgegnerin und die unstreitigen Umstände reichen hierfür nicht aus. Nach den von der Antragstellerin mit dem Angebot vorgelegten Unterlagen handelt es sich nicht um einen Risikozuschlag, sondern dient die von ihr vorgeschlagene Kostenregelung im Wesentlichen der Deckung der allgemeinen Geschäftskosten der zu gründenden Gesellschaft. Der Einwand der Antragsgegnerin, es sei unüblich, allgemeine Geschäftskosten so wie geschehen in der Angebotskalkulation zu pauschalieren, weil diese in keiner festen prozentualen Relation zu den bezogenen Leistungen stünden, genügt nicht, um den in der Kalkulation der Antragstellerin nachvollziehbaren Verwendungszweck in Frage zu stellen. Mangels von der Antragsgegnerin aufgestellter Kalkulationsvorgaben (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 14.11.2012 – VII-Verg 42/12, zitiert nach juris, Tz. 3) gab es für die Bieter nicht nur einen richtigen und zulässigen Weg der Kalkulation der Deckung der allgemeinen Geschäftskosten. Soweit die Antragstellerin daneben mit den Zuschlägen einen kleinen Gewinn für die zu errichtende Planungs- und Baugesellschaft einkalkuliert, verweist sie zutreffend darauf, dass sie abweichend vom Vortrag der Antragsgegnerin nach dem Inhalt der Vergabeunterlagen nicht davon ausgehen musste, dass die Gesellschaft keine Gewinne nach § 109 GO NRW erwirtschaften darf. § 2 des den Bietern von der Antragsgegnerin zur Verfügung gestellten Gesellschaftsvertrags enthält einen Verweis auf § 109 GO NRW, der in Absatz 1 einen Ertrag für den Haushalt der Gemeinde ausdrücklich vorsieht. Dieser Verweis ist durch spätere Erklärungen gegenüber der Antragstellerin nicht mehr in ausreichender Weise in Frage gestellt worden. Die Ausführungen im Verfahrensbrief der Antragsgegnerin vom 07.06.2019 genügten hierfür nicht. Dort hieß es nämlich, dass „die Gesellschaft grundsätzlich nur der Eigenbedarfsdeckung der Stadt dienen soll ohne größere Gewinne zu erwirtschaften“. Diese Formulierung kann, zumal bei gleichzeitiger Berücksichtigung des unverändert gebliebenen § 2 des Gesellschaftsvertrags, nicht so verstanden werden, dass jeglicher Gewinn ausgeschlossen sein sollte.
104bb)
105Fehlerhaft ist auch die Bewertung des Angebots der Antragstellerin beim Unterkriterium 9. Dass ein Angebot besser bewertet wird, wenn es die Ausstattung der Gesellschaft mit eigenem anstatt mit gestelltem Personal vorsieht, war für die Bieter weder aus der Wertungsmatrix sicher ableitbar, noch hat die Antragsgegnerin dies in anderer Weise ausreichend kommuniziert. Im Gegenteil hat sie mit ihren Erklärungen im Rahmen der 2. Verhandlungsrunde am 28.01.2019, so wie sie in der Vergabeakte vermerkt sind, bei der Antragstellerin den Eindruck erweckt, dass es sich nicht nachteilig auswirken muss, wenn nur gestelltes Personal vorgesehen wird.
106Soweit die Antragsgegnerin die Angebotswertung beim Unterkriterium 9 in der Beschwerdeinstanz – im Ergebnis im Übrigen wohl zweifelhaft – auch damit begründet, dass die Antragstellerin nicht dargestellt habe, wie sie sich das Personalkonzept und die Entwicklung der Wertschöpfung vorstelle, bleibt unklar, wie sich dieser Gesichtspunkt nach der Vorstellung der Antragsgegnerin zur schriftlich niedergelegten Bewertung verhalten und ob dieser Aspekt für sich betrachtet die vorgenommene Bewertung tragen können soll.
107cc)
108Die vorgenannten Wertungsfehler wirken sich auf die von der Antragsgegnerin getroffene Zuschlagsentscheidung aus. Zwischen dem Angebot der Beigeladenen und der Antragstellerin liegt nach dem Ergebnis der von der Antragsgegnerin vorgenommenen Bewertung eine Punktedifferenz von 206,34 Punkten. Die Antragstellerin hat aufgrund der fehlerhaften Bewertung beim Unterkriterium 4 einen Punktabzug von 208,34 Punkten und beim Unterkriterium 9 einen Punktabzug von 125 Punkten hinnehmen müssen. Wenn die Antragstellerin aufgrund einer fehlerfreien Bewertung ihres Angebots bei diesen beiden Unterkriterien 333,34 Punkte erzielte, läge ihr Angebot mit insgesamt 9.877 Punkten vor dem der Beigeladenen, das aufgrund der bisherigen Wertung 9.750 Punkte erzielt hat.
1094.
110Da der Nachprüfungsantrag teilweise begründet ist, hat die sofortige Beschwerde im Umfang des Beschwerdeantrags zu 2. Erfolg.
111a)
112Auf den Beschwerdeantrag zu 2. ist die Entscheidung der Vergabekammer gemäß § 178 Satz 1 GWB in dem tenorierten Umfang aufzuheben und der Antragsgegnerin gemäß § 178 Satz 2 GWB die Erteilung des Zuschlags bis zu einer fehlerfreien Wiederholung der Angebotswertung zu untersagen.
113b)
114Soweit die Antragstellerin mit ihrem Beschwerdeantrag zu 1. darüber hinaus die Erteilung des Zuschlags an sich beantragt, ist ihre sofortige Beschwerde unbegründet und abzuweisen. Das Beschwerdegericht kann dem öffentlichen Auftraggeber nur in Ausnahmefällen aufgeben, den Zuschlag auf das Angebot eines bestimmten Bieters zu erteilen. Eine solche Entscheidung kommt nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn die Erteilung des Zuschlags an einen bestimmten Bieter unter Beachtung aller bestehenden Wertungsspielräume die einzig rechtmäßige Entscheidung ist (Senatsbeschlüsse vom 28.11.2018 – VII-Verg 35/18, und vom 27.04.2005 – VII-Verg 10/05, zitiert nach juris, Tz. 11; vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 10.01.2008 – 13 Verg 11/07, zitiert nach juris, Tz. 96 f.; OLG Naumburg, Beschluss vom 13.10.2006 – 1 Verg 7/06, zitiert nach juris, Tz. 41). Diese Voraussetzungen sind hier weder vorgetragen noch ersichtlich.
115c)
116Da die Antragstellerin mit ihrem Beschwerdeantrag zu 2. Erfolg hat, ist über ihren hilfsweise gestellten Beschwerdeantrag zu 3., der sich, wie eine Auslegung ergibt, auf die Gebührenentscheidung der Vergabekammer bezieht, nicht mehr zu befinden.
117III.
118Im Hinblick auf die Obsiegens- und Unterliegensanteile der Verfahrensbeteiligten waren die Kosten des Beschwerdeverfahrens gemäß § 175 Abs. 2 i.V.m. § 78 GWB wie aus dem Tenor ersichtlich zu verteilen. Dabei war zu berücksichtigen, dass sich die Beigeladene an dem Verfahren nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB nicht beteiligt hat. Sie hat zu dem Antrag auf Verlängerung der aufschiebenden Wirkung der sofortigen Beschwerde weder in der Sache vorgetragen noch einen Antrag gestellt. Lediglich ihre Beteiligung am Beschwerdeverfahren außerhalb des Eilverfahrens rechtfertigt es, sie an der Kostenquote wie geschehen zu beteiligen. Im Rahmen der Kostenquote hat der Senat den Anteil des Unterliegens der Antragstellerin durch die Zurückweisung ihres Beschwerdeantrags zu 1. unter Billigkeitsgesichtspunkten mit 20 % bemessen.
119Die Kostenentscheidung bezüglich des Verfahrens vor der Vergabekammer beruht auf § 182 Abs. 3 Satz 1 und 2, Abs. 4 Satz 1 GWB. Da sich die Beigeladene am Verfahren vor der Vergabekammer aufseiten der Antragsgegnerin beteiligt und auch einen Antrag gestellt hat, war es gerechtfertigt, sie an der Haftung für die Verfahrenskosten und die notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu beteiligen. Im Hinblick auf die Gebührenbefreiung der Antragsgegnerin nach § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 VwKostG war die Kostenhaftung der Beigeladenen im Außenverhältnis allerdings zu reduzieren (vgl. insoweit Senatsbeschlüsse vom 14.02.2018 – VII-Verg 55/17, und vom 21.10.2015 – VII-Verg 35/15).
120Gemäß § 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 1, 2 und 3 Satz 2 VwVfG war festzustellen, dass die Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten im Verfahren vor der Vergabekammer für die Antragstellerin notwendig war.
121Über die Notwendigkeit eines Verfahrensbeteiligten, einen Rechtsanwalt zuzuziehen, ist nicht schematisch, sondern auf der Grundlage einer differenzierenden Betrachtung des Einzelfalls zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 26.09.2006 – X ZB 14/06, zitiert nach juris, Tz. 61). Dabei ist – regelmäßig für den Zeitpunkt der Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 21.08.2018 – 2 A 6.15, zitiert nach juris, Tz. 5, und vom 18.11.2016 – 1 WB 32.16, zitiert nach juris, Tz. 29) – danach zu fragen, ob der Beteiligte nach den Umständen des Falles auch selbst in der Lage gewesen wäre, aufgrund der bekannten oder erkennbaren Tatsachen den Sachverhalt zu erfassen, der im Hinblick auf eine Missachtung von Bestimmungen über das Vergabeverfahren von Bedeutung ist, hieraus die für eine sinnvolle Rechtswahrung oder Rechtsverteidigung nötigen Schlüsse zu ziehen und das danach Gebotene gegenüber der Vergabekammer vorzubringen (BGH, Beschluss vom 26.09.2006 – X ZB 14/06, zitiert nach juris, Tz. 61). Hierfür können neben Gesichtspunkten wie der Einfachheit oder Komplexität des Sachverhalts, der Überschaubarkeit oder Schwierigkeit der zu beurteilenden Rechtsfragen auch rein persönliche Umstände bestimmend sein. Dazu können die sachliche und personelle Ausstattung des Beteiligten gehören, also beispielsweise, ob er über eine Rechtsabteilung oder andere Mitarbeiter verfügt, von denen erwartet werden kann, dass sie gerade oder auch Fragen des Vergaberechts sachgerecht bearbeiten können, oder ob allein der kaufmännisch gebildete Geschäftsinhaber sich des Falls annehmen muss (BGH, Beschluss vom 26.09.2006 – X ZB 14/06, zitiert nach juris, Tz. 61). Anerkannt ist darüber hinaus, dass der Gesichtspunkt der so genannten prozessualen Waffengleichheit in die Prüfung einfließen kann (Senatsbeschluss vom 16.03.2020 – VII-Verg 38/18).
122Nach diesen Maßgaben war die Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin notwendig, weil das Verfahren in tatsächlicher Hinsicht ausreichend komplex und auch in rechtlicher Hinsicht anspruchsvoll war.
123Die Entscheidung über den Streitwert des Beschwerdeverfahrens bleibt einem gesonderten Beschluss nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten vorbehalten.
124Dr. Maimann Dr. Anger Dr. Scholz
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt von der Antragsgegnerin ein versammlungsbehördliches Einschreiten gegen den Beigeladenen.
Der Antragsteller betreibt eine Beratungsstelle, in der sich Frauen, Männer und Paare über Fragen der Familienplanung, Schwangerschaft und Geburt sowie über damit zusammenhängende Hilfen und Unterstützungsangebote informieren können. Die Einrichtung ist gemäß § 9 Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) als Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle anerkannt.
Der Beigeladene veranstaltete vom 25.9.2019 bis 3.11.2019 und vom 26.2.2020 an „Gebetsmahnwachen“ vor der Einrichtung. Aus der vorgelegten Behördenakte ergibt sich, dass der Beigeladene diese teils alleine abhielt, sich ihm teils aber weitere Personen angeschlossen hatten. Der Beigeladene führte Plakate und einen Karton mit Flugblättern und Büchern mit sich. Bei der Antragsgegnerin hatte der Beigeladene in beiden Fällen Versammlungsanzeigen vorgelegt. Die Behörde traf jeweils versammlungsrechtliche Maßnahmen. Sie verlegte unter anderem den Versammlungsort (auf die der Beratungsstelle gegenüberliegende Straßenseite beziehungsweise vor das Nachbargebäude), verbot das Bedrängen, Belästigen und Behindern beziehungsweise Ansprechen von Besuchern der Beratungsstelle und untersagte Aufnahmen von Passanten und Besuchern des Gebäudes, in dem die Einrichtung ihren Sitz hat.
Am 22.9.2020 teilte der Beigeladene der Antragsgegnerin mit, dass er ab dem Folgetag erneut eine vierzigtägige Mahnwache in der Nähe der Beratungsstelle durchführen wolle.
Ein Beschäftigter des Antragstellers wandte sich am 23.9.2020 an die Antragsgegnerin und berichtete, dass der Beigeladene seine Protestaktion begonnen habe und direkt neben dem Eingang der Beratungsstelle stehe. Besucher und Mitarbeiter der Einrichtung fühlten sich dadurch belästigt und bedroht. Der Beschäftigte forderte die Antragsgegnerin auf, dem Beigeladenen einen Platz außer Hör- und Sichtweite der Beratungsstelle zuzuweisen.
Bei einer behördlichen Ortseinsicht am selben Tag stand der Beigeladene etwa fünf Meter neben dem Eingang zur Beratungsstelle. Er hatte sich ein Schild gegen Abtreibungen um den Hals gehängt. Am 27.9.2020 stellten Polizeibeamte fest, dass neben dem Beigeladenen eine weitere Person mit Wohnsitz in Würzburg anwesend war, die - wie der Beigeladene - einen Rosenkranz in Händen hielt. Der Beigeladene selbst trug ein Plakat mit der Aufschrift „Abtreibung ist Mord“. Am 2.10.2020 unterhielt sich während eines neuerlichen Ortstermins eine weitere Person mit dem Beigeladenen. Dieser erklärte, er habe niemanden zur Teilnahme an der Mahnwache eingeladen und habe auch nicht die Absicht, eine Versammlung durchzuführen. Dass sich jemand neben ihn stelle, könne er aber nicht verhindern.
Eine Antwort der Antragsgegnerin auf die Nachricht des Antragstellers vom 23.9.2020 befindet sich nicht bei der Akte. Die Antragsgegnerin ergriff in der Folge keine Maßnahmen.
Am 5.10.2020 beantragte der Antragsteller bei Gericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, der Antragsgegnerin ein behördliches Einschreiten gegen die Mahnwache aufzugeben. Der Beigeladene halte vor der Einrichtung des Antragstellers eine Versammlung ab. Am 27.9.2020 hätten daran drei Personen teilgenommen; sie hätten Schilder und Rosenkränze bei sich gehabt und Anschriften an Hauswänden angebracht. Die Teilnehmer machten sich von Zeit zu Zeit Notizen und sprächen Passanten an. In der 41. Kalenderwoche hätten neben dem Beigeladenen wiederholt zwei weitere Personen an der Mahnwache teilgenommen. Die Besucher der Beratungsstelle hätten geäußert, dass sie sich durch das Handeln des Beigeladenen und seiner Mitstreiter gestört, eingeschüchtert und in ihrer Anonymität verletzt fühlten. Die Mitarbeiter empfänden die Mahnwache als unangenehme Überwachungsmaßnahme. Gegenüber der Teilnehmerin einer Gegenkundgebung und dem Leiter der Einrichtung habe sich der Beigeladene beleidigend geäußert. Der Antragsteller führt unter Wiedergabe der Rechtsprechung des VG Karlsruhe (B.v. 27.3.2019 - 2 K 1979/19 - NVwZ 2019, 897) aus, dass die Mahnwache die öffentliche Sicherheit gefährde. Die Grundrechte der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit aufseiten des Beigeladenen und der anderen Versammlungsteilnehmer müssten gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Klienten des Antragstellers und dasjenige seiner Mitarbeiter abgewogen werden. Hierbei verdiene insbesondere das Recht der Besucher auf informationelle Selbstbestimmung Beachtung. Der Innenbereich freier Persönlichkeitsentfaltung - gerade der schwangeren Frau - werde durch die Gebetsmahnwache verletzt, weil ein provozierender, angriffsgleicher Sichtkontakt stattfinde. Ziel sei es offenkundig, die Besucher der Beratungsstelle zu diffamieren und zu vertreiben. In der vergangenen Woche seien dementsprechend mehrfach Termine abgesagt worden. Damit beeinträchtige die Mahnwache das Beratungskonzept des Antragstellers nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz. Insgesamt führe die Mahnwache daher zu einer unzumutbaren Situation, zumal die betreffenden Frauen wegen der für einen Schwangerschaftsabbruch zu beachtenden Fristen nicht bis zum Ende der Veranstaltung zuwarten könnten. Im Übrigen sei das Handeln des Beigeladenen als nach § 118 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) unzulässige Belästigung der Öffentlichkeit einzuordnen und stelle eine nicht genehmigte Sondernutzung dar. Der Antragsteller habe selbst um Rechtsschutz nachgesucht, weil seine Klienten ihre Rechte nicht geltend machen könnten, ohne ihre in § 6 Abs. 2 SchKG gewährleistete Anonymität zu verlieren.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Beigeladenen seine am 23.9.2020 begonnene vierzigtägige Mahnwache in direktem Sichtkontakt zur Beratungsstelle des Antragstellers in der L1. straße 9 in P. zu untersagen,
hilfsweise, die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Beigeladenen für seine am 23.9.2020 begonnene vierzigtägige Mahnwache für die Zeit von Montag bis Freitag von 8:00 Uhr bis 16:30 Uhr sowie Mittwoch von 16:30 bis 18:00 Uhr einen Ort ohne direkten Sichtkontakt zum Eingang des Gebäudes L1. straße 9 in P. zuzuweisen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
In tatsächlicher Hinsicht sei darauf hinzuweisen, dass der Ort der Mahnwache von der Antragsgegnerin und der Polizei regelmäßig kontrolliert werde. Die Behauptung des Antragstellers, der Beigeladene und weitere anwesende Personen machten sich Notizen und sprächen Passanten an, werde nicht durch die eidesstattlichen Versicherungen untermauert. Zwar seien in der Vergangenheit Aufschriften an Hauswänden festgestellt worden, diese hätten sich aber gegen den Beigeladenen und seine Mitstreiter gerichtet. Rechtlich habe die Antragsgegnerin - wie bei den vorangegangenen Mahnwachen - eine intensive Prüfung durchgeführt, in deren Rahmen die betroffenen Grundrechte abgewogen worden seien. Dabei sei insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht der beim Antragsteller ratsuchenden Personen berücksichtigt worden. Eine Versammlung habe der Beigeladene nicht angezeigt; eine „Genehmigung“ durch die Antragsgegnerin habe es folglich nicht gegeben. Versammlungsrechtliche Maßnahmen kämen daher nicht in Betracht. Dass die Anwesenheit zweier Personen am 27.9.2020 ein Sicherungsbedürfnis begründe, sei ebenfalls zweifelhaft, weil es sich um einen Sonntag gehandelt habe. Die Mahnwache stelle keine Sondernutzung, sondern einen zulassungsfreien Gemeingebrauch dar. Es fehle zudem an der von § 118 OWiG vorausgesetzten grob ungehörigen Handlung. Für ein sicherheitsbehördliches Einschreiten fehle damit die Rechtsgrundlage.
Das Gericht hat den Veranstalter der Mahnwache mit Beschluss vom 6.10.2020 zum Verfahren beigeladen. Dieser beantragt sinngemäß,
den Antrag abzulehnen und trägt vor, dass er mit der Veranstaltung auf friedliche und zurückhaltende Weise von seiner Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit Gebrauch mache. Weder spreche er aktiv Personen an, noch verteile er Informationsmaterial. Die Versammlungsfreiheit schütze unter anderem sein Recht, über Ort, Zeit, Art und Inhalt der Veranstaltung selbst zu bestimmen. Die Mahnwache gerade vor der Beratungsstelle bilde den Wesenskern seines Anliegens, weshalb eine Ortsverlegung unverhältnismäßig wäre. Das Verwaltungsgericht München (U.v. 12.5.2016 - M 22 K 15.4369 - juris) habe vor diesem Hintergrund festgehalten, dass eine sensible Gehsteigberatung Schwangerer zulässig sei. Umso weniger könne gegen die Mahnwache des Beigeladenen eingeschritten werden. Dessen Sichtkontakt von der anderen Straßenseite aus gefährde nicht die Anonymität der Ratsuchenden und erfolge auch nicht in der Absicht, sie anzuprangern oder zu stigmatisieren.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte mit den eingereichten Schriftsätzen und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig (dazu 1.) aber unbegründet (dazu 2.).
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Insbesondere verfügt der Antragsteller über die erforderliche Antragsbefugnis. Auch im Rahmen des § 123 VwGO gilt der aus § 42 Abs. 2 VwGO abgeleitete Grundsatz, dass nur derjenige Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann, der geltend macht, in einem subjektiven Recht verletzt zu sein (Bostedt in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, § 123 VwGO Rn. 30). In Situationen, in denen der Rechtsschutzsuchende behördliches Handeln begehrt, setzt die Klagebeziehungsweise Antragsbefugnis voraus, dass ein Anspruch auf die begehrte Maßnahme substantiiert behauptet wird (Wahl/Schütz in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 42 Abs. 2 Rn. 71).
Dieser Maßstab ist vorliegend erfüllt. Der Antragsteller trägt vor, dass das Funktionieren der von ihm betriebenen Beratungsstelle durch die Mahnwache des Beigeladenen eingeschränkt werde. Er könne vor diesem Hintergrund unter anderem seinen Aufgaben aus § 2 und §§ 5 ff. SchKG nicht mehr uneingeschränkt nachkommen. Es erscheint aufgrund dieses Vorbringens möglich, dass der Antragsteller jedenfalls auf Basis des Sicherheitsrechts einen Anspruch auf behördliches Einschreiten gegen die Mahnwache besitzt. Der Antragsteller bietet Leistungen in den Bereichen Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung und nimmt insoweit jedenfalls die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG in Anspruch, die ihrem Wesen nach auf ihn Anwendung findet (BVerfG, U.v. 29.7.1959 - 1 BvR 394/58 - NJW 1959, 1675). Er erfüllt damit zudem einen vom Gesetzgeber im Schwangerschaftskonfliktgesetz vorgesehenen Auftrag. Die Sicherstellung der von ihm angebotenen Leistungen obliegt infolge der Bestimmung des § 8 Satz 1 SchKG ausdrücklich der staatlichen Gewalt; im Rahmen des § 4 SchKG hat der Antragsteller Anspruch auf öffentliche Förderung. Die Kammer hält es bei dieser Sachlage für möglich, dass der Antragsteller bei Eingriffen Dritter in die freie Ausübung seiner Beratungstätigkeit gegen die jeweils zuständigen staatlichen Stellen Anspruch auf Schutz hat (vgl. Wahl/Schütz in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 42 Abs. 2 Rn. 61 f.). Ob und in welchem Umfang ein solcher Schutzanspruch tatsächlich besteht, ist nicht schon auf Ebene der Antragsbefugnis, sondern erst im Rahmen der Begründetheit zu klären.
2. Der hiernach zulässige Antrag ist unbegründet. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist begründet, wenn der Antragsteller gemäß § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO die Tatsachen glaubhaft gemacht hat, aus denen sich der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund ergeben. Dabei bezeichnet der Anordnungsanspruch denjenigen materiell-rechtlichen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (BVerwG, B.v. 21.1.1994 - 7 VR 12/93 - NVwZ 1994, 370). Ergibt eine summarische Prüfung des betreffenden Begehrens, dass der Antragsteller in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein wird, dann ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs zu bejahen (BVerfG, B.v. 25.10.1998 - 2 BvR 745/88 - NJW 1989, 827; BayVGH, B.v. 23.7.2012 - 11 AE 12.1013 - juris Rn. 27). Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der Notwendigkeit, schon vor einer gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache Rechtsschutz zu gewähren (BayVGH, B.v. 19.2.2018 - 10 CE 17.2258 - juris Rn. 7). Wird die Anordnung zur Sicherung eines bestehenden Zustands begehrt, dann ist ein Anordnungsgrund gegeben, wenn durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Soll die gerichtliche Entscheidung hingegen zur vorläufigen Regelung eines streitigen Rechtsverhältnisses erfolgen, dann ist ein Anordnungsgrund zu bejahen, wenn die Anordnung nötig ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, dann ist abschließend zu beachten, dass die einstweilige Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache in der Regel nicht endgültig vorwegnehmen darf (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 66a).
Der Antragsteller hat indes schon keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Denn der im Hauptantrag geltend gemachte Anspruch auf Untersagung der Mahnwache besteht nicht (dazu a)). Ein Anspruch auf Verlegung der Mahnwache an einen anderen Ort, wie er dem Hilfsantrag zugrunde liegt, kann zwar im Einzelfall gegeben sein; er stünde aber nicht dem Antragsteller, sondern allenfalls bestimmten der in seiner Einrichtung Ratsuchenden zu (dazu b)).
a) Ein Anspruch, die Mahnwache des Beigeladenen vollständig zu untersagen, scheidet aus. Weder das Versammlungsrecht (dazu aa)) noch das Sicherheitsrecht (dazu bb)) bilden für ein derartiges Behördenhandeln eine tragfähige Grundlage.
aa) Als Rechtsgrundlage für das vom Antragsteller begehrte versammlungsbehördliche Einschreiten käme allein Art. 15 Abs. 4 Bayerisches Versammlungsgesetz (BayVersG) in Betracht. Hiernach kann die zuständige Behörde eine Versammlung unter anderem dann auflösen, wenn die Voraussetzungen für eine Beschränkung oder ein Verbot nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG vorliegen.
Die Kammer kann an dieser Stelle offenlassen, inwieweit sich die Veranstaltung des Beigeladenen als Versammlung darstellt (dazu aaa)). Denn es ist zwar möglich, dass Versammlungen im räumlichen Umgriff von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Einzelfall gefährden (dazu bbb)). Art. 15 Abs. 4 BayVersG rechtfertigt in solchen Fällen aber keine vollständige Untersagung (dazu ccc)).
aaa) Für die Zwecke des vorliegenden Eilverfahrens kann offenbleiben, in welchen Grenzen der Anwendungsbereich des Versammlungsrechts überhaupt eröffnet wäre. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 15 Abs. 4 BayVersG ist, dass es sich bei der Veranstaltung des Beigeladenen überhaupt um eine Versammlung handelt. Als solche definiert Art. 2 Abs. 1 BayVersG eine Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.
Der Beigeladene hält seine Mahnwache nach den vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen aber weit überwiegend alleine ab. Lediglich für den 27.9.2020, einen Sonntag, lässt sich nach dem Akteninhalt sicher feststellen, dass eine weitere Person an der Veranstaltung teilnahm. Eine der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen berichtet zudem, dass in unregelmäßigen Abständen weitere Personen vor der Beratungsstelle stünden, ohne dies näher zu konkretisieren. Nur für diese Zeiträume kämen versammlungsrechtliche Maßnahmen dem Grunde nach überhaupt in Betracht. Es bedarf in dieser Hinsicht aber keiner näheren Ermittlungen, denn ein versammlungsbehördliches Einschreiten scheidet bereits aus den im Folgenden dargestellten Gründen aus.
bbb) Art. 15 Abs. 4 BayVersG als mögliche Rechtsgrundlage für eine Versammlungsauflösung knüpft an eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung an. Für die Auflösung bleibt die Antragsgegnerin auch nach Beginn der Versammlung neben der Polizei zuständig (zur abweichenden Rechtslage vor dem 1.12.2015 vgl. BayVGH, U.v. 22.9.2015 - 10 B 14.2242 - juris Rn. 68 ff.). Der in Art. 15 Abs. 1 genannte Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst neben der Unversehrtheit der Rechtsordnung insbesondere auch den Schutz der subjektiven Rechte und Rechtsgüter Dritter (BayVGH, B.v. 7.10.2016 - 10 CS 16.1468 - Rn. 26). Geschützt ist namentlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht (HessVGH, B.v. 7.12.1993 - 3 TG 2347/93 - NJW 1994, 1750). Die Behörde darf von einer unmittelbaren Gefährdung nicht schon bei bloßen Verdachtsmomenten oder Vermutungen ausgehen, sondern hat zu prüfen, ob konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Eintritt eines Schadens führen (BayVGH, U.v. 10.7.2018 - 10 B 17.1996 - juris Rn. 26). Das von Art. 8 Abs. 1 GG gewährte Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters über Ort und Zeit der Veranstaltung wird insoweit durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt (BVerfG, B.v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 - juris Rn. 63). Kollidieren auf diese Weise im Einzelfall geschützte Rechtspositionen, hat sie die Versammlungsbehörde bei ihrer Entscheidung im Wege praktischer Konkordanz gegeneinander abzuwägen und in Ausgleich zu bringen (BayVGH, B.v. 7.10.2016 - 10 CS 16.1468 - Rn. 34, 41). Sie muss dabei sicherstellen, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit alle beteiligten Positionen in möglichst umfangreicher Weise zur Verwirklichung gelangen (BayVGH, B.v. 24.2.2017 - 10 ZB 15.1803 - juris Rn. 10). Daraus folgt zugleich, dass die Auflösung oder das Verbot einer Versammlung nur als letztes Mittel zulässig sind (BayVGH, B.v. 7.10.2016 - 10 CS 16.1468 - Rn. 39).
Vor diesem Hintergrund kommt ein behördliches Einschreiten gegen Versammlungen im örtlichen Umfeld von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen prinzipiell in Betracht. Denn jedenfalls bestimmte Formen entsprechender Versammlungen begründen unmittelbare Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Betroffen ist jeweils das allgemeine Persönlichkeitsrecht der dort Schwangerschaftskonfliktberatung in Anspruch Nehmenden, das durch den gesetzlichen Auftrag der Beratungseinrichtungen angereichert und verstärkt wird. Das in Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst den Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre und garantiert dem Einzelnen einen Raum freier Persönlichkeitsentfaltung, in dem er „sich selbst besitzt“ (Di Fabio in Maunz/Dürig, GG, Stand Februar 2020, Art. 2 Abs. 1 Rn. 149). Es belässt dem Individuum damit eine Freiheitssphäre, in die er sich zurückziehen kann, zu der die Umwelt keinen Zutritt hat und in der er in Ruhe gelassen wird (BVerfG, B.v. 16.7.1969 - 1 BvL 19/63 - NJW 1969, 1707). Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat einen Eingriff in diesen Rückzugsraum etwa dann angenommen, wenn von einer Insolvenz Betroffene sich über längere Zeit vor dem Wohnhaus des früheren Geschäftsführers versammeln (B.v. 7.12.1993 - 3 TG 2347/93 - NJW 1994, 1750). Zum Freiheitsraum der Persönlichkeitsentfaltung gehört aber nicht nur ein räumlich-gegenständlicher Bereich, es zählen dazu auch alle Themen der engeren Lebensführung, deren Erörterung in der Öffentlichkeit als peinlich oder zumindest unschicklich empfunden wird (VGH BW, U.v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 - juris Rn. 46).
Die Schwangerschaft und etwaige Schwangerschaftskonflikte sind als Teil dieses Rückzugsbereichs privater Lebensführung besonders geschützt (VGH BW, B.v. 10.6.2011 - 1 S 915/11 - NJW 2011, 2532/2533; U.v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 - juris Rn. 47; VG Freiburg, B.v. 4.3.2011 - 4 K 314/11 - juris Rn. 13; VG Karlsruhe, B.v. 27.3.2019 - 2 K 1979/19 - NVwZ 2019, 897/899 f.). Sie betreffen jedenfalls die Privatsphäre, wenn man sie nicht - wie ursprünglich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, U.v. 25.2.1975 - 1 BvF 1/74 u.a. - NJW 1975, 573/575) - sogar der Intimsphäre zuordnen will. Die Schwangerschaft allgemein, besonders aber ihr Beginn, bedeutet für die Schwangere eine besondere emotionale Lage, die zu schweren Konfliktsituationen führen kann. Im Einzelfall können Umstände vorliegen, die es der Betroffenen subjektiv unmöglich erscheinen lassen, das Kind auszutragen. In dieser höchstpersönlichen seelischen Konfliktlage stehen nicht allein objektive Gesichtspunkte, sondern gerade auch psychische und physische Befindlichkeiten und Eigenschaften im Mittelpunkt (BVerfG, U.v. 28.5.1993 - 2 BvF 2/90 u.a. - NJW 1993, 1751/1756). Daneben wirken die individuellen Lebensumstände und die Lebensplanung, die familiäre Situation und die Beziehung der Schwangeren zu ihrem heranwachsenden Kind auf ihre Lage und ihre Entscheidung ein (VGH BW, U.v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 - juris Rn. 47). All diese Umstände berühren in besonderer Weise den Kern der Persönlichkeit.
Gerade vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber (unter anderem) Frauen in der genannten Ausnahmesituation ein Recht auf fachkundige Beratung und Unterstützung eingeräumt (§ 2, § 6 SchKG) und ihnen für den Fall des Schwangerschaftsabbruchs zugleich die Pflicht auferlegt, die Beratung einer hierfür qualifizierten Einrichtung in Anspruch zu nehmen (§ 218a, § 219 Strafgesetzbuch). Die anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen sind damit integraler Bestandteil dieses gerade dem Schutz ungeborenen Lebens dienenden Systems (BVerfG, U.v. 28.5.1993 - 2 BvF 2/90 u.a. - NJW 1993, 1751/1756). Es kann seine Aufgabe nur dann vollständig erfüllen, wenn eine ausreichende Versorgung mit Beratungsstellen besteht und der freie Zugang Ratsuchender gewährleistet ist. Zu Recht hat der Gesetzgeber daher die Gewährleistung eines ausreichenden Versorgungsniveaus den staatlichen Stellen anvertraut (§ 8 Satz 1 SchKG). Er hat zugleich mögliche emotionale Hürden bei der Inanspruchnahme von Beratungsleistungen dadurch abgebaut, dass er Hilfesuchenden die Möglichkeit anonymer Beratung eingeräumt hat (§ 6 Abs. 2 SchKG). Der gesetzgeberischen Grundentscheidung, die rechtliche Seite des gesellschaftlichen Konflikts über die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs mit dem Schwangerschaftskonfliktgesetz aufzulösen, kann letztlich aber nur dann volle Wirksamkeit zukommen, wenn Ratsuchende auch im Übrigen frei von physischen oder psychischen „Blockaden“ Zugang zu den Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen haben. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass es bei der Beurteilung von Veranstaltungen in der Nähe einer Schwangerschaftsabbrüche vornehmenden Arztpraxis auch darauf ankommt, ob sie den Besuch für die Betroffenen zu einem „Spießrutenlauf“ machen oder nicht (BVerfG, B.v. 8.6.2010 - 1 BvR 1745/06 - NJW 2011, 47/48 f.; ebenso VG Karlsruhe, B.v. 27.3.2019 - 2 K 1979/19 - NVwZ 2019, 897/900).
Die Kammer hält angesichts dessen dafür, dass Veranstaltungen im räumlichen Umgriff von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen unter bestimmten Voraussetzungen Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Personen, die dort Schwangerschaftskonfliktberatung in Anspruch nehmen wollen, darstellen können. Vor diesem Hintergrund kann im Einzelfall die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet sein mit der Folge, dass ein versammlungsbehördliches Einschreiten zulässig ist (ebenso VG Karlsruhe, B.v. 27.3.2019 - 2 K 1979/19 - NVwZ 2019, 897).
ccc) Die Kammer braucht an dieser Stelle aber nicht der Frage nachzugehen, ob von der konkreten Veranstaltung des Beigeladenen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Denn jedenfalls würden solche Gefahren keine Auflösung der Versammlung rechtfertigen. Das Gericht hat bereits dargestellt, dass durch die Mahnwache eine Situation widerstreitender rechtlicher Gewährleistungen geschaffen wird. Der Beigeladene kann sich auf seine Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG und - soweit andere Personen an der Mahnwache teilnehmen - auch auf die Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG berufen. Dem gegenüber steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht der in der Beratungsstelle tatsächlich oder potenziell ratsuchenden Schwangeren. Dessen Stellenwert wird durch die staatliche Gewährleistung der Schwangerschaftskonfliktberatung nochmals erhöht.
Die gegenläufigen Rechtspositionen hat die Versammlungsbehörde in einer Weise in Ausgleich zu bringen, die allen möglichst weitgehend zur Geltung verhilft. Der mögliche Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht beruht - wie oben dargestellt - gerade darauf, dass von Versammlungen vor Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen eine stigmatisierende und anprangernde Wirkung ausgehen kann, die den Zugang zu Beratung faktisch erschwert. Diese Auswirkungen lassen sich dadurch beseitigen oder vermindern, dass der Versammlung ein von der Einrichtung entfernterer Ort zugewiesen wird. Auf diese Weise wird es den Ratsuchenden ermöglicht, die Beratungsstelle ohne Einwirkung vonseiten der Versammlungsteilnehmer aufzusuchen. Die nur als letztes Mittel zulässige Auflösung einer Versammlung kann bei einer solchen Sachlage nicht in Betracht kommen, weil sich der mögliche Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die weniger einschneidende Maßnahme der Ortsverlegung vermeiden oder zumindest zumutbar begrenzen lässt. Der behauptete Anspruch auf Auflösung der „Versammlung“ scheidet angesichts dessen aus.
bb) Der im Hauptantrag geltend gemachte Anspruch auf Untersagung der Mahnwache lässt sich auch nicht aus dem Sicherheitsrecht ableiten. Zwar bildet Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 Landesstraf- und Verordnungsgesetz (LStVG) in Verbindung mit § 118 OWiG hierfür grundsätzlich eine taugliche Rechtsgrundlage (dazu aaa)). Allerdings ließe sich die begehrte Untersagung nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang bringen (dazu bbb)).
aaa) Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG kommt als Grundlage für eine Untersagung der Mahnwache prinzipiell in Betracht. Die Vorschrift ermächtigt die Sicherheitsbehörden - zu denen die Antragsgegnerin nach Art. 6 LStVG zählt - Anordnungen zu treffen, um rechtswidrige Taten, die den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit verwirklichen, zu unterbinden.
Erfolglos behauptet der Antragsteller, die Mahnwache stelle eine unerlaubte Sondernutzung der Gehsteigfläche dar, weshalb die Sicherheitsbehörde einschreiten dürfe. Diese Argumentation verkennt, dass es dem Beigeladenen und seinen Mitstreitern gerade darauf ankommt, Anderen ihre Auffassung zum Schwangerschaftsabbruch kundzugeben. Sie nutzen damit den Straßenraum nicht etwa zu erwerbswirtschaftlichen Zwecken, sondern vielmehr zur Kommunikation. Gerade vor dem Hintergrund der Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 GG zählt auch der sogenannte kommunikative Verkehr zum zulassungsfreien Gemeingebrauch nach Art. 14 Abs. 1 Bayerisches Straßen- und Wegegesetz (Wiget in Zeitler, BayStrWG, Stand März 2020, Art. 14 Rn. 38). Die Inanspruchnahme des Gehwegs durch die Mahnwache stellt daher keine Sondernutzung dar (VG München, U.v. 12.5.2016 - M 22 K 15.4369 - juris Rn. 27 ff.; für das baden-württembergische Straßen- und Wegerecht VGH BW, U.v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 - juris Rn. 42) und ermöglicht folglich kein behördliches Tätigwerden.
Der Antragsteller macht weiter geltend, die Mahnwache stelle eine Belästigung der Allgemeinheit im Sinne des § 118 OWiG dar. Danach handelt ordnungswidrig, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Die Kammer hält dafür, dass bestimmte Formen von Veranstaltungen im räumlichen Umgriff von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen den Tatbestand des § 118 OWiG erfüllen können. Die Norm erfordert ein Tun oder Unterlassen, das sich bewusst nicht in die für das gedeihliche Zusammenleben der jeweiligen Rechtsgemeinschaft erforderliche Ordnung einfügt und dadurch im deutlichen Widerspruch zur Gemeinschaftsordnung steht (OLG Karlsruhe, U.v. 27.8.1969 - Ss 151/69 - NJW 1970, 64). Auch gegen Einzelpersonen gerichtete, grob ungehörige Handlungen können die Allgemeinheit belästigen oder gefährden, wenn die Handlung für die Allgemeinheit unmittelbar wahrnehmbar und so geartet ist, dass als Folge der Wahrnehmung eine unmittelbare Belästigung oder Gefährdung auch der Allgemeinheit in Betracht kommt (Senge in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 118 Rn. 6). Die zusätzlich geforderte Eignung zur Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung betrifft die Gesamtheit der sozialen Normen über das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach - durch die grundrechtlichen Wertmaßstäbe geprägter - mehrheitlicher Anschauung unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens ist (BVerfG, U.v. 20.6.2014 - 1 BvR 980/13 - NJW 2014, 2706/2708).
Das Gericht hat bereits dargestellt, dass bestimmte Formen von Veranstaltungen in der räumlichen Nähe von Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Frauen darstellen können, die von einem Schwangerschaftskonflikt betroffen sind und diese Einrichtungen aufsuchen wollen. Mitunter folgt der Eingriff daraus, dass die Ratsuchenden ungefragt auf eine Schwangerschaft angesprochen werden und - teils mittels drastischer Darstellungen - an einem Schwangerschaftsabbruch gehindert werden sollen (VGH BW, B.v. 10.6.2011 - 1 S 915/11 - NJW 2011, 2532/2533; U.v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 - juris Rn. 47 ff.; VG Freiburg, B.v. 4.3.2011 - 4 K 314/11 - juris Rn. 18). Die spezifische Problematik solcher Aktivitäten kann aber auch darin liegen, dass Ratsuchende durch „stille Vorhaltungen“ von vor der Beratungsstelle Protestierenden vom Besuch solcher Einrichtungen und damit letztlich von einem Schwangerschaftsabbruch abgehalten werden sollen (VG Karlsruhe, B.v. 27.3.2019 - 2 K 1979/19 - NVwZ 2019, 897/900).
Zugleich können im Einzelfall die übrigen Tatbestandsmerkmale des § 118 OWiG erfüllt sein. Denn das betreffende Verhalten kann auf eine größere Gruppe von Menschen abzielen, für die es zumindest eine Belästigung bedeutet und dadurch Relevanz für die Allgemeinheit besitzen, insbesondere wenn es - etwa in Fällen, in denen der Zugang zu Einrichtungen im Sinne des § 9 SchKG faktisch behindert wird - die vom Gesetzgeber getroffene Grundentscheidung für das System der Schwangerschaftskonfliktberatung negiert. Damit setzen sich die handelnden Personen nicht nur in Widerspruch zum von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz des Kernbereichs des Persönlichkeit, sondern auch zur Entscheidung des Gesetzgebers, der das Recht und die Pflicht zu einer entsprechenden Beratung vorgesehen hat. Die Kammer geht angesichts dessen davon aus, dass bestimmte Formen der genannten Veranstaltungen auch geeignet sind, die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Wertentscheidungen des Grundgesetzes im Rahmen dieser Prüfung besonders zu beachten (U.v. 20.6.2014 - 1 BvR 980/13 - NJW 2014, 2706/2708). Das Verwaltungsgericht München hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass die Achtung vor dem menschlichen - auch ungeborenen - Leben und dessen Schutz einen Höchstwert des Grundgesetzes darstellen (U.v. 12.5.2016 - M 22 K 15.4369 - juris Rn. 32). Es hat zugleich zurecht betont, dass das System der Schwangerschaftskonfliktberatung private Initiativen zum Schutz ungeborenen Lebens nicht ausschließe (VG München, U.v. 12.5.2016 - M 22 K 15.4369 - juris Rn. 34). Ein entsprechendes Engagement genießt den grundrechtlichen Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG und unter Umständen auch denjenigen des Art. 8 Abs. 1 GG. Zu beachten ist dabei aber, dass Art. 5 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar das Äußern von Meinungen, nicht hingegen Tätigkeiten schützt, mit denen Anderen eine Meinung - mit nötigenden Mitteln - aufgedrängt werden soll (B.v. 8.6.2010 - 1 BvR 1745/06 - NJW 2011, 47/48). Den genannten Rechtspositionen steht aufseiten der betroffenen Frauen das von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht gegenüber. Dessen Stellenwert wird dadurch erhöht, dass der Gesetzgeber im Schwangerschaftskonfliktgesetz das Recht und die Pflicht zu einer entsprechenden Beratung vorgesehen hat. Damit greifen sowohl zugunsten des Beigeladenen als auch zugunsten der betroffenen Ratsuchenden grundrechtliche Gewährleistungen ein. Dies schließt eine drohende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung gleichwohl nicht aus. Es bedarf vielmehr einer umfassenden Prüfung aller Umstände des Einzelfalls, um zu ermitteln, ob die konkret in Rede stehende Handlung geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen oder nicht.
Aus Sicht der Kammer hängt die mögliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung maßgeblich davon ab, wie sehr in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Ratsuchenden eingegriffen und in welchem Umfang die staatlich gewährleistete Schwangerschaftskonfliktberatung beeinträchtigt wird. Die Schwelle einer zur Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung geeigneten Handlung ist jedenfalls erreicht, wenn der Betreffende für sich in Anspruch nimmt, die Schwangerschaftskonfliktberatung verhindern und das allgemeine Persönlichkeitsrecht negieren zu dürfen. Die mit der konkreten Handlung verbundene Eingriffsintensität richtet sich unter anderem danach, ob es zum Konzept der Veranstaltung gehört, die Ratsuchenden auf eine etwaige Schwangerschaft und einen diesbezüglichen Konflikt anzusprechen. Denn durch ein solches Vorgehen wird der von einem Schwangerschaftskonflikt Betroffenen die Erörterung dieser Konfliktlage unmittelbar und ungefragt aufgenötigt. Es entsteht eine von der Betroffenen nicht beabsichtigte und regelmäßig auch nicht erwünschte Situation, in der sie sich gegenüber einem unbeteiligten Fremden zu Fragestellungen erklären müssen, die den Kern der eigenen Persönlichkeit betreffen. Unzumutbar erscheint dies auch deshalb, weil bei einem derartigen Gespräch für die von einem Schwangerschaftskonflikt Betroffene häufig ein erheblicher Rechtfertigungsdruck entstehen wird. Sie wird durch diese Art der Ansprache zum Objekt einer unerwünschten „Beratungsleistung“, in deren Rahmen ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht oftmals negiert wird. Als besonders problematisch erweist es sich in diesem Zusammenhang, dass die individuelle Konfliktlage der besonders schutzbedürftigen Frau den Anlass für die intensive Erörterung einer kontrovers geführten gesellschaftlichen Diskussion bietet, die damit gleichsam auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird. Die Kammer tritt vor diesem Hintergrund der Auffassung des Baden-Württembergischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts Freiburg bei, die sogenannte Gehsteigberatungen als konkret gefährlich für die öffentliche Sicherheit und Ordnung eingestuft haben (VGH BW, B.v. 10.6.2011 - 1 S 915/11 - NJW 2011, 2532; VGH BW, B.v. 10.6.2011 - 1 S 915/11 - juris Rn. 15 ff.; VG Freiburg, B.v. 4.3.2011 - 4 K 314/11 - juris Rn. 12 ff.). Für die vom Verwaltungsgericht München bejahte Frage, ob eine „sensible“ Gehsteigberatung daneben zulässig bleiben kann (U.v. 12.5.2016 - M 22 K 15.4369 - juris Rn. 27 ff.), kommt es aus Sicht des Gerichts entscheidend auf die übrige Ausgestaltung der betreffenden Veranstaltung, namentlich auf deren Ort und Dauer, aber auch auf die Anzahl der Mitwirkenden und den Inhalt etwaig eingesetzter Medien an. Denn eine Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der öffentlichen Ordnung kann sich unabhängig von der Frage des Ansprechens aus diesen und anderen Faktoren ergeben. Gerade unter dem vom Bundesverfassungsgericht angesprochenen Gesichtspunkt des „Spießrutenlaufs“ dürfte eine Ordnungswidrigkeit umso eher vorliegen, je mehr Personen an der Veranstaltung teilnehmen und je umfangreicher, drastischer und aggressiver sich gegebenenfalls zum Einsatz gebrachte Medien oder das sonstige äußere Auftreten (etwa in Form von Sprechchören) darstellen. In diesem Rahmen wird es auch darauf ankommen, ob die Veranstaltung unmittelbar vor einer Beratungsstelle oder in einiger Entfernung davon stattfindet. Denn die erzeugte psychische Blockadewirkung ist umso größer, je unmittelbarer die Ratsuchenden in Kontakt mit den Veranstaltungsteilnehmern kommen müssen. Bedeutsam erscheint schließlich die Dauer der Aktivitäten. Je umfassender diese die Öffnungszeiten der Beratungsstelle abdecken und je länger sie andauern, umso schwerwiegender sind die Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung.
bbb) Letztlich kann die Frage, ob der Beigeladene mit seinem Verhalten den Tatbestand des § 118 OWiG erfüllt, im Rahmen des Hauptantrags aber offenbleiben. Denn der geltend gemachte Anspruch auf Untersagung der Mahnwache scheidet bereits deshalb aus, weil eine solche Maßnahme unverhältnismäßig und damit rechtswidrig wäre. Die Sicherheitsbehörde ist nach Art. 8 Abs. 1 LStVG verpflichtet, unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen zur Abwehr einer Gefahr diejenige auszuwählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt.
Das Gericht hat bereits dargestellt, dass die von der Mahnwache ausgehenden Wirkungen maßgeblich davon abhängen, wo sie stattfindet. Gerade wenn sich der Beigeladene unmittelbar vor dem Eingang der Beratungsstelle aufhält, kann auch von einer „stillen“ Präsenz eine so erhebliche psychische Blockadewirkung ausgehen, dass der Tatbestand des § 118 OWiG verwirklicht ist. Als milderes Mittel gegenüber einer Untersagung der Mahnwache käme aber jedenfalls eine auf den unmittelbaren räumlichen Umgriff der Einrichtung beschränkte Untersagung in Frage. Durch diese Zuweisung eines anderen Ortes entfiele auch eine etwaige Ordnungswidrigkeit nach § 118 OWiG. Zugleich würde das Grundrecht des Beigeladenen aus Art. 5 Abs. 1 GG erheblich weniger betroffen als im Fall einer vollständigen Untersagung. Das begehrte generelle Verbot wäre vor diesem Hintergrund nicht verhältnismäßig.
b) Der im Hilfsantrag geltend gemachte Anspruch auf Zuweisung eines anderen Ortes für die Mahnwache ist ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Zwar existieren verschiedene Rechtsgrundlagen, die eine solche Maßnahme tragen könnten (dazu aa)). Auch kommt ein subjektiver Anspruch auf behördliches Einschreiten prinzipiell in Betracht (dazu bb)). Ob dieser vorliegend besteht, kann aber offenbleiben, denn er stünde jedenfalls nicht dem Antragsteller zu (dazu cc)).
aa) Für eine behördliche Beschränkung der Mahnwache stehen prinzipiell zwei Rechtsgrundlagen zur Verfügung. Soweit der Anwendungsbereich des Bayerischen Versammlungsgesetzes eröffnet ist, kommt nach der oben bereits angesprochenen Norm des Art. 15 Abs. 1 BayVersG eine Beschränkung der Versammlung dergestalt in Betracht, dass ihr ein anderer Ort zugewiesen wird. Daneben besteht die Möglichkeit, dass die Mahnwache als Ordnungswidrigkeit nach § 118 OWiG einzuordnen sein könnte, was nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG die Möglichkeit sicherheitsbehördlichen Handelns eröffnen würde. Beide Vorschriften setzen nach den oben dargestellten Grundsätzen eine umfassende Abwägung der Umstände des Einzelfalls voraus; die beiderseits betroffenen Grundrechte müssen jeweils in angemessenen Ausgleich gebracht werden.
Auf die Frage, ob die Voraussetzungen für solche hoheitlichen Maßnahmen vorliegen, braucht an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen zu werden. Denn ein etwaiger Anspruch auf behördliches Handeln stünde nicht dem Antragsteller zu.
bb) Es ist auch durchaus möglich, dass ein subjektiv-öffentlicher Anspruch auf die begehrte Verlegung der Mahnwache besteht. Zwar eröffnet allein die Zuweisung der versammlungs- und sicherheitsbehördlichen Aufgaben an die Antragsgegnerin noch keinen individuellen Anspruch auf behördliches Einschreiten. Ein solcher kann aber im Einzelfall dennoch bestehen.
Zu Unrecht verweist die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang darauf, dass sie bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten dem Opportunitätsprinzip unterliege (§ 47 Abs. 1 Satz 1 OWiG). Denn der Antragsteller erstrebt mit seiner Argumentation auf Basis des § 118 OWiG nicht den Erlass eines Bußgeldbescheids gegen den Beigeladenen, sondern begehrt eine sicherheitsrechtliche Anordnung. Richtig ist indes, dass der Antragsgegnerin auch als Sicherheitsbehörde ein Entschließungs- und Auswahlermessen zukommt. Vor dem Hintergrund des vom Sicherheitsrecht mitbezweckten Individualschutzes kann sich das behördliche Ermessen aber auf null reduzieren; die Behörde ist dann zum Tätigwerden verpflichtet (Holzner in Möstl/Schwabenbauer, BeckOK Sicherheits- und Polizeirecht Bayern, Stand 1.8.2020, Art. 7 LStVG Rn. 111 f.).
Angesichts der diskutierten Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Schwangeren in Konfliktsituationen kann im Einzelfall ein Anspruch auf sicherheitsbehördliches Einschreiten durchaus in Betracht kommen. Dabei ist auch zu bedenken, dass den bei einer Beratungsstelle Ratsuchenden die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes regelmäßig nicht zugemutet werden kann (VGH BW, B.v. 10.6.2011 - 1 S 915/11 - NJW 2011, 2532/2533 f.; U.v. 11.10.2012 - 1 S 36/12 - juris Rn. 71 f.; VG Freiburg, B.v. 4.3.2011 - 4 K 314/11 - juris Rn. 8 f.). Denn in einem zu führenden Gerichtsverfahren müsste wiederum eine Beiladung des Veranstalters der Mahnwache zu erfolgen. Damit würde sich die betreffende Schwangere in ganz besonderer und für sie unzumutbarer Weise gegenüber dem Beigeladenen identifizieren und exponieren. Hinzu kommt, dass wegen der geltenden gesetzlichen Fristen ein erheblicher Eilbedarf besteht und die Betroffene ihre Anstrengungen in der Regel darauf konzentrieren wird, andernorts einen Beratungstermin zu erhalten. Für eine gerichtliche Erzwingung behördlichen Einschreitens dürften ihr gerade angesichts des bestehenden höchstpersönlichen Konflikts die Kapazitäten fehlen. Zugleich kommt eine spätere Klärung wegen der Einmaligkeit der Situation regelmäßig nicht mehr in Betracht. Damit ist die Behörde mit einer Sachlage konfrontiert, in der es ohne ihr Eingreifen zu Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kommt. Zugleich kann sie damit rechnen, dass gerichtlicher Rechtsschutz gegen ihre Untätigkeit wegen der besonderen Situation der in ihren Rechten Verletzten unterbleibt. In einer derartigen Konstellation wird sich das behördliche Ermessen regelmäßig weit an eine Pflicht zum Einschreiten annähern.
cc) Dessen ungeachtet kann das Gericht die begehrte einstweilige Anordnung schon deshalb nicht aussprechen, weil ein etwaiger Anspruch auf behördliches Einschreiten gegen die Mahnwache nicht dem Antragsteller als anerkannter Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle zustünde. Denn ein solcher Anspruch fände seine Grundlage entweder in Art. 15 Abs. 1 BayVersG oder in Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG in Verbindung mit § 118 OWiG. In beiden Fällen würde letztlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht der von einem Schwangerschaftskonflikt Betroffenen die Grundlage behördlichen Handelns bilden. Die Argumentation des Antragstellers, die in weiten Teilen auf die Rechtspositionen der Schwangeren Bezug nimmt, spiegelt dies wider.
Es trifft zu, dass der Gesetzgeber die Schutzwürdigkeit des in Rede stehenden Rechtsguts aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG noch verstärkt hat, indem er im Schwangerschaftskonfliktgesetz ein System der Beratung durch anerkannte Einrichtungen geschaffen hat. Den Betroffenen hat er ein Recht auf Zugang zu derartigen Stellen eingeräumt und ihnen die Pflicht zur Inanspruchnahme solcher Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch auferlegt. Die Funktionsfähigkeit entsprechender Einrichtungen und der Zugang zu ihnen sind vor diesem Hintergrund besonders geschützt; Eingriffe können Schutzpflichten seitens des Staates auslösen. Den Beratungsstellen selbst hat der Gesetzgeber in § 4 SchKG einen Anspruch auf staatliche Förderung eingeräumt. Das heißt aber nicht, dass diese Einrichtungen selbst das oben dargestellte Recht hätten, von Mahnwachen und anderen kritischen Veranstaltungen verschont zu werden. Denn es bleibt unübersehbar, dass das System der Schwangerschaftskonfliktberatung nicht etwa im Interesse der Beratungsstellen selbst, sondern im Interesse des ungeborenen Lebens und der Schwangeren besteht. Auch der Förderanspruch der Einrichtungen, der insbesondere eine angemessene Personalausstattung in Abhängigkeit von der Einwohnerzahl umfasst, fördert gerade diesen Zweck: Es soll sichergestellt werden, dass Schwangere in Konfliktsituationen und andere Ratsuchende in angemessener Zeit und in dem nötigen Umfang Hilfe und Unterstützung erfahren. Die Existenz der Beratungsstellen ist damit kein Selbstzweck; sie erfüllen in staatlichem Auftrag einen Dienst (unter anderem) an den von einem Schwangerschaftskonflikt Betroffenen. Angesichts dieser eindeutigen Schutzrichtung muss ein eigener Anspruch der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen auf Beschränkung von Mahnwachen und ähnlichen kritischen Aktivitäten verneint werden.
Es fehlt zudem das Merkmal der höchstpersönlichen Konfliktsituation, die den besonderen Schutz der betreffenden Schwangeren nach den oben dargestellten Prinzipien gerade begründet. Die Einrichtungen selbst sind durch Mahnwachen oder andere Formen des Protests nicht in einer höchstpersönlichen Entscheidung über den Abbruch einer Schwangerschaft betroffen; auch Erschwernisse im freien und ungehinderten Zugang haben für sie keinen persönlichkeitsbezogenen Charakter. Die stigmatisierende Wirkung einer Mahnwache vor der Beratungsstelle trifft sie nicht in vergleichbarem Maße, denn sie können und müssen sich nicht für eine individuelle Entscheidung zu einer eigenen Schwangerschaft rechtfertigen. Damit mag der Antragsteller durch die Mahnwache zwar möglicherweise faktisch berührt werden, etwa durch einen Rückgang bei den wahrgenommenen Beratungsterminen oder dadurch, dass seine Mitarbeiter die Anwesenheit des Beigeladenen vor der Beratungsstelle als unangenehm empfinden. Aber selbst wenn man den Antragsteller dadurch in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG betroffen sähe, so erreichte die damit verbundene Einschränkung doch keinesfalls das Maß des Eingriffs in die Privatsphäre der von einem Schwangerschaftskonflikt Betroffenen und bliebe damit hinter dem zurück, was für einen Anspruch auf behördliches Einschreiten erforderlich wäre.
Folglich steht dem Antragsteller selbst kein eigener Anspruch auf Verlegung der Mahnwache zu. Weiter ist es ihm verwehrt, die Ansprüche seiner Klienten als deren Sachwalter geltend zu machen. Denn Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten soll nach der Grundentscheidung des § 42 Abs. 2 VwGO nur demjenigen offenstehen, dessen eigene Rechte durch die in Rede stehenden Maßnahmen beeinträchtigt sein können. Damit kommt eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers nicht in Betracht.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen dem Antragsteller aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 VwGO). Denn zum einen hat der Beigeladene selbst einen Antrag gestellt und sich damit einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO), zum anderen ist das Gericht dem Antrag des Antragsgegners und des Beigeladenen in der Sache gefolgt.
4. Rechtsgrundlage der Streitwertfestsetzung sind § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz. Die Kammer hat von der in Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehenen Halbierung des Streitwerts im Eilverfahren keinen Gebrauch gemacht, weil das Eilverfahren darauf angelegt war, eine für die übrige Dauer der Mahnwache faktisch endgültige Entscheidung zu erreichen.
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Tenor
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 04.04.2020 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt K, I-Straße 00, X, für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
1Gründe:
2I.
3Die Antragsteller begehren die einstweilige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
4Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige. Die Antragsteller zu 1) und 2) sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen Antragsteller zu 3) bis 5). Seit 15.01.2017 halten sich die Antragsteller im Bundesgebiet auf. Derzeit bewohnen sie eine Mietwohnung im Zuständigkeitsbereich des antragsgegnerischen Jobcenters.
5Die Antragstellerin zu 2) ging zuletzt einer Erwerbstätigkeit bei der I1 Dienstleistungen GmbH nach. Zu Ende Februar 2020 kündigte die I1 Dienstleistungen der Antragstellerin zu 2), die daraufhin zum 02.03.2020 eine Erwerbstätigkeit bei der E-Agentur L J mit einer vereinbarten Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu einem Stundenlohn von 10 Euro aufnahm.
6Zudem beziehen die Antragsteller Kindergeld in Höhe von insgesamt 618 Euro monatlich.
7Der Antragsgegner bewilligte den Antragstellern zuletzt vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01.10.2019 bis 31.03.2020 (Bescheid vom 17.09.2020), hob diese Bewilligung aber mit Wirkung zum 01.12.2019 wieder auf (Bescheid vom 05.12.2019; Widerspruchsbescheid vom 03.03.2020), weil Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller bestünden. So nehme der Antragsteller zu 1) nach den Informationen des Antragsgegners Aufträge seines Vermieters wahr. Zudem habe ein Hausbesuch ergeben, dass sich wechselnde Personen in der Wohnung der Antragsteller aufhielten, bei denen es sich angeblich um Besuch handle. Hinsichtlich deren Aufenthaltsdauer widersprächen sich allerdings die Angaben der Antragsteller zu 1) und 2). Weiter kenne der Antragsteller zu 1) von wiederkehrenden Besuchern, bei denen es sich angeblich um Verwandte der Antragstellerin zu 2) handle, nicht einmal den Namen.
8Am 04.06.2020 haben die Antragsteller erneut Leistungen beim Antragsgegner beantragt. Dieser versagte die Erbringung von Leistungen aufgrund mangelnder Mitwirkung (Bescheid vom 15.06.2020).
9Die Antragsteller haben gegen den Aufhebungsbescheid vom 05.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben (S 40 AS 1004/20). Zudem haben sie am 19.03.2020 um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
10Zur Begründung ihres Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes haben sie vorgetragen, sowohl hinsichtlich der angeblichen Aufträge des Vermieters wie auch der Besucher in ihrer Wohnung enthalte der Widerspruchsbescheid lediglich vage Andeutungen. Diese seien derart unkonkret, dass sie sich gegen diese nicht verteidigen könnten. Der Antragsgegner gebe weder an, welche Art von Aufträgen, noch, welche Vergütung der Antragsteller zu 1) von seinem Vermieter erhalten solle. Richtig sei, dass der Antragsteller zu 1) seinem Vermieter und Nachbarn an Sperrmülltagen helfe; hierbei handle es sich aber um Gefälligkeiten. Hinsichtlich der Besucher teile der Antragsgegner weder mit, welche Besucher sich wie lange bei ihnen aufgehalten haben sollen, noch, dass es sich um Daueraufenthalte handle; letzteres haben die Antragsteller ausdrücklich bestritten.
11Die Antragsteller haben schriftsätzlich beantragt,
12den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen im Rahmen einer einstweiligen Anordnung Regelleistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung des Einkommens und des Kindergeldes ab Antragstellung zu gewähren.
13Der Antragsgegner hat beantragt,
14den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 19.03.2020 zurückzuweisen.
15Das Einkommen aus den Erwerbstätigkeiten der Antragstellerin zu 2) sowie der Kindergeldbezug reichten aus, um die - im Eilverfahren um 30 % gekürzten - Regelbedarfe der Antragsteller zu decken. Im Übrigen sei mangels Vorlage entsprechender Unterlagen ungeklärt, ob die Tätigkeit bei E-Agentur L J die Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin zu 2) begründe.
16Das SG hat den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt (Beschluss vom 04.04.2020). Trotz Hinweises des Antragsgegners hätten die Antragsteller weder Lohnabrechnungen bzw. Einkommensbescheinigungen noch Kontoauszüge vorgelegt. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragsteller über keine Einkommen in bedarfsdeckender Höhe verfügten; eine Hilfebedürftigkeit sei somit nicht glaubhaft.
17Hiergegen haben die Antragsteller am 21.04.2020 Beschwerde eingelegt.
18Sie wiederholen und vertiefen ihr Vorbringen aus dem Verfahren vor dem SG. Ergänzend machen sie geltend, sie verfügten neben dem Kindergeld sowie dem "kleinen Einkommen" der Antragstellerin zu 2) über keine Einnahmen. Sie hätten private Darlehen (von inzwischen insgesamt 6.520 Euro) aufgenommen, die aber ebenfalls nicht ausreichten, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ihnen könne auch nicht entgegengehalten werden, zunächst keinen Weiterbewilligungsantrag gestellt zu haben. Zu ihren Gunsten finde vielmehr § 67 Abs. 5 SGB II Anwendung. Auch hätte der Antragsgegner sie ggf. darauf hinweisen müssen, dass sie einen Weiterbewilligungsantrag hätten stellen müssen. Ohne einen solchen Hinweis hätten sie angesichts des Aufhebungsbescheides vom 05.12.2019 davon ausgehen dürfen, dass ein Weiterbewilligungsantrag sinnlos gewesen wäre.
19Die Antragsteller beantragen schriftsätzlich,
20den Beschluss des SG Düsseldorf vom 04.04.2020 aufzuheben und
21ihnen Regelleistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung des vorhandenen Einkommens ab Antragstellung des Eilantrages zu bewilligen.
22Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
23die Beschwerde zurückzuweisen.
24Sie verteidigt den angegriffenen Beschluss. § 67 Abs. 5 SGB II finde keine Anwendung, weil sie ihre ursprünglich bis 31.03.2020 laufende Bewilligungsentscheidung mit Wirkung vom 01.12.2019 aufgehoben habe. Zudem hätten die Antragsteller gegen den Versagungsbescheid vom 15.06.2020 keinen Widerspruch erhoben.
25II.
26Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
27Die Antragsteller verfolgen bei verständiger Würdigung ihres Vorbringens (§ 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) im Eilverfahren zwei Begehren: Für März 2020 begehren sie ab Antragstellung (am 19.03.2020) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Aufhebungsbescheid vom 05.12.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2020, verbunden mit einem Antrag auf Aufhebung der Vollziehung (§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2, S. 2 SGG; dazu unter 1). Für die Zeit ab April 2020 beanspruchen sie, dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit ab April 2020 zu gewähren (§ 86b Abs. 2 S. 2 SGG; dazu unter 2). Beide Begehren müssen aber erfolglos bleiben.
28Entgegen der Einschätzung des Antragsgegners beschränkt sich der verfahrensgegenständliche Zeitraum vorliegend aber nicht auf den Monat März 2020. Vielmehr haben weder die Antragsteller ihr Begehren noch hat das SG den Inhalt seines Beschlusses entsprechend beschränkt.
29In der Sache haben die Antragsteller ihr Begehren allerdings im Beschwerdeverfahren wie zuvor auch bereits vor dem SG auf die Gewährung von "Regelleistungen" beschränkt. Verfahrensgegenständlich sind damit lediglich die Regelbedarfe und allenfalls noch etwaige Mehrbedarfe, nicht aber Bedarfe für Unterkunft und Heizung (zur Abtrennbarkeit der Bedarfe für Unterkunft Heizung BSG Urteil vom 04.06.2014, B 14 AS 42/13 R, juris Rn. 10 ff. m.w.N.; zu den Mehrbedarfen BSG Urteil vom 04.06.2014, B 14 AS 30/13 R, juris Rn. 12 m.w.N.). Ebenfalls nicht erfasst sind etwaige Bedarfe für Bildung und Teilhabe (dazu BSG Urteil vom 10.09.2013, B 4 AS 12/13 R, juris Rn. 14).
301. Für den Monat März 2020 kann dahinstehen, ob sie mit einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung durchdringen könnten (dazu a). In jedem Fall haben die Antragsteller nämlich keinen Anspruch auf Aufhebung der Vollziehung (dazu b).
31a) Offenbleiben kann, ob der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG) vorliegend Erfolg hätte. Selbst wenn die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Aufhebungsbescheid vom 05.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2020 hier angeordnet würde, verhülfe dies allein dem Begehren der Antragsteller noch nicht zum Erfolg. Vielmehr begehren die Antragsteller in der Sache die Auszahlung der ursprünglich bewilligten, mit dem angegriffenen Bescheid aber wieder aufgehobenen Leistungen. Hierzu bedürfte es zusätzlich einer Aufhebung der Vollziehung nach § 86b Abs. 1 S. 2 SGG (vgl. LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 01.03.2011, L 29 AL 388/10 B ER, juris Rn. 33). Mit Ablauf des Monats März 2020 war der angegriffene Bescheid bereits i.S.d. § 86 Abs. 1 S. 2 SGG "vollzogen". Die Vollziehung i.S.d. § 86b Abs. 1 S. 2 SGG ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen. Dieser erfasst nicht nur Maßnahmen im engen vollstreckungsrechtlichen Sinn, sondern alle rechtlichen oder tatsächlichen Folgerungen unmittelbarer oder mittelbarer Art, die auf die Verwirklichung des Inhaltes des betreffenden Verwaltungsaktes gerichtet sind (LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 16.12.2014, L 5 AS 2740/14 B ER, juris Rn. 5); gemeint ist die einseitige Durchsetzung der im Verwaltungsakt getroffenen Regelung (Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Auflage 2017, § 86b Rn. 233). Hierunter fällt mithin auch die Nichtauszahlung ursprünglich bewilligter, zwischenzeitlich aber wieder aufgehobener Sozialleistungen (vgl. erneut LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 01.03.2011, L 29 AL 388/10 B ER, juris Rn. 33). So liegt der Fall hier: Der Antragsgegner hat mit dem Bescheid vom 05.12.2019 die zunächst bis Ende März 2020 vorläufig bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Wirkung ab 01.01.2019 wieder aufgehoben und die ursprünglich bewilligten Leistungen dementsprechend auch nicht ausgezahlt (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II).
32b) Eine Aufhebung der Vollziehung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kommt vorliegend nicht in Betracht. Danach kann das Gericht in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht nach § 86b Abs. 1 S. 2 SGG die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Eine Vollzugsfolgenbeseitigungsanordnung nach § 86b Abs. 1 S. 2 SGG ergeht dabei ggf. aufgrund einer gegenüber der nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG eigenständigen Interessenabwägung (LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 05.09.2016, L 7 AS 484/16 B ER, juris Rn. 36; LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse vom 01.11.2012, L 20 AS 2161/12 B ER, juris Rn. 35, und vom Beschluss vom 27.07.2009, L 29 AS 375/09 B ER, juris Rn. 15; Harks in Hennig, SGG (Stand: 01.01.2020) § 86b Rn. 33; Burkiczak a.a.O., § 86b Rn. 238).
33Diese Interessenabwägung geht aus denselben Gründen, aus denen vorliegend jedenfalls der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund nicht besteht (dazu unten 2c) zu Lasten der Antragsteller aus. Für den Erlass einer Vollzugsfolgenbeseitigungsanordnung können schon deshalb keine grundsätzlich anderen Maßstäbe gelten als für den Erlass einer einstweiligen Anordnung i.S.d. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG, weil eine Vollzugsfolgenbeseitigungsanordnung ihrem Wesen nach ebenfalls eine Regelungsanordnung ist (vgl. Sächsisches LSG Beschluss vom 11.09.2019, L 7 AS 857/19 B ER, juris Rn. 28; zur Rechtsnatur der Vollzugsfolgenbeseitigungsanordnung auch Burkiczak a.a.O., § 86b Rn. 241; Harks a.a.O., § 86b Rn. 30). Die Aufhebung der Vollziehung bewirkte dabei, dass Leistungen für die Vergangenheit wieder auszuzahlen wären. Deshalb muss hierfür ein besonderes Interesse der Betroffenen auch im Falle der Geltendmachung von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II dargelegt werden (so LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 01.11.2012, L 20 AS 2161/12 B ER, juris Rn. 35). Über die unten ausgeführten Gründe hinaus ist vorliegend auch das in § 86a Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II vorgesehene Regel-Ausnahme-Verhältnis zu berücksichtigen (so LSG NRW Beschluss vom 29.11.2010, L 6 AS 981/10 B ER, juris Rn. 22).
342. Die für die Monate ab April 2020 begehrte einstweilige Anordnung kann vorliegend ebenfalls nicht ergehen.
35Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer solchen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO). Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Tatsache reicht noch nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Es genügt jedoch, dass diese Möglichkeit unter mehreren relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung: BSG Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R; Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B; jeweils juris).
36Nach diesen Maßstäben fehlt es zumindest teilweise bereits an einem Anordnungsanspruch (dazu a und b), in jedem Fall aber an einem Anordnungsgrund (dazu c).
37a) Der Senat lässt dahinstehen, ob es bereits für die Zeit von April bis Mai 2020 an einen Anordnungsanspruch fehlt, weil die Antragsteller nach dem unbestrittenen Vorbringen des Antragsgegners erst am 04.06.2020 einen neuerlichen Leistungsantrag beim Antragsgegner gestellt haben (§ 37 Abs. 1 S. 1 SGB II). Die Antragsteller berufen sich insoweit auf § 67 Abs. 5 S. 1 SGB II, wonach für Leistungen nach dem SGB II, deren Bewilligungszeitraum in der Zeit vom 31.03.2020 bis vor dem 31.08.2020 endet, für die Weiterbewilligung abweichend von § 37 SGB II kein erneuter Antrag erforderlich ist. Ob der Anwendungsbereich des § 67 Abs. 5 SGB II bereits deshalb eröffnet ist, weil der Antragsgegner den Antragstellern ursprünglich Leistungen bis zum 31.03.2020 vorläufig bewilligt hat und ihr Aufhebungsbescheid vom 05.12.2019 aufgrund der Klageerhebung jedenfalls noch nicht bestandskräftig geworden ist, bedarf angesichts des Fehlens eines Anordnungsgrunds im Ergebnis aber keiner Entscheidung.
38b) Für die Zeit ab Juni 2020 fehlt es dagegen an einem Anordnungsanspruch. Dem Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung steht insoweit der offenbar bereits bestandskräftige, zumindest aber wirksame (§ 39 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X)) Versagungsbescheid vom 15.06.2020 entgegen. Der o.g. Antrag vom 04.06.2020 wirkt dabei auf den 01.06.2020 zurück (§ 37 Abs. 2 S. 2 SGB II). Die somit beantragten Leistungen hat der Antragsgegner nach seinem unwidersprochenen Vorbringen aber mit dem Bescheid vom 15.06.2020 aufgrund mangelnder Mitwirkung versagt (§ 66 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil (SGB I)); Widerspruch hätten die Antragsteller hiergegen nicht erhoben. Dabei kann im Ergebnis offenbleiben, inwieweit § 67 Abs. 5 S. 1 SGB II - wonach lediglich § 60 SGB I sowie §§ 45, 48 und 50 SGB X unberührt bleiben (dazu Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 67 Rn. 48) - die Anwendung des § 66 SGB I überhaupt erlaubte. Denn selbst wenn die Anwendung des § 66 SGB I vorliegend ausgeschlossen wäre, wäre der Versagungsbescheid vom 15.06.2020 zwar möglicherweise rechtswidrig, dennoch aber wirksam (§ 39 Abs. 2 SGB X).
39c) In jedem Fall fehlt es aber für die gesamte Zeit ab April 2020 an einem Anordnungsgrund. Ein Anordnungsgrund ist dabei dann glaubhaft gemacht, wenn Eilbedürftigkeit im Sinne einer dringenden und gegenwärtigen Notlage, die eine sofortige Entscheidung unumgänglich macht, gegeben (OVG NRW Beschluss vom 28.08.2012, 12 B 925/12, juris Rn. 3; LSG NRW Beschluss vom 30.05.2011, L 19 AS 431/11 B ER, juris Rn. 13) und eine einstweilige Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile geboten ist (Senatsbeschluss vom 17.05.2005, L 12 B 11/05 AS ER). Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bzw. der Antragstellerin unter Berücksichtigung auch der widerstreitenden öffentlichen Belange ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist (Berlit, info also 1/2005, S. 3, 7).
40Vorliegend haben die Antragsteller nicht glaubhaft machen können, weshalb es ihnen unzumutbar sein sollte, das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Antragsteller ihre allein verfahrensgegenständlichen Regelbedarfe bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache auch ohne den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ausreichend sichern können. So verfügen die Antragsteller zunächst über Einkommen in Form des Kindergeldes von monatlich insgesamt 618 Euro. Hinzu kommt das Einkommen der Antragstellerin zu 2) aus deren Tätigkeit bei der E-Agentur J L; bei einer vereinbarten Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu einem Stundenlohn von 10 Euro beläuft sich dieses Einkommen auf monatlich etwa 400 Euro. Diese Summe wird durch die von den Antragstellern vorgelegten Kontoauszüge und Lohnabrechnungen bestätigt, denen sich entsprechende Lohnzahlungen entnehmen lassen; so hat der Arbeitgeber der Antragstellerin zu 2) etwa im Mai 440 Euro und im Juni 360 Euro ausgezahlt. Freibeträge bleiben im Eilverfahren außer Betracht (dazu BVerfG Beschluss vom 20.05.2020, 1 BvR 2289/19, juris Rn. 7 m.w.N.).
41Zwar ist den Antragstellern zuzugeben, dass die o.g. Einkommen allein nicht ausreichen, um ihre Regelbedarfe (von monatlich insgesamt 1.644 Euro) zu decken. Diese haben an Eides statt versichert, sie verfügten nur über diese Einkommen; von diesen könnten sie ihren Lebensunterhalt aber nicht sicherstellen, geschweige denn auch noch ihre Miete bezahlen. Keine Berücksichtigung haben in der eidesstattlichen Versicherungen aber die umfangreichen Darlehen gefunden, die die Antragsteller nach ihrem eigenen Vorbringen seit Anfang 2020 erhalten haben. Jedenfalls unter zusätzlicher Berücksichtigung dieser angeblichen Darlehen sind die Regelbedarfe der Antragsteller vollumfänglich gedeckt. Dies ergibt sich bereits aus dem von den Antragstellern hierzu vorgelegten Formulardarlehensvertrag, geschlossen zwischen dem Antragsteller zu 1) und einem Herrn E1 E2, H 00, X. Ausweislich dieses Darlehensvertrages haben die Antragsteller von Anfang Januar bis Anfang August 2020 bislang insgesamt 6.520 Euro vom Darlehensgeber erhalten. Dies entspricht monatlich durchschnittlich 815 Euro. Dabei kann dahinstehen, ob diese Darlehensabrede mit einer zivilrechtlich wirksamen Rückzahlungsverpflichtung belastet und deshalb nicht als Einkommen i.S.d. § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II zu berücksichtigen wäre (dazu BSG Urteil vom 17.06.2010, B 14 AS 46/09 R, juris Rn. 16, 20 ff.). Zumindest für die Zwecke des Eilverfahrens müssen sich die Antragsteller in jedem Fall auf diese Darlehen verweisen lassen.
42Dass dies für die Antragsteller keineswegs unzumutbar ist, ergibt sich vorliegend aus dem von ihnen vorgelegten Darlehensvertrag selbst. Zweck des Darlehens ist danach ausdrücklich die Sicherung der Lebensunterhalts der Antragsteller (vgl. § 1: "Überleben"). Weiter ergibt sich aus dem Darlehensvertrag, dass das Darlehen zinslos ist (§ 4) und die Antragsteller keine Sicherheiten zu stellen haben (§ 6), sowie vor allem, dass die Rückzahlung erst "mit der Nachzahlung des Jobcenters" erfolgen soll und für den Fall, dass bis Ende August 2020 keine Zahlungen seitens des Antragsgegners erfolgen, "weitere Darlehen ab September 2020 [erfolgen]" werden. Darauf, ob und in ggf. welcher Höhe der Antragsteller zu 1) zusätzlich eine Vergütung von seinem Vermieter für die vom Antragsgegner behaupteten Aufträge erhält, kann nach allem vorliegend dahinstehen.
43Ergänzend weist der Senat daraufhin hin, dass über die Monate April und Mai 2020 derzeit offenbar noch kein Hauptsacheverfahren beim Antragsgegner oder einem Gericht anhängig ist. Nach Meinung des Antragsteller haben sie insoweit einen Leistungsanspruch, ohne dass ihnen das Fehlen eines neuerlichen Antrags entgegengehalten werden könnte (§ 67 Abs. 5 S. 1 SGB II). Nicht ersichtlich ist indes, dass die Antragsteller den Antragsgegner außergerichtlich oder - was von ihrem Rechtsstandpunkt aus zumindest folgerichtig wäre - gar im Wege einer Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) darauf in Anspruch genommen hätten, sie insoweit zu bescheiden. Einen Ablehnungsbescheid hat der Antragsgegner hierzu aber, soweit ersichtlich, bislang nicht erlassen.
443. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.
454. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Beschwerdeverfahren muss ebenfalls ohne Erfolg bleiben, weil die Rechtsverfolgung aus den oben ausgeführten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO). Inwieweit die Erfolgsaussichten in der Hauptsache mit Blick auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 05.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2020 anders zu beurteilen sind, kann dahinstehen. Im Ergebnis kommt es auf die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides jedenfalls vorliegend nicht entscheidungserheblich an.
46Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 30.000 € festgesetzt
1G r ü n d e :
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
31. Das Zulassungsvorbringen weckt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
4Mit dem Hauptantrag war die Klage schon deshalb abzuweisen, weil für den Fortsetzungsfeststellungsantrag (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) das erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse fehlte. Es besteht ersichtlich kein Kausalzusammenhang zwischen der Zurückstellung des Baugesuchs und dem von der Klägerin geltend gemachten Schaden. Der Baugenehmigungsantrag war nämlich während der Dauer der Zurückstellung nicht positiv bescheidungsfähig. Es fehlte jedenfalls an der im Hinblick auf § 4 Abs. 1 BauO NRW a.F. erforderlichen Erschließungsbaulast, wie das Verwaltungsgericht in dem die Erteilung der Baugenehmigung betreffenden Urteil vom 5.4.2017 - 2 K 2231/14 - zutreffend zugrunde gelegt hat. Diese Beurteilung ist auch durch das Vorbringen der Klägerin in dem dieses Urteil betreffenden Zulassungsverfahren 7 A 1233/17 nicht erschüttert worden, wie sich aus dem Senatsbeschluss in jenem Verfahren vom heutigen Tage ergibt.
5Ungeachtet dessen begründet das Zulassungsvorbringen der Klägerin im vorliegenden Verfahren auch keine ernstlichen Zweifel an der Annahme des Verwaltungsgerichts, der streitige Zurückstellungsbescheid sei rechtmäßig gewesen.
6Das Verwaltungsgericht ist zunächst zu Recht davon ausgegangen, dass der gegebene Zustellungsmangel - Zustellung durch Einwurf-Einschreiben statt durch Übergabe-Einschreiben oder mittels Einschreiben mit Rückschein, wie es § 4 Abs. 1 LZG NRW verlangt - gemäß § 8 LZG NRW geheilt worden ist. Insbesondere ist der dafür erforderliche Zustellungswillen der Behörde durch die Aufgabe des Bescheides als Einwurf-Einschreiben und nicht nur als normaler Brief noch hinreichend dokumentiert.
7Vgl. Nds. OVG, Urteil vom 25.6.2018 - 15 KF 29/17 -, Sächs. OVG, Beschluss vom 14.9.2010
8- 5 A 595/08 -, OVG Saarl. Beschluss vom 5.4.2017
9- 1 A 132/16 -, jeweils juris.
10Der von der Klägerin vermisste Vermerk über den Tag der Aufgabe des Bescheides zur Post (§ 4 Abs. 2 Satz 4 LZG NRW) findet sich auf Bl. 105 der Beiakte 1 dieses Verfahrens. Auch ein solcher Mangel wäre im Übrigen nach Maßgabe der vorstehenden Überlegungen durch den tatsächlichen Zugang des Bescheides geheilt worden.
11Anders als die Klägerin meint, fehlte es auch nicht an einer hinreichenden Konkretisierung des Planinhalts in dem der Zurückstellung zugrunde liegenden Aufstellungsbeschluss. In der Beschlussvorlage vom 18.3.2014 wurde nicht nur deutlich, dass die zugunsten einer inzwischen aufgegebenen Traditionsgaststätte erfolgte Sondergebietsfestsetzung nicht fortbestehen sollte, sondern auch zum Ausdruck gebracht, dass der Lage der Fläche am Dortmund-Ems-Kanal mit seiner Naherholungsfunktion für die Allgemeinheit sowie der Darstellung im Flächennutzungsplan als Grünfläche Rechnung getragen werden sollte. Dass es sich dabei um eine positive Planungskonzeption und nicht nur - wie die Klägerin meint - um eine auf ihr Hotelvorhaben bezogene Verhinderungsplanung handelte, hat der Senat bereits in seinem inzwischen rechtskräftigen Normenkontrollurteil vom 29.1.2020 - 7 D 4/17.NE - ausgeführt.
12Das Verwaltungsgericht ist darüber hinaus zutreffend davon ausgegangen, dass hinsichtlich des Zurückstellungszeitraums keine sogenannte faktische Zurückstellung zu berücksichtigen war. Das folgt schon daraus, dass eine solche faktische Zurückstellung nur bei einem positiv bescheidungsfähigen Bauantrag in Betracht kommt, der - wie dargelegt - hier jedenfalls im Hinblick auf § 4 Abs. 1 BauO NRW a. F. nicht vorlag. Ferner ist von einer faktischen Zurückstellung im Regelfall nur dann auszugehen, wenn zwischen Stellung des Bauantrages und dessen förmlicher Zurückstellung mehr als drei Monate vergehen.
13Vgl. OVG NRW, Urteil vom 11.4.2016
14- 2 D 30/15.NE -, juris.
15Auch diese Voraussetzung ist nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht erfüllt gewesen.
16Hinsichtlich des Hilfsantrages hat das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen, dass sich die Zurückstellung infolge Zeitablaufs erledigt hatte. Der zugleich gestellte Verpflichtungsantrag war jedenfalls deshalb abzuweisen, weil der Erteilung der begehrten Baugenehmigung die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 567 "T. . N. - X. Straße/B. -T1. -Straße" entgegenstehen, dessen Wirksamkeit aufgrund des zwischen den Beteiligten ergangenen Senatsurteils vom 29.1.2020 - 7 D 4/17.NE - und des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 7.5.2020 - 4 BN 13.20 - rechtskräftig feststeht.
172. Nach Maßgabe der vorstehenden Erwägungen ist auch nicht erkennbar, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist.
183. Das Zulassungsvorbringen zeigt schließlich nicht auf, dass ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
19Die von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensfehler beziehen sich sämtlich auf Feststellungen, auf die es für die Beurteilung der Klageanträge nach Maßgabe der Ausführungen zu 1. nicht ankommt. Auch auf der aus Sicht der Klägerin fehlerhaften Behandlung ihres Ruhensantrages beruht das Urteil jedenfalls nicht im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.
20Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
21Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG und folgt der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung.
22Der Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 60.000 € festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
31. Das Zulassungsvorbringen weckt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
4Mit dem Hauptantrag war die Klage schon deshalb abzuweisen, weil der Erteilung der begehrten Baugenehmigung die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 567 "T. . N. - X. Straße/B. -T1. -Straße" entgegenstehen, dessen Wirksamkeit aufgrund des zwischen den Beteiligten ergangenen Senatsurteils vom 29.1.2020 - 7 D 4/17.NE - und des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 7.5.2020 - 4 BN 13.20 - rechtskräftig feststeht.
5Die Abweisung der Klage mit dem ersten Hilfsantrag hat das Verwaltungsgericht zutreffend auf die Erwägung gestützt, dass ein Anspruch auf Erteilung einer Ausnahme nach § 14 Abs. 2 BauGB ausscheide, nachdem die Geltungsdauer der Veränderungssperre zwischenzeitlich abgelaufen war.
6Die Abweisung der Klage mit dem zweiten Hilfsantrag ist - auch wenn man das Feststellungsbegehren als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO bezogen auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Veränderungssperre auffasst - zutreffend. Denn auch zu diesem Zeitpunkt bestand - ungeachtet der zuvor ausgesprochenen Zurückstellung des Baugesuchs nach § 15 BauGB - kein Anspruch auf die Erteilung der streitigen Baugenehmigung. Dies folgt jedenfalls aus der vom Verwaltungsgericht im Zusammenhang mit dem Hauptantrag angestellten Erwägung, dass der Erteilung der Baugenehmigung das Erfordernis einer gesicherten Erschließung nach § 4 Abs. 1 BauO NRW a.F. entgegenstand. Die Richtigkeit dieser Annahme wird durch das Vorbringen im Zulassungsverfahren nicht erschüttert. Dass die Klägerin nach ihrem Vortrag Eigentümerin sowohl des Vorhabengrundstücks als auch des vorderliegenden, an die öffentliche Erschließungsanlage angrenzenden Grundstücks war, ist insoweit nicht ausreichend. Denn die Zufahrt muss nach Landesrecht auch in einem solchen Fall öffentlich-rechtlich, nämlich durch eine Baulast, gesichert sein.
7Vgl. etwa Rasche-Sutmeier, in: Schulte u.a., Die neue Bauordnung Nordrhein-Westfalen, 4. Aufl., 2019, § 4 Rn. 6.
8Soweit die Klägern weiterhin vorträgt, die Grundstücke seien zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bereits „zusammengeführt" worden, ist dieses Vorbringen bezogen auf den früheren Zeitpunkt des Inkrafttretens der Veränderungssperre unerheblich. Ebenso wenig kommt es auf die Beurteilung der Erschließungssituation durch die Beklagte in dem von der Klägerin in Bezug genommenen Baugenehmigungsverfahren für ein anderes Bauvorhaben an.
9Für die Annahme, dass sich der anwaltlich formulierte zweite Hilfsantrag auch auf spätere Zeiträume als auf den ausdrücklich benannten Zeitraum bis zum Inkrafttreten der Veränderungssperre bezog, bestand - wie das Verwaltungsgericht richtig angenommen hat - kein Anhaltspunkt.
10Auch die Abweisung des dritten Hilfsantrages begegnet keinen ernstlichen Zweifeln. Die Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen des eingangs genannten Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB scheidet schon deshalb aus, weil ersichtlich die Grundzüge der Planung berührt wären, wie es das Verwaltungsgericht richtig zugrunde gelegt hat und es die Klägerin auch nicht in Zweifel zieht.
112. Nach Maßgabe der vorstehenden Erwägungen ist auch nicht erkennbar, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist.
123. Das Zulassungsvorbringen zeigt schließlich nicht auf, dass ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
13Soweit die Klägerin bezogen auf ihren zweiten Hilfsantrag sinngemäß die Bindung an das Klagebegehren im Sinne von § 88 VwGO thematisieren will, beruht das Urteil jedenfalls nicht auf einem entsprechenden Verstoß, weil - wie zu 1. ausgeführt worden ist - auch bei der Auffassung des Antrages als Fortsetzungsfeststellungsbegehren der zweite Hilfsantrag hätte abgewiesen werden müssen und für eine weitergehende Auslegung des Antrages kein Raum war.
14Eine Verletzung der Hinweispflicht aus § 86 Abs. 3 VwGO hinsichtlich der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zulasten der anwaltlich vertretenen Klägerin vermag der Senat im Ansatz nicht zu erkennen.
15Die Klägerin zeigt auch keinen die Zulassung der Berufung rechtfertigenden Gehörsverstoß auf. Dies gilt zunächst insoweit, als das Verwaltungsgericht - nach den Behauptungen der Klägerin ohne jeden vorherigen Hinweis - auf den bauordnungsrechtlichen Gesichtspunkt der gesicherten Erschließung nach § 4 Abs. 1 BauO NRW a.F. abgestellt hat. Denn der damit begehrten Berufungszulassung steht jedenfalls das Beruhenserfordernis des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO entgegen,
16vgl. dazu allgemein etwa Kuhlmann, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl., § 124 Rn. 50 ff.,
17weil der Sachvortrag der Klägerin zu diesem Gesichtspunkt in ihrer Zulassungsbegründung - wie sich aus den vorstehenden Ausführungen zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergibt - im Ergebnis keine günstigere Beurteilung der Klage gestattet hätte.
18Die übrigen Verfahrensrügen der Klägerin erfüllen - das Vorliegen eines Verfahrensfehlers unterstellt - das Beruhenserfordernis des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ebenfalls nicht. Die weiter geltend gemachten Gehörsverletzungen und Verstöße gegen die Amtsermittlungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO beziehen sich sämtlich auf Feststellungen, auf die es für die Beurteilung der Klageanträge nach Maßgabe der Ausführungen zu 1. nicht ankommt. Auch auf der aus Sicht der Klägerin fehlerhaften Behandlung ihres Ruhensantrages beruht das Urteil nicht im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.
19Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
20Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG und folgt der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung.
21Der Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten es in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben.
Im Übrigen wird die Klage hinsichtlich der Kläger zu 2. und 3. als unzulässig und hinsichtlich der Klägerin zu 1. als unbegründet abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1Tatbestand:
2Die Kläger wenden sich gegen die Festsetzung von Gewerbesteuern sowie Nachzahlungszinsen zur Gewerbesteuer für die Veranlagungsjahre 2014 bis 2016. Die Kläger zu 2. und 3. sind die Gesellschafter der Klägerin zu 1.
3Mit Gewerbesteuermessbescheiden vom 12. September 2019 setzte das Finanzamt H. den Gewerbesteuermessbetrag für die Klägerin zu 1. für das Veranlagungsjahr 2014 auf 7.049,- Euro (BA Ht. 1 Bl. 1), für das Veranlagungsjahr 2015 auf 6.954,- Euro (BA Ht. 1 Bl. 2) und für das Veranlagungsjahr 2016 auf 2.492,- Euro (BA Ht. 1 Bl. 3) fest.
4Mit Bescheid vom 23. September 2020 (BA Ht. 1 Bl. 4 f.) setzte daraufhin die Beklagte die Gewerbesteuer für die Klägerin zu 1. für das Veranlagungsjahr 2014 in Höhe von 31.720,50 Euro, für das Veranlagungsjahr 2015 in Höhe von 31.293,- Euro und für das Veranlagungsjahr 2016 in Höhe von 11.214,- Euro fest. Zudem setzte die Beklagte mit selbem Bescheid Gewerbesteuervorauszahlungen für die Veranlagungsjahre 2018 und 2019 fest, und zwar jeweils in Höhe von 11.214,- Euro. Zudem setzte die Beklagte mit weiteren Bescheiden vom 23. September 2019 Nachzahlungszinsen zur Gewerbesteuer für das Veranlagungsjahr 2014 in Höhe von 6.498,- Euro (BA Ht. 1 Bl. 6 f.), für das Veranlagungsjahr 2015 in Höhe von 4.531,- Euro (BA Ht. 1 Bl. 8 f.) und für das Veranlagungsjahr 2016 in Höhe von 952,- Euro (BA Ht. 1 Bl. 10 f.) fest. Die Festsetzung der Nachzahlungszinsen erfolgte für die jeweiligen Veranlagungsjahre nach § 165 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über deren Verfassungsmäßigkeit vorläufig.
5Gegen diese Bescheide legte der Kläger zu 3. als Bevollmächtigter (Steuerberater) der Klägerin zu 1. mit Schreiben vom 22. Oktober 2019 unter Verweis auf ihren Vortrag im Einspruchsverfahren vor dem Finanzamt H. gegen die Gewerbesteuermessbescheide vom 12. September 2019 Widerspruch ein (BA Ht. 1 Bl. 16).
6Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2019 (GA Bl. 4 ff.) wies die Beklagte den Widerspruch gegen die Festsetzung der Gewerbesteuer für die Veranlagungsjahre 2014 bis 2016 sowie die Festsetzung der Gewerbesteuervorauszahlungen für die Veranlagungsjahre 2018 und 2019 zurück. Zur Begründung führte sie aus, die von der Klägerin zu 1. im Einspruchsverfahren vor dem Finanzamt geltend gemachten Belange könnte im Widerspruchsverfahren gegen die Festsetzung der Gewerbesteuer keine Berücksichtigung finden. Die Beklagte sei an die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages durch das Finanzamt gebunden, § 171 Abs. 10 AO. Nach § 351 Abs. 2 AO könnten Entscheidungen im Messbescheid – wie die über die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages – nur durch die Anfechtung dieses Bescheides als Grundlagenbescheid, nicht hingegen auch durch die Anfechtung des Gewerbesteuerbescheides als Folgebescheid angegriffen werden. Erst wenn das Finanzamt den Gewerbesteuermessbescheid ändere oder aufhebe, könne auch die Beklagte den Gewerbesteuerbescheid als Folgebescheid ändern oder aufheben.
7Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2019 (GA Bl. 7 ff.) wies die Beklagte auch den Widerspruch gegen die vorläufige Festsetzung der Nachzahlungszinsen mit Bescheid vom 23. September 2019 zurück. Die jeweilige Festsetzung beruhe auf § 233a AO i.V.m. § 238, § 239 AO. Rechnerische Bedenken seien nicht geltend gemacht worden. Soweit die Höhe der Zinsen von 6% jährlich angegriffen werde, sei dem dadurch Rechnung getragen worden, dass die Festsetzung bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über deren Verfassungsmäßigkeit vorläufig sei.
8Am 6. Januar 2020 haben die Kläger gegen die Bescheide vom 23. September 2019 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 5. Dezember 2019 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen Folgendes geltend machen (GA Bl. 61 f.): Die den angefochtenen Bescheiden zugrunde liegenden Gewerbesteuermessbescheide vom 12. September 2019 beruhten auf rechtlich fehlerhaften Bewertungen. In den Veranlagungsjahren vor dem Jahr 2014 hätten sie ausschließlich eine vermögensverwaltende Tätigkeit betrieben. Es sei daher keine gewerblich tätige Personengesellschaft gewesen. In den hier streitgegenständlichen Veranlagungsjahren seien jedoch aus der Vermittlung von Finanzierungen Provisionseinkünfte erzielt worden, die nach den Feststellungen des zuständigen Finanzamtes als Einkünfte nach § 15 Einkommenssteuergesetz (EStG) gewertet worden seien. Es sie daher nach Einschätzung des Finanzamtes, der man sich anschließe, eine teils vermögensverwaltende und teils gewerbliche Tätigkeit ausgeübt worden, womit die Tätigkeit in vollem Umfange nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG betrachtet werden müsse. Sei in den streitgegenständlichen Veranlagungsjahren kein positiver Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben erwirtschaftet worden, müsse der Steuermessbetrag danach null betragen, womit keine Gewerbesteuer geschuldet werde.
9Mit Bescheiden 17. August 2020 und vom 29. September 2020 hat die Beklagte die Gewerbesteuervorauszahlungen für die Veranlagungsjahre 2018 und 2019 auf 0,- Euro festgesetzt.
10Im Termin zur mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten das Verfahren hinsichtlich der angegriffenen Gewerbesteuervorauszahlungen für die Veranlagungsjahre 2018 und 2019 in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
11Die Kläger beantragen,
12die mit Bescheiden vom 23. September 2019 festgesetzten Gewerbesteuern und Nachforderungszinsen für die Jahre 2014 bis 2016 in Gestalt der Widerspruchsentscheidung vom 5. Dezember 2019 sowie die Zinsbescheide zur Gewerbesteuer vom 23. September 2019 für die Jahre 2014 bis 2016 in Gestalt der Widerspruchsentscheidung vom 5. Dezember 2019 aufzuheben.
13Die Beklagte beantragt unter Wiederholung ihres Vortrages aus dem Verwaltungsverfahren,
14die Klage abzuweisen.
15Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 31. August 2020 auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
16Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Die Einzelrichterin ist für die Entscheidung zuständig, nachdem ihr der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zur Entscheidung übertragen worden ist.
19Nachdem die Beteiligten das Verfahren hinsichtlich der angegriffenen Gewerbesteuervorauszahlungen für die Veranlagungsjahre 2018 und 2019 in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt, war es in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO insoweit einzustellen.
20Im Übrigen hat die Klage keinen Erfolg.
21Sie ist hinsichtlich der Kläger zu 2. und 3. schon unzulässig, weil ihnen die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO fehlt. Die Kläger werden durch die angefochtenen Bescheide nicht in ihren Rechten verletzt, weil sie nicht deren Inhaltsadressaten sind. Dem Inhalt der Bescheide vom 23. September 2019 lässt sich entnehmen, dass es sich um eine Steuerfestsetzung gegenüber der Gesellschaft, das heißt der Klägerin zu 1., handelt. Als Steuerpflichtige wird nach § 5 Abs. 1 Satz 3 Gewerbesteuergesetz (GewStG) jeweils ausdrücklich nur die Gesellschaft benannt. Dieser Einschätzung steht auch nicht entgegen, dass die Steuerbescheide an die Privatadresse des Klägers zu 3. gesandt wurden. Denn gemäß § 122 Abs. 1 Satz 2, § 34 Abs. 2 AO kann ein auf eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) bezogener Bescheid auch gegenüber jedem Gesellschafter bekanntgegeben werden. Der Kläger zu 3. war damit zwar Bekanntgabe-, nicht jedoch Inhaltsadressat der Steuerbescheide.
22Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Februar 2014 – 9 B 1407/13 – juris Rn. 8; Rüsken, in: Klein, AO, 12. Aufl. 2014, § 34 Rn. 20.
23Die Kläger zu 2. und 3. sind auch im Übrigen nicht durch die Bescheide beschwert. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind die Gesellschafter einer GbR durch einen Steuerbescheid, der sich – wie hier – gegen die Gesellschaft richtet, nicht beschwert, weil eine Vollstreckung aus diesem Bescheid nur in das Gesellschaftsvermögen erfolgen kann. Daher fehlt den Gesellschaftern für eine persönlich gegen den Gesellschaftsbescheid gerichtete Klage die Klagebefugnis.
24BFH, Beschluss vom 5. März 2010 – V B 56/09 – juris Rn. 5.
25Eine die Klagebefugnis begründende Beschwer der Kläger zu 2. und 3. ist auch nicht im Hinblick auf ihre gesamtschuldnerische Haftung für die Schulden der Klägerin zu 1. anzunehmen. Auch insoweit ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass ein Gesellschafter einer GbR auch als potentieller Haftungsschuldner nach § 191 Abs. 1 AO nicht befugt ist, einen gegenüber der GbR erlassenen Steuerbescheid anzufechten. Er kann Einwendungen, die die Steuerschuld betreffen, im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Haftungsbescheid vorbringen.
26BFH, Urteil vom 16. Dezember 1997 – VII R 30/97 – juris Rn. 8 und Beschluss vom 10. April 2001 – V B 116/00 – juris Rn. 15.
27In diesem Falle ist der Gesellschafter auch nicht mit Einwänden wegen der sogenannten Drittwirkung der Steuerfestsetzung nach § 166 AO ausgeschlossen.
28BFH, Beschluss vom 5. März 2010 – V B 56/09 – juris Rn. 6.
29Im Übrigen ist die Klage zulässig, aber unbegründet. Die Bescheide vom 23. September 2019 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 5. Dezember 2019 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin zu 1. nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
30Nach § 1 GewStG können die Gemeinden Gewerbesteuern erheben. In Nordrhein-Westfalen ist die Festsetzung und Erhebung der Gewerbesteuern durch § 1 des Gesetzes über die Zuständigkeit für die Festsetzung und Erhebung der Realsteuern vom 16. Dezember 1981 (GV. NW. 1981 S. 732) den hebeberechtigten Gemeinden übertragen worden. Die Gewerbesteuern entstehen nach § 18 GewStG mit Ablauf des Erhebungszeitraums, für den die Festsetzung vorgenommen wird. Die Gemeinden setzen die Gewerbesteuern nach § 16 Abs. 1 GewStG unter Berücksichtigung des vom Finanzamt auf der Grundlage des Gewebeertrags und der Steuermesszahl ermittelten Steuermessbetrages (§ 14, § 6, § 11 Abs. 1 Satz 1, 2, Abs. 2 GewStG) und des von ihnen bestimmten Hebesatzes (§ 4 GewStG) fest. Nach § 1 Ziffer 2 der Satzung über die Erhebung der Grundsteuer und der Gewerbesteuer der Stadt E. (Hebesatzung) hat der Rat der Beklagten einen Hebesatz für die Gewerbesteuer für die streitbetroffenen Veranlagungsjahre in Höhe von 450% beschlossen. Für das Festsetzungs- und Erhebungsverfahren gelten gemäß § 3 Abs. 2 i.V.m. § 1 Abs. 2 AO im Weiteren die dort in Bezug genommenen Vorschriften der Abgabenordnung. Die Gemeinden sind daher gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 182 Abs. 1, § 184 Abs. 1 AO bei der Festsetzung der Gewerbesteuer an die Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamtes gebunden. Diese Bindungswirkung erstreckt sich inhaltlich sowohl auf den festgesetzten Gewerbesteuermessbetrag (§ 184 Abs. 1 Satz 1 AO) als auch auf die persönliche und sachliche Steuerpflicht des Betroffenen (§ 184 Abs. 1 Satz 2 AO). Gebunden ist die hebeberechtigte Gemeinde an den Gewerbesteuermessbescheid auch dann, wenn dieser – etwa infolge eines Einspruchs oder eines finanzgerichtlichen Rechtsbehelfs – noch nicht bestandskräftig sein sollte (vgl. § 182 Abs. 1 Satz 1 AO: „auch wenn sie noch nicht unanfechtbar sind“). Die Bindungswirkung setzt lediglich einen wirksamen Gewerbesteuermessbescheid voraus. Erforderlich ist insoweit nur, dass der Messbescheid gegenüber dem Betroffenen bekannt gegeben wurde und nicht nichtig ist (vgl. § 124 Abs. 1 und 3, § 125 AO).
31Vgl. Ratschow, in: Klein, AO, 12. Aufl. 2014, § 182 Rn. 4 m.w.N.
32Anhaltspunkte dafür, dass die Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamtes H. für die Jahre 2014 bis 2016 nicht wirksam oder nichtig sein könnten, werden von der Klägerin zu 1. nicht geltend gemacht und sind auch sonst nicht ersichtlich. Die Frage, ob die Gewerbesteuermessbescheide des Finanzamtes im Übrigen inhaltlich fehlerfrei und damit rechtmäßig oder rechtswidrig sind, hat demgegenüber auf die Bindungswirkung keinen Einfluss. Die Bindungswirkung hat damit zur Folge, dass die in einem wirksamen Gewerbesteuermessbescheid getroffenen Feststellungen beim Erlass des Gewerbesteuerbescheides als Folgebescheid ungeprüft übernommen werden müssen.
33St. Rspr., vgl. nur BFH, Urteile vom 31. Oktober 1991 – X R 126/90 – juris Rn. 14, und vom 13. Juli 1994 – X R 7/91 – juris Rn. 28, jeweils m.w.N.
34Etwaige Fehler bei der Berechnung des Gewerbesteuermessbetrages – wie sie die Klägerin zu 1. allein geltend macht – sind ausschließlich gegenüber dem zuständigen Finanzamt geltend zu machen; auch Rechtsschutz ist insoweit gegebenenfalls ausschließlich im finanzgerichtlichen Verfahren zu erlangen. Denn gemäß § 351 Abs. 2 AO können Entscheidungen in einem Grundlagenbescheid nicht durch Anfechtung des Folgebescheids angegriffen werden.
35Gemessen daran ist die streitbetroffene Heranziehung der Klägerin zu 1. zur Gewerbesteuer nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat der Veranlagung der Klägerin zu 1. zu den Gewerbesteuern für die Jahre 2014 bis 2016 den sie bei der Festsetzung bindenden jeweiligen Gewerbesteuermessbetrag zugrunde gelegt, den das zuständige Finanzamt H. mit den Bescheiden vom 12. September 2019 jeweils festgestellt hat. Diesen Betrag hat sie in zutreffender Weise mit dem für die Jahr 2014 bis 2016 geltenden Hebesatz vervielfältigt.
36Zu beanstanden ist auch nicht die vorläufige Festsetzung der Nachforderungszinsen für die streitbetroffenen Veranlagungsjahre mit den Bescheiden vom 23. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2019. Die Zinsfestsetzungen beruhen auf § 233a, § 238, § 239 AO, die nach § 1 Abs. 2 Nr. 5, § 3 Abs. 2 AO auch für die Gewerbesteuer als Realsteuer Anwendung finden. Rechnerische Bedenken gegen die Festsetzung der Nachforderungszinsen sind nicht ersichtlich und werden von der Klägerin zu 1. auch nicht geltend gemacht. Den gegen die Höhe des Zinses von einhalb Prozent monatlich (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken hat die Beklagte durch die Vorläufigkeit der Festsetzung nach § 165 Abs. 1 AO i.V.m. § 239 Abs. 1 Satz 1 AO Rechnung getragen.
37Soweit über die Klage zu entscheiden war, beruht die Kostenentscheidung auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO). Im Übrigen war – soweit die Beteiligten – das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt haben – über die Kostentragungspflicht gemäß § 161 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO nach billigem Ermessen zu entscheiden. Das Gericht hat sein billiges Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes auszuüben. Die Billigkeitsentscheidung orientiert sich grundsätzlich an den Erfolgsaussichten der Klage und den Umständen, die zur Erledigung geführt haben. Weitere Sachaufklärungen sind nicht statthaft; schwierige Rechtsfragen sind nicht zu klären. Nach Maßgabe dieser Kriterien entspricht es der Billigkeit, die Kosten auch insoweit den Klägern aufzuerlegen, weil die Klage auch insoweit keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Hinsichtlich der Kläger zu 2.und 3. wäre die Klage aus den oben dargelegten Gründen auch insoweit unzulässig gewesen. Im Übrigen wäre die Klage unbegründet gewesen. Die ursprüngliche Festsetzung der Gewerbesteuervorauszahlungen für die Veranlagungsjahre 2018 und 2019 war bis zu deren Änderung durch die Bescheide vom 17. August 2020 und 29. September 2020 – aus Anlass der Mitteilung des Finanzamtes über den Gewerbesteuermessbetrag für das Jahr 2017 – rechtmäßig. Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 GewStG hat der Steuerschuldner am 15. Februar, 15. Mai, 15. August und 15. November Vorauszahlungen zu entrichten. Nach § 19 Abs. 2 GewStG beträgt jede Vorauszahlung grundsätzlich ein Viertel der Steuer, die sich bei der letzten Veranlagung ergeben hat. Diese Voraussetzungen hat die Beklagte gewahrt, die sich in zutreffender Weise bei der Festsetzung der Vorauszahlungen an der Steuer orientiert hat, die sich bei der letzten Veranlagung – mithin bei der Veranlagung für das Jahr 2016 – ergeben hat.
38Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
39Rechtsmittelbelehrung:
40Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
41Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
42Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.
43Die Berufung ist nur zuzulassen,
441. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
452. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
463. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
474. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
485. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
49Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen.
50Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.
51Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
52Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
53Beschluss:
54Der Streitwert wird auf 108.636,50 Euro festgesetzt.
55Gründe:
56Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Abs. 1 GKG erfolgt und setzt sich aus den festgesetzten Gewerbesteuern in Höhe von insgesamt 74.227,50 Euro, Nachforderungszinsen in Höhe von insgesamt 11.981,- Euro sowie Vorauszahlungen in Höhe von insgesamt 22.428,- Euro zusammen.
57Rechtsmittelbelehrung:
58Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
59Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
60Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
61Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
62Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
63War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Die Beschwerde wird auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren und – unter entsprechender Änderung der erstinstanzlichen Festsetzung von Amts wegen – auch für das erstinstanzliche Verfahren jeweils auf die Wertstufe bis 35.000,00 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
3Der Senat ist bei der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung auf die Prüfung der von dem Rechtsmittelführer fristgerecht dargelegten Gründe beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 i. V. m. Satz 1 und 3 VwGO). Diese Gründe rechtfertigen es nicht, den mit der Beschwerde weiterverfolgten (sinngemäßen) Anträgen des Antragstellers zu entsprechen,
4der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die ausgeschriebenen Stellen für Volljuristen, Kennzahl VJ-2018-01, mit anderen Bewerbern als ihm vor Ablauf von zwei Wochen nach Zustellung einer Entscheidung über seinen Widerspruch gegen die Ablehnung seiner Bewerbung zu besetzen,
5hilfsweise,
6die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, das Auswahlverfahren für die ausgeschriebenen Stellen für Volljuristen, Kennzahl VJ-2018-01, unter seiner Einbeziehung fortzusetzen.
7Das Verwaltungsgericht hat diese Anträge, die nach erfolgter Auswahl des Antragstellers im Assessment-Center einheitlich auf eine erneute Entscheidung der Antragsgegnerin über die Übernahme des Antragstellers in den Bundesdienst unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts und insoweit auch auf eine Fortsetzung des Bewerbungsverfahrens abzielen, mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller habe für den Haupt- und Hilfsantrag jeweils keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Beurteilung der Antragsgegnerin, es bestünden (mindestens) berechtigte Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers für eine Übernahme in ein Beamtenverhältnis beim Bundesamt für Verfassungsschutz, sei nicht zu beanstanden. Die charakterliche Eignung eines Einstellungsbewerbers sei ein Unterfall der persönlichen Eignung und erfordere eine prognostische Einschätzung, inwieweit der Bewerber der von ihm zu fordernden Loyalität, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Dienstauffassung gerecht werden werde; dabei habe eine wertende Würdigung aller Aspekte des insoweit erheblichen Verhaltens des Einstellungsbewerbers zu erfolgen. Berücksichtige man die besonderen Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz, so sei von jedem Einstellungsbewerber eine besondere Loyalität, Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit zu fordern und könnten auch geringe Verstöße gegen bestehende Wahrheitspflichten die Annahme mangelnder Eignung erlauben. Die Entscheidung über die charakterliche Eignung sei ein Akt wertender Erkenntnis, den das Gericht nur eingeschränkt überprüfen dürfe, nämlich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff und den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen könne, verkannt habe, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen sei, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachwidrige Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen habe.
8Gemessen an diesen Vorgaben habe die Antragsgegnerin die Übernahme des Antragstellers aus dem Dienst eines Landesbeamten in den Dienst bei dem Bundesamt für Verfassungsschutz trotz des erfolgreichen Durchlaufens des Assessment-Centers am 9. März 2018 in L. ablehnen dürfen. Ausgehend von dem als merkwürdig bewerteten Umstand, dass der Antragsteller als nach A 14 LBesO besoldeter Beamter zwischen dem 1. Oktober 2017 und dem 4. Februar 2019 (rund 16 Monate) "ohne Einsatz" gewesen sei, habe die Antragsgegnerin ihre in Rede stehende Einschätzung im Kern zum einen darauf gestützt, dass sie nicht vom Antragsteller selbst erfahren habe, dass er ohne Beschäftigung sei, sondern erst durch eine nur den Umstand als solchen belegende Aktenauswertung im August 2019. Der Antragsteller habe in seiner schriftlichen Bewerbung vom 27. Dezember 2017 – insoweit berechtigte Zweifel an seiner Ehrlichkeit bzw. Wahrheitsliebe weckend – sogar eine laufende Tätigkeit behauptet. Zum anderen habe der Antragsteller hierzu trotz mehrfacher schriftlicher Aufforderung nichts dargelegt, sondern sie insoweit nur an seinen Dienstherrn verwiesen. Diese Gründe trügen die wertende Einschätzung der Antragsgegnerin, dem Antragsteller fehle die erforderliche charakterliche Eignung. Die Antragsgegnerin sei, da die Gründe anhand des vorgelegten Verwaltungsvorgangs verifiziert werden könnten, von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen. Ferner habe die Antragsgegnerin auch weder sachwidrige Erwägungen angestellt noch gegen allgemeingültige Wertmaßstäbe verstoßen. Dem Antragsteller hätte als erfahrenem Beamten bekannt sein müssen, dass die Antragsgegnerin ein legitimes Interesse daran habe, vor einer Übernahme seinen tatsächlichen Werdegang zu kennen. Gleichwohl habe er die für die Personalgewinnung zuständigen Bediensteten der Antragsgegnerin über den objektiv ungewöhnlichen Umstand seiner Beschäftigungslosigkeit nicht von sich aus informiert, sondern getäuscht. Er habe nämlich in dem der Bewerbung beigefügten tabellarischen Lebenslauf unzutreffend angegeben, er sei "von 01.2017 – laufend" als Referatsleiter beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten tätig, und auch in seinem Bewerbungsschreiben habe er im Präsens über eine Referatsleitertätigkeit berichtet ("Zuletzt leite ich …"). Die Behauptung des Antragstellers, im Rahmen des Vorstellungsgesprächs im März 2018 auf die Beschäftigungslosigkeit hingewiesen zu haben, sei schon "nicht bewiesen"; es sei aber auch nicht erkennbar, dass er im weiteren Einstellungsverfahren von sich aus mitgeteilt habe, dass die Beschäftigungslosigkeit (bis zum 4. Februar 2019) andauere. Eignungszweifel ergäben sich auch daraus, dass der Antragsteller trotz wiederholter Aufforderung bisher keine eigene schriftliche Stellungnahme zu seiner Beschäftigungslosigkeit abgegeben und insoweit seinen Mitwirkungspflichten nicht genügt habe. Seine Bemühungen, den Sachverhalt aufzuklären, hätten sich im Wesentlichen darauf beschränkt, die Antragsgegnerin auf eine Auskunft seines Dienstherrn zu verweisen, ohne dass ein Grund für dieses Verhalten erkennbar sei. Die Angabe der von der Antragsgegnerin daraufhin telefonisch kontaktierten Frau G. , der Antragsteller habe während seiner Beschäftigungslosigkeit an verschiedenen Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen, werde durch die Personalakte nicht gestützt. Der Antragsteller habe auch der Antragsgegnerin keine entsprechenden Nachweise vorgelegt. In der Personalakte fehlten ferner die zu erwartenden Vermerke o. ä. über die mehreren Personalgespräche, die nach der telefonischen Auskunft von Frau G. in der Zeit der Beschäftigungslosigkeit stattgefunden haben sollen. Verwunderlich sei auch, dass der Antragsteller sich nicht selbst bemüht habe, für einen lückenlosen beruflichen Werdegang und eine vollständige Personalakte zu sorgen.
9Ein Anspruch auf Übernahme in ein Beamtenverhältnis des Bundes ergebe sich auch nicht aus einer Zusicherung. Eine solche sei nach Aktenlage zu keinem Zeitpunkt erteilt worden. Er folge ferner nicht aus einem etwaigen Abschluss der Sicherheitsüberprüfung, der dem Antragsteller nach dessen – von der Antragsgegnerin bestrittenen – Behauptung am 14. August 2018 telefonisch mitgeteilt worden sein soll, weil die bei einer Übernahme veranlasste (allgemeine) Eignungsprüfung auch die charakterliche Eignung jenseits von Sicherheitsbedenken umfasse.
10Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen (fristgerecht vorgelegte Beschwerdebegründung vom 6. Mai 2020 und das Vorbringen mit dem außerhalb der Begründungsfrist eingereichten Schriftsatz vom 12. Juni 2020, soweit sich dieses auf eine Ergänzung der Beschwerdebegründung beschränkt) genügt teilweise schon nicht dem Darlegungserfordernis des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO und greift im Übrigen der Sache nach nicht durch.
111. Der Antragsteller macht zunächst geltend, er habe die Antragsgegnerin rechtzeitig über seine beschäftigungslose Zeit aufgeklärt.
12a) Insoweit führt er aus, er habe in seiner Bewerbung seinen beruflichen Werdegang korrekt dargestellt, so dass der Antragsgegnerin "bereits zum Zeitpunkt der Einladung zum Bewerbergespräch sämtliche Stationen und Tätigkeiten des Antragsteller bekannt" gewesen seien. Als er seinen Lebenslauf geschrieben habe, habe er nicht wissen können, wie lange seine einsatzlose Zeit andauern werde, und angesichts der Vakanz der Referatsleiterstelle "ZS C" mit einer Fortsetzung seines Einsatzes gerechnet. Er habe versucht, seine dienstliche Situation "in dem schematisch gehaltenen Online-Bewerbungsformular so gut wie möglich darzustellen", weshalb die Annahme einer Täuschungsabsicht abwegig sei. Die Beschäftigungslosigkeit spiele für die Bewertung seiner Eignung (im Übrigen) auch keine entscheidende Rolle.
13Auch in Ansehung dieses Vortrags ist die Annahme der Antragsgegnerin offensichtlich rechtsfehlerfrei, der Antragsteller habe sie in seiner schriftlichen Bewerbung über den für eine Übernahme bedeutsamen, zumindest hinsichtlich seiner Gründe aufklärungsbedürftigen Umstand seiner Beschäftigungslosigkeit getäuscht; diese Täuschung begründet aus der Sicht des Senats schon für sich genommen durchgreifende Zweifel an der Wahrheitsliebe und damit an der charakterlichen Eignung des Antragstellers für die angestrebte Übernahme in ein Beamtenverhältnis des Bundes bei dem Bundesamt für Verfassungsschutz.
14Der Vorhalt einer Täuschung bezieht sich ersichtlich nicht auf Angaben des Antragstellers in einem Bewerbungsformular, sondern auf solche in dem tabellarischen Lebenslauf und in dem Anschreiben, die der Antragsteller jeweils freitextlich verfasst hat. In seinem Bewerbungsschreiben vom 27. Dezember 2017 führt er u. a. aus: "Zuletzt leite ich kommissarisch das Referat Facility Management (…)"; hierbei sticht die Verwendung des Präsens besonders hervor, weil er zuvor mehrere andere, seit 2007 als Beamter wahrgenommene Funktionen stets unter Verwendung des Imperfekt geschildert hatte. Jedenfalls aber hat der Antragsteller mit dem von ihm zwar unter dem "31.10.2017" erstellten, aber erst Ende Dezember 2017 zusammen mit dem Bewerbungsschreiben vorgelegten Lebenslauf den (schon bezogen auf den 31. Oktober 2017) wahrheitswidrigen Eindruck erweckt, von "01.2017 – laufend" Referatsleiter Facility Management bei dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten zu sein. Zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Bewerbung befand er sich nämlich schon fast drei Monate lang im "Personalüberhang", was ihm sein Dienstherr kommuniziert haben musste. Die Bewertung, in der Vorlage solcher Erklärungen liege eine Täuschung, wird nicht durch den Einwand des Antragstellers erschüttert, er habe (im Dezember 2017) mit einem Ende der beschäftigungslosen Zeit gerechnet bzw. deren Dauer nicht absehen können. Dieser Einwand ist unerheblich, weil es sich – wie die Antragsgegnerin zutreffend geltend macht – von selbst versteht, dass Bewerberinnen und Bewerber um eine Übernahme gehalten sind, in ihren Bewerbungsunterlagen stets vollständige, wahrheitsgemäße und unmissverständliche Angaben u. a. über ihren beruflichen Werdegang zu machen. Der Einschätzung des Antragstellers, der Umstand, dass er ohne Beschäftigung war, sei für das Bewerbungsverfahren ohne Belang, kann ersichtlich nicht gefolgt werden. Dieser Umstand ist für die Antragsgegnerin selbstverständlich bedeutsam, schon weil er zumindest hinsichtlich seiner Gründe aufklärungsbedürftig ist.
15b) Der Antragsteller wendet sich ferner gegen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, seine Behauptung, im Rahmen des Vorstellungsgesprächs im März 2018 auf die Beschäftigungslosigkeit hingewiesen zu haben, sei schon "nicht bewiesen". Er müsse diese Tatsache im Eilverfahren nicht beweisen, sondern nur glaubhaft machen, was durch das Angebot seines Zeugnisses geschehen sei. Er habe der Auswahlkommission (in dem vor dem Bundesverwaltungsamt durchgeführten Assessment-Center) seinen häufig projektbezogenen Einsatz geschildert und angegeben, nun auf die Zuweisung einer neuen Aufgabe zu warten. Es ist zwar richtig, dass der Antragsteller die behauptete Tatsache, die nach der Entgegnung der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 21. November 2019 (dort S. 7 und 8) nicht zutreffen soll, im Eilverfahren nicht beweisen, sondern ihr Vorliegen nur glaubhaft machen muss. Letzteres ist ihm aber nicht gelungen. Zu einer Glaubhaftmachung streitiger Tatsachen stehen einem Antragsteller im Eilverfahren sämtliche Beweismittel, die auch im Hauptsacheverfahren verwertet werden dürfen, sowie das Mittel der Versicherung an Eides statt zur Verfügung.
16Vgl. etwa Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külp-mann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 326.
17Bis zum Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist hat der Antragsteller keine Versicherung an Eides statt abgegeben und entgegen seiner – schon nicht belegten und damit den Darlegungsanforderungen nicht genügenden – Behauptung in der Beschwerdebegründung auch kein Beweisangebot formuliert; dies ist vielmehr erstmals in dem nach Ablauf der Begründungsfrist vorgelegten und daher insoweit nicht mehr berücksichtigungsfähigen Schriftsatz vom 12. Juni 2020 geschehen. Unabhängig davon hat der Antragsteller auch mit diesem Schriftsatz nicht substantiiert vorgetragen, die Auswahlkommission – die von ihm in den schriftlichen Bewerbungsunterlagen hervorgerufene Fehlvorstellung, er gehe fortlaufend einer Tätigkeit nach (s. o.), korrigierend – klar, eindeutig und umfassend darüber informiert zu haben, dass er sich zu jenem Zeitpunkt bereits mehr als fünf Monate im "Personalüberhang" befand und eine ggf. auch längerfristig unsichere Beschäftigungsperspektive hatte. Er hat insoweit vielmehr nur die pauschale und nichtssagende Behauptung aufgestellt, im Auswahlgespräch "über seine berufliche Situation aufgeklärt" zu haben. Auch aus dem übrigen einschlägigen Vorbringen im gerichtlichen Verfahren ergibt sich schon nicht die Behauptung einer klaren und eindeutigen Mitteilung im o. g. Sinne. Nach seinem insoweit ersten Vortrag im Schriftsatz vom 20. Dezember 2019 will der Antragsteller lediglich seinen häufig projektbezogenen Einsatz geschildert und geäußert haben, er warte auf die Zuweisung einer neuen Aufgabe und sehe kommenden Projekten mit Freude entgegen. Diese Angaben sind nicht geeignet, die hervorgerufene Fehlvorstellung sicher zu korrigieren und damit substanzlos; sie könnten auch den wiederum falschen Eindruck vermitteln, es handele sich um eine kurze und vorübergehende Beschäftigungslosigkeit eher abwicklungstechnischer Art. Das gilt auch für die nicht substantiierte Angabe des Antragstellers im weiteren Schriftsatz vom 20. Januar 2020, er habe die Situation persönlich gegenüber der Auswahlkommission dargestellt, sowie für seinen Tatsachenvortrag in der Beschwerdebegründung, der sich in einer Wiederholung seines Vorbringens aus dem Schriftsatz vom 20. Dezember 2019 erschöpft.
18Lediglich ergänzend sei insoweit ausgeführt, dass der Antragsteller seine Behauptung, die Antragsgegnerin (jedenfalls) am 9. März 2018 hinreichend informiert zu haben, überraschenderweise nicht durch Vortrag zu seinen an diesem Tag eingereichten schriftlichen Angaben ergänzt hat. Der an ihn gerichteten, per E-Mail versandten Einladung des Bundesverwaltungsamtes (Servicezentrum Personalgewinnung) zum Auswahlverfahren vom 2. Februar 2018 (Blatt 320 ff. der Verwaltungsvorgänge) ist zu entnehmen, dass der Antragsteller den mit übersandten Personalbogen auszufüllen und zu der Auswahlveranstaltung am 9. März 2018 mitzubringen hatte. Im Personalbogen I waren unter Punkt 7. Angaben über die berufliche Tätigkeit ("Arbeitgeber/Dienststelle, Ort, Art der Tätigkeit und Arbeitsgebiet") zu machen, und zwar, wie im Formular ausgeführt ist, lückenlos und möglichst taggenau in zeitlicher Reihenfolge. Hätte der Antragsteller hier tatsächlich genaue und zutreffende Angaben gemacht, so hätte ein Verweis auf diese Unterlage im gerichtlichen Verfahren mehr als nur nahegelegen.
19Hat der Antragsteller auch in Ansehung des (berücksichtigungsfähigen) Beschwerdevortrags eine hinreichende Information der Auswahlkommission nicht glaubhaft gemacht, so greift auch dessen Argument (Beschwerdebegründung, S. 2, zweiter Absatz) nicht durch, die Antragsgegnerin habe aus der im März 2018 erlangten Kenntnis seiner Beschäftigungslosigkeit lange keine Schlüsse gezogen, was die Bedeutungslosigkeit dieses Umstands für die Bewertung seiner Qualifikation verdeutliche.
20c) Ferner rügt der Antragsteller insoweit noch die "Aussage" des Verwaltungsgerichts, es sei nicht erkennbar, dass er im weiteren, sich an das Assessment-Center anschließenden Verlauf des Einstellungsverfahrens von sich auf das Andauern seiner Beschäftigungslosigkeit hingewiesen habe (BA S. 6, Ende des ersten Absatzes). Hierzu trägt er vor: Er habe während eines Anrufs im Zusammenhang mit der Sicherheitsüberprüfung einem Mitarbeiter der Antragsgegnerin über seine aktuelle dienstliche Situation berichtet und diesem auch den Kontakt zu seiner Dienstvorgesetzten, Frau G. , vermittelt. Daraufhin habe im Juni 2018 ein längeres Telefonat dieses Mitarbeiters mit Frau G. stattgefunden, bei dem "auch die dienstliche Situation seiner beschäftigungslosen Zeit ausführlich besprochen" worden sei. Diesen Vortrag habe er bereits durch Benennung von Frau G. als Zeugin glaubhaft gemacht. Dieses Vorbringen greift, soweit es das behauptete – nicht aktenkundige – Telefonat mit dem Antragsteller betrifft, schon deshalb nicht durch, weil es wiederum substanzlos ist. Der Antragsteller gibt nämlich nicht an, wann und was genau er über seine "aktuelle dienstliche Situation" berichtet haben will. Unabhängig davon wäre, wie die Antragsgegnerin zutreffend vorgetragen hat, der Geheimschutzbeauftragte auch nicht der richtige Adressat für die gebotene Information der Antragsgegnerin gewesen. Dasselbe würde auch für etwaige Angaben der Frau G. gegenüber dem Geheimschutzbeauftragten gelten. Der Geheimschutzbeauftragte ist nämlich nach § 3 Abs. 1a SÜG eine von der Personalverwaltung der betroffenen Behörde zu unterscheidende getrennte, eigene Akten führende Organisationseinheit. Der Einwand des Antragstellers, er könne nicht wissen, welche Stelle der Personalabteilung zugeordnet sei und welche nicht, greift nicht durch. Hatte er nämlich durch vorangegangenes eigenes Verhalten einen Irrtum der personalverwaltenden Stelle hervorgerufen, der zu korrigieren war, so musste er – ggf. auch durch Nachfragen – sicherstellen, dass die (behauptete) Korrektur den richtigen Adressaten erreichte. Unabhängig davon ist der Einwand auch nicht glaubhaft, da der Antragsteller das Sicherheitsüberprüfungsverfahren nach dem SÜG bereits aus eigener Erfahrung kannte. Nach seinem eigenem Vortrag im Schriftsatz vom 20. Dezember 2019, (S. 7) hatte er nämlich schon früher eine Sicherheitsüberprüfung der Stufe 3 (Sܠ3) erfolgreich durchlaufen.
21d) Schließlich wendet sich der Antragsteller gegen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, es sei objektiv betrachtet ungewöhnlich, dass ein Beamter der Besoldungsgruppe A 14 BBesO mit vielfältigen Vorverwendungen über eine so lange Zeit ohne dienstlichen Einsatz bleibe (BA S. 6, erster Absatz). Er führt insoweit aus, dass er diesen Umstand jedenfalls nicht zu vertreten habe. Dieses Vorbringen genügt schon nicht den Anforderungen an eine hinreichende Darlegung. Es setzt sich nämlich nicht mit der unmittelbar anschließenden Einschätzung des Verwaltungsgerichts auseinander, es komme nicht darauf an, wer die Beschäftigungslosigkeit zu vertreten habe, weil der Antragsteller es jedenfalls zu vertreten habe, dass er die Antragsgegnerin nicht von sich aus informiert habe.
222. Weiter macht der Antragsteller geltend, er habe "auch nach Aufforderung durch die Antragsgegnerin zur schriftlichen Darstellung des beschäftigungslosen Zeitraums – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – alles ihm zur Aufklärung Mögliche getan". Er habe seine dienstliche Situation mehrfach erklärt und zudem von seiner Dienstvorgesetzten erklären lassen. Es sei nicht seine Aufgabe, "die Hintergründe dienstlicher Entscheidungen aufzuklären und an andere Dienststellen zu kommunizieren". Es könne ihm nicht vorgeworfen werden, keine schriftliche Erklärung abgegeben zu haben.
23Dieses Vorbringen greift nicht durch. In Ansehung des Vorstehenden und nach Aktenlage ist zunächst festzuhalten, dass der Antragsteller sich gegenüber der personalverwaltenden Stelle des Bundesamtes für Verfassungsschutz überhaupt erst zu seiner beschäftigungslosen Zeit geäußert hat, nachdem diese den Antragsteller aufgrund der (zweiten) Auswertung seiner Personalakten mit Schreiben vom 9. September 2019 aufgefordert hatte, aussagefähige Unterlagen zu Art und Inhalt seiner Verwendung in dem besagten Zeitraum zukommen zu lassen. Dieser Aufforderung ist er (schriftlich oder mündlich) nicht hinreichend nachgekommen. Er hat nämlich keinen substantiierten (schriftlichen) Vortrag zu seiner Beschäftigungslosigkeit, zu deren Gründen und zu etwaigen Verwendungen oder Tätigkeiten während des in Rede stehenden Zeitraums (Coachings, Personalentwicklungsmaßnahmen etc., vgl. die entsprechende spätere telefonische Auskunft der Frau G. vom 2. Oktober 2019, Beiakte Heft 1, Bl. 344) geleistet, sondern die Antragsgegnerin lediglich an seinen Dienstherrn verwiesen. Letzteres hat ihn, wie die Antragsgegnerin zutreffend geltend macht, aber nicht von der Obliegenheit entbunden, aus eigener Sicht substanzhaltig und nachvollziehbar zu diesen Fragen vorzutragen, was im Übrigen bis heute allenfalls ansatzweise – nicht substantiierte Hinweise im Schriftsatz vom 16. Februar 2020, S. 3 f. auf ein "Coaching" und auf ein Kümmern um seine im Mai 2018 geborene Tochter – geschehen ist (vgl. die Schriftsätze vom 6. November 2019, vom 20. Dezember 2019, vom 20. Januar 2020, vom 16. Februar 2020 und die Beschwerdeschrift vom 6. Mai 2020). Dabei war ihm – selbstverständlich – nicht aufgegeben, ihm nicht bekannte Hintergründe dienstlicher Entscheidungen seines Dienstherrn "aufzuklären", sondern nur die ihm kommunizierten (s. o.) oder sonst bekannten Gründe darzulegen. Dass der Antragsteller gerade in der Bewerbungssituation, in der er sich befunden hat, trotz Anforderung nicht (umgehend) eigene Auskünfte gegeben und nur auf seinen Dienstherrn verwiesen hat, ist im Übrigen auch dem Senat unerklärlich.
243. Ferner hält es der Antragsteller für unzulässig, negative Rückschlüsse aus dem Fehlen von Fortbildungsbescheinigungen in seiner Personalakte zu ziehen, weil er nicht verpflichtet gewesen sei, solche Bescheinigungen zur Akte zu geben. Er habe hierzu auch keinen Anlass gehabt, weil das Auswahlverfahren bei der Antragsgegnerin bereits abgeschlossen gewesen sei. Dieses Vorbringen stellt zunächst schon nicht die Bewertung in Frage, es sei verwunderlich, dass der Antragsteller als langjähriger Beamter in gehobener Stellung als Referatsleiter nicht schon seit dem Beginn seiner Beschäftigungslosigkeit (1. Oktober 2017) und von sich aus dafür gesorgt hat, dass etwaige Bescheinigungen zur Personalakte gelangen. Vor allem aber setzt es sich nicht mit der weiteren Einschätzung des Verwaltungsgerichts auseinander, es wäre von dem Antragsteller (jedenfalls) zu erwarten gewesen, vorhandene Nachweise angesichts der Nachfragen der Antragsgegnerin vorzulegen, was im Übrigen bis heute nicht geschehen ist.
25Außerdem wendet sich der Antragsteller gegen die Bemerkungen des Verwaltungsgerichts, es werde nicht erläutert, was unter den "Unterstützungsleistungen", die der Antragsteller im fraglichen Zeitraum nach Auskunft von Frau G. erbracht haben soll, zu verstehen sei, und Nachweise hierüber fänden sich auch nicht in der Personalakte. Insoweit meint der Antragsteller nur, die mangelnde Erläuterung könne ihm nicht angelastet werden, "da er diese Aussage nicht getätigt" habe. Dieses Vorbringen greift ebenfalls nicht durch, sondern weckt im Gegenteil weitere Eignungszweifel. Hat es "Unterstützungsleistungen" des Antragstellers gegeben, so ist nicht erkennbar, weshalb der Antragsteller nicht in der Lage (gewesen) sein sollte, hierzu selbst vorzutragen; haben solche Leistungen hingegen nicht stattgefunden, wäre die Auskunft der Frau G. jedenfalls insoweit fehlerhaft und stellte sich die Frage nach dem Grund einer solchen falschen Angabe. Unabhängig davon verhält sich der Antragsteller mit seinem hier in Rede stehenden Beschwerdevorbringen erkennbar widersprüchlich, weil er einerseits seinen Obliegenheiten durch den Verweis auf eine Auskunft seines Dienstherrn genügen, sich aber andererseits einzelne Auskünfte desselben nicht zurechnen lassen will.
264. Weiter macht der Antragsteller geltend, "die Figur der 'charakterliche(n) Ungeeignetheit'" habe die Antragsgegnerin nur deshalb "ersonnen", um ihre ablehnende, nur auf die Beschäftigungslosigkeit als solche gestützte Entscheidung nachträglich "gerichtsfest" zu machen. Hierfür spreche insbesondere die ihm gegenüber in einem Telefonat erfolgte Erläuterung der Frau Q. , die Ablehnung sei darauf zurückzuführen, dass sich im Verfahren "noch ein besserer Bewerber gefunden" habe.
27Dem kann offensichtlich nicht gefolgt werden. Die Absage stützte sich zu keinem Zeitpunkt auf den bloßen Umstand der Beschäftigungslosigkeit des Antragstellers. Sie fand ihren Grund, wie die Antragsgegnerin zutreffend betont, vielmehr von Anfang an darin, dass der Antragsteller in seinen Bewerbungsunterlagen unvollständige bzw. falsche Angaben gemacht hatte, ohne diese nachfolgend von selbst zu korrigieren, und dass er nach Bekanntwerden seiner Beschäftigungslosigkeit auch trotz wiederholter Aufforderung nichts von Substanz zu dieser und zu etwaigen Tätigkeiten im fraglichen Zeitraum dargelegt hat. Aus der Erklärung der Frau Q. gegenüber dem Antragsteller folgt keine abweichende Bewertung. Nach deren Gesprächsvermerk über das Telefonat vom 28. Oktober 2019 (Beiakte Heft 1, Bl. 344) hat sie dem Antragsteller zu den Gründen der Absage mitgeteilt, dass "in der Gesamtschau" deutlich geworden sei, "dass andere Bewerber/innen besser geeignet" gewesen seien; außerdem habe sie auf wiederholte Nachfragen des Antragstellers, ob die Absage auf "den nicht nachgewiesenen Zeitraum" zurückzuführen sei, erklärt, dass sich dies ihrer Kenntnis entziehe. Diese Äußerungen mögen zwar zumindest den Eindruck einer Wettbewerbssituation erwecken ("besser"), rekurrieren aber nicht auf einen in einer solchen Situation vorrangig maßgeblichen Leistungsvergleich, sondern thematisieren die Eignung des Antragstellers und anderer Bewerber; besser geeignet ist ein anderer Bewerber aber auch dann, wenn der Betroffene als nicht geeignet angesehen wird. Außerdem hätte eine Äußerung, es habe sich noch ein besser qualifizierter, also aus Leistungsgründen vorzuziehender Bewerber gefunden, auch keinen Sinn ergeben, weil sich der Antragsteller schon seit dem erfolgreichen Absolvieren des Assessment-Centers nicht mehr in einer Konkurrenzsituation befunden hatte. Hierauf hat die Antragsgegnerin in ihrer Erwiderungsschrift vom 22. Mai 2020 (S. 7) ohne weiteres nachvollziehbar hingewiesen.
285. Schließlich rügt der Antragsteller, das Verwaltungsgericht habe "den Grad der Zusicherung" verkannt. Im März 2018 sei ihm mitgeteilt worden, dass er – vorbehaltlich der amtsärztlichen Untersuchung und des positiven Ausgangs der Sicherheitsüberprüfung – "so weit oben auf der Liste stehe", dass er eingestellt werden werde. Im April 2018 sei ihm schriftlich mitgeteilt worden, dass das Auswahlverfahren erfolgreich verlaufen sei. Die ärztliche Untersuchung sei im April 2018 erfolgt, und die Antragsgegnerin habe ihm am 14. August 2018 mitgeteilt, dass die Sicherheitsüberprüfung abgeschlossen sei. All diese Zusagen habe die Antragsgegnerin in dem Wissen um die (wegen Verwirkung heute nicht mehr vorwerfbare) beschäftigungslose Zeit gemacht.
29Dieses Vorbringen verfehlt bereits die Anforderungen an eine hinreichende Darlegung. Es setzt sich nämlich nicht mit den entsprechenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (BA S. 7, vorletzter Absatz, bis S. 8, Ende des zweiten Absatzes) auseinander. Das Verwaltungsgericht hat hier dargelegt und näher begründet, dass die Antragsgegnerin (schon) keine Umstände gesetzt habe, die als Zusicherung der Übernahme in das Bundesbeamtenverhältnis gewertet werden könnten, und dass auch der nach der (streitigen) Behauptung des Antragstellers diesem per Anruf vom 14. August 2018 mitgeteilte positive Abschluss der Sicherheitsüberprüfung noch keinen Anspruch auf Übernahme vermittele. Unabhängig davon steht die mit der Beschwerdebegründung (S. 6) aufgestellte Behauptung des Antragstellers, ihm sei am 14. August 2018 der Abschluss der Sicherheitsüberprüfung mitgeteilt worden, im Widerspruch zu seinem früheren Vortrag. Mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2019 (S. 8) hatte er nämlich lediglich die Mitteilung behauptet, die "Sicherheitsermittlungen" (Hervorhebung nur hier) seien abgeschlossen, und weiter ausgeführt, dass vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar sei, aus welchen Gründen über ein Jahr später noch immer kein Ergebnis der Sicherheitsüberprüfung vorliegen solle. Auch nachdem die Antragsgegnerin den Vortrag aus dem Schriftsatz vom 20. Dezember 2019 mit Schriftsatz vom 6. Januar 2020 (S. 3) bestritten und nach Rücksprache mit dem Geheimschutzbeauftragten ausgeführt hatte, dass dem Antragsteller keine Auskunft über den Stand des Überprüfungsverfahrens gegeben worden sei, hat dieser zunächst nur behauptet, mit dem Anruf habe ihm der Abschluss der Sicherheitsermittlungen mitgeteilt werden sollen (Schriftsatz vom 20. Januar 2020, S. 2). Lediglich ergänzend sei ausgeführt, dass eine Einstellungszusage, auf die sich der Antragsteller mit Erfolg berufen könnte, schon mangels Schriftform (vgl. § 38 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) nicht vorliegen kann.
30Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
31Die Festsetzung des Streitwerts für das erstinstanzliche Verfahren, die der Senat in Anwendung der Regelung des § 63 Abs. 3 GKG unter Änderung der auf 5.000,00 Euro lautenden erstinstanzlichen Festsetzung vornimmt, beruht auf den §§ 40, 45 Abs. 1 Satz 3 (einheitlicher Gegenstand von Haupt- und Hilfsantrag), 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG sowie auf § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 (Begründung eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses auf Lebenszeit), Satz 2 und 3 GKG. Auszugehen ist nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 GKG von dem Jahresbetrag der Bezüge, die dem jeweiligen Antragsteller nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Antragstellung (hier: 6. November 2019) bekanntgemachten einschlägigen Besoldungsrechts (hier: für Beamtinnen und Beamte des Bundes) unter Zugrundelegung der jeweiligen Erfahrungsstufe fiktiv für das angestrebte Amt im Kalenderjahr der Antragstellung zu zahlen sind. Nicht zu berücksichtigen sind bei der Ermittlung der maßgeblichen Bezüge die nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 GKG ausgenommenen Besoldungsbestandteile (hier insbesondere die nicht ruhegehaltfähige "Sicherheitszulage", § 42 Abs. 4 BBesG, Nr. 8 Anlage I BBesG). Der nach diesen Maßgaben zu bestimmende Jahresbetrag ist in Ausübung des dem Senat eingeräumten Ermessens wegen der ausweislich der Anträge nur begehrten vorläufigen Sicherung des behaupteten Anspruchs auf die Hälfte zu reduzieren. Der nach den vorstehenden Grundsätzen zu ermittelnde Jahresbetrag beläuft sich hier angesichts der angestrebten Übernahme in ein Amt der Besoldungsgruppe A 13 BBesO (vgl. die Ausschreibung des BMI für das Bundesamt für Verfassungsschutz, Blatt 2 der Verwaltungsvorgänge, und das vom Antragsteller unter dem 4. September 2019 erklärte Einverständnis mit einer Rückernennung nach A 13) und bei Zugrundelegung einer der hier nur denkbaren Erfahrungsstufen 4 bis 8 für das maßgebliche Jahr 2019 jeweils auf einen in die Wertstufe bis 35.000,00 Euro fallenden Betrag (bei Ansatz der Erfahrungsstufe 4: für Januar bis März 2019 jeweils noch 4.916,18 Euro, für die Monate ab April 2019 schon jeweils 5.068,09 Euro, in der Summe 60.361,35 Euro, hälftig– abgerundet – 30.180,67 Euro; bei Ansatz der Erfahrungsstufe 8: für Januar bis März 2019 jeweils noch 5.501,10 Euro, für die Monate ab April 2019 schon jeweils 5.671,08 Euro, in der Summe 67.543,02 Euro, hälftig 33.771,51 Euro).
32Die Festsetzung des Streitwerts für das am 22. April 2020 eingeleitete Beschwerdeverfahren beruht auf den vorzitierten, die erstinstanzliche Festsetzung betreffenden Vorschriften sowie zusätzlich auf § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG und folgt denselben Grundsätzen wie die korrigierte erstinstanzliche Festsetzung. Der danach zu ermittelnde, auf das Jahr der Beschwerdeerhebung (2020) zu beziehende Halbjahresbetrag der fiktiv zu zahlenden Bezüge nach A 13 beläuft sich bei Ansatz der genannten Erfahrungsstufen ebenfalls stets auf einen in die festgesetzte Wertstufe fallenden Betrag (bei Ansatz der Erfahrungsstufe 4 auf 30.677,14 Euro und bei Berücksichtigung der Erfahrungsstufe 8 auf 34.327,03 Euro).
33Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer - vom 6. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer - vom 6. Juli 2020 hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend den Antrag der Antragstellerin abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ablehnenden und die Abschiebung androhenden Bescheid der Antragsgegnerin anzuordnen. Die von der Antragstellerin mit der Beschwerde geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränkten hat, gebieten eine Änderung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung nicht.
2
Die Antragstellerin macht mit ihrer Beschwerde geltend, das Verwaltungsgericht habe den Begriff der Unterstützung des Terrorismus im Sinne des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG zu weit ausgelegt. Der Ehemann der Antragstellerin habe die Moschee des am 14. März 2017 verbotenen Deutschsprachigen C. e.V. nur zur Religionsausübung besucht und von der dortigen Islamistenszene keine Kenntnis gehabt. Der Ehemann sei von der D. zur C. gewechselt, da sein überwiegender Freundeskreis die C. besucht habe und es einen kleineren Konflikt bei der D. gegeben habe. Das vom C. angebotene Seminar in E., bei dem F. gesprochen habe, sei wie ein Jugendherbergs-Ausflug angeboten worden. Der Ehemann selbst sei während des Seminars erkrankt und habe die meiste Zeit im Bett gelegen. Allein aus dem neunmaligen Moscheebesuch und dieser Seminarteilnahme würden sich keine Unterstützungshandlungen ergeben. Der Ehemann sei keine allzu bekannte Person, nicht charismatisch und rede kaum.
3
Diese Einwände verhelfen der Beschwerde nicht zum Erfolg. Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs der Versagungsgrund nach § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG entgegen. Die Feststellung, dass der C. eine Vereinigung war, die den Terrorismus unterstützt, wird von der Antragstellerin nicht angegriffen. Der Einwand, ihr Ehemann habe den C. nicht unterstützt, überzeugt den Senat nicht.
4
Die individuelle Unterstützung einer terroristischen Vereinigung oder einer Vereinigung, die eine terroristische Vereinigung unterstützt, im Sinne des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG erfasst alle Verhaltensweisen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung auswirken. Darunter kann die Mitgliedschaft in der terroristischen oder in der unterstützenden Vereinigung ebenso zu verstehen sein wie eine Tätigkeit für eine solche Vereinigung ohne Mitgliedschaft. Auch die bloße Teilnahme an Demonstrationen oder anderen Veranstaltungen kann eine Unterstützung in diesem Sinne darstellen, wenn sie geeignet ist, eine positive Außenwirkung im Hinblick auf die missbilligten Ziele zu entfalten. Weiterhin gilt für die Fälle des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung ein abgesenkter Gefahrenmaßstab, der auch die Vorfeldunterstützung des Terrorismus erfasst und keine von der Person ausgehende konkrete und gegenwärtige Gefahr erfordert. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Unterstützerbegriff weit auszulegen und anzuwenden, um damit auch der völkerrechtlich begründeten Zwecksetzung des Gesetzes gerecht zu werden, dem Terrorismus schon im Vorfeld die logistische Basis zu entziehen. Maßgeblich ist, inwieweit das festgestellte Verhalten des Einzelnen zu den latenten Gefahren der Vorfeldunterstützung des Terrorismus nicht nur ganz unwesentlich oder geringfügig beiträgt und deshalb selbst potenziell als gefährlich erscheint. In subjektiver Hinsicht muss für den Ausländer die eine Unterstützung der Vereinigung, ihrer Bestrebungen oder ihrer Tätigkeit bezweckende Zielrichtung seines Handelns erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Auf eine darüberhinausgehende innere Einstellung kommt es nicht an (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.7.2017 - 1 C 28/16 -, juris Rn. 21f. m.w.N. zum inhaltsgleichen § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).
5
Unter Anwendung dieses Maßstabs erachtet auch der Senat aufgrund der Gesamtumstände eine derartige Unterstützung einer terroristischen Vereinigung durch den Ehemann der Antragstellerin für glaubhaft.
6
Mit dem über den Erstkontakt hinausgehenden Besuch der C. und der Teilnahme an einem C.-Seminar sowie die Anreise dorthin im Auto eines der Prediger der C. ist der Ehemann als Unterstützter in diesem Sinne anzusehen. Bereits durch seine nicht nur flüchtige Anwesenheit hat er zu erkennen gegeben, dem C. offen gegenüber zu stehen und so dazu beigetragen, ihn zu legitimieren.
7
Die bestärkende Wirkung, die wiederholte Moscheebesuche für salafistische Vereinigungen haben, ist nicht zu unterschätzen. Die Rekrutierung und Indoktrinierung von Anhängern wird nicht nur vereinfacht, sondern vielfach erst ermöglicht, wenn derartige Vereinigungen sich als gemeinschaftsstiftende Orte darstellen können und so zu Anlaufstellen für andere Moslems werden. Der Ehemann hat im Aufklärungsgespräch am 5. März 2019 selbst erwähnt, die C. gewählt zu haben, weil diese immer offen gewesen sei. Je mehr Personen sich in diesen Gemeindezentren aufhalten, umso einladender wirken sie auf Außenstehende.
8
Jedenfalls zusammen mit der Seminarteilnahme und der Anreise dorthin ist von einer Unterstützung auszugehen. Auch wenn der Ehemann selbst keine aktive Rolle bei dem Seminar eingenommen haben sollte, so kann bereits seine körperliche Anwesenheit andere Seminarteilnehmer zur Teilnahme motiviert und bestärkt haben. Der Vortrag, während des Seminars sei der Ehemann nur krank im Bett gelegen, wertet der Senat als unglaubhafte Schutzbehauptung.
9
Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Beschluss zudem herausgearbeitet, dass die islamistische Ausrichtung des C. dem Ehemann der Antragstellerin nicht hätte verborgen bleiben können. Der Senat verweist auf die detaillierten Ausführungen des Verwaltungsgerichts (Beschlussabdruck S. 8-10) und macht sie sich zu eigen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
10
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
11
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 8.1 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Der am 20. August 2020 von der Antragstellerin gestellte Antrag,
2
die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 5. August 2020 gegen die Baugenehmigung vom 28. Juli 2020 anzuordnen,
3
bleibt ohne Erfolg.
4
Der nach §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist zulässig, aber unbegründet.
5
Der Antrag ist statthaft. Der von der Antragstellerin erhobene Widerspruch vom 5. August 2020 gegen die Baugenehmigung vom 28. Juli 2020 entfaltet i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO angesichts der Regelung des § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung.
6
Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Interesse der beigeladenen Bauherren an der sofortigen Ausnutzung der ihnen erteilten Baugenehmigung einerseits und das Interesse der antragstellenden Nachbarin, von der Vollziehung der Baugenehmigung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Darüber hinaus ist in die Abwägung einzustellen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens gemäß § 212 a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung haben sollen und der Gesetzgeber damit dem Bauverwirklichungsinteresse grundsätzlich den Vorrang eingeräumt hat. Insofern kann das Gericht die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nur anordnen, wenn auf Seiten der Antragstellerin geltend gemacht werden kann, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ihre Rechtsposition durch den Bau und die Nutzung des genehmigten Vorhabens unerträglich oder in einem nicht wiedergutzumachenden Maße beeinträchtigt bzw. gefährdet wird. Dabei macht der Verweis auf die Rechtsposition der antragstellenden Nachbarin allerdings deutlich, dass bei baurechtlichen Nachbarrechtsbehelfen nicht allein die objektive Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung in den Blick zu nehmen ist, sondern dass Rechtsbehelfe dieser Art nur erfolgreich sein können, wenn darüber hinaus gerade der widersprechende bzw. klagende Nachbar in subjektiv-öffentlichen Nachbarrechten verletzt ist. Ob die angefochtene Baugenehmigung insgesamt objektiv rechtmäßig ist, ist dagegen nicht maßgeblich. Vielmehr ist die Baugenehmigung allein daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen Vorschriften verstößt, die dem Schutz des um Rechtsschutz nachsuchenden Nachbarn dienen. Der Nachbar kann sich nur auf solche Interessen berufen, die das Gesetz im Verhältnis der Grundstücksnachbarn untereinander als schutzwürdig ansieht. Dabei ist für die Beurteilung der Verletzung von öffentlich-rechtlich geschützten Nachbarrechten durch eine Baugenehmigung allein der Reglungsinhalt der Genehmigungsentscheidung maßgeblich. Eine hiervon abweichende Ausführung kann die Aufhebung der Baugenehmigung demgegenüber nicht rechtfertigen.
7
Nach diesem Maßstab überwiegt vorliegend das Interesse der Beigeladenen, die ihnen erteilte Baugenehmigung sofort, d.h. ungeachtet des Widerspruchs der Antragstellerin ausnutzen zu können; denn bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage lässt sich nicht mit hinreichender, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die angefochtene Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 28. Juli 2020 Nachbarrechte der Antragstellerin verletzt.
8
Die Antragstellerin vermag sich hinsichtlich des seiner Art nach unstreitig gebietsverträglichen Wohnbauvorhabens der Beigeladenen nicht mit Erfolg auf einen sog. Gebietserhaltungs- oder Gebietsbewahrungsanspruch zu berufen. Einen Gebietsprägungserhaltungsanspruch des Inhalts, dass dieser unabhängig von der Art der Nutzung des geplanten Bauvorhabens einen Abwehranspruch vermittelt, weil das Vorhaben einem für das Baugebiet charakteristischen harmonischen Erscheinungsbild, etwa im Sinne einer vorrangigen Bebauung mit Wohnhäusern mit einer bestimmten Bebauungstiefe entlang einer gedachten Baugrenze, nicht entspricht, erkennt das Gericht in ständiger Rechtsprechung nicht an (vgl. etwa Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 24. Februar 2014 - 2 B 12/14; vom 24. November 2017 – 2 B 56/17; so auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. Mai 2014, - 1 ME 47/14; Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 21. Juli 2015 – 1 MB 16/15).
9
Bei summarischer Prüfung verletzt die streitgegenständliche Baugenehmigung über die bauliche Erweiterung des Gebäudes der Beigeladenen darüber hinaus nicht das Rücksichtnahmegebot in seiner besonderen Ausprägung der Grundsätze der sog. Doppelhausrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 19. März 2015 – 4 C 12/14 –, juris; Beschluss vom 19. März 2015 – 4 B 65/14 –, juris; Urteil vom 05. Dezember 2013 – 4 C 5/12 –, BVerwGE 148, 290-297; BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000 – 4 C 12/98 –, BVerwGE 110, 355-363), weswegen dahinstehen kann, ob die Antragstellerin sich hierauf überhaupt berufen kann bzw. ob dies vorliegend nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) deswegen ausgeschlossen ist, weil sie selbst in der Vergangenheit in erheblichem Umfang aus dem diesbezüglichen wechselseitigen Austauschverhältnis ausgebrochen ist (vgl. VGH München, Beschluss vom 14. Februar 2018 – 15 CS 17.2549, NVwZ-RR 2018, 560).
10
Ein Doppelhaus, welches nach Maßgabe des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO seine Umgebung als offene Bauweise zu prägen vermag, entsteht dadurch, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch das Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Kein Doppelhaus bilden dagegen zwei Gebäude, die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbstständige Baukörper erscheinen (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. März 2020 – 2 A 3479/18, Rn. 45, juris). Ein Doppelhaus verlangt stets, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden. Sie müssen in eine harmonische Beziehung zueinander treten. Diese harmonische Beziehung kann nicht dadurch gestört werden, dass einer der Eigentümer die Grenzbebauung im hinteren Bereich einseitig in einem erheblichen Umfang fortsetzt. Der Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus kann dabei auch dann entstehen, wenn ein nichtgrenzständiger Anbau wegen seiner Abmessungen die bisherige Doppelhaushälfte so massiv verändert, dass die beteiligten Gebäude nicht mehr als bauliche Einheit erscheinen. Ein solcher Fall kann insbesondere dann gegeben sein, wenn der im Verhältnis zur bisherigen Kubatur massive Anbau grenznah errichtet wird und – in seiner Wirkung einem grenzständigen Anbau vergleichbar – die Freiflächen auf dem Grundstück der anderen Doppelhaushälfte abriegelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000 – 4 C 12/98, Beschluss vom 10. April 2012 – 4 B 42/11, Urteil vom 5. Dezember 2013, 4 C 5/12). Ob ein nicht grenzständiger Anbau die bisherige bauliche Einheit zweier Doppelhaushälften aufhebt, hängt maßgebend von den Umständen des Einzelfalls ab (BVerwG, Beschluss vom 10. April 2012 – 4 B 42/11, Rn. 9, juris). Insoweit verbietet sich eine abstrakt-generell oder mathematisch-prozentual Betrachtungsweise (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Mai 2014 – 2 A 7/13 –, Rn. 61, juris). Es bedarf einer (Gesamt-)Würdigung des Einzelfalls unter Betrachtung quantitativer und qualitativer Gesichtspunkte, ob die Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut erscheinen (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18. Januar 2016 – 10 A 2574/14 –, Rn. 9, juris).
11
Aus diesem besonderen nachbarschaftlichen Austauschverhältnis der Bebauung von Grundstücken mit Doppelhäusern darf aber nicht gefordert werden, dass die ein Doppelhaus bildenden Gebäude vollständig oder im Wesentlichen deckungsgleich aneinandergebaut werden müssen. Die Haushälften können auch zueinander versetzt oder gestaffelt an der Grenze errichtet werden, sie müssen jedoch zu einem wesentlichen Teil aneinandergebaut sein. Aus den städtebaulichen Wurzeln des Doppelhauses folgt auch nicht, dass die Haushälften in ihren städtebaulich relevanten Merkmalen – Überdeckung der Giebelflächen, Kubatur, Traufen, Dachform, Dachneigung und Firsthöhe, Grundfläche und Bautiefe – einander im Wesentlichen entsprechen müssen. Sie müssen lediglich quantitativ – zu einem wesentlichen Teil – und qualitativ in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut sein und können auch nur in harmonischer Beziehung zueinander oder miteinander erweitert werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000 – 4 C 12/98, juris). Untergeordnete Anbauten können grundsätzlich auch im Falle des Vorliegens eines Doppelhauses als Gestaltungselemente nicht grenzständig errichtet werden (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. März 2020 – 2 A 3479/18, Rn. 61 f., juris), sofern sie die vorgenannten Maßgaben erfüllen.
12
Mit dem Bauvorhaben der Beigeladenen wird unter Zugrundelegung dieser Prämissen insgesamt noch keine Disproportionalität in der Weise geschaffen, dass die Haushälfte der Antragstellerin als von dem erweiterten Wohnhaus der Beigeladenen dominiert und nur noch als bloßes Anhängsel in Form eines untergeordneten Anbaus erscheint (vgl. hierzu Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. April 2012 – 10 A 1035/10 –, Rn. 37, juris). Das nicht grenzständige Vorhaben der Beigeladenen verändert die Doppelhaushälfte jedenfalls nicht derart massiv, dass die Gebäude der Antragstellerin und der Beigeladenen hierdurch nicht mehr als bauliche Einheit erscheinen. Die Haushälften erscheinen vielmehr als noch ausreichend gleichgewichtig. Der beabsichtigte Anbau nimmt die Bestandssituation der Doppelhaushälfte der Antragstellerin insoweit auf, als er spiegelbildlich die Doppelhaushälfte der Beigeladenen ebenfalls um einen rückwärtigen Anbau ergänzt und insoweit zu einer gewissen Harmonie der Bebauung beiträgt. Etwas Gegenteiliges gilt auch nicht vor dem Hintergrund, dass das Vorhaben eine von dem auf dem Grundstück der Antragstellerin vorhandenen Anbau abweichende Bebauungstiefe von 4,71 m aufweist. Die Kammer geht bei der in dem vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung der Sachlage davon aus, dass der Bestandsanbau der Antragstellerin abweichend von der baurechtlichen Genehmigungssituation tatsächlich eine Tiefe von ca. 4,4 m aufweist. Dies haben die Beigeladenen unter Vorlage eines entsprechenden Lichtbildes samt der dazugehörigen Berechnung nachvollziehbar dargelegt (s. Bl. 34 d. Gerichtsakte). Die Antragstellerin ist diesem Vorbringen nicht mehr entgegengetreten. Die demzufolge vorliegende (Tiefen-)Differenz der Anbauten von rund 30 cm ist aufgrund ihres geringen Umfanges nicht geeignet, das Erscheinungsbild des Gesamtgebäudes derart zu beeinträchtigen, dass die Haushälften nur noch als zwei zufällig aneinander gebaute Einzelhäuser erscheinen.
13
Das Gericht verkennt nicht, dass das genehmigte Vorhaben ausweislich der Bauvorlagen über zwei Vollgeschosse und ein Satteldach verfügen soll, wohingegen der Bestandsanbau auf dem Grundstück der Antragstellerin eingeschossig ausgestaltet und mit einem Flachdach versehen ist. Die insoweit in quantitativer Hinsicht abweichende Gestaltung der Geschossigkeit der Anbauten ist zur Überzeugung des Gerichts jedoch nicht geeignet, das Bild einer baulichen Einheit des Gesamtgebäudes zu durchbrechen. Hierfür fehlt es dem Vorhaben mit einer Länge von 4,71 m und Breite von 4,40 m sowie einer Traufhöhe von ca. 6,00 m jedenfalls bei der gebotenen Gesamtbetrachtung (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18. Januar 2016 – 10 A 2574/14 –, Rn. 12, juris) an der erforderlichen Dominanz, die im Einzelfall dazu führen kann, dass zwei (ehemalige) Doppelhaushälften durch einen Anbau als zwei zufällig aneinander gebaute Einfamilienhäuser erscheinen. Die Dachform und -neigung des Gesamtgebäudes bleibt in weiten Teilen erhalten. Auf Höhe des gemeinsamen Dachfirstes ergeben sich keine baulichen Änderungen. Die sich über beide Doppelhaushälften erstreckende Schleppgaube soll unverändert fortbestehen, wodurch insoweit fortgesetzt der Eindruck der Verklammerung der Doppelhaushälften erhalten bleibt. Von der Erschließungsstraße aus gesehen wird das frontale Erscheinungsbild des Gebäudes im Übrigen nicht verändert. Das Vorhaben nimmt die Höhe der rückseitigen Schleppgaube auf und ordnet sich auf diese Weise dem mit einer höheren Firsthöhe versehenen Gesamtgebäude (vgl. Bl. 22 Beiakte A) unter. Die von dem Bestandsanbau der Antragstellerin abweichende Geschossigkeit des Vorhabens lässt im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch deswegen nicht den Eindruck entstehen, dass es sich bei der Haushälfte der Antragstellerin um ein bloßes Anhängsel in Gestalt eines untergeordneten Anbaus handelt, weil der sich in südliche und westliche Richtung erstreckende Bestandsanbau ihrer Doppelhaushälfte ein Gewicht verleiht, der dieser Annahme zur Überzeugung der Kammer entgegensteht. Die zwecks Erweiterung der Wohnfläche errichteten eingeschossigen Anbauten der Antragstellerin weisen rückwärtig eine Gesamtbreite von bis zu 7,73 m auf (vgl. Bl. 18 Beiakte B) und erreichen damit nahezu exakt die Gesamtbreite der Doppelhaushälfte der Beigeladenen (vgl. Bl. 20 d. Beiakte A). In westlicher Richtung erreicht die Außenwand des Anbaus eine Gesamtlänge (9,00 m), welche die Länge der Giebelseite des ursprünglichen Baukörpers auf ihrem Grundstück übersteigt (8,95 m). Im Falle der Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ist somit, trotz der differierenden Geschossigkeit und geringfügig abweichenden Bebauungstiefe, in der Zusammenschau eine ausreichende Gleichwertigkeit der Doppelhaushälften sichergestellt.
14
Das Vorhaben erweist sich auch im Übrigen nicht als rücksichtslos. Das sich aus § 15 Abs. 1 BauNVO bzw. aus § 34 Abs. 1 BauGB ergebende nachbarschützende allgemeine Gebot der Rücksichtnahme ist nach dem Sachstand im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht verletzt.
15
Welche Anforderungen das Rücksichtnahmegebot begründet, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, desto weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu üben. Das Rücksichtnahmegebot verlangt in diesem Sinne eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem durch das Gebot begünstigten Nachbarn und andererseits dem zur Rücksichtnahme verpflichteten Bauherrn nach Lage der Dinge zuzumuten ist, und ist verletzt, wenn diese Abwägung ergibt, dass das Vorhaben dem Nachbarn gegenüber als rücksichtslos anzusehen ist, weil die mit dem Vorhaben verbundenen Folgen die Grenzen des dem Nachbarn unter den gegebenen Umständen Zumutbaren überschreiten (Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2020 – 1 MB 1/20, n.v.). Letzteres ist vorliegend nicht der Fall.
16
Das Vorhaben der Beigeladenen erweist sich insbesondere – auch losgelöst von der Doppelhausrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – hinsichtlich seiner Ausmaße nicht als rücksichtslos. Es ist zwar in der Rechtsprechung anerkannt, dass nachbarliche Belange in unzumutbarer Weise beeinträchtigt sein können, wenn ein Nachbaranwesen durch die Ausmaße eines Bauvorhabens geradezu „erdrückt“, „eingemauert“ oder „abgeriegelt“ würde. Dies wird insbesondere dann angenommen, wenn die baulichen Dimensionen des „erdrückenden Gebäudes“ aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles derart übermächtig sind, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch überwiegend wie eine von dem herrschenden Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird, oder das Bauvorhaben das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, d.h. dort das Gefühl des Eingemauertseins oder der Gefängnishofsituation hervorruft (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. März 1981 - 4 C 1.78 -, sog. „Hochhaus-Fall“ - 12-geschossiges Hochhaus neben 2-geschossiger Bebauung -; OVG Münster, Urteil vom 9. August 2006 – 8 A 3726/05, juris). Dem Grundstück muss gleichsam die Luft zum Atmen genommen werden. Dass das Vorhaben die bislang vorhandene Situation lediglich verändert oder dem Nachbarn (sehr) unbequem ist, reicht nicht aus. Die in den gewählten Ausdrücken bzw. Bildern („Gefängnishofsituation“, „Eingemauertsein“, „Erdrücken“, „Erschlagen“, „Luft zum Atmen nehmen“) liegende „Dramatik“ ist danach vielmehr ernst zu nehmen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. Januar 2007, - 1 ME 80/07 - und vom 13. Januar 2010, - 1 ME 237/09 -). Das von den Beigeladenen beabsichtigte Vorhaben erweist sich – entsprechend der vorstehenden Ausführungen – weder seiner Höhe noch dem Volumen nach als „übergroßer“ Baukörper (vgl. hierzu VG München, Urteil vom 15. Juli 2019 – M 8 K 18.1148 –, Rn. 76, juris). Das Vorhaben bleibt hinter der Firsthöhe des auf den Grundstücken der Antragstellerin und der Beigeladenen befindlichen Bestandsgebäudes zurück und ordnet sich dem Hauptgebäude insoweit unter. Es nimmt darüber hinaus im Wesentlichen die auf dem Grundstück der Antragstellerin vorhandene Bebauungstiefe auf und überschreitet diese nur geringfügig. Schließlich hält das Vorhaben einen seitlichen Abstand von 3,00 m zu dem Grundstück der Antragstellerin ein. Von einer erdrückenden Wirkung des Vorhabens gegenüber dem Grundstück bzw. Gebäude der Antragstellerin entsprechend der vorstehenden Maßgaben kann aus diesem Grund keine Rede sein.
17
In diesem Sinne ist auch zu konstatieren, dass das Vorhaben keine Freiflächen auf dem Grundstück der Antragstellerin – im Sinne der von der Antragstellerin in Bezug auf die Doppelhausrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. April 2012 – 4 B 42/11 –, Rn. 9, juris) – „abriegelt“. Schon eine bloße Beeinträchtigung von Freiflächen erscheint vorliegend zweifelhaft, da sich in der dem Vorhaben entsprechenden Bebauungstiefe im Wesentlichen der auf dem Grundstück der Antragstellerin bereits verwirklichte Anbau befindet.
18
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) und 2) waren nicht gemäß § 162 Abs. 3 VwGO der Antragstellerin aufzuerlegen, da die Beigeladenen keinen eigenen ausdrücklichen Antrag gestellt und somit nicht an dem Kostenrisiko (§ 154 Abs. 3 VwGO) teilgenommen haben.
19
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG. Dabei hat die Kammer das wirtschaftliche Interesse der Antragstellerin mit 15.000,00 € für das Hauptsacheverfahren in Ansatz gebracht. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wird jener Wert eines entsprechenden Hauptsacheverfahrens in ständiger Spruchpraxis der Kammer mit der Hälfte des Betrages veranschlagt, so dass sich hier der mit 7.500,00 € festgesetzte Streitwert errechnet.
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auf 133,45 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
3Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Diesen Anforderungen genügt die auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 5 VwGO gestützte Antragsbegründung, auf deren Prüfung der Senat im Zulassungsverfahren beschränkt ist, nicht. Die Zulassung der Berufung ist aus keinem der geltend gemachten Zulassungsgründe gerechtfertigt.
41. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
5Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Beschluss vom 26. März 2007 - 1 BvR 2228/02 -, NVwZ-RR 2008, 1, juris Rn. 25.
6Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Die im Zulassungsverfahren erhobenen Rügen vermögen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht in Frage zu stellen. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Fahrtenbuchauflage vom 10. Oktober 2017 ermessensfehlerfrei erlassen worden ist (vgl. § 40 VwVfG NRW, § 114 Satz 1 VwGO). Entgegen der Auffassung des Klägers war die Beklagte nicht gehalten, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit deshalb von der Anordnung der Fahrtenbuchauflage abzusehen, weil er dieser gegenüber zugesagt hatte, zukünftig umfassend an der Aufklärung von Verkehrsverstößen mitzuwirken.
7Ohne Erfolg wendet der Kläger ein, die Beklagte habe im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung zu Unrecht seine Einlassung im Rahmen der Anhörung außer Acht gelassen, dass er sich künftig so verhalten werde, dass eine Fahrtenbuchauflage unverhältnismäßig und ihre Anordnung deshalb ermessensfehlerhaft sei.
8Eine defizitäre Ermessensausübung liegt nicht schon dann vor, wenn die Behörde nicht alle nur erdenklichen Gesichtspunkte vollständig erfasst und erörtert hat, sondern erst, wenn sie den Sachverhalt in wesentlicher Hinsicht nicht vollständig und zutreffend erwogen hat.
9Vgl. Rennert, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 114 Rn. 24 f.
10Wesentlich in diesem Sinne können Vorkehrungen des Fahrzeughalters sein, die geeignet sind, die Aufklärung künftiger, mit dem auf ihn zugelassenen Fahrzeug begangener Verkehrsverstöße zu fördern. Die Fahrtenbuchauflage stellt eine der Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs dienende Maßnahme der Gefahrenabwehr dar, mit der dafür Sorge getragen werden soll, dass künftige Feststellungen eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften ohne Schwierigkeiten möglich sind.
11OVG NRW, Beschluss vom 25. Januar 2018 - 8 A 1587/16 -, juris Rn. 13.
12Deshalb kann ein in die Ermessensausübung einzustellender Umstand darin begründet sein, dass der Fahrzeughalter nach der Verkehrszuwiderhandlung organisatorische Maßnahmen ergriffen hat, die darauf gerichtet und geeignet sind, bei künftigen Verkehrszuwiderhandlungen die Ermittlung des verantwortlichen Fahrzeugführers zu erleichtern.
13Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 28. Mai 2002- 10 S 1408/01 -, NZV 2002, 431, juris Rn. 8.
14Gemessen daran war die Beklagte nicht gemäß §§ 39 Abs. 1 Satz 3, 40 VwVfG NRW verpflichtet, sich bei Erlass der Fahrtenbuchauflage mit der Zusage des Klägers näher zu befassen, wonach er sich künftig so verhalten werde, dass eine Fahrtenbuchauflage nicht erforderlich sei. Diese enthielt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger zukünftig die Fahrerfeststellung auf eine Art und Weise fördern werde, dass dies bei der Anordnung der Fahrtenbuchauflage zu seinen Gunsten berücksichtigt werden müsste. Auf das Anhörungsschreiben der Beklagten vom 11. August 2017 teilte er unter dem 5. Oktober 2017 mit, ihm sei bei der Beschäftigung mit der Sichtweise der Beklagten und deren Aufgabe klar geworden, dass die Berufung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hier wohl ein Fehler gewesen sei. Er habe vor Augen gehabt, dass es ihm in unserem Rechtsstaat nicht zugemutet werde, Angehörige zu belasten. Dass eine Aufgabe der Straßenverkehrsbehörde darin bestehe, künftigen Gefahren für den Straßenverkehr vorzubeugen, sei ihm nicht ausreichend bewusst gewesen. Er werde sich also in Zukunft anders verhalten. Außerdem bitte er zu berücksichtigen, dass er Ersttäter dabei sei, die Aufklärung von Verstößen gegen die zur Sicherheit des Straßenverkehrs erlassenen Vorschriften zu behindern. Den Inhalt dieser Einlassung hat die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung ausweislich der Erwähnung dieses Schreibens vom 5. Oktober 2017 und dessen ausdrücklich nur auszugsweiser Wiedergabe („Sie tragen darin u.a. vor, […]“) zur Kenntnis genommen. Ungeachtet dessen enthielt sie keine hinreichend konkrete und belastbare Mitteilung von Vorkehrungsmaßnahmen, die die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung hätte berücksichtigen müssen.
15Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich auch nicht, dass die Anordnung der Fahrtenbuchauflage unverhältnismäßig wäre. Die bloße Absichtserklärung des Klägers zu künftigem Verhalten ist ersichtlich nicht in gleicher Weise geeignet, die Feststellung des Fahrzeugführers bei künftigen Verkehrsverstößen zu ermöglichen wie die Anordnung der Fahrtenbuchauflage, mit der die Verpflichtung zur weitgehenden Dokumentation von Daten betreffend die Nutzung eines Fahrzeugs verbunden ist. Dies zeigt sich schon daran, dass die Feststellung des verantwortlichen Fahrers nicht in jedem Fall allein durch die Mitwirkungsbereitschaft des Klägers ermöglicht würde, so z. B. nicht bei unvorhergesehenen Ereignissen, die sich seiner Kenntnis entziehen.
16Vor diesem Hintergrund war die Beklagte entgegen dem Vorbringen des Klägers auch nicht gehalten, besondere Umstände anzunehmen, die bei einem erstmaligen Verstoß die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage ausschließen könnten. Mit den diesbezüglichen Ausführungen zur Glaubwürdigkeit des Klägers legt er keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils dar. Das Verwaltungsgericht hat auf die Glaubwürdigkeit des Klägers nicht abgestellt.
172. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) zuzulassen. Der Kläger rügt, dass das Verwaltungsgericht sich nicht mit der Frage seiner Glaubwürdigkeit sowie der Glaubhaftigkeit seiner Zusage befasst und dadurch seine Aufklärungspflicht bzw. den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt habe.
18a) Die Aufklärungsrüge hat keinen Erfolg.
19Die Rüge eines Aufklärungsmangels setzt voraus, dass substantiiert dargelegt wird, hinsichtlich welcher Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen.
20Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 ‑ 7 B 261.97 -, NJW 1997, 3328, juris Rn. 4 und vom 23. Juli 2003 ‑ 8 B 57.03 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 330, juris Rn. 2 f.
21Daran fehlt es hier. Der Kläger legt schon nicht dar, inwiefern sich Erkenntnisse zu seiner Glaubwürdigkeit und zur Glaubhaftigkeit seiner Zusage aus der allein angeführten zeugenschaftlichen Vernehmung seiner Familienmitglieder ergeben würden. Ein Aufklärungsbedarf, der sich nach dem Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts beurteilt, ist darüber hinaus nicht dargelegt. Das Verwaltungsgericht hat auf den Aspekt der Glaubwürdigkeit des Klägers nicht abgestellt, sondern ist davon ausgegangen, dass die Zusage des Klägers, künftig an der Feststellung des verantwortlichen Fahrzeugführers mitzuwirken, zur Erreichung der verfolgten Ziele unter Berücksichtigung der von § 31a StVZO allein geforderten abstrakten Wiederholungsgefahr objektiv schon nicht gleich geeignet sei wie die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Kläger gerügten Verwendung des Begriffs „Schutzbehauptung“ im Beschluss des Gerichts im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes, auf den das angefochtene Urteil Bezug nimmt. Diese Begrifflichkeit bezieht sich nicht auf die Frage der Glaubwürdigkeit des Klägers, sondern allenfalls auf die Glaubhaftigkeit bestimmter Aussagen im Allgemeinen. Das Gericht wirft dem Kläger in dem Beschluss nicht vor, dass es sich bei seiner Zusage um eine solche Schutzbehauptung oder gar eine „Lüge“ handele, sondern würdigt die Unsicherheit, mit der derartige Absichtserklärungen sowie Mahnungen an die in Frage kommenden Nutzer eines Fahrzeugs für die Behörde im Massengeschäft der Anordnung von Fahrtenbuchauflagen im Gegensatz zur Anordnung einer Fahrtenbuchauflage verbunden sind, als einen Aspekt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Auf eine vom Kläger in der Antragsbegründung angeführte „Prognose“ kommt es vor dem Hintergrund der allein erforderlichen abstrakten Wiederholungsgefahr nicht an.
22b) Die Berufung ist auch nicht aufgrund einer Verletzung des Gebots des rechtlichen Gehörs zuzulassen.
23Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es gebietet nicht, dass sich das Gericht in seinen schriftlichen Entscheidungsgründen mit jeder Einzelheit ausdrücklich und in ausführlicher Breite auseinander setzt. Deshalb müssen, um eine Versagung rechtlichen Gehörs festzustellen, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist.
24Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19. Mai 1992 ‑ 1 BvR 986/91 -, BVerfGE 86, 133, juris Rn. 39, und vom 23. Juli 2003 ‑ 2 BvR 624/01 ‑, NVwZ-RR 2004, 3, juris Rn. 16, jeweils m. w. N.
25Dafür ist hier nichts ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat das tatsächliche Vorbringen des Klägers zu seiner Zusage, den Fahrer bei künftigen Verkehrsverstößen zu benennen, zur Kenntnis genommen und berücksichtigt. Es ist im Rahmen seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung hinsichtlich der Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Anordnung einer Fahrtenbuchauflage lediglich nicht zu dem von dem Kläger gewünschten Ergebnis gelangt. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs schützt aber nicht davor, dass ein Gericht dem Vorbringen eines Beteiligten nicht die erwünschte Bedeutung zumisst.
26Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
27Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der unter dem Az. 7 K 2326/20 erhobenen Klage der Antragstellerin gegen Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 der Allgemeinverfügung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen zum Schutz von Pflegeeinrichtungen vor dem Eintrag von SARS-CoV-2-Viren unter Berücksichtigung des Rechts auf Teilhabe und sozialer Kontakte der pflegebedürftigen Menschen wird angeordnet.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.
3. Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag,
3„die aufschiebende Wirkung dieser Teilanfechtungsklage (Klageantrag Nr. 1) nach § 80 Abs. 5 VwGO insoweit anzuordnen, als in Ziffer 6.2. Satz 1 Alternative 2 eine Isolierung für pflegebedürftige Menschen angeordnet wird ‚bei denen aufgrund eines konkret darzulegenden Anlasses eine SARS-CoV-2 Infektion nicht ausgeschlossen werden kann‘ “,
4mit dem sich die Antragstellerin auf ihre zum Az. 7 K 2326/20 erhobene Klage gegen Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 der Allgemeinverfügung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) zum Schutz von Pflegeeinrichtungen vor dem Eintrag von SARS-CoV-2-Viren unter Berücksichtigung des Rechts auf Teilhabe und sozialer Kontakte der pflegebedürftigen Menschen (CoronaAVPflegeundBesuche) bezieht, hat Erfolg.
5Ziffer 6.2. Satz 1 der seit dem 31. August 2020 gültigen und nicht befristeten CoronaAVPflegeundBesuche trifft folgende Anordnungen:
6„In Pflegeeinrichtungen sind pflegebedürftige Menschen, die bereits infiziert sind (Alt. 1) oder bei denen aufgrund eines konkret darzulegenden Anlasses eine SARS-CoV-2-Infektion nicht ausgeschlossen werden kann (Alt. 2), nach den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts getrennt von den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeeinrichtung unterzubringen, zu pflegen, zu betreuen und zu versorgen (Isolierung).“
7Der auf die Klage gegen die Anordnung der zweiten Alternative bezogene Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.
8Der Antrag ist insbesondere nicht mangels Antragsbefugnis oder Rechtsschutzbedürfnis unzulässig. Die in einer Pflegeeinrichtung im Sinne der CoronaAVPflegeundBesuche lebende Antragstellerin ist von der wirksamen und sofort vollziehbaren Anordnung hinsichtlich einer Isolierung in der Pflegeeinrichtung bereits jetzt betroffen. Je nach weiterem Verlauf des Infektionsgeschehens kann sich jederzeit ein Anlass für die in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche vorgesehene Isolierung der Antragstellerin ergeben.
9Der Antrag ist auch begründet.
10Das Gericht kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, wenn – wie hier hinsichtlich der Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 der in der Hauptsache angefochtenen Allgemeinverfügung (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. §§ 16 Abs. 8, 28 Abs. 3 IfSG) – die aufschiebende Wirkung der Klage kraft Gesetzes entfällt. Hierbei hat das Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dem privaten Interesse des Antragstellers, von der sofortigen Durchsetzung des Verwaltungsakts vorläufig verschont zu bleiben, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts gegenüberzustellen, wobei hinsichtlich § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO die gesetzgeberische Wertung des Entfallens der aufschiebenden Wirkung der Klage zu beachten ist. Ausgangspunkt dieser Interessenabwägung ist eine – im Rahmen des Eilrechtsschutzes allein mögliche und gebotene summarische – Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Ergibt diese Prüfung, dass der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers und ist deshalb die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen. Denn an der Vollziehung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts kann grundsätzlich kein öffentliches Vollzugsinteresse bestehen. Erweist sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Erscheinen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, ist die Entscheidung auf der Grundlage einer umfassenden Folgenabwägung zu treffen.
11Die vom Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zugunsten der Antragstellerin aus. Das private Interesse der Antragstellerin, von einer Vollziehung einstweilen verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der in der Hauptsache angefochtenen Allgemeinverfügung. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die in der Hauptsache angefochtene Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 der Allgemeinverfügung zulasten der Antragstellerin als offensichtlich rechtswidrig.
12Für die Anordnung der Isolierung in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche fehlt in der derzeitigen Ausgestaltung eine taugliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage.
13Die angegriffene Regelung lässt sich nach summarischer Prüfung nicht auf die vom Antragsgegner angegebene gesetzliche Ermächtigungsgrundlage stützen. Der Antragsgegner benennt sowohl in der Allgemeinverfügung als auch in seiner Antragserwiderung § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG als einschlägige Ermächtigungsgrundlage. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann die zuständige Behörde unter den Voraussetzungen von Satz 1 Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Es spricht Überwiegendes dafür, dass der Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel (§ 28 IfSG) wegen der in § 30 IfSG enthaltenen spezielleren Absonderungsregelungen hinsichtlich der Anordnung in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche ausgeschlossen ist.
14Vgl. zu dieser Problematik OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2020 - 13 B 776/20.NE -, juris Rn. 25 ff.
15Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG hat die zuständige Behörde anzuordnen, dass Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischem Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind, unverzüglich in einem Krankenhaus oder einer für diese Krankheiten geeigneten Einrichtung abgesondert werden. Bei sonstigen Kranken sowie Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern kann nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden. Bei der Anordnung in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche handelt es sich um eine solche Absonderungsmaßnahe. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat diesbezüglich darauf abgestellt, ob Ziel der Maßnahme die weitgehende Isolierung der betroffenen Person unter behördlicher Aufsicht ist.
16Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2020 - 13 B 776/20.NE -, juris Rn. 32.
17Ziel der Maßnahme ist hier offensichtlich die Absonderung bzw. Isolierung der in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche genannten Personen (vgl. die von der Antragsgegnerin selbst verwendete Definition). Zwar fehlt es bei den betroffenen Personen an einer behördlichen Einbeziehung hinsichtlich der konkreten Isolierung, denn nach der derzeitigen Ausgestaltung soll die Pflegeeinrichtung – der Verantwortliche der Einrichtungsleitung – über den Beginn und auch die Beendigung der getrennten Versorgung grundsätzlich unabhängig von den (unteren) Gesundheitsbehörden befinden (vgl. die weiteren Regelungen in Ziffer 6 CoronaAVPflegeundBesuche). Dieser Umstand führt jedoch nicht auf das Ergebnis, bei der vorzunehmenden Isolierung handele es sich trotz ihrer eindeutigen Zielrichtung nicht um eine Absonderungsmaßnahme im Sinne von § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Denn die Entkoppelung von einem behördlichen Entscheidungsprozess erweist sich in dem konkreten Fall als rechtswidrig (dazu sogleich).
18Die Anordnung in Ziffer 6.2. Satz 1 Alt. 2 CoronaAVPflegeundBesuche kann – unabhängig davon, ob ein Austausch der Ermächtigungsgrundlage möglich ist – auch nicht auf die nach den obigen Ausführungen einschlägige Regelung des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützt werden. Denn die Anordnung zur Absonderung kann nach dieser Vorschrift nur von der zuständigen Behörde getroffen werden. Dies kann nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 IfSBG-NRW zwar auch das MAGS sein, wenn Anordnungen für den Bereich mehrerer örtlicher Ordnungsbehörden und mehrerer Kreise erlassen werden sollen. Die Allgemeinverfügung überlässt jedoch die Auswahl der zu isolierenden Personen vollständig den jeweiligen Einrichtungsleitungen. Der Antragsgegner führt in seiner Antragserwiderung aus, sich bei der Regelung mit der Formulierung „pflegebedürftige Menschen, […] bei denen aufgrund eines konkret darzulegenden Anlasses eine SARS-CoV-2-Infektion nicht ausgeschlossen werden kann“, an der Terminologie und dem Regelungskonzept des § 28 Abs. 1 IfSG und dessen Tatbestandsmerkmalen des Krankheitsverdächtigen bzw. Ansteckungsverdächtigen orientiert zu haben (vgl. Bl 26 GA). Eine weitere Präzisierung erfolgt in der Allgemeinverfügung aber nicht. Die in der Begründung zu Ziffer 6 dargelegten Beispielsfälle, bei denen nicht von einem konkreten Anlass auszugehen ist (Arztbesuche, ambulante Behandlungen im Krankenhaus oder das nach Ziffer 4 ausdrücklich zugelassene Verlassen der Einrichtungen) tragen insoweit nur unwesentlich zur Klärung bei. Die Allgemeinverfügung überlässt die Prüfung des einzigen Tatbestandsmerkmals der Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG im Ergebnis der jeweiligen Einrichtungsleitung, die in eigener Kompetenz befinden soll. Auf Rechtsfolgenseite hat der Antragsgegner zwar das ihm zustehende Ermessen zugunsten der Absonderung ausgeübt. Nach dem Regelungskonzept des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG – und im Übrigen auch des § 28 Abs. 1 IfSG – sind jedoch auch die Tatbestandsvoraussetzungen von der zuständigen Behörde zu prüfen. Eine Übertragung dieser hoheitlichen Befugnis auf Dritte ist insoweit nicht vorgesehen. Dies ergibt sich hier auch nicht aus § 30 Abs. 3 IfSG. Danach steht es zwar den Krankenhäusern oder den sonstigen Absonderungseinrichtungen, in welche eine Absonderung auch erfolgen kann, unter bestimmten Voraussetzung offen, Anordnungen gegenüber einem in diesen Einrichtungen Abgesonderten zu erlassen. Um einen solchen Fall handelt es hier jedoch nicht. Hier geht es um die Entscheidung zur Absonderung selbst. Die Regelung des § 30 Abs. 3 IfSG betrifft den Status des Abgesonderten nach der Absonderungsentscheidung durch die jeweils zuständige Behörde. Eine Analogie kommt ebenfalls nicht in Betracht. Eine planwidrige Regelungslücke ist hier nicht erkennbar. Auch wenn nach § 1 Abs. 2 Satz 2 IfSG die Eigenverantwortung der Träger und Leiter von Gemeinschaftseinrichtungen, Lebensmittelbetrieben, Gesundheitseinrichtungen sowie des Einzelnen bei der Prävention übertragbarer Krankheiten verdeutlicht und gefördert werden soll, ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber es für möglich halten könnte, die letztendliche Entscheidungskompetenz für die Anordnung einer Absonderung –einer der eingriffsintensivsten Maßnahmen des IfSG – an einen privaten Akteur zu übertragen. Auch die erforderliche Vergleichbarkeit ist nicht gegeben. Denn es ist nicht im Ansatz erkennbar, dass die jeweiligen Einrichtungsleitungen der erfassten Pflegeeinrichtungen über das infektiologische oder infektionsschutzrechtliche Fachwissen verfügen, um selbstständig die Voraussetzungen einer Absonderung nach § 30 Abs. 1 IfSG zu überprüfen. Auf Kapazitätsengpässe in den Gesundheitsämtern kann sich der Antragsgegner nicht berufen. Es ist insoweit ureigene Aufgabe der zuständigen Behörden, die zur Gefahrenabwehr erforderlichen Maßnahmen des Infektionsschutzes zu ergreifen.
19Zu einem anderen Ergebnis mag man wegen der hochwertigen Schutzgüter der Gesundheit und des menschlichen Lebens – trotz der erheblichen Eingriffsintensität – möglicherweise dann gelangen, wenn der Antragsgegner in der Allgemeinverfügung dezidiert aufführen würde, unter welchen – auch vom Personal der Pflegeeinrichtung ohne Weiteres nachprüfbaren – tatsächlichen Gegebenheiten die tatbestandlichen Voraussetzungen der Absonderung – also insbesondere ein Krankheits- bzw. Ansteckungsverdacht – in einer Pflegeeinrichtung vorliegen. Denn dann hätte der Antragsgegner und damit die zuständige Behörde selbst in dem vom IfSG vorgesehene Umfang die Entscheidung zugunsten der Absonderung getroffen. Die Einrichtungsleitungen wären dann – mangels eigenen Spielraums – als Verwaltungshelfer bei der Umsetzung der Allgemeinverfügung anzusehen. Eine solche Präzisierung ist hier nicht erfolgt. Die Ausführungen in der Antragserwiderung dazu, wann der Antragsgegner einen konkreten Anlass für die Absonderung als erfüllt ansehen würde (vgl. Bl. 27 GA) sind – unabhängig davon, ob diese Kriterien tatsächlich einen Krankheits- bzw. Ansteckungsverdacht begründen –, nicht geeignet, eine entsprechende Präzisierung herbeizuführen, weil sie für die Pflegeeinrichtungen jedenfalls keinerlei Bindungswirkungen entfalten und diesen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Zweifel noch nicht einmal zur Kenntnis gebracht worden sind.
20Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens werden der Antragstellerin auferlegt.
Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1
I. Der sinngemäß gestellte Antrag,
2
§ 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 und 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 7. Oktober 2020 (Nds. GVBl. S. 346) vorläufig außer Vollzug zu setzen,
3
bleibt ohne Erfolg.
4
Der Antrag ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
5
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
6
1. Der Antrag ist zulässig.
7
Der Normenkontrolleilantrag ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 75 NJG statthaft. Die Niedersächsische Corona-Verordnung ist eine im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, juris Rn. 16 ff.).
8
Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet. Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 15.9.2017 (Nds. MBl. S. 1288), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 18.11.2019 (Nds. MBl. S. 1618)).
9
Die Antragstellerin ist antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO.
10
Nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann den Antrag eine natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. An die Geltendmachung einer Rechtsverletzung im Sinne dieser Bestimmung sind die gleichen Maßstäbe anzulegen wie bei der Klagebefugnis im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.8.2005 - BVerwG 6 BN 1.05 -, juris Rn. 3 ff., insbes. 7; Urt. v. 26.2.1999 - BVerwG 4 CN 6.98 -, juris Rn. 9). Ausreichend, aber auch erforderlich ist es daher, dass die Antragstellerin hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass sie durch den zur Prüfung gestellten Rechtssatz in ihren subjektiven Rechten verletzt wird. Die Antragsbefugnis fehlt, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise subjektive Rechte der Antragstellerin verletzt sein können (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.1.2001 - BVerwG 6 CN 4.00 -, juris Rn. 10; grundlegend: Urt. v. 24.9.1998 - BVerwG 4 CN 2.98 -, juris Rn. 8; Senatsurt. v. 20.12.2017 - 13 KN 67/14 -, juris Rn. 65).
11
Nach diesem Maßstab ist die Antragsbefugnis wegen einer möglichen Verletzung der Berufsfreiheit der Antragstellerin nach Art. 12 Abs. 1 GG gegeben.
12
Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistet die Freiheit der beruflichen Betätigung. Der Schutz dieses Grundrechts ist einerseits umfassend angelegt, wie die Erwähnung von Berufswahl, Wahl von Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz sowie Berufsausübung zeigt. Andererseits schützt es aber nur vor solchen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen sind. Es genügt also nicht, dass eine Rechtsnorm oder ihre Anwendung unter bestimmten Umständen Rückwirkungen auf die Berufstätigkeit entfaltet. Das ist bei vielen Normen der Fall. Ein Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit liegt vielmehr erst dann vor, wenn die Norm, auf die die Maßnahme gestützt ist, berufsregelnde Tendenz hat. Das heißt allerdings nicht, dass die Berufstätigkeit unmittelbar betroffen sein muss. Es kann vielmehr auch vorkommen, dass eine Norm die Berufstätigkeit selbst unberührt lässt, aber im Blick auf den Beruf die Rahmenbedingungen verändert, unter denen er ausgeübt werden kann. In diesem Fall ist der Berufsbezug ebenfalls gegeben (vgl. BVerfG, Urt. v. 8.4.1997 - 1 BvR 48/94 -, BVerfGE 95, 267, juris Rn. 135; Senatsbeschl. v. 29.7.2020 - 13 MN 280/20 -, juris Rn. 11).
13
Die hier streitgegenständliche Ausweispflicht und das Alkoholverbot sind Einschränkungen, unter denen Prostitutionsdienstleistungen angeboten werden dürfen, und betreffen somit die Rahmenbedingungen der Berufsausübung. Die Antragstellerin als Betreiberin einer Prostitutionsstätte ist daher antragsbefugt.
14
2. Der Antrag ist aber unbegründet.
15
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten (vgl. Senatsbeschl. v. 5.6.2020 - 13 MN 135/20 -, juris Rn. 8 m.w.N.).
16
Unter Anwendung dieser Grundsätze bleibt der Antrag auf einstweilige Außervollzugsetzung der § 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 und 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ohne Erfolg. In der Hauptsache bestehen keine hinreichenden Erfolgsaussichten (a.). Zudem überwiegen die für den weiteren Vollzug der angegriffenen Verordnungsbestimmungen sprechenden Gründe die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung (b.).
17
a. Der von der Antragstellerin gegen die angegriffenen Verordnungsbestimmungen in der Hauptsache gestellte Normenkontrollantrag hat voraussichtlich keinen Erfolg. Nach der derzeit nur gebotenen summarischen Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass die in § 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Ausweispflicht ((1)) sowie das in § 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung vorgesehene Alkoholverbot ((2)) formell und materiell rechtmäßig sind.
18
(1) Die Ausweispflicht ist voraussichtlich rechtlich nicht zu beanstanden.
19
(a) Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung ist § 32 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG -). Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsgrundlagen, insbesondere mit Blick auf die Bestimmtheit der getroffenen Regelungen und deren Vereinbarkeit mit dem Vorbehalt des Gesetzes, drängen sich dem Senat nicht auf (vgl. hierzu im Einzelnen: OVG Bremen, Beschl. v. 9.4.2020 - 1 B 97/20 -, juris Rn. 24 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 7.4.2020 - 8 B 892/20.N -, juris Rn. 34 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 6.4.2020 - 13 B 398/20.NE -, juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 39 ff.; Beschl. v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 -, juris 17 f.).
20
(b) Anstelle der nach § 32 Satz 1 IfSG ermächtigten Landesregierung war aufgrund der nach § 32 Satz 2 IfSG gestatteten und durch § 3 Nr. 1 der Verordnung zur Übertragung von Ermächtigungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorschriften (Subdelegationsverordnung) betätigten Subdelegation das Niedersächsische Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung zum Erlass der Niedersächsischen Corona-Verordnung zuständig.
21
(c) Die in § 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordnete Ausweispflicht für Kunden von Prostitutionsstätten und -fahrzeugen dürfte auch die materiellen Voraussetzungen des § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG erfüllen.
22
Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden.
23
Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind angesichts der herrschenden Corona-Pandemie erfüllt, wie der Senat etwa im Beschluss vom 29. Juni 2020 - 13 MN 244/20 -, juris Rn. 15 bis 21, eingehend festgestellt hat. Seitdem eingetretene tatsächliche Änderungen haben diese Voraussetzungen nicht entfallen lassen. Vielmehr ist der Mittelwert der in den vergangenen 7 Tagen neu Erkrankten im Vergleich zu Ende Juni 2020 seit Anfang August 2020 sogar erhöht und nähert sich aktuell dem Höchststand aus April 2020 an (siehe https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/ (Stand 13.10.2020)).
24
Die Ausweispflicht für Kunden verstößt weder gegen die Berufsfreiheit der Antragstellerin als Betreiberin einer Prostitutionsstätte (Art. 12 Abs. 1 GG), noch gegen die allgemeine Handlungsfreiheit der Kunden (Art. 2 Abs. 1 GG) - (aa) - oder den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) - (bb) -.
25
(aa) Soweit die Ausweispflicht in die Freiheitsgrundrechte von Betreibern einer Prostitutionsstätte (Art. 12 Abs. 1 GG) oder von Kunden (Art. 2 Abs. 1 GG) eingreift, ist der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Er hält gegenwärtig die sich aus der Beschränkung in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG in Verbindung mit § 32 Satz 1 IfSG auf „notwendige Schutzmaßnahmen“ sowie aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit in inhaltlicher Hinsicht („soweit“) und zeitlicher Hinsicht („solange“) ergebenden strengen Grenzen (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 16.7.2020 - 20 NE 20.1500 -, juris Rn. 17 ff.) ein.
26
Der Verordnungsgeber verfolgt mit der Ausweispflicht das legitime Ziel, die Bevölkerung vor der Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, die Weiterverbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern und eine Überlastung des Gesundheitssystems infolge eines exponentiellen Anstiegs von Ansteckungen und Krankheitsfällen zu vermeiden.
27
Die Pflicht zur Erhebung von Kontaktdaten ergibt sich für körpernahe Dienstleistungen wie die Prostitution bereits aus dem nicht angegriffenen § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung.
28
Die Ausweispflicht dient bei dieser Zielrichtung der Sicherstellung, dass die erhobenen Kontaktdaten wahrheitsgemäß angegeben und damit verwertbar sind, um eine Kontaktverfolgung zu ermöglichen und gegenüber den Kontaktpersonen Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung des Virus treffen zu können.
29
Die Ausweispflicht ist geeignet, die Gefahr der Weiterverbreitung einzudämmen, da durch verwertbare Kontaktdaten entsprechende Eindämmungsmaßnahmen getroffen werden können.
30
Das Argument der Antragstellerin, die Ausweispflicht sei nicht geeignet, die Richtigkeit der Kontaktdaten zu überprüfen, da nicht jedes Ausweisdokument, insbesondere ausländischer Staatsangehöriger, die Meldeadresse enthalte und die Telefonnummer auf keinem Ausweisdokument hinterlegt sei, überzeugt den Senat nicht. Die Regelung in § 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist nicht so zu verstehen, dass alle angegebenen Kontaktdaten auf dem Ausweisdokument enthalten sein müssen. Es genügt, dass auf einem Ausweisdokument enthaltene Daten mit den erhobenen Kontaktdaten übereinstimmen. Wie der Antragsgegner zutreffend ausführt, dürfte es mit entsprechendem Zeit- und Arbeitsaufwand möglich sein, bereits anhand des vollständigen und richtigen Namens eine Meldeadresse und damit eine Kontaktmöglichkeit zu ermitteln, so dass die Angabe falscher Adressen oder Telefonnummern lediglich zu einer Verzögerung und nicht zu einer Unmöglichkeit der Kontaktverfolgung führen würde. Es dürfte zudem im Eigeninteresse der Kunden liegen, derartige Ermittlungen, die Nachfragen im persönlichen Umfeld der Kunden zur Folge hätten, durch die Angabe einer wahrheitsgemäßen Telefonnummer zu vermeiden, so dass im Falle einer Infektion das Gesundheitsamt den möglicherweise infizierten Kunden (diskret) telefonisch kontaktieren kann. Bereits aufgrund dieser naheliegenden Erwägung der Kunden dürfte eine signifikante Verbesserung der Kontaktdatenqualität zu erwarten sein.
31
Der Verordnungsgeber darf die Ausweispflicht gegenwärtig voraussichtlich für erforderlich halten.
32
Der Senat hat in seinem Beschluss vom 28. August 2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 32, bereits ausgeführt, dass die Kontaktdatenerhebung bei Kunden des Prostitutionsgewerbes auf Hindernisse stößt, die etwa im Gaststättengewerbe nicht in gleicher Weise auftreten:
33
„Soweit es die Wirksamkeit der Kontaktdatenerhebung angeht, ist einzuräumen, dass die Kunden im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen ein erhöhtes Bedürfnis nach Diskretion und/oder Anonymität haben können (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 20.8.2020 - 6 B 10868/20 -, juris Rn. 11); nicht zuletzt dann, wenn es sich nicht um in der betreffenden Einrichtung bekannte „Stammkunden“ handelt, sondern vielmehr um eine (auch gelegentliche und unregelmäßige) Inanspruchnahme derartiger Dienstleistungen, die aus vielgestaltigen Gründen erfolgen mag und vor der eigenen Familie oder dem Bekanntenkreis mehr oder weniger „verheimlicht“ wird. Dem Bedenken, die Kunden gäben deshalb ihre wahren Personalien und sonstigen Kontaktdaten nicht an, auch weil sie im Falle einer notwendigen Nachverfolgung für sie unter Umständen „peinliche“ Nachfragen des Gesundheitsamts in der Familie und/oder im Bekanntenkreis befürchteten (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 20.8.2020, a.a.O., Rn. 14), kann durch die Normierung einer Pflicht begegnet werden, die angegebene Identität durch Vorlage geeigneter Ausweispapiere nachzuweisen, widrigenfalls der Kunde nicht bedient würde.“
34
Es ist derzeit kein milderes Mittel ersichtlich, das eine vergleichbare Wirksamkeit im Hinblick auf die Sicherstellung der Kontaktnachverfolgung verspräche.
35
Die Ausweispflicht ist voraussichtlich auch angemessen (verhältnismäßig im engeren Sinne).
36
Bereits gemäß des nicht angegriffenen § 5 Abs. 1 Satz 1 a.E. der Niedersächsischen Corona-Verordnung sind Dienstleister verpflichtet, bei begründeten Zweifeln eine Überprüfung der Richtigkeit der angegebenen Kontaktdaten anhand eines Ausweises durchzuführen.
37
Folgt man der Erwägung des Senats, dass im Prostitutionsgewerbe ein erhöhtes Bedürfnis nach Anonymität besteht, dürfte bei dortigen Kunden durchaus ein begründeter Zweifel an der wahrheitsgemäßen Angabe der Kontaktdaten vorliegen, so dass zumeist ohnehin eine Ausweiskontrolle zu erfolgen hätte.
38
Letztendlich stellt die Ausweispflicht sicher, dass die Kunden einer Prostitutionsstätte nicht durch die Angabe unzutreffender Kontaktdaten eine Ordnungswidrigkeit nach § 5 Abs. 1 Satz 7 i.V.m. § 19 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung begehen. Auch die Dienstleister handelten ordnungswidrig, wenn sie Kunden mit unzureichenden Kontaktdaten bedienten (§ 5 Abs. 1 Satz 8 Alt. 2, Satz 7 i.V.m. § 19 Abs. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung), unabhängig davon, ob zuvor Zweifel an der Richtigkeit der Kontaktdaten bestanden.
39
Die Konstellation, dass ein unwissender Kunde ohne Ausweis von der Antragstellerin abgewiesen werden muss, droht nicht einzutreten, da der Kunde bei der obligatorischen Voranmeldung per Telefon oder Internet auf das Mitbringen von Ausweisdokumenten hingewiesen werden kann.
40
Die weitere Argumentation der Antragstellerin, durch offene Auslage von Kontaktdatenlisten und die Einsichtnahme durch Ordnungsbehörden würde unangemessen in das Grundrecht der Kunden auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen, betrifft nicht die angefochtene Ausweispflicht. Eine derartige Auslage ist in der Niedersächsischen Corona-Verordnung nicht angeordnet und damit eine eigenmächtige Handhabung der jeweiligen Dienstleister. Die Einsichtnahme in die Kontaktdaten durch die Gesundheitsbehörde ist gemäß § 5 Abs. 1 Satz 4 der Niedersächsischen Corona-Verordnung gestattet. Die Antragstellerin ficht vorliegend nur die Ausweispflicht, nicht aber die Kontaktdatenerhebungspflicht nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung oder die Vorlagepflicht nach § 5 Abs. 1 Satz 4 der Niedersächsischen Corona-Verordnung an. Sie führt sogar ausdrücklich auf, dass sie die Kontaktnachverfolgung selbst nicht angreift (Antragsschrift S. 7).
41
Mit Blick auf die gravierenden, teils irreversiblen Folgen eines beschleunigten Anstiegs der Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen für die hochwertigen Rechtsgüter Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) einer Vielzahl Betroffener sowie einer Überlastung des Gesundheitswesens ist dieser verbleibende, seiner Intensität nach eher geringe Eingriff in die Grundrechte der Dienstleister und Kunden in der Abwägung daher voraussichtlich angemessen.
42
(bb) Die Ausweispflicht verstößt voraussichtlich auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. GG.
43
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.2.2012 - 1 BvL 14/07 -, BVerfGE 130, 240, 252 - juris Rn. 40; Beschl. v. 15.7.1998 - 1 BvR 1554/89 u.a. -, BVerfGE 98, 365, 385 - juris Rn. 63). Es sind nicht jegliche Differenzierungen verwehrt, allerdings bedürfen sie der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen reichen die Grenzen für die Normsetzung vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Insoweit gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 -, BVerfGE 132, 179, 188 - juris Rn. 30; Beschl. v. 21.6.2011 - 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49, 69 - juris Rn. 65; Beschl. v. 21.7.2010 - 1 BvR 611/07 u.a. -, BVerfGE 126, 400, 416 - juris Rn. 79).
44
Hiernach sind die sich aus dem Gleichheitssatz ergebenden Grenzen für die Infektionsschutzbehörde weniger streng (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.4.2020 - OVG 11 S 22/20 -, juris Rn. 25). Auch kann die strikte Beachtung des Gebots innerer Folgerichtigkeit nicht eingefordert werden (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 26.3.2020 - 5 Bs 48/20 -, juris Rn. 13). Zudem ist die sachliche Rechtfertigung nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades der betroffenen Tätigkeit zu beurteilen. Vielmehr sind auch alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen, etwa die Auswirkungen der Ge- und Verbote für die betroffenen Unternehmen und Dritte und auch öffentliche Interessen an der uneingeschränkten Aufrechterhaltung bestimmter unternehmerischer Tätigkeiten (vgl. Senatsbeschl. v. 14.4.2020 - 13 MN 63/20 -, juris Rn. 62).
45
Unter Anwendung dieses Maßstabs ist eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber anderen Dienstleistungsgewerben nicht erkennbar. Das besondere Diskretionsbedürfnis im Prostitutionsgewerbe ist eine hinreichende sachliche Rechtfertigung für die ausnahmslose Überprüfung der angegebenen Kontaktdaten.
46
(2) Auch das Alkoholverbot in Prostitutionsstätten und -fahrzeugen nach § 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung begegnet bei summarischer Prüfung keinen rechtlichen Bedenken.
47
(a) Das Alkoholverbot folgt in formeller Hinsicht denselben Voraussetzungen wie die Ausweispflicht, die - wie oben dargestellt - erfüllt sind.
48
(b) Auch die materiellen Voraussetzungen dürften vorliegen. Das in § 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung festgesetzte Verbot ist materiell (Art. 12 Abs. 1 GG) nicht zu beanstanden, insbesondere ist es verhältnismäßig.
49
Der legitime Zweck dieses Verbotes liegt darin, sicherzustellen, dass die Kunden die übrigen Maßgaben, unter denen das Prostitutionsgewerbe ausgeübt werden darf, einhalten.
50
Hierzu ist ein Alkoholverbot geeignet. Die enthemmende Wirkung von Alkohol kann dazu führen, dass die an sich ungewohnten Pflichten der pandemiebedingten Hygieneregeln vernachlässigt werden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 12.9.2020 - OVG 11 S 81.20 -, juris Rn. 4). Dazu zählt in Prostitutionsstätten etwa das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (§ 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 der Niedersächsischen Corona-Verordnung) und die Einhaltung von Hygienekonzepten (§ 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 6 der Niedersächsischen Corona-Verordnung). Durch ein Alkoholverbot kann etwaigen Verletzungen dieser Pflichten in geeigneter Weise begegnet werden. Der Verordnungsgeber durfte ein Alkoholverbot auch als erforderlich ansehen. Ein milderes Mittel als das Verbot des Alkoholausschanks ist nicht ersichtlich.
51
Das Alkoholverbot ist angemessen. Die mit dem Alkoholverbot verbundenen Umsatzeinbußen auf Seiten der Antragstellerin stellen sich nicht als unangemessene Belastung dar. Die Antragstellerin trägt dazu vor, sie würde ihre Prostitutionsstätte hauptsächlich durch den Getränkekonsum finanzieren. Durch das Alkoholverbot wird diese Finanzierungsmöglichkeit zwar eingeschränkt, jedoch verbleibt es der Antragstellerin, alkoholfreie Getränke anzubieten. Einnahmemindernd dürften auch die übrigen Verordnungsregeln für sich wirken, da der Verordnungsgeber die Bedingungen, unter denen Prostitution angeboten werden kann, dahingehend gestaltet hat, dass größere Zusammenkünfte von Kunden unterbleiben. So ist eine vorherige Terminvereinbarung erforderlich (§ 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 der Niedersächsischen Corona-Verordnung) und dürfen Räumlichkeiten, in denen die Dienstleistung angeboten wird, nur durch zwei Personen gleichzeitig genutzt werden (§ 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 der Niedersächsischen Corona-Verordnung). Eine länger andauernde Geselligkeit wird schon wegen der Pflicht zum ununterbrochenen Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (§ 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 der Niedersächsischen Corona-Verordnung) kaum aufkommen.
52
Das Alkoholverbot ist auch nicht gleichheitswidrig (Art. 3 GG). Im Unterschied zu Gaststätten, in denen der Alkoholausschank gestattet ist, gilt in Prostitutionsstätten ein rigideres Schutzkonzept, so dass im Fall eines Rausches eher mit der Vernachlässigung der angeordneten Maßnahmen zu rechnen ist.
53
Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung lässt sich schließlich auch nicht feststellen, soweit andere Länder von den niedersächsischen Anordnungen abweichende Schutzmaßnahmen getroffen hätten. Voraussetzung für eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass die Vergleichsfälle der gleichen Stelle zuzurechnen sind. Daran fehlt es, wenn die beiden Sachverhalte von zwei verschiedenen Trägern öffentlicher Gewalt gestaltet werden; der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt allein in dessen Zuständigkeitsbereich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, juris Rn. 151 m.w.N.). Ein Land verletzt daher den Gleichheitssatz nicht deshalb, weil ein anderes Land den gleichen Sachverhalt anders behandelt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.5.2008 - 1 BvR 645/08 -, juris Rn. 22 m.w.N.). Insbesondere ist es zulässig, dass verschiedene Bundesländer unterschiedliche Öffnungskonzepte verfolgen, solange die Setzung ihrer Prioritäten nicht willkürlich erscheint. Das ist hier noch nicht der Fall.
54
b. Schließlich überwiegen auch die für den weiteren Vollzug der streitgegenständlichen Verordnungsbestimmungen sprechenden Gründe die von der Antragstellerin geltend gemachten Gründe für die einstweilige Außervollzugsetzung.
55
Das Interesse der Antragstellerin an der vorläufigen Außervollzugsetzung der angegriffenen Regelungen aus § 10 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 und 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist im Hinblick darauf, dass Kontaktdaten ohnehin wahrheitsgemäß zu erheben sind und der Alkoholkonsum jedenfalls kein notwendiger Kernbestandteil einer Prostitutionsstätte ist, als gering zu bewerten.
56
Das derart gewichtete Interesse setzt sich nicht gegen das öffentliche Interesse an einem ununterbrochenen weiteren Vollzug der Regelungen für die Dauer des Normenkontrollverfahrens in der Hauptsache durch. Ohne verlässliche Kontaktverfolgung und nüchterne Einhaltung der Schutzvorschriften würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der erneuten Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen auch nach derzeitigen Erkenntnissen weiter erhöhen (vgl. zu dieser Gewichtung: BVerfG, Beschl. v. 7.4.2020 - 1 BvR 755/20 -, juris Rn. 10; Beschl. v. 28.4.2020 - 1 BvR 899/20 -, juris Rn. 12 f.).
57
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
58
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf sofortige Außervollzugsetzung der Verordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
59
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege der einstweiligen Anordnung gegen die beabsichtigte Besetzung der im Schulverwaltungsblatt 11/2019 ausgeschriebenen Stelle der Gesamtschuldirektorin/Gesamtschuldirektor als Leiterin/Leiter einer Integrierten Gesamtschule mit Oberstufe (Besoldungsgruppe A 16 NBesG) an der Integrierten Gesamtschule G. mit der Beigeladenen.
2
Auf die ausgeschriebene Stelle bewarben sich der Antragsteller und die Beigeladene.
3
Der 1973 geborene Antragsteller ist im Amt eines Studiendirektors (A 15) in Hamburg an der H. als Abteilungsleiter der Sekundarstufe II tätig. Er wurde am 20. August 2007 zunächst als angestellter Lehrer unbefristet in den Schuldienst der Freien und Hansestadt Hamburg eingestellt. Mit Wirkung vom 1. Juli 2011 wurde der Antragsteller von der Freien und Hansestadt Hamburg in das Beamtenverhältnis auf Probe übernommen und in die Planstelle eines Studienrats der Besoldungsgruppe A 13 eingewiesen. Am 25. Oktober 2012 wurde er zum Beamten auf Lebenszeit ernannt. Zum Oberstudienrat wurde der Antragsteller am 14. Oktober 2013 befördert und in die Planstelle eines Oberstudienrats A 14 eingewiesen. Mit Wirkung vom 1. Februar 2016 wurde er zum Abteilungsleiter der Sekundarstufe II der I. Stadtteilschule bestellt. Am 26. April 2016 erhielt der Antragsteller die Ernennungsurkunde zum Studiendirektor und wurde in die Planstelle eines Studiendirektors der Besoldungsgruppe A 15 mit Wirkung vom 1. Februar 2016 eingewiesen.
4
Am 4. Juni 2019 erhielt der Antragsteller eine Anlassbeurteilung für den Beurteilungszeitraum vom 15. Februar 2016 bis zum 31. Mai 2019. Unter der Rubrik Führungskompetenz wurden unter I die persönlichen Kompetenzen des Antragstellers wie Argumentation/sprachlicher Ausdruck, Wertschätzung, Fähigkeit mit gegensätzlichen Anforderungen umzugehen, Konfliktverhalten, Selbstreflexion und fachliche und fachübergreifende Weiterentwicklung vom Erstbeurteiler beurteilt und mündeten in die Gesamtbewertung der persönlichen Kompetenzen mit der Note „entspricht den Anforderungen in vollem Umfang“. Weiter wurde unter II. das ziel- und ergebnisorientierte Führen mit den Merkmalen chancengerechte Förderung, Delegation von Aufgaben, Verantwortungsübernahme/Entscheidungsverhalten, Teamfähigkeit, strategische Weiterentwicklung des eigenen Systems Schule bewertet. In diesem Bereich erhielt der Antragsteller ebenfalls die Gesamtbewertung „entspricht den Anforderungen in vollem Umfang“. In dem unter III beurteilten Bereich Steuerung des Aufgabenbereichs wurden die Innovationskompetenz, Organisationskompetenz und Kooperation mit schulischen wie außerschulischen Stellen beurteilt. In diesem Bereich erhielt der Antragsteller die Gesamtbewertung „übertrifft die Anforderungen“. In dem weiter beurteilten Bereich IV unterrichtsbezogene Tätigkeiten wurden die Arbeitsweise/Arbeitsergebnisse und die Fachkompetenz beurteilt. Für diesen Bereich erhielt der Antragsteller die Gesamtbewertung „entspricht den Anforderungen in vollem Umfang“. In der Potenzialeinschätzung bescheinigten die Beurteiler dem Antragsteller, dass sein Potenzial die Übernahme von Führungsaufgaben auf einer höheren Führungsebene erlaube. Der Antragsteller erledige die Anforderungen einer Abteilungsleitung mit großem Sachverstand. Er gebe dem Jahresablauf die notwendige Routine ohne Innovationen zu vernachlässigen. Darüber hinaus habe er gezeigt, dass er noch weitere umfängliche Aufgabenfelder erfolgreich übernehmen könne. Die Übernahme einer Schulleitung werde als weiteres Entwicklungsfeld des Antragstellers gesehen.
5
Mit Bescheid vom 28. August 2019 wurde dem Antragsteller auf seinen Antrag für die Zeit vom 1. September 2019 bis zum 31. Mai 2020 Elternzeit ohne Bezüge gewährt. In diesem Zeitraum befand sich der Antragsteller in Elternzeit.
6
Die 1982 geborenen Beigeladene ist im Amt einer Studiendirektorin (A 15) an der Integrierten Gesamtschule G. tätig. Nach Abschluss des zweiten Staatsexamens für die Laufbahn des höheren Schuldienstes an Gymnasien am 23. Juli 2008 war die Beigeladene von August 2008 bis Juli 2009 als Lehrerin einer deutschen Schule in J. -Stadt und von August 2009 bis Juli 2013 an der deutschen Schule in K. sowie vom August 2014 bis zum Juli 2016 an der Deutsch Schweizerischen Schule in L. tätig. Am 26. Juli 2016 wurde die Beigeladene mit Wirkung vom 1. August 2016 unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Probe zur Studienrätin ernannt und ihr das Amt einer Studienrätin mit der Besoldungsgruppe A 13 an der Integrierten Gesamtschule G. übertragen. Zugleich wurde sie in eine Planstelle der Besoldungsgruppe A 13 eingewiesen. Anlässlich ihrer Bewerbung um die Funktionsstelle einer Jahrgangsleitung an der Integrierten Gesamtschule G. erhielt die Beigeladene am 2. November 2016 für den Beurteilungszeitraum vom 1. August 2016 bis zum 31. Oktober 2016 eine Beurteilung mit dem Gesamturteil „B übertrifft erheblich die Anforderungen“. Am 12. Dezember 2016 wurde der Beigeladenen der Dienstposten einer Oberstudienrätin als Jahrgangsleiterin an der Integrierten Gesamtschule in G. übertragen. Sie wurde sodann in eine Planstelle der Besoldungsgruppe A 14 eingewiesen. Aus dieser erhielt sie weiterhin Bezüge nach Besoldungsgruppe A 13.
7
Mit Schreiben vom 1. Mai 2017 bewarb sich die Beigeladene auf die Stelle einer Studiendirektorin/Studiendirektor als Leiterin/als Leiter des Sekundärbereichs II an der Integrierten Gesamtschule G.. Die diesbezüglich erstellte Anlassbeurteilung vom 12. Juli 2017 bezogen auf den Beurteilungszeitraum 1. August 2014 bis 7. Mai 2017 endete mit dem Gesamturteil „B übertrifft erheblich die Anforderungen“. Mit Wirkung ab 1. August 2017 beauftragte die Niedersächsische Landesschulbehörde die Beigeladene mit der kommissarischen Wahrnehmung der Aufgaben der Oberstufenleitung an der Integrierten Gesamtschule G.. Unter dem 1. September 2017 erhielt die Beigeladene eine dienstliche Beurteilung zur Feststellung der Bewährung in der Probezeit, die mit der zusammenfassenden Feststellung zum Ende der Probezeit endete, dass die Lehrkraft sich bewährt hat. Daraufhin wurde der Beigeladenen am 13. September 2017 die Eigenschaft einer Beamtin auf Lebenszeit verliehen. Am 6. Dezember 2017 wurde der Beigeladenen der Dienstposten einer Studiendirektorin als Leiterin des Sekundarbereichs II an der Integrierten Gesamtschule in G. übertragen und gleichzeitig wurde sie in eine Planstelle der Besoldungsgruppe A 15 eingewiesen. Aus dieser erhielt sie zunächst weiterhin Dienstbezüge nach der Besoldungsgruppe A 13.
8
Am 12. September 2018 wurde die Beigeladene mit Wirkung vom 13. September 2018 zur Oberstudienrätin (A 14) ernannt. Am 2. September 2019 wurde die Beigeladene mit Wirkung vom 13. September 2019 zur Studiendirektorin (A 15) ernannt. Ferner wurde ihr mit Wirkung vom 13. September 2019 das Amt einer Studiendirektorin als Leiterin des Sekundarbereichs II an einer Integrierten Gesamtschule der Besoldungsgruppe A 15 an der Integrierten Gesamtschule G. übertragen. Zugleich wurde sie in eine Planstelle der Besoldungsgruppe A 15 eingewiesen.
9
In ihrer Anlassbeurteilung vom 17. Februar 2020 im Rahmen der Bewerbung als Gesamtschuldirektor/Gesamtschuldirektorin als Leiter/Leiterin einer Integrierten Gesamtschule mit voll ausgebauter Oberstufe erzielte die Beigeladene bezogen auf den Beurteilungszeitraum 8. Mai 2017 bis 21. Januar 2020 das Gesamturteil „A die Leistungsanforderungen werden in besonders herausragender Weise übertroffen“. Die Beigeladene verfüge über eine exzellente Sachkompetenz, die sich in ihrer Unterrichtsplanung und -durchführung, ihrem pädagogischen Selbstverständnis sowie in ihrer praktischen Erfahrung aus der Arbeit als Oberstufenkoordinatorin manifestiere. Sie verfüge über eine sehr gute Management- und Sozialkompetenz.
10
Der Schulvorstand der Integrierten Gesamtschule G. schlug am 17. Februar 2020 mehrheitlich den Antragsteller als zukünftigen Schulleiter vor.
11
In seinem Auswahlvermerk vom 5. Mai 2020 gelangte der Antragsgegner zu der Einschätzung, dass die ausgeschriebene Stelle der Beigeladenen zu übertragen sei. Eine abwägende inhaltliche Betrachtung der Beurteilungen bestätige einen deutlichen Leistungsvorsprung zugunsten der Beigeladenen. Betrachte man die Rangstufen der dienstlichen Beurteilungen, so sei festzuhalten, dass die Rangstufen A der dienstlichen Beurteilung der Beigeladenen die Beurteilung des Antragstellers (1 x B, 3 x C - vergleichbar der Niedersächsischen Rangstufe C -) deutlich überrage. Die Beigeladene gehe daher als die besser qualifizierte und geeignete Bewerberin aus dem Vergleich hervor und sei auszuwählen.
12
Der Schulhauptpersonalrat stimmte der beabsichtigten Maßnahme nach Ablauf der Erprobungszeit gemäß § 10 Abs. 1 NLVO sowie nach Ablauf von zwei Jahren nach der Beförderung nach A 15 nämlich die Übertragung des Amtes einer Gesamtschuldirektorin als Leiterin einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe auf die Beigeladene nicht zu.
13
Im Rahmen einer erneuten Beteiligung sprach sich der Schulvorstand am 15. Juni 2020 mehrheitlich für die Besetzung der Schulleitungsstelle mit der Beigeladenen aus.
14
Mit Schreiben vom 18. Juni 2020 setzte der Antragsgegner den Antragsteller davon in Kenntnis, dass beabsichtigt sei, die ausgeschriebene Stelle der Beigeladenen zu übertragen.
15
Daraufhin hat der Antragsteller am 21. Juli 2020 beim Verwaltungsgericht B-Stadt um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Mit Beschluss vom 4. August 2020 (13 B 3943/20) verwies das örtlich unzuständige Verwaltungsgericht B-Stadt den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Stade.
16
Zur Begründung seines Antrags trägt der Antragsteller vor, dass die Beurteilung der Beigeladenen in sich widersprüchlich sei, weil die textlichen Bewertungen ein absolutes Spitzenurteil im Gesamturteil nicht plausibel machten. Bei der Rangstufe „A“ handele es sich um eine Bewertung, die nur diejenigen Beschäftigten erhalten könnten, die nach Gesamtleistung und Gesamtpersönlichkeit in jeder Hinsicht konstant Spitzenleistungen zeigten und die die gesteigerten Leistungsanforderungen für die Rangstufen B nochmals deutlich und dauerhaft überträfen. Es müsse sich um Beschäftigte mit außergewöhnlichem Leistungsverhalten handeln. Die Beurteilung der Beigeladenen sei danach in sich nicht plausibel, weil die textlichen Begründungen zu der Unterrichtsbesichtigung, der Beratung einer Lehrkraft und der Leitung einer Konferenz/Dienstbesprechung, ferner zu dem auf die Eignung für die angestrebte Funktion bezogenen Gespräch und schließlich die weiteren Erkenntnisse, die der Beurteilung zugrunde gelegt worden seien, keine konstant erbrachten Spitzenleistungen attestierten, d. h. solche, die die schon gesteigerten Leistungsanforderungen für die Rangstufe B nochmals deutlich und dauerhaft überträfen. Außergewöhnliches Leistungsverhalten sei danach nicht erkennbar. Die bewertenden Äußerungen belegten, dass die Anforderungen in vollem Umfang erreicht würden, sie ließen aber nicht erkennen, dass die Leistungsanforderungen auch nur deutlich übertroffen würden, wie es schon für eine Bewertung mit der Rangstufe B erforderlich wäre.
17
Zudem habe die notwendige Vergleichbarmachung der unterschiedlichen Beurteilungssysteme faktisch nicht stattgefunden. Mangels eines Gesamturteils in der dienstlichen Beurteilung des Antragstellers, die hier der Auswahlentscheidung zugrunde gelegt worden sei, sei die Auswahlentscheidung schon deswegen rechtswidrig. Der Antragsgegner sei schlicht davon ausgegangen, dass die Rangstufen der dienstlichen Beurteilungen ohne Weiteres miteinander vergleichbar seien und die Rangstufe A der dienstlichen Beurteilung der ausgewählten Beigeladenen die Beurteilung des Antragstellers „deutlich überrage“. Die Bildung eines objektiven Vergleichsmaßstabs durch Abgleich der unterschiedlichen Beurteilungsrichtlinien habe faktisch nicht stattgefunden. Es wäre ein systematischer und detaillierter Vergleich der Hamburgischen Beurteilungsrichtlinien für Lehrkräfte einerseits und der Beurteilungsrichtlinien für Lehrkräfte in Niedersachsen andererseits notwendig gewesen, weil gerade nicht nach der Dokumentation der Auswahlentscheidung eindeutig sei, dass tatsächlich die Maßstäbe für die Beurteilung von Lehrkräften in Hamburg einerseits und Niedersachsen andererseits tatsächlich deckungsgleich seien.
18
Der Antragsteller beantragt,
19
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die Stelle einer Gesamtschuldirektorin/eines Gesamtschuldirektors an der Integrierten Gesamtschule G. mit der Beigeladenen zu besetzen und sie zur Oberstudiendirektorin zu befördern, solange nicht über die Bewerbung des Antragstellers für diese Stelle bestandskräftig entschieden worden ist.
20
Der Antragsgegner beantragt,
21
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
22
Er ist der Auffassung, dass das durchgeführte Auswahlverfahren, das mit der Auswahl der Beigeladenen für den zu besetzenden Dienstposten beendet worden sei, entgegen der Auffassung des Antragstellers unter Wahrung der Anforderungen aus Art. 33 GG, nämlich des Grundsatzes der Bestenauslese, nicht zu beanstanden sei. Entscheidend für den Leistungsvergleich seien in erster Linie die abschließenden Gesamturteile der dienstlichen Beurteilungen, wobei das jeweils übertragene Statusamt der maßgebliche Bezugspunkt sei.
23
Beide Beurteilungen umfassten in etwa den Zeitraum von drei Jahren. Die Beurteilungszeitpunkte beim Antragsteller am 4. Juni 2019 und bei der Beigeladenen am 17. Februar 2020 lägen acht Monate auseinander. Auf eine anlässlich der Inanspruchnahme von Elternzeit fiktive Fortschreibung der Beurteilung des Antragstellers habe man verzichtet, denn die fiktive Fortschreibung greife im Grunde nur auf die Entwicklung einer Vergleichsgruppe zurück und wäre nicht im selben Maße aussagekräftig wie eine „richtige“ Beurteilung. Zudem habe die Stammschule des Antragstellers am 29. Januar 2020 die fortdauernde Gültigkeit der Beurteilung bestätigt. Mithin bestünden keine Zweifel an der Verwertbarkeit der beiden Beurteilungen.
24
Einzelne Bestandteile der dienstlichen Beurteilung gäben keinen Überblick über den längerfristigen Beurteilungszeitraum von drei Jahren, da insoweit konkrete, zeitlich fixierte Ereignisse betrachtet würden. Bestimmte Aspekte einzelner Kompetenzen fänden sich daher nur in den „zusammenfassenden Aussagen“ der Beurteilung der Beigeladenen, in die auch durch den Beurteilungsbeitrag der Schulleitung längerfristige Einschätzungen mit eingeflossen seien. Die Beigeladene sei, wie in den zusammenfassenden Aussagen nachvollziehbar dargestellt, mit dem Gesamturteil „A die Leistungsanforderungen werden in besonders herausragender Weise übertroffen“ dienstlich beurteilt worden.
25
Der Antragsteller könne die fachliche und persönliche Beurteilung der Beigeladenen nicht durch einen eigenen Beurteilungsmaßstab ersetzen.
26
Des Weiteren könne der Antragsteller nicht mit dem Argument durchdringen, dass die notwendige Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Beurteilungssysteme faktisch unterblieben sei und dass mangels eines Gesamturteils in der dienstlichen Beurteilung des Antragstellers, die der Auswahlentscheidung zugrunde gelegt worden sei, die Auswahlentscheidung schon deswegen rechtswidrig sei. Dass die Beurteilungen auf unterschiedlichen Beurteilungsrichtlinien beruhten und dass die einzelnen Leistungsmerkmale in den beiden Beurteilungen inhaltlich überwiegend nicht deckungsgleich seien, stehe einer Vergleichbarkeit nicht entgegen. Die von der Rechtsprechung für diesen Fall geforderte Bildung eines objektiven Vergleichsmaßstabs sei gewährleistet, weil die Beurteilungen auf Grundlagen basierten, die Gemeinsamkeiten bzw. Schnittmengen aufwiesen.
27
Er habe die Beurteilungen von unterschiedlichen Beurteilungssystem und Beurteilungsrichtlinien kompatibel gemacht und schulfachlich eine inhaltliche Auswertung der beiden dienstlichen Beurteilungen vorgenommen. Die Beurteilungen seien auf Differenzierungen in der Bewertung einzelner Leistungskriterien bzw. in der verbalen Gesamtwürdigung geprüft worden. Festgehalten worden sei die Prüfung mit zusammenfassenden Aussagen zu der Vergleichbarkeit mit den niedersächsischen Rangstufen im Auswahlvermerk vom 5. Mai 2020. In der Beurteilung des Antragstellers sei in jeder der vier Kategorien eine Gesamtbewertung erfolgt. Diese vier Kategorien seien nicht abschließend zusammengefasst und nicht zu einem Gesamturteil zusammengeführt worden. Daher seien die vier Gesamtbewertungen in der Beurteilung des Antragstellers mit der Bewertung in Niedersachsen, mit den fünf Rangstufen, einem Vergleich unterzogen worden. Die Gesamtbewertungen der Beigeladenen und des Antragstellers seien in wesentlichen Aspekten nicht gleich: der Antragsteller sei ausschließlich in dem Kriterienbereich „III Steuerung des Aufgabenbereichs“ in der Gesamtbewertung mit „übertrifft die Anforderungen“ bewertet worden, diese Bewertung entspreche in Niedersachsen dem Gesamturteil „B - die Leistungsanforderungen werden deutlich übertroffen“. In den übrigen drei Kriterienbereichen habe der Antragsteller jeweils das Gesamturteil „entspricht den Anforderungen in vollem Umfang“ erhalten, diese Bewertung entspreche in Niedersachsen dem Gesamturteil „C - die Leistungsanforderungen werden gut erfüllt“. Die Beigeladene habe als Gesamturteil ein „A - die Leistungsanforderungen werden in besonders herausragender Weise übertroffen“ erhalten.
28
Der Beigeladenen sei im Verfahren eine exzellente Sach- und herausragende Leitungskompetenz bescheinigt worden. Die diesen Leistungsmerkmalen zugeordneten Kompetenzen seien in der Hamburger Beurteilung in den Bereichen „I Persönliche Kompetenzen“ sowie „II Ziel- und ergebnisorientiertes Führen“ und „IV Unterrichtsbezogene Tätigkeiten“ enthalten. In den genannten Kriterienbereichen I, II und IV habe der Antragsteller jeweils die Gesamtbewertung „entspricht den Anforderungen in vollem Umfang“ erhalten. In diesem Vergleich lasse sich feststellen, dass die Beigeladene deutlich besser beurteilt worden sei.
29
Im Übrigen sei die Beigeladene mit der höchsten von fünf Rangstufen beurteilt wurden; der Antragsteller hingegen sei in keiner Kategorie mit der höchsten Bewertungsstufe 6 („übertrifft die Anforderungen in besonderem Maße“) dienstlich beurteilt worden. Es sei unumstritten, dass die Beurteilung mit der bestmöglichen Rangstufe A in Niedersachsen mit einer bestmöglichen Bewertung der Bewertungsstufe sechs in Hamburg vergleichbar sei. Denn es handelte sich innerhalb der 5- bzw. 6-stufigen Notenskalen jeweils um die Spitzenbewertung und nicht beispielsweise um eine mittlere Note innerhalb des jeweiligen Notensystems. Im Ergebnis habe sich ein signifikanter Beurteilungsvorsprung der Beigeladenen gegenüber dem Antragsteller ergeben.
30
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
II.
31
Der Antrag hat Erfolg.
32
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der Antragsteller hat sowohl die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
33
Ein Anordnungsgrund ist gegeben. Nach der Rechtsprechung des Nds. OVG, der sich die Kammer in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, besteht für eine einstweilige Anordnung gegen die Besetzung einer Beförderungsstelle mit einem Konkurrenten regelmäßig ein Anordnungsgrund, weil die Ernennung des Konkurrenten im Falle der Feststellung, dass dieser sich auf der Beförderungsstelle bewährt hat, (grundsätzlich) unumkehrbar wäre und der Konkurrent selbst im Falle der zeitnahen Übertragung nur des umstrittenen Dienstpostens noch immer die Möglichkeit hätte, auf der streitigen Stelle einen Bewährungsvorsprung vor dem unterlegenen Bewerber zu erreichen (Nds. OVG, Beschluss 22.05.2020 - 5 ME 76/20 - juris und vom 03.1.2017 - 5 ME 157/16 - juris m. w. N.).
34
Dem Antragsteller steht auch der erforderliche Anordnungsanspruch zur Seite. Die von dem Antragsteller angegriffene Auswahlentscheidung des Antragsgegners erweist sich bei der auch im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung - die Verwaltungsgerichte dürfen sich bei der rechtlichen Überprüfung der Bewerberauswahl im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht auf eine wie auch immer geartete summarische Prüfung beschränken (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.11.2010 - 2 C 16.09 - juris; Nds. OVG, Beschluss vom 08.06.2011 - 5 ME 91/11 - juris) - als rechtsfehlerhaft. Denn die Auswahl-entscheidung trägt dem in Art. 33 Abs. 2 GG und § 9 BeamtStG verankerten Leistungsprinzip nicht hinreichend Rechnung.
35
Eine Auswahlentscheidung ist allein auf der Grundlage der Bewertung der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung der Bewerber zu treffen (Art. 33 Abs. 2 GG, § 9 BeamtStG) und unterliegt nur einer eingeschränkten richterlichen Kontrolle dahingehend, ob die Verwaltung den anzuwendenden Rechtsbegriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder mit höherrangigem Recht vereinbare Richtlinien verstoßen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.01.2003 - 2 A 1.02 - juris; Nds. OVG, Beschluss vom 23.06.2011 - 5 ME 181/11 - juris). Erweist sich anhand dieses Maßstabs die Auswahlentscheidung als fehlerhaft und lässt sich nicht ausschließen, dass der jeweilige Antragsteller zum Zuge kommt, erscheint eine Auswahl des jeweiligen Antragstellers also jedenfalls möglich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.09.2002 - 2 BvR 857/02 - juris; Nds. OVG, Beschluss vom 08.09.2011 - 5 ME 234/11 - juris), hat der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg.
36
Die Beachtung des gesetzlichen Rahmens gebietet es, bei Anwendung des Art. 33 Abs. 2 GG und des § 9 BeamtStG die den Bewerbern erteilten dienstlichen Beurteilungen in erster Linie zu berücksichtigen. Hierbei kommt der letzten dienstlichen Beurteilung regelmäßig besondere Bedeutung zu, weil für die zu treffende Entscheidung hinsichtlich von Leistung, Befähigung und Eignung auf den aktuellen Stand abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.02.2003 - 2 C 16.02 - juris; Nds. OVG, Beschluss vom 23.06.2011 - 5 ME 181/11 - juris). Aus dieser Rechtsprechung und den eingangs zitierten Grundsätzen ergibt sich auch, dass eine Auswahlentscheidung im Hinblick auf die ihr zugrunde gelegte dienstliche Beurteilung dann als rechtswidrig angesehen werden kann, wenn sich die zu Grunde liegende dienstliche Beurteilung bereits in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes als rechtswidrig erweist (vgl. Nds. OVG, Beschlüsse vom 23.06.2011 - 5 ME 181/11 - juris sowie vom 15.09.2010 - 5 ME 181/10 - juris Rn. 7).
37
Im vorliegenden Fall weist die der Auswahlentscheidung zugrundeliegende dienstliche (Anlass-)Beurteilung der Beigeladenen vom 17. Februar 2020 durchgreifende Rechtsfehler auf, die nach Überzeugung der Kammer zur Rechtswidrigkeit der Beurteilung führen.
38
Obwohl dienstliche Beurteilungen - wie ausgeführt - eine zentrale Bedeutung im Rahmen von Entscheidungen nach Art. 33 Abs. 2 GG haben, hat sich die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung bei dienstlichen Beurteilungen darauf zu beschränken, ob der Dienstherr den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem er sich bewegen kann, verkannt, ob er einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde gelegt, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat. Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung kann dagegen nicht dazu führen, dass das Gericht die fachliche und persönliche Beurteilung des Beamten durch seinen Dienstvorgesetzten in vollem Umfang nachvollzieht oder diese gar durch eine eigene Beurteilung ersetzt (BVerwG, Urteil vom 26.06.1980 - 2 C 8.78 - juris).
39
Erweist sich eine dienstliche Beurteilung, welche Grundlage eines Vergleichs zwischen den Bewerbern um ein Beförderungsamt ist, als fehlerhaft, so hat das Gericht den Dienstherrn in einem etwaigen Hauptsacheverfahren zur Neubescheidung zu verpflichten, wenn das Ergebnis des Auswahlverfahrens auf der fehlerhaften Grundlage beruhen kann. Dementsprechend ist die Fehlerhaftigkeit einer dienstlichen Beurteilung bereits im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu beachten, wenn sie Einfluss auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens haben kann (Nds. OVG, Beschluss vom 28.05.2020 - 5 ME 64/20 - juris m. w. N.).
40
In Anwendung dieser Grundsätze hält die Anlassbeurteilung der Beigeladenen vom 17. Februar 2020 einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Der Anlassbeurteilung der Beigeladenen lässt sich nicht entnehmen, dass die Leistungen der Beigeladenen im Hinblick auf das Statusamt einer Studiendirektorin (A 15) bezogen auf den gesamten Beurteilungszeitraum plausibilisiert worden sind. Die im Beurteilungszeitraum gezeigten Leistungen eines Beamten sind am Maßstab des am Beurteilungsstichtag innegehabten statusrechtlichen Amtes zu messen. Dies gilt auch wenn der Beamte erst während des Beurteilungszeitraums befördert worden ist (Nds. OVG, Urteil vom 09.02.2020 - 5 LB 497/07 - juris).
41
Zum Beurteilungsstichtag 21. Januar 2020 befand sich die Beigeladene im Statusamt einer Studiendirektorin (A 15). Während des hier maßgeblichen Beurteilungszeitraums vom 8. Mai 2017 bis zum 21. Januar 2020 ist die Beigeladene zwei Mal befördert worden, nämlich am 13. September 2018 ist sie zur Oberstudienrätin, Statusamt A 14, und am 13. September 2019 zur Studiendirektorin, Statusamt A 15, ernannt worden. Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Beigeladenen bereits am 6. Dezember 2017 als Studienrätin im Statusamt A 13 der Dienstposten einer Studiendirektorin A 15 übertragen worden ist und sie auch in eine entsprechende Planstelle nach A 15 eingewiesen worden ist, aus der sie ihre Besoldung nach A 13 bzw. nach ihrer Beförderung nach A 14 erhalten hat.
42
Bei einer Beförderung während des Beurteilungszeitraums richtet sich der Beurteilungsmaßstab für den gesamten Zeitraum nach den Anforderungen des höheren Statusamtes (Nds. OVG, Urteil vom 09.02.2010 - 5 LB 497/07 - juris; OVG NRW, Beschluss vom 08.08.2012 - 1 A 1784/11 - juris). Dabei richtet sich der Beurteilungsmaßstab für den gesamten Zeitraum nach den Anforderungen des höheren Statusamtes einer Studiendirektorin nach A 15. Dementsprechend waren die als Studienrätin (A 13) im Zeitraum vom 8. Mai 2017 bis 13. September 2018 erbrachten Leistungen ebenso an den (höheren) Anforderungen des A 15-Amtes einer Studiendirektorin zu messen wie auch die Leistungen als Oberstudienrätin (A 14) im Zeitraum vom 13. September 2018 bis zum 13. September 2019.
43
Die Beurteilerin hat diesen Umstand der Beförderungen während des Beurteilungszeitraums in der Beurteilung weder erwähnt noch ihm Rechnung getragen. Unter der Rubrik „Persönliche Daten der Lehrkraft“ ist in der Beurteilung für die Beigeladene die Amtsbezeichnung „StD“ angegeben. Dem lässt sich gerade noch entnehmen, dass die Leistungen der Beigeladenen an dem Beurteilungsmaßstab des Statusamtes einer Oberstudienrätin gemessen worden sind (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19.05.2015 - 5 ME 56/15 -). Indes ist damit nicht dargetan, dass die Beurteilerin ihre Bewertungen an den Anforderungen des Statusamtes A 15 bezogen auf den gesamten Beurteilungszeitraum ausgerichtet hat. Dazu wären Ausführungen angesichts der 2-maligen Beförderung der Beigeladenen angezeigt gewesen.
44
In der dem Auswahlverfahren zugrundeliegenden Beurteilung vom 17. Februar 2020 hat die Beigeladene im Statusamt einer Studiendirektorin (A 15) die Bestnote A innerhalb der 5-stufigen Notenskala für das Gesamturteil erhalten. Vergleicht man indes diese Benotung mit ihrer Vorbenotung in der vorangegangenen Anlassbeurteilung vom 12. Juli 2017 fällt auf, dass sie die Note „B übertrifft erheblich die Anforderungen als Gesamturteil“ im Statusamt A 13, eingesetzt auf dem Dienstposten einer Oberstudienrätin A 14 ab dem 12. Dezember 2016, erhalten hat. Weiter ist in der Beurteilung vom 12. Juli 2017 unter persönlichen Daten der Lehrkraft „OStR“ verzeichnet, dies ist indes nicht zutreffend, weil die Beigeladene erst am 13. September 2018 in das Statusamt einer Oberstudienrätin A 14 aufgerückt ist.
45
Insoweit ist auffällig, dass die Beigeladene in der Anlassbeurteilung vom 12. Juli 2017 im Statusamt A 13 die Note B erhält und sodann bei der darauffolgenden nächsten Anlassbeurteilung am 17. Februar 2020 nicht etwa eine schlechtere oder gleichbleibende Note erhält, sondern sogar die Höchstnote bekommt, ohne dass dies in der Anlassbeurteilung vom 17. Februar 2020 in irgendeiner Weise im Vergleich zur Vorbenotung dargelegt oder plausibilisiert wird. Entsprechende Erwägungen sind aber deshalb angebracht, weil es wegen der höheren Anforderungen an das um zwei Stufen höhere Statusamt - hier A 15 - grundsätzlich nachvollziehbar ist, wenn die Note im höherwertigen Statusamt zunächst schlechter ausfällt als das Gesamturteil in der Vorbeurteilung (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19.05.2015 - 5 ME 56/15 -). Im Fall der Beigeladenen verschlechtert sich aber nicht die Gesamtnote, sondern sie verbessert sich hin zur Bestnote. Mit ihrer zweimaligen Beförderung tritt die beurteilte Beigeladene aus dem Kreis der vor der Beförderung mit ihr zu vergleichenden Beamten heraus und in den Kreis der nunmehr mit ihr zu vergleichenden Beamten des letzten Beförderungsamtes- hier A 15 - ein. Hieraus folgt zum einen, dass für die Bewertung der im Beurteilungszeitraum erbrachten Leistungen ein höherer, anspruchsvollerer Bewertungsmaßstab anzulegen ist, da an den Inhaber eines höheren statusrechtlichen Amtes im Hinblick auf dessen Leistung höhere Anforderungen zu stellen sind. Zum anderen ist Maßstab für die Bewertungen eine andere, leistungsstärkere Vergleichsgruppe, die sich regelmäßig aus im Beförderungsamt schon erfahrenen Beamten zusammensetzt. Wenn vor diesem Hintergrund der beurteilte Beamte seine Leistungen nicht gesteigert hat, führt dieses grundsätzlich dazu, dass die Beurteilung im neuen Amt schlechter ausfällt als diejenige im vorausgegangenen niedrigeren Amt, und zwar auch dann, wenn der Beamte auf demselben Dienstposten befördert worden ist und dieselben Aufgaben wie zuvor wahrnimmt. Dies rechtfertigt grundsätzlich die Herabstufung der Bewertungen um eine Wertungsstufe (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 09.02.2010 - 5 LB 497/07 -). Im vorliegenden Fall tritt zudem der Umstand hinzu, dass die Beigeladene bis zum 6. Dezember 2017 nicht auf dem Dienstposten A 15 eingesetzt war, mithin für den Zeitraum vom 8. Mai 2017 bis 6. Dezember 2017 gemessen am Statusamt A 15 auf einem mit A 14 niedriger bewerteten Dienstposten tätig war.
46
Vor diesem Hintergrund hat die Beurteilerin dem Plausibilitätsgebot nicht in hinreichendem Umfang Rechnung getragen. Das bei dienstlichen Beurteilungen zu beachtende Plausibilitätsgebot beruht sowohl auf dem aus Art. 33 Abs. 2 GG resultierenden Anspruch als auch - bezogen auf das gerichtliche Verfahren - auf Art. 19 Abs. 4 GG und fordert, dass die Bewertungen der einzelnen Leistungs- und Befähigungsmerkmale wie auch die Herleitung des Gesamturteils aus den Bewertungen der einzelnen Leistungs- und Befähigungsmerkmale nachvollziehbar von den Beurteilern begründet wird. Grundsätzlich haben daher die Beurteiler in den Fällen wie dem hier zu entscheidenden auch nachvollziehbar darzulegen, wie sie die in einem niedrigeren Statusamt vor der Beförderung erbrachten Leistungen des Beamten am Maßstab des höheren, zum Beurteilungsstichtag innegehabten Amtes bezogen auf den gesamten Beurteilungszeitraum bewertet haben. Hinsichtlich der konkreten Anforderungen an die Plausibilität der Beurteilung bestehen insoweit keine Bedenken, wenn sich die Beurteiler bei der Bewertung der einzelnen Leistungs- und Befähigungsmerkmale wie auch des Gesamturteils auf die Rechtsprechung berufen, wonach es für zulässig zu erachten ist, das im vorherigen Statusamt vergebene Bewertungen der Merkmale wie auch des Gesamturteils in einer Vorbeurteilung nach einer Beförderung im nachfolgenden Beurteilungszeitraum herabgestuft werden, wenn der Beamte seine bisherigen Leistungen nicht gesteigert hat. Wenn vor diesem Hintergrund der beurteilte Beamte seine Leistungen nicht gesteigert hat, führt dieses grundsätzlich dazu, dass die Beurteilung im neuen Amt schlechter ausfällt als diejenige im vorausgegangenen niedrigeren Amt, und zwar auch dann, wenn der Beamte auf demselben Dienstposten befördert worden ist und dieselben Aufgaben wie zuvor wahrnimmt. Denn die Bewertung der Leistungen orientiert sich nicht allein am Dienstposten und an den auf diesem zu erledigenden Aufgaben, sondern in erster Linie an den Anforderungen des jeweils innegehabten statusrechtlichen Amtes (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 06.01.2010 - 5 LA 223/08 -; Beschluss vom 29.12.2009 - 5 LA 112/08 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2004 - 4 S 1165/03 -, RiA 2005, 136 m. w. N.).
47
Im vorliegenden Fall finden die beiden Beförderungen der Beigeladenen im Beurteilungszeitraum in der Beurteilung keine Erwähnung. Ebenso wenig wird in der Beurteilung deutlich, inwieweit die von der Beigeladenen in den verschiedenen Ämtern erbrachten Leistungen und gezeigten Befähigungen im Hinblick auf die Anforderungen im Statusamt A 15 insoweit bezogen auf den gesamten Beurteilungszeitraum zu berücksichtigen und zu bewerten sind. Es wird ausgeführt, dass die Beigeladene sich teamorientiert in die erweiterte Schulleitung eingebracht habe und auch spontan zusätzliche Aufgaben übernommen und gemeistert habe. Ihre Leitungs- und Sozialkompetenz habe sie neben der professionellen Durchführung von regelmäßigen schulischen Terminen in der Vertretung des Direktorstellvertreters und Unterstützung der Schulleiterin in einer außerordentlichen schwierigen Personalangelegenheit, die die Schule seit August 2019 belastet habe, unter Beweis gestellt. Auch in das Arbeitsfeld des Direktorstellvertreters habe sie sich in kürzester Zeit eingearbeitet und sich mit dem Stundenplanprogramm der Stundenplanerstellung und der Vertretungsplanregelung vertraut gemacht. In dem entstandenen fachlichen Engpass (Mathematik) habe sie durch Übernahme eines zusätzlichen Kurses in der Sekundarstufe II ihre Anrechnungsstunden reduziert, trotz der erheblichen Mehrbelastung durch die zusätzlichen Schulleitungsaufgaben.
48
Die Beigeladene habe sich in der jüngeren Vergangenheit als extrem belastbar, loyal und empathisch in der Handhabung einer außerordentlich schwierigen Personalsituation erwiesen. Parallel zur Vorbereitung auf ihre eigene dienstliche Überprüfung habe sie zudem die erkrankte Schulleiterin in der Phase der Erstellung der Halbjahreszeugnisse und bei Einstellungsgesprächen mit Stellenbewerber/Stellenbewerberinnen vertreten und durch ihren vorbildlichen Einsatz dafür gesorgt, dass der schulische Alltag trotz massiver Zusatzbelastung gemeistert worden sei. Bei der Beigeladenen liege der Schwerpunkt in der Management- und Sozialkompetenz. Konferenzvorbereitung und -durchführung sowie eine präzise Zeitplanung belegten die sehr gute Managementkompetenz der Beigeladenen. Ihre Sozialkompetenzen seien den Anforderungen des Amtes sehr gut angemessen.
49
Auch wenn damit in der Beurteilung zum Ausdruck kommt, dass die Beigeladene ab August 2019 eine erhebliche Mehrbelastung zu bewältigen hatte, wird in der Beurteilung indes nicht deutlich, inwieweit die seitdem gezeigten Leistungen insbesondere nach ihrer Beförderung zur Studiendirektorin am 13. September 2019 im Vergleich zu den im Amt einer Oberstudienrätin gezeigten Leistungen jeweils gemessen am Statusamt A 15 über den Beurteilungszeitraum zu einer solchen über den Beurteilungszeitraum konstanten Leistungssteigerung geführt haben, die insgesamt für den Beurteilungszeitraum das Gesamturteil A rechtfertigen. Auch wird nicht ansatzweise deutlich inwieweit ihre bis zum 7. Mai 2017 und mit der Note B bewerteten Leistungen im Statusamt A 13 auf einem Dienstposten einer Oberstudienrätin A 14 sich danach unter Beachtung der Beförderung am 13. September 2018 zur Oberstudienrätin und am 13. September 2019 zur Studiendirektorin gemessen an dem für den Beurteilungszeitraum anzunehmenden Statusamtes A 15 unter Berücksichtigung des erst seit dem 6. Dezember 2017 ausgeübten Dienstpostens A 15 zu einer solch enormen Leistungssteigerung verdichtet haben, die trotz der anderen Vergleichsgruppe und des zeitweise um zwei Stufen höheren Statusamtes, die Vergabe der Höchstnote rechtfertigen. Ohne eine in der Beurteilung nachvollziehbar dargestellte massive Leistungssteigerung der Beigeladenen während des Beurteilungszeitraums ist der Sprung zur Höchstnote nach Überzeugung des Gerichts in Anbetracht der beiden Beförderungen während des Beurteilungszeitraums in der Beurteilung nicht plausibel dargelegt worden.
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Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat er eine Vergleichbarkeit der Beurteilung des Antragstellers und der Beigeladenen vor der getroffenen Auswahl nicht hergestellt. Beide Beurteilungen sind nicht vergleichbar, weil die Vorschriften über die dienstliche Beurteilung von Studiendirektoren im Statusamt A 15 in Hamburg und in Niedersachsen wesentliche Unterschiede aufweisen.
51
Ist eine Auswahlbehörde - wie hier - mit unmittelbar nicht vergleichbaren Beurteilungen konfrontiert, darf dies aus Rechtsgründen nicht dazu führen, dass wegen der eingeschränkten Vergleichbarkeit der Beurteilungen zugleich auch die Leistungen der Bewerber als unvergleichbar betrachtet werden und die Bewerber im Ergebnis nicht mehr miteinander konkurrieren können. Der Grundsatz der Bestenauslese des Art. 33 Abs. 2 GG und das in dieser Verfassungsbestimmung abgedeckte Interesse der Beamten oder Richter an einem angemessenen beruflichen Fortkommen beinhalten als Teilaspekt auch einen Anspruch der Bewerber gegen die Auswahlbehörde, im Vorfeld ihrer Entscheidung Verhältnisse herzustellen, die einen rechtlich einwandfreien Vergleich der Bewerber ermöglichen. Denn nur auf einer solchen Grundlage, die allein die Auswahlbehörde schaffen kann, lässt sich das grundrechtsgleiche Recht auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl erfüllen (OVG NRW, Beschluss vom 20.01.2009 - 1 B 1267/08 - juris; Nds. OVG, Beschluss vom 16.12.2014 - 5 ME 177/14 - juris; Beschluss vom 09.07.2015 - 5 ME 95/15 -; Beschluss vom 21.12.2015 - 5 ME 196/15 - juris; Beschluss vom 07.01.2016 - 5 ME 213/15 -; Beschluss vom 15.03.2019 - 5 ME 1/19 -; Beschluss vom 08.10.2019 - 5 ME 113/19 -; Beschluss vom 28.01.2020 - 5 ME 166/19 -, juris Rn 15; Beschluss vom 19.05.2020 - 5 ME 81/20 -). Die Auswahlbehörde ist somit gehalten, die Aussagen von Beurteilungen mit unterschiedlichen Beurteilungsinhalten miteinander „kompatibel“ zu machen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.04.2007 - 1 WB 31.06 - juris; Nds. OVG, Beschluss vom 16.12.2014, a. a. O., Rn 17; Beschluss vom 09.07.2015 - 5 ME 95/15 -; Beschluss vom 21.12.2015, a. a. O., Rn 14; Beschluss vom 07.01.2016 - 5 ME 213/15 -; Beschluss vom 15.03.2019 - 5 ME 1/19 -; Beschluss vom 08.10.2019 - 5 ME 113/19 -; Beschluss vom 28.01.2020, a. a. O., Rn 15), also die Vergleichbarkeit herzustellen. Die entsprechenden Maßnahmen können dahingehen, dass die Auswahlbehörde die Einholung benötigter dienstlicher Beurteilungen oder ergänzender Stellungnahmen veranlasst, bis dahin, dass sie aus vorliegenden Unterlagen selbständig geeignete und vergleichbare Aussagen gewinnt (Nds. OVG, Beschluss vom 19.05.2020 - 5 ME 81/20 - m. w. N.). Beruhen die Beurteilungen der Bewerber auf unterschiedlichen Beurteilungsrichtlinien und -systemen, hat der für die Auswahl zuständige Dienstherr für die unterschiedlichen Beurteilungen einen objektiven Vergleichsmaßstab zu bilden, auf dessen Grundlage er den Versuch zu unternehmen hat, die Beurteilungen miteinander zu vergleichen (Hess. VGH, Beschluss vom 30.3.2003 - 1 TG 363/03 - juris Rn 8; Nds. OVG, Beschluss vom 16.12.2014, a. a. O., Rn 25; Beschluss vom 09.07.2015 - 5 ME 95/15 -; Beschluss vom 21.12.2015, a. a. O., Rn 14; Beschluss vom 07.01.2016 - 5 ME 213/15 -; Beschluss vom 15.03.2019 - 5 ME 1/19 -; Beschluss vom 08.10.2019 - 5 ME 113/19 -; Beschluss vom 28.01.2020, a. a. O., Rn 15). Im Rahmen des objektiven Vergleichs dienstlicher Beurteilungen ist es allerdings dem Dienstherrn überlassen, besondere Leistungs- und Persönlichkeitsmerkmale hervorzuheben, die ihm für die Besetzung der ausgeschriebenen Stelle und damit zugleich für die Bildung des erforderlichen Vergleichsmaßstabs wesentlich erscheinen. Dabei muss die Auswahl der Beurteilungsmerkmale ihrerseits nachvollziehbar sein; sie darf insbesondere keine allgemein gültigen Wertmaßstäbe außer Acht lassen und keine sachfremden Erwägungen enthalten (Hess. VGH, Beschluss vom 30.03.2003, a. a. O., Rn 8; Nds. OVG, Beschluss vom 09.07.2015 - 5 ME 95/15 -; Beschluss vom 21.12.2015, a. a. O., Rn 14; Beschluss vom 07.01.2016 - 5 ME 213/15 -; Beschluss vom 15.03.2019 - 5 ME 1/19 -; Beschluss vom 08.10.2019 - 5 ME 113/19 -; Beschluss vom 28.01.2020, a. a. O., Rn 15). Wie der Dienstherr die Vergleichbarkeit herstellt, liegt in seinem Ermessen (BVerwG, Beschluss vom 16.12.2008 - 1 WB 39/07 - juris Rn. 53). Die entsprechenden Maßnahmen können dahingehen, dass die Auswahlbehörde die Einholung benötigter dienstlicher Beurteilungen oder ergänzender Stellungnahmen veranlasst, bis dahin, dass sie aus vorliegenden Unterlagen selbstständig geeignete und vergleichbare Aussagen gewinnt (Nds. OVG, Beschluss vom 28.01.2020 - 5 ME 166/19 - juris).
52
Die in Hamburg geltende Richtlinie über die Beurteilung der Lehrkräfte und des Schulleitungspersonals an staatlichen Schulen (BeurtRL- der Kräfte vom 04.12.2013) differenziert zwischen der Beurteilung der Lehrkräfte auf der einen Seite und der Beurteilung des Schulleitungspersonals, zu dem der Antragsteller zählt, auf der anderen Seite mit unterschiedlichen Beurteilungskriterien. Der Vordruck „Beurteilung Schulleistungspersonal“ ist für Inhaberinnen bzw. Inhaber von Funktionsstelle nach § 96 HmbSG sowie Schulleiterinnen bzw. Schulleiter zu verwenden. Es sind die Kriterien maßgebend die im Vordruck aufgeführt und in diesem beschrieben sind. Die vorgegebenen Kriterien und ihre Ausprägung dürfen nicht geändert werden (3.1 Abs. 1 BeurtRL-Lehrkräfte). Als Abteilungsleiter, der unter anderem Beurteilungsgespräche führt und schriftliche Beurteilungen anfertigt, ist der Antragsteller nach den im Vordruck „Beurteilung Schulleitungspersonal“ aufgeführten Kriterien beurteilt worden und zwar von einem Erstbeurteiler und einem Zweitbeurteiler. In Hamburg erfolgt insoweit die Beurteilung durch die Schulleiterin oder den Schulleiter in der Erstbeurteilung und die Zweitbeurteilung erfolgt durch die Schulaufsichtsbeamtin oder den Schulaufsichtsbeamten. Als Beurteilungsmaßstab orientiert sich die Beurteilung in Hamburg an den Anforderungen, die mit dem konkreten Arbeitsplatz verbunden sind. Die Maßstäblichkeit - auch im Quervergleich - wird in Hamburg nach 3.5 Abs. 2 der BeurtRL-Lehrkräfte deshalb nicht über den Status der Person, sondern über die Wertigkeit des Arbeitsplatzes hergestellt, d. h. auf das Statusamt oder die tarifliche Eingruppierung der bzw. des Beschäftigten kommt es für die Bewertung anhand der Kriterienliste nicht an. Im Beurteilungsvordruck Beurteilung Schulleitungspersonal wird zwischen „Führungskompetenz“ (Kategorien I-III) und „Unterrichtsbezogenen Tätigkeiten“ (Kategorie IV) getrennt. Nach den Beurteilungsrichtlinien sollen mit den unter der Rubrik Führungskompetenz aufgeführten Kategorien das personelle sowie das aufgabenorientierte Führungsverhalten einer/eines Vorgesetzten erfasst und beschrieben werden. Die dort aufgeführten Kriterien formulieren ausschließlich die besonderen Anforderungen an Führungskräfte. Dazu gehören I Persönliche Kompetenzen (Argumentation/sprachlicher Ausdruck, Wertschätzung, Fähigkeit, mit gegensätzlichen Anforderungen umzugehen, Konfliktverhalten, Selbstreflexion, fachliche und fachübergreifende Weiterentwicklung), II Ziel- und ergebnisorientiertes Führen (chancengerechte Förderung, Delegation von Aufgaben, Verantwortungsübernahme/Entscheidungsverhalten, Teamfähigkeit, strategische Weiterentwicklung des eigenen Systems Schule) und III Steuerung des Aufgabenbereichs (Innovationskompetenz, Organisationskompetenz, Kooperation mit schulischen wie außerschulischen Stellen, Wirtschaftlichkeit des Handelns). Die Führungskompetenz wird sodann in den einzelnen Kategorien I-III jeweils einer Gesamtbewertung unterzogen. Daneben werden unter IV die unterrichtsbezogenen Tätigkeiten bewertet. Darüber hinaus ist in bestimmten Fällen eine Potenzialeinschätzung vorgesehen, die hier bei dem Antragsteller vorgenommen wurde.
53
In Niedersachsen hingegen erfolgt die Beurteilung durch einen Beurteiler/Beurteilerin. Bei der Beigeladenen erfolgte die Beurteilung durch die schulfachliche Dezernentin nach einem Beurteilungsbeitrag durch die Schulleiterin. Weiter wird der Unterricht nach entsprechender Besichtigung einer Stunde bewertet. Ferner wird benotet, wie die Beratung einer Lehrkraft durch die Beigeladene erfolgt ist. Gegenstand der Beurteilung ist zudem die Leitung einer Konferenz/Dienstbesprechung. Erkenntnisquelle für die Beurteilung ist sodann ein auf die Eignung für die angestrebte Funktion bezogenes Gespräch. In einer weiteren Rubrik werden weitere Erkenntnisse in die Beurteilung aufgenommen und zusammenfassende Aussagen getroffen, die insgesamt mit einem Gesamturteil enden. Demgegenüber werden in Hamburg über vier Bereiche insgesamt 18 Einzelmerkmale bewertet, wobei im Fall des Antragstellers die Einzelmerkmale in den Bereichen I bis III ausschließlich unter dem Aspekt der Führungskompetenz bewertet worden sind. Anders als in Hamburg, wo laut Beurteilungsrichtlinien bei der Beurteilung gerade nicht an das Statusamt angeknüpft wird, ist in Niedersachsen Bezugspunkt der dienstlichen Beurteilung des Gesamturteils das Statusamt.
54
Aus dieser Gegenüberstellung der den Gegenstand der Beurteilung bildenden Kriterien wird deutlich, dass sie in beiden Bundesländern bezogen auf die zu fertigenden Beurteilungen von Studiendirektoren erheblich voneinander abweichen.
55
Nach Einschätzung der Landesschulbehörde Lüneburg vom 26. März 2020 im vorliegenden Fall entspricht es dort der Verwaltungspraxis, dass dann, wenn - wie hier - die in dem anderen Bundesland einschlägigen Vorschriften erheblich von den in Niedersachsen geltenden Bestimmungen abweichen und keine Noten vorgesehen sind, der für die Besetzung der Stelle zuständige schulfachliche Dezernent sich einen eigenen Eindruck über die nach dem niedersächsischen Beurteilungsrecht maßgeblichen Kriterien verschafft und so eine Vergleichbarkeit der Beurteilungen herbeiführt. Davon hat der Antragsgegner indes am 6. April 2020 Abstand genommen, indem er zunächst davon ausgeht, dass die Beurteilungen von unterschiedlichen Beurteilungssystemen und aufgrund unterschiedlicher Beurteilungsrichtlinien kompatibel zu machen seien. Dies bedeute auch, dass Stellungnahmen eingeholt werden dürften, um die Vergleichbarkeit der Beurteilungen herzustellen. Im Anhang zu den Beurteilungsrichtlinien stehe wie die einzelnen Rangstufen der Hamburgischen Notenstufen zu verstehen seien. Eine Vergleichbarkeit könne grundsätzlich hergestellt werden. Aus diesem Grund seien keine weiteren Stellungnahmen etc. nötig. Deshalb brauche kein Gespräch aus Anlass der Bewerbung geführt werden, da beide Bewerber dieselbe Besoldungsstufe hätten, beide Studiendirektoren und beide Leiter von SEK II seien und damit auch ihre Stellung in der Schule vergleichbar sei. Weiter heißt es in einer E-Mail vom 11. März 2020, dass es ausreiche, wenn die Beurteilungsrichtlinien und -systeme miteinander verglichen würden. Nur wenn erhebliche Anhaltspunkte vorlägen, dass die ausgeübten Tätigkeiten/Funktionen in der Schule bei gleichem Statusamt in einem erheblichen Maße unterschiedlich seien, bestehe Anlass zu überlegen, ob eine Vergleichbarkeit herzustellen sei. Aus der Synopse ergebe sich nicht, dass beide Bewerber völlig unterschiedliche Tätigkeiten ausübten.
56
Dies deutet darauf hin, dass man zur Auswahl eine Vergleichbarkeit der Beurteilungen über einen objektiven Vergleichsmaßstab nicht vorgenommen hat, sondern die Beurteilungsrichtlinien und -systeme miteinander verglichen hat und die Tätigkeiten/Funktionen sowie die Statusämter der Bewerber gegenübergestellt hat. Im Auswahlvermerk vom 5. Mai 2020 wird ausgeführt, dass eine „abwägende inhaltliche Betrachtung der Beurteilung“ einen deutlichen Leistungsvorsprung zugunsten der Beigeladenen bestätigt habe. Unterlagen über die von dem Antragsgegner im vorliegenden Verfahren vorgetragene schulfachliche inhaltliche Auswertung der beiden dienstlichen Beurteilung finden sich in dem Verwaltungsvorgang indes nicht. Auch im Auswahlvermerk finden sich dazu keine näheren Hinweise. Vielmehr rechtfertigt der Auswahlvermerk vom 5. Mai 2020 die Überzeugung der Kammer, dass die Notenstufe des Gesamturteils in Niedersachsen mit den Notenstufen für die Gesamtbewertung in Hamburg verglichen wurde und allein daraus ein Vergleich der Noten vorgenommen wurde. Mit der im Auswahlvermerk vom 5. Mai 2020 durchgeführten Betrachtung der Rangstufen, nämlich die Gegenüberstellung des Gesamturteils der Beigeladenen auf der einen Seite mit den vier Gesamtbewertungen des Antragstellers in den Bereichen I-IV auf der anderen Seite attestiert der Antragsgegner der Beigeladenen einen deutlichen Leistungsvorsprung. Der Antragsgegner hat damit die Auswahl vorgenommen, wenn er im Auswahlvermerk ausführt, dass die Beigeladene „daher als die besser qualifizierte und geeignete Bewerberin aus dem Vergleich“ hervorgeht. Damit hat der Antragsgegner eine Vergleichbarkeit als Voraussetzung für einen Vergleich der Beurteilungen indes vorweg nicht durchgeführt, sondern die vier Gesamtnoten aus dem Hamburgischen Notensystem lediglich in das Niedersächsische Notensystem transferiert, um aufgrund des danach nach Einschätzung des Antragsgegners auftretenden deutlichen Leistungsvorsprungs zugunsten der Beigeladenen die Auswahl vorzunehmen. Ein solcher bloßer Notentransfer reicht für eine Vergleichbarmachung schon deshalb nicht aus, weil Bezugspunkt der Beurteilung in Hamburg der konkrete Arbeitsplatz des Antragstellers laut Beurteilungsrichtlinien ist, während Bezugspunkt der Beurteilung der Beigeladenen in Niedersachsen das Statusamt A 15 ist. Aufgrund dessen knüpfen die Note im Gesamturteil bei der Beigeladenen und die Note in den Gesamtbewertungen des Antragstellers bereits an unterschiedliche Bezugspunkte an, die einer Vergleichbarkeit selbst bei einer unterstellten schulfachlichen inhaltlichen Sichtung der Beurteilungsmerkmale entgegenstehen. Der Antragsgegner hat ausweislich der E-Mails vom 6. April und 11. März 2020 die Beurteilungen im Hinblick auf das Statusamt A 15 verglichen.
57
Erweisen sich demnach die zugrundeliegende aktuelle Anlassbeurteilung der Beigeladenen und damit die streitgegenständliche Auswahlentscheidung als fehlerhaft, ist offen, ob der Antragsteller gemessen an einer (neuen) rechtsfehlerfreien dienstlichen Beurteilung der Beigeladenen und einer auf deren Grundlage erneut zu treffenden Auswahlentscheidung Aussicht hat, gegenüber der Beigeladenen vorgezogen zu werden.
58
Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs dürfen deshalb nicht überspannt und nicht über die Darlegung der Fehlerhaftigkeit der Auswahlentscheidung und Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung im Wiederholungsfalle hinaus ausgedehnt werden. Wird das subjektive Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG durch eine fehlerhafte Auswahlentscheidung des Dienstherrn verletzt, folgt daraus, dass einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden muss, wenn die Aussichten des unterlegenen Beamten, beim zweiten Mal ausgewählt zu werden, offen sind, d. h. wenn seine Auswahl möglich erscheint (OVG Saarl., Beschluss vom 20.03.2018 - 1 B 827/17 - juris Rn. 42 unter Hinweis auf BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 04.02.2016 - 2 BvR 2223/15 - juris Rn. 83).
59
Diese Möglichkeit ist im Fall des Antragstellers gegeben. Es ist nicht auszuschließen, dass der Antragsteller bei einer erneuten Auswahlentscheidung den Vorzug gegenüber der Beigeladenen erhält. Den Gerichten ist es verwehrt, hinsichtlich der Frage, ob die Auswahl des unterlegenen Bewerbers als möglich erscheint, eine Prognose über den Inhalt einer neu zu fertigenden Beurteilung - hier betreffend die Beigeladene - anzustellen und ihrer Entscheidung zugrunde zu legen. Denn hierfür ist allein der Dienstherr zuständig. Mutmaßungen über den Inhalt einer neu zu fertigenden Beurteilung sind vom Gericht nicht anzustellen und auch nicht nachzuvollziehen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 08.09.2011 - 5 ME 234/11 - juris Rn. 27 m. w. N.). Da die Landesschulbehörde für die Beigeladene eine neue Beurteilung zu fertigen hat, sind die Aussichten des Antragstellers, beim zweiten Mal gewählt zu werden, jedenfalls nicht unmöglich.
60
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
61
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren nach § 162 Abs. 3 VwGO nicht für erstattungsfähig zu erklären, weil die Beigeladene in diesem Verfahren keinen Antrag gestellt und sich deshalb auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
62
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 6 Satz 4 i. V. m. Satz 1 Nr. 1 GKG. Danach beträgt der Streitwert die Hälfte der Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltfähiger Zulagen. Auszugehen ist insoweit von dem im Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblichen Endgrundgehalt der angestrebten Besoldungsgruppe A 16 in Höhe von monatlich 7.531,36 € (vgl. Anlage 5 des NBesG). Dementsprechend ergibt sich ein Streitwert in Höhe von 45.188,16 € (7.531,36 € x 6 Monate). Eine Halbierung für das Eilverfahren findet nicht statt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 16.5.2013 - 5 ME 92/13 - juris).
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Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18.06.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2020 verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 11.04.2019 bis 20.09.2019 Krankengeld unter Zugrundelegung eines maßgeblichen Regelentgeltes in Höhe von kalendertäglich 140,85 EUR zu gewähren. Der Beklagten werden Missbrauchskosten i.H.v. 300 EUR auferlegt. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.
1Tatbestand:
2Der Kläger begehrt höhere Krankengeldzahlungen in der Zeit vom 11.04.2019 bis 20.09.2019.
3Der am 00.00.0000 geborene Kläger war bis September 2020 als Einzelunternehmer selbstständig erwerbstätig und hatte einen geringfügig Beschäftigten angestellt. Im streitgegenständlichen Zeitraum war er bei der Beklagten freiwillig gesetzlich krankenversichert. Andere Einkünfte als aus dem Gewerbebetrieb hatte der Kläger in den Jahren 2016 bis 2019 nicht.
4Nachdem der zu diesem Zeitpunkt aktuellste Steuerbescheid für das Jahr 2016 Negativeinkünfte aus dem Gewerbebetrieb auswies erhob die Beklagte ab dem 01.01.2019 Beiträge vorläufig nach der Mindestbemessungsgrenze (Bescheid vom 15.12.2018).
5In der Zeit vom 28.02.2019 bis 20.09.2019 erkrankte der Kläger arbeitsunfähig. Die Arbeitsunfähigkeit wurde lückenlos ärztlich festgestellt und die Feststellung jeweils binnen einer Woche der Beklagten angezeigt.
6Mit Bescheid vom 25.04.2019 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Zahlung von Krankengeld vom 26.03.2019 ab. Leider könne kein Krankengeld gezahlt werden, da der Kläger keinerlei Einkünfte aus der selbstständigen Tätigkeit erziele und somit keinen Verdienstausfall habe.
7Daraufhin übersandte der Kläger den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2017 vom 06.02.2019 in dem ein Einkommen aus Gewerbebetrieb i.H.v. 32.130 EUR festgestellt wurde.
8Mit Bescheid vom 18.06.2019 bewilligte die Beklagte dem Kläger daraufhin für die Zeit ab 11.04.2019 Krankengeld unter Zugrundelegung eines Regelentgeltes nach der Mindestbeitragsbemessungsgrundlage in Höhe von kalendertäglich 24,23 EUR brutto.
9Am 10.07.2019 legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 18.06.2019 ein. Einerseits werde mitgeteilt, dass sich die Beitragsgrundlage aus der Mindesteinnahmegrenze berechne, andererseits würden nunmehr Beiträge auf Grundlage des Einkommensteuerbescheides aus 2017 gefordert.
10Mit Widerspruchsbescheid vom 27.02.2020 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Das Bundessozialgericht habe in einem Urteil aus dem Dezember 2006 (B 1 KR 11/06 R) ausgeführt, dass für die Berechnung des Krankengeldes bei freiwillig versicherten hauptberuflich Selbstständigen nach § 47 Abs. 4 S. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) im Sinne einer widerlegbaren Vermutung ein Regelentgelt zugrunde zu legen sei, dass dem Betrag entspreche, aus dem zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit Beiträge entrichtet worden seien. Hiervon könne nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass dieser Betrag erkennbar nicht der wirtschaftlichen Situation des Versicherten vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entspreche, weil sein tatsächliches Arbeitseinkommen wesentlich geringer gewesen sei. Nach dem Vortrag des Klägers habe dieser jedoch für das Jahr 2017 ein höheres Einkommen erzielt. Der vom BSG dargelegte Ausnahmefall eines evident niedrigeren Einkommens vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit sei somit nicht gegeben.
11Hiergegen hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 25.03.2020 Klage erhoben. Zunächst hat der Kläger begehrt, der Krankengeldberechnung für den streitigen Zeitraum sein Arbeitseinkommen aus dem Jahr 2017 zugrunde zu legen, zuletzt das höhere aus dem Jahr 2018.
12Er ist der Ansicht, die Grundsätze der BSG-Rechtsprechung zur Ausnahme vom Wortlaut des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V seien auch zugunsten des Versicherten anzuwenden.
13Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.06.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2020 zu verurteilen, dem Kläger Krankengeld für den Zeitraum vom 11.04.2019 bis 20.09.2019 unter Zugrundelegung eines maßgeblichen Regelentgeltes in Höhe von 4.225,58 EUR nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
14Der Vertreter der Beklagten beantragt, die Klage abzuweisen.
15Im Rahmen der mündlichen Verhandlung behauptet der Vertreter der Beklagten, in allen Fällen, in denen das BSG nicht den letzten zur Zeit des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit vorliegenden Steuerbescheid für die Ermittlung des Regelentgeltes bei Selbstständigen zugrunde gelegt habe, habe der Versicherte noch über gar keinen Steuerbescheid zu Einkünften aus seiner selbständigen Tätigkeit verfügt. Es könne im Übrigen lediglich die Auffassung der Beklagten wiedergegeben werden, dass der Berechnung des Krankengeldes das Arbeitseinkommen zugrunde zu legen sei, dass zuletzt der Beitragsbemessung zugrunde gelegt worden sei.
16Die Beklagte beruft sich insofern schriftlich im Kern auf den Wortlaut des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V und formuliert die Ansicht, hiervon könne zwar auch zugunsten des Klägers abgewichen werden. Das Regelentgelt finde nur seine Begrenzung in dem Betrag, der zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit für die Beitragsermittlung herangezogen worden sei.
17Der Kläger hat einen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2018 vom 05.05.2020 vorgelegt, aus dem Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 50.707 EUR hervorgehen. Die Beklagte hat auf dessen Grundlage (ausgehend von einem monatlichen Einkommen i.H.v. 4.225,58 EUR) die Beiträge für das Jahr 2018 endgültig festgesetzt (Bescheid vom 15.06.2020).
18Die Kammer hat im Rahmen des Verfahrens der Beklagten mehrere schriftliche Hinweise erteilt. Die mündliche Verhandlung hat die Kammer unterbrochen, um dem Vertreter der Beklagten Gelegenheit zu geben, konkret das Urteil des BSG vom 06.11.2008 - B1 KR 28/07 R nochmals zu lesen und hiernach auf die Möglichkeit der Auerlegung von Missbrauchskosten hingewiesen.
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten in Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe:
21A. Die Erhöhung des mit der Klage begehrten Krankengeldes im Laufe des Verfahrens stellt keine Klageänderung dar und ist insofern gem. § 99 Abs. 3 Nr. 2 Alt. Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne weiteres zulässig.
22B. Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthafte (§ 54 Abs. 4 SGG) und auch im Übrigen zulässige Klage ist begründet.
23I. Nach § 47 Abs. 1 S. 1 SGB V beträgt das Krankengeld 70 vom Hundert des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts und Arbeitseinkommens, soweit es der Beitragsberechnung unterliegt. Das "erzielte regelmäßige Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen" in diesem Sinne wird in § 47 Abs. 1 S. 1 SGB V in einem Klammerzusatz als "Regelentgelt" bezeichnet. Gemäß § 47 Abs. 1 S. 5 SGB V wird das Regelentgelt nach den Absätzen 2, 4 und 6 des § 47 SGB V berechnet und gemäß Abs. 1 S. 6 für Kalendertage gezahlt. Für Versicherte, die - wie der Kläger - nicht Arbeitnehmer sind, gilt nach § 47 Abs. 4 Satz 2 SGB V als Regelentgelt der kalendertägliche Betrag, der zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit für die Beitragsbemessung aus Arbeitseinkommen maßgebend war.
24II. Zwar lag der (vorläufigen) Beitragsbemessung zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit des Klägers nach § 240 Abs. 4 S. 1 SGB V der neunzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße für das Jahr 2019 zugrunde, jedoch ist dieses fiktive Mindesteinkommen nicht für die Berechnung des Krankengeldes maßgeblich. Das Krankengeld richtet sich vielmehr nach dem tatsächlich erzielten Arbeitseinkommen des Klägers im Jahre 2018, so dass sich ein kalendertägliches Regelentgelt in Höhe von 140,85 EUR brutto ergibt, von dem ausgehend die Beklagte das Krankengeld des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum nach Maßgabe der Bestimmungen des § 47 Abs. 1 S. 2-4 SGB V zu berechnen und (abzüglich der bereits gewähren Leistungen in Höhe von kalendertäglich 24,23 EUR brutto) zu gewähren hat.
251. Das Bundessozialgericht hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Anordnung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V als widerlegbare Vermutung zu verstehen ist.
26Soweit § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V seinem Wortlaut nach demgegenüber erkennbar fingiert ("gilt") (vgl. insoweit SG Reutlingen, Urteil vom 24. Juni 2010 – S 14 KR 3892/09 –, Rn. 23, juris), dass der kalendertägliche Regelentgeltbetrag dem zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit für die Beitragsbemessung maßgebenden Arbeitseinkommen entspricht, liegt dieser Rechtsprechung letztlich eine teleologische Reduktion zugrunde (nicht zur "einschränkenden Auslegung" abgrenzend: BSG, Urteil vom 30. März 2004 – B 1 KR 32/02 R –, BSGE 92, 260-267, SozR 4-2500 § 47 Nr 1, Rn. 14; BSG, Urteil vom 07. Dezember 2004 – B 1 KR 17/04 R –, Rn. 15, 17 juris). Eine entsprechende Restriktion der Norm ist dort geboten, wo der Sinn und Zweck der einzuschränken gesetzlichen Anordnung selbst sie erfordert oder sie durch den insoweit vorrangigen Zweck einer anderen Norm, der andernfalls nicht erreicht würde, durch die Natur der Sache oder durch eine für eine bestimmte Fallgruppe vorrangiges, dem Gesetz immanentes Prinzip geboten wird und ein vorrangiges Interesse an Rechtssicherheit nicht die strikte Einhaltung der Wortlautgrenze verlangt (vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1995, Seite 210 ff.).
27Das Vorliegen dieser Voraussetzungen bildet sich in den Begründungen des BSG zum Verständnis des § 47 Abs. 2 S. 2 SGB V ab, so dass dieser Rechtsprechung mit der Vorstellung des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 18/11205, S. 72) zu folgen ist. Zugleich verdeutlichen die Begründungen des BSG – ungeachtet der Tatsache, dass das BSG dies bereits zweifach ausdrücklich in obiter dicta erklärt hat (BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 28/07 R –, SozR 4-2500 § 47 Nr 10, Rn. 22; BSG, Beschluss vom 22. Februar 2017 – B 3 KR 47/16 B –, Rn. 13, juris; ferner: Krauskopf, in: Krauskopf/Knittel, 106. EL März 2020, SGB V, § 47, Rn. 39f.; Nebendahl, in: Spickhoff/Nebendahl, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, SGB V, § 47, Rn. 37) – dass die Widerlegung der teleologisch auf eine widerlegbare Vermutung reduzierten Fiktion nicht allein zu Lasten des Versicherten möglich ist, wie die Beklagte in ihrer angefochtenen Entscheidung annimmt. Der Beklagten ist allein einzuräumen, dass vom BSG bislang kein Fall zu entscheiden war, indem die Grundsätze der eigenen Rechtsprechung zu einem Klageerfolg eines Versicherten führen konnten.
282. a) Erstmals hat das BSG mit Urteil aus dem März 2004 entschieden, dass die Anordnung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V als normative Festlegung (Fiktion) eines der Krankengeldberechnung zugrunde zu legenden Regelentgeltes der Teleologie der Vorschriften zum Krankengeld im Sinne eines Entgeltersatzes (Entgeltersatzfunktion) zuwiderlaufe (BSG, Urteil vom 30. März 2004 – B 1 KR 32/02 R –, BSGE 92, 260-267, SozR 4-2500 § 47 Nr 1). Soweit seinerzeit die Wörter "aus Arbeitseinkommen" in § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V noch nicht enthalten waren (eingeführt im Anschluss an diese Rechtsprechung "klarstellend: BR-Drs. 676/04, S. 48) folge aus dem Gesetzeszweck, dass das Regelentgelt einerseits allein nach dem Arbeitseinkommen, nicht aber aus anderen der Beitragsbemessung zugrunde liegenden Einnahmen zu bestimmen sei, andererseits, dass kein fiktives Arbeitseinkommen zugrunde gelegt werden dürfe. Insofern komme eine Bestimmung des Regelentgeltes bei einer Beitragsberechnung nach der Mindestbemessungsgrundlage nicht in Betracht, wenn tatsächlich Arbeitseinkommen unterhalb dieser erzielt worden sei. Die Entgeltersatzfunktion präge die Regelungen zum Krankengeld soweit in § 47 Abs. 1 S. 2 SGB V das Regelentgelt für Arbeitnehmer auf 90 vom Hundert des Nettoarbeitsentgeltes begrenzt werde, § 47 Abs. 3 SGB V die den Krankenkassen für Sonderfälle eingeräumte Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Zahlung und Berechnung des Krankengeldes mit der ausdrücklichen Auflage verbinde, die Erfüllung der Entgeltersatzfunktion des Krankengeldes sicherzustellen und § 44 Abs. 1 S. 2 SGB V diejenigen Versichertengruppen pauschal vom Anspruch auf Krankengeld ausschließe, die mangels einer entgeltlichen Tätigkeit im Falle der Arbeitsunfähigkeit regelmäßig kein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen einbüßten (a.a.O. Rn.13). Im systematischen Zusammenhang zu § 47 Abs. 1 S. 1 SGB V erschließe sich das Verständnis des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V. § 47 Abs. 1 S. 1 SGB V stecke den Rahmen ab, der bei allen in § 47 SGB V getroffenen Regelungen vorrangig zu beachten sei. Nur in dieser Weise bleibe der Sinn und Zweck der Krankengeldleistung gewahrt, dem arbeitsunfähigen Versicherten einen Ausgleich für den durch die Arbeitsunfähigkeit entfallenden Verdienst zu bieten (a.a.O. Rn. 14). Hieran hat das BSG mit Urteil aus dem Dezember 2004 festgehalten (BSG, Urteil vom 07. Dezember 2004 – B 1 KR 17/04 R –, juris).
29b) Auch die seitens der Beklagten im Rahmen der Begründung des Widerspruchsbescheides allein in Bezug genommenen Entscheidung des BSG aus dem Dezember 2006 (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 11/06 R –, BSGE 98, 43-48, SozR 4-2500 § 47 Nr 7) trägt die Auffassung nicht, von der Regelung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V könne allein zulasten des Versicherten abgewichen werden. Weder nahm das BSG eine ausdrückliche Differenzierung dieser Art vor, noch ergibt sich aus dieser Entscheidung ein rechtsdogmatischer Anknüpfungspunkt hierfür.
30Mit der Entscheidung hat das BSG die im Urteil vom 30.03.2004 enthaltenen Rechtssätze "klargestellt" (a.a.O.) und die Reichweite und Grundsätze der praktischen Handhabung der Restriktion in der Korrespondenz des der Beitragsbemessung zu Beginn der Arbeitsunfähigkeit zugrunde zu legenden Arbeitseinkommens präzisiert. Für die Berechnung des Krankengeldes sei bei freiwillig versicherten hauptberuflich Selbstständigen nach § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V im Sinne einer widerlegbaren Vermutung ein Regelentgelt zugrundezulegen, das dem Betrag entspreche, aus dem zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit freiwillige Beiträge entrichtet worden seien. Hiervon könne ausnahmsweise nur dann abgewichen und die Vermutung widerlegt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass dieser Betrag erkennbar nicht der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation des Versicherten vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entspreche, weil sein tatsächliches Arbeitseinkommen wesentlich geringer gewesen sei (a.a.O., Rn. 9). Dabei ist der letzte Satzteil – nach der weiteren Urteilsbegründung ersichtlich - der konkreten Fallgestaltung geschuldet, in der die Krankenkasse als Revisionsführerin, bei Verbeitragung des Versicherten vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im Jahr 2001 nach der Beitragsbemessungsgrenze, Krankengeld allein nach einem aus der Mindestbeitragsbemessungsgrenze abgeleiteten Regelentgelt zahlen wollte (a.a.O., Rn. 2). Zur Begründung hatte die Krankenkasse angeführt, ein höheres Einkommen habe der Kläger bei zwischenzeitlicher Vorlage des Einkommenssteuerjahresbescheides für das Jahr 1999 nicht nachgewiesen. Das BSG führte weiter aus, nur in dem – in den entsprechenden Rechtsstreit nicht erkannten – für die Widerlegung der Vermutung erforderlichen Fall einer evidenten Diskrepanz zwischen tatsächlichem Einkommen und der Beitragsbemessungsgrundlage komme die Ermittlung des tatsächlichen Arbeitseinkommens in Betracht, dass dann der Krankengeldberechnung zugrunde zu legen sei. In diesen strikten Anforderungen an den Anlass auf eine Überprüfbarkeit der Widerlegung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V im Sinne einer Vermutung werde einerseits dessen Wortlaut, andererseits den Erfordernissen der Verwaltungspraktikabilität entsprochen. Weiterhin betonte der Erste Senat im Anschluss an die Rechtsprechung aus dem März 2004 indes die Entgeltersatzfunktion, die er offenkundig weiterhin als Anlass erkannte eine Restriktion vorzunehmen (a.a.O., Rn. 12).
31c) Unterlag das BSG mit einem die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückweisenden Beschluss aus dem Juli 2008 (BSG, Beschluss vom 28. Juli 2008 – B 1 KR 44/08 B –, Rn. 8, juris; zitiert von: Bohlken in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 47 SGB V (Stand: 15.06.2020), Rn. 96; Joussen, in: Becker/Kingreen, 7. Aufl. 2020, SGB V, § 47, Rn. 8; Legde, in: LPK-SGB V, 5. Aufl. 2016, SGB V, § 47, Rn. 18; kasuistisch: Schifferdecker, in: KassKomm, 109. EL Mai 2020, SGB V, § 47, Rn. 79; Tischler, in: BeckOK SozR, 57. Ed. Juni 2020, SGB V, § 47, Rn. 28) – ohne die konkrete Fallgestaltung zu vergegenwärtigen und die dogmatischen Grundlagen der Urteilsbegründung zu betrachten - noch demselben Fehlverständnis seines Urteils aus dem Dezember 2006 wie die Beklagte in ihrem Widerspruchsbescheid, hat es mit darauf folgenden Urteilen aus dem November 2008 (insbesondere BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 28/07 R –, SozR 4-2500 § 47 Nr 10; ferner BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 8/08 R –, juris) eindeutige Aussagen i. S. d. hier vorliegenden Klagebegehrens gemacht. Die Sachverhaltskonstellation zum Verfahren B 1 KR 28/07 R entsprach der vorliegenden lediglich insoweit nicht, als der dortige Kläger im Kalenderjahr vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit letztlich tatsächlich weniger Einkommen erzielte als der Krankengeldberechnung zugrunde gelegt.
32Im durch das BSG entschiedenen Fall (B 1 KR 28/07 R) war Arbeitsunfähigkeit des Klägers im Jahr 2005 eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die beklagte Krankenkasse gegen dem Kläger auf Grundlage des bis dato aktuellsten Einkommensteuerbescheides für das Jahr 2003 lediglich Mindestbeiträge festgesetzt. Die im Steuerbescheid für das Jahr 2003 ausgewiesenen Einkünfte legte sie der Berechnung des Krankengeldes zugrunde (BSG; a.a.O., Rn. 2, 3). Mit der Behauptung, dass Arbeitseinkommen sei im Jahr 2004 höher gewesen als im Jahr 2003 verlangte der Kläger die Zahlung höheren Krankengeldes (BSG a.a.O., Rn. 4). In Anknüpfung an die bereits aufgezeigte, vorangegangene Rechtsprechung stellte das BSG zunächst klar, dass gerade bei der Zahlung von Mindestbeiträgen regelmäßig Anlass bestehe, dass Arbeitseinkommen für das der Arbeitsunfähigkeit vorangegangene Kalenderjahr konkret zu ermitteln. Die – nach der vorangegangenen Rechtsprechung des BSG – widerlegbare Vermutung nach § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V erfasse nicht notwendig nur den Fall, der der Entscheidung aus dem Dezember 2006 (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 11/06 R –, BSGE 98, 43-48, SozR 4-2500 § 47 Nr 7, vgl. dazu oben) zugrunde gelegen habe (in dem Höchstbeiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze gezahlt worden waren). Gerade bei der Zahlung von Mindestbeiträgen werde regelmäßig Anlass bestehen, vom tatsächlichen Arbeitseinkommen auszugehen, weil dessen Nachweis der Grund für die Zahlung der Mindestbeiträge sei. Wegen der Entgeltersatzfunktion sei die Höhe des Krankengeldes dann auf den Ersatz des tatsächlich entfallenden, nach der Differenzmethode zu berechnenden Arbeitsentgeltes oder Arbeitseinkommens begrenzt (BSG, a.a.O., Rn. 13, 14; ebenso: BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 8/08 R –, Rn. 13, 14, juris). Liege der Beitragsbemessung das Mindesteinkommen zugrunde, bestünden nämlich regelmäßig konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dieser Betrag, aus dem zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit Beiträge entrichtet worden seien, nicht der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation des Versicherten vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entspreche, weil sein tatsächliches Arbeitseinkommen wesentlich geringer gewesen sei. Dass der Beitragsbemessung zugrunde gelegte und das vor der Arbeitsunfähigkeit erzielte Arbeitseinkommen falle in diesen Fällen regelmäßig auseinander. Denn dem Mindestbetrag liege in der Regel ein fiktives Mindesteinkommen zugrunde, das gerade nicht die tatsächliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwillig Versicherten genau erfasse. Seien die Beiträge vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nach dem Mindesteinkommen erhoben worden, müsse das vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erzielte Arbeitseinkommen konkret ermittelt werden. Dabei seien Bedenken hinsichtlich des Ermittlungsaufwandes zurückzuweisen (BSG, a.a.O., Rn. 15, 16; ebenso: BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 8/08 R –, Rn. 15, 16, 21 juris). Für die Ermittlung des Regelentgeltes sei auf das der Arbeitsunfähigkeit vorangegangene Kalenderjahr abzustellen. Denn das für die Ermittlung des Regelentgeltes maßgebliche Arbeitseinkommen werde in § 15 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) definiert als der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbstständigen Tätigkeit. Angeknüpft werde demnach an das Einkommensteuerrecht, nach dem das Kalenderjahr der maßgebliche Veranlagungszeitraum sei. Dies habe zur Folge, dass der nach diesen Vorschriften ermittelte Gewinn aus selbständiger Tätigkeit vor Schluss eines Kalenderjahres nicht feststehe (BSG, a.a.O., Rn. 17; ebenso: BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 8/08 R –, Rn. 14, juris; auch schon: Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 11/06 R –, BSGE 98, 43-48, SozR 4-2500 § 47 Nr 7, Rn. 13-15; ferner: BSG, Beschluss vom 10. Mai 2010 – B 1 KR 144/09 B –, Rn. 8, juris).
33Der Kläger sei jedoch nicht dadurch beschwert, dass die Beklagte der Berechnung des Krankengeldes das im Jahre 2003 tatsächlich erzielte Einkommen zugrunde gelegt habe, nicht aber das Einkommen des Jahres 2004, da dieses im konkreten Fall geringer gewesen sei (ebenso: BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 8/08 R –, Rn. 20, juris). Als obiter dictum führt der Erste Senat aber ausdrücklich aus:
34"Allerdings hätte das im Jahr 2004 erzielte Arbeitseinkommen für die Krankengeld – Berechnung verwendet werden müssen, wenn der Kläger – trotz andauernder Zahlung von Beiträgen nach dem fiktiven Mindesteinkommen – ein gegenüber 2003 höheres Arbeitseinkommen vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit – nicht notwendig durch ein Steuerbescheid, aber etwa durch hinreichend aussagekräftige Unternehmensunterlagen – nachgewiesen hätte." (BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 28/07 R –, SozR 4-2500 § 47 Nr 10, Rn. 22).
35d) Nachdem der Erste Senat BSG mit Beschluss aus dem Juli 2009 (BSG, Beschluss vom 24. Juli 2009 – B 1 KR 85/08 B –, Rn. 12, juris) und Urteil aus dem März 2013 (BSG, Urteil vom 12. März 2013 – B 1 KR 4/12 R –, SozR 4-2500 § 47 Nr 14, Rn. 24; Anmerkung von Meyerhoff, jurisPR-SozR 6/2014 Anm. 3) nochmals sein Verständnis des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V als wiederlegbare Vermutung bekräftigte, hat der Dritte Senat zuletzt mit Beschluss vom 22.02.2017 – wiederum im Rahmen eines obiter dictum – im Sinne des hiesigen Klagebegehrens ausgeführt:
36"Das Begehren des Klägers ( ) berücksichtigt nicht das dem Gesetz zugrunde liegende Entgeltersatzprinzip, das – bei entsprechend hohem Arbeitseinkommen – im Einzelfall auch ein Krankengeld oberhalb des sich aus dem der Beitragsberechnung zugrunde liegenden Arbeitseinkommen ergebenden Krankengeld ermöglicht." (BSG, Beschluss vom 22. Februar 2017 – B 3 KR 47/16 B –, Rn. 13, juris)
373. a) Hinzuweisen ist darauf, dass die Ausführungen des BSG in den Urteilen aus dem Dezember 2006 (vgl. 2. b) und insbesondere November 2008 (vgl. 2. c) im Bewusstsein (vgl. BSG, Urteil vom 06. November 2008 – B 1 KR 8/08 R –, Rn. 18, juris) erfolgten, dass der für das Beitragsrecht zuständige Zwölfte Senat auf Grundlage der zu dieser Zeit gültigen Fassung des § 240 Abs. 4 S. 2, 3 SGB V die Auffassung vertrat, dass die Beiträge der freiwillig Versicherten (in der Regel) sofort endgültig festzusetzen waren und die tatsächlich erzielten Einnahmen bei den hauptberuflich Selbstständigen in der Regel nur zeitversetzt berücksichtigt werden könnten. Es könnten deshalb nur die Einnahmen eines bereits vergangenen Zeitraums i. S. von § 240 Abs. 4 Satz 2 SGB V a. F. nachgewiesen werden, die dann als laufende Einnahmen solange bei der Beitragsfestsetzung berücksichtigt würden, bis ein neuer Einkommensnachweis vorliege. Die damit lediglich zeitversetzt erfolgende Berücksichtigung der tatsächlichen Einnahmen der hauptberuflich Selbstständigen sei nicht zu beanstanden. Auf einen längeren Zeitraum gesehen werde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zutreffend berücksichtigt, denn es erfolge ein Ausgleich der wechselnden Einnahmen, indem sowohl die nachgewiesene Erhöhung der Einnahmen als auch deren nachgewiesene Verringerung für die zukünftige Beitragsfestsetzung jeweils bis zum Nachweis einer Änderung berücksichtigt werde (BSG, Urteil vom 22. März 2006 – B 12 KR 14/05 R –, BSGE 96, 119-126, SozR 4-2500 § 240 Nr 5, Rn. 16; präzisiert späterhin mit Urteil vom 02. September 2009 (B 12 KR 21/08 R –, BSGE 104, 153-160, SozR 4-2500 § 240 Nr 12, Rn. 15 ff.).
38Dies konnte im Ergebnis im Einzelfall zu einer fehlenden finalen Kongruenz von der Verbeitragung und der Berechnung des Krankengeldes zugrunde gelegtem Arbeitseinkommen führen, weil der Zwölfte Senat mit der Anordnung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V im Spannungsverhältnis der Ansicht war, soweit der Erste Senat für das Leistungsrecht des Krankengeldes (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 11/06 R –, BSGE 98, 43-48, SozR 4-2500 § 47 Nr 7, Rn. 11 ff.) einerseits nach den Vorgaben des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V entschieden habe, dass das für die Leistungsbemessung maßgebliche Regelentgelt bei freiwillig versicherten Selbstständigen grundsätzlich und in aller Regel der zuletzt maßgeblichen Beitragsbemessungsgrundlage entspreche, deren Höhe "verwaltungspraktikabel" durch den Steuerbescheid nachgewiesen werde, andererseits Ausnahmefälle, bei denen es konkrete Anhaltspunkte dafür gebe, dass der zuletzt der Beitragsbemessung zugrunde liegende Betrag erkennbar nicht der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation des Versicherten vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entspreche, und insofern die Heranziehung weiterer Beweismittel in Erwägung ziehe, betreffe dies nur das Leistungsrecht der Krankenversicherung und nicht deren eigenständiges Beitragsrecht (BSG Urteil vom 02. September 2009 (B 12 KR 21/08 R –, BSGE 104, 153-160, SozR 4-2500 § 240 Nr 12, Rn. 18).
39Der hierdurch entstehende Zielkonflikt des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V zwischen Entgeltersatzprinzip einerseits und Kongruenz der Arbeitseinkommensermittlung in den Bereichen des Leistungs- und des Beitragsrechts andererseits bestand bei der Schaffung des § 47 Abs. 2 S. 2 SGB V nicht. In ihrer wesentlichen Struktur ist die Vorschrift aus den bis zum 31.12.1988 geltenden Regelungen der Reichsversicherungsordnung (RVO) hervorgegangen. Bereits diese hatten die Krankengeldhöhe an die Beitragsbemessung geknüpft. Indes hatte das BSG zu jener Zeit - bis zu den soeben aufgezeigten Entscheidungen des Zwölften Senates - auch für das Beitragsrecht eine zeitnahe Ermittlung des Arbeitseinkommens für freiwillig gesetzlich versicherte Selbstständige für möglich und erforderlich gehalten und in diesem Zusammenhang auch von einem Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater aufgestellte Gewinn- und Verlustrechnungen oder Bilanzen zur Nachweisführung ausreichen lassen statt den letzten Einkommenssteuerbescheid – ggfs. erheblich zeitversetzt – für allein maßgeblich zu erachten. Dem entsprach die verbreitete Praxis der Krankenkassen (BSG, Urteil vom 09. Februar 1993 – 12 RK 69/92 –, SozR 3-2500 § 240 Nr 14, Rn. 19; BSG, Urteil vom 27. November 1984 – 12 RK 70/82 –, BSGE 57, 240-247, SozR 2200 § 180 Nr 20, Rn. 15, 36- zum Krankengeld – ausdrücklich aufgegeben von: BSG, Urteil vom 02. September 2009 – B 12 KR 21/08 R –, BSGE 104, 153-160, SozR 4-2500 § 240 Nr 12, Rn. 17).
40Abgesehen vom Wegfall des Begriffes des Grundlohnes und der Ersetzung von "Regellohn" durch "Regelentgelt" hat der heutige § 47 Abs. 1, 4 SGB V die Bestimmungen der RVO übernommen. Die Definition des Regellohns in der RVO hob auf die "wegen Arbeitsunfähigkeit entgangenen" Einkünfte ab, während § 47 Abs. 1 S. 1 SGB V die "erzielten" (Abs. 1) (Arbeits)einkünfte zugrunde legt, ohne dass dadurch eine Rechtsänderung beabsichtigt gewesen wäre (vgl. BT-Drs. 11/2237, S. 18) (ausführlich: BSG, Urteil vom 30. März 2004 – B 1 KR 32/02 R –, BSGE 92, 260-267, SozR 4-2500 § 47 Nr 1, Rn. 18-20). Insofern belegt die Auslegung des Begriffes des Grundlohns durch die ältere Rechtsprechung des BSG eine enge Bindung an die tatsächlichen Einkommensverhältnisse und den korrespondierenden Willen des Gesetzgebers, nicht eine Fiktion des Einkommens im Sinne des Wortlautes des § 47 Abs. 2 S. 2 SGB V ("gilt") zu verabsolutieren, sondern die Entgeltersatzfunktion in einer der damaligen Praxis (auch) im Beitragsrecht entsprechenden zeitnahen, der Beitragsfestsetzung kongruenten und insofern einfachen Ermittlung des Regelentgeltes zu erreichen (vgl. BT-Drucks 8/338 S. 60; BSG, Urteil vom 27. November 1984 – 12 RK 70/82 –, BSGE 57, 240-247, SozR 2200 § 180 Nr 20, Rn. 13, 14; zum Fortdauern dieses Ziels: BT-Drs. 18/11205, S. 72). Dem trägt die aufgezeigte Rechtsprechung des BSG durch die teleologische Reduktion unter Beachtung der Entwicklungen im Beitragsrecht in einer restriktiven Handhabung des Anlasses zur Ermittlung des Arbeitseinkommens abseits des der Verbeitragung zugrunde gelegten letzten Einkommenssteuerbescheides ausgleichend Rechnung.
41b) Soweit seit der Änderung des § 240 SGB V mit dem Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (BGBl 2017 I, S 778) zum Jahr 2018 die Beiträge freiwillig gesetzlich versicherter Selbstständiger zunächst vorläufig auf Grundlage des letzten Einkommenssteuerbescheides und nach Vorlage des für das jeweilige Kalenderjahr erlassenen Einkommenssteuerbescheides endgültig festzusetzen sind (§ 240 Abs. 4a S. 1, 3 SGB V), muss die Widerlegbarkeit der zur Vermutung reduzierten Anordnung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V entgegen der Ansicht der Beklagten erst Recht – sowohl zu Gunsten wie zu Ungunsten des Versicherten - gelten. Denn der Wortlaut des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V kann seither noch weniger Auskunft i. S. seiner dargelegten Teleologie gaben. Er weiß nicht, ob mit dem für die Beitragsbemessung zuletzt maßgebenden Arbeitseinkommen jenes adressiert ist, dass der vorläufigen Beitragsfestsetzung entspricht oder jenes, nach der die Beitragsfestsetzung für das vorangegangene Kalenderjahr endgültig zu erfolgen hat, da er von der späteren Einführung des § 240 Abs. 4a SGB V keine Kenntnis hat.
42Der Gesetzgeber hat anlässlich der Begründung zur Änderung des § 240 SGB V zum Jahr 2018 aber in der Sache ausdrücklich die ausgleichende Rechtsprechung des BSG adaptiert, soweit er ausführt, dass Regelentgelt, das zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit für die Krankengeldberechnung maßgeblich gewesen sei, sei unabhängig von den Beitragsnachberechnungen nach dem neuen § 240 Abs. 4a S. 3 SGB V endgültig festzustellen. Dabei werde berücksichtigt, dass der Versicherte typischerweise zur Sicherung seines Lebensunterhaltes auf das Krankengeld angewiesen sei und die Bewilligung zeitnah zum Ausfall des zu ersetzenden Einkommens erfolgen müsse. Dem werde Rechnung getragen, wenn als Regelentgelt im Sinne einer widerlegbaren Vermutung auf die zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit maßgeblich gewesene Beitragsbemessungsgrundlage und damit auf diejenigen Verhältnisse im aktuellen Versicherungsverhältnis abgestellt werde, die anhand einfach festzustellender Tatsachen rasch und verwaltungspraktikabel ermittelt werden könnten. Dies trage der Funktion des Krankengeldes Rechnung, den Entgeltersatz bei vorübergehendem Verlust der Arbeitsunfähigkeit sicherzustellen (BT-Drs. 18/11205, S. 72).
43Die Beklagte setzt sich somit nicht nur in offenen Widerspruch zur Rechtsprechung des BSG, sondern missachtet den aktualisierten Willen des Gesetzgebers, wenn sie die Teleologie des Entgeltersatzes – jedenfalls zugunsten der Versicherten - unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität vollständig ausblendet und jedwede Ermittlungsarbeit von sich weist, weil eine zeitnahe Feststellung der verbindlichen Leistungshöhe des Krankengeldes weiterhin kaum möglich sein werde.
44Die Änderung des § 240 SGB V zum Januar 2018 gäbe allenfalls Anlass, die Anforderungen an die Hinweise des Auseinanderfallens von nunmehr lediglich vorläufig der Beitragsfestsetzung zu Grunde gelegtem Einkommen und tatsächlich vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erzieltem Arbeitseinkommen zu senken. Denn soweit nunmehr – abweichend von der Rechtsprechung des Zwölften Senates seit März 2006 nicht mehr endgültig und ggfs. erheblich zeitversetzt der Verbeitragung das Einkommen gemäß des aktuellsten Steuerbescheides zugrunde zu legen ist, ist es gar verfassungsrechtlich geboten bei der Ermittlung des Krankengeldes nicht i. S. e. verabsolutierten Fiktion des Regelentgeltes i. S. d. lediglich vorläufigen Beitragsfestsetzung bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit konträr zu verfahren.
45So hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aufgezeigt, dass ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) vorliege, wenn für Äquivalenzabweichungen zwischen der Bemessung kurzfristiger Lohnersatzleistungen wie dem Krankengeld und den entrichteten Beiträgen innerhalb einer Versicherungsgruppe mit gleicher Beitragsleistung ein hinreichend sachlicher Grund nicht ersichtlich sei. Durch die Berechnung der laufenden Lohnersatzleistungen dürfe nicht die wirtschaftliche Situation des Versicherten verzerrt werden. Der Gesetzgeber sei nicht berechtigt, bei kurzfristigen Lohnersatzleistungen beitragspflichtige Entgeltbestandteile außer Acht zu lassen, die die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit über einen längeren Zeitraum betrachtet beeinflussten. Denn auch die sogenannten kurzfristigen Leistungen würden für Zeiträume gezahlt, die etwa im Falle des Krankengeldes eineinhalb Jahre umfassten (BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 1995 – 1 BvR 892/88 –, BVerfGE 92, 53-74, Rn. 51, 56 ff.).
46Entsprechendes träte indes ein, richtete man die Bemessung des Krankengeldes eines freiwillig gesetzlich versicherten Selbstständigen an dem aktuellsten Einkommensteuerbescheid aus, der der lediglich vorläufigen Beitragsfestsetzung bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (Versicherungsfall) zugrunde liegt. Denn es hinge letztlich von der jeweiligen, bei einzelnen freiwillig selbstständig versicherten Mitgliedern erheblich variierenden Dauer des Verfahrens zur Festsetzung der Einkommenssteuer ab, ob das dem Krankengeld zugrunde gelegte Arbeitseinkommen auch nur annäherungsweise dem Einkommen vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entspräche, während auf der Beitragsseite final in der gesamten Versichertengruppe einheitlich das tatsächliche Arbeitseinkommen herangezogen wird – sich der entsprechende Zeitversatz der Steuerfestsetzungsverfahrens nicht (mehr) gleichermaßen endgültig auf Krankengeld- und Beitragshöhe auswirken kann. Eine hinreichende Rechtfertigung für diese (bewussten, vgl. BT- Drs 18/11205, S. 72) Äquivalenzabweichungen vermag der der Umstand, dass das Krankengeld bei Eintritt des Versicherungsfalles sofort benötigt wird lediglich i. S. d. dargelegten Handhabung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V als widerlegbare Vermutung zu begründen. Denn es ist zu berücksichtigen, dass die Entgeltersatzfunktion des Krankengeldes selbst dann nicht aufgehoben erschiene, wenn der Gesetzgeber eine Parallelität mit der Beitragsfestsetzung seit Januar 2018 herstellte.
474. Unter Zugrundelegung des Dargelegten ist – entsprechend der insbesondere mit Urteil des BSG vom 06. November 2008 – B 1 KR 28/07 R (–, SozR 4-2500 § 47 Nr 10) aufgezeigten Verfahrensweise – das kalendertägliche Regelentgelt für den Krankengeldanspruch im streitgegenständlichen Zeitraum im Jahr 2019 aus dem Arbeitseinkommen des Klägers im Jahr 2018 abzuleiten. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass das vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im Jahr 2019 auf Grundlage des Einkommenssteuerbescheides für das Jahr 2016 vorläufig für die Beitragsfestsetzung herangezogene Arbeitseinkommen nicht der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation des Klägers bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entsprach ergaben sich – wie regelmäßig – daraus, dass den Beiträgen das Mindesteinkommen zugrunde lag. Eine Ausnahme hierzu lag schon deshalb nicht vor, weil der Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2016 Verluste auswies und eben kein (annähernd) dem Mindest- (für das Jahr 2018) entsprechendes Arbeitseinkommen. Hiernach war die Beklagte aufgerufen von Amts wegen das tatsächliche Jahresarbeitseinkommen des Klägers zu ermitteln, wie es zwischenzeitlich durch den Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2018 in Höhe von 50.707 EUR (= 4225,58 EUR, vgl. Klageantrag = 140,85, vgl. Urteilstenor) ausgewiesen ist. Hiervon ausgehend hat die Beklagte Krankengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu berechnen und dem Kläger (unter Abzug des bereits geleisteten) zu gewähren. Es ist bezeichnend, dass die Beklagte zunächst einen Krankengeldanspruch vollständig abgelehnt hat, ohne zu ermitteln, ob die tatsächlichen Einnahmen zumindest die Mindestgrenze erreicht hatten.
48C.
49I. Die Kammer hält es für angemessen, der Beklagten sog. Missbrauchskosten in Höhe von 300 EUR aufzuerlegen.
501. Gemäß § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht im Urteil oder, wenn das Verfahren anders beendet wird, durch Beschluss einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder –verteidigung dargelegt worden und der auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen worden ist. Dem Beteiligten steht gleich sein Vertreter oder Bevollmächtigte (S. 2). Als verursachter Kostenbetrag gilt dabei mindestens der Betrag nach § 184 Abs. 2 SGG für die jeweilige Instanz (S. 3.); im erstinstanzlichen sozialgerichtlichen Verfahren insofern 150 EUR.
51In der bis zum 01.01.2002 geltenden Fassung des § 192 SGG gab es bereits die Möglichkeit, einem Beteiligten diejenigen Kosten aufzuerlegen, die dieser, dessen Vertreter oder Bevollmächtigter durch Mutwillen, Verschleppung oder Irreführung dem Gericht oder einem Beteiligten verursacht hatte. Nach der Rechtsprechung war hierfür jedoch die Feststellung erforderlich, dass der Beteiligte, sein Vertreter oder Bevollmächtigter gegen seine bessere Einsicht handelte (BSG, Beschluss vom 19. Juni 1961 – 3 RK 67/60 –, SozR Nr 4 zu § 192 SGG, Rn. 2 m.w.Nachw.). Dies bereitete nicht selten Schwierigkeiten, so dass die Wirkung des § 192 SGG a.F. sehr begrenzt war (Wendt in: Rohwer-Kahlmann, SGG,4. Aufl. 2007, § 192 Rn. 1).
52Bei der Neufassung des § 192 SGG zum 02.01.2002 hat sich der Gesetzgeber, der das sozialgerichtliche Verfahren straffen und beschleunigen wollte, daraufhin ausdrücklich auch an § 34 BVerfGG orientiert (BT-Drs. 14/6335, S. 33). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Missbräuchlichkeit nach § 34 Abs. 2 BVerfGG kann insofern zur Auslegung des § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG herangezogen werden. Danach ist eine subjektive Komponente (Verschulden, Einsichtsfähigkeit) nicht erforderlich (Zuck in: Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl. 2015, § 34 Rn. 6; Berendes, SGb 2002, 315, 318). (Straßfeld in: Jansen, SGG, 4. Aufl. 2012, § 192 Rn. 8, Ziff. 2.4; Berendes, SGb 2002, 315, 318; a.A. Winker, Die Missbrauchsgebühr im Prozessrecht 2011, S. 220). Bei der Beurteilung der objektiven Missbräuchlichkeit ist auf die objektivierte Einsichtsfähigkeit eines vernünftigen Verfahrensbeteiligten in der Rolle des Betroffenen abzustellen (Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 31. März 2005 – L 2 U 124/04 –, Rn. 40, juris; Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 18. September 2003 – L 2 RA 379/03 –, Rn. 21, juris; Stotz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 192 SGG, Rn. 38). Ist der Beteiligte demnach professionell vertreten, ist insofern (§ 192 Abs. 1 S. 2) auf die objektive Einsichtsfähigkeit einer rechtskundigen Person abzustellen; für sie gelten erhöhte Anforderungen (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 18. September 2003 – L 2 RA 379/03 –, Rn. 21, juris).
53Soweit dem entgegengehalten wird, § 192 SGG sei eine Schadensersatzregelung und die individuelle Verpflichtung zum Schadenersatz setzte nach rechtsstaatlichen Grundsätzen die Feststellung subjektiven Verschuldens voraus (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05. Mai 2010 – L 7 AS 193/10 B –, Rn. 10, juris), ist dem zunächst - neben der dargelegten Teleologie und Gesetzeshistorie - mit Blick auf Wortlaut und Systematik entgegenzuhalten, dass § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG im Gegensatz zur Nr. 1 nicht an ein Verschulden anknüpft. Zudem wird beim Tatbestandsmerkmal der Missbräuchlichkeit nicht insgesamt auf ein vorwerfbares subjektives Verhalten verzichtet. Das vorwerfbare subjektive Verhalten liegt aber nicht darin, missbräuchlich einen Prozess zu führen, denn sonst hätte bereits die missbräuchliche Klageerhebung/Klageverteidigung für die Auferlegung von Missbrauchskosten ausgereicht. Notwendig ist vielmehr im Rahmen des § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zusätzlich, dass der Betroffene den Prozess trotz der Darlegung der Missbräuchlichkeit durch den Vorsitzenden fortführt. Insofern ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass der konkret Betroffene nach seinem subjektiven Vermögen in der Lage ist, die ihm dargelegte (objektive) Missbräuchlichkeit nachzuvollziehen und sich dennoch für eine Fortsetzung des Prozesses entscheidet. Erst die Prozessfortführung, die als subjektive Entscheidung des missbräuchlich Handelnden das erforderliche subjektive Element enthält, führt zur Möglichkeit der Auferlegung von Missbrauchskosten (Stotz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 192 SGG, Rn. 39).
54Eine Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung in diesem Sinne kann unter anderem vorliegen, wenn der Rechtsstreit trotz offensichtlicher Aussichtslosigkeit weitergeführt wird (vgl. BT-Drs. 14/6335, S. 33 ("Unterfall der Missbräuchlichkeit"); Schmidt, in: Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 192, Rn. 9). Indes genügt die Aussichtslosigkeit allein nicht, es müssen vielmehr besondere Umstände der Qualität hinzutreten, dass die Rechtsverfolgung/ -verteidigung von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss (BVerfG, Kammerbeschluss vom 06. November 1995 – 2 BvR 1806/95 –, Rn. 8, juris; BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Dezember 1994 – 2 BvR 2718/93 –, Rn. 3, juris, zu § 34 Abs. 2 BVerfGG; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 16. Juni 2004 – L 12 AL 59/03 –, Rn. 23, juris; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.11.2014 - L 20 AY 7/1 -, Rn. 32, openJur 2014, 24667).
552. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nach Auffassung der Kammer erfüllt. Dabei ist zunächst festzustellen, dass zur vorliegenden Fallkonstellation bereits seit November 2008 unmissverständliche höchstrichterliche Ausführungen vorliegen, die sich auf korrespondierende rechtsdogmatische Erwägungen stützen und in jüngerer Zeit durch das BSG in ihrer Aktualität bestätigt worden sind.
56Bereits den schriftlichen Reaktionen der Beklagten zu den Hinweisen der Kammer auf diese - von der Beklagten bei deren angefochtenen Entscheidung offenkundig übersehenen - höchstrichterlichen Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass die Beklagte bei der Kenntnisnahme dieser Rechtsprechung die Beibehaltung ihrer Auffassung vor die Erfassung und Würdigung der BSG-Rechtsprechung gesetzt hat. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Beklagte auf die zitierte unmissverständliche Äußerung des Ersten Senates vom 22.02.2017 hingewiesen einen Konflikt mit der eigenen Auffassung bei Lichte betrachtet letztlich damit zurückgewiesen hat, dass es sich um ein obiter dictum handelte (vgl. Schriftsatz vom 30.07.2020, S. 2). Den Hinweis auf die Ausführungen des BSG im Urteil vom 06.11.2008 hat die Beklagte schon schriftlich gänzlich ignoriert und schlicht mit dem Hinweis auf ihre in den rechtlichen Grundlagen nicht erläuterte Auffassung gekontert, eine Abweichung von dem zuletzt der vorläufigen Beitragsfestsetzung zu Grunde gelegten Einkommen sei nicht nur zulasten des Versicherten möglich. Eine Abweichung könne auch zugunsten des Klägers erfolgen, das Regelentgelt finde nur seine Begrenzung in dem Betrag, der zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit für die Beitragsbemessung herangezogen worden sei (Schriftsatz vom 12.10.2020). Diese offenkundig in sich widersprüchliche Auffassung konnte auch der – von der Kammer grds. sehr geschätzte – Sitzungsvertreter der Beklagten nicht erläutern. Er musste sich vielmehr darauf beschränken mitzuteilen, dass dies nun einmal die Auffassung der Beklagten sei. Soweit er ferner offenkundig fälschlicherweise behauptet hat, den Entscheidungen des BSG habe jeweils eine Sachverhaltskonstellation zugrunde gelegen, in der noch überhaupt kein Steuerbescheid mit Feststellungen zum Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit vorgelegen habe, wird die ungenügende Befassung der Beklagten mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung überdeutlich. In der Folge hat der Vorsitzende die maßgeblichen Passagen aus dem Urteil des BSG vom 06.11.2008 nochmals vorgelesen und die Verhandlung unterbrochen, um dem Sitzungsvertreter Gelegenheit zu geben, das entsprechende Urteil zu lesen. Die Beklagte hat durch ihren rechtskundigen Vertreter jedoch auch hiernach schlicht keinen Kommentar zu der Entscheidung abgeben wollen und insofern die Erörterung der Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung (vgl. § 112 Abs. 2 S. 2 SGG) ad absurdum geführt. Dies hat der Kammervorsitzende zum Anlass genommen, dem Vertreter der Beklagten den für die Verhängung der Missbrauchskosten erforderlichen Hinweis zu erteilen.
573. Die Auferlegung von 300 EUR ist der Höhe nach äußerst zurückhaltend. Zu den entstehenden Kosten zählen die Kosten für die Tätigkeit des Kammervorsitzenden (Abfassung und Korrektur des Urteils) und des nichtrichterlichen Personals, die allgemeinen Gerichtshaltungskosten sowie die Kosten für die Zustellung der Entscheidung an die Beteiligten (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Juni 2016 – L 18 KN 89/15 –, Rn. 24, juris). Liegen die Kosten - wie hier - tatsächlich wesentlich höher als der Mindestbetrag kann das Gericht die Kosten in entsprechender Anwendung des § 202 SGG i.V.m. § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) schätzen (vgl. Schmidt, in Meier minus Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 192, Rn. 14 m.w.N.). Die Kammer greift im Rahmen ihrer Schätzung auf die nachvollziehbare Darlegung von Bischofs (SGb 2020, S. 8, 13 ff.) zurück, nach denen annäherungsweise ein Stundensatz von 150 EUR nicht zu hoch gegriffen ist (für 300 EUR pro Stunde: SG Aachen, Urteil vom 06. November 2018 – S 11 BK 3/18 –, Rn. 10, juris m.w.N. unter der Auferlegung von 600 EUR; SG Heilbronn, Urteil vom 23. Juni 2016 – S 15 AS 133/16 –, Rn. 30, juris, mit der Auferlegung von 1000 EUR; für die zweite Instanz: Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. Juni 2016 – L 18 KN 89/15 –, Rn. 24, juris: rund 400 EUR/Stunde). Da der Hinweis auf die Rechtsmissbräuchlichkeit der Verteidigung gegen die Klage und das Inbetrachtkommen der Auferlegung von Missbrauchskosten zum Ende der mündlichen Verhandlungen erfolgt ist, ist im Wesentlichen die Zeit für die Urteilsberatung, die mündliche Begründung sowie die spätere Absetzung der Urteilsgründe, einschließlich der hierfür anfallenden Schreibarbeiten, das Korrekturlesen, das Versenden usw. zugrunde zu legen (vgl. Bischofs, a.a.O., S. 14f.). Der tatsächliche Aufwand übersteigt im vorliegenden Fall zwei Stunden deutlich.
58II. Die Entscheidung der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach aufzuerlegen beruht auf § 193 SGG.
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Tenor
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 25.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, ist das Verfahren gemäß § 87a Abs. 1 und 3 VwGO in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
3Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Danach entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands über die Kosten des Verfahrens. Es entspricht der Billigkeit, der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Sie wäre ohne erledigendes Ereignis (Aufhebung der Ordnungsbehördlichen Verordnung vom 4.9.2020 über das Offenhalten von Verkaufsstellen in den Ortsteilen Schleiden und Gemünd im Jahr 2020) voraussichtlich unterlegen. Die in Rede stehende Verordnung hat – gemessen an der ständigen Spruchpraxis des Senats – mit geltendem Recht nicht in Einklang gestanden.
4Dass die Antragsgegnerin erst am Freitag, dem 11.9.2020, vom Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und erst am Dienstag, dem 15.9.2020, vom Normenkontrollantrag der Antragstellerin erfahren hat, ist unerheblich. Erst durch die am 16.9.2020 erfolgte Aufhebung der Verordnung war das Rechtsschutzbedürfnis für einen Normenkontrollantrag entfallen. Es liegt auch nicht auf der Hand, dass die Antragstellerin schon durch eine einfache vorprozessuale Nachfrage bei der Antragsgegnerin die von ihr begehrte Rechtssicherheit hätte erhalten und damit das Entstehen der Verfahrenskosten hätte vermeiden können. Die Antragstellerin hatte sich im Verfahren der kommunalen Rechtsetzung mit E-Mail vom 21.8.2020 zu den geplanten Sonntagsfreigaben ablehnend geäußert, ohne dass die Antragsgegnerin dies zum Anlass genommen hatte, vom Erlass der nunmehr aufgehobenen Verordnung Abstand zu nehmen.
5Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Für die Freigabe der Ladenöffnung an Sonntagen zieht der Senat in ständiger Praxis je Sonntag den Auffangstreitwert heran.
6Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE –, StGR 2019, Nr. 6, 34 = juris, Rn. 78, und vom 10.6.2016 – 4 B 504/16 –, NVwZ-RR 2016, 868 = juris, Rn. 48 ff., m. w. N.
7Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.
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Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 26. August 2020 - 6 K 2648/20 - geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die unter Ziff. 2 der Anordnung der Antragsgegnerin vom 18. Februar 2020 getroffene Regelung wird wiederhergestellt.Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.Der Streitwert des Verfahrens wird in beiden Rechtszügen unter Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung auf jeweils 2.500,-- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Beteiligten streiten um die sofortige Vollziehbarkeit einer der Antragstellerin auferlegten Verfügung zu den Modalitäten der Sammlung von Leichtverpackungen im Gebiet der Antragsgegnerin.
2 Die Antragstellerin ist ein für das Gebiet des Landes Baden-Württemberg genehmigtes System im Sinne von § 3 Abs. 16 Satz 1 VerpackG und als solches gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 VerpackG verpflichtet, die in Baden-Württemberg von den beteiligten Herstellern in Verkehr gebrachten restentleerten Verpackungen (§ 3 Abs. 1 VerpackG) bei den privaten Endverbrauchern (Holsystem) oder in deren Nähe (Bringsystem) oder durch eine Kombination beider Varianten in ausreichender Weise und für den privaten Endverbraucher unentgeltlich einzusammeln.
3 Mit Bescheid vom 18.02.2019 verpflichtete die Antragsgegnerin die Systeme - derzeit sind dies neben der Antragstellerin noch sieben weitere privatrechtlich verfasste Unternehmen -, die restentleerten Kunststoff-, Metall- und Verbundverpackungen (sog. Leichtverpackungen) bei den in ihrem Hoheitsgebiet befindlichen privaten Haushaltungen in einem Zwei-Wochen-Rhythmus (bisher: vier Wochen) einzusammeln (Ziff. 1). Außerdem wurden die Systeme verpflichtet, die Sammlungen durch ein kombiniertes Hol- und Bringsystem (Sacksammlung und Wertstoffhöfe) durchzuführen (Ziff. 2). Diese Vorgabe wird von den Beteiligten übereinstimmend so verstanden, dass die Systeme unbeschadet der Pflicht zur Abholung der Abfälle gemäß Ziff. 1 verpflichtet sein sollen, die von der Antragsgegnerin betriebenen Wertstoffhöfe zur Sammlung von dort angelieferten Leichtverpackungsabfällen aus privaten Haushalten mitzubenutzen. Gemäß Ziff. 3 sind die Vorgaben des Bescheids ab dem 01.01.2021 „umzusetzen“ und schon zuvor bei der Vergabe von Sammelleistungen gemäß § 23 Abs. 1 VerpackG zu beachten. Die Höhe des für die Mitbenutzung der Wertstoffhöfe zu zahlenden Entgelts ist derzeit Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Systemen und dem für die Antragsgegnerin und die Stadt Singen handelnden Landkreis Konstanz über den Abschluss einer Abstimmungsvereinbarung gemäß § 22 Abs. 1 VerpackG.
4 Am 12.11.2019 hat die Antragstellerin nach der Zurückweisung ihres Widerspruchs Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg gegen die Anordnung eines kombinierten Hol- und Bringsystems in Ziff. 2 des Bescheids in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2019 erhoben. Über die Klage ist bislang nicht entschieden. Am 29.7.2020 ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der unter Ziff. 2 und 3 des Bescheids getroffenen Regelungen an.
5 Unter dem Datum des 11.08.2020 hat die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht Freiburg die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage beantragt. Das Verwaltungsgericht hat dies mit Beschluss vom 26.08.2020 - zugestellt am 31.08.2020 - abgelehnt. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Verfügung vom 29.07.2020 sei in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Außerdem überwiege das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsakts das Aufschubinteresse der Antragstellerin. Die Regelung unter Ziff. 2 des Bescheids vom 18.02.2019 sei bei summarischer Prüfung jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig, so dass die Klage in der Hauptsache wahrscheinlich erfolglos bleiben werde. Zugleich sei eine das besondere Vollzugsinteresse rechtfertigende Eilbedürftigkeit zu bejahen. Ohne die Anordnung der sofortigen Vollziehung würde zum 01.01.2021 die Möglichkeit der Bürger entfallen, die „gelben Säcke“ auch auf den Wertstoffhöfen abzugeben. Hierdurch würde die Gefahr einer ungeordneten Müllentsorgung in den folgenden Jahren deutlich erhöht. Demgegenüber sei das finanzielle Risiko der Antragstellerin als gering einzuschätzen. Eine Verpflichtung zur Zahlung der Mitbenutzung der Wertstoffhöfe entstehe erst mit dem Abschluss einer Abstimmungsvereinbarung nach § 22 Abs. 1 VerpackG. Zudem hätte die Antragstellerin nach Ansicht des Verwaltungsgerichts einen Anspruch auf Rückzahlung etwaig geleisteter Zahlungen, falls sich die angegriffene Verfügung im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig erweisen sollte.
6 Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 11.09.2020.
7 Die Antragsgegnerin ist der Beschwerde mit Schreiben vom 28.09.2020 entgegengetreten.
II.
8 Die fristgerecht erhobene (§ 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
9 Der im Beschwerdeverfahren anzuwendende Prüfungsmaßstab ergibt sich aus § 146 Abs. 4 Satz 6 i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Verwaltungsgerichtshof hat danach, wenn sich der angegriffene Beschluss aus einem von der Antragstellerin dargelegten Grund als fehlerhaft erweist, eine eigene Abwägung zwischen dem Aufschubinteresse der Antragstellerin und dem behördlichen Interesse an der Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts vorzunehmen (Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 146 Rn. 15a m. w. N.). Dabei überwiegt das Aufschubinteresse jedenfalls in aller Regel dann, wenn die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren bei summarischer Prüfung Erfolg haben wird. Dies ist vorliegend der Fall, denn die angegriffene Verfügung ist voraussichtlich rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
10 1. Nach der vorläufigen Einschätzung des Senats ist die in Rede stehende Verfügung der Antragsgegnerin zur Einrichtung eines bestimmten Hol- und Bringsystems nicht von § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VerpackG gedeckt. Als Ermächtigungsgrundlage kommt insoweit nur § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VerpackG und nicht die von der Antragsgegnerin ebenfalls ins Feld geführte Bestimmung des § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VerpackG in Betracht, die ausschließlich Regelungen hinsichtlich der Art und Größe der von den Systemen einzusetzenden Sammelbehälter erlaubt. Demgegenüber ermöglicht § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VerpackG Festlegungen hinsichtlich der „Art des Sammelsystems, entweder Holsystem, Bringsystem oder Kombination aus beiden Sammelsystemen“. Grundsätzlich kann der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger mithin eine Ergänzung eines Holsystems dergestalt anordnen, dass den Endverbrauchern die zusätzliche Möglichkeit eröffnet wird, den Abfall zu einer Sammelstelle „in der Nähe“ (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 1 VerpackG) zu bringen.
11 Die Verfügung der Antragsgegnerin zeichnet sich allerdings durch die Besonderheit aus, dass den Systemen nicht lediglich eine Kombination aus Hol- und Bringsystem vorgegeben wird. Die Beteiligten verstehen den Bescheid übereinstimmend so, dass das ergänzende Bringsystem in einer ganz bestimmten Art und Weise eingerichtet werden soll, nämlich durch eine Mitbenutzung der von der Antragsgegnerin in ihrem Hoheitsgebiet betriebenen Wertstoffhöfe. Diese Auslegung erweist sich angesichts der laufenden Abstimmungsverhandlungen über die Wertstoffhofmitbenutzung auch vom objektiven Empfängerhorizont als zutreffend. Der Senat versteht die Mitbenutzungspflicht so, dass den Wertstoffhöfen gesonderte Erfassungsbehälter für Leichtverpackungen zur Verfügung gestellt werden müssen, diese dort vorgehalten und befüllt werden und schließlich von den Systemen bzw. von hiermit beauftragten Dritten nach Bedarf abgeholt werden. Vergleichbare Mitbenutzungsanordnungen der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger waren in den zurückliegenden Monaten Gegenstand verschiedener verwaltungsgerichtlicher Eilentscheidungen. Dabei erachteten das VG Sigmaringen (Beschluss vom 21.07.2020 - 4 K 786/20 - juris Rn. 31 ff.) und das VG Kassel (Beschluss vom 03.09.2020 - 4 L 826/20.KS - S. 23) die Verfügungen bei summarischer Prüfung mangels Rechtsgrundlage als rechtswidrig, während das VG Mainz (Beschluss vom 28.07.2020 - 4 L 316/20.MZ - juris) zum gegenteiligen Ergebnis gelangte. Das OVG Rheinland-Pfalz gelangte im Beschwerdeverfahren zu der Einschätzung, dass die Rechtsfrage erst im Hauptsacheverfahren geklärt werden könne (Beschluss vom 10.09.2020 - 8 B 10979/20.OVG - S. 8).
12 Dafür, dass die Mitbenutzungsanordnung von § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VerpackG nicht gedeckt ist, spricht zunächst der Wortlaut der Vorschrift. Die Rede ist hier lediglich von Festlegungen hinsichtlich der „Art des „Sammlungssystems“. Wie auch aus § 14 Abs. 1 Satz 1 VerpackG deutlich wird, meint das Gesetz damit die Grundentscheidung zwischen Hol- und Bringsystem oder einer Kombination dieser beiden Varianten. Vorgaben zur weiteren Ausgestaltung des gewählten Sammelsystems ermöglichen dann erst die - allerdings eng beschränkten - Befugnisnormen des § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 VerpackG. Bei systematischer Betrachtung wären diese Bestimmungen letztlich überflüssig, wenn § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VerpackG weit interpretiert werden und als Ermächtigungsgrundlage für jede Art von Steuerung der Sammlungsaktivitäten der Systeme verstanden würde (vgl. Oexle in Schmehl/Klement, KrWG, 2. Aufl., § 22 VerpackG Rn. 40). Wenn in der Begründung des Gesetzentwurfs mit Blick auf § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VerpackG davon die Rede ist, dass es den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern ermöglicht werde, ein „bestimmtes“ Sammelsystem vorzuschreiben (Bundesregierung, Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der haushaltsnahen Getrennterfassung von wertstoffhaltigen Abfällen, BT-Drucks. 18/11274, S. 110), deutet dies zwar in der Tat darauf hin, dass die Befugnis auch die Möglichkeit einschließen sollte, zu den drei im Gesetzestext genannten Sammeltypen - Holsystem, Bringsystem und Kombinationsmodell - konkretisierende Vorgaben zu machen, eben nicht einfach zur Nutzung „irgendeines“, sondern eines „bestimmten“ Systems zu verpflichten. Im Gesetz selbst spiegelt sich diese Absicht allerdings nicht wider. Davon abgesehen bliebe bei Zugrundelegung der Entwurfsbegründung immer noch offen, wie weit die Konkretisierungsbefugnis geht und ob sie insbesondere auch Vorgaben zur Nutzung individuell bestimmter Einrichtungen wie beispielsweise kommunaler Wertstoffhöfe einschließt. Die in der Entwurfsbegründung gegebenen Regelungsbeispiele („mittels Tonnen oder Säcken“, „mittels Großsammelbehältern oder über Wertstoffhöfe“) deuten nicht auf eine derart weitreichende Befugnis hin.
13 Für den Senat ist ferner nicht ersichtlich, weshalb eine weite, die Anordnung der Benutzung bestimmter Wertstoffhöfe einbeziehende Interpretation dazu geeignet sein sollte, die von § 22 VerpackG schon ausweislich der amtlichen Überschrift bezweckte Abstimmung zwischen den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern und den Systemen bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Aufgaben zu fördern. § 22 VerpackG ist nach dem Verständnis des Senats keine allgemeine Befugnisnorm zur optimierenden Regulierung der von den Systemen zu leistenden Sammlungen unter dem Gesichtspunkt des Umweltschutzes oder der Bürgerfreundlichkeit. Der von den Systemen nach dem Willen des Gesetzes bei der Sammlung allein zu gewährleistende Mindeststandard ist durch § 14 Abs. 1 Satz 1 VerpackG unmittelbar gesetzlich bestimmt. Außerdem ergeben sich die Anforderungen mittelbar aus der gesetzlichen Zielsteuerung über die zu erreichenden Wiederverwendungs- und Recyclingquoten (§ 16 VerpackG). Die den Systemen jenseits dieser Vorgaben grundsätzlich verbleibende Freiheit bei der Ausgestaltung der Sammlungen dient einer kosteneffizienten Erreichung der vorgegebenen Ziele. Dieser für das moderne europäische Umweltrecht typische Grundansatz des Gesetzes würde unterminiert, wenn der Befugnisnorm des § 22 Abs. 2 VerpackG eine über die Abstimmung hinausweisende, auf eine nach der Vorstellung der zuständigen Behörde möglichst zielführende Aufgabenerfüllung bezogene Funktion zugesprochen würde. Zudem wäre dann nicht nachvollziehbar, weshalb für Anordnungen nach § 22 Abs. 2 VerpackG nach der Festlegung des Bundesgesetzgebers gerade diejenige Körperschaft zuständig ist, die nach dem jeweiligen Landesrecht mit den Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers betraut ist (§ 17 Abs. 1 Satz 1 KrWG). Dieser bundesrechtliche Zuständigkeitskonnex findet seine Rechtfertigung allein darin, dass die Systeme bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten die Aufgabenwahrnehmung der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger beeinträchtigen können. Diese sollen die Möglichkeit erhalten, sich gegen Beeinträchtigungen mit hoheitlichen Mitteln zur Wehr zu setzen, ohne auf die Mitwirkung der möglicherweise einem anderen Rechtsträger zugehörigen Abfallbehörde angewiesen zu sein. Hingegen gehört die Sammlung der Leichtverpackungen als solche jedenfalls seit dem Inkrafttreten der Verpackungsverordnung im Jahr 1991 jedenfalls nicht mehr zu den alleinigen Aufgaben der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger und auch nicht mehr zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Aufgabe wurde dem gemeindlichen Aufgabenkreis durch eine materielle Privatisierung insoweit entzogen, als den privaten Haushalten das Recht zur alternativen unentgeltlichen Überlassung dieses Abfalls an die Systeme eingeräumt wurde (§ 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 KrWG). Die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger haben insoweit - wenn überhaupt - nur noch eine Reservefunktion (vgl. Bundesregierung, Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der haushaltsnahen Getrennterfassung von wertstoffhaltigen Abfällen, BT-Drucks. 18/11274, S. 96). Vor diesem Hintergrund hat § 22 Abs. 2 Satz 1 VerpackG allein die Funktion, nachteilige Auswirkungen der Tätigkeit der Systeme auf die den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern verbliebenen Aufgaben, insbesondere bei der Entsorgung von Abfällen aus privaten Haushaltungen, zu vermeiden oder zu vermindern.
14 2. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anordnung der Wertstoffhofmitbenutzung ergeben sich auch hinsichtlich der weiteren Tatbestandsmerkmale des § 22 Abs. 2 Satz 1 KrWG. Insbesondere besteht die Anordnungsbefugnis des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers nur „soweit eine solche Vorgabe geeignet ist, um eine möglichst effektive und umweltverträgliche Erfassung der Abfälle aus privaten Haushaltungen sicherzustellen“. Dabei kann hier offenbleiben, ob die Kombination aus Hol- und Bringsystem nach Lage der Dinge tatsächlich - wie von der Antragsgegnerin vorgebracht - dazu geeignet ist, einer etwaigen „Vermüllungsproblematik“ durch ein- oder aufgerissene oder „wild“ abgestellte „gelbe Säcke“ entgegenzuwirken und die Menge der getrennt erfassten wertstoffhaltigen Abfälle zu erhöhen. Selbst wenn diese Eignung nämlich - und sei es auch nur unter Berücksichtigung eines der Antragsgegnerin in dieser Frage möglicherweise zustehenden Einschätzungs- und Prognosespielraums - zu bejahen sein sollte, wäre damit allein noch kein unter die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen subsumierbarer Sachverhalt dargetan. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist eine Rahmenvorgabe nämlich nur gerechtfertigt, „soweit“ sie den genannten Zwecken förderlich ist. Es genügt mithin nicht, dass eine Anordnung in ihrer Gesamtheit zweckförderlich ist. Vielmehr ist auch zu prüfen, ob alle materiell abtrennbaren Bestandteile der Verfügung im Zusammenwirken einen Beitrag zu dieser Eignung erbringen. Dies ist nicht der Fall, wenn ein Bestandteil der Rahmenvorgabe hinweggedacht werden kann, ohne dass die verbleibende Verfügung weniger geeignet zur Förderung einer möglichst effektiven und umweltverträglichen Erfassung der Abfälle aus privaten Haushaltungen wäre. Vorliegend wurde von der Antragsgegnerin nicht dargetan und ist für den Senat auch nicht ersichtlich, welcher sachliche Nutzen von der Mitbenutzung gerade der kommunalen Wertstoffhöfe zu erwarten sein sollte. Ähnlich wie in dem vom VG Kassel entschiedenen Sachverhalt erscheint eine Erfassung von Leichtverpackungen im Bringsystem grundsätzlich auch auf Wertstoffhöfen möglich, die von privaten Unternehmen betrieben werden. Ebenso denkbar ist die Aufstellung von Großsammelbehältern im öffentlichen Verkehrsraum (VG Kassel, Beschluss vom 03.09.2020 - 4 L 826/20.KS - S. 23). Ob diese Alternativen unter Kostengesichtspunkten für die Systeme vorzugswürdig wären, ist dabei im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Es kommt allein darauf an, dass sie unter keinem im Eilverfahren feststellbaren Gesichtspunkt zu einer effektiven und umweltverträglichen Erfassung von Leichtverpackungen weniger geeignet sind als die angeordnete Mitbenutzung der kommunalen Wertstoffhöfe.
15 3. Die Anordnung der Wertstoffhofmitbenutzung ist nach Ansicht des Senats jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil sie über den Entsorgungsstandard hinausgeht, welchen die Antragsgegnerin als öffentlich-rechtlicher Entsorgungs-träger der in ihrer Verantwortung durchzuführenden Sammlung der gemischten Siedlungsabfälle aus privaten Haushalten zugrunde legt. Damit ist die Ermessensgrenze überschritten, die § 22 Abs. 3 Satz 3 VerpackG der Anordnungsbefugnis ausdrücklich setzt.
16 Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ist der Entsorgungsstandard der Antragsgegnerin mit Rücksicht auf die „seit Jahren gängige Praxis“ zu bestimmen, Restmüll nicht nur im Holsystem bei den privaten Haushaltungen einzusammeln, sondern auch in - kostenpflichtigen - Restmüllsäcken auf den Wertstoffhöfen entgegenzunehmen (Beschlussabdruck, S. 6). Das Merkmal des Entsorgungsstandards soll hiernach empirisch-faktisch, im gerichtlichen Verfahren also notfalls im Wege der Beweiserhebung zu bestimmen sein. Schon die damit verbundenen Unsicherheiten etwa bei einer schwer aufklärbaren oder sogar uneinheitlichen Praxis sprechen nach Ansicht des Senats indes für eine normative Begriffsbestimmung. Vor allem aber kann nur auf diesem Wege sichergestellt werden, dass die politisch verantwortlichen Personen und nicht etwa einzelne Bedienstete auf kommunalen Wertstoffhöfen - die möglicherweise ein besonderes Augenmerk auf Praktikabilitätsgesichtspunkte richten - über die Reichweite der Befugnisnorm des § 22 Abs. 2 VerpackG entscheiden.
17 Dies zugrunde gelegt, ist der bei der Anwendung des § 22 Abs. 2 Satz 3 VerpackG maßgebliche Entsorgungsstandard des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers durch das Zusammenspiel der für die Art und Weise der Abfallentsorgung einschlägigen Rechtsnormen definiert, die auf unterschiedlichen Stufen der Normenpyramide angesiedelt sind. Die Vorgaben des § 17 KrWG, weiterer Bestimmungen des KrWG und des übrigen Bundesrechts werden ergänzt durch die Landesabfallgesetze sowie schließlich durch das im Rahmen der Gesetze ergehende Satzungsrecht der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger selbst. Diese verfügen insbesondere über das Recht, den Begriff des „Überlassens“ zu konkretisieren und sich dabei zumindest bei besonderen örtlichen Gegebenheiten für ein reines Bringsystem, jedenfalls aber für ein reines Holsystem zu entscheiden (Karpenstein/Dingemann in Jarass/Petersen, KrWG, § 17 Rn. 69; Klement in Schmehl/Klement, a. a. O., § 17 Rn. 72). Ist der Abfallverantwortliche nach den für ihn geltenden rechtlichen Vorschriften zur Bereitstellung des Abfalls zur Abholung durch den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger verpflichtet, schließt dies ein Recht zur Anlieferung des Abfalls an einen kommunalen Wertstoffhof aus, mag eine solche Anlieferung auch faktisch möglich sein.
18 Nach § 7 lit. a der von der Antragsgegnerin erlassenen Satzung über die Vermeidung, Verwertung und Beseitigung von Abfällen (Abfallwirtschaftssatzung - AbfWS) in der Fassung vom 24.11.2005 erfolgt die Einsammlung von Restmüll im Rahmen der Zuständigkeit der Antragsgegnerin durch ein Holsystem. Ein Bringsystem ist lediglich für Abfälle zur Verwertung, Grünabfall und Sperrmüll vorgesehen (§ 7 lit. b AbfWS). Für zusätzlichen Restmüll, der in den zur Verfügung gestellten Abfallbehältern nicht untergebracht werden kann, sind gemäß § 10 Abs. 2 lit. c, Abs. 3 lit. a AbfWS zusätzliche zugelassene Müllsäcke vorgesehen, die ebenfalls über das Holsystem einer Entsorgung zugeführt werden.
19 Der Entsorgungsstandard der Antragsgegnerin für Siedlungsabfälle aus privaten Haushalten ist nach dem Gesagten der eines reinen Holsystems. Den privaten Haushalten ist nicht die Möglichkeit eröffnet, Restmüll nach ihrer Wahl zu einem Wertstoffhof zu bringen und der Antragsgegnerin dort zur Entsorgung zu überlassen. Damit bleibt die Restmüllentsorgung nach dem maßgeblichen Satzungsrecht hinter dem Entsorgungsstandard zurück, den die Antragsgegnerin den Systemen mit der in Rede stehenden Rahmenanordnung auferlegt. Dass die privaten Abfallverantwortlichen bei Bedarf zusätzliche Müllsäcke erwerben und zu den Restmülltonnen hinzustellen können, ändert daran nichts (anders OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 10.09.2020 - 8 B 10979/20.OVG - S. 9), denn jedenfalls besteht von Rechts wegen nicht die Möglichkeit, sich des Abfalls unabhängig vom Abholtermin jederzeit zu entledigen.
20 Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ergibt sich eine Gleichwertigkeit des kommunalen Entsorgungsstandards auch nicht aus dem in § 21 Abs. 10 AbfWS geregelten Gebührentatbestand für die Anlieferung von kostenpflichtigem Restmüll (bei einem Wertstoffhof). Dass ein öffentlich-rechtlicher Entsorgungsträger die in seinem Gebiet angefallenen und ihm - mit, ohne oder gegen seinen Willen - überlassenen Abfälle aus privaten Haushaltungen zu entsorgen hat, ergibt sich unmittelbar aus § 20 Abs. 1 Satz 1 KrWG. Für eine in Erfüllung dieser Pflicht erbrachte Amtshandlung kann der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger grundsätzlich auch eine Gebühr bei der Person erheben, die sie verantwortlich veranlasst hat (§ 2 Abs. 3 LGebG, § 11 Abs. 1 Satz 1 KAG). Aus der Regelung des Gebührentatbestands kann mithin nicht auf das rechtliche Erlaubtsein der die Behörde veranlassenden Handlung eines Bürgers - hier also die Überlassung von Abfall durch Anlieferung - zurückgeschlossen werden. Es ist daher nicht widersprüchlich, wenn die Antragsgegnerin in ihrer Abfallsatzung zwar ein reines Holsystem anordnet, gleichwohl aber auch einen Gebührentatbestand für die Entsorgung angelieferter Abfälle normiert.
21 4. Angesichts des Vorstehenden erübrigen sich Überlegungen zu der von der Antragsgegnerin aufgeworfenen Frage, ob die Anordnung der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs auf einen Teil der unter Ziff. 2 des Bescheids getroffenen Regelung, nämlich auf die Anordnung der Mitbenutzung der kommunalen Wertstoffhöfe, beschränkt werden kann (siehe dazu Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 80 Rn. 426). Bliebe die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf die Mitbenutzungsanordnung beschränkt, bliebe die sofortige Vollziehbarkeit der Anordnung eines kombinierten Hol-/Bringsystems bestehen, obwohl die Verfügung nach der Einschätzung des Senats gerade insoweit gegen § 22 Abs. 2 Satz 3 VerpackG verstößt und somit rechtswidrig ist. Auch wenn die Antragstellerin in ihren Schriftsätzen im Schwerpunkt Argumente gegen die Mitbenutzungspflicht vorgebracht hat, besteht doch kein Zweifel, dass sich ihr Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf die unter Ziff. 2 des Bescheids getroffene Regelung in ihrer Gesamtheit bezieht.
22 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
23 6. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens war gemäß § 63 Abs. 2, § 47 Abs. 1, 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG auf 2.500,-- Euro festzusetzen. Angesichts der noch laufenden Abstimmungsverhandlungen zwischen dem Landkreis Konstanz und der Antragstellerin war die wirtschaftliche Bedeutung der Sache für den Senat nicht abschätzbar. Es ist auch nicht ersichtlich, welche zusätzlichen Kosten durch die Wertstoffhofmitbenutzung entstünden und welche Kosten durch ein solches System in Bezug auf die Abholung der Leichtverpackungen gegebenenfalls eingespart werden könnten. Entsprechend Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt z. B. in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, unter § 163) war deshalb die Hälfte des für das Hauptsacheverfahren geltenden Auffangstreitwerts festzusetzen.
24 Die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung wurde dementsprechend geändert (§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG).
25 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Klagen werden abgewiesen.Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu gleichen Teilen.
Tatbestand
1 Die Kläger wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung zweier Mehrfamilienwohnhäuser mit Tiefgarage nach vorherigem Abbruch eines Einfamilienwohnhauses.
2 Die Beigeladene hat sich zum Ziel gesetzt, Immobilien in einzigartiger Aussichtslage zu errichten. Im Jahr 2015 erwarb sie die nebeneinanderliegenden Grundstücke A.-Straße 82 und B.-Klinge 15 (im Folgenden: das Vorhabengrundstück) im Bezirk Nord der Beklagten mit einer Verbindung auch zur C.-Straße. Das straßenferne Teilgrundstück war zum Erwerbszeitpunkt unbebaut, das straßenseitige mit einem villenartigen großen Einfamilienhaus mit Gründerzeitfassade und rund 780 m2 Wohnfläche überbaut.
3 [Bestandsgebäude vor Abbruch]
4 Dieses stand allerdings schon längere Zeit leer; seine Sanierung hätte nach einer Schätzung eines Architekten der Beigeladenen rund 2,9 Millionen Euro gekostet.
5 Südwestlich an das Vorhabengrundstück grenzt das Grundstück A.-Straße 84, bebaut mit einem Einfamilienwohnhaus, an. An dessen Südwestseite schließt sich das Grundstück der Kläger 1 und 2, A.-Straße 86, an, ebenfalls bebaut mit einem Einfamilienwohnhaus. In seinem rückwärtigen Bereich hat es eine gemeinsame Grundstücksgrenze mit dem Vorhabengrundstück. Nordöstlich an dieses grenzt die B.-Klinge, bestehend? aus einem öffentlichen Fußweg und einer baumbestandenen Freifläche. Weiter nordöstlich - nach einem schmalen Zwischengrundstück - schließt sich das Grundstück A.-Straße 78 der Kläger 3 und 4 an, bebaut mit einem Zweifamilienwohnhaus.
6 Alle Grundstücke liegen im Geltungsbereich folgender Regelwerke der Beklagten:
7 - des Stadtbauplans „Azenberg und Umgebung (1907/050)“ vom 02.05.1907; er setzt eine straßenseitige „Baulinie mit Vorgärten“ entlang der A.-Straße fest. Deren Verlauf wurde durch Änderungsbebauungspläne aus den Jahren 1914, 1923 und 1925 auch entlang des Weges B.-Klinge über Eck weitergeführt, allerdings nur bis zu einer bestimmten Höhe und nicht etwa vollständig bis zum Ende des Vorhabengrundstücks nach Westen;
8 - des Baustaffelplans 1935/500 vom 01.08.1935; er setzt in Verbindung mit der Ortsbausatzung der Beklagten vom 25.06.1935 für die genannten Grundstücke „Baustaffel 9 - Landhausgebiet (geschütztes Wohngebiet)“ fest, in welchem u.a. fast nur Wohngebäude zulässig sind und die „Flächenausnützung“ nur 10 v.H. betragen darf;
9 - des Rahmenplans „Halbhöhenlagen“ vom 02.10.2007; er stellt die Fläche der gesamten B.-Klinge als für die Frischluftzufuhr relevanten „Qualitätsbereich 1 - Grünzusammenhang“ dar.
10 Im November 2015 reichte die Beigeladene einen ersten Antrag zur Überbauung des Vorhabengrundstücks bei der Beklagten ein. Dieser bewog das Referat für Städtebau und Umwelt der Beklagten, im März 2016 den Entwurf einer Erhaltungssatzung für den Bereich um das Vorhabengrundstück vorzuschlagen. Deren Ziel soll der Erhalt der städtebaulich prägenden Gebäude in den Hanglagen sein, weshalb der Rückbau oder die Änderung solcher Gebäude künftig einer speziellen Genehmigung bedürfe. Am 26.04.2016 wurde die Aufstellung einer solchen Erhaltungsatzung „N 8“ beschlossen. Die Beigeladene zog ihren ersten Bauantrag daraufhin zurück.
11 Im Mai 2016 beantragte sie bei der Beklagten, ihr den Abbruch des Bestandsgebäudes und die Errichtung von zwei Mehrfamilienwohnhäusern mit Tiefgarage zu genehmigen. Dabei sollten im straßenseitigen Gebäude fünf Wohnungen entstehen, im straßenfernen drei.
12 Das Baurechtsamt der Beklagten listete am 21.06.2016 die Verstöße des beantragten Vorhabens gegen Planungs- und Ordnungsrecht auf und erbat eine Entscheidung durch den Bürgermeister für Städtebau, Wohnen und Umwelt. Dieser schrieb am 07.07.2016 per E-Mail: „Planung wird so akzeptiert und als Erfolg der Erhaltungssatzung gesehen. Anregung von 61 mit städtebaulichem Vertrag zur Gestaltung wird zugestimmt. Vorschlag, die Dachfenster im vorderen Gebäude noch symmetrisch zu ordnen“. In der Folge schloss die Beklagte mit der Beigeladenen einen städtebaulichen Vertrag vom September 2016 über die Ausgestaltung des Vorhabens.
13 Das Baurechtsamt der Beklagten führte die Benachrichtigung der Angrenzer durch; diese wurde den Klägern 1 und 2 am 01.08.2016 zugestellt. Mit Anwaltsschriftsatz vom 23.08.2016 machten sie sowie die Kläger 3 und 4 umfangreiche Einwendungen geltend. Das Vorhaben der Beigeladenen verletze planungsrechtliche (Bauverbot, Baulinie, „Flächenausnützung“, Wohnungszahl, Erhaltungssatzung, keine Befreiungslage, Gebietserhaltung, Rücksichtnahmeverstoß), ordnungsrechtliche (ungenaue Bauvorlagen, missachtete Seitenabstände) und ökologische Bestimmungen (Artenschutz, Frischluftschneise). Auch andere Nachbarn erhoben Einwendungen.
14 Mit Bescheid vom 29.11.2016 erteilte die Beklagte der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung - auch für den Abbruch des Bestandsgebäudes - und führte auf deren Seite 8 aus, welche Abweichungen und Befreiungen für die Neubauten damit verbunden seien:
15 - Befreiungen für Überschreitungen der festgesetzten „Flächenausnützung“, der Wohnungszahl pro Gebäude und Stockwerk, der „Baulinie“ oberirdisch und unterirdisch, für die Inanspruchnahme von „Vorgartenfläche“ und Fläche eines öffentlichen Platzes und vom Erfordernis eines zweiten Ausgangs in Kellergeschossen
16 - sowie zwei Abweichungen ebenfalls in Bezug auf die „Baulinie“ und hinsichtlich einer Ausgestaltung des Rettungsweges.
17 Zudem begründete die Beklagte, wieso den Einwendungen der Kläger und anderer Nachbarn nicht zu folgen sei. So sei etwa hinsichtlich der „Flächenausnützung“ die Gewährung einer Befreiung wegen der auf den Grundstücken in der Umgebung bereits vorhandenen Überschreitungen städtebaulich vertretbar.
18 Am 22.12.2016 erhoben die Kläger Widerspruch; am 23.02.2017 beantragten sie bei der fünften Kammer des Gerichts, dessen aufschiebende Wirkung anzuordnen. In ihrer Antragserwiderung machte die Beklagte u.a. geltend, die (Wieder)Errichtung des Gebäudes der Kläger 1 und 2 sei im Jahr 1956 auch unter Gewährung einer Befreiung für die Überschreitung der „Flächenausnützung“ (16,8 % statt 10 %) genehmigt worden, die Wiedererrichtung des Gebäudes der Kläger 3 und 4 im Jahr 1950 unter Gewährung einer Befreiung für eine „Flächenausnützung“ von sogar 29 %.
19 Die 5. Kammer übertrug mit Beschluss vom 19.05.2017 das Eilverfahren auf eines seiner Mitglieder als Einzelrichter, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise. Mit Beschluss vom 26.06.2017 - 5 K 2373/17 - ordnete der Einzelrichter die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Kläger an. Zur Begründung führte er aus, dessen Erfolgsaussichten erwiesen sich bei summarischer Prüfung als offen. Im Hauptsachverfahren werde näher zu prüfen sein, ob aufgrund der hohen Anzahl von insgesamt dreizehn erteilten Erleichterungen, Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen das Gebot der Rücksichtnahme und ein etwaiger Gebietserhaltungsanspruch der Kläger verletzt werde. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Schwelle rücksichtsloser Betroffenheit bei Vorhaben, die Befreiungen benötigten, schneller erreicht sein könne. In diesem Zusammenhang müsse auch geprüft werden, ob die Behauptung der Beklagten zutreffe, dass in der Umgebung auf mehreren Grundstücken, womöglich auch jenen der Kläger, die zulässige Flächenausnützung bereits überschritten werde. Nur so lasse sich verlässlich beurteilen, ob im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung eine Verletzung des Gebietscharakters vorliege.
20 Auf Beschwerden der Beklagten und der Beigeladenen änderte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Beschluss vom 05.10.2017 - 8 S 1548/17 - den Beschluss des Verwaltungsgerichts und lehnte die Eilanträge der Kläger ab. Bei der alleine gebotenen summarischen Prüfung sei nicht davon auszugehen, dass die zwar unter Gewährung zahlreicher Abweichungen erteilte Baugenehmigung Rechte der Kläger verletze. Der Senat habe schon häufig entschieden, dass Festsetzungen der Ortsbausatzung der Beklagten zur „Flächenausnützung“, zur Gebäudetiefe und zur Wohnungszahl keine nachbarschützende Wirkung hätten. Der „Rahmenplan Halbhöhenlagen“ der Beklagten entfalte schon keine Außenwirkung und somit erst Recht keinen Nachbarschutz. Die Ziele der ohnehin noch nicht in Kraft gesetzten Erhaltungssatzung verdeutlichten, dass diese einen städtebaulichen, nicht nachbarschützenden Gehalt habe. Die obergerichtliche Rechtsprechung erkenne einen Gebietserhaltungsanspruch nur bei Verletzungen von Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung an. Daher bleibe den Klägern nur eine Berufung auf eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme. Eine solche scheide aber schon auf Grund der erheblichen Abstände der Baukörper der Kläger zu jenen auf dem Vorhabengrundstück aus. Daher komme es nicht darauf an, ob sich auf den Grundstücken der Kläger oder anderen in der Umgebung eine ähnliche Flächenausnützung finden lasse wie auf dem Vorhabengrundstück.
21 Die Bauarbeiten auf dem Vorhabengrundstück nahmen ihren Fortgang; die beiden genehmigten Gebäude wurden erstellt.
22 [Blick auf das neuerrichtete straßenseitige Gebäude]
23 Mit Schriftsatz vom 18.12.2018 wiesen die Kläger die Beklagte darauf hin, dass die schmale Verbindung des Vorhabengrundstücks zur C.-Straße genehmigungsabweichend hergestellt worden sei. Daraufhin forderte die Beklagte die Beigeladene auf, Bauvorlagen für die genehmigungsabweichende Ausführung einzureichen. Dem kam die Beigeladene im Januar 2019 nach. Die eingereichten Bauvorlagen ließen Änderungen der inneren Grundrisse beider Gebäude, die Ersetzung dreier Lichtschächte durch Lichthöfe, die Verschiebung der nördlichen Zugangstreppe näher zur B.-Klinge, die Pflasterung der Verbindung zur C.-Straße und daran anschließend im Blockinneren eine mit Rasengittersteinen ausgelegte Fläche erkennen.
24 Mit getrennten Bescheiden vom 29.03.2019, zugestellt am 03.04.2019, wies das Regierungspräsidium Stuttgart die Widersprüche der Kläger zurück. Bauplanungsrechtliche oder bauordnungsrechtliche Vorschriften mit drittschützender Wirkung würden durch die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung nicht verletzt. Das ergebe sich aus dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg im Eilverfahren.
25 Mit Schriftsatz vom 08.05.2019 brachten die Kläger gegen das zur nachträglichen Genehmigung gestellte Vorhaben vor, die abweichend von der bisherigen Genehmigung vorgenommene Versiegelung von Flächen erhöhe die bereits jetzt weit über der Festsetzung liegende „Flächenausnützung“ durch das Vorhaben der Beigeladenen nochmals. Zudem sei zu befürchten, dass diese versiegelten Flächen im rückwärtigen Bereich künftig für Stellplätze genutzt würden, welche Kfz-Verkehr in den bislang begrünten und beruhigten Innenblock eröffne. Ebenso vergrößerten die drei anstelle der bisherigen Lichtschächte geplanten Lichthöfe die „Flächenausnützung“. Schließlich nehme das genehmigungsabweichend errichtete Vorhaben zu Unrecht öffentlichen Raum in Anspruch.
26 Mit Bescheid vom 02.01.2020 genehmigte die Beklagte die veränderte Ausführung des Bauvorhabens unter Gewährung weiterer drei Befreiungen für die unterirdische Überschreitung der „Baulinie“ und der „Vorgartenfläche“ durch die Lichthöfe sowie einer noch stärkeren Annährung der nördlichen Zugangstreppe an die öffentliche Verkehrsfläche B.-Klinge. Ein Exemplar wurde den Klägern am 14.01.2020 zugestellt.
27 Die Kläger hatten bereits am 03.05.2019 beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klagen erhoben und haben diese am 07.02.2020 auf die Nachtragsbaugenehmigung erstreckt. Zur Begründung machen sie geltend, die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung in Gestalt der Nachtragsbaugenehmigung verletzte sie in eigenen Rechten. Sie könnten sich auf ihren? Gebietserhaltungsanspruch berufen, der gerade keine unzumutbaren Belästigungen ihrerseits voraussetze. Die Zulassung des Vorhabens der Beigeladenen führe nämlich zu einer schleichenden Veränderung des Gebietscharakters. Das festgesetzte Landhausgebiet werde aufgelöst, ohne dass der Plangeber tätig werde, dem dies alleine vorbehalten sei. Noch deutlicher gehe ihr daraus resultierender Abwehranspruch aus der sogenannten „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts hervor. Sie lasse erkennen, dass auch Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung aus einer Zeit vor 1960, als man den Nachbarschutz erst rechtlich anerkannt habe, dann Nachbarschutz vermitteln könnten, wenn erkennbar werde, dass der Plangeber die Planbetroffenen in ein wechselseitiges Austauschverhältnis habe einbinden wollen. Das sei hier deswegen der Fall, weil die Kombination aus dem festgesetzten Bauverbot im Hintergarten und der festgelegten Baustaffel mit ihrer Regelungsdichte zu einer Qualität des Landhausgebiets beitrage, die nachbarschützend sei. Auch die Beklagte räume ja ein, dass das Vorhaben der Beigeladenen in zahlreichen Fällen von den geltenden Festsetzungen abweiche. Zu Unrecht nehme sie an, dass die Erteilung von Befreiungen für diese Überschreitungen städtebaulich vertretbar sei. Dies gelte insbesondere für die erhebliche Überschreitung der „Flächenausnützung“, welche sich durch zwei Bestandteile der Nachtragsbaugenehmigung nochmals vergrößere. Die Beklagte verkenne, dass etwa vorhandene Überschreitungen in der Umgebung, insbesondere auf ihren eigenen Grundstücken, bereits vor Inkrafttreten der Ortsbausatzung zugelassen worden seien und zudem nicht denselben Umfang hätten. Die Nachtragsbaugenehmigung führe überdies zu einer Eröffnung von PKW-Verkehr im bislang ruhigen begrünten Blockinnenbereich.
28 Die Kläger beantragen,
29 die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 29.11.2016 in ihrer Fassung vom 02.01.2020 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.03.2019 aufzuheben, soweit sie nicht den Abbruch des vorherigen Gebäudes betreffen.
30 Die Beklagte beantragt,
31 die Klagen abzuweisen.
32 Zur Erwiderung beruft sie sich darauf, der größte Teil des klägerischen Vortrags gleiche einer Popularklage. Der Verwaltungsgerichtshof habe in seiner Beschwerdeentscheidung den klägerischen Argumenten bereits eine deutliche Abfuhr erteilt. Zu deren Vorbereitung sei von ihr u.a. eine Tabelle erstellt worden, nach welcher auf nahezu allen Grundstücken in der Umgebung die festgesetzte „Flächenausnützung“ von 10 % überschritten sei. Auch die nachträglich ergangene „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts könne den Klagen nicht zum Erfolg verhelfen. Die dortige Konstellation sei nicht mit der im vorliegenden Fall vergleichbar. Dort habe man von der Festsetzung von zwei Vollgeschossen befreit, um ein sechsgeschossiges Gebäude zuzulassen und zudem die Art der baulichen Nutzung (Sonderzweckfläche Wassersport) verlassen. Was die Nachtragsbaugenehmigung betreffe, führe diese nicht zu einer weiteren Erhöhung der Flächenausnützung, da die Anrechnungsregelungen ihrer Ortsbausatzung und der Vollzugsordnung zur württembergischen Bauordnung zu entnehmen seien, die gerade keine Anrechnung gepflasterter Flächen vorsehe. Wie die Kläger durch eine Zuwegung zum öffentlichen Weg B.-Klinge in eigenen Rechten verletzt sein sollten, bleibe rätselhaft. Unzweifelhaft seien im Blockinnenbereich keine Stellplätze genehmigt worden, so dass sich die Frage nach unzulässigem Lärm durch die Nutzung solcher erübrige.
33 Die Beigeladene beantragt,
34 die Klagen abzuweisen.
35 Sie trägt vor, die Kläger stellten die Umgebung des Vorhabengrundstücks geschönt dar. Entgegen ihrer Auffassung gebe es dort bereits großvolumige Baukörper mit vielen Wohnungen. Weiter würden sie den durch Baulinien alten Rechts vermittelten Nachbarschutz verkennen. Rahmenpläne entfalteten überhaupt keinen Drittschutz.
36 Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist von der Klägerin 1 betont worden, das Vorhaben der Beigeladenen missachte auch artenschutzrechtliche Bestimmungen. Der Klägervertreter hat einen Hilfsbeweisantrag zur Frage der tatsächlichen „Flächenausnützung“ in der Umgebung des Vorhabengrundstücks gestellt. Vom Beklagtenvertreter ist klargestellt worden, die Mail des Baubürgermeisters vom 07.07.2017 sei nicht als Weisung zu verstehen gewesen. Hinsichtlich der Überschreitungen der „Flächenausnützung“ von 10 % in der Umgebung des Vorhabengrundstücks sei längst eine Selbstbindung der Verwaltung eingetreten, von welcher der Gemeinderat Kenntnis habe, aber keine Veranlassung zum planerischen Eingreifen sehe. Der Beigeladenenvertreter hat klargestellt, dass die Befestigung der Verbindung zur C.-Straße ausschließlich für die seltene Nutzung durch das Gartenbauunternehmen, das den Garten pflege, erfolgt sei. Mieter dürften diese Verbindung mit ihren PKW nicht nutzen.
37 Wegen der Einzelheiten des Vorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie jenen zum Eilverfahren der Kläger und den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Akten der Beklagten und des Regierungspräsidiums Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
A.
38 Die Klagen sind zulässig, auch soweit sie gegen die Nachtragsbaugenehmigung vom 02.01.2020 gerichtet sind. Deren Einbeziehung in den laufenden Baunachbarstreit ist hier inhaltlich möglich, da die Abweichungen des zur nachträglichen Genehmigung gestellten Vorhabens (vgl. zu diesen B.II) nicht so beschaffen sind, dass von einem Aliud ausgegangen werden müsste (vgl. dazu etwa Bay. VGH, Beschl. v. 23.10.2019 - 15 ZB 18.1275 - juris). Daher ist die Einbeziehung prozessual als zulässige Klageänderung (§ 91 VwGO) anzusehen, zumal die Beklagte hier eingewilligt hat (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.11.2019 - 5 S 1790/17 - BauR 2020, 799). Diese Einbeziehung macht die Durchführung eines (weiteren) Vorverfahrens aus Gründen der Prozessökonomie entbehrlich (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 21.02.2014 - 3 S 1992/13 - NVwZ-RR 2014, 548).
B.
39 Die Klagen dringen aber in der Sache nicht durch. Die Baugenehmigung der Beklagten vom 29.11.2016 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 02.01.2020 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums vom 29.03.2019 verletzen die Kläger jedenfalls nicht in eigenen Rechten und können daher nicht aufgehoben werden, ungeachtet dessen, ob sie in jeder Hinsicht rechtmäßig sind. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ermächtigt das Gericht nur dann zur Aufhebung eines Verwaltungsakts, wenn er rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt. Daraus folgt für die gegen die Erteilung einer Baugenehmigung gerichtete Klagen von Nachbarn: Das Gericht kann die Baugenehmigung nur aufheben, wenn sie gegen von der Baurechtsbehörde zu prüfende Vorschriften (§ 58 Abs. 1 Satz 1 LBO) verstößt, die gerade dem Schutz dieser Nachbarn dienen sollen und die Nachbarn diese Verstöße fristgerecht gerügt haben (§ 55 Abs. 2 LBO). Ob die Baugenehmigung gegen sonstige Vorschriften verstößt, ist dagegen unerheblich und einer Prüfung der Kammer entzogen (vgl. nur Urt. d. Kammer v. 27.11.2016 - 2 K 7578/17 - juris Rn. 31).
40 Nach diesen Maßgaben sind die Kläger zwar mit ihrem Vorbringen nicht präkludiert (§ 55 Abs. 2 LBO), weil sie alle sie störenden Belange fristgerecht vorgebracht haben (Kläger 1 und 2) bzw. ohnehin nicht benachrichtigt worden sind (Kläger 3 u. 4). Sie können aber keine Verletzung in eigenen Rechten aufzeigen, weder durch die Ursprungsbaugenehmigung (dazu I.) noch die Nachtragsbaugenehmigung (dazu II.).
I.
41 Gegenüber der Ursprungsbaugenehmigung berufen sich die Kläger teilweise auf Verletzungen von Vorschriften, die offensichtlich nicht ihrem Schutz zu dienen bestimmt sind (dazu 1.). Zu Unrecht wollen sie Abwehrrechte aus einem behaupteten „Bauverbot“ im hinteren Teil des Vorhabengrundstücks geltend machen (dazu 2.), räumen aber zu Recht ein, dass durch das genehmigte Vorhaben das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber ihren Grundstücken nicht verletzt wird (dazu 3.). Mit dem Kern ihres Vorbringens, dem Bestehen eines Gebietserhaltungsanspruchs ihrerseits, vermögen sie nicht durchzudringen (dazu 4.).
42 1. Die Erhaltungssatzung „N 8“ und der Rahmenplan „Halbhöhenlagen“ der Beklagten dienen ebenso wie artenschutzrechtliche Bestimmungen offensichtlich nicht dem Schutz Einzelner wie der Kläger.
43 Abgesehen davon, dass die genannte Erhaltungssatzung noch immer nicht in Kraft getreten ist (was am Erhaltungswillen der Beklagten für attraktive Gebäude in den Halbhöhenlagen zweifeln lassen könnte), dient eine solche auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB gestützte Regelung wegen ihrer städtebaulichen Zielsetzung unzweifelhaft nicht dem Schutz einzelner Grundstückseigentümer (so auch Bay. VGH, Beschl. v. 07.12.2017 - 9 CS 16.2522 - juris; Stock, in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2020, § 172 Rn. 214).
44 Der vom Gemeinderat der Beklagten am 02.10.2007 beschlossene Rahmenplan „Halbhöhenlagen“ stellt eine sonstige städtebauliche Planung im Sinne des § 1 Abs. 6 Nr. 11 BauGB dar (so VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.12.2014 - 8 S 1400/12 - BauR 2015, 1089). Er schafft also kein „Außenrecht“, welches die Beklagte gegenüber Bürgern in Einzelfallentscheidungen, etwa bei der Ablehnung von Bauanträgen, zur Anwendung bringen könnte. Vielmehr erzeugt er nur „Binnenrecht“, welches sie bei ihrer künftigen Bauleitplanung als Abwägungsmaterial zu beachten hat (so VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.12.2014, a.a.O., juris Rn. 75). Dass bloßes Binnenrecht erst Recht keine Abwehrrechte Dritter zu begründen vermag, dürfte sich von selbst verstehen.
45 Nichts Anderes gilt im Ergebnis für artenschutzrechtliche Bestimmungen, etwa zum Schutz von Fledermäusen. Solche Bestimmungen dienen dem Schutz der jeweiligen Tierarten und der Allgemeinheit am Fortbestand dieser Arten, nicht aber jenem von Eigentümern benachbarter Grundstücke (vgl. nur OVG NRW, Beschl. v. 15.04.2020 - 7 B 287/20 - juris).
46 2. Zu Unrecht nehmen die Kläger an, die Führung einer „Baulinie“ alten Rechts entlang des Weges B.-Klinge nur bis zu einer gewissen Tiefe des Vorhabengrundstücks vermittele ihnen Abwehransprüche gegenüber dem straßenfernen Gebäude der Beigeladenen.
47 Zwar trifft es zu, dass diese „Baulinie“ nicht entlang der gesamten Nordseite des Vorhabengrundstücks geführt ist. Daraus dürften die Kläger aber bereits eine unzutreffende rechtliche Schlussfolgerung ziehen (dazu a) und selbst wenn das anders sein sollte, wären ihre nachbarlichen Rechte dennoch nicht verletzt (dazu b).
48 a) Das Ende der „Baulinie“ nach ungefähr 2/3 der Länge der Nordseite des Vorhabengrundstücks führt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem „Bauverbot“ in dessen hinterem Grundstücksteil.
49 Rechtsgrundlage für die Festsetzung der „Baulinie“ alten Rechts durch den Stadtbauplan „Azenberg und Umgebung (1907/050)“ der Beklagten vom 02.05.1907 - damals nur entlang der A.-Straße - war Art. 21 Satz 1 der Württembergischen Bauordnung vom 06.10.1872 (RegBl. S. 305). Nach dieser Bestimmung durften Gebäude grundsätzlich nur entlang dieser „Baulinie“ errichtet werden. Solchermaßen festgesetzte „Baulinien“ waren also mit dem Regelungsgehalt einer Baulinie nach heutigem Recht (§ 23 Abs. 2 Satz 1 BauNVO) vergleichbar (so VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.12.2003 - 5 S 1746/02 - juris Rn. 31).
50 Doch bereits mit der erstmaligen Verlängerung dieser „Baulinie“ um die Grundstücksecke zur B.-Klinge hin im Jahr 1914 hatte sich durch das zwischenzeitliche Inkrafttreten der Württembergischen Bauordnung vom 28.07.1910 (RegBl S. 333; im Folgenden: Württ. BauO 1910) der primäre Bedeutungsgehalt einer solchen Festsetzung gewandelt. Nach Art. 34 Abs. 1 Württ. BauO 1910 - der auch auf bereits bestehende Baulinien anzuwenden war (vgl. Art. 129 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 Württ. BauO 1910) - durften nunmehr Bauten die von einer „Baulinie“ gebildete Grenze grundsätzlich nicht überschreiten. Vorbehaltlich abweichender Regelungen in einer Ortsbausatzung stand es dem Bauherrn aber frei, Bauten ganz oder teilweise hinter die Baulinie „zurückzustellen“ (Art. 34 Abs. 2 Württ. BauO 1910). Der Regelungsgehalt solcher „Baulinien“ nach damaligen Recht entsprach somit dem einer heutigen Baugrenze (§ 23 Abs. 3 Satz 1 BauNVO).
51 Mit Inkrafttreten des durch das Gesetz des Staatsministeriums zur Änderung der Württembergischen Bauordnung vom 15.12.1933 (RegBl. S. 443) neu in die württembergische Bauordnung 1910 eingefügten Art. 1a wurde diesen „Baulinien“ ein sekundärer Regelungsgehalt zugewiesen, auf den die Kläger maßgeblich abstellen. Danach war nach dessen Absatz 2 die Errichtung von Bauten außerhalb des Gebiets des Ortsbauplans und, soweit kein solcher bestand, außerhalb eines geschlossenen Wohnbezirks nur noch zulässig, wenn weder polizeiliche Bedenken irgendwelcher Art noch Rücksichten auf ein Orts- oder Landschaftsbild entgegenstehen. Gemäß Art. 1a Abs. 4 Württ. BauO 1910 i.d.F.v. 1933 galten als außerhalb des Ortsbauplans gelegene Grundstücke insoweit, als sie entweder nicht in eine von Baustraßen umschlossene Fläche fallen oder mehr als 50 m, waagrecht gemessen, hinter einer Baulinie liegen (Art. 1a Abs. 4 Alt. 2 Württ. BauO 1910 i.d.F.v. 1933). Dies konnte in vielen Fällen zu einem „Bauverbot“ ab einer Linie von 50 m hinter einer (straßenseitigen) „Baulinie“ führen.
52 Ein solcher Fall scheidet hier jedoch aus:
53 aa) Mit Inkrafttreten des Baustaffelplans 1935/500 der Beklagten vom 01.08.1935 und der dazugehörigen Ortsbausatzung der Beklagten lag das Gebiet um das Vorhabengrundstück innerhalb des Gebiets eines Ortsbauplans (§ 1a Abs. 2 Württ. BauO 1910 i.d.F.v. 1933) und war schon deswegen insgesamt überbaubar.
54 bb) Selbst wenn das nicht so gewesen sein sollte, liegt das gesamte heute errichtete straßenferne Gebäude der Beigeladenen jedenfalls innerhalb einer Linie von 50 m waagrecht zur „Baulinie“ entlang der A.-Straße, welche die Kläger aus ihrer Betrachtung völlig ausblenden, ist also nach der von den Klägern bemühten Bestimmung Art. 1a Abs. 4 Alt. 2 Württ. BauO 1910 i.d.F. v. 1933 im rückwärtigen Bereich gerade vollständig überbaubar.
55 b) Auch wenn diese Auslegung alten Rechts nicht zutreffen und im „Hintergarten“ des Vorhabengrundstücks doch ein Bauverbot alten Rechts festgesetzt gewesen sein sollte, hätte dieses mit Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes nur wirksam als hintere Baugrenze neuen Rechts (§ 23 Abs. 3 BauNVO) übergeleitet (vgl. § 173 Abs. 3 BBauG 1960) werden können. Nach gefestigter Rechtsprechung vermögen solche hinteren Baugrenzen zwar in manchen Fällen auf Grund eines Austauschverhältnisses Nachbarschutz zu entfalten (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 11.06.2019 - 4 B 5.19 - juris; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.08.2018 - 5 S 2083/17 - juris). Das gilt jedoch nur zugunsten des Eigentümers des gegenüberliegenden Grundstücks, weil nur insoweit ein Austauschverhältnis bestehen kann (vgl. nur VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 30.06.2015 - 3 S 901/15 - NVwZ-RR 2015, 807), hier also zugunsten des Eigentümers des Grundstücks B.-Klinge 19, nicht aber zugunsten der zu den jeweiligen Seiten belegenen Grundstücke der Kläger.
56 3. Auch die Kläger räumen ein, dass das Vorhaben der Beigeladenen nicht das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber ihren Grundstücken verletzt.
57 Dieses Gebot ist hier auf Grund der Vielzahl der der Beigeladenen erteilten Befreiungen ableitbar aus dem Begriff der „Würdigung nachbarlicher Interessen in § 31 Abs. 2 BauGB. Welche Anforderungen es begründet, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.10.1993 - 4 C 5.93 - BauR 1994, 686; Urt. v. 25.02.1977 - 4 C 22.75 - BVerwGE 52, 122). Mit anderen Worten: Es bedarf stets des Aufzeigens einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Nachbarn.
58 Solche unzumutbaren Beeinträchtigungen machen die Kläger nicht geltend und können sie auch nicht geltend machen. Ihre Wohngebäude liegen den beiden Baukörpern der Beigeladenen in jeweils großem Abstand - weit mehr als die Landesbauordnung es erfordert - und nur „in zweiter Reihe“ gegenüber. Sie sind damit weit weniger betroffen als die unmittelbaren Angrenzer an das Vorhabengrundstück, die Eigentümer der Grundstücke A.-Straße 84 und B.-Klinge 19, die aber von gerichtlichen Rechtsbehelfen abgesehen haben.
59 4. Stattdessen steht im Zentrum des Vorbringens der Kläger, dass sie sich gegen eine schleichende Veränderung des Charakters des Gebiets um ihre Grundstücke durch die Verwaltung der Beklagten auf Grund der Erteilung einer Vielzahl von Befreiungen für das Vorhaben der Beigeladenen zur Wehr setzen. Eine solche Veränderung darf nach ihrer Auffassung nur der Plangeber, der Gemeinderat der Beklagten, in Gang setzen. Mit anderen Worten: Die Kläger machen einen Gebietserhaltungsanspruch geltend, der keine Darlegung unzumutbarer Beeinträchtigungen voraussetzt, ihnen aber nicht zusteht, weder kraft Bundesrechts (dazu a), noch kraft Ortsrechts (dazu b).
60 a) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. nur Beschl. v. 16.12.2008 - 4 B 68.08 - ZfBR 2009, 376 sowie Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 -BVerwGE 94, 151) und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. etwa Urt. v. 23.06.2020 - 3 S 2781/18 - juris) ist hinlänglich geklärt, dass ein Gebietserhaltungs- oder Gebietsbewahrungsanspruch kraft Bundesrechts nur zwischen Eigentümer von Grundstücken in festgesetzten oder faktischen Baugebieten und nur hinsichtlich dieser (faktischen) Festsetzungen besteht. Lediglich in diesem Sonderfall gesteht der Normgeber den Eigentümern von Grundstücken unter dem Gesichtspunkt der „Schicksalsgemeinschaft“ und eines „wechselseitigen Austauschverhältnisses“ unmittelbare Abwehrrechte zu, die keine Darlegung unzumutbarer Beeinträchtigung erfordern.
61 aa) Für die Grundstücke von Beigeladener und Klägern setzt der Baustaffelplan 1935/500 der Beklagten vom 01.08.1935 in Verbindung mit der Ortsbausatzung der Beklagten vom 25.06.1935 (im Folgenden: OBS) „Baustaffel 9 - Landhausgebiet (geschütztes Wohngebiet)“ fest. Für dieses bestimmt § 7 OBS:
62 (1) Im Landhausgebiet dürfen, abgesehen von Nebenanlagen (Stallgebäuden, Kraftwagenräumen, Waschhäusern und dgl.), nur Gebäude errichtet werden, die ausschließlich oder zum überwiegenden Teil zum Wohnen dienen. ...
63 (2) Außerdem können Gebäude zugelassen werden, die der Bildung, der Erholung, der Krankenpflege oder öffentlichen Versorgungsbetrieben dienen.
64 (3) Die Errichtung von Betrieben der in §§ 4 bis 6 genannten Art, ebenso von Handels- und Gewerbebetrieben ist ausgeschlossen. Kleinere Bäckereien und kleinere Läden können jedoch an geeigneten Stellen von der Baupolizeibehörde zugelassen werden.
65 Nach der Rechtsprechung der Kammer (vgl. Beschl. v. 28.07.2020 - 2 K 2503/20 - juris) ist diese Festsetzung als die eines allgemeinen Wohngebiets (WA) wirksam übergeleitet worden (vgl. § 173 Abs. 3 BBauG 1960). Diese übergeleitete Festsetzung eines Gebietstyps wahrt das Vorhaben der Beigeladenen, das nur dem Wohnen dient, jedoch unzweifelhaft, so dass die Kläger insoweit keine Verletzung eines bundesrechtlichen Gebietserhaltungsanspruchs geltend machen können.
66 bb) § 7 Abs. 1 Sätze 2 und 3 OBS setzen zudem die Wohnungszahl in einem Landhausgebiet fest:
67 In den einzelnen Gebäuden ist auf jedem Stockwerk nur eine Wohnung zulässig. Mehr als zwei selbständige Wohnungen dürfen in einem Gebäude nicht eingerichtet werden.
68 Zwar handelt es sich dabei um wirksam übergeleitete Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, welche das Vorhaben der Beigeladenen überschreitet. Sie entfalten allerdings nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kraft Bundesrechts keine nachbarschützende Wirkung; insoweit besteht kein „Austauschverhältnis“ (vgl. dazu nur BVerwG, Beschl. v. 09.03.1993 - 4 B 38.93 - BVerwGE 101, 364; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 29.09.2010 - 3 S 1752/10 - juris). Diese Unterscheidung zur Festsetzung von „Baugebieten“ ist nach Ansicht der Kammer dadurch gerechtfertigt, dass es letztlich Sache des Normgebers ist, den nachbarschützenden Gehalt baurechtlicher Vorschriften zu bestimmen. Er kann diesen stets, nie oder nur in bestimmen Fällen nachbarschützenden Gehalt zuweisen. Durch den Wortlaut der Bestimmungen der Baunutzungsverordnung, die lediglich in ihren §§ 2 bis 11 Begriffe wie „nicht wesentlich stören“ verwenden, hat der Normgeber verdeutlich, dass er nur darauf gestützten Festsetzungen kraft Bundesrecht Nachbarschutz beimisst und nur insoweit ein Austauschverhältnis kraft Bundesrecht begründet wird.
69 Obgleich die Kläger in nachvollziehbarer Weise daran Anstoß nehmen, dass sich mit der Zulassung des Vorhabens der Beigeladenen die Anzahl von Wohnungen (und damit von Bewohnern und PKW) pro Grundstück in ihrer unmittelbaren Umgebung merklich erhöhen wird, müssten sie also insoweit unzumutbare Beeinträchtigungen für ihre Grundstücke geltend machen, um Abwehransprüche begründen zu können, was ihnen aber - wie ausgeführt - nicht gelingt.
70 b) Auch Ortsrecht, insbesondere der Baustaffelplan und die Ortsbausatzung der Beklagten mit ihrer Festsetzung einer „Baustaffel 9: Landhausgebiet (geschütztes Wohngebiet)“ nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. d OBS um die Grundstücke der Kläger vermag diesen hier keinen über Bundesrecht hinausgehenden Gebietserhaltungsanspruch zu vermitteln.
71 In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist weiter geklärt, dass es dem Satzungsgeber freisteht, baurechtliche Vorschriften, die nicht schon kraft Bundesrecht dem Nachbarschutz dienen, mit solchem anzureichern (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.08.2018 - 4 C 7.17 - BauR 2019, 70; Beschl. v. 19.10.1995 - 4 B 215.95 - BauR 1996, 82; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 21.07.2020 - 8 S 702/19 - juris). Ob das der Fall ist, ist durch Auslegung des Bebauungsplans im Einzelfall zu ermitteln (vgl. VGH Bad.-Württ, Urt. v. 21.07.2020, a.a.O.; OVG NRW, Beschl. v. 27.01.2014 - 2 A 1674/13 - BauR 2014, 969 juris Rn. 12). Maßgebliche Anhaltspunkte für diese Auslegung lassen sich dem Bebauungsplan selbst, seiner Begründung oder den Materialien des Planaufstellungsverfahren entnehmen.
72 Bei „altem Recht“ wie der Ortsbausatzung der Beklagten besteht allerdings die Misslichkeit, dass deren Rechtsgrundlage, die Württembergische Bauordnung von 1910, keine Begründungspflicht vorsah und damit regelmäßig weder eine Begründung noch Planaufstellungsmaterialien verfügbar sind. Daher bleibt häufig nur die Auslegung der Gesamtkonzeption des Planes, ob diese dafür spricht, dass bestimmte Festsetzungen in ein wechselseitiges Austauschverhältnis eingebunden werden sollten (so BVerwG, Urt. v. 09.08.2018 - 4 C 7.17 - BauR 2019, 70 - sog. „Wannsee-Entscheidung“). Das gilt auch für übergeleitetes Recht aus einer Zeit, in welcher das Institut des Nachbarschutzes noch nicht bekannt (BVerwG, Urt. v. 09.08.2018, a.a.O.) oder - wie hier im Falle der Ortsbausatzung der Beklagten aus der NS-Zeit - sogar sehr fernliegend war.
73 Die somit gebotene Auslegung ergibt hier, dass die Festsetzungen der Ortsbausatzung der Beklagten zum Maß der baulichen Nutzung in einem Landhausgebiet der Baustaffel 9, insbesondere zur „Flächenausnützung“ (vgl. § 3 Abs. 1 OBS: nur 10 v.H.), auch unter Zugrundelegung der Kriterien der „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts nicht dem Nachbarschutz dienen sollen. Etwas Anderes ergibt sich weder aus der Regelungsdichte dieses Gebietstyps (dazu aa) noch aus seiner Bezeichnung als „geschütztes“ Wohngebiet (dazu bb), zumal sich eine Verpflichtung zur hochwertigen Ausgestaltung der dort zulässigen Vorhaben nicht erkennen lässt (dazu cc). Die Wahrung der Maßfestsetzungen ist jedenfalls für den Erhalt der festgesetzten Art der baulichen Nutzung nicht unerlässlich (dazu dd). Fehlt es somit am nachbarschützenden Charakter dieser Festsetzungen, bedarf es keines Eingehens auf den Hilfsantrag der Kläger, da es auf die Frage von Überschreitungen der „Flächenausnützung“ auf Grundstücken in der Umgebung schon aus Rechtsgründen nicht ankommt.
74 aa) Die Kläger weisen allerdings zu Recht darauf hin, dass ein Landhausgebiet nach Baustaffel 9 der Ortsbausatzung der Beklagten eine beträchtliche Festsetzungsdichte aufweist.
75 So werden neben der bereits genannten Art der baulichen Nutzung (§ 7 OBS) und der „Flächenausnützung“ (§ 3 OBS) insbesondere weiter geregelt: Geringere Höhen von Einfriedungen (§ 21 Halbsatz 2 OBS), offene Bauweise (§ 34 Abs. 1 OBS), Anforderungen an „Gruppenbauten“ (§ 36 Abs. 3 u. 5 OBS), bestimmte Abstände der Hintergebäude (§ 40 OBS), bestimmte Gebäudetiefen (§ 43 Abs. 3 OBS), Gebäudehöhen (§ 47 Abs. 1 OBS) und Stockwerkszahlen (§ 50 Abs. 1 OBS) sowie die Erdgeschossfußbodenhöhe (§ 55 Abs. 1 OBS). Alleine diese Regelungsdichte - die im Übrigen fast jeder Baustaffel der Ortsbausatzung der Beklagten innewohnt - reicht nach Ansicht der Kammer jedoch noch nicht aus, um einen nachbarschützenden Willen des Plangebers anzunehmen. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass eine Reihe der vorstehend genannten Regelungen heute (bau-)ordnungsrechtlicher Natur sind und somit zu einer planungsrechtlichen Regelungsdichte nichts beizutragen vermögen. Soweit die Kläger der Meinung sind, jedenfalls kombiniert mit dem weiterhin auf dem Vorhabengrundstück festgesetzten „Bauverbot“ im Hintergarten werde eine ungewöhnlich hohe Regelungsdichte erzielt, ist darauf hinzuweisen, dass dieses schon nicht festgesetzt ist (vgl. dazu oben B.I.2).
76 bb) Auch aus der Verwendung des Begriffs „geschütztes Wohngebiet“ in § 1 Abs. 1 Buchst. d OBS für ein Landhausgebiet lässt sich nicht schließen, dass dessen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung Nachbarschutz entfalten sollen.
77 Das gilt schon deswegen, weil dem damaligen Plangeber einklagbare nachbarliche Rechte nicht bekannt gewesen sein dürften, ungeachtet dessen, dass er etwa in § 36 Abs. 5 OBS „das Interesse der Beteiligten“ erwähnt. Es spricht nach einem Vergleich mit den in den anderen Baustaffeln der Ortsbausatzung der Beklagten zulässigen - oder nach deren Regelungssystematik (vgl. zu dieser VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 07.11.2016 - 8 S 1294/16 - juris) vielmehr verbotenen - Arten baulicher Nutzung fast alles dafür, dass „geschützt“ insoweit vor dem Eindringen gewerblicher Anlagen geschützt bedeuten soll.
78 cc) Zwar ist den Kläger einzuräumen, dass die Umgebung um ihre Grundstücke (noch) durch nur großzügig mit meist villenartigen Gebäuden überbaute Grundstücke mit einem hohen Grünanteil geprägt ist.
79 Dieses scheint die Festsetzung der geringsten aller „Flächenausnützungen“ aller Baustaffeln von nur 10 v.H. (vgl. § 3 OBS) abzusichern und damit zu einem gehobenen Wohnen maßgeblich beizutragen. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Regelungen zum Landhausgebiet nach der Ortsbausatzung der Beklagten - anders als jene vergleichbarer Gebietstypen anderer Ortsbausatzungen im Zuständigkeitsbereich der Kammer - keine Anforderungen an hochwertige Fassadengestaltungen etc. enthält, also gerade keine hochwertige Bausubstanz fordert. Selbst wenn dies der Fall wäre, könnte wäre immer noch fraglich, ob diese Hochwertigkeit nicht alleine städtebaulich-gestalterisch motiviert war.
80 dd) Letztlich erscheint der Kammer der vorliegende Fall in einem besonders entscheidenden Detail maßgeblich vom Sachverhalt abzuweichen, welcher der „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde lag, und schon deswegen die Auslegung der Einbeziehung der Maßfestsetzungen in ein Austauschverhältnis auszuscheiden:
81 In damaligen Sachverhalt waren an einem Uferbereich des Wannsees als Art der baulichen Nutzung eine „Sondergebietsfläche Wassersport“ und zugleich vergleichsweise starke Beschränkungen des Maßes der baulichen Nutzung festgesetzt worden. Die Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts, das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, hatte daraus überzeugend gefolgert (vgl. Urt. v. 30.06.2017 - OVG 10 B 10.15 - BauR 2017, 2136 juris Rn. 48 ff):
82 „die Maßfestsetzungen sind hier von wesentlicher Bedeutung für den vom Plangeber konzipierten Charakter der Sondergebietsfläche „Wassersport“. Zentrales Anliegen des Bebauungsplans X-4 ist die Schaffung von Flächen für den Wassersport. Die dafür in Betracht kommenden Ufergrundstücke am Großen Wannsee wurden vom Plangeber in einem Sondergebiet zusammengefasst. Im Interesse der Grundstückseigentümer sollte dabei die Fortführung der bisher ausgeübten Wohnnutzung planungsrechtlich möglich bleiben, weshalb diese ausdrücklich zugelassen wurde und zur Vermeidung von Nutzungskonflikten die Nutzung für Anlagen des Wassersports begrenzt wurde. Der Charakter der Sondergebietsfläche als Wassersportgebiet mit Erholungsfunktion wurde durch die Planergänzungsbestimmungen gesichert. Maßgebliche Zielsetzungen waren in diesem Zusammenhang die Stärkung des Grünflächenanteils, die Gestaltung eines von Bebauung frei gehaltenen grünen Uferbereichs und die Beschränkung der baulichen Ausnutzung der Grundstücke insgesamt, wobei diese Planungsziele durch die Kombination der einzelnen Festsetzungen erreicht werden sollten. Auch die Festsetzungen zur Zahl der Vollgeschosse und der Baumasse sollten zu der spezifischen Qualität des Sondergebiets beitragen und dienten nach dem erklärten Willen des Plangebers der Bewahrung dieses Gebietscharakters, was sowohl im Erläuterungsbericht zum Bebauungsplan vom 26. Februar 1958 (S. 3) als auch bei der Abwägung der Einwendungen der Grundstückseigentümer deutlich zum Ausdruck gebracht worden ist. Die vom Bebauungsplan vorgesehene Funktion des Sondergebiets „Wassersport“ lässt sich aber nur verwirklichen, wenn alle zu diesem Gebiet gehörenden Grundstücke denselben Beschränkungen unterliegen und keines aus dem Gesamtgefüge ausbricht. Das Planungskonzept sieht daher die gleichmäßige Einbindung aller Grundstücke des Sondergebiets vor, die damit jeweils Teil dieses besonderen Gebiets mit seinen besonderen Nutzungsmöglichkeiten sind, aber auch einheitlich denselben Einschränkungen hinsichtlich der gestalterischen und baulichen Ausnutzung der Grundstücksfläche unterliegen. Die Grundstückseigentümer im Sondergebiet stehen somit in einem nachbarlichen Austauschverhältnis, nach dem sie zwar einerseits Beschränkungen u.a. hinsichtlich der baulichen Ausnutzung ihrer Grundstücke hinnehmen müssen, andererseits aber darauf vertrauen können, dass auch die übrigen Eigentümer diese Beschränkungen einhalten und den Charakter des Sondergebiets nicht gefährden. Den streitgegenständlichen Maßfestsetzungen kommt deshalb als Teil dieses Austauschverhältnisses nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gekommenen Planungskonzept nachbarschützende Wirkung zu“.
83 Im Fall der Kläger entspricht die Festsetzung der Art der baulichen Nutzung ihrer Grundstücke und deren Umgebung dagegen - wie dargelegt - jener eines Allgemeinen Wohngebiets. Dessen Zweck, das Wohnen, wird durch eine stärker verdichtete als die festgesetzte Wohnbebauung mitnichten in Frage gestellt, so dass hier die Annahme einer gewollten Einbindung der (erheblich beschränkenden) Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung in das nachbarliche Austauschverhältnis fern liegt.
II.
84 Rechtsverletzungen der Kläger gerade durch die Nachtragsbaugenehmigung lassen sich ebenso wenig erkennen.
85 Auch die Kläger räumen ein, dass die Veränderung von Innengrundrissen ihre nachbarlichen Rechte nicht verletzen kann. Dagegen betonen sie, das nahe Heranrücken der nördlichen Zugangstreppe des Vorhabens an die B.-Klinge oder gar die teilweise Überbauung dieses öffentlichen Weges durch das Treppenende verletze sie in ihren Rechten, obgleich ihre beiden Grundstücke noch nicht einmal an diesen Weg angrenzen, so dass eine Verletzung ihrer Rechte offensichtlich ausscheidet.
86 Ob die Ersetzung von drei bisher genehmigten Lichtschächten durch Lichthöfe die „Flächenausnützung“ auf dem Vorhabengrundstück weiter erhöht, wie die Kläger meinen, kann dahinstehen. Jedenfalls können die von ihnen angeführten Anrechnungsregelungen nach der Baunutzungsverordnung keine Anwendung zu finden, da diese Verordnung auf übergeleitete Festsetzungen nicht anwendbar ist (Erst-Recht-Schluss aus § 25 BauNVO 1962; vgl. dazu Schrödter, BBauG, 2. Aufl. 1669, § 173 BBauG Rn.12). Die Frage einer Anrechnung dürften vielmehr § 3 Abs. 4 Satz 4 OBS i.V.m. § 40 der Vollzugsverfügung zur Württ BauO v. 10.05.1911 (RegBl. S. 77) mit nachfolgenden Änderungen regeln. Das bedarf aber keiner Nachprüfung, da die betroffene Festsetzung zur „Flächenausnützung“ - wie unter B.I.4 dargelegt - ohnehin keine nachbarschützende Wirkung entfaltet. Nichts Anderes kann daher auch für die Frage der Anrechnung gepflasterter Wegfläche gelten.
87 Zwar könnte die Anlage von Stellplätzen im bislang begrünten und beruhigten Blockinneren auf Grund der damit einhergehenden Lärmbelastung unter Umständen gegenüber den Klägern 1 und 2 rücksichtslos sein (vgl. den in § 37 Abs. 8 Satz 2 LBO enthaltenen Rechtsgedanken). Dies bedarf jedoch ebenfalls keiner Entscheidung, da die Anlage von Stellplätzen auf diesen Flächen nicht Inhalt der angefochtenen Genehmigungen ist und die Beigeladene in der mündlichen Verhandlung zudem ausgeführt hat, dass sie eine dahingehende Nutzungsweise ihrer Mieter nicht dulden werde. Die Pflasterung diene nur der Ermöglichung einer An- und Abfahrt durch das den Garten pflegende Unternehmen.
C.
88 Da die Kläger unterliegen, haben sie nach § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO u. § 100 Abs. 1 ZPO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Hierzu zählen auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, da diese einen Antrag gestellt hat und damit ein Kostenrisiko eingegangen ist (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO und dazu VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.01.2011 - 8 S 2567/10 - juris).
89 Gründe, die eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht ermöglichen (§ 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 VwGO), sind nicht erkennbar.
Gründe
A.
38 Die Klagen sind zulässig, auch soweit sie gegen die Nachtragsbaugenehmigung vom 02.01.2020 gerichtet sind. Deren Einbeziehung in den laufenden Baunachbarstreit ist hier inhaltlich möglich, da die Abweichungen des zur nachträglichen Genehmigung gestellten Vorhabens (vgl. zu diesen B.II) nicht so beschaffen sind, dass von einem Aliud ausgegangen werden müsste (vgl. dazu etwa Bay. VGH, Beschl. v. 23.10.2019 - 15 ZB 18.1275 - juris). Daher ist die Einbeziehung prozessual als zulässige Klageänderung (§ 91 VwGO) anzusehen, zumal die Beklagte hier eingewilligt hat (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.11.2019 - 5 S 1790/17 - BauR 2020, 799). Diese Einbeziehung macht die Durchführung eines (weiteren) Vorverfahrens aus Gründen der Prozessökonomie entbehrlich (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 21.02.2014 - 3 S 1992/13 - NVwZ-RR 2014, 548).
B.
39 Die Klagen dringen aber in der Sache nicht durch. Die Baugenehmigung der Beklagten vom 29.11.2016 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigung vom 02.01.2020 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums vom 29.03.2019 verletzen die Kläger jedenfalls nicht in eigenen Rechten und können daher nicht aufgehoben werden, ungeachtet dessen, ob sie in jeder Hinsicht rechtmäßig sind. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ermächtigt das Gericht nur dann zur Aufhebung eines Verwaltungsakts, wenn er rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt. Daraus folgt für die gegen die Erteilung einer Baugenehmigung gerichtete Klagen von Nachbarn: Das Gericht kann die Baugenehmigung nur aufheben, wenn sie gegen von der Baurechtsbehörde zu prüfende Vorschriften (§ 58 Abs. 1 Satz 1 LBO) verstößt, die gerade dem Schutz dieser Nachbarn dienen sollen und die Nachbarn diese Verstöße fristgerecht gerügt haben (§ 55 Abs. 2 LBO). Ob die Baugenehmigung gegen sonstige Vorschriften verstößt, ist dagegen unerheblich und einer Prüfung der Kammer entzogen (vgl. nur Urt. d. Kammer v. 27.11.2016 - 2 K 7578/17 - juris Rn. 31).
40 Nach diesen Maßgaben sind die Kläger zwar mit ihrem Vorbringen nicht präkludiert (§ 55 Abs. 2 LBO), weil sie alle sie störenden Belange fristgerecht vorgebracht haben (Kläger 1 und 2) bzw. ohnehin nicht benachrichtigt worden sind (Kläger 3 u. 4). Sie können aber keine Verletzung in eigenen Rechten aufzeigen, weder durch die Ursprungsbaugenehmigung (dazu I.) noch die Nachtragsbaugenehmigung (dazu II.).
I.
41 Gegenüber der Ursprungsbaugenehmigung berufen sich die Kläger teilweise auf Verletzungen von Vorschriften, die offensichtlich nicht ihrem Schutz zu dienen bestimmt sind (dazu 1.). Zu Unrecht wollen sie Abwehrrechte aus einem behaupteten „Bauverbot“ im hinteren Teil des Vorhabengrundstücks geltend machen (dazu 2.), räumen aber zu Recht ein, dass durch das genehmigte Vorhaben das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber ihren Grundstücken nicht verletzt wird (dazu 3.). Mit dem Kern ihres Vorbringens, dem Bestehen eines Gebietserhaltungsanspruchs ihrerseits, vermögen sie nicht durchzudringen (dazu 4.).
42 1. Die Erhaltungssatzung „N 8“ und der Rahmenplan „Halbhöhenlagen“ der Beklagten dienen ebenso wie artenschutzrechtliche Bestimmungen offensichtlich nicht dem Schutz Einzelner wie der Kläger.
43 Abgesehen davon, dass die genannte Erhaltungssatzung noch immer nicht in Kraft getreten ist (was am Erhaltungswillen der Beklagten für attraktive Gebäude in den Halbhöhenlagen zweifeln lassen könnte), dient eine solche auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB gestützte Regelung wegen ihrer städtebaulichen Zielsetzung unzweifelhaft nicht dem Schutz einzelner Grundstückseigentümer (so auch Bay. VGH, Beschl. v. 07.12.2017 - 9 CS 16.2522 - juris; Stock, in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2020, § 172 Rn. 214).
44 Der vom Gemeinderat der Beklagten am 02.10.2007 beschlossene Rahmenplan „Halbhöhenlagen“ stellt eine sonstige städtebauliche Planung im Sinne des § 1 Abs. 6 Nr. 11 BauGB dar (so VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.12.2014 - 8 S 1400/12 - BauR 2015, 1089). Er schafft also kein „Außenrecht“, welches die Beklagte gegenüber Bürgern in Einzelfallentscheidungen, etwa bei der Ablehnung von Bauanträgen, zur Anwendung bringen könnte. Vielmehr erzeugt er nur „Binnenrecht“, welches sie bei ihrer künftigen Bauleitplanung als Abwägungsmaterial zu beachten hat (so VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.12.2014, a.a.O., juris Rn. 75). Dass bloßes Binnenrecht erst Recht keine Abwehrrechte Dritter zu begründen vermag, dürfte sich von selbst verstehen.
45 Nichts Anderes gilt im Ergebnis für artenschutzrechtliche Bestimmungen, etwa zum Schutz von Fledermäusen. Solche Bestimmungen dienen dem Schutz der jeweiligen Tierarten und der Allgemeinheit am Fortbestand dieser Arten, nicht aber jenem von Eigentümern benachbarter Grundstücke (vgl. nur OVG NRW, Beschl. v. 15.04.2020 - 7 B 287/20 - juris).
46 2. Zu Unrecht nehmen die Kläger an, die Führung einer „Baulinie“ alten Rechts entlang des Weges B.-Klinge nur bis zu einer gewissen Tiefe des Vorhabengrundstücks vermittele ihnen Abwehransprüche gegenüber dem straßenfernen Gebäude der Beigeladenen.
47 Zwar trifft es zu, dass diese „Baulinie“ nicht entlang der gesamten Nordseite des Vorhabengrundstücks geführt ist. Daraus dürften die Kläger aber bereits eine unzutreffende rechtliche Schlussfolgerung ziehen (dazu a) und selbst wenn das anders sein sollte, wären ihre nachbarlichen Rechte dennoch nicht verletzt (dazu b).
48 a) Das Ende der „Baulinie“ nach ungefähr 2/3 der Länge der Nordseite des Vorhabengrundstücks führt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem „Bauverbot“ in dessen hinterem Grundstücksteil.
49 Rechtsgrundlage für die Festsetzung der „Baulinie“ alten Rechts durch den Stadtbauplan „Azenberg und Umgebung (1907/050)“ der Beklagten vom 02.05.1907 - damals nur entlang der A.-Straße - war Art. 21 Satz 1 der Württembergischen Bauordnung vom 06.10.1872 (RegBl. S. 305). Nach dieser Bestimmung durften Gebäude grundsätzlich nur entlang dieser „Baulinie“ errichtet werden. Solchermaßen festgesetzte „Baulinien“ waren also mit dem Regelungsgehalt einer Baulinie nach heutigem Recht (§ 23 Abs. 2 Satz 1 BauNVO) vergleichbar (so VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.12.2003 - 5 S 1746/02 - juris Rn. 31).
50 Doch bereits mit der erstmaligen Verlängerung dieser „Baulinie“ um die Grundstücksecke zur B.-Klinge hin im Jahr 1914 hatte sich durch das zwischenzeitliche Inkrafttreten der Württembergischen Bauordnung vom 28.07.1910 (RegBl S. 333; im Folgenden: Württ. BauO 1910) der primäre Bedeutungsgehalt einer solchen Festsetzung gewandelt. Nach Art. 34 Abs. 1 Württ. BauO 1910 - der auch auf bereits bestehende Baulinien anzuwenden war (vgl. Art. 129 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 Württ. BauO 1910) - durften nunmehr Bauten die von einer „Baulinie“ gebildete Grenze grundsätzlich nicht überschreiten. Vorbehaltlich abweichender Regelungen in einer Ortsbausatzung stand es dem Bauherrn aber frei, Bauten ganz oder teilweise hinter die Baulinie „zurückzustellen“ (Art. 34 Abs. 2 Württ. BauO 1910). Der Regelungsgehalt solcher „Baulinien“ nach damaligen Recht entsprach somit dem einer heutigen Baugrenze (§ 23 Abs. 3 Satz 1 BauNVO).
51 Mit Inkrafttreten des durch das Gesetz des Staatsministeriums zur Änderung der Württembergischen Bauordnung vom 15.12.1933 (RegBl. S. 443) neu in die württembergische Bauordnung 1910 eingefügten Art. 1a wurde diesen „Baulinien“ ein sekundärer Regelungsgehalt zugewiesen, auf den die Kläger maßgeblich abstellen. Danach war nach dessen Absatz 2 die Errichtung von Bauten außerhalb des Gebiets des Ortsbauplans und, soweit kein solcher bestand, außerhalb eines geschlossenen Wohnbezirks nur noch zulässig, wenn weder polizeiliche Bedenken irgendwelcher Art noch Rücksichten auf ein Orts- oder Landschaftsbild entgegenstehen. Gemäß Art. 1a Abs. 4 Württ. BauO 1910 i.d.F.v. 1933 galten als außerhalb des Ortsbauplans gelegene Grundstücke insoweit, als sie entweder nicht in eine von Baustraßen umschlossene Fläche fallen oder mehr als 50 m, waagrecht gemessen, hinter einer Baulinie liegen (Art. 1a Abs. 4 Alt. 2 Württ. BauO 1910 i.d.F.v. 1933). Dies konnte in vielen Fällen zu einem „Bauverbot“ ab einer Linie von 50 m hinter einer (straßenseitigen) „Baulinie“ führen.
52 Ein solcher Fall scheidet hier jedoch aus:
53 aa) Mit Inkrafttreten des Baustaffelplans 1935/500 der Beklagten vom 01.08.1935 und der dazugehörigen Ortsbausatzung der Beklagten lag das Gebiet um das Vorhabengrundstück innerhalb des Gebiets eines Ortsbauplans (§ 1a Abs. 2 Württ. BauO 1910 i.d.F.v. 1933) und war schon deswegen insgesamt überbaubar.
54 bb) Selbst wenn das nicht so gewesen sein sollte, liegt das gesamte heute errichtete straßenferne Gebäude der Beigeladenen jedenfalls innerhalb einer Linie von 50 m waagrecht zur „Baulinie“ entlang der A.-Straße, welche die Kläger aus ihrer Betrachtung völlig ausblenden, ist also nach der von den Klägern bemühten Bestimmung Art. 1a Abs. 4 Alt. 2 Württ. BauO 1910 i.d.F. v. 1933 im rückwärtigen Bereich gerade vollständig überbaubar.
55 b) Auch wenn diese Auslegung alten Rechts nicht zutreffen und im „Hintergarten“ des Vorhabengrundstücks doch ein Bauverbot alten Rechts festgesetzt gewesen sein sollte, hätte dieses mit Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes nur wirksam als hintere Baugrenze neuen Rechts (§ 23 Abs. 3 BauNVO) übergeleitet (vgl. § 173 Abs. 3 BBauG 1960) werden können. Nach gefestigter Rechtsprechung vermögen solche hinteren Baugrenzen zwar in manchen Fällen auf Grund eines Austauschverhältnisses Nachbarschutz zu entfalten (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 11.06.2019 - 4 B 5.19 - juris; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.08.2018 - 5 S 2083/17 - juris). Das gilt jedoch nur zugunsten des Eigentümers des gegenüberliegenden Grundstücks, weil nur insoweit ein Austauschverhältnis bestehen kann (vgl. nur VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 30.06.2015 - 3 S 901/15 - NVwZ-RR 2015, 807), hier also zugunsten des Eigentümers des Grundstücks B.-Klinge 19, nicht aber zugunsten der zu den jeweiligen Seiten belegenen Grundstücke der Kläger.
56 3. Auch die Kläger räumen ein, dass das Vorhaben der Beigeladenen nicht das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber ihren Grundstücken verletzt.
57 Dieses Gebot ist hier auf Grund der Vielzahl der der Beigeladenen erteilten Befreiungen ableitbar aus dem Begriff der „Würdigung nachbarlicher Interessen in § 31 Abs. 2 BauGB. Welche Anforderungen es begründet, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.10.1993 - 4 C 5.93 - BauR 1994, 686; Urt. v. 25.02.1977 - 4 C 22.75 - BVerwGE 52, 122). Mit anderen Worten: Es bedarf stets des Aufzeigens einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Nachbarn.
58 Solche unzumutbaren Beeinträchtigungen machen die Kläger nicht geltend und können sie auch nicht geltend machen. Ihre Wohngebäude liegen den beiden Baukörpern der Beigeladenen in jeweils großem Abstand - weit mehr als die Landesbauordnung es erfordert - und nur „in zweiter Reihe“ gegenüber. Sie sind damit weit weniger betroffen als die unmittelbaren Angrenzer an das Vorhabengrundstück, die Eigentümer der Grundstücke A.-Straße 84 und B.-Klinge 19, die aber von gerichtlichen Rechtsbehelfen abgesehen haben.
59 4. Stattdessen steht im Zentrum des Vorbringens der Kläger, dass sie sich gegen eine schleichende Veränderung des Charakters des Gebiets um ihre Grundstücke durch die Verwaltung der Beklagten auf Grund der Erteilung einer Vielzahl von Befreiungen für das Vorhaben der Beigeladenen zur Wehr setzen. Eine solche Veränderung darf nach ihrer Auffassung nur der Plangeber, der Gemeinderat der Beklagten, in Gang setzen. Mit anderen Worten: Die Kläger machen einen Gebietserhaltungsanspruch geltend, der keine Darlegung unzumutbarer Beeinträchtigungen voraussetzt, ihnen aber nicht zusteht, weder kraft Bundesrechts (dazu a), noch kraft Ortsrechts (dazu b).
60 a) In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. nur Beschl. v. 16.12.2008 - 4 B 68.08 - ZfBR 2009, 376 sowie Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 -BVerwGE 94, 151) und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. etwa Urt. v. 23.06.2020 - 3 S 2781/18 - juris) ist hinlänglich geklärt, dass ein Gebietserhaltungs- oder Gebietsbewahrungsanspruch kraft Bundesrechts nur zwischen Eigentümer von Grundstücken in festgesetzten oder faktischen Baugebieten und nur hinsichtlich dieser (faktischen) Festsetzungen besteht. Lediglich in diesem Sonderfall gesteht der Normgeber den Eigentümern von Grundstücken unter dem Gesichtspunkt der „Schicksalsgemeinschaft“ und eines „wechselseitigen Austauschverhältnisses“ unmittelbare Abwehrrechte zu, die keine Darlegung unzumutbarer Beeinträchtigung erfordern.
61 aa) Für die Grundstücke von Beigeladener und Klägern setzt der Baustaffelplan 1935/500 der Beklagten vom 01.08.1935 in Verbindung mit der Ortsbausatzung der Beklagten vom 25.06.1935 (im Folgenden: OBS) „Baustaffel 9 - Landhausgebiet (geschütztes Wohngebiet)“ fest. Für dieses bestimmt § 7 OBS:
62 (1) Im Landhausgebiet dürfen, abgesehen von Nebenanlagen (Stallgebäuden, Kraftwagenräumen, Waschhäusern und dgl.), nur Gebäude errichtet werden, die ausschließlich oder zum überwiegenden Teil zum Wohnen dienen. ...
63 (2) Außerdem können Gebäude zugelassen werden, die der Bildung, der Erholung, der Krankenpflege oder öffentlichen Versorgungsbetrieben dienen.
64 (3) Die Errichtung von Betrieben der in §§ 4 bis 6 genannten Art, ebenso von Handels- und Gewerbebetrieben ist ausgeschlossen. Kleinere Bäckereien und kleinere Läden können jedoch an geeigneten Stellen von der Baupolizeibehörde zugelassen werden.
65 Nach der Rechtsprechung der Kammer (vgl. Beschl. v. 28.07.2020 - 2 K 2503/20 - juris) ist diese Festsetzung als die eines allgemeinen Wohngebiets (WA) wirksam übergeleitet worden (vgl. § 173 Abs. 3 BBauG 1960). Diese übergeleitete Festsetzung eines Gebietstyps wahrt das Vorhaben der Beigeladenen, das nur dem Wohnen dient, jedoch unzweifelhaft, so dass die Kläger insoweit keine Verletzung eines bundesrechtlichen Gebietserhaltungsanspruchs geltend machen können.
66 bb) § 7 Abs. 1 Sätze 2 und 3 OBS setzen zudem die Wohnungszahl in einem Landhausgebiet fest:
67 In den einzelnen Gebäuden ist auf jedem Stockwerk nur eine Wohnung zulässig. Mehr als zwei selbständige Wohnungen dürfen in einem Gebäude nicht eingerichtet werden.
68 Zwar handelt es sich dabei um wirksam übergeleitete Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, welche das Vorhaben der Beigeladenen überschreitet. Sie entfalten allerdings nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kraft Bundesrechts keine nachbarschützende Wirkung; insoweit besteht kein „Austauschverhältnis“ (vgl. dazu nur BVerwG, Beschl. v. 09.03.1993 - 4 B 38.93 - BVerwGE 101, 364; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 29.09.2010 - 3 S 1752/10 - juris). Diese Unterscheidung zur Festsetzung von „Baugebieten“ ist nach Ansicht der Kammer dadurch gerechtfertigt, dass es letztlich Sache des Normgebers ist, den nachbarschützenden Gehalt baurechtlicher Vorschriften zu bestimmen. Er kann diesen stets, nie oder nur in bestimmen Fällen nachbarschützenden Gehalt zuweisen. Durch den Wortlaut der Bestimmungen der Baunutzungsverordnung, die lediglich in ihren §§ 2 bis 11 Begriffe wie „nicht wesentlich stören“ verwenden, hat der Normgeber verdeutlich, dass er nur darauf gestützten Festsetzungen kraft Bundesrecht Nachbarschutz beimisst und nur insoweit ein Austauschverhältnis kraft Bundesrecht begründet wird.
69 Obgleich die Kläger in nachvollziehbarer Weise daran Anstoß nehmen, dass sich mit der Zulassung des Vorhabens der Beigeladenen die Anzahl von Wohnungen (und damit von Bewohnern und PKW) pro Grundstück in ihrer unmittelbaren Umgebung merklich erhöhen wird, müssten sie also insoweit unzumutbare Beeinträchtigungen für ihre Grundstücke geltend machen, um Abwehransprüche begründen zu können, was ihnen aber - wie ausgeführt - nicht gelingt.
70 b) Auch Ortsrecht, insbesondere der Baustaffelplan und die Ortsbausatzung der Beklagten mit ihrer Festsetzung einer „Baustaffel 9: Landhausgebiet (geschütztes Wohngebiet)“ nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. d OBS um die Grundstücke der Kläger vermag diesen hier keinen über Bundesrecht hinausgehenden Gebietserhaltungsanspruch zu vermitteln.
71 In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist weiter geklärt, dass es dem Satzungsgeber freisteht, baurechtliche Vorschriften, die nicht schon kraft Bundesrecht dem Nachbarschutz dienen, mit solchem anzureichern (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.08.2018 - 4 C 7.17 - BauR 2019, 70; Beschl. v. 19.10.1995 - 4 B 215.95 - BauR 1996, 82; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 21.07.2020 - 8 S 702/19 - juris). Ob das der Fall ist, ist durch Auslegung des Bebauungsplans im Einzelfall zu ermitteln (vgl. VGH Bad.-Württ, Urt. v. 21.07.2020, a.a.O.; OVG NRW, Beschl. v. 27.01.2014 - 2 A 1674/13 - BauR 2014, 969 juris Rn. 12). Maßgebliche Anhaltspunkte für diese Auslegung lassen sich dem Bebauungsplan selbst, seiner Begründung oder den Materialien des Planaufstellungsverfahren entnehmen.
72 Bei „altem Recht“ wie der Ortsbausatzung der Beklagten besteht allerdings die Misslichkeit, dass deren Rechtsgrundlage, die Württembergische Bauordnung von 1910, keine Begründungspflicht vorsah und damit regelmäßig weder eine Begründung noch Planaufstellungsmaterialien verfügbar sind. Daher bleibt häufig nur die Auslegung der Gesamtkonzeption des Planes, ob diese dafür spricht, dass bestimmte Festsetzungen in ein wechselseitiges Austauschverhältnis eingebunden werden sollten (so BVerwG, Urt. v. 09.08.2018 - 4 C 7.17 - BauR 2019, 70 - sog. „Wannsee-Entscheidung“). Das gilt auch für übergeleitetes Recht aus einer Zeit, in welcher das Institut des Nachbarschutzes noch nicht bekannt (BVerwG, Urt. v. 09.08.2018, a.a.O.) oder - wie hier im Falle der Ortsbausatzung der Beklagten aus der NS-Zeit - sogar sehr fernliegend war.
73 Die somit gebotene Auslegung ergibt hier, dass die Festsetzungen der Ortsbausatzung der Beklagten zum Maß der baulichen Nutzung in einem Landhausgebiet der Baustaffel 9, insbesondere zur „Flächenausnützung“ (vgl. § 3 Abs. 1 OBS: nur 10 v.H.), auch unter Zugrundelegung der Kriterien der „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts nicht dem Nachbarschutz dienen sollen. Etwas Anderes ergibt sich weder aus der Regelungsdichte dieses Gebietstyps (dazu aa) noch aus seiner Bezeichnung als „geschütztes“ Wohngebiet (dazu bb), zumal sich eine Verpflichtung zur hochwertigen Ausgestaltung der dort zulässigen Vorhaben nicht erkennen lässt (dazu cc). Die Wahrung der Maßfestsetzungen ist jedenfalls für den Erhalt der festgesetzten Art der baulichen Nutzung nicht unerlässlich (dazu dd). Fehlt es somit am nachbarschützenden Charakter dieser Festsetzungen, bedarf es keines Eingehens auf den Hilfsantrag der Kläger, da es auf die Frage von Überschreitungen der „Flächenausnützung“ auf Grundstücken in der Umgebung schon aus Rechtsgründen nicht ankommt.
74 aa) Die Kläger weisen allerdings zu Recht darauf hin, dass ein Landhausgebiet nach Baustaffel 9 der Ortsbausatzung der Beklagten eine beträchtliche Festsetzungsdichte aufweist.
75 So werden neben der bereits genannten Art der baulichen Nutzung (§ 7 OBS) und der „Flächenausnützung“ (§ 3 OBS) insbesondere weiter geregelt: Geringere Höhen von Einfriedungen (§ 21 Halbsatz 2 OBS), offene Bauweise (§ 34 Abs. 1 OBS), Anforderungen an „Gruppenbauten“ (§ 36 Abs. 3 u. 5 OBS), bestimmte Abstände der Hintergebäude (§ 40 OBS), bestimmte Gebäudetiefen (§ 43 Abs. 3 OBS), Gebäudehöhen (§ 47 Abs. 1 OBS) und Stockwerkszahlen (§ 50 Abs. 1 OBS) sowie die Erdgeschossfußbodenhöhe (§ 55 Abs. 1 OBS). Alleine diese Regelungsdichte - die im Übrigen fast jeder Baustaffel der Ortsbausatzung der Beklagten innewohnt - reicht nach Ansicht der Kammer jedoch noch nicht aus, um einen nachbarschützenden Willen des Plangebers anzunehmen. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass eine Reihe der vorstehend genannten Regelungen heute (bau-)ordnungsrechtlicher Natur sind und somit zu einer planungsrechtlichen Regelungsdichte nichts beizutragen vermögen. Soweit die Kläger der Meinung sind, jedenfalls kombiniert mit dem weiterhin auf dem Vorhabengrundstück festgesetzten „Bauverbot“ im Hintergarten werde eine ungewöhnlich hohe Regelungsdichte erzielt, ist darauf hinzuweisen, dass dieses schon nicht festgesetzt ist (vgl. dazu oben B.I.2).
76 bb) Auch aus der Verwendung des Begriffs „geschütztes Wohngebiet“ in § 1 Abs. 1 Buchst. d OBS für ein Landhausgebiet lässt sich nicht schließen, dass dessen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung Nachbarschutz entfalten sollen.
77 Das gilt schon deswegen, weil dem damaligen Plangeber einklagbare nachbarliche Rechte nicht bekannt gewesen sein dürften, ungeachtet dessen, dass er etwa in § 36 Abs. 5 OBS „das Interesse der Beteiligten“ erwähnt. Es spricht nach einem Vergleich mit den in den anderen Baustaffeln der Ortsbausatzung der Beklagten zulässigen - oder nach deren Regelungssystematik (vgl. zu dieser VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 07.11.2016 - 8 S 1294/16 - juris) vielmehr verbotenen - Arten baulicher Nutzung fast alles dafür, dass „geschützt“ insoweit vor dem Eindringen gewerblicher Anlagen geschützt bedeuten soll.
78 cc) Zwar ist den Kläger einzuräumen, dass die Umgebung um ihre Grundstücke (noch) durch nur großzügig mit meist villenartigen Gebäuden überbaute Grundstücke mit einem hohen Grünanteil geprägt ist.
79 Dieses scheint die Festsetzung der geringsten aller „Flächenausnützungen“ aller Baustaffeln von nur 10 v.H. (vgl. § 3 OBS) abzusichern und damit zu einem gehobenen Wohnen maßgeblich beizutragen. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Regelungen zum Landhausgebiet nach der Ortsbausatzung der Beklagten - anders als jene vergleichbarer Gebietstypen anderer Ortsbausatzungen im Zuständigkeitsbereich der Kammer - keine Anforderungen an hochwertige Fassadengestaltungen etc. enthält, also gerade keine hochwertige Bausubstanz fordert. Selbst wenn dies der Fall wäre, könnte wäre immer noch fraglich, ob diese Hochwertigkeit nicht alleine städtebaulich-gestalterisch motiviert war.
80 dd) Letztlich erscheint der Kammer der vorliegende Fall in einem besonders entscheidenden Detail maßgeblich vom Sachverhalt abzuweichen, welcher der „Wannsee-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde lag, und schon deswegen die Auslegung der Einbeziehung der Maßfestsetzungen in ein Austauschverhältnis auszuscheiden:
81 In damaligen Sachverhalt waren an einem Uferbereich des Wannsees als Art der baulichen Nutzung eine „Sondergebietsfläche Wassersport“ und zugleich vergleichsweise starke Beschränkungen des Maßes der baulichen Nutzung festgesetzt worden. Die Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts, das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, hatte daraus überzeugend gefolgert (vgl. Urt. v. 30.06.2017 - OVG 10 B 10.15 - BauR 2017, 2136 juris Rn. 48 ff):
82 „die Maßfestsetzungen sind hier von wesentlicher Bedeutung für den vom Plangeber konzipierten Charakter der Sondergebietsfläche „Wassersport“. Zentrales Anliegen des Bebauungsplans X-4 ist die Schaffung von Flächen für den Wassersport. Die dafür in Betracht kommenden Ufergrundstücke am Großen Wannsee wurden vom Plangeber in einem Sondergebiet zusammengefasst. Im Interesse der Grundstückseigentümer sollte dabei die Fortführung der bisher ausgeübten Wohnnutzung planungsrechtlich möglich bleiben, weshalb diese ausdrücklich zugelassen wurde und zur Vermeidung von Nutzungskonflikten die Nutzung für Anlagen des Wassersports begrenzt wurde. Der Charakter der Sondergebietsfläche als Wassersportgebiet mit Erholungsfunktion wurde durch die Planergänzungsbestimmungen gesichert. Maßgebliche Zielsetzungen waren in diesem Zusammenhang die Stärkung des Grünflächenanteils, die Gestaltung eines von Bebauung frei gehaltenen grünen Uferbereichs und die Beschränkung der baulichen Ausnutzung der Grundstücke insgesamt, wobei diese Planungsziele durch die Kombination der einzelnen Festsetzungen erreicht werden sollten. Auch die Festsetzungen zur Zahl der Vollgeschosse und der Baumasse sollten zu der spezifischen Qualität des Sondergebiets beitragen und dienten nach dem erklärten Willen des Plangebers der Bewahrung dieses Gebietscharakters, was sowohl im Erläuterungsbericht zum Bebauungsplan vom 26. Februar 1958 (S. 3) als auch bei der Abwägung der Einwendungen der Grundstückseigentümer deutlich zum Ausdruck gebracht worden ist. Die vom Bebauungsplan vorgesehene Funktion des Sondergebiets „Wassersport“ lässt sich aber nur verwirklichen, wenn alle zu diesem Gebiet gehörenden Grundstücke denselben Beschränkungen unterliegen und keines aus dem Gesamtgefüge ausbricht. Das Planungskonzept sieht daher die gleichmäßige Einbindung aller Grundstücke des Sondergebiets vor, die damit jeweils Teil dieses besonderen Gebiets mit seinen besonderen Nutzungsmöglichkeiten sind, aber auch einheitlich denselben Einschränkungen hinsichtlich der gestalterischen und baulichen Ausnutzung der Grundstücksfläche unterliegen. Die Grundstückseigentümer im Sondergebiet stehen somit in einem nachbarlichen Austauschverhältnis, nach dem sie zwar einerseits Beschränkungen u.a. hinsichtlich der baulichen Ausnutzung ihrer Grundstücke hinnehmen müssen, andererseits aber darauf vertrauen können, dass auch die übrigen Eigentümer diese Beschränkungen einhalten und den Charakter des Sondergebiets nicht gefährden. Den streitgegenständlichen Maßfestsetzungen kommt deshalb als Teil dieses Austauschverhältnisses nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gekommenen Planungskonzept nachbarschützende Wirkung zu“.
83 Im Fall der Kläger entspricht die Festsetzung der Art der baulichen Nutzung ihrer Grundstücke und deren Umgebung dagegen - wie dargelegt - jener eines Allgemeinen Wohngebiets. Dessen Zweck, das Wohnen, wird durch eine stärker verdichtete als die festgesetzte Wohnbebauung mitnichten in Frage gestellt, so dass hier die Annahme einer gewollten Einbindung der (erheblich beschränkenden) Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung in das nachbarliche Austauschverhältnis fern liegt.
II.
84 Rechtsverletzungen der Kläger gerade durch die Nachtragsbaugenehmigung lassen sich ebenso wenig erkennen.
85 Auch die Kläger räumen ein, dass die Veränderung von Innengrundrissen ihre nachbarlichen Rechte nicht verletzen kann. Dagegen betonen sie, das nahe Heranrücken der nördlichen Zugangstreppe des Vorhabens an die B.-Klinge oder gar die teilweise Überbauung dieses öffentlichen Weges durch das Treppenende verletze sie in ihren Rechten, obgleich ihre beiden Grundstücke noch nicht einmal an diesen Weg angrenzen, so dass eine Verletzung ihrer Rechte offensichtlich ausscheidet.
86 Ob die Ersetzung von drei bisher genehmigten Lichtschächten durch Lichthöfe die „Flächenausnützung“ auf dem Vorhabengrundstück weiter erhöht, wie die Kläger meinen, kann dahinstehen. Jedenfalls können die von ihnen angeführten Anrechnungsregelungen nach der Baunutzungsverordnung keine Anwendung zu finden, da diese Verordnung auf übergeleitete Festsetzungen nicht anwendbar ist (Erst-Recht-Schluss aus § 25 BauNVO 1962; vgl. dazu Schrödter, BBauG, 2. Aufl. 1669, § 173 BBauG Rn.12). Die Frage einer Anrechnung dürften vielmehr § 3 Abs. 4 Satz 4 OBS i.V.m. § 40 der Vollzugsverfügung zur Württ BauO v. 10.05.1911 (RegBl. S. 77) mit nachfolgenden Änderungen regeln. Das bedarf aber keiner Nachprüfung, da die betroffene Festsetzung zur „Flächenausnützung“ - wie unter B.I.4 dargelegt - ohnehin keine nachbarschützende Wirkung entfaltet. Nichts Anderes kann daher auch für die Frage der Anrechnung gepflasterter Wegfläche gelten.
87 Zwar könnte die Anlage von Stellplätzen im bislang begrünten und beruhigten Blockinneren auf Grund der damit einhergehenden Lärmbelastung unter Umständen gegenüber den Klägern 1 und 2 rücksichtslos sein (vgl. den in § 37 Abs. 8 Satz 2 LBO enthaltenen Rechtsgedanken). Dies bedarf jedoch ebenfalls keiner Entscheidung, da die Anlage von Stellplätzen auf diesen Flächen nicht Inhalt der angefochtenen Genehmigungen ist und die Beigeladene in der mündlichen Verhandlung zudem ausgeführt hat, dass sie eine dahingehende Nutzungsweise ihrer Mieter nicht dulden werde. Die Pflasterung diene nur der Ermöglichung einer An- und Abfahrt durch das den Garten pflegende Unternehmen.
C.
88 Da die Kläger unterliegen, haben sie nach § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO u. § 100 Abs. 1 ZPO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Hierzu zählen auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, da diese einen Antrag gestellt hat und damit ein Kostenrisiko eingegangen ist (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO und dazu VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.01.2011 - 8 S 2567/10 - juris).
89 Gründe, die eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht ermöglichen (§ 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 VwGO), sind nicht erkennbar.
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Tenor
Das Verfahren auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 5.8.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Köln wird eingestellt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
1Gründe
2Nachdem der Kläger den Antrag auf Zulassung der Berufung zurückgenommen hat, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung der §§ 87 a Abs. 1 und 3, 92 Abs. 3, 125 Abs. 1 Satz 1, 126 Abs. 3 Satz 2 VwGO einzustellen.
3Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO und § 83 b AsylG.
4Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Der angefochtene Beschluss wird geändert.
Den Antragstellern wird für das erstinstanzliche Eilverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T. aus E. beigeordnet. Die Antragsteller haben aus ihrem Einkommen 48 monatliche Raten in Höhe von 17,00 Euro zu zahlen.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Beschwerde durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).
3Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragsteller auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Eilverfahren zu Unrecht abgelehnt.
4Die Antragsteller erfüllen die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Sie können die Kosten der Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nur in Raten aufbringen. Der erstinstanzlich gestellte Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, die Tochter B. der Antragsteller zum Schuljahr 2020/2021 vorläufig in die Klasse 5 der I. -Gesamtschule N. aufzunehmen, bot zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife auch die von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorausgesetzte hinreichende Aussicht auf Erfolg, ohne mutwillig zu erscheinen.
5Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung eines Prozesskostenhilfeantrags ist der Zeitpunkt seiner Bewilligungsreife.
6Vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2020 ‑ 2 BvR 2151/17 ‑, juris, Rn. 15, 20; BVerwG, Beschluss vom 12. September 2007 - 10 C 39.07 ‑, Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 42, juris, Rn. 1; OVG NRW, Beschlüsse vom 12. August 2020 - 19 B 1181/20 ‑, juris, Rn. 1 f., vom 2. Juni 2020 - 19 A 2171/19.A ‑, juris, Rn. 2 ff. jeweils m. w. N. auch zur Erheblichkeit eines späteren Zeitpunkts für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung, und vom 17. März 2010 ‑ 5 E 1700/09 ‑, NVwZ-RR 2010, 742, juris, Rn. 3.
7Bei der Beantragung von Prozesskostenhilfe für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist nicht auf die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage abzustellen, sondern auf die Erfolgsaussichten des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.
8Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. März 2010, a. a. O. Rn. 17 f.
9Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffes einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance indes nur eine entfernte ist. Soweit Tatsachen im Streit stehen und Ermittlungen erforderlich sind, ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Zugleich dürfen schwierige oder ungeklärte Rechtsfragen nicht schon im Verfahren der Bewilligung von Prozesskostenhilfe „durchentschieden“ werden, weil das Prozesskostenhilfeverfahren den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern erst zugänglich machen soll.
10BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 22. August 2018 ‑ 2 BvR 2647/17 ‑, NVwZ-RR 2018, 873, juris, Rn. 14, vom 4. August 2016 ‑ 1 BvR 380/16 ‑, juris, Rn. 12, und vom 30. April 2007 ‑ 1 BvR 1323/05 ‑, NVwZ-RR 2007, 569, juris, Rn. 23.
11Daran gemessen steht den Antragstellern die begehrte Prozesskostenhilfe zu. Die erstinstanzliche Rechtsverfolgung bot im Zeitpunkt der Bewilligungsreife nach den Maßstäben des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens hinreichende Aussicht auf Erfolg.
12Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die besonderen Voraussetzungen für eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine bereits abgeschlossene Instanz lägen nicht vor. Die Antragsteller hätten zwar alles für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe Erforderliche bereits mit der Einreichung ihres Gesuches getan, jedoch sei eine rückwirkende Bewilligung aus Billigkeitsgründen nicht geboten. Bereits zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Antragstellung hätten hinreichende Erfolgsaussichten des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens nicht bestanden, da die Auswahlentscheidung der Schulleiterin rechtmäßig gewesen sei, wie sich aus dem Beschwerdebeschluss des Senats vom 12. August 2020 (19 B 1181/20, juris) ergebe. Auch bei einer früheren Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag hätte das Gericht dem Antrag auf der Grundlage der als ausreichend erachteten Unterlagen nicht entsprochen.
13Diese Auffassung trifft nicht zu. Der Eilantrag hatte hinreichende Erfolgsaussicht bis zum 11. August 2020, dem Tag des Eingangs der Anmeldedatei der I. -Gesamtschule N. durch die Bezirksregierung beim Senat. Der Senat hat bereits in seinem Beschluss vom 12. August 2020 über die gegen die Versagung erstinstanzlichen Eilrechtsschutzes eingelegte Beschwerde ausgeführt, dass ein Erfolg der Beschwerde im Zeitpunkt der Entscheidungsreife über den (zweitinstanzlichen) Prozesskostenhilfeantrag überwiegend wahrscheinlich war. Die Erfolglosigkeit der Eilbeschwerde ergab sich erst auf der Grundlage der im Beschwerdeverfahren erfolgten Vorlage der Anmeldedatei der I. -Gesamtschule N. durch die Bezirksregierung und damit nach dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (19 B 1181/20, juris, Rn. 3). Vor diesem Hintergrund bestand zuvor hinreichende Erfolgsaussicht auch des erstinstanzlichen Eilantrags und ist nicht nachvollziehbar, dass das Verwaltungsgericht in Kenntnis dieser keinen Auslegungsspielraum zulassenden Bewertung des Senats ausgeführt hat, „auch bei einer früheren Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag hätte das Gericht dem Antrag auf der Grundlage der als ausreichend erachteten Unterlagen nicht entsprochen“. Der Senat hat ausdrücklich festgestellt, dass die Bewertung des Verwaltungsgerichts auf der Grundlage der ihm damals vorliegenden Unterlagen nicht belastbar war. Die Unterlagen waren gerade nicht ausreichend (19 B 1181/20, juris, Rn. 9).
14Die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten erfolgt nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 121 Abs. 2 ZPO.
15Die Kostenentscheidung beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
16Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tatbestand
1
Die Kläger sind kolumbianische Staatsangehörige und lebten vor ihrer Ausreise zuletzt in Pereira. Der Kläger zu 3. (im Folgenden: der Kläger) ist der Lebensgefährte der Klägerin zu 1. (im Folgenden: die Klägerin) und der Vater der Klägerin zu 2. Am 04. März 2018 reisten die Kläger aus ihrer Heimat aus und am 05. März 2018 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellten Sie am 27. März 2018 Asylanträge, zu deren Gründen sie am 26. April bzw. 04. Mai 2018 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angehört worden sind. Bei der Anhörung gab der Kläger im Wesentlichen an, er sei Mitglied einer Bande mit den Namen I. gewesen. Wegen der hier begangenen Straftaten sei er zu einer Haftstrafe von 54 Monaten verurteilt worden. Er sei 2 Jahre und 9 Monate im Gefängnis gewesen. An anderer Stelle äußert der Kläger, er sei nach 39 Monaten entlassen worden. Für die Haftentlassung gab er den Zeitraum Juni 2017 an. Kurz nach seiner Inhaftierung sei er im Gefängnis mit dem Chef einer Bande verwechselt worden. Der Name dieses Chefs sei J. gewesen. Bei der Bande habe es sich ebenfalls um die I. s gehandelt. Er sei bedroht worden. Im Gefängnis habe er sich entschlossen, nicht mehr als Bandenmitglied aktiv zu werden. Dies hätten die Mitglieder der I. s gespürt und sie hätten den Druck auf ihn und seine Familie erhöht. Nachdem seine Frau ihn eines Tages besucht hätte, sei diese von einem Mithäftling aufgefordert worden, bei ihrem nächsten Besuch Drogen in das Gefängnis zu schmuggeln. Dies hätten sie gemeinsam abgelehnt. Auch seine Familie habe Probleme mit den Nachbarn bekommen, die der I. -Bande angehört hätten.Die Klägerin gab im Wesentlichen an, hauptsächlich deshalb ausgereist zu sein, weil ihr Mann Probleme gehabt habe. Sie habe während der Haft ihres Mannes ständig Probleme mit den Nachbarn und der I. -Bande gehabt. Der Häftling, der sie erfolglos aufgefordert habe, Drogen in das Gefängnis zu schmuggeln, habe ihnen und ihrer Familie gedroht. Ihr Mann habe einen Antrag auf Unterschutzstellung gestellt. Das Ergebnis dieses Verfahrens habe man jedoch nicht abgewartet und sei ausgereist, weil man Schlimmeres befürchtet habe.
2
Mit zwei Bescheiden vom 03. Juli 2018 lehnte es die Beklagte ab, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen oder sie als Asylberechtigte anzuerkennen. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG - nicht vorliegen und forderte die Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss ihres Asylverfahrens zu verlassen, wobei sie für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung nach Kolumbien androhte. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristet sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung gab die Beklagte im Wesentlichen an, die geschilderten Verfolgungshandlungen hätten das Maß der Asylerheblichkeit nicht überschritten. Die geschilderten Handlungen knüpften zudem nicht an ein asylerhebliches Merkmal an. Ferner sei der Staat gegen kriminelle Umtriebe schutzwillig und –fähig. Dass die Kläger den Ausgang des bei der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Verfahrens auf Unter-Schutz-Stellung nicht hätten abwarten wollen, bedeute nichts Anderes.
3
Hiergegen haben die Kläger am 25. Juli 2018 jeweils Klage erhoben.
4
Zu deren Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, die Beklagte verkenne die Intensität der Verfolgung insbesondere des Klägers infolge dessen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, nämlich den I.. Er sei im Gefängnis sowohl von Gefängnispersonal wie auch von Mithäftlingen schwer misshandelt worden. Die Klägerin zu 1. sei gedrängt worden, bei ihren Besuchen Drogen zu schmuggeln. Nachdem sie dies abgelehnt habe, habe sie ihren Mann nicht mehr besuchen können. Nach seiner Haftentlassung habe der Kläger zu 3. nichts mehr mit der Bande zu tun haben wollen. Infolge dessen sei er bedroht worden. Er gehöre der sozialen Gruppe der „Gangmitglieder“ an. Durch das Friedensabkommen zwischen der Regierung und der Farc habe sich die Situation nicht verbessert. Andere Banden hätten das Machtvakuum besetzt. Die Bande des Klägers zu 3. arbeite mit der Farc zusammen. Eine inländische Fluchtalternative gebe es für die Kläger nicht, da sowohl die I. als auch die Farc im ganzen Land vernetzt und aktiv seien.
5
Die Kläger beantragen,
6
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihrer Bescheide vom 03.Juli 2018 die Kläger betreffend zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise,
7
ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
8
weiter hilfsweise,
9
festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
10
Die Beklagte beantragt, dem klägerischen Vorbringen in der Sache entgegentretend,
11
die Klagen abzuweisen.
12
Die Kläger sind in mündlicher Verhandlung informatorisch zu ihren Asylgründen angehört worden. Wegen der Einzelheiten ihrer Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
13
Die Kläger haben in mündlicher Verhandlung den Antrag gestellt,
14
zum Beweis der Tatsache, dass die Gruppe I. s in Pereira und landesweit in Kolumbien mit anderen Guerilla-Gruppen zusammenarbeitet und der Kläger, weil er nicht mehr für die I. s arbeiten will, für den Fall seiner Rückkehr mit überwiegender Wahrscheinlichkeit begründete Furcht vor Verfolgung zu befürchten hat,
15
eine Auskunft von
16
1. amnesty international
17
2. der Gesellschaft für bedrohte Völker und
18
3. der Schweizerischen Flüchtlingshilfe einzuholen.
19
Das Gericht hat diesen Antrag in mündlicher Verhandlung abgelehnt.
20
Die Verfahren 3 A 304/18 und 3 A 305/18 sind durch Beschluss in der mündlichen Verhandlung zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden; dabei führt das Verfahren 3 A 304/18.
21
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten der Stadt A-Stadt Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso der mündlichen Verhandlung gewesen wie die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste ersichtlichen Erkenntnismittel.
Entscheidungsgründe
22
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Bescheide der Beklagten vom 03. Juli 2018 sind rechtmäßig und die Kläger haben die von ihnen geltend gemachten Ansprüche nicht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
23
Ihnen ist weder die Flüchtlingseigenschaft noch der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen.
24
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
25
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
26
Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
27
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
28
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden Gesichtspunkte. Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – Qualifikationsrichtlinie – (ABl. L 337/9) ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5/09, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
29
Es obliegt bei alledem dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.02.1988 – 9 C 32/87; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90, jeweils zitiert nach juris). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts findet dabei die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen des Klägers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Lässt der Kläger es an der Schilderung eines zusammenhängenden und in sich stimmigen, im wesentlichen widerspruchsfreien Sachverhalts mit Angabe genauer Einzelheiten aus seinem persönlichen Lebensbereich fehlen, so bietet das Klagevorbringen seinem tatsächlichen Inhalt nach keinen Anlass, einer daraus hergeleiteten Verfolgungsgefahr näher nachzugehen (BVerwG, Beschl. v. 26.10.1989 – 9 B 405/89, juris Rn. 8). Es ist auch von Verfassungs wegen unbedenklich, wenn ein in wesentlichen Punkten unzutreffendes oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchliches Vorbringen ohne weitere Nachfragen des Gerichts unbeachtet bleibt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90, juris Rn. 14 ff.). Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 – 9 C 109.84, zitiert nach juris).
30
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
31
Gemessen an diesen Vorgaben, steht den Klägern ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht zur Seite. Zur Begründung nimmt der Einzelrichter zunächst gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten in deren angefochtenen Bescheiden vom 03. Juli 2018 und stellt fest, dass er diesen Ausführungen folgt.
32
Ergänzend ist auszuführen:
33
Soweit sich der Kläger auf eine Gefährdung beruft, die durch seine Ähnlichkeit mit einem berüchtigten Bandenanführer Namens J. hervorgerufen ist, vermag dies die eingeklagten Rechtsansprüche schon deshalb nicht zu begründen, weil diese Verfolgung nicht an ein unveräußerliches Merkmal des Klägers anknüpft. Nicht er soll durch die behaupteten Handlungen im Zusammenhang mit der Verwechslung getroffen werden, sondern der J.. Die Verwechslungsgefahr entspringt damit einem allgemeinen Lebensrisiko und ist unter dem Gesichtspunkt des Flüchtlingsschutzes rechtsunerheblich.
34
Im Übrigen ist es im Zusammenhang mit dieser Verwechselung nicht fluchtauslösend kausal zu Übergriffen gegen den Kläger gekommen. Allenfalls zu Beginn seiner Inhaftierung Ende 2014 ist der Kläger eigenen Aussagen nach von Mithäftlingen misshandelt worden. Nachdem es ihm nach 3 – 4 Monaten gelungen war, das Missverständnis aufzuklären, ist es im Gefängnis zu keinerlei weiteren Übergriffen gegen den Kläger im Zusammenhang mit der Verwechslung mehr gekommen. Etwaige, vom Kläger geschilderte Einschüchterungsversuche, sind nicht asylerheblich, weil sie das hierfür gemäß § 3 a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG erforderliche Maß an Intensität nicht überschreiten. Auch, soweit der Kläger sich auf einen Vorfall auf dem Weg nach Hause von der Arbeit im Februar 2018 beruft, liegt eine Verfolgungshandlung nicht vor. Obwohl nach den Schilderungen des Klägers, ihre Wahrheit unterstellt, die Möglichkeit gegeben gewesen wäre, dass der im Dunkeln wartende Mann auf den Kläger, den er für J. gehalten hat, hätte schießen können, kam es zu einem derartigen Übergriff nicht. Blieb es demnach allein bei dem nächtlichen Anruf mit dem Namen „J.“, liegt hierin eine asylerhebliche Verfolgungshandlung nicht.
35
Im Weiteren hegt das Gericht Zweifel am Wahrheitsgehalt der klägerischen Aussagen. Wesentliche Teile des Verfolgungsgeschehens haben während der angeblichen Inhaftierung des Klägers in der Haftanstalt und im privaten Umfeld der Klägerin stattgefunden. Man könnte deshalb erwarten, dass die Kläger alles, was mit der Haft zu tun hat zeitlich genau und zutreffend einordnen können. Dies ist indes nicht der Fall. So sah sich der Kläger nicht in der Lage anzugeben, ob er nun für 54 Monate oder lediglich für 39 Monate zu Haft verurteilt worden ist. Die Reduzierung soll auf seinem Geständnis beruht haben, was eine Verurteilung zu 39 Monaten plausibel gemacht hätte. Woher der Kläger dann jedoch die mehrfach angegebenen 54 Monate Haft nimmt, bleibt ungeklärt. Sehr vage und in der zeitlichen Angabe auch widersprüchlich ist die zeitliche Einordnung des vermeidlichen Anwerbeversuchs der Klägerin während eines Besuches bei ihrem Lebensgefährten im Gefängnis, bei dem sie von einem Mithäftling zum Drogenschmuggel aufgefordert worden sein will. Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 04. Mai 2018 gab die Kläger insoweit an, dass es zu dieser Ansprache ca. 2 Jahre nach Haftbeginn bekommen sei. Demgegenüber hat der Kläger bei seiner Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung angegeben, dieser Anwerbeversuch habe so etwa 1 Jahr nach Haftbeginn stattgefunden. Erst nachdem seine Prozessbevollmächtigte ihn in einer Verhandlungspause auf diesen Widerspruch hingewiesen hat, gab der Kläger auf Nachfrage an, dass sich die Angabe eines Jahres nicht auf den Haftbeginn, sondern auf die Beruhigung der Situation nach den Übergriffen wegen der vermeintlichen Verwechslung bezogen habe und somit ca. 1 ½ Jahre nach Haftbeginn gemeint seien. Selbst die korrigierten Angaben stimmen nicht mit denjenigen der Klägerin bei ihrer Anhörung überein. Dies nimmt vor allem deshalb wunder, weil die Kläger übereinstimmend ihre Weigerung, diese Drogen zu schmuggeln als Ausdruck ihrer Abkehr von der kriminellen Bande der I. verstanden wissen wollten, mit der sämtliche Probleme sowohl für den Kläger während der Haft als auch für die Klägerinnen im privaten Umfeld zusammen gehangen haben. Schließlich geht es auch nicht um die Abweichung um einige wenige Tage im Datum, sondern um eine erhebliche, etwa ½ Jahr umfassende Differenz. Übertrieben, möglicherweise mit dem Ziel, das Schicksal der Kläger beeindruckender erscheinen zu lassen, ist schließlich der klagebegründende Vortrag, die Klägerin habe ihren Lebensgefährten nach der Aufforderung, Drogen zu schmuggeln nicht mehr im Gefängnis besucht. In der mündlichen Verhandlung hat sich demgegenüber herausgestellt, dass die Klägerin ihren Lebensgefährten nach dessen Verlegung in einen anderen Gefängnistrakt sehr wohl wieder in der Haft besucht hat.Andererseits hat der Kläger beim Bundesamt diverse Unterlagen nebst Übersetzung vorgelegt, aus denen sich gewichtige Anhaltspunkte für eine Inhaftierung des Klägers ergeben. Da offensichtliche Fälschungsmerkmale dieser Urkunden nicht zu erkennen sind, vermögen sie das von den Klägern geschilderte Verfolgungsgeschehen zu unterstützen. Das Gericht geht deshalb im Folgenden zugunsten der Kläger davon aus, dass die von ihnen geschilderten Verfolgungsereignisse so stattgefunden haben.
36
Gleichwohl bleibt der Klage aus Rechtsgründen der Erfolg versagt.
37
Zunächst fehlt es bereits an einer Verfolgungshandlung i. S. v. § 3 a Abs. 1 AsylG. Danach gelten als Verfolgung i. S. des § 3 Abs. 1 Handlungen, die
38
1. aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist oder
39
2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
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Solchen Handlungen waren die Kläger vor ihrer Ausreise zu keinem Zeitpunkt ausgesetzt. So hat der Kläger bei seiner Anhörung am 26. April 2018 angegeben, seine ehemalige Bande habe gespürt, dass er nicht mehr habe mitmachen wollen und sie hätten den Druck auf ihn erhöht. In welcher Form dies geschehen ist, sagt der Kläger nicht. Die Klägerin gab bei ihrer Anhörung am 04. Mai 2018 an, sie sei von dem Mithäftling ihres Mannes, der sie zum Drogenschmuggel habe überreden wollen, bedroht worden und auch ihre Familie sei bedroht worden. Auch durch die Befragung im Rahmen der mündlichen Verhandlung sind Verfolgungshandlungen i. S. v. § 3 a Abs. 1 AsylG nicht zutage getreten. Die Kläger haben übereinstimmend angegeben, zu tätlichen Übergriffen gegen sie sei es nicht gekommen. Sie seien jedoch sinngemäß mit dem Tode bedroht worden, würde der Kläger nicht zu der Bande zurückkehren. Im Übrigen sei es zu Schikanen der Nachbarn gegen sie gekommen wie etwa nächtliches Türbollern oder lautes Musik andrehen, so dass die Familie keine Ruhe mehr habe finden können. Zwar vermag eine Bedrohung mit dem Tode eine Verfolgungshandlung i. S. v. § 3 a Abs. 1 AsylG darzustellen, indes ist das Gericht überzeugt davon, dass dieser Drohung über ihre Worte hinaus keinerlei Bedeutung zuzumessen ist. Denn der Kläger hat bei seiner Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung angegeben, etwa ein halbes Jahr nach Haftbeginn, also Mitte 2015, entschieden zu haben, nicht mehr Mitglied der I. -Bande sein zu wollen. Er habe dies u. a. dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er sich z. B. bei den Mahlzeiten von den Mitgliedern dieser Bande, die ebenfalls mit ihm inhaftiert waren, getrennt gesetzt habe. Seit Mitte 2015 dürfte daher der Bande bekannt gewesen sein, dass der Kläger abtrünnig geworden ist. Gleichwohl hat sie weder im Gefängnis noch im privaten Umfeld der Klägerinnen irgendetwas konkret unternommen, um den Kläger wieder in die Struktur der Bande zu zwingen. Insbesondere auch nach der Haftentlassung des Klägers im Juni 2017 ist von den Klägern nichts zu Übergriffen geschildert worden, die über bloße Worte hinausgehen. Das Gericht geht deshalb nicht davon aus, dass die Kläger asylerheblichen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sind.
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Selbständig die Entscheidung tragend kommt hinzu, dass die geschilderten Verfolgungshandlungen nicht an einen asylerheblichen Verfolgungsgrund anknüpfen. Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, dass sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung u. a. wegen seiner politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
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Gemäß § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
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a. die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
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b. die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
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Mitglied einer solchen sozialen Gruppe wird der Kläger nicht dadurch, dass er seine Mitgliedschaft in der kriminellen Bande I. aufgegeben hat. Diese „bestimmte“ soziale Gruppe muss als solche innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft bestimmbar sein und eine fest umrissene Identität aufweisen. Es ist zu ermitteln, ob die Gruppe aufgrund ihres internen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft deutlich abgegrenzt ist. Dieser Ansatz wird als externer bezeichnet, weil es auf die Sichtweise der Gesellschaft ankommt, ob bestimmte Merkmale einer Gruppe zugeschrieben werden und sich diese aufgrund dieser Zuschreibung von der Gesellschaft insgesamt unterscheidet. Es kommt danach darauf an, ob eine Gruppe durch die übrige Gesellschaft als eine abgegrenzte Gruppe aufgrund bestimmter, diese gemeinsam prägenden Charakteristika, Eigenschaften, Aktivitäten, Überzeugungen, Interessen oder Zielvorstellungen wahrgenommen wird. Ob ein Merkmal oder eine Glaubensüberzeugung fundamental für die Identität oder das Gewissen ist, ist abhängig davon, wie die Gruppe durch die sie umgebende Gesellschaft wahrgenommen wird (Marx, AsylG, 10. Auflage, § 3 b Rn. 21; VG G-Stadt, Urteil vom 11.12.2019 – 6 A 4815/17 -, Juris, Rn. 28 ff.). Die Kammer folgt nicht der Rechtsauffassung von Rauch und Lührs (ZAR 2020, 98, 102) wonach Personen, die unerlaubt aus einer Bande ausgetreten sind, eine bestimmt soziale Gruppe darstellen. Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass der Kläger als Aussteiger aus der Bande I. für seine Umwelt keine abgrenzbare Identität aufweist. Er ist für seine Umwelt weder als Aussteiger aus einer Bande identifizierbar noch war er als Mitglied einer Bande identifizierbar. Vielmehr erscheint er seiner Umwelt nach wie vor als junger arbeitsfähiger Mann, der sich nach seinem Ausstieg aus der Bande, wie die Masse der Bevölkerung an die Gesetze hält, aber keiner besonderen Gruppe angehört. Selbst wenn man dies mit dem UNHCR (Guidance Note On Refugee Claims Relating To Victims Of Organized Gangs, März 2010) für den Fall anders sehen wollte, dass zuvor eine Zwangsrekrutierung zu einer solchen Bande stattgefunden hat (a.a.O. Rn. 38 ff.), würde dies dem Begehren der Kläger nicht zum Erfolg verhelfen. Denn der Kläger ist seinerzeit aus freien Stücken Mitglied der Bande geworden und auch nach Ansicht des UNHCR kann für diesen Personenkreis nicht angenommen werden, dass er nach Ausstieg aus der Bande zu einer bestimmten sozialen Gruppe gehört (UNHCR a. a. O. Rn. 43 f.). Festzuhalten bleibt, dass jemand, der freiwillig Straftaten begeht und sich dann entschließt, sich künftig an die Gesetze zu halten nicht als jemand identifizierbar ist, der einer bestimmten sozialen Gruppe angehört. Dieser Sichtweise halten Rauch und Lührs zu Unrecht entgegen, eine solche Einschränkung würde die Regelung des § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG umgehen, der die Flüchtlingseigenschaft nicht schon wegen der bloßen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ausschließe. Denn § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG sperrt den Anwendungsbereich des Flüchtlingsschutzes per se, die vom UNHCR gefundene Lösung stellt demgegenüber eine Auslegung des Begriffs der sozialen Gruppe i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3 b Abs. 1 Nr. 4 a AsylG dar. Das eine hat mit dem anderen rechtlich nichts zu tun.
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Als Verfolgungsgrund scheidet auch die politische Überzeugung nach § 3 b Abs. 1 Nr. 5 AsylG aus. Die Entscheidung, sich an Recht und Gesetz halten zu wollen, ist keine politische, sondern eine für das gedeihliche gesellschaftliche Zusammenleben unabdingbare, allem Politischen quasi Vorgelagerte. Andernfalls wäre jede menschliche Handlung oder Lebensäußerung eine politische; dies würde den Inhalt des Begriffs der politischen Überzeugung sinnentleeren.
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Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wie des subsidiären Schutzstatus scheitert weiter, selbständig tragend daran, dass die von den Klägern geschilderte Verfolgung von nicht staatlichen Akteuren ausgeht, das Gericht aber davon überzeugt ist, dass der kolumbianische Staat in der Lage und willens ist, i. S. d. § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Gemäß § 3 d Abs. 2 AsylG muss der Schutz vor Verfolgung wirksam sein und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gemäß Satz 2 der Vorschrift gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Einen vollständigen Schutz vor jeglichen kriminellen Übergriffen vermag kein Staat zu bieten. Verlangt wird durch die genannten Vorschriften, dass der Staat die Verfolgungsgefahr durch effektiven Schutz minimiert. Selbst wenn es nicht ausreichen sollte, dass die zuständigen Behörden ihr Bestes tun, wenn der Ausländer darlegen kann, dass das Beste ineffektiv ist und er glaubhaft gemacht hat, dass der Staat zur erforderlichen Schutzgewährung nicht fähig ist (vgl. in diesem Sinne Marx, a. a. O. § 3 d Rn. 33), kann hier von einer solchen Gefahr nicht ausgegangen werden.
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Unbestritten ist, dass der kolumbianische Staat über entsprechende Schutzgesetze gegen Übergriffe Dritter verfügt. Ebenso unbestritten und durch die Erkenntnislage belegt ist, dass der kolumbianische Staat in Gebieten, in denen es nach dem Rückzug der Farc-Rebellen infolge des Friedensabkommens 2016 zu Territorial- und Streitereien um Drogen und Rohstoffe gekommen ist, kaum effektive Präsenz auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zeigt. Er ist in den Bereichen der Strafverfolgung in diesen Gebieten quasi nicht existent (vgl. USDOS, Trafficking in Persons Report vom 25.06.2020, S. 1 f.; USDOS, Colombia 2019 Human Rights Report, S. 18; OHCR, Situation of human rights in Colombia, vom 08.05.2020 S. 3; BFA, Länderbericht Kolumbien vom 25.10.2018. S. 7, 11). Indes gehört die Heimatregion der Kläger, die etwa 200 km westlich von Bogota liegt, nicht zu den Gebieten, in denen bewaffnete organisierte Gruppen um Einfluss ringen und Übergriffe auf die dortige Bevölkerung stattfinden. Die mit knapp 500.000 Einwohnern als Großstadt zu bezeichnende Stadt Pareira liegt in der Provinz Risaralda (https://de.wikipedia.org/wiki/Pereira_(Kolumbien)). Die umkämpften und von der staatlichen Gewalt nicht effektiv geschützten Gebiete, sind ländliche und grenznahe Urwaldgebiete in den Provinzen Catatumba, Bajo Cauca, Sur de Cordoba, Choco, Norte de Cauca, Tumaco und Norte Santander (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik, Kolumbien auf dem Weg zum Minimalfrieden vom August 2019 mit Karte). Erkenntnisse darüber, dass der kolumbianische Staat außerhalb der umkämpften Gebiete nicht sein staatliches Gewaltmonopol durchsetzt, hat das Gericht nicht. Keine der aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Lise ersichtlichen Erkenntnismittel berichtet über Derartiges
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So haben auch die Kläger immerhin versucht, schon im Januar 2017 unter staatlichen Schutz gestellt zu werden. Sie haben darüber hinaus auch geschildert, dass sie, wenn die Übergriffe der Nachbarn zu arg geworden seien, die Polizei gerufen hätten, die auch gekommen sei. Die Kläger haben damit nicht glaubhaft machen können, dass der ihnen gewährte staatliche Schutz ineffektiv und nicht ausreichend ist. Schließlich zeigt auch die Inhaftierung und Verurteilung des Klägers wegen der als Bandenmitglied begangenen Straftaten, dass die Strafverfolgung in Pereira effektiv funktioniert.
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Schließlich, und wiederum selbständig die Entscheidung tragend, steht den Klägern interner Schutz i. S. v. § 3 e Abs. 1 AsylG zur Seite.
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Gemäß § 3 e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er
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1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
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2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Ein solcher interner Schutz steht den Klägern zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls in den kolumbianischen Großstädten zur Verfügung, die nicht dem Einflussbereich der I. -Bande oder den zwischen der Guerilla und der Regierung umstrittenen Gebieten Kolumbiens gehören. Sämtliche dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel berichten von gezielten Übergriffen von Banden und Guerilleros auf die Zivilbevölkerung lediglich in den nach Rückzug der Farc-Rebellen umkämpften Regionen Kolumbiens. Hierzu gehört insbesondere die Hauptstadt Bogota nicht. Deshalb geht das Gericht davon aus, dass den Klägern etwa in Bogota, aber auch in jeder anderen kolumbianischen Großstadt, die nicht wie Pereira, Cali und Manizalis zum Einflussbereich der I. -Bande gehören, eine Wohnsitznahme möglich und zumutbar ist. Auf jeden Fall finden die Kläger hier effektiven Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 d AsylG (ebenso VG Braunschweig, Urteil vom 09.07.2019 -3 A 187/19-). Ob etwas anderes gilt, wenn der Ausländer zum herausgehobenen Führungskreis einer Bande zählt, der auch überregional Bekanntheit genießt, kann das Gericht offen lassen. Denn der Kläger zählt nicht zu diesem Personenkreis. Auf die Frage, welche Interna der I. -Bande er denn preisgeben könne, hat der Kläger lediglich lapidare Banalitäten genannt. Zudem wäre zu erwarten gewesen, dass es die Bande dann nicht bei Worten gegen die Kläger belassen hätte, als der Kläger sich entschlossen hatte, nicht mehr mit der Bande zusammen zu arbeiten.
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Den Klägern ist es schließlich auch zuzumuten sich in diesen Großstädten in Sicherheit zu bringen. Zwar befinden sich in Kolumbien neben etwa 1 Millionen Binnenvertriebenen und 500.000 kolumbianischen Rückkehrern noch weitere etwa 2 Millionen venezuelische Flüchtlinge (USDOS, 2019 Human Rights Report, S. 18 f.; KAS, Länderbericht vom 11.06.2020, S. 1 f.). Das Gericht hat jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass arbeitsfähige junge Männer und Frauen, wie die Kläger, in Kolumbien nicht in der Lage wären, sich durch eigene Arbeit, ggf. durch Unterstützung der in Kolumbien vielfältig vorhandenen Flüchtlingsunterstützungsorganisationen, eine existenzielle Lebensgrundlage zu schaffen. So ging die Armutsquote Kolumbiens in den letzten Jahren deutlich zurück. Die offizielle Arbeitslosenquote lag 2017 bei 9,38 %. Fast die Hälfte der Beschäftigten sind im informellen Sektor tätig. In Städten ist das medizinische Versorgungsangebot mit dem in Europa vergleichbar (BFA, Länderbericht Kolumbien, S. 24 f.; ähnlich Bertelsmann Stiftung –BTI- 2020 Country Report Colombia, S. 17)). Ferner hat der kolumbianische Staat ein weites soziales Netz gespannt, das kostenfreie medizinische Versorgung für arme und benachteiligte Menschen ebenso umfasst wie Absicherung im Fall der Arbeitslosigkeit, wenngleich dies nicht für die im informellen Sektor arbeitenden Personen gilt (BTI, a.a.O., S. 23 f.)
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Der in der mündlichen Verhandlung von den Klägern gestellte Beweisantrag war abzulehnen. Zum einen deshalb, weil er sich ausschließlich auf die Frage des internen Schutzes nach § 3 e AsylG bezieht, das Klagebegehren der Kläger aber bereits auch schon an § 3 a Abs. 1 und § 3 c Nr. 3 i. V. m. § 3 d Abs. 1 AsylG scheitert. Zum anderen war der Beweisantrag deshalb abzulehnen, weil mit ihm eine Beweisaufnahme ins Blaue hinein beabsichtigt ist. Sämtliche, dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel erwähnen an keiner Stelle asylrelevante gezielte Übergriffe krimineller Banden und/oder Rebellengruppen auf Privatpersonen in Großstädten. Dem Beweisantrag liegt damit eine durch keine Tatsachen erhärtete Behauptung zugrunde, weshalb er abzulehnen war.
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Die Zuerkennung subsidiären Schutzes scheitert gemäß § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. §§ 3 d und 3 e AsylG aus den zuvor genannten Gründen.
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Schließlich vermögen sich die Kläger nicht auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG zu berufen. Insoweit wird zunächst erneut auf die überzeugenden Gründe aus den Bescheiden der Beklagten vom 03. Juli 2018, denen das Gericht folgt, umfassend Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend gilt auch hier, dass etwaige Verfolgungshandlungen gegen die Kläger infolge des Verlassens einer kriminellen Bande durch die Kläger dadurch begegnet werden kann, dass sie sich in eine andere kolumbianische (Groß-)Stadt begeben, so dass die Bedrohung nicht, wie erforderlich, landesweit vorhanden ist.
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Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Die Ausreisefrist von 30 Tagen entspricht der gesetzlichen Regelung in § 59 Abs. 1 S. 1 AufenthG.
60
Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gem. § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Die Ermessenerwägungen des Bundesamtes sind im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 S. 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden.
61
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
62
Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83 b AsylG.
63
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbar stützt sich auf § 167 VwGO i. V. m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1G r ü n d e:
2Der Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 3a K 1819/20.A gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Mai 2020 anzuordnen,
4hat keinen Erfolg.
5Der Antrag richtet sich zum einen auf die Regelung der Vollziehbarkeit der in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Mai 2020 enthaltenen Anordnung der Abschiebung des Antragstellers nach Schweden. Zum anderen erstrebt der Antragsteller mangels hinreichender Anhaltspunkte für eine Beschränkung des Antragsziels bei sachgerechtem Verständnis die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen das in Ziffer 4 des in der Hauptsache angefochtenen Bescheides enthaltene Einreise- und Aufenthaltsverbot.
6Der so ausgelegte Antrag ist zulässig.
7Er ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO insgesamt statthaft. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf Grundlage von § 11 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 des durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) geänderten Fassung des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ergeht – wie auch schon nach dem bisher geltenden Recht,
8vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 – 1 VR 3/17 –, Rn. 71 f., juris, VG Sigmaringen, Beschluss vom 28. März 2018 – A 1 K 7863/17 –, Rn. 30, juris; a.A. z.B. OVG Lüneburg, Beschluss vom 14. Dezember 2015 – 8 PA 199/15 –, Rn. 5, juris; VG Münster, Urteil vom 26. April 2016 – 4 K 2693/15. A –, Rn. 20, juris -
9als Einzelfallentscheidung mit in das behördliche Ermessen gestellter Befristung. Es ist mithin als belastender Verwaltungsakt mit der Anfechtungsklage abzuwehren.
10Vgl. VG Sigmaringen, Beschluss vom 28. März 2018– A 1 K 7863/17 –, Rn. 30, juris.
11Die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage entfaltet gemäß § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung. Eilrechtsschutz ist demgemäß hinsichtlich der Regelungen in Ziffern 3 und 4 des in der Hauptsache angefochtenen Bescheides im Wege der Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu gewähren.
12Einer Sachentscheidung des Gerichts steht nicht entgegen, dass der am 5. August 2020 bei Gericht eingegangene Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung die durch die Zustellung des streitgegenständlichen Bescheides am 18. Mai 2020 in Lauf gesetzte Frist von einer Woche gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nicht wahrt. Dem Antragsteller ist gemäß § 60 Abs. 1 und Abs. 4 Satz 4 VwGO von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
13Der Antragsteller war ohne sein Verschulden daran gehindert, die Frist gemäß § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG einzuhalten. Verschulden im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falls zuzumuten war.
14Vgl. Schenke, in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 22.Aufl., 2016, § 60 Rn. 9.
15Der Antragsteller hat alles Gebotene getan, um die bezeichnet Antragsfrist zu wahren. Er hat am 22. Mai 2020 innerhalb der durch § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG bestimmten Frist einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt (Az.: 3a L 627/20.A). Die Rechtshängigkeit dieses Antrags ist zwar durch die übereinstimmende Erledigungserklärung der Beteiligten – rückwirkend - entfallen. Bis zum Zeitpunkt der Erledigungserklärung musste der Antragsteller aber davon ausgehen, dass einem erneuten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Rechtshängigkeit des Antrags im Verfahren 3a L 627/20.A entgegensteht. Es war ihm auch nicht im Sinne des vorstehend bezeichneten Maßstabs zumutbar, das Verfahren 3a L 627/20.A trotz der zwischenzeitlich vom Bundesamt nach § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-Verordnung verfügten Aussetzung der Vollziehung fortzuführen. Die Aussetzung der Vollziehung durch die Behörde nach dieser Bestimmung wirkt in gleicher Weise wie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht auf Grundlage von § 80 Abs. 5 VwGO. Mit der im Hinblick auf die Corona-Pandemie vorgenommenen Aussetzung der Vollziehung der auf Grundlage der Dublin III-Verordnung ergangenen Abschiebungsanordnung durch das Bundesamt entfällt daher nach verbreiteter Auffassung das Rechtsschutzbedürfnis für den gerichtlichen Eilantrag.
16Vgl. VG München, Gerichtsbescheid vom 13. Juli 2020 – M 2 K 19.51253 -, juris, Rn. 13; VG München, Beschluss vom 8. Juni 2020 – M 1 S 19.50520 -, juris, RN. 9; VG München, Beschluss vom 14. August 2020 – M 10 S 20.50407 -, juris, Rn. 8;VG Berlin, Beschluss vom 16. Juni 2020 – 25 L 118/20.A -, Asylmagazin 2020, 279; VG Freiburg i. Br., Beschluss vom 26. Juni 2020 – A 10 K 1685/20 -, juris, Rn. 4; zum Meinungsstand auch: Hupke, Asylmagazin 2020, 257, 259.
17Der Antragsteller hätte sich im Fall der Aufrechterhaltung des ursprünglichen Eilantrags somit einem durch die Erledigungserklärung der Hauptsache im Rahmen sachgerechter Prozessführung vermeidbaren Kostenrisiko aussetzen müssen. Das darin begründete Hindernis für die Beantragung gerichtlichen Eilrechtsschutzes ist erst mit der Aufhebung der Aussetzungsentscheidung durch das Bundesamt durch dessen Verfügung vom 3. August 2020 weggefallen.
18Der Antragsteller hat die versäumte Rechtshandlung durch die Stellung des vorliegenden Antrags bei Gericht auch innerhalb der Antragsfrist nach § 60 Abs. 1 Satz 1 VwGO nachgeholt und damit dem Erfordernis des § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO entsprochen.
19Der Antrag ist unbegründet. Die der Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 VwGO zugrunde zu legende Interessenabwägung fällt sowohl hinsichtlich der Anordnung der Abschiebung nach Schweden als auch hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots zulasten des Antragstellers aus. In Fällen des gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, hier i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse regelmäßig nur dann, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Von ernstlichen Zweifeln ist auszugehen, wenn der Erfolg des Antragstellers in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als dessen Unterliegen. Ein Erfolg in der Hauptsache erscheint vorliegend weder hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 (1.) noch hinsichtlich der Regelung in Ziffer 4 (2.) des angegriffenen Bescheides überwiegend wahrscheinlich.
201.
21Rechtsgrundlage für die Anordnung der Abschiebung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
22Der in der Hauptsache angefochtene Bescheid des Bundesamtes erfüllt die formellen Anforderungen an die auf der genannten Rechtsgrundlage erlassene Abschiebungsanordnung. Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-Verordnung) – ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31 – führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu erleichtern. Das Bundesamt hat vorliegend am 28. April 2020 eine solche persönliche Befragung des Antragstellers zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchgeführt.
23Die in Streit stehende Abschiebungsanordnung erfüllt auch die materiellen Voraussetzungen gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG.
24Schweden ist für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß Art. 12 Abs. 2 Sätze 1 und 2 Dublin III-Verordnung zuständig. Dem Antragsteller wurde von der norwegischen Botschaft in Neu Dehli im Auftrag des schwedischen Staates ein Schengenvisum erteilt. Dass dem ein Vertretungsverhältnis der in Art 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnungen bezeichneten Art zugrunde gelegen hat, wird vom Bundesamt in seiner Entscheidung zugrunde gelegt und vom Antragsteller nicht in Zweifel gezogen. Die zuständigen schwedischen Behörden haben demgemäß mit Schreiben vom 11. Mai 2020 gegenüber dem Bundesamt ihre Zuständigkeit gemäß der Dublin III-Verordnung anerkannt (vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III- Verordnung).
25Die Zuständigkeit Schwedens ist noch nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung auf die Antragsgegnerin übergegangen. Wird die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nach dieser Bestimmung nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet. Die Zuständigkeit geht in diesem Fall auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist ist noch nicht abgelaufen.
26Die Antragsgegnerin ist auch nicht durch Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig geworden. Nach dieser Vorschrift kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin III-Verordnung beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Diese in das Ermessen des Mitgliedstaats gestellte Entscheidung setzt im Interesse der Rechtsklarheit ein Verhalten des Mitgliedstaats voraus, das zweifelsfrei den Entschluss des Mitgliedstaats verdeutlicht, das Asylverfahren abweichend vom Regelfallsystem des Art. 3 Abs. 1 Dublin III-Verordnung in eigener Verantwortung durchzuführen.
27Vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Februar 2915 – 10 L 3022/14.A -, juris, Rn. 10.
28Eine Entscheidung der zuständigen Stelle, nämlich des Bundesamts, mit der die Antragsgegnerin ihr Selbsteintrittsrecht ausgeübt hätte, liegt nicht vor. Der Antragsteller macht dies auch nicht geltend.
29Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung ist auch davon auszugehen, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Schweden durchgeführt werden kann.
30Die Antragsgegnerin ist nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsätze 2 und 3 Dublin III-Verordnung gehindert, den Antragsteller nach Schweden zu überstellen. Ein Hindernis für die Überstellung nach dieser Norm liegt nur vor, wenn wesentliche Gründe die Annahme rechtfertigen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller im Zielstaat der Abschiebungsanordnung systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs können systemische Mängel in diesem Sinne erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 der EU-Grundrechtecharta oder Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entsprechend der Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein, ihm also nicht unbekannt sein können.
31Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 (abdullah) -, juris, Rn. 60, vom 14. November 2013 – C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 33 ff., und vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 (N.S. u.a.) -, juris, Rn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 -, NVwZ 2011, 413; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 -, juris, Rn. 9.
32Das gemeinsame europäische Asylsystem stützt sich auf die Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie der EMRK haben. Die insoweit grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend beachtet, ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des gemeinsamen europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die EU-Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers in den gemäß der Dublin III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Vielmehr müssen das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im jeweiligen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelmäßig so defizitär sein, dass Antragstellern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK droht.
33Vgl. EUGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 C-394/12 (Abdullah) -, juris, Rn. 60, vom 14. November 2013 – C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 33 ff., und vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 (N.S. u.a.) -, juris , Rn. 96; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 -, juris, Rn. 9.
34Systemische Mängel im Sinne der oben bezeichneten Anforderungen liegen in Bezug auf Schweden aus den im angegriffenen Bescheid zutreffend dargelegten Gründen, auf die entsprechen § 77 Abs 2 AsylG Bezug genommen wird, nicht vor. Schweden verfügt danach über ein funktionsfähiges, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren, das im Normalfall gewährleisten kann, dass Asylbewerber nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen müssen. Aus den zutreffenden Gründen des angegriffenen Bescheides ergibt sich auch, dass im Hinblick auf die Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern keine wesentlichen Gründe vorliegen, die die Annahme systemischer Mängel der Schutzgewährung in Schweden rechtfertigen würden
35Gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Abschiebung nach Schweden bestehen auch unter übrigen Gesichtspunkten keine Bedenken. Insbesondere stehen einer Überstellung des Antragstellers nach Schweden keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entgegen. Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist nach dem oben Gesagten nichts ersichtlich. Es liegt auch kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Der Antragsteller hat keine individuellen Umstände geltend gemacht, die die Annahme einer Gefährdung im Sinne dieser Maßstäbe rechtfertigen würden. Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Antragsteller im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Einreise nach Schweden an Covid-19 erkranken, einen schweren Krankheitsverlauf erleiden und infolgedessen - auch wegen fehlender Behandlungsmöglichkeiten – erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen erleiden würde. Es fehlt schon an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass für den Antragsteller nach den spezifischen Verhältnissen in Schweden ein im Sinne der dargelegten Maßstäbe hinreichendes Risiko einer Infektion besteht. Insgesamt wurden in Schweden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation bis Anfang Oktober 2020 etwa 98.000 Fälle von bestätigten Infektionen mit Covid-19 registriert. Die Zahl der Todesfälle lag bis zu diesem Zeitpunkt landesweit bei ca. 5.800. Nachdem die Ausbreitung der Pandemie in Schweden im Juni 2020 einen Höhepunkt erreicht hatte, ging die Zahl der Neuinfektionen ab Anfang Juli 2020 deutlich zurück. Seit Mitte September 2020 ist - wie in den meisten europäischen Ländern - eine erneute Zunahme des Infektionsgeschehens zu beobachten. Die Zahl der täglichen Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 liegt nach einem zwischenzeitlichen Höchststand von ca. 100 Fällen seit Ende Juli 2020 konstant im einstelligen Bereich (Quelle: Wikipedia). Angesichts dieser Umstände ist es zwar möglich, aber nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Antragsteller im Fall einer Abschiebung nach Schweden durch die Pandemie in eine lebensbedrohliche Lage geraten wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass er durch eigenes Verhalten dazu beitragen kann, die Gefahr einer Infektion zu minimieren.
36Ein der Abschiebung nach Schweden entgegenstehendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäߠ § 34a AsylG von der Antragsgegnerin zu beachten wäre, besteht nicht. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt unter anderem vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten steht, sodass die Abschiebungsmaßnahme wegen des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom jeweiligen Zielstaat) eine wesentliche Gefährdung des Ausländers, z.B. eine erhebliche Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands, konkret droht und diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann.
37Vgl. BayVGH, Beschlüsse vom 23. August 2016 – 10 CE 15.2784 -, juris, Rn. 7, und vom 31. Mai 2016 – 10 CE 16.838 -, juris, Rn. 7; VG München, Urteil vom 25. Mai 2016 – M 17 K 14.30166 -, juris, Rn. 38.
38Für eine im Sinne dieser Maßstäbe relevante Gefährdung des Antragstellers durch die angeordnete Abschiebung ist nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich.
39Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die trotz der aus den oben dargelegten Gründen gegebenen Zuständigkeit Schwedens eine Verpflichtung der Antragsgegnerin begründen könnten, von ihrem Selbsteintrittsrecht aus Art. 17 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-Verordnung Gebrauch zu machen, stehen der Durchführung der angeordneten Abschiebung ebenfalls nicht entgegen. Insoweit ergeben sich aus den der Kammer bekannten Umständen und den Vorträgen des Antragstellers keine konkreten Anhaltspunkte.
40Im Übrigen wird zur Vermeidung von Wiederholungen entsprechend § 77 Abs. 2 AsylG auf die Begründung des in der Hauptsache angefochtenen Bescheides ergänzend Bezug genommen.
412.
42Ziffer 4 des Bescheides erweist sich bei summarischer Prüfung ebenfalls als rechtmäßig.
43Hinsichtlich des Zwecks des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots im Falle einer Abschiebung ist in Rechnung zu stellen, dass dieses Verbot zum einen eine spezialpräventive Reaktion auf die mögliche Verletzung der Ausreisepflicht ist. Wird auf dieses individuelle Fehlverhalten mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot reagiert, werden damit zum anderen auch generalpräventive Zwecke verfolgt, weil andere Ausländer zu einer Befolgung ihrer Ausreisepflicht angehalten werden sollen.
44Vgl. beispielsweise mit umf. Nw. VG Münster, Urteil vom 26. April 2016 – 4 K 2693/15.A –, Rn. 53 ff., juris; Kammer, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 3a K 2232/16.A – n.v.
45Auf dieser Grundlage ist es nicht zu beanstanden, die Frist auf 22 Monate festzusetzen. Diese Befristung hält sich innerhalb des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorgegebenen Rahmens, wonach die Frist fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, und bleibt hinter der gerichtsbekannten Ermessenspraxis des Bundesamtes in Fällen der vorliegenden Art, nach der die Frist regelmäßig mit 30 Monaten bemessen wird, zurück. Auch im Übrigen liegen Ermessensfehler nicht vor. Das Bundesamt hat in seiner Begründung der Befristungsentscheidung die einschlägigen Rechtsgrundlagen mitgeteilt und dabei insbesondere zu erkennen gegeben, dass es von einer Ermessensentscheidung ausgeht und den zutreffenden Fristrahmen zugrunde legt. Aus der Begründung ergibt sich ferner, dass das Bundesamt das (Nicht-)Vorliegen individueller schutzwürdiger Belange des Antragstellers, die eine abweichende Fristsetzung rechtfertigen könnten, in seine Ermessenserwägungen einbezogen hat.
46Die Kostenentscheidung beruht auf den § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 25.10.2019 wird zurückgewiesen.Außergerichtliche Kosten für das Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Zwischen den Beteiligten ist die Kostenübernahme für eine jährliche Sehnervanalyse mit dem H. R. Tomograph (HRT) streitig.2 Bei dem HRT handelt es sich um ein konfokales Punkt-Scanning-Laser Ophthalmoskop, das von Augenärzten zur Untersuchung der Hornhaut und bestimmter Bereiche der Netzhaut eingesetzt wird. Der wichtigste Anwendungsbereich des HRT ist die Überprüfung des Sehnervkopfes (Papille) zum Zwecke der Früherkennung und Verlaufskontrolle des Glaukoms (Grüner Star). Durch Einsatz entsprechender Module ist auch die Untersuchung der vorderen Augenabschnitte sowie der Netzhaut (vor allem der Makula) möglich.3 Der am … 1943 geborene Kläger leidet bereits seit Jahren an einem Glaukom. Er befindet sich in regelmäßiger augenärztlicher Behandlung.4 Am 20.10.2016 wandte sich der Kläger per E-Mail an die Beklagte und bat um Prüfung der Möglichkeit der Kostenübernahme für eine Untersuchung des Augenhintergrundes mit dem HRT. Er machte geltend, sein Augenarzt habe diese Untersuchung wiederholt empfohlen. Vom Ärztezentrum der Beklagten habe er die Antwort erhalten, dass dieses Verfahren als sinnvoll und zweckmäßig erachtet werde. Den entsprechenden Hinweis des Ärztezentrums vom 13.10.2016 fügte der Kläger seiner Anfrage bei. Diesem gegenüber hatte der Kläger geschildert, sein Augeninnendruck sei mit Hilfe von Medikamenten gut eingestellt (15-18 mm Hg) und frühere Gesichtsfeldkontrollen seien unauffällig gewesen. Er bat um Prüfung und im Fall der Ablehnung um Übersendung einer entsprechenden Entscheidung.5 Mit Bescheid vom 25.10.2016 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme für eine HRT Aufnahme ab. Diese Leistung sei zwar ärztlich vertretbar, falle jedoch in den eigenverantwortlichen Bereich der Patienten.6 Hiergegen erhob der Kläger am 01.11.2016 Widerspruch. Zur Begründung verwies er auf die Regelung des § 27 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Sowohl der behandelnden Augenärztin als auch des konsultierten Ärzteteams der Beklagten zufolge sei die jährliche Sehnervanalyse (hier HRT) sinnvoll und zweckmäßig, um die Effizienz der medikamentösen Drucksenkung zu überprüfen und ggf bei eingetretener Verschlechterung der gemessenen Werte den zukünftigen Zieldruck herabzusetzen, also die Medikation zu verstärken. In Ermangelung alternativer Behandlungen gehe er davon aus, dass es sich bei der hier infrage stehenden Untersuchung zweifelsfrei um eine von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gemäß § 27 Abs 1 SGB V zu erbringende Leistung handele.7 Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) mit der Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens. Dr. A. führte unter dem 13.12.2016 unter Benennung von alternativen Behandlungsmöglichkeiten aus, dass sich keine Angaben zur Sehschärfe in den Unterlagen fänden. Der Versicherte habe angegeben, dass die Kontrollen des Gesichtsfeldes unauffällig seien. Mit Blick auf die bisherige Sozialrechtsprechung könne bei dem Versicherten zum jetzigen Zeitpunkt nicht von einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung oder einer gleichwertigen Erkrankung (Erblindung beider Augen) ausgegangen werden. Prinzipiell handele es sich bei der HRT-Untersuchung um eine neue Untersuchungsmethode zur Diagnostik und Verlaufskontrolle bei Glaukomerkrankungen. Das HRT habe nicht genügend diagnostische Präzision, um isoliert verwendet werden zu können. Fälle von Glaukomverdacht, -beginn oder -progression könnten nicht mit dem HRT allein diagnostiziert und beurteilt werden. Qualitativ seien die Informationen mit dem HRT auch durch vertragsärztliche Leistungen zu erreichen. Nicht auszuschließen sei, dass durch HRT eine präzisere Befunddokumentation möglich sei, wobei die klinische Relevanz im Hinblick auf die weitere Behandlung und den Verlauf der Erkrankung in ihrem Nutzen noch nicht durch randomisierte kontrollierte Studien gesichert sei.8 Nach Mitteilung des Ergebnisses führte der Kläger aus, die vom MDK ausgeführten Behandlungsmöglichkeiten seien möglicherweise geeignet, ein Glaukom bzw dessen Status zum Zeitpunkt der Untersuchung festzustellen. Keiner der aufgelisteten Alternativen erlaubten mit hinreichender Genauigkeit eine mit Vorbefunden vergleichende Verlaufskontrolle, wie sie sich mit dem HRT inzwischen als Standard durchgesetzt habe.9 Am 12.06.2017 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Mehrere telefonische und schriftliche Aufforderungen an die Beklagte, einen beschwerdefähigen Bescheid herauszugeben, seien leider ohne Reaktion geblieben. Daher sehe er sich gezwungen, auch ohne Vorliegen eines entsprechenden Widerspruchsbescheides Klage zu erheben.10 Die Beklagte hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 31.08.2017 zurückgewiesen. Bei der beantragten Leistung handele es sich um eine unkonventionelle Methode, für die der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) noch keine Empfehlung ausgesprochen habe. Zudem habe der MDK Alternativen aufgezeigt. Mit einer ausführlichen Anamneseerhebung, Prüfung der Sehschärfe, Spaltlampenuntersuchung, Augeninnendruckmessung, Gesichtsfelduntersuchung und ggf einer Blutdruckmessung seien vertragliche Optionen vorhanden. Im Übrigen liege keine akut notstandsähnliche Situation vor. Dieser Widerspruchsbescheid werde Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens.11 Der Kläger hat daraufhin ausgeführt, die "unkonventionelle Methode" habe sich seit mehr als 20 Jahren bewährt und sich seither in augenärztlichen Behandlungszentren als Standard bei der Behandlung von Erkrankungen des Sehnervs durchgesetzt. Im Übrigen stelle auch die Beklagte in ihrem Merkblatt „Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)“ fest, dass „das bestehende Leistungsangebot der GKV alle notwendigen Behandlungen abdecke, einschließlich der erforderlichen Diagnostik“. In Ermangelung alternativer Behandlungsmöglichkeiten zur präzisen und vergleichenden Überprüfung des Zustandes des Sehnervkopfes, der Effizienz der medikamentösen Senkung des Augeninnendrucks und daraus gegebenenfalls folgende Anpassung der Medikation sei folglich weder von der behandelnden Augenärztin noch vom Ärzteteam der Beklagten auf solche Alternativen hingewiesen worden. Bei dem MDK-Gutachten handele es sich lediglich um allgemeine Aussagen im Zusammenhang mit einer Glaukomerkrankung. Die dort aufgeführten vertraglichen schulmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten seien allesamt nicht zu einer genauen und vergleichenden Verlaufskontrolle des Zustandes des Sehnervkopfes geeignet. Diese sei jedoch im vorliegenden Fall erforderlich und sowohl von der behandelnden Ärztin als auch dem konsultierten Ärzteteam der Beklagten für sinnvoll und zweckmäßig erachtet worden. Gerade dies sei jedoch nur mit Hilfe des HRT möglich. Daraus lasse sich frühzeitig die medizinische Behandlung des Glaukoms an sich gegebenenfalls ergebende Veränderungen der Sehnerven anpassen und damit einer Verschlechterung der Sehfähigkeit, im schlimmsten Fall bis hin zur Erblindung, entgegenwirken. Letztendlich habe sich auch der MDK in seinem Gutachten zu dem Hinweis veranlasst gesehen, dass „nicht auszuschließen sei, dass durch das HRT eine präzisere Befunddokumentation möglich sei“. Im Übrigen seien manche gesetzlichen Krankenkassen bereit, bestimmte IGeL zu bezahlen, obwohl sie nicht zum Leistungskatalog der GKV gehörten. Außerdem sei auch das bisherigen Procedere bei der Behandlung des Kostenerstattungsantrags im Hinblick auf § 13 Abs 3a SGB V in Betracht zu ziehen. Es dürfte ein Systemversagen vorliegen, da der GBA das Verfahren zur Methodenbewertung noch nicht eingeleitet habe, obwohl HRT sich seit mehr als 20 Jahren in der Augenheilkunde durchgesetzt und bewährt habe.12 Der Kläger hat verschiedene Ausdrucke von Internetseiten von Augenärzten vorgelegt, auf denen beschrieben ist, dass HRT seit vielen Jahren verwendet würde und eine viel präzisere Methode bei der Beurteilung von Sehnervveränderungen sei. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Bl 29 f der SG-Akte verwiesen.13 Das SG hat die behandelnde Augenärztin des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugin befragt. Die Fachärztin für Augenheilkunde N. hat unter dem 06.11.2017 ausgeführt, den Kläger seit April 2013 zu behandeln. Er leide unter Glaukom. Er habe damals angegeben, schon seit zehn Jahren Glaukom zu haben. Bei Glaukom entstünden Gesichtsfeldausfälle. HRT sei keine Behandlung, sondern eine diagnostische Untersuchung. Sie könne keine Erkrankung heilen, aber ggf eine Verschlimmerung verhüten. Es sei eine Verlaufskontrolle der Papillenexkavation und Feststellung von Zunahme der Papillenexkavation möglich, die auf eine Verschlimmerung des Sehnervenschadens hinweisen könne. Die HRT-Untersuchung lindere keine Beschwerden. Es sei ein Diagnosegerät, kein Therapiegerät. Es sei eine Untersuchung, die aus augenärztlicher Sicht sinnvoll und nützlich sei. Sie sei vom GBA nicht als Kassenleistung anerkannt.14 Mit Urteil vom 25.10.2019 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt worden, die Untätigkeitsklage habe sich zwar erledigt. Der Kläger habe die Klage jedoch zulässig in eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage geändert. Diese sei jedoch unbegründet, denn der Kläger habe keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die jährliche Untersuchung der Glaukomerkrankung mit dem HRT. Es handele sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode. Es fehle an der nach § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V erforderlichen befürwortenden Entscheidung des GBA. Ein Systemversagen liege nicht vor. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen willkürlichen oder sachfremden Verhaltens seien hinsichtlich der hier streitigen Untersuchung mit dem HRT nicht ersichtlich. Ein Leistungsanspruch ergebe sich auch nicht auf Grundlage von § 2 Abs 1a SGB V. Es liege keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor.15 Hiergegen richtet sich die am 18.11.2019 erhobene Berufung des Klägers. Er macht geltend, dass – wie er bereits vor dem SG belegt habe – die Diagnose mit Hilfe des HRT sich seit mehr als 20 Jahren in der Augenheilkunde bewährt und seither in augenärztlichen Behandlungszentren als Standard bei der Behandlung von Erkrankung des Sehnervens und damit eines Glaukoms durchgesetzt habe. Die vom MDK genannten alternativen Behandlungsmethoden seien nur ansatzweise für eine genaue und präzise Verlaufskontrolle geeignet. Die Augenärztliche Akademie Deutschland habe bereits im Jahr 2002 das Diagnoseverfahren als Meilenstein der Diagnostik bezeichnet. Es liege damit ein deutlicher Hinweis auf den diagnostischen Nutzen vor. Der GBA sei seiner Beobachtungspflicht nicht nachgekommen. Es ergebe sich seit langem aus dem medizinischen Erkenntnisstand eine Antragspflicht. Möglicherweise beruhe der Verzicht auf Durchführung ausreichender Studien darauf, dass weder die Augenärzte noch die Hersteller noch die Krankenkassen ein Interesse daran hätten, dass das HRT-Scan, das sich als individuelle Gesundheitsleistung gut verkaufe, als Leistung der gesetzlichen Krankenkasse anerkannt werde. Die Ärzte könnten die Leistung als Privatbehandlung abrechnen. Der Kläger verweist noch auf den Beschluss des GBA vom 20.12.2018, demzufolge die Optische Kohärenztomografie, eine dem HRT vergleichbare Leistung, eine Leistung der GKV geworden sei. Die US-amerikanische Behörde FDA erkenne seit langem die HRT-Methode an, die damit Leistung des US-amerikanischen Medicare-Systems geworden sei.16 Der Kläger beantragt,17 das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 25.10.2019 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25.10.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.08.2017 zu verurteilen, ihm die bereits angefallenen Kosten für die jährliche Verlaufskontrolle einer Glaukomerkrankung mit Hilfe des H. R. Tomographen in Höhe von 280 EUR zu erstatten sowie die Kosten für die künftigen Behandlungen zu übernehmen.18 Die Beklagte beantragt,19 die Berufung zurückzuweisen.20 Sie verweist auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.21 Der Kläger hat vier Rechnungen seiner behandelnden Augenärztin N. über die in den Jahren 2016 bis 2019 durchgeführten Untersuchungen (Rechnungen vom 05.12.2016, 08.12.2017 und 04.09.2019 iHv je 80 EUR und vom 03.12.2018 iHv 40 EUR) vorgelegt. Ferner hat er den Befundbericht über die Untersuchungen vom 05.12.2016 beigefügt.22 Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
23 Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
24 Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG) und damit zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für bereits durchgeführte Untersuchungen mittels HRT noch auf Übernahme der Kosten für künftige Untersuchungen.
25 Der Kläger hat die erledigte Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) zulässigerweise geändert, nachdem diese sich durch Erlass des begehrten Widerspruchsbescheides erledigt hat. Der Kläger verfolgt seinen Anspruch nunmehr zu Recht mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG). Diese ist zulässig.
26 Ein Kostenerstattungsanspruch hat stets die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages zum Gegenstand und muss deshalb für die Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz beziffert werden (Bundessozialgericht 28.01.1999, B 3 KR 4/98 R, BSGE 83, 254, 263 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1). Maßgebend ist dabei, ob die Kosten der Behandlung bereits abgerechnet wurden. Nur soweit Leistungen zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung bereits erbracht, aber noch nicht abgerechnet wurden, ist es prozessual zulässig, der Klage einen Anspruch auf Freistellung von den Kosten für die selbst beschaffte Behandlung zugrunde zu legen (BSG, 17.06.2010, B 3 KR 7/09 R, BSGE 106, 173). Der Kläger hat die vorgelegten Rechnungen von insgesamt 280 EUR bereits beglichen, sodass die Klage insoweit zulässig auf Erstattung gerichtet ist.
27 Als Rechtsgrundlage des geltend gemachten Erstattungsanspruchs kommt allein § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Ein Anspruch nach dem mit Wirkung vom 27.02.2013 durch Art 2 Nr 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20.02.2013 (BGBl S 277) eingefügten Abs 3a dieser Vorschrift scheidet aus. In § 13 Abs 3a Satz 1 SGB V ist geregelt, dass die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang entscheiden muss. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse nach § 13 Abs 3a Satz 6 SGB V zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. Die nach § 13 Abs 3a Satz 1 SGB V maßgebliche Frist ist hier eingehalten. Der Antrag ging am 20.10.2016 per E-Mail bei der Beklagten ein. Die Beklagte entschied hierüber mit Bescheid vom 25.10.2016. Die Dauer des Widerspruchsverfahrens bleibt außer Betracht.
28 Nach § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse dem Versicherten Kosten einer selbstbeschafften Leistung zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass sie eine unaufschiebbare Leistung entweder nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Alt) oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war (2. Alt). Mit dieser Regelung wird der Grundsatz des Sach- und Dienstleistungsanspruchs nach § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V für die Fälle ergänzt, in denen die Krankenkasse eine geschuldete Leistung nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stellen kann (BSG 02.11.2007, B 1 KR 14/07 R, BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15). Der Naturalleistungsanspruch des Versicherten wandelt sich um in einen Kostenerstattungsanspruch bzw soweit die Kosten tatsächlich noch nicht beglichen sind, in einen Anspruch des Versicherten auf Freistellung von den Kosten.
29 Eine unaufschiebbare Leistung im Sinne des § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V lag zur Überzeugung des Senats nicht vor. Eine Leistung ist nur dann unaufschiebbar, wenn die Leistung in einem bestimmten Zeitpunkt erbracht werden muss, damit der erstrebte Erfolg überhaupt noch erreicht werden kann oder der Versicherte erhebliche Schmerzen leidet. Aus medizinischer Sicht darf keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubs bis zu einer Entscheidung der Krankenkasse mehr bestehen (BSG 25.09.2000, B 1 KR 5/99 R, juris). Die Durchführung der Untersuchung mit dem HRT war nicht in diesem Sinne unaufschiebbar. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Untersuchungen jeweils so dringlich waren, dass nicht mehr zugewartet werden konnte.
30 Auch die Voraussetzung des § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alternative SGB V ist nicht erfüllt. Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung des BSG 14.12.2006, B 1 KR 12/06 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 8; BSG 27.03.2007, B 1 KR 17/06 R, juris). Die streitgegenständliche Untersuchung mittels HRT gehört indes nicht zu den von der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringenden Leistungen. Die Beklagte ist daher weder zur Erstattung der bereits entstandenen Kosten hierfür verpflichtet, noch zur künftigen Kostenübernahme.
31 Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Kläger leidet an einem Glaukom und damit an einer Krankheit. Dies entnimmt der Senat der Aussage der sachverständigen Zeugin, der Fachärztin für Augenheilkunde N.. Das HRT-Scan ist zwar als solches keine Behandlungsmethode, denn eine Heilung oder Besserung kann dadurch nicht erreicht werden. Die Untersuchung dient jedoch der Verlaufskontrolle und damit der frühzeitigen Erkennung einer Verschlimmerung und der Therapieplanung.
32 Allerdings unterliegt der Anspruch eines Versicherten auf Behandlung nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB V den sich aus § 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er erfasst nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Dies ist bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung nach § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V (ambulante Versorgung) nur dann der Fall, wenn der GBA in Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat. Durch Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 iVm § 135 Abs 1 SGB V wird nämlich nach der ständigen Rechtsprechung nicht nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringer neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zulasten der Krankenkasse erbringen und abrechnen dürfen. Vielmehr wird durch diese Richtlinien auch der Umfang der den Versicherten von den Krankenkassen geschuldeten ambulanten Leistung verbindlich festgelegt (BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R, BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12).
33 Die streitgegenständliche Untersuchung mittels HRT stellt eine solche neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar. Behandlungsmethoden iS der gesetzlichen Krankenversicherung sind medizinische Vorgehensweisen, denen ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zu Grunde liegt, das sie von anderen Diagnose- oder Therapieverfahren unterscheidet und das ihre systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll. "Neu" ist eine Methode, wenn sie zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im EBM-Ä enthalten ist (BSG 27.09.2005, B 1 KR 28/03 R, juris). Die Untersuchung mittels HRT ist nicht als abrechenbare Leistung im EBM enthalten und daher eine neue Behandlungsmethode. Eine positive Empfehlung des GBA zu dieser Methode liegt nicht vor.
34 Es liegt auch kein Ausnahmefall vor, in dem es keiner Empfehlung des GBA bedarf. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse kann nach der Rspr des BSG ausnahmsweise ungeachtet des in § 135 Abs 1 SGB V aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt für die Anwendung neuer Methoden bei einem Systemversagen bestehen. Ein Systemversagen unter dem Aspekt, dass der GBA zu der fraglichen Methode noch keine Empfehlung abgegeben hat und das vorgesehene Anerkennungsverfahren für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden trotz Anhaltspunkten für eine therapeutische Zweckmäßigkeit der Methode aus willkürlichen oder sachfremden Erwägungen heraus nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt wurde bzw eine Aktualisierung der Richtlinien unterblieben ist (stRspr, vgl ua BSG 27.08.2019, B 1 KR 14/19 R, SozR 4-2500 § 13a Nr 1 mwN, BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R, BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12; BSG 10.05.2012, B 1 KR 78/11 B, SozR 4-2500 § 140f Nr 1), liegt nicht vor.
35 Der GBA hatte zunächst am 21.12.2004 auf Basis einer Evidenzprüfung beschlossen, dass ein Glaukom-Screening nicht zur Früherkennung von Krankheiten gemäß § 25 Abs 3 SGB V empfohlen werden kann. Ein entsprechender Passus wurde in der Gesundheitsuntersuchungs-Richtlinie aufgenommen. Dieser Passus wurde zwar zwischenzeitlich gestrichen (Beschluss vom 19.07.2018). In den tragenden Gründen zum Beschluss dazu ist ausgeführt, dass die Aufarbeitung der aktuellen Evidenzlage bestätige, dass ein Glaukom-Screening nicht zur Früherkennung von Krankheiten empfohlen werden könne. Die Streichung ist nur deshalb erfolgt, weil nur Maßnahmen in der Richtlinie geregelt werden sollen, die aufgrund einer positiven Empfehlung zum Leistungsumfang der Gesundheitsuntersuchung gehören. Der GBA hat sich demnach grundsätzlich mit solchen Leistungen befasst. Zwar geht es vorliegend nicht um die Erkennung von Krankheiten, sondern um die Verlaufsbeobachtung. Aber auch insoweit sind keine randomisiert kontrollierten Studien ersichtlich, die den Nutzen belegen. Es besteht keine Situation, in der von einem willkürlichen Unterlassen eines Antrags beim GBA durch die zur Antragstellung berechtigten Institutionen ausgegangen werden kann. Dass das Verfahren in der Praxis weit verbreitet ist, ändert nichts. Hierdurch kann nicht der Nachweis des Nutzens durch wissenschaftlich einwandfrei geführte Studien und Statistiken ersetzt werden.
36 Lediglich ergänzend wird noch auf die Ausführungen des SG Berlin in seinem vom Kläger angesprochenen Urteil vom 12.12.2018 zum Az S 73 KR 722/14 hingewiesen. Das SG hatte den GBA um Stellungnahme zu vom dortigen Kläger vorgelegten 474 Literaturreferenzen und 105 weiteren Fundstellen gebeten. Der GBA hatte mitgeteilt, dass weder die vorgelegten Unterlagen noch in den durch eigene Literaturrecherche ermittelten Fundstellen Studien identifiziert werden konnten, die im Verlauf Unterschiede zu Gunsten der Gruppe mit zusätzlich zur Standarddiagnostik mit Vermessung des Sehnervs mit dem HRT in patientenrelevanten Endpunkten im Gegensatz zu einer Gruppe von mit Standarddiagnostik behandelten Patienten ergeben. Dementsprechend könne auf Basis der von der Geschäftsstelle des Unterausschusses Methodenbewertung recherchierten Evidenz unter Einbeziehung der übermittelten Literaturreferenzen nicht davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen für ein Systemversagen für den Einsatz des HRT-Scan zur Verlaufskontrolle bzw Verlaufsdiagnostik bei Patientinnen und Patienten mit POWG [primäre Offenwinkelglaukom] vorliegen. Auch die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppe habe eine ausreichende Studienlage verneint.
37 Der Kläger selbst hat ebenfalls keine entsprechenden Studien vorgelegt, sondern lediglich befürwortende Aussagen und Berichte. Dies genügt nicht für die Annahme eines Systemversagens.
38 Der Kläger kann seinen Anspruch auch nicht auf den in Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung (BVerfG 06.12.2005, 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5; BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R, SozR 4-2500 § 25 Nr 12) eingeführten § 2 Abs 1a SGB V stützen. Der Gesetzgeber hat den vom BVerfG formulierten Anforderungen an eine grundrechtsorientierte Auslegung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung in Bezug auf neue Behandlungsmethoden im Fall einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, mit dem am 01.01.2012 in Kraft getretenen § 2 Abs 1a SGB V (Gesetz vom 22.12.2011, BGBl I 2983) Rechnung getragen. Eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine neue ärztliche Behandlungsmethode sei ausgeschlossen, weil der GBA diese nicht anerkannt habe, verstößt dann gegen das Grundgesetz bzw § 2 Abs 1a SGB V, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor (1.); bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung (2.) und bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine "auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf (3.). Die gesetzliche Regelung grundrechtsorientierter Leistungsauslegung in § 2 Abs 1a SGB V, der auf Sachverhalte ab 01.01.2012 anzuwenden ist, erfasst allerdings nicht nur Ansprüche, die auf therapeutische Maßnahmen gerichtet sind, sondern auch Ansprüche, die diagnostische Maßnahmen zum Gegenstand haben (BSG 24.04.2018, B 1 KR 29/17 R, SozR 4-2500 § 2 Nr 11).
39 Für die Feststellung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden oder zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung ist es nicht ausreichend, dass eine Krankheit unbehandelt zum Tode führt, weil dies auf nahezu jede schwere Erkrankung ohne therapeutische Einwirkung zutrifft. Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches gilt für den ggf gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (BSG 17.12.2013, B 1 KR 70/12 R, BSGE 115, 95). Dass sich die Glaukomerkrankung innerhalb kürzester Zeit dermaßen verschlimmert, dass innerhalb weniger Wochen oder Monate eine Erblindung und damit ein drohender Verlust eines wichtigen Sinnesorgans in Form der Sehfähigkeit auf einem Auge eintritt, ist nicht belegt. Der Kläger hat weder Gesichtsfeldausfälle noch eine sonstige Verschlechterung geltend gemacht. Vielmehr hat er vorgetragen, der Augeninnendruck sei gut eingestellt.
40 Zur Verlaufsbeobachtung stehen außerdem andere Leistungen zur Verfügung, wie der MDK für den Senat überzeugend dargelegt hat.
41 Da der Kläger wie dargelegt keinen Primäranspruch hat, bleibt auch die Klage gerichtet auf künftige Kostenübernahme ohne Erfolg.
42 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
43 Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Gründe
23 Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
24 Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG) und damit zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für bereits durchgeführte Untersuchungen mittels HRT noch auf Übernahme der Kosten für künftige Untersuchungen.
25 Der Kläger hat die erledigte Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) zulässigerweise geändert, nachdem diese sich durch Erlass des begehrten Widerspruchsbescheides erledigt hat. Der Kläger verfolgt seinen Anspruch nunmehr zu Recht mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG). Diese ist zulässig.
26 Ein Kostenerstattungsanspruch hat stets die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages zum Gegenstand und muss deshalb für die Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz beziffert werden (Bundessozialgericht 28.01.1999, B 3 KR 4/98 R, BSGE 83, 254, 263 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1). Maßgebend ist dabei, ob die Kosten der Behandlung bereits abgerechnet wurden. Nur soweit Leistungen zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung bereits erbracht, aber noch nicht abgerechnet wurden, ist es prozessual zulässig, der Klage einen Anspruch auf Freistellung von den Kosten für die selbst beschaffte Behandlung zugrunde zu legen (BSG, 17.06.2010, B 3 KR 7/09 R, BSGE 106, 173). Der Kläger hat die vorgelegten Rechnungen von insgesamt 280 EUR bereits beglichen, sodass die Klage insoweit zulässig auf Erstattung gerichtet ist.
27 Als Rechtsgrundlage des geltend gemachten Erstattungsanspruchs kommt allein § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V in Betracht. Ein Anspruch nach dem mit Wirkung vom 27.02.2013 durch Art 2 Nr 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20.02.2013 (BGBl S 277) eingefügten Abs 3a dieser Vorschrift scheidet aus. In § 13 Abs 3a Satz 1 SGB V ist geregelt, dass die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang entscheiden muss. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse nach § 13 Abs 3a Satz 6 SGB V zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. Die nach § 13 Abs 3a Satz 1 SGB V maßgebliche Frist ist hier eingehalten. Der Antrag ging am 20.10.2016 per E-Mail bei der Beklagten ein. Die Beklagte entschied hierüber mit Bescheid vom 25.10.2016. Die Dauer des Widerspruchsverfahrens bleibt außer Betracht.
28 Nach § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse dem Versicherten Kosten einer selbstbeschafften Leistung zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass sie eine unaufschiebbare Leistung entweder nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Alt) oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war (2. Alt). Mit dieser Regelung wird der Grundsatz des Sach- und Dienstleistungsanspruchs nach § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V für die Fälle ergänzt, in denen die Krankenkasse eine geschuldete Leistung nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stellen kann (BSG 02.11.2007, B 1 KR 14/07 R, BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15). Der Naturalleistungsanspruch des Versicherten wandelt sich um in einen Kostenerstattungsanspruch bzw soweit die Kosten tatsächlich noch nicht beglichen sind, in einen Anspruch des Versicherten auf Freistellung von den Kosten.
29 Eine unaufschiebbare Leistung im Sinne des § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V lag zur Überzeugung des Senats nicht vor. Eine Leistung ist nur dann unaufschiebbar, wenn die Leistung in einem bestimmten Zeitpunkt erbracht werden muss, damit der erstrebte Erfolg überhaupt noch erreicht werden kann oder der Versicherte erhebliche Schmerzen leidet. Aus medizinischer Sicht darf keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubs bis zu einer Entscheidung der Krankenkasse mehr bestehen (BSG 25.09.2000, B 1 KR 5/99 R, juris). Die Durchführung der Untersuchung mit dem HRT war nicht in diesem Sinne unaufschiebbar. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Untersuchungen jeweils so dringlich waren, dass nicht mehr zugewartet werden konnte.
30 Auch die Voraussetzung des § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alternative SGB V ist nicht erfüllt. Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung des BSG 14.12.2006, B 1 KR 12/06 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 8; BSG 27.03.2007, B 1 KR 17/06 R, juris). Die streitgegenständliche Untersuchung mittels HRT gehört indes nicht zu den von der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringenden Leistungen. Die Beklagte ist daher weder zur Erstattung der bereits entstandenen Kosten hierfür verpflichtet, noch zur künftigen Kostenübernahme.
31 Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Kläger leidet an einem Glaukom und damit an einer Krankheit. Dies entnimmt der Senat der Aussage der sachverständigen Zeugin, der Fachärztin für Augenheilkunde N.. Das HRT-Scan ist zwar als solches keine Behandlungsmethode, denn eine Heilung oder Besserung kann dadurch nicht erreicht werden. Die Untersuchung dient jedoch der Verlaufskontrolle und damit der frühzeitigen Erkennung einer Verschlimmerung und der Therapieplanung.
32 Allerdings unterliegt der Anspruch eines Versicherten auf Behandlung nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB V den sich aus § 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er erfasst nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Dies ist bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung nach § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V (ambulante Versorgung) nur dann der Fall, wenn der GBA in Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat. Durch Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 iVm § 135 Abs 1 SGB V wird nämlich nach der ständigen Rechtsprechung nicht nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringer neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zulasten der Krankenkasse erbringen und abrechnen dürfen. Vielmehr wird durch diese Richtlinien auch der Umfang der den Versicherten von den Krankenkassen geschuldeten ambulanten Leistung verbindlich festgelegt (BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R, BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12).
33 Die streitgegenständliche Untersuchung mittels HRT stellt eine solche neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar. Behandlungsmethoden iS der gesetzlichen Krankenversicherung sind medizinische Vorgehensweisen, denen ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zu Grunde liegt, das sie von anderen Diagnose- oder Therapieverfahren unterscheidet und das ihre systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll. "Neu" ist eine Methode, wenn sie zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im EBM-Ä enthalten ist (BSG 27.09.2005, B 1 KR 28/03 R, juris). Die Untersuchung mittels HRT ist nicht als abrechenbare Leistung im EBM enthalten und daher eine neue Behandlungsmethode. Eine positive Empfehlung des GBA zu dieser Methode liegt nicht vor.
34 Es liegt auch kein Ausnahmefall vor, in dem es keiner Empfehlung des GBA bedarf. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse kann nach der Rspr des BSG ausnahmsweise ungeachtet des in § 135 Abs 1 SGB V aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt für die Anwendung neuer Methoden bei einem Systemversagen bestehen. Ein Systemversagen unter dem Aspekt, dass der GBA zu der fraglichen Methode noch keine Empfehlung abgegeben hat und das vorgesehene Anerkennungsverfahren für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden trotz Anhaltspunkten für eine therapeutische Zweckmäßigkeit der Methode aus willkürlichen oder sachfremden Erwägungen heraus nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt wurde bzw eine Aktualisierung der Richtlinien unterblieben ist (stRspr, vgl ua BSG 27.08.2019, B 1 KR 14/19 R, SozR 4-2500 § 13a Nr 1 mwN, BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R, BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12; BSG 10.05.2012, B 1 KR 78/11 B, SozR 4-2500 § 140f Nr 1), liegt nicht vor.
35 Der GBA hatte zunächst am 21.12.2004 auf Basis einer Evidenzprüfung beschlossen, dass ein Glaukom-Screening nicht zur Früherkennung von Krankheiten gemäß § 25 Abs 3 SGB V empfohlen werden kann. Ein entsprechender Passus wurde in der Gesundheitsuntersuchungs-Richtlinie aufgenommen. Dieser Passus wurde zwar zwischenzeitlich gestrichen (Beschluss vom 19.07.2018). In den tragenden Gründen zum Beschluss dazu ist ausgeführt, dass die Aufarbeitung der aktuellen Evidenzlage bestätige, dass ein Glaukom-Screening nicht zur Früherkennung von Krankheiten empfohlen werden könne. Die Streichung ist nur deshalb erfolgt, weil nur Maßnahmen in der Richtlinie geregelt werden sollen, die aufgrund einer positiven Empfehlung zum Leistungsumfang der Gesundheitsuntersuchung gehören. Der GBA hat sich demnach grundsätzlich mit solchen Leistungen befasst. Zwar geht es vorliegend nicht um die Erkennung von Krankheiten, sondern um die Verlaufsbeobachtung. Aber auch insoweit sind keine randomisiert kontrollierten Studien ersichtlich, die den Nutzen belegen. Es besteht keine Situation, in der von einem willkürlichen Unterlassen eines Antrags beim GBA durch die zur Antragstellung berechtigten Institutionen ausgegangen werden kann. Dass das Verfahren in der Praxis weit verbreitet ist, ändert nichts. Hierdurch kann nicht der Nachweis des Nutzens durch wissenschaftlich einwandfrei geführte Studien und Statistiken ersetzt werden.
36 Lediglich ergänzend wird noch auf die Ausführungen des SG Berlin in seinem vom Kläger angesprochenen Urteil vom 12.12.2018 zum Az S 73 KR 722/14 hingewiesen. Das SG hatte den GBA um Stellungnahme zu vom dortigen Kläger vorgelegten 474 Literaturreferenzen und 105 weiteren Fundstellen gebeten. Der GBA hatte mitgeteilt, dass weder die vorgelegten Unterlagen noch in den durch eigene Literaturrecherche ermittelten Fundstellen Studien identifiziert werden konnten, die im Verlauf Unterschiede zu Gunsten der Gruppe mit zusätzlich zur Standarddiagnostik mit Vermessung des Sehnervs mit dem HRT in patientenrelevanten Endpunkten im Gegensatz zu einer Gruppe von mit Standarddiagnostik behandelten Patienten ergeben. Dementsprechend könne auf Basis der von der Geschäftsstelle des Unterausschusses Methodenbewertung recherchierten Evidenz unter Einbeziehung der übermittelten Literaturreferenzen nicht davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen für ein Systemversagen für den Einsatz des HRT-Scan zur Verlaufskontrolle bzw Verlaufsdiagnostik bei Patientinnen und Patienten mit POWG [primäre Offenwinkelglaukom] vorliegen. Auch die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppe habe eine ausreichende Studienlage verneint.
37 Der Kläger selbst hat ebenfalls keine entsprechenden Studien vorgelegt, sondern lediglich befürwortende Aussagen und Berichte. Dies genügt nicht für die Annahme eines Systemversagens.
38 Der Kläger kann seinen Anspruch auch nicht auf den in Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung (BVerfG 06.12.2005, 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5; BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R, SozR 4-2500 § 25 Nr 12) eingeführten § 2 Abs 1a SGB V stützen. Der Gesetzgeber hat den vom BVerfG formulierten Anforderungen an eine grundrechtsorientierte Auslegung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung in Bezug auf neue Behandlungsmethoden im Fall einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, mit dem am 01.01.2012 in Kraft getretenen § 2 Abs 1a SGB V (Gesetz vom 22.12.2011, BGBl I 2983) Rechnung getragen. Eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine neue ärztliche Behandlungsmethode sei ausgeschlossen, weil der GBA diese nicht anerkannt habe, verstößt dann gegen das Grundgesetz bzw § 2 Abs 1a SGB V, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor (1.); bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung (2.) und bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine "auf Indizien gestützte" nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf (3.). Die gesetzliche Regelung grundrechtsorientierter Leistungsauslegung in § 2 Abs 1a SGB V, der auf Sachverhalte ab 01.01.2012 anzuwenden ist, erfasst allerdings nicht nur Ansprüche, die auf therapeutische Maßnahmen gerichtet sind, sondern auch Ansprüche, die diagnostische Maßnahmen zum Gegenstand haben (BSG 24.04.2018, B 1 KR 29/17 R, SozR 4-2500 § 2 Nr 11).
39 Für die Feststellung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden oder zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung ist es nicht ausreichend, dass eine Krankheit unbehandelt zum Tode führt, weil dies auf nahezu jede schwere Erkrankung ohne therapeutische Einwirkung zutrifft. Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches gilt für den ggf gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (BSG 17.12.2013, B 1 KR 70/12 R, BSGE 115, 95). Dass sich die Glaukomerkrankung innerhalb kürzester Zeit dermaßen verschlimmert, dass innerhalb weniger Wochen oder Monate eine Erblindung und damit ein drohender Verlust eines wichtigen Sinnesorgans in Form der Sehfähigkeit auf einem Auge eintritt, ist nicht belegt. Der Kläger hat weder Gesichtsfeldausfälle noch eine sonstige Verschlechterung geltend gemacht. Vielmehr hat er vorgetragen, der Augeninnendruck sei gut eingestellt.
40 Zur Verlaufsbeobachtung stehen außerdem andere Leistungen zur Verfügung, wie der MDK für den Senat überzeugend dargelegt hat.
41 Da der Kläger wie dargelegt keinen Primäranspruch hat, bleibt auch die Klage gerichtet auf künftige Kostenübernahme ohne Erfolg.
42 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
43 Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 08.08.2019 wird zurückgewiesen.Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Klägerin wendet sich gegen eine rückwirkende bzw endgültige Festsetzung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit von Dezember 2011 bis November 2016.
2 Die 1957 geborene Klägerin ist bei der Beklagten zu 1) als Selbständige freiwillig gesetzlich krankenversichert und bei der Beklagten zu 2) pflegeversichert. Sie beantwortete zuletzt mit Schreiben vom 12.04.2010 eine Einkommensanfrage der Beklagten unter Vorlage des Einkommenssteuerbescheides für das Jahr 2008. Mit Bescheid vom 05.05.2010 setzte die Beklagte zu 1) die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ab dem 01.09.2008 nach Zeiträumen gestaffelt neu fest. Für die Zeit ab 01.01.2010 setzte die Beklagte zu 1) den Beitrag auf Grundlage der Mindestbemessungsgrenze (851,67 EUR) fest, weil die im Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2008 ausgewiesenen Einkünfte unter der Mindestbemessungsgrenze lagen. Der Beitrag zur Krankenversicherung wurde mit 121,79 EUR und für die Pflegeversicherung mit 16,61 EUR festgesetzt. Die Klägerin wurde darauf hingewiesen, künftige Einkommensveränderungen rechtzeitig mitzuteilen. Dieser Aufforderung kam die Klägerin zunächst nicht nach. Erst im November 2016 legte sie der Beklagten zu 1) die Einkommensteuerbescheide für die Jahre ab 2009 vor.
3 Für die Zeit ab dem Jahr 2011 erließ die Beklagte zu 1) dennoch weitere Beitragsbescheide. Sie passte die Beiträge der Klägerin zur Kranken- und Pflegeversicherung mit Bescheiden vom 14.01.2011 ab 01.01.2011, vom 09.02.2012 ab 01.01.2012, vom 06.02.2013 ab 01.01.2013, vom 31.01.2014 ab 01.01.2014, vom 03.02.2015 ab 01.01.2015 und vom 01.02.2016 ab 01.01.2016 an die Änderungen der Rechengrößen in der Sozialversicherung an. Die Bescheide aus den Jahren 2012 bis 2016 ergingen auch im Namen der Pflegekasse. Die Bescheide vom 14.01.2011 und vom 09.02.2012 enthielten folgenden Hinweis: „Die Beitragseinstufung ist ohne die erforderlichen amtlichen Unterlagen erfolgt. Dieser Beitragsbescheid wird unter Vorbehalt nach § 32 SGB X erlassen. Eine endgültige Bescheiderteilung erfolgt, wenn Sie uns amtliche Unterlagen (Einkommensteuerbescheid) einreichen.“ Die Bescheide für die Jahre 2013 bis 2016 enthielten den Hinweis, dass die Festsetzungen unter Vorbehalt erfolgen. Die Klägerin wurde aufgefordert, zukünftige Einkommensänderungen jeweils mitzuteilen.
4 Nachdem die Klägerin im November 2016 die Einkommenssteuerbescheide für die Jahre ab 2009 der Beklagten zu 1) vorgelegt hatte, machten die Beklagten mit Bescheid vom 09.11.2016 für die Zeit vom 01.12.2011 bis zum 09.11.2016 einen Beitragsrückstand in Höhe von insgesamt 15.638,39 EUR geltend. Die Beklagte zu 1) setzte - auch im Namen der Beklagten zu 2) - für den Zeitraum ab 01.12.2011 die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung wie folgt neu fest:
5
ab
von den Beklagten als monatlichesEinkommen zugrunde gelegter Betrag
Beiträge Krankenversicherung / Pflegeversicherung
01.12.2011
2.791,33 EUR
KV 415,91 EURPV 54,43 EUR
01.05.2012
2.466,34 EUR
KV 367,48 EURPV 48,09 EUR
01.01.2013
KV 367,48 EURPV 50,56 EUR
01.04.2013
2.824,26 EUR
KV 420,81 EURPV 57,90 EUR
01.06.2014
2.212,66 EUR
KV 329,69 EURPV 45,36 EUR
01.01.2015
KV 329,68 EURPV 52,00 EUR
01.07.2015
2.403,50 EUR
KV 358,12 EURPV 56,48 EUR
01.01.2016
KV 362,93 EURPV 56,48 EUR
01.04.2016
2.327,16 EUR
KV 351,40 EURPV 54,69 EUR
6 Mit E-Mail vom 15.11.2016 teilte die Klägerin der Beklagten zu 1) mit, die Bankeinzugsermächtigung auszusetzen, der Betrag bedürfe zunächst ihrer Prüfung. Die Beklagte zu 1) übersandte auf Anforderung der Klägerin eine detaillierte Aufstellung über die Zusammensetzung des nachgeforderten Betrages. Ferner erläuterte sie noch die Zusammensetzung der zugrunde gelegten Einkommen.
7 Da der Beitragsrückstand nicht beglichen wurde, stellte die Beklagte zu 1) mit Bescheid vom 13.03.2017 außerdem das Ruhen des Leistungsanspruches fest.
8 Die Klägerin beantragte am 12.04.2017 die Aufhebung des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 über die Beitragsfestsetzung für die Zeit vom 01.12.2011 bis 09.11.2016. Sie war der Auffassung, die fehlerhafte Beitragsfestsetzung hätten allein die Beklagten zu vertreten. Ihnen sei von Anfang an bekannt gewesen, dass sie hauptberuflich eine selbständige Tätigkeit ausübe. Sie genieße daher Vertrauensschutz. Im Übrigen könne der Bescheid vom 09.11.2016 aufgrund der bestehenden bestandskräftigen Altbescheide nur in die Zukunft wirken und sei daher für die Vergangenheit nichtig. Zugleich erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid über die Feststellung des Ruhens des Leistungsanspruchs.
9 Mit Schreiben vom 19.04.2017 teilte die Beklagte zu 1) der Klägerin mit, sie sei aufgrund der vorliegenden Angaben zum zeitlichen Aufwand sowie der wirtschaftlichen Bedeutung ihrer Tätigkeit davon ausgegangen, dass die Klägerin in der Kranken- und Pflegeversicherung als nebenberuflich selbständig gelte. Die Klägerin sei letztmalig mit dem Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2008 eingestuft und festgesetzt worden. Das über den letzten Einkommenssteuerbescheid festgesetzte Arbeitseinkommen bleibe jedoch nur bis zur Erteilung des nächsten Einkommenssteuerbescheides maßgebend. Einer Aufhebung habe es insofern nicht bedurft. Sie habe darauf hingewiesen, dass Einkommensveränderungen rechtzeitig mitzuteilen seien. Das Schreiben enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung.
10 Mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.2017 hat die Beklagte zu 1) den Widerspruch gegen den Bescheid vom 13.03.2017 über das Ruhen des Leistungsanspruchs zurückgewiesen.
11 Die Klägerin hat am 19.07.2017 die Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben (S 9 KR 2435/17) und die Verurteilung der Beklagten zur Rücknahme des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 beantragt. Sie hat geltend gemacht, die bis zum Jahre 2016 fehlerhaften Festsetzungen der Beiträge hätten allein die Beklagten zu vertreten. In den einzelnen Beitragsbescheiden seit dem Jahr 2011 sei nicht aufgeführt, dass die Beklagten die Beiträge nach dem Mindesttarif für nebenberuflich Selbständige erhebe. Die Klägerin habe davon ausgehen können, dass die nach ihren Angaben durch mehrere Bescheide der Krankenkasse festgesetzten monatlichen Beiträge zutreffend seien, nachdem sie den Beklagten die Fragebögen und Einkommenssteuererklärungen überlassen habe. Die Bescheide über die Beitragsfestsetzung bis zum 09.11.2016 seien bestandskräftig. Der Bescheid vom 09.11.2016 sei für die vergangenen Zeiträume nichtig. Die Voraussetzungen für die Rücknahme eines Beitragsbescheides hätten nicht vorgelegen.
12 Auf richterlichen Hinweis hat die Klägerin mit Schreiben vom 11.04.2018 Widerspruch gegen den Bescheid vom 19.04.2017 über die Ablehnung der Abänderung des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 erhoben. Diesen hat die Beklagte zu 1) mit Widerspruchsbescheid vom 29.06.2018 zurückgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin ebenfalls Klage erhoben (S 13 KR 2408/18), die nach richterlichem Hinweis für erledigt erklärt worden ist.
13 Mit Urteil vom 08.08.2019 hat das SG die Klage (S 9 KR 2435/17) abgewiesen. Die Beiträge für die Zeit ab dem 01.12.2011 seien zutreffend festgesetzt worden. Die Klägerin sei als Selbständige freiwilliges Mitglied der Krankenversicherung und Pflichtmitglied in der sozialen Pflegeversicherung. Die Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder werde einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV Spitzenverband) geregelt. Gemäß § 240 Abs 4 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) und § 7 Abs 3 der vom GKV Spitzenverband erlassenen einheitlichen Grundsätze zur Beitragsbemessung freiwilliger Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung und weiterer Mitgliedergruppen sowie zur Zahlung und Fälligkeit der von Mitgliedern selbst zu entrichtenden Beiträge (Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler < BVGsSz >) gelte für freiwillige Mitglieder, die hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind, als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag der dreißigste Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze (vgl § 223 Abs 3 SGB V). Würden niedrigere Einnahmen nachgewiesen, seien diese als beitragspflichtige Einnahmen heranzuziehen, mindestens jedoch für den Kalendertag der vierzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße (vgl § 18 Abs 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch < SGB IV >). Die Voraussetzungen für die Beitragsbemessung gemäß § 7 Abs 7 BVGsSz seien vom Mitglied nachzuweisen. Der Nachweis niedriger Einnahmen können nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG; vgl Urteil vom 02.09.2009, Az B 12 KR 21/08 R) nur noch durch Vorlage von Einkommensteuerbescheiden geführt werden. Das über den letzten Einkommensteuerbescheid festgesetzte Arbeitseinkommen bleibe danach bis zur Erteilung des nächsten Einkommensteuerbescheids maßgebend. Der neue Einkommensteuerbescheid sei für die Beitragsbemessung ab Beginn des auf die Ausfertigung folgenden Monats heranzuziehen. Lege das Mitglied den Einkommensteuerbescheid später vor und ergäbe sich eine günstigere Beitragsbemessung, seien die Verhältnisse erst ab Beginn des auf die Vorlage dieses Einkommensteuerbescheids folgenden Monats zu berücksichtigen. Die Regelung des § 7 BVGsSz stehe in Übereinstimmung mit § 240 Abs 4 Satz 6 SGB V, wonach Veränderungen der Beitragsbemessung auf Grund eines vom Versicherten zu führenden Nachweises nach § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V nur zum ersten Tag des auf die Vorlage dieses Nachweises folgenden Monats wirksam werden. Die Beklagten hätten die Beiträge der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum erstmalig anhand des eingereichten Einkommenssteuerbescheides des Jahres 2008 festgesetzt. Die Beklagten hätten anschließend nach Vorlage der Einkommenssteuerbescheide zutreffend die Beiträge für die auf die Ausfertigung der Einkommenssteuerbescheide korrekt festgesetzt. § 7 Abs 7 BVGsSz sei dergestalt auszulegen, dass es einer förmlichen Aufhebung eines ergangenen Beitragsbescheides nicht bedürfe, denn mit Ausstellung eines neuen Steuerbescheids entfalle ab diesen Zeitpunkt die Regelungswirkung des auf den früheren Steuerbescheid ergangenen Beitragsbescheids von Gesetzes wegen: er habe sich im Sinne des § 39 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erledigt. Gleichzeitig folge hieraus auch die Befugnis zur rückwirkenden Beitragskorrektur. Insoweit bedürfe es nicht der Voraussetzungen des § 48 SGB X. Vorläufige Beitragsfestsetzungen enthielten keine Bindungswirkung für die endgültige Beitragsfestsetzung. Eine Aufhebung der Bescheide vom 09.02.2012, vom 06.02.2013, vom 31.01.2014 und vom 03.02.2015 wäre nach § 48 SGB X gleichwohl möglich gewesen, da die Klägerin auf grob fahrlässige Weise ihren Mitteilungspflichten nicht nachgekommen sei.
14 Hiergegen richtet sich die am 08.10.2019 eingelegte Berufung der Klägerin. Sie verweist auf ihren bisherigen Vortrag und führt ergänzend aus, dass es einer förmlichen Aufhebung der Beitragsbescheide vom 09.02.2012, 06.02.2013, 31.01.2014 und 03.02.2015 bedurft hätte. § 7 Abs 7 BVGsSz gehe nur davon aus, dass nach vorgelegtem Steuerbescheid ein aus dem Steuerbescheid sich ergebender neuer Beitrag festzusetzen sei. Die Vorschrift normiere jedoch keine Automatik, dass mit der Neufestsetzung der alte Bescheid erledigt oder aufgehoben sei. Auslegungsfähig sei diese Vorschrift nicht in Bezug auf eine Automatik hinsichtlich der Aufhebung des Altbescheids. Regelungsverfügungen hätten eindeutige und klare Aussagen gegenüber dem von der Regelung betroffenen Adressaten zu enthalten. Zumindest müsse die Regelungsverfügung enthalten sein, dass der alte Bescheid aufgehoben werde und an seine Stelle der neue Bescheid trete. Die Beitragskorrektur hätte unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X erfolgen müssen.
15 Die Klägerin beantragt,
16 das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 08.08.2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 09.11.2016 aufzuheben, soweit darin Beiträge für die Zeit vom 01.12.2011 bis 09.11.2016 neu festgesetzt worden sind.
17 Die Beklagten beantragen,
18 die Berufung zurückzuweisen.
19 Sie führen aus, dass es nach wohl herrschender Auffassung einer expliziten förmlichen Aufhebung eines Verwaltungsakts nicht bedürfe, wenn dieser durch einen neuen ersetzt werde und eindeutig erkennbar sei, dass damit der alte Verwaltungsakt aufgehoben werden soll. So liege der Fall hier. Durch den jeweiligen Text sowie durch die Benennung der betroffenen Zeiträume sei jeweils eindeutig zum Ausdruck gebracht worden, dass eine Neuregelung getroffen werden solle.
20 Mit Bescheiden vom 23.01.2017, 11.01.2018 und 07.01.2019 hat die Beklagte zu 1) auch im Namen der Beklagten zu 2) die Beiträge aufgrund der Änderung der Rechengröße in der Sozialversicherung jeweils zu Jahresbeginn angepasst. Mit Bescheid vom 15.01.2019 hat die Beklagte zu 1) auch im Namen der Beklagten zu 2) nach Vorlage des Einkommenssteuerbescheides 2017 die Beiträge für die Zeit ab 01.12.2018 und dementsprechend aufgrund der Änderung der Rechengröße in der Sozialversicherung ab 01.01.2019 angepasst. Mit Bescheid vom 19.02.2019 hat die Beklagte zu 1) auch im Namen der Beklagten zu 2) die Beiträge für die Zeit ab 01.02.2019 aufgrund der Reduzierung des Zusatzbeitrages geändert.
21 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
22 Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
23 Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Die Beklagten haben zu Recht eine Abänderung des Bescheides vom 09.11.2016 abgelehnt. Der Bescheid vom 19.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2018 über die Ablehnung der Abänderung des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
24 Richtige Klageart ist die mit der Verpflichtungsklage verbundene Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG). Mit der Anfechtungsklage begehrt die Klägerin die Aufhebung des Bescheides vom 19.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2018, soweit damit ihr Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 09.11.2016 abgelehnt wurde. Mit der Verpflichtungsklage begehrt sie die Rücknahme des Bescheides vom 09.11.2016, soweit die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit vom 01.12.2011 bis 09.11.2016 neu festgesetzt wurden (zur Klageart gegen ablehnende Entscheidungen auf der Grundlage von § 44 SGB X vgl BSG 12.09.2019, B 11 AL 19/18 R, SozR 4-4300 § 330 Nr 8; Baumeister in: jurisPK-SGB X, 2. Aufl § 44 SGB X, Stand 23.03.2020, Rn 154 ff). Mit ihrem Antrag vom 12.04.2017 hat die Klägerin (ebenso wie in der Klageschrift) eine Aufhebung des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 nur insoweit geltend gemacht, als es den genannten Zeitraum betrifft. Nur dieser Zeitraum ist daher auch Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist dies bestätigt worden. Die weiteren Bescheide der Beklagten, die einen späteren Zeitraum betreffen, sind nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Klage- oder Berufungsverfahrens geworden.
25 Rechtsgrundlage für das Klagebegehren ist § 44 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt aufzuheben, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind (§ 44 Abs 1 SGB X). Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist (§ 44 Abs 3 SGB X).
26 Zuständig für die Entscheidung über die Rücknahme des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 sind die Beklagten, da sie auch für die Festsetzung der Beiträge zuständig waren und es noch sind. Über die Erhebung von Beiträgen zur Pflegeversicherung entscheiden die Pflegekassen als Träger der Pflegeversicherung. Krankenkassen und Pflegekassen können jedoch für Mitglieder, die ihre Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge selbst zu zahlen haben, die Höhe der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in einem gemeinsamen Beitragsbescheid festsetzen. Das Mitglied ist in diesem Fall darauf hinzuweisen, dass der Bescheid über den Beitrag zur Pflegeversicherung auch im Namen der Pflegekasse ergeht. Haben die Krankenkassen und Pflegekassen die Beiträge gemeinsam festgesetzt, kann auch ein gemeinsamer Widerspruchsbescheid erlassen werden (§ 46 Abs 2 Sätze 4 bis 6 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XI). Dies gilt auch für die Entscheidung über einen auf die Rücknahme eines gemeinsamen Beitragsbescheides der Krankenkasse und der Pflegekasse gerichteten Antrag nach § 44 SGB X.
27 Der Senat geht davon aus, dass der Widerspruchsbescheid vom 29.06.2018 (zumindest konkludent) auch im Namen der Beklagten zu 2) ergangen ist, da über den Widerspruch erst nach Erhebung der Klage gegen die Beklagten entschieden wurde. Andernfalls läge noch gar keine Entscheidung über die Pflegeversicherungsbeiträge vor, so dass die Klage mangels Durchführung eines Verwaltungsverfahrens insoweit unzulässig wäre. Selbst wenn davon ausgegangen werden müsste, dass der mit der Anfechtungsklage angefochtene Bescheid insoweit rechtswidrig ist, als die Beklagte zu 1) auch über die Rücknahme der Pflegeversicherungsbeiträge entschieden hat, aber eine gemeinsame Entscheidung nicht anzunehmen ist, weil die Beklagte zu 1) nicht ausdrücklich auch im Namen der Beklagten zu 2) entschieden hat, würde dies nicht zu einem Erfolg der Klage führen. Der mit der Verpflichtungsklage geltend gemachte Anspruch nach § 44 Abs 1 SGB X auf Rücknahme des Bescheides vom 09.11.2016 besteht auch in Bezug auf die Pflegeversicherungsbeiträge nicht (siehe die nachfolgenden Ausführungen), und für eine isolierte (teilweise) Aufhebung des Bescheides vom 19.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2018 besteht kein Rechtsschutzbedürfnis.
28 Die von der Klägerin begehrte Aufhebung des Bescheides vom 09.11.2016 kommt nicht bereits deshalb in Betracht, weil die Beklagten die Klägerin vor Erteilung dieses Bescheides nicht gemäß § 24 SGB X angehört haben. Eine Anhörung war nicht erforderlich, weil mit diesem Bescheid erstmals endgültig die Höhe der Beiträge festgesetzt wurde. Im Übrigen kann offenbleiben, ob eine Anhörung bei der hier gegebenen Fallkonstellation hätte erfolgen müssen. Das Unterlassen der Anhörung räumt dem Betroffenen keine dem materiellen Recht zuzuordnende Position ein, die für sich genommen einen Anspruch auf die Durchbrechung der Bindungswirkung im Überprüfungsverfahren rechtfertigt (vgl BSG 03.05.2018, B 11 AL 3/17 R, SozR 4-1300 § 44 Nr 37 = juris Rn 18 mwN). Bereits aus der Formulierung "und soweit deshalb" in § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X lässt sich ableiten, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes und der zu Unrecht erhobenen Beiträge bestehen muss. Ein solcher Kausalzusammenhang lässt sich nur anhand der materiellen Rechtslage beurteilen. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist daher dahin zu verstehen, dass es lediglich darauf ankommt, ob die erhobenen Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind (vgl ausführlich für zu Unrecht nicht erbrachte Sozialleistungen BSG 03.05.2018, B 11 AL 3/17 R, SozR 4-1300 § 44 Nr 37, juris Rn 19). Dies ist nicht der Fall.
29 Die Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder richtet sich seit Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20.12.1988 (BGBl I 2477) am 01.01.1989 nach § 240 SGB V. Im Zeitraum vom 01.01.2009 bis zum 31.12.2017 wurde die Vorschrift mehrmals geändert. Nach allen Fassungen galt, dass die Beitragsbemessung einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt wird und dabei sicherzustellen ist, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt (§ 240 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 SGB V). Das freiwillige Mitglied hatte auch in dem fraglichen Zeitraum der Krankenkasse auf Verlangen über alle für die Feststellung der Beitragspflicht erforderlichen Tatsachen unverzüglich Auskunft zu erteilen und Änderungen in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Beitragspflicht erheblich sind und nicht durch Dritte gemeldet werden, unverzüglich mitzuteilen (§ 206 Abs 1 Satz 1 SGB V). Die Pflicht zur Mitteilung von Änderungen besteht und bestand auch ohne ausdrückliches Verlangen der Krankenkasse. Änderungen der Einkommensverhältnisse muss der Versicherte von sich aus mitteilen.
30 Die Höhe der vom freiwilligen Mitglied zu zahlenden Beiträge wird von den Krankenkassen durch Beitragsbescheide geregelt. Bei diesen Bescheiden handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, die - sofern sie die Beitragshöhe endgültig regeln - nur unter den Voraussetzungen der §§ 44 ff SGB X aufgehoben werden können. Wird allerdings mit einem Beitragsbescheid die Beitragshöhe nur vorläufig durch einstweiligen Verwaltungsakt festgesetzt, entfaltet dieser keine Bindungswirkung in Bezug auf die endgültige Regelung der Beitragshöhe. Die Bindungswirkung eines bestandskräftig gewordenen einstweiligen Verwaltungsakts schafft zwischen den Beteiligten Rechtssicherheit nur für einen begrenzten Zeitraum bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch Erlass des endgültigen Verwaltungsakts und ist von vornherein auf Ersetzung durch den endgültigen Verwaltungsakt angelegt, ohne den Verwaltungsträger bei Erlass des endgültigen Verwaltungsakts zu binden. Mit seinem Erlass erledigen sich die vorläufigen Regelungen iS von § 39 Abs 2 SGB X (BSG 22.03.2006, B 12 KR 14/05 R, BSGE 96, 119 = SozR 4-2500 § 240 Nr 5; BSG, 30.03.2011, B 12 KR 18/09 R juris; Urteil des Senats vom 18.05.2010, L 11 R 3189/09). Einer förmlichen Aufhebung der vorläufigen Regelungen bedarf es nicht. Dies gilt nach Auffassung des Senats unabhängig davon, ob die Krankenkasse berechtigt war, über die Beitragshöhe durch einstweiligen Verwaltungsakt zu entscheiden (diese Frage wurde vom BSG im Urteil vom 22.03.2006 offengelassen). Auch einstweilige Verwaltungsakte gestalten die Rechtslage zwischen den Beteiligten verbindlich, so dass die Beklagte berechtigt war, die vorläufige Festsetzung durch eine endgültige Beitragsfestsetzung zu ersetzen (Urteil des Senats vom 09.12.2008, L 11 KR 3793/08, juris Rn 38).
31 Die Beitragsbescheide vom 14.01.2011, 09.02.2012, 06.02.2013, 31.01.2014, 03.02.2015 und vom 01.02.2016 waren sämtlich einstweilige Verwaltungsakte, mit denen die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nur vorläufig bis zum Erlass der Einkommensteuerbescheide festgesetzt wurden. Die Bescheide vom 14.01.2011 und vom 09.02.2012 enthielten folgenden Hinweis: „Die Beitragseinstufung ist ohne die erforderlichen amtlichen Unterlagen erfolgt. Dieser Beitragsbescheid wird unter Vorbehalt nach § 32 SGB X erlassen. Eine endgültige Bescheiderteilung erfolgt, wenn Sie uns amtliche Unterlagen (Einkommensteuerbescheid) einreichen.“ Die Bescheide für die Jahre 2013 bis 2016 enthielten den Hinweis, dass die Festsetzungen unter Vorbehalt erfolgen. Die Klägerin wurde zudem aufgefordert, zukünftige Einkommensänderungen jeweils mitzuteilen. Zwar ist der Hinweis auf § 32 SGB X fehlerhaft. Nach dieser Vorschrift kann ein Verwaltungsakt unter bestimmten Voraussetzungen mit einem Vorbehalt (als Nebenbestimmung) verbunden werden (§ 32 Abs 2 Nr 5 SGB X). Ein einstweiliger Verwaltungsakt ist aber keine (endgültige) Regelung mit Vorbehalt, sondern eine (vorläufige) Regelung unter Vorbehalt. Aus den Ausführungen der Beklagten in allen Bescheiden war jedoch für die Klägerin ohne Weiteres zu ersehen, dass die Beklagten nur eine vorläufige und keine endgültige Regelung treffen wollten. Die Klägerin hätte die Möglichkeit gehabt, Rechtsbehelfe gegen diese Beitragsbescheide einzulegen mit dem Ziel, die Beiträge endgültig festzusetzen. Im Übrigen war sie nach § 206 SGB V verpflichtet, die Einkommensteuerbescheide der Beklagten zu 1) unverzüglich vorzulegen, dh sobald sie diese vom Finanzamt erhalten hat. Das Verlangen nach Vorlage der Einkommensteuerbescheide haben die Beklagten in ihren Bescheiden deutlich gemacht. Auf Vertrauensschutz kann sich die Klägerin nicht berufen. Im Hinblick darauf, dass die Beiträge zunächst nur vorläufig festgesetzt wurden und die Klägerin überdies ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist, ist für die Zubilligung von Vertrauensschutz kein Raum. Daran ändert der Umstand nichts, dass sich die Beklagten keine allzu große Mühe bei der Überprüfung des Einkommens der Klägerin gegeben haben.
32 Die vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen erlassenen Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler (BVGsSz) vom 27.10.2008 (in Kraft getreten am 01.01.2009, § 13 BVGsSz) gestalten die Beitragsbemessung näher aus. Sie bieten ab 01.01.2009 grundsätzlich eine hinreichende Rechtsgrundlage für die Beitragsfestsetzung gegenüber freiwillig Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (BSG 19.12.2012, B 12 KR 20/11 R, SozR 4-2500 § 240 Nr 17) und verstoßen auch nicht gegen Verfassungsrecht (vgl Senatsurteile vom 18.06.2013, L 11 KR 300/12; 14.05.2013, L 11 KR 1553/11). Maßgeblich ist vorliegend die bis 27.11.2018 geltende Fassung.
33 Beiträge werden nach den beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds bemessen (§ 2 Abs 1 Satz 1 BVGsSz). Als beitragspflichtige Einnahmen sind das Arbeitsentgelt, das Arbeitseinkommen, der Zahlbetrag der Rente der gesetzlichen Rentenversicherung, der Zahlbetrag der Versorgungsbezüge sowie alle Einnahmen und Geldmittel, die für den Lebensunterhalt verbraucht werden oder verbraucht werden können, ohne Rücksicht auf ihre steuerliche Behandlung zugrunde zu legen (§ 3 Abs 1 Satz 1 BVGsSz). Diese Regelungen übernehmen die von der Rechtsprechung des BSG entwickelte Auslegung des § 240 Abs 1 Satz 2 SGB V (vgl BSG 23.09.1999, B 12 KR 12/98 R, SozR 3-2500 § 240 Nr 31 unter Verweis auf BT-Drucks 11/2237 S 225; BSG 22.03.2006, B 12 KR 8/05 R, juris Rn 19). Eine solche Generalklausel genügt, um neben den im Gesetz genannten beitragspflichtigen Einnahmen der versicherungspflichtigen Beschäftigten auch andere Einnahmen der Beitragsbemessung zugrunde zu legen, die bereits in der ständigen Rechtsprechung des BSG als Einnahmen zum Lebensunterhalt anerkannt worden sind (BSG 22.03.2006, B 12 KR 8/05 R, juris Rn 19). Erfasst werden auch die für die Beitragsbemessung nach § 240 Abs 2 Satz 1 SGB V zwingend heranzuziehenden Einnahmen des freiwilligen Mitglieds, die bei einem vergleichbaren versicherungspflichtig Beschäftigten der Beitragsbemessung zugrunde zu legen sind (vgl BSG 21.09.2005, B 12 KR 12/04 R, juris Rn 19).
34 Zu den beitragspflichtigen Einkünften zählen bei freiwillig Versicherten ua das Arbeitseinkommen, Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sowie Einnahmen aus Kapitalvermögen. Einkommen ist als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist (§ 15 Abs 1 SGB IV). Zum Arbeitseinkommen aus selbständiger Tätigkeit iS des Sozialversicherungsrechts rechnen auch Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2, Abs 2 Nr 1 EStG). Grundsätzlich ist für die Zuordnung von Einnahmen zum Arbeitseinkommen die steuerrechtliche Abgrenzung der Einkunftsarten maßgebend (Senatsurteil vom 18.08.2020, L 11 KR 4229/19, juris; vgl BSG 23.09.1999, B 12 KR 12/98 R, SozR 3-2500 § 240 Nr 31 S 140 ff mwN). Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung und Einnahmen aus Kapitalvermögen sind den beitragspflichtigen Einnahmen nach Abzug von Werbungskosten zuzurechnen. Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Als Werbungskosten ist bei Einnahmen aus Kapitalvermögen ein Betrag von 51 EUR pro Kalenderjahr zu berücksichtigen, sofern keine höheren tatsächlichen Aufwendungen nachgewiesen werden. Maßgeblich für den Nachweis der beitragspflichtigen Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen ist der Einkommenssteuerbescheid (§ 6 BVGsSz). Es übersteigt regelmäßig den einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zumutbaren Verwaltungsaufwand, die Einkommensverhältnisse eines jeden Versicherten selbst zu prüfen und zu bewerten. Andere Unterlagen als der Einkommensteuerbescheid sind insoweit nicht geeignet, eine verlässliche und für die Vergangenheit abschließende Datenbasis zu liefern (Senatsurteil vom 12.09.2017, L 11 KR 817/17 – Photovoltaikanlage unter Hinweis auf BSG 28.05.2015, B 12 KR 12/13 R, SozR 4-2500 § 240 Nr 26 zur Bedeutung des Einkommensteuerbescheides bei der Beitragsbemessung freiwillig Versicherter).
35 Nachgewiesene Änderungen in den Verhältnissen, die für die Beitragsbemessung erheblich sind, werden vom Zeitpunkt der Änderung an wirksam (§ 6 Abs 4 Satz 2 BVGsSz). Für die Berücksichtigung von Änderungen bei Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung oder Kapitalvermögen gilt § 7 Abs 7 entsprechend (§ 6 Abs 6 BVGsSz), ebenso für die sonstigen Einkünfte. Nach § 7 Abs 7 Satz 2 bis 4 BVGsSz bleibt das über den letzten Einkommenssteuerbescheid festgesetzte Arbeitseinkommen bis zur Erteilung des nächsten Einkommenssteuerbescheids maßgebend. Der neue Einkommenssteuerbescheid ist für die Beitragsbemessung ab Beginn des auf die Ausfertigung folgenden Monats heranzuziehen. Legt das Mitglied den Einkommenssteuerbescheid später vor und ergäbe sich eine günstigere Beitragsbemessung, sind die Verhältnisse erst ab Beginn des auf die Vorlage dieses Einkommenssteuerbescheids folgenden Monats zu berücksichtigen. Die zeitversetzte Berücksichtigung der tatsächlichen Einnahmen hat das BSG im Hinblick auf den über die Jahre stattfinden Ausgleich stets gebilligt (BSG 22.03.2006, B 12 KR 14/05 R, SozR 4-2500 § 240 Nr 5; BSG 30.10.2013, B 12 KR 21/11 R, SozR 4-2500 § 240 Nr 19). Das seit 01.01.2018 geltende Verfahren nach § 240 Abs 4a SGB V findet für den hier streitigen Zeitraum keine Anwendung.
36 Die Einkünfte der Klägerin wurden im Bescheid vom 09.11.2016 der Beitragsbemessung auf der Grundlage der Einkommenssteuerbescheide auch in zutreffender Höhe und zeitlich korrekt zugrunde gelegt. Die Beklagten haben die Beiträge zutreffend berechnet. Insbesondere war kein Abzug eines in den Einkommenssteuerbescheiden berücksichtigten Sparer-Pauschbetrages zu machen (BSG 09.08.2006, B 12 KR 8/06 R, BSGE 97, 41-47 = SozR 4-2500 § 240 Nr 8, juris Rn 19). Dies ergibt sich schon daraus, dass es sich dabei um Werbungskosten handelt, denn nach § 20 Abs 9 Satz 1 EStG in der ab 18.08.2007 geltenden Fassung ist bei der Ermittlung von Einkünften aus Kapitalvermögen als Werbungskosten ein Betrag von 801 EUR abzuziehen; der Abzug der tatsächlichen Werbungskosten ist ausgeschlossen. Die BVGsSz enthalten jedoch eine hiervon abweichende Regelung mit der Berücksichtigung eines jährlichen Betrages von 51 EUR, wobei der Nachweis höherer Kosten möglich bleibt. Höhere Kosten hat die Klägerin nicht nachgewiesen, den Pauschbetrag von 51 EUR haben die Beklagten berücksichtigt.
37 Auch die in den Einkommenssteuerbescheiden enthaltenen Verlustvorträge haben die Beklagten zutreffend nicht berücksichtigt. Nach § 15 Abs 1 Satz 1 SGB IV ist Arbeitseinkommen der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommenssteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. Ein Verlustvortrag nach § 10d EStG ist daher nicht zu berücksichtigen. Diese Norm zählt nach Gesetzeswortlaut und Systematik des EStG nicht zu den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommenssteuerrechts (vgl BSG 16.05.2001, B 5 RJ 46/00 R, BSGE 88, 117-125 = SozR 3-2600 § 97 Nr 4 = SozR 3-2400 § 15 Nr 9 = juris Rn 14). Vorliegend handelt es sich um einen Verlustvortrag im Sinne von § 10d EStG, denn er ist nach der Ermittlung der Einkünfte und der Summe der Einkünfte und nicht bezogen auf einzelne Einkommensarten erfolgt. Lediglich Abzüge, die auf der Ebene der Ermittlung der Einkünfte vorgenommen werde dürften, sind innerhalb der allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommenssteuerrechts zu berücksichtigen.
38 Die Berechnung der konkreten Beiträge aus diesem so ermittelten Einkommen ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat insoweit keine Einwände erhoben.
39 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
40 Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 Nr 1, 2 SGG).
Gründe
22 Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
23 Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Die Beklagten haben zu Recht eine Abänderung des Bescheides vom 09.11.2016 abgelehnt. Der Bescheid vom 19.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2018 über die Ablehnung der Abänderung des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
24 Richtige Klageart ist die mit der Verpflichtungsklage verbundene Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG). Mit der Anfechtungsklage begehrt die Klägerin die Aufhebung des Bescheides vom 19.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2018, soweit damit ihr Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 09.11.2016 abgelehnt wurde. Mit der Verpflichtungsklage begehrt sie die Rücknahme des Bescheides vom 09.11.2016, soweit die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit vom 01.12.2011 bis 09.11.2016 neu festgesetzt wurden (zur Klageart gegen ablehnende Entscheidungen auf der Grundlage von § 44 SGB X vgl BSG 12.09.2019, B 11 AL 19/18 R, SozR 4-4300 § 330 Nr 8; Baumeister in: jurisPK-SGB X, 2. Aufl § 44 SGB X, Stand 23.03.2020, Rn 154 ff). Mit ihrem Antrag vom 12.04.2017 hat die Klägerin (ebenso wie in der Klageschrift) eine Aufhebung des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 nur insoweit geltend gemacht, als es den genannten Zeitraum betrifft. Nur dieser Zeitraum ist daher auch Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist dies bestätigt worden. Die weiteren Bescheide der Beklagten, die einen späteren Zeitraum betreffen, sind nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Klage- oder Berufungsverfahrens geworden.
25 Rechtsgrundlage für das Klagebegehren ist § 44 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt aufzuheben, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind (§ 44 Abs 1 SGB X). Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist (§ 44 Abs 3 SGB X).
26 Zuständig für die Entscheidung über die Rücknahme des Beitragsbescheides vom 09.11.2016 sind die Beklagten, da sie auch für die Festsetzung der Beiträge zuständig waren und es noch sind. Über die Erhebung von Beiträgen zur Pflegeversicherung entscheiden die Pflegekassen als Träger der Pflegeversicherung. Krankenkassen und Pflegekassen können jedoch für Mitglieder, die ihre Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge selbst zu zahlen haben, die Höhe der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in einem gemeinsamen Beitragsbescheid festsetzen. Das Mitglied ist in diesem Fall darauf hinzuweisen, dass der Bescheid über den Beitrag zur Pflegeversicherung auch im Namen der Pflegekasse ergeht. Haben die Krankenkassen und Pflegekassen die Beiträge gemeinsam festgesetzt, kann auch ein gemeinsamer Widerspruchsbescheid erlassen werden (§ 46 Abs 2 Sätze 4 bis 6 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XI). Dies gilt auch für die Entscheidung über einen auf die Rücknahme eines gemeinsamen Beitragsbescheides der Krankenkasse und der Pflegekasse gerichteten Antrag nach § 44 SGB X.
27 Der Senat geht davon aus, dass der Widerspruchsbescheid vom 29.06.2018 (zumindest konkludent) auch im Namen der Beklagten zu 2) ergangen ist, da über den Widerspruch erst nach Erhebung der Klage gegen die Beklagten entschieden wurde. Andernfalls läge noch gar keine Entscheidung über die Pflegeversicherungsbeiträge vor, so dass die Klage mangels Durchführung eines Verwaltungsverfahrens insoweit unzulässig wäre. Selbst wenn davon ausgegangen werden müsste, dass der mit der Anfechtungsklage angefochtene Bescheid insoweit rechtswidrig ist, als die Beklagte zu 1) auch über die Rücknahme der Pflegeversicherungsbeiträge entschieden hat, aber eine gemeinsame Entscheidung nicht anzunehmen ist, weil die Beklagte zu 1) nicht ausdrücklich auch im Namen der Beklagten zu 2) entschieden hat, würde dies nicht zu einem Erfolg der Klage führen. Der mit der Verpflichtungsklage geltend gemachte Anspruch nach § 44 Abs 1 SGB X auf Rücknahme des Bescheides vom 09.11.2016 besteht auch in Bezug auf die Pflegeversicherungsbeiträge nicht (siehe die nachfolgenden Ausführungen), und für eine isolierte (teilweise) Aufhebung des Bescheides vom 19.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2018 besteht kein Rechtsschutzbedürfnis.
28 Die von der Klägerin begehrte Aufhebung des Bescheides vom 09.11.2016 kommt nicht bereits deshalb in Betracht, weil die Beklagten die Klägerin vor Erteilung dieses Bescheides nicht gemäß § 24 SGB X angehört haben. Eine Anhörung war nicht erforderlich, weil mit diesem Bescheid erstmals endgültig die Höhe der Beiträge festgesetzt wurde. Im Übrigen kann offenbleiben, ob eine Anhörung bei der hier gegebenen Fallkonstellation hätte erfolgen müssen. Das Unterlassen der Anhörung räumt dem Betroffenen keine dem materiellen Recht zuzuordnende Position ein, die für sich genommen einen Anspruch auf die Durchbrechung der Bindungswirkung im Überprüfungsverfahren rechtfertigt (vgl BSG 03.05.2018, B 11 AL 3/17 R, SozR 4-1300 § 44 Nr 37 = juris Rn 18 mwN). Bereits aus der Formulierung "und soweit deshalb" in § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X lässt sich ableiten, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes und der zu Unrecht erhobenen Beiträge bestehen muss. Ein solcher Kausalzusammenhang lässt sich nur anhand der materiellen Rechtslage beurteilen. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist daher dahin zu verstehen, dass es lediglich darauf ankommt, ob die erhobenen Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind (vgl ausführlich für zu Unrecht nicht erbrachte Sozialleistungen BSG 03.05.2018, B 11 AL 3/17 R, SozR 4-1300 § 44 Nr 37, juris Rn 19). Dies ist nicht der Fall.
29 Die Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder richtet sich seit Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20.12.1988 (BGBl I 2477) am 01.01.1989 nach § 240 SGB V. Im Zeitraum vom 01.01.2009 bis zum 31.12.2017 wurde die Vorschrift mehrmals geändert. Nach allen Fassungen galt, dass die Beitragsbemessung einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt wird und dabei sicherzustellen ist, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt (§ 240 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 SGB V). Das freiwillige Mitglied hatte auch in dem fraglichen Zeitraum der Krankenkasse auf Verlangen über alle für die Feststellung der Beitragspflicht erforderlichen Tatsachen unverzüglich Auskunft zu erteilen und Änderungen in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Beitragspflicht erheblich sind und nicht durch Dritte gemeldet werden, unverzüglich mitzuteilen (§ 206 Abs 1 Satz 1 SGB V). Die Pflicht zur Mitteilung von Änderungen besteht und bestand auch ohne ausdrückliches Verlangen der Krankenkasse. Änderungen der Einkommensverhältnisse muss der Versicherte von sich aus mitteilen.
30 Die Höhe der vom freiwilligen Mitglied zu zahlenden Beiträge wird von den Krankenkassen durch Beitragsbescheide geregelt. Bei diesen Bescheiden handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, die - sofern sie die Beitragshöhe endgültig regeln - nur unter den Voraussetzungen der §§ 44 ff SGB X aufgehoben werden können. Wird allerdings mit einem Beitragsbescheid die Beitragshöhe nur vorläufig durch einstweiligen Verwaltungsakt festgesetzt, entfaltet dieser keine Bindungswirkung in Bezug auf die endgültige Regelung der Beitragshöhe. Die Bindungswirkung eines bestandskräftig gewordenen einstweiligen Verwaltungsakts schafft zwischen den Beteiligten Rechtssicherheit nur für einen begrenzten Zeitraum bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch Erlass des endgültigen Verwaltungsakts und ist von vornherein auf Ersetzung durch den endgültigen Verwaltungsakt angelegt, ohne den Verwaltungsträger bei Erlass des endgültigen Verwaltungsakts zu binden. Mit seinem Erlass erledigen sich die vorläufigen Regelungen iS von § 39 Abs 2 SGB X (BSG 22.03.2006, B 12 KR 14/05 R, BSGE 96, 119 = SozR 4-2500 § 240 Nr 5; BSG, 30.03.2011, B 12 KR 18/09 R juris; Urteil des Senats vom 18.05.2010, L 11 R 3189/09). Einer förmlichen Aufhebung der vorläufigen Regelungen bedarf es nicht. Dies gilt nach Auffassung des Senats unabhängig davon, ob die Krankenkasse berechtigt war, über die Beitragshöhe durch einstweiligen Verwaltungsakt zu entscheiden (diese Frage wurde vom BSG im Urteil vom 22.03.2006 offengelassen). Auch einstweilige Verwaltungsakte gestalten die Rechtslage zwischen den Beteiligten verbindlich, so dass die Beklagte berechtigt war, die vorläufige Festsetzung durch eine endgültige Beitragsfestsetzung zu ersetzen (Urteil des Senats vom 09.12.2008, L 11 KR 3793/08, juris Rn 38).
31 Die Beitragsbescheide vom 14.01.2011, 09.02.2012, 06.02.2013, 31.01.2014, 03.02.2015 und vom 01.02.2016 waren sämtlich einstweilige Verwaltungsakte, mit denen die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nur vorläufig bis zum Erlass der Einkommensteuerbescheide festgesetzt wurden. Die Bescheide vom 14.01.2011 und vom 09.02.2012 enthielten folgenden Hinweis: „Die Beitragseinstufung ist ohne die erforderlichen amtlichen Unterlagen erfolgt. Dieser Beitragsbescheid wird unter Vorbehalt nach § 32 SGB X erlassen. Eine endgültige Bescheiderteilung erfolgt, wenn Sie uns amtliche Unterlagen (Einkommensteuerbescheid) einreichen.“ Die Bescheide für die Jahre 2013 bis 2016 enthielten den Hinweis, dass die Festsetzungen unter Vorbehalt erfolgen. Die Klägerin wurde zudem aufgefordert, zukünftige Einkommensänderungen jeweils mitzuteilen. Zwar ist der Hinweis auf § 32 SGB X fehlerhaft. Nach dieser Vorschrift kann ein Verwaltungsakt unter bestimmten Voraussetzungen mit einem Vorbehalt (als Nebenbestimmung) verbunden werden (§ 32 Abs 2 Nr 5 SGB X). Ein einstweiliger Verwaltungsakt ist aber keine (endgültige) Regelung mit Vorbehalt, sondern eine (vorläufige) Regelung unter Vorbehalt. Aus den Ausführungen der Beklagten in allen Bescheiden war jedoch für die Klägerin ohne Weiteres zu ersehen, dass die Beklagten nur eine vorläufige und keine endgültige Regelung treffen wollten. Die Klägerin hätte die Möglichkeit gehabt, Rechtsbehelfe gegen diese Beitragsbescheide einzulegen mit dem Ziel, die Beiträge endgültig festzusetzen. Im Übrigen war sie nach § 206 SGB V verpflichtet, die Einkommensteuerbescheide der Beklagten zu 1) unverzüglich vorzulegen, dh sobald sie diese vom Finanzamt erhalten hat. Das Verlangen nach Vorlage der Einkommensteuerbescheide haben die Beklagten in ihren Bescheiden deutlich gemacht. Auf Vertrauensschutz kann sich die Klägerin nicht berufen. Im Hinblick darauf, dass die Beiträge zunächst nur vorläufig festgesetzt wurden und die Klägerin überdies ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen ist, ist für die Zubilligung von Vertrauensschutz kein Raum. Daran ändert der Umstand nichts, dass sich die Beklagten keine allzu große Mühe bei der Überprüfung des Einkommens der Klägerin gegeben haben.
32 Die vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen erlassenen Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler (BVGsSz) vom 27.10.2008 (in Kraft getreten am 01.01.2009, § 13 BVGsSz) gestalten die Beitragsbemessung näher aus. Sie bieten ab 01.01.2009 grundsätzlich eine hinreichende Rechtsgrundlage für die Beitragsfestsetzung gegenüber freiwillig Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (BSG 19.12.2012, B 12 KR 20/11 R, SozR 4-2500 § 240 Nr 17) und verstoßen auch nicht gegen Verfassungsrecht (vgl Senatsurteile vom 18.06.2013, L 11 KR 300/12; 14.05.2013, L 11 KR 1553/11). Maßgeblich ist vorliegend die bis 27.11.2018 geltende Fassung.
33 Beiträge werden nach den beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds bemessen (§ 2 Abs 1 Satz 1 BVGsSz). Als beitragspflichtige Einnahmen sind das Arbeitsentgelt, das Arbeitseinkommen, der Zahlbetrag der Rente der gesetzlichen Rentenversicherung, der Zahlbetrag der Versorgungsbezüge sowie alle Einnahmen und Geldmittel, die für den Lebensunterhalt verbraucht werden oder verbraucht werden können, ohne Rücksicht auf ihre steuerliche Behandlung zugrunde zu legen (§ 3 Abs 1 Satz 1 BVGsSz). Diese Regelungen übernehmen die von der Rechtsprechung des BSG entwickelte Auslegung des § 240 Abs 1 Satz 2 SGB V (vgl BSG 23.09.1999, B 12 KR 12/98 R, SozR 3-2500 § 240 Nr 31 unter Verweis auf BT-Drucks 11/2237 S 225; BSG 22.03.2006, B 12 KR 8/05 R, juris Rn 19). Eine solche Generalklausel genügt, um neben den im Gesetz genannten beitragspflichtigen Einnahmen der versicherungspflichtigen Beschäftigten auch andere Einnahmen der Beitragsbemessung zugrunde zu legen, die bereits in der ständigen Rechtsprechung des BSG als Einnahmen zum Lebensunterhalt anerkannt worden sind (BSG 22.03.2006, B 12 KR 8/05 R, juris Rn 19). Erfasst werden auch die für die Beitragsbemessung nach § 240 Abs 2 Satz 1 SGB V zwingend heranzuziehenden Einnahmen des freiwilligen Mitglieds, die bei einem vergleichbaren versicherungspflichtig Beschäftigten der Beitragsbemessung zugrunde zu legen sind (vgl BSG 21.09.2005, B 12 KR 12/04 R, juris Rn 19).
34 Zu den beitragspflichtigen Einkünften zählen bei freiwillig Versicherten ua das Arbeitseinkommen, Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sowie Einnahmen aus Kapitalvermögen. Einkommen ist als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist (§ 15 Abs 1 SGB IV). Zum Arbeitseinkommen aus selbständiger Tätigkeit iS des Sozialversicherungsrechts rechnen auch Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2, Abs 2 Nr 1 EStG). Grundsätzlich ist für die Zuordnung von Einnahmen zum Arbeitseinkommen die steuerrechtliche Abgrenzung der Einkunftsarten maßgebend (Senatsurteil vom 18.08.2020, L 11 KR 4229/19, juris; vgl BSG 23.09.1999, B 12 KR 12/98 R, SozR 3-2500 § 240 Nr 31 S 140 ff mwN). Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung und Einnahmen aus Kapitalvermögen sind den beitragspflichtigen Einnahmen nach Abzug von Werbungskosten zuzurechnen. Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Als Werbungskosten ist bei Einnahmen aus Kapitalvermögen ein Betrag von 51 EUR pro Kalenderjahr zu berücksichtigen, sofern keine höheren tatsächlichen Aufwendungen nachgewiesen werden. Maßgeblich für den Nachweis der beitragspflichtigen Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen ist der Einkommenssteuerbescheid (§ 6 BVGsSz). Es übersteigt regelmäßig den einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zumutbaren Verwaltungsaufwand, die Einkommensverhältnisse eines jeden Versicherten selbst zu prüfen und zu bewerten. Andere Unterlagen als der Einkommensteuerbescheid sind insoweit nicht geeignet, eine verlässliche und für die Vergangenheit abschließende Datenbasis zu liefern (Senatsurteil vom 12.09.2017, L 11 KR 817/17 – Photovoltaikanlage unter Hinweis auf BSG 28.05.2015, B 12 KR 12/13 R, SozR 4-2500 § 240 Nr 26 zur Bedeutung des Einkommensteuerbescheides bei der Beitragsbemessung freiwillig Versicherter).
35 Nachgewiesene Änderungen in den Verhältnissen, die für die Beitragsbemessung erheblich sind, werden vom Zeitpunkt der Änderung an wirksam (§ 6 Abs 4 Satz 2 BVGsSz). Für die Berücksichtigung von Änderungen bei Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung oder Kapitalvermögen gilt § 7 Abs 7 entsprechend (§ 6 Abs 6 BVGsSz), ebenso für die sonstigen Einkünfte. Nach § 7 Abs 7 Satz 2 bis 4 BVGsSz bleibt das über den letzten Einkommenssteuerbescheid festgesetzte Arbeitseinkommen bis zur Erteilung des nächsten Einkommenssteuerbescheids maßgebend. Der neue Einkommenssteuerbescheid ist für die Beitragsbemessung ab Beginn des auf die Ausfertigung folgenden Monats heranzuziehen. Legt das Mitglied den Einkommenssteuerbescheid später vor und ergäbe sich eine günstigere Beitragsbemessung, sind die Verhältnisse erst ab Beginn des auf die Vorlage dieses Einkommenssteuerbescheids folgenden Monats zu berücksichtigen. Die zeitversetzte Berücksichtigung der tatsächlichen Einnahmen hat das BSG im Hinblick auf den über die Jahre stattfinden Ausgleich stets gebilligt (BSG 22.03.2006, B 12 KR 14/05 R, SozR 4-2500 § 240 Nr 5; BSG 30.10.2013, B 12 KR 21/11 R, SozR 4-2500 § 240 Nr 19). Das seit 01.01.2018 geltende Verfahren nach § 240 Abs 4a SGB V findet für den hier streitigen Zeitraum keine Anwendung.
36 Die Einkünfte der Klägerin wurden im Bescheid vom 09.11.2016 der Beitragsbemessung auf der Grundlage der Einkommenssteuerbescheide auch in zutreffender Höhe und zeitlich korrekt zugrunde gelegt. Die Beklagten haben die Beiträge zutreffend berechnet. Insbesondere war kein Abzug eines in den Einkommenssteuerbescheiden berücksichtigten Sparer-Pauschbetrages zu machen (BSG 09.08.2006, B 12 KR 8/06 R, BSGE 97, 41-47 = SozR 4-2500 § 240 Nr 8, juris Rn 19). Dies ergibt sich schon daraus, dass es sich dabei um Werbungskosten handelt, denn nach § 20 Abs 9 Satz 1 EStG in der ab 18.08.2007 geltenden Fassung ist bei der Ermittlung von Einkünften aus Kapitalvermögen als Werbungskosten ein Betrag von 801 EUR abzuziehen; der Abzug der tatsächlichen Werbungskosten ist ausgeschlossen. Die BVGsSz enthalten jedoch eine hiervon abweichende Regelung mit der Berücksichtigung eines jährlichen Betrages von 51 EUR, wobei der Nachweis höherer Kosten möglich bleibt. Höhere Kosten hat die Klägerin nicht nachgewiesen, den Pauschbetrag von 51 EUR haben die Beklagten berücksichtigt.
37 Auch die in den Einkommenssteuerbescheiden enthaltenen Verlustvorträge haben die Beklagten zutreffend nicht berücksichtigt. Nach § 15 Abs 1 Satz 1 SGB IV ist Arbeitseinkommen der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommenssteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. Ein Verlustvortrag nach § 10d EStG ist daher nicht zu berücksichtigen. Diese Norm zählt nach Gesetzeswortlaut und Systematik des EStG nicht zu den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommenssteuerrechts (vgl BSG 16.05.2001, B 5 RJ 46/00 R, BSGE 88, 117-125 = SozR 3-2600 § 97 Nr 4 = SozR 3-2400 § 15 Nr 9 = juris Rn 14). Vorliegend handelt es sich um einen Verlustvortrag im Sinne von § 10d EStG, denn er ist nach der Ermittlung der Einkünfte und der Summe der Einkünfte und nicht bezogen auf einzelne Einkommensarten erfolgt. Lediglich Abzüge, die auf der Ebene der Ermittlung der Einkünfte vorgenommen werde dürften, sind innerhalb der allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommenssteuerrechts zu berücksichtigen.
38 Die Berechnung der konkreten Beiträge aus diesem so ermittelten Einkommen ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat insoweit keine Einwände erhoben.
39 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
40 Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 Nr 1, 2 SGG).
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 15.05.2019 wird zurückgewiesen.Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 29.532,61 EUR festgesetzt.
Tatbestand
1 Im Streit steht noch die Rückforderung eines Zusatzentgelts für eine am 14.09.2013 durchgeführte Plasmapherese im Rahmen einer vollstationären Behandlung der bei der Klägerin versicherten K. B. (im Folgenden: Versicherte) im Krankenhaus des Beklagten.
2 Der Beklagte ist ein eingetragener Verein (Vereinsregister M. VR 3...), der als freigemeinnütziger Träger unter dem Namen „N. H.“ ein Krankenhaus betreibt, welches mit 53 Betten im Krankenhausplan des Landes Baden-Württemberg aufgenommen ist. Die 1960 geborene Versicherte litt unter einer erblichen Zystenniere und war ab dem 22.08.2012 bei terminalem Nierenversagen dialysepflichtig. Am 11.06.2013 wurden bei ihr beide Nieren operativ entfernt, um Platz für eine Spenderniere zu schaffen. Spender der Niere war ihr Ehemann. Die Versicherte wurde am 27.08.2013 zur Vorbereitung einer Lebendnierentransplantation im Krankenhaus des Beklagten stationär aufgenommen. Grund der stationären Behandlung war eine beabsichtigte Desensibilisierung der Versicherten gegen eine bestehende immunologische Barriere. Die Versicherte hat die Blutgruppe AB positiv, ihr Ehemann die Blutgruppe 0 positiv. Die Versicherte wies jedoch donor-spezifische IgG-Anti-HLA-Antikörper (DSA; donor-spezifische Antikörper) gegen ein HLA-Merkmal (HLA steht für Humane Leukozyten-Antigene) des Ehemanns auf (sog immunologische Barriere). Zwischen dem 28.08.2013 und dem 12.09.2013 wurden zehn Behandlungen mit Immunadsorption und am 14.09.2013 zwei Plasmapheresen durchgeführt. Am 16.09.2013 um 08:00 Uhr wurde die Versicherte nach erfolgreicher Desensibilisierung - die donor-spezifischen IgG-Anti-HLA-Antikörper gegen ein HLA-Merkmal des Ehemannes waren nicht mehr nachweisbar - zur Transplantation in die Chirurgische Universitätsklinik des Universitätsklinikums H. verlegt. Dort wurde bei der Versicherten ab 08:30 Uhr eine weitere Plasmapherese durchgeführt.
3 Der Beklagte forderte von der Klägerin mit Schlussrechnung vom 30.09.2013 (abzüglich der Eigenbeteiligung der Versicherten iHv 180 EUR) einen Betrag iHv 29.532,61 EUR. Als Fallpauschale rechnete er die DRG L60C (Niereninsuffizienz, mehr als ein Belegungstag, mit Dialyse oder äußerst schweren CC, ohne Kalziphylaxie) ab. Der Beklagte führte mehrere Prozeduren auf, darunter für den 14.09.2013 auch den OPS-Kode 8-820.01: Therapeutische Plasmapherese: Mit normalem Plasma: 2 Plasmapheresen. Für diese Prozedur rechnete der Beklagte das Zusatzentgelt 76ZE3602 (Plasmapherese: 2 Plasmapheresen) mit einem Betrag von 2.531,62 EUR ab.
4 Die Klägerin zahlte die geforderte Vergütung zunächst in vollem Umfang, leitete aber ein Prüfverfahren ein. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) fand in seinem Gutachten vom 24.07.2014 die Notwendigkeit der stationären Behandlung medizinisch nicht nachvollziehbar. Da keine Notfallsituation bestanden habe, hätte die Behandlung ambulant durchgeführt werden können. Auch Immunadsorption und Plasmapherese hätten nicht vollstationär durchgeführt werden müssen, da die Versicherte selbständig mobil und in gutem Allgemeinbefinden gewesen sei. Mit Schreiben vom 28.07.2014 forderte die Klägerin die Rückzahlung des gesamten Rechnungsbetrages und beauftragte den MDK auf den Widerspruch des Beklagten hin erneut mit einer Begutachtung. Im Gutachten vom 10.03.2016 kam der MDK zu demselben Ergebnis wie bereits im Gutachten vom 24.07.2014, weshalb die Klägerin erneut die Rückzahlung der Vergütung verlangte (Schreiben vom 11.03.2016 und 11.05.2016). Dieser Aufforderung kam der Beklagte nicht nach.
5 Am 13.10.2017 hat die Klägerin beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage erhoben und eine primäre Fehlbelegung geltend gemacht. Das SG hat den Nephrologen Dr. K. mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 31.08.2018 hat der Sachverständige die vollstationäre Behandlung für notwendig gehalten. Behandlungsziel sei die Beseitigung eines Risikos einer akuten und chronischen Abstoßung des Nierentransplantats durch Elimination von Antikörpern und Aufhebung der immunologischen Barriere (Desensibilisierung) sowie die Minimierung der Risiken aus der komplexen Behandlung mit Sicherstellung eines bestmöglichen Gesundheitszustandes punktgenau zum festgelegten Zeitpunkt der Transplantation gewesen. Die Desensibilisierung als ambitioniertes Behandlungsziel setze ein speziell geschultes ärztliches und pflegerisches Personal, ein spezialisiertes immunologisches Labor und die Infrastruktur eines Krankenhauses voraus. Beides stehe im Hause des Beklagten zur Verfügung, nicht aber in einer ambulanten Versorgung. Die Risiken der komplexen Behandlung hätten sich infolge der eng getakteten Frequenz der Maßnahmen potenziert. Die Versicherte sei zwar in gutem Allgemeinzustand aufgenommen worden. Dies beziehe sich jedoch auf die Vergleichsgruppe der Dialysepatienten und nicht einer gleichaltrigen gesunden Person. Sie habe Zeichen einer Überwässerung und die einschlägigen für Dialysepatienten charakteristischen Laborparameter aufgewiesen. Sie habe sich elf Wochen zuvor der großen Operation der Nephrektomie unterzogen. Hierdurch habe sie keine physiologische Möglichkeit der Regulierung ihres Flüssigkeitshaushaltes gehabt. Wegen der Immunadsorption sei eine komplexe Hemmung der Blutgerinnungsmittel Heparin und Citrat erforderlich gewesen. Die Immunadsorption führe regelmäßig zur Überwässerung innerhalb weniger Stunden, sichtbar an einer Zunahme von bis zu 1,9 kg oder 3 % des Sollgewichts, was zu einer unphysiologischen Belastung des Herz-Kreislauf-Systems führe. Die Behandlungen beeinträchtigten ausgeprägt die Homöostase der Immuneiweiße, was zu einem erhöhten Infektionsrisiko führe. Die Teilnahme am öffentlichen Leben einschließlich der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei medizinisch nicht geboten. Die langen Behandlungen seien erschöpfend, einhergehend mit dem Risiko schlechter Ernährung. Lange Transportwege seien kontraindiziert. Das Risiko für Blutungen und Kreislaufkomplikationen nach der Dialyse sei hier immer in die Abendstunden und die Nacht gefallen. Die Gefahr der Realisierung dieses Risikos habe die Infrastruktur des Krankenhauses und jederzeit präsente Ärzte sowie geschultes Personal erfordert. Dass die Risiken sich nicht realisiert hätten, sei nicht entscheidend für die ex-ante-Sicht der Ärzte. Zusätzlich liege ein Aspekt in der dienenden Funktion des Krankenhauses mit Unterkunft und Verpflegung. Den MDK-Gutachtern sei zuzustimmen, dass jede Maßnahme für sich bei bestimmten Krankheiten ambulant durchgeführt werden könne bei sehr viel größeren Abständen zwischen den Behandlungen. Die Gutachter verkennten jedoch das Behandlungsziel der Minimierung von Risiken infolge der komplexen Behandlung. Diesen habe jederzeit in der gebotenen Eile mit den spezifischen Mitteln des Krankenhauses begegnet werden müssen, auch bezüglich der Risiken der Erholungsphasen. Jede Realisierung eines Risikos hätte den Transplantationstermin gefährden können. Es habe gegolten, den relativ guten Allgemeinzustand der Versicherten trotz der strapaziösen Behandlung zu erhalten und punktgenau sicherzustellen. Dies sei durch teilstationäre, vor- oder nachstationäre oder ambulante Behandlung nicht sicherzustellen.
6 Die Klägerin ist dem Gutachten entgegengetreten. Abstrakte Risiken begründeten nicht die Erforderlichkeit stationärer Behandlung. Transplantationen erforderten keine stationären Behandlungen im Vorfeld.
7 Das SG hat den Rechtsstreit am 15.05.2019 mündlich verhandelt. Die Klägerin hat dort vortragen lassen, wenn - wie vom Gutachter angenommen - die enge Taktung der Maßnahmen den stationären Aufenthalt erforderlich gemacht habe, hätten diese in größerem Abstand erfolgen können. Prof. Dr. M. (damals Ltd Oberarzt im Krankenhaus des Beklagten, heute stellvertretende ärztliche Leitung des Nierenzentrums) hat darauf hingewiesen, dass die Vorbereitung zu einer Transplantation immer innerhalb kurzer Zeit durchgeführt werden müsse, weil sich sonst die Antikörper neu bildeten.
8 Mit Urteil vom 15.05.2019 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ua ausgeführt, der geltend gemachte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch in Höhe von 29.532,61 EUR stehe der Klägerin nicht zu, denn die ursprüngliche Zahlung sei nicht ohne Rechtsgrund erfolgt. Der Beklagte habe einen Vergütungsanspruch gegen die Klägerin für die Behandlung seiner Versicherten vom 27.08.2013 bis 16.09.2013 gehabt. In dem streitgegenständlichen Behandlungsfall sei zur Überzeugung des SG die vollstationäre Behandlung erforderlich gewesen. Dies habe das schlüssige Gutachten des Nephrologen Dr. K. bestätigt. Die komplexe Behandlung habe nicht auf einen längeren Zeitraum verteilt werden können, um die körperliche Anstrengung für die Versicherte zu minimieren und die Maßnahmen ambulant durchführen zu können. Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 29.05.2019 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden.
9 Am 28.06.2019 hat die Klägerin Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und zunächst ihre bisherige Auffassung weiter vertreten. Ferner hat sie den MDK erneut mit einer Begutachtung beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 27.01.2020 die von ihm bisher vertretene Auffassung vor allem im Hinblick darauf, dass der Versicherten bereits beide Nieren entfernt worden waren, revidiert und eine primäre Fehlbelegung verneint. Zur Durchführung der Plasmapherese wird in dem Gutachten ua ausgeführt, unabhängig davon, dass es noch kein allgemein anerkanntes Vorgehen im Hinblick auf die zeitgleiche Immunsuppression gebe, zeigten einige auch randomisiert kontrollierte Studien, dass der Einsatz in der vorliegenden Konstellation einen klinischen Benefit bringen könne. Der Nutzen der Plasmapheresen in der hier vorliegenden Konstellation nach Desensibilisierung bei HLA-Inkompatibilität vor Lebendnierentransplantation sei nicht durch qualitativ hochwertige randomisiert kontrollierte Studien abgesichert. Ein einheitlicher Konsens in den Fachgesellschaften diesbezüglich sei nicht auszumachen. Ob es sich bei der vorliegenden Konstellation um eine gleichzustellende Erkrankung im Sinne § 2 Abs 1 a SGB V handele, sei nicht geklärt. Da es sich allerdings um einen durch Dialyse passager kompensierbaren Verlust handele, wäre die juristische Zuordnung als Erkrankung im Sinne § 2 Abs 1a SGB V aus medizinischer Sicht eher nicht zu erwarten. Zudem sei im vorliegenden Fall nicht plausibel dargelegt, weshalb nach erfolgreicher Desensibilisierung (siehe hierzu Befund Labor Prof. S.) nach 10-maliger Immunadsorption auf eine Behandlung mit zweimaliger Plasmapherese umgestellt worden sei und weshalb die Plasmapheresebehandlung von den behandelnden Ärzten als notwendig erachtet worden sei, nachdem vor Plasmapherese sowohl am 09.09.2013 als auch am 11.09.2013 keine DSA (Lurninex) nach Desensibilisierung hätten nachgewiesen werden können (ELISA und lymphozytotoxischer Test seien zuvor immer negativ gewesen).
10 Mit Schriftsatz vom 01.04.2020 hat die Klägerin die Klage in Höhe von 27.000,99 EUR zurückgenommen. Die Rücknahme berücksichtige die Ausführungen des MDK in seinem Gutachten vom 27.01.2020 zur Notwendigkeit der stationären Behandlung. Hinsichtlich des OPS 8-820.01 und des sich daraus ableitenden Zusatzentgelts ZE36.02 bleibe die Klage ausdrücklich aufrechterhalten. Der verbleibende Betrag iHv 2.531,62 EUR entspreche insoweit dem Erstattungsanspruch der Klägerin. Die durchgeführten Plasmapheresebehandlungen seien vorliegend nach dem medizinischen Gutachten des MDK vom 23.03.2020 nicht erforderlich gewesen und gingen über den Umfang des medizinisch Notwendigen hinaus. Hervorzuheben sein vor allem, dass vor Durchführung der Plasmapherese sowohl am 09.09.2013 als auch am 11.09.2013 keine DSA mehr hätten nachgewiesen werden können. Erfolge die Transplantation – wie hier - innerhalb einer Woche nach erfolgreicher Desensibilisierung, bedürfe es keiner zusätzlichen Plasmapherese mehr.
11 Die Klägerin beantragt,
12 das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 15.05.2019 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 2.531,62 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.04.2016 zu zahlen.
13 Der Beklagte beantragt,
14 die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
15 Der Beklagte trägt im Wesentlichen vor, trotz fehlenden DSA-Nachweises seien die Plasmapheresen durchgeführt worden, weil
16 - so die Antikörperbefunde nicht am selben Tag vorhanden seien, überbrückend bis zum Erhalt der Ergebnisse, und bis zur Transplantation weiter Antikörper eliminiert werden müssten, um einen Rebound zu verhindern;
17 - durch die Plasmapherese die Gerinnung optimiert werden könne, die durch die Immunadsorptionen eventuell in Mitleidenschaft gezogen wurde, um so das operative Ergebnis zu verbessern;
18 - mit der Plasmapherese zusätzlich IgM-Antikörper effektiv eliminiert würden, die bei herkömmlichen Antikörpertests teilweise übersehen werden könnten.
19 Aus diesen Gründen sowie um den Transplantationserfolg keinesfalls zu gefährden, würden - nicht nur seitens des Beklagten, sondern von allen einschlägigen Zentren - Plasmapheresen durchgeführt.
20 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
21 Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.22 Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft und zulässig (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG), sie ist in der Sache aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht die Klage abgewiesen. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch der von der Klägerin geltend gemachte Erstattungsanspruch in Höhe von 2.531,62 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.04.2016. Dieser Anspruch betrifft die am 14.09.2013 bei der Versicherten durchgeführten Plasmapheresen. Mit Schriftsatz vom 01.04.2020 hat die Klägerin die Klage in Höhe von 27.000,99 EUR zurückgenommen. Insoweit ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (§ 102 Abs 1 Satz 2 SGG). Ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch (zum öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch bei Überzahlung von Krankenhausentgelten vgl eingehend BSG 25.10.2016, B 1 KR 9/16 R, SozR 4-5562 § 11 Nr 2; 01.07.2014, B 1 KR 24/13 R, SozR 4-2500 § 301 Nr 2) besteht nicht. Der Beklagte hat zu Recht für die stationäre Behandlung der Versicherten unter Ansatz des OPS 8-820.01 und des sich daraus ableitenden Zusatzentgelts ZE36.02 einen Gesamtbetrag iHv 29.532,61 EUR abgerechnet.23 Die Klägerin hat mit der erhobenen (echten) Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG die richtige Klageart gewählt (dazu nur BSG 14.10.2014, B 1 KR 25/13, juris; BSG 14.10.2014, B 1 KR 26/13 R, SozR 4-2500 § 301 Nr 3). Es handelt sich um einen sog Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt, kein Vorverfahren durchzuführen und eine Klagefrist nicht zu beachten ist (BSG 28.11.2013, B 3 KR 33/12 R, SozR 4-5562 § 9 Nr 5).24 Der Vergütungsanspruch des Krankenhauses entsteht unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iSv § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich ist (st Rspr BSG 16.12.2008, B 1 KN 1/07 R, BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13; BSG 08.11.2011, B 1 KR 8/11 R, BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2). Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 7 KHEntgG und § 9 KHEntgG (beide idF des Gesetzes vom 15.07.2013, BGBl I 2423) sowie § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG; ebenfalls idF vom 15.07.2013) und die Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2013 (Fallpauschalenvereinbarung 2013 - FPV-2013) einschließlich der Anlagen 1 bis 6 sowie dem durch Entscheidung der Landesschiedsstelle vom 21.09.2005 festgesetzten Vertrag nach § 112 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V über „Allgemeine Bedingungen der Krankenhausbehandlung“ zwischen der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft und den Verbänden der Krankenkassen mit Ausnahme der vom Bundessozialgericht (BSG) beanstandeten Regelung in § 19 Abs 2 (BSG 13.11.2012, B 1 KR 27/11 R, BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1). Nach § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 KHEntgG umfasst der Vergütungsanspruch auch die Zusatzentgelte nach dem gemäß § 9 KHEntgG auf Bundesebene vereinbarten Entgeltkatalog. Nach der Anlage 2 Zusatzentgelte-Katalog iVm mit der Anlage 5 zur FPV 2013 ergibt die zwei Plasmapheresen umfassende Prozedur OPS 8-820.01 das Zusatzentgelt ZE36.02 mit einem Betrag von 2.531,62 EUR.25 Der Zahlungsanspruch des Krankenhauses korrespondiert in aller Regel mit dem Anspruch des Versicherten auf Krankenhausbehandlung. Demgemäß müssen beim Versicherten bei der Aufnahme in das Krankenhaus grundsätzlich die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sowie Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit vorliegen, wobei unter Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit ein Krankheitszustand zu verstehen ist, dessen Behandlung den Einsatz der besonderen Mittel eines Krankenhauses erfordert (BSG 17.05.2000, B 3 KR 33/99 R; 13.05.2004, B 3 KR 18/03 R). Eine Krankenkasse ist nach § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V verpflichtet, die vereinbarten Entgelte zu zahlen, wenn eine Versorgung im Krankenhaus durchgeführt und iSv § 39 SGB V erforderlich (gewesen) ist. Konkret umfasst die Krankenhausbehandlung nach § 39 Abs 1 Satz 3 SGB V alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung eines Versicherten im Krankenhaus notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung. Dabei müssen Qualität und Wirksamkeit der im Krankenhaus durchgeführten Maßnahmen den in § 2 Abs 1 Satz 3, § 12 Abs 1 und § 28 Abs 1 SGB V festgelegten Qualitätskriterien, insbesondere dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen.26 Der Anspruch der Versicherten auf Krankenhausbehandlung umfasste auch die am 14.09.2013 vorgenommene Plasmapherese. Die Apherese ist ein Verfahren der Blutreinigung außerhalb des Körpers, bei dem das Blut in seine zellulären und plasmatischen Komponenten (rote Blutzellen, weiße Blutzellen, Blutplättchen und Plasma) getrennt wird und Teile davon aus dem Blut entfernt werden. Der medizinische Nutzen der Plasmapherese ist hier vor dem Hintergrund der konkreten gesundheitlichen Situation der Versicherten zu beurteilen. Die Versicherte hatte sich für eine Nierentransplantation entschieden, obwohl ein Spenderorgan für eine sog barrierefreie Transplantation nicht zur Verfügung stand. Eine barrierefreie Transplantation ist durch eine Blutgruppenverträglichkeit und die Abwesenheit von Antikörpern gegen HLA-Merkmale des Spenders gekennzeichnet. Die letztgenannte Voraussetzung war im Falle der Versicherten nicht erfüllt. Die Versicherte wies donor-spezifische IgG-Anti-HLA-Antikörper gegen ein HLA-Merkmal des Ehemanns auf. Dies entnimmt der Senat dem MDK-Gutachten vom 27.01.2020. Da auch bei der hier vorhandenen HLA-Inkompatibilität eine Lebendnierentransplantation medizinisch möglich war, musste sich die Versicherte nicht darauf verweisen lassen, statt einer Transplantation eine Dialyse in Anspruch zu nehmen und möglicherweise jahrelang auf eine passende Spenderniere zu warten. Die Nierentransplantation stellt die beste Behandlung einer terminalen Niereninsuffizienz dar. Die Überlebensraten, die Gesundheit und die Lebensqualität transplantierter Patienten sind deutlich besser als die von Dialysepatienten. Zudem herrscht in Deutschland ein großer Mangel an Spenderorganen. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des MDK vom 27.01.2020. Deshalb hat die Krankenkasse alle Leistungen zu erbringen, die bei einer Transplantation bei vorhandener immunologischer Barriere medizinisch notwendig sind.27 Ziel der im Krankenhaus des Beklagten vom 27.08. bis 16.09.2013 durchgeführten stationären Behandlung, deren Notwendigkeit von der Klägerin inzwischen anerkannt wird, war nach dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. K., dem sich der Senat anschließt, die Beseitigung eines Risikos einer akuten und chronischen Abstoßung eines Nierentransplantats durch Elimination von Antikörpern und dadurch die Aufhebung einer immunologischen Barriere und die Minimierung der Risiken aus der komplexen Behandlung mit Sicherstellung eines bestmöglichen Gesundheitszustands punktgenau zum festgelegten Zeitpunkt der Transplantation. Beide Ziele entsprechen dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V.28 Ob die vom Beklagten durchgeführte Plasmapherese im Behandlungsjahr 2013 unabhängig von der konkret zu beurteilenden Transplantation auch dem Qualitätsgebot des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V entsprach, bedarf hier keiner Entscheidung. Nach der genannten Vorschrift haben Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Nach § 2 Abs 1a SGB V können jedoch Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Das Bundessozialgericht (BSG) hat die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluss vom 06.12.2015 (1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25) gemachten verfassungsrechtlichen Vorgaben zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts näher konkretisiert und dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (vgl zuletzt BSG 19.03 2020, B 1 KR 22/18 R mwN). Diese zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts ergangene Rechtsprechung des BSG gilt auch für die Auslegung von § 2 Abs 1a SGB V.29 Der drohende Verlust der kompletten Nierenfunktion beim Empfänger einer Spenderniere durch eine Abstoßung des Transplantats ist eine Erkrankung, die einer lebensbedrohlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar ist. Ein Wegfall der Nierenfunktion (Herausfiltern ua von Stoffwechselprodukten und Flüssigkeit aus dem Blut und Ausscheiden des Filtrats als Urin) kann zwar idR durch eine Dialyse kompensiert werden. Die im MDK-Gutachten vom 27.01.2020 vertretene Ansicht, dass der Versicherten deshalb als Alternative zur Lebendnierentransplantation eine Leichennierentransplantation nach Wartezeit und bis dahin eine Dialyse zur Verfügung gestanden hätten, teilt der Senat nicht. Auch Patienten, bei denen eine Lebendspende über eine Barriere realisiert wird, haben nicht nur eine verbesserte Lebensqualität, sondern auch einen Überlebensvorteil gegenüber Patienten, die an der Dialyse verbleiben. Dies entnimmt der Senat der Stellungnahme des Prof. Dr. M. vom 29.12.2017 (Bl 54 ff der SG-Akte). Diese Aussage wird auch vom MDK nicht in Frage gestellt. Im Gutachten vom 27.01.2020 wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Überlebensraten, die Gesundheit und die Lebensqualität transplantierter Patienten deutlich besser sind als die von Dialysepatienten. Insoweit ist das Gutachten des MDK auch in sich widersprüchlich, weil es auf der anderen Seite die stationäre Durchführung des komplexen Verfahrens der Desensibilisierung vor Lebendnierentransplantation bei Vorliegen von donor-spezifischen HLA-Antikörpern - und damit das Behandlungsziel - in vollem Umfang als nachvollziehbar wertet. Hat die Versicherte aber einen Anspruch auf eine Transplantation trotz bestehender immunologischer Barriere, kann ihr als Alternative zu der im Zusammenhang mit dieser Behandlung erfolgten Plasmapherese nicht der Verzicht auf eine Lebendnierentransplantation empfohlen werden.30 Der Senat ist ferner davon überzeugt, dass bei einer HLA-inkompatiblen Lebendnierentransplantation durch die im Anschluss an die Immunadsorption vorgenommene Plasmapherese eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Auch dies folgt ua aus dem bereits mehrmals erwähnten Gutachten des MDK. Dort wird zusammenfassend ausgeführt, dass es zwar noch kein allgemein anerkanntes Vorgehen im Hinblick auf die zeitgleiche Immunsuppression gebe, jedoch einige, auch randomisiert kontrollierte Studien zeigten, dass der Einsatz in der vorliegenden Konstellation einen klinischen Benefit bringen könne. Dies genügt für die Annahme einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf in Form eines verminderten Risikos einer Abstoßungsreaktion. Dem steht nicht entgegen, dass bereits nach dem Abschluss der Immunadsorption am 11. oder 12.09.2013 keine Kontraindikation gegen die Transplantation mehr bestand. Das Fehlen einer Kontraindikation schließt die Aussicht auf eine nochmals verminderte Abstoßungsreaktion durch die Vornahme einer Plasmapherese nicht aus.31 Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 SGG iVm §§ 154 Abs 2, 155 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), da weder Klägerin noch Beklagter zu den in § 183 SGG genannten Personen gehören.32 Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.33 Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG). In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen (§ 53 Abs 2 Nr 4 iVm § 52 Abs 1 GKG). Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend (§ 52 Abs 3 Satz 1 GKG). Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers (§ 47 Abs 1 Satz 1 GKG). Für die Wertberechnung ist der Zeitpunkt der den jeweiligen Streitgegenstand betreffenden Antragstellung maßgebend, die den Rechtszug einleitet (§ 40 GKG). Die Klägerin wandte sich mit ihrer Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts, in dem der von ihr geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von 29.532,61 EUR abgewiesen wurde. Dieser Betrag ist deshalb als Streitwert festzusetzen.34 Dem Umstand, dass sich der Rechtsstreit durch eine Rücknahme der Klage während des Berufungsverfahrens teilweise erledigt hat, ist nicht durch eine zeitlich gestaffelte Streitwertfestsetzung für die Gerichtsgebühren Rechnung zu tragen. Die Streitwertfestsetzung dient lediglich der Bemessung der Gerichtsgebühren. Mit der durch das 1. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz (vom 05.05.2004, BGBl I 835) abgeschlossenen Einführung des Pauschalgebührensystems für die Gerichtsgebühren ist das gesamte Verfahren durch eine pauschale Verfahrensgebühr abgegolten, neben der Entscheidungsgebühren nicht mehr erhoben werden. Eine Ermäßigung der pauschalen Verfahrensgebühr tritt nur ein, wenn das gesamte Verfahren zB durch Klagerücknahme, Anerkenntnis oder Vergleich endet (vgl BT-Drs 15/1971 S 141). Nach dieser Systematik gibt es kein Bedürfnis mehr für eine zeitlich gestaffelte Streitwertfestsetzung nach GKG. In Fällen unterschiedlicher Gegenstandswerte für die anwaltliche Tätigkeit bleibt es den Beteiligten überlassen, das Antragsverfahren nach § 33 Abs 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) anzustreben, anstatt von Amts wegen im Rahmen der Streitwertfestsetzung für die Gerichtsgebühren diese Besonderheiten zu berücksichtigen. Der Senat hat daher seine früher im Beschluss vom 15.03.2016, L 11 R 5055/15 B geäußerte Auffassung aufgegeben (Beschluss vom 13.08.2020, L 11 KR 1639/20 B mwN).
Gründe
21 Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.22 Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft und zulässig (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG), sie ist in der Sache aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht die Klage abgewiesen. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch der von der Klägerin geltend gemachte Erstattungsanspruch in Höhe von 2.531,62 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.04.2016. Dieser Anspruch betrifft die am 14.09.2013 bei der Versicherten durchgeführten Plasmapheresen. Mit Schriftsatz vom 01.04.2020 hat die Klägerin die Klage in Höhe von 27.000,99 EUR zurückgenommen. Insoweit ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (§ 102 Abs 1 Satz 2 SGG). Ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch (zum öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch bei Überzahlung von Krankenhausentgelten vgl eingehend BSG 25.10.2016, B 1 KR 9/16 R, SozR 4-5562 § 11 Nr 2; 01.07.2014, B 1 KR 24/13 R, SozR 4-2500 § 301 Nr 2) besteht nicht. Der Beklagte hat zu Recht für die stationäre Behandlung der Versicherten unter Ansatz des OPS 8-820.01 und des sich daraus ableitenden Zusatzentgelts ZE36.02 einen Gesamtbetrag iHv 29.532,61 EUR abgerechnet.23 Die Klägerin hat mit der erhobenen (echten) Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG die richtige Klageart gewählt (dazu nur BSG 14.10.2014, B 1 KR 25/13, juris; BSG 14.10.2014, B 1 KR 26/13 R, SozR 4-2500 § 301 Nr 3). Es handelt sich um einen sog Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt, kein Vorverfahren durchzuführen und eine Klagefrist nicht zu beachten ist (BSG 28.11.2013, B 3 KR 33/12 R, SozR 4-5562 § 9 Nr 5).24 Der Vergütungsanspruch des Krankenhauses entsteht unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und iSv § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich ist (st Rspr BSG 16.12.2008, B 1 KN 1/07 R, BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13; BSG 08.11.2011, B 1 KR 8/11 R, BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2). Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 7 KHEntgG und § 9 KHEntgG (beide idF des Gesetzes vom 15.07.2013, BGBl I 2423) sowie § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG; ebenfalls idF vom 15.07.2013) und die Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2013 (Fallpauschalenvereinbarung 2013 - FPV-2013) einschließlich der Anlagen 1 bis 6 sowie dem durch Entscheidung der Landesschiedsstelle vom 21.09.2005 festgesetzten Vertrag nach § 112 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V über „Allgemeine Bedingungen der Krankenhausbehandlung“ zwischen der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft und den Verbänden der Krankenkassen mit Ausnahme der vom Bundessozialgericht (BSG) beanstandeten Regelung in § 19 Abs 2 (BSG 13.11.2012, B 1 KR 27/11 R, BSGE 112, 156 = SozR 4-2500 § 114 Nr 1). Nach § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 KHEntgG umfasst der Vergütungsanspruch auch die Zusatzentgelte nach dem gemäß § 9 KHEntgG auf Bundesebene vereinbarten Entgeltkatalog. Nach der Anlage 2 Zusatzentgelte-Katalog iVm mit der Anlage 5 zur FPV 2013 ergibt die zwei Plasmapheresen umfassende Prozedur OPS 8-820.01 das Zusatzentgelt ZE36.02 mit einem Betrag von 2.531,62 EUR.25 Der Zahlungsanspruch des Krankenhauses korrespondiert in aller Regel mit dem Anspruch des Versicherten auf Krankenhausbehandlung. Demgemäß müssen beim Versicherten bei der Aufnahme in das Krankenhaus grundsätzlich die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sowie Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit vorliegen, wobei unter Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit ein Krankheitszustand zu verstehen ist, dessen Behandlung den Einsatz der besonderen Mittel eines Krankenhauses erfordert (BSG 17.05.2000, B 3 KR 33/99 R; 13.05.2004, B 3 KR 18/03 R). Eine Krankenkasse ist nach § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V verpflichtet, die vereinbarten Entgelte zu zahlen, wenn eine Versorgung im Krankenhaus durchgeführt und iSv § 39 SGB V erforderlich (gewesen) ist. Konkret umfasst die Krankenhausbehandlung nach § 39 Abs 1 Satz 3 SGB V alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung eines Versicherten im Krankenhaus notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung. Dabei müssen Qualität und Wirksamkeit der im Krankenhaus durchgeführten Maßnahmen den in § 2 Abs 1 Satz 3, § 12 Abs 1 und § 28 Abs 1 SGB V festgelegten Qualitätskriterien, insbesondere dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen.26 Der Anspruch der Versicherten auf Krankenhausbehandlung umfasste auch die am 14.09.2013 vorgenommene Plasmapherese. Die Apherese ist ein Verfahren der Blutreinigung außerhalb des Körpers, bei dem das Blut in seine zellulären und plasmatischen Komponenten (rote Blutzellen, weiße Blutzellen, Blutplättchen und Plasma) getrennt wird und Teile davon aus dem Blut entfernt werden. Der medizinische Nutzen der Plasmapherese ist hier vor dem Hintergrund der konkreten gesundheitlichen Situation der Versicherten zu beurteilen. Die Versicherte hatte sich für eine Nierentransplantation entschieden, obwohl ein Spenderorgan für eine sog barrierefreie Transplantation nicht zur Verfügung stand. Eine barrierefreie Transplantation ist durch eine Blutgruppenverträglichkeit und die Abwesenheit von Antikörpern gegen HLA-Merkmale des Spenders gekennzeichnet. Die letztgenannte Voraussetzung war im Falle der Versicherten nicht erfüllt. Die Versicherte wies donor-spezifische IgG-Anti-HLA-Antikörper gegen ein HLA-Merkmal des Ehemanns auf. Dies entnimmt der Senat dem MDK-Gutachten vom 27.01.2020. Da auch bei der hier vorhandenen HLA-Inkompatibilität eine Lebendnierentransplantation medizinisch möglich war, musste sich die Versicherte nicht darauf verweisen lassen, statt einer Transplantation eine Dialyse in Anspruch zu nehmen und möglicherweise jahrelang auf eine passende Spenderniere zu warten. Die Nierentransplantation stellt die beste Behandlung einer terminalen Niereninsuffizienz dar. Die Überlebensraten, die Gesundheit und die Lebensqualität transplantierter Patienten sind deutlich besser als die von Dialysepatienten. Zudem herrscht in Deutschland ein großer Mangel an Spenderorganen. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des MDK vom 27.01.2020. Deshalb hat die Krankenkasse alle Leistungen zu erbringen, die bei einer Transplantation bei vorhandener immunologischer Barriere medizinisch notwendig sind.27 Ziel der im Krankenhaus des Beklagten vom 27.08. bis 16.09.2013 durchgeführten stationären Behandlung, deren Notwendigkeit von der Klägerin inzwischen anerkannt wird, war nach dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. K., dem sich der Senat anschließt, die Beseitigung eines Risikos einer akuten und chronischen Abstoßung eines Nierentransplantats durch Elimination von Antikörpern und dadurch die Aufhebung einer immunologischen Barriere und die Minimierung der Risiken aus der komplexen Behandlung mit Sicherstellung eines bestmöglichen Gesundheitszustands punktgenau zum festgelegten Zeitpunkt der Transplantation. Beide Ziele entsprechen dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V.28 Ob die vom Beklagten durchgeführte Plasmapherese im Behandlungsjahr 2013 unabhängig von der konkret zu beurteilenden Transplantation auch dem Qualitätsgebot des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V entsprach, bedarf hier keiner Entscheidung. Nach der genannten Vorschrift haben Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Nach § 2 Abs 1a SGB V können jedoch Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Das Bundessozialgericht (BSG) hat die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluss vom 06.12.2015 (1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25) gemachten verfassungsrechtlichen Vorgaben zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts näher konkretisiert und dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (vgl zuletzt BSG 19.03 2020, B 1 KR 22/18 R mwN). Diese zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts ergangene Rechtsprechung des BSG gilt auch für die Auslegung von § 2 Abs 1a SGB V.29 Der drohende Verlust der kompletten Nierenfunktion beim Empfänger einer Spenderniere durch eine Abstoßung des Transplantats ist eine Erkrankung, die einer lebensbedrohlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar ist. Ein Wegfall der Nierenfunktion (Herausfiltern ua von Stoffwechselprodukten und Flüssigkeit aus dem Blut und Ausscheiden des Filtrats als Urin) kann zwar idR durch eine Dialyse kompensiert werden. Die im MDK-Gutachten vom 27.01.2020 vertretene Ansicht, dass der Versicherten deshalb als Alternative zur Lebendnierentransplantation eine Leichennierentransplantation nach Wartezeit und bis dahin eine Dialyse zur Verfügung gestanden hätten, teilt der Senat nicht. Auch Patienten, bei denen eine Lebendspende über eine Barriere realisiert wird, haben nicht nur eine verbesserte Lebensqualität, sondern auch einen Überlebensvorteil gegenüber Patienten, die an der Dialyse verbleiben. Dies entnimmt der Senat der Stellungnahme des Prof. Dr. M. vom 29.12.2017 (Bl 54 ff der SG-Akte). Diese Aussage wird auch vom MDK nicht in Frage gestellt. Im Gutachten vom 27.01.2020 wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Überlebensraten, die Gesundheit und die Lebensqualität transplantierter Patienten deutlich besser sind als die von Dialysepatienten. Insoweit ist das Gutachten des MDK auch in sich widersprüchlich, weil es auf der anderen Seite die stationäre Durchführung des komplexen Verfahrens der Desensibilisierung vor Lebendnierentransplantation bei Vorliegen von donor-spezifischen HLA-Antikörpern - und damit das Behandlungsziel - in vollem Umfang als nachvollziehbar wertet. Hat die Versicherte aber einen Anspruch auf eine Transplantation trotz bestehender immunologischer Barriere, kann ihr als Alternative zu der im Zusammenhang mit dieser Behandlung erfolgten Plasmapherese nicht der Verzicht auf eine Lebendnierentransplantation empfohlen werden.30 Der Senat ist ferner davon überzeugt, dass bei einer HLA-inkompatiblen Lebendnierentransplantation durch die im Anschluss an die Immunadsorption vorgenommene Plasmapherese eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Auch dies folgt ua aus dem bereits mehrmals erwähnten Gutachten des MDK. Dort wird zusammenfassend ausgeführt, dass es zwar noch kein allgemein anerkanntes Vorgehen im Hinblick auf die zeitgleiche Immunsuppression gebe, jedoch einige, auch randomisiert kontrollierte Studien zeigten, dass der Einsatz in der vorliegenden Konstellation einen klinischen Benefit bringen könne. Dies genügt für die Annahme einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf in Form eines verminderten Risikos einer Abstoßungsreaktion. Dem steht nicht entgegen, dass bereits nach dem Abschluss der Immunadsorption am 11. oder 12.09.2013 keine Kontraindikation gegen die Transplantation mehr bestand. Das Fehlen einer Kontraindikation schließt die Aussicht auf eine nochmals verminderte Abstoßungsreaktion durch die Vornahme einer Plasmapherese nicht aus.31 Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 SGG iVm §§ 154 Abs 2, 155 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), da weder Klägerin noch Beklagter zu den in § 183 SGG genannten Personen gehören.32 Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.33 Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG). In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen (§ 53 Abs 2 Nr 4 iVm § 52 Abs 1 GKG). Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend (§ 52 Abs 3 Satz 1 GKG). Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers (§ 47 Abs 1 Satz 1 GKG). Für die Wertberechnung ist der Zeitpunkt der den jeweiligen Streitgegenstand betreffenden Antragstellung maßgebend, die den Rechtszug einleitet (§ 40 GKG). Die Klägerin wandte sich mit ihrer Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts, in dem der von ihr geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von 29.532,61 EUR abgewiesen wurde. Dieser Betrag ist deshalb als Streitwert festzusetzen.34 Dem Umstand, dass sich der Rechtsstreit durch eine Rücknahme der Klage während des Berufungsverfahrens teilweise erledigt hat, ist nicht durch eine zeitlich gestaffelte Streitwertfestsetzung für die Gerichtsgebühren Rechnung zu tragen. Die Streitwertfestsetzung dient lediglich der Bemessung der Gerichtsgebühren. Mit der durch das 1. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz (vom 05.05.2004, BGBl I 835) abgeschlossenen Einführung des Pauschalgebührensystems für die Gerichtsgebühren ist das gesamte Verfahren durch eine pauschale Verfahrensgebühr abgegolten, neben der Entscheidungsgebühren nicht mehr erhoben werden. Eine Ermäßigung der pauschalen Verfahrensgebühr tritt nur ein, wenn das gesamte Verfahren zB durch Klagerücknahme, Anerkenntnis oder Vergleich endet (vgl BT-Drs 15/1971 S 141). Nach dieser Systematik gibt es kein Bedürfnis mehr für eine zeitlich gestaffelte Streitwertfestsetzung nach GKG. In Fällen unterschiedlicher Gegenstandswerte für die anwaltliche Tätigkeit bleibt es den Beteiligten überlassen, das Antragsverfahren nach § 33 Abs 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) anzustreben, anstatt von Amts wegen im Rahmen der Streitwertfestsetzung für die Gerichtsgebühren diese Besonderheiten zu berücksichtigen. Der Senat hat daher seine früher im Beschluss vom 15.03.2016, L 11 R 5055/15 B geäußerte Auffassung aufgegeben (Beschluss vom 13.08.2020, L 11 KR 1639/20 B mwN). | {
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Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Syke vom 20. April 2020 geändert und dem Antragsteller ratenlose Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin ##, ##, zu den Bedingungen einer im Bezirk des Amtsgerichts Syke niedergelassenen Rechtsanwältin bewilligt.
Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
1
Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag vom 26. Februar 2020 Verfahrenskostenhilfe für seinen Antrag auf Feststellung der Vaterschaft zu dem Kind C. S..
2
Zwischen dem Antragsteller und der Mutter der Beteiligten zu 2 bestand von 1998 bis 1999 eine (intime) Beziehung. In dieser Zeit wurde die Mutter schwanger. Nach der Geburt hat der Antragsteller nach seinem Vorbringen nur kurze Zeit Kontakt zu dem Kind gehabt. Der Antragsteller, der aktuell Leistungen nach dem SGB II bezieht, ist verheiratet. Aus dieser Ehe sind drei in den Jahren 2004, 2007 und 2009 geborene Töchter hervorgegangen.
3
Mit Schriftsatz vom 13. April 1999 hatte das Jugendamt der Stadt B. angeregt, der Mutter im Wege einstweiliger Anordnung die elterliche Sorge zu entziehen und zur Begründung darauf hingewiesen, dass die Mutter drogenabhängig sei und mit Methadon substituiert werde. Wegen der Drogenentzugssymptomatik bei dem Säugling werde dieser seit seiner Geburt auf der Intensivstation behandelt. Seitens der Klinik seien erhebliche Bedenken an der Erziehungsfähigkeit der Mutter geäußert worden, weil diese neben dem Methadon zusätzliche Drogen nehme, Besuchstermine nicht verlässlich wahrnehme und ihre Tochter nicht ausreichend versorge. Ein Freund, den die Mutter mit in das Krankenhaus gebracht habe, hätte einen verwahrlosten Eindruck gemacht. Wegen der drogenbedingten Belastungen für ein unfreiwillig süchtiges Kind seien verschiedene medizinische, psychologische und pädagogische Hilfen erforderlich, sodass ein verlässlicher, liebevoller und verantwortungsvoller Rahmen dringend erforderlich sei. Nach Anhörung der Mutter der Beteiligten zu 2 sowie des Jugendamtes am 20. April 1999 sowie daraufhin eingeholter Stellungnahmen der behandelnden Klinik hat das Amtsgericht B. mit Beschluss vom 26. Juli 1999 der Mutter die elterliche Sorge gemäß § 1666 BGB entzogen und diese dem Jugendamt der Stadt B. als Vormund übertragen (Az. ##).
4
Seit dem 10. Juni 1999 lebt die Beteiligte zu 2 bei ihren (späteren) Adoptiveltern. Diese haben in notarieller Urkunde vom 12. August 2002 (Nr. ## Urk.-Rolle für 2002 des Notars ##) einen Antrag auf Annahme als Kind für die Beteiligte zu 2 beurkunden lassen und dabei zugleich erklärt, dass der Vater des Kindes unbekannt sei. Die am 26. August 1974 geborene Mutter der Beteiligten zu 2 hat mit notarieller Urkunde vom 19. Juni 2002 (Nr. ## Urk.-Rolle für 2002 des Notars ##) die Einwilligung zur Adoption ihrer Tochter erklärt. Angaben zur Vaterschaft der Beteiligten zu 2 enthält diese Urkunde nicht. Mit weiterer notarieller Urkunde vom 23. August 2002 (Nr. ## Urk.-Rolle für 2002 des Notars ##) hat der Vormund der Beteiligten zu 2 namens des Kindes in die Annahme des Kindes gemäß § 1746 BGB eingewilligt. Nachdem das Jugendamt des Landkreises D. mit seinem Bericht vom 4. März 2003 zur Adoption Stellung genommen hatte, hat das Amtsgericht Syke mit Beschluss vom 21. März 2003 erkannt (Az. ##), dass die Beteiligte zu 2 von den Eheleuten als Kind angenommen wird.
5
Bereits im Mai 2011 hatte der Antragsteller einen Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe gestellt, weil er Klarheit darüber haben wollte, ob die Beteiligte zu 2 von ihm abstamme oder nicht, und hatte hierzu ursprünglich beantragt festzustellen, dass die Beteiligte zu 2 nicht sein Kind sei (Az. ## Amtsgericht Syke). Im Jahr 2009 habe er von der Mutter der Beteiligten zu 2 erfahren, dass er deren Vater sei. Für sein Ziel, die biologische Vaterschaft zu klären, stützte er sein Begehren sowohl auf die Anfechtung einer etwaigen rechtlichen Vaterschaft (§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB) sowie hilfsweise auf die Feststellung seiner leiblichen Vaterschaft und versicherte an Eides statt, mit der Mutter der Beteiligten zu 2 in der gesetzlichen Empfängniszeit von Mitte Mai bis Mitte September 1998 eine intime Beziehung gehabt zu haben.
6
Nach der Stellungnahme der von ihren Adoptiveltern vertretenen Beteiligten zu 2 vom 20. Dezember 2011, der der Antragsteller inhaltlich nicht entgegengetreten war, waren die Kindesmutter und der Antragsteller drogenabhängig. Der Drogenkonsum der Mutter hätte dazu geführt, dass ihre Tochter ebenfalls schwer drogenabhängig gewesen sei und sie aus diesem Grund drei Monate auf der Kinderintensivstation wegen eines massiven Drogenentzugs behandelt werden musste.
7
Unter den Folgen hätte die Beteiligte zu 2 als Kleinkind aber auch später erheblich durch diverse Erkrankungen gelitten. Von März 2006 bis Juli 2007 habe sie wegen einer Hüftgelenkserkrankung nicht gehen und laufen können. Die Folgen seien erst im November 2009 vollständig ausgeheilt gewesen. Parallel hierzu sei im Jahr 2008 eine Wachstumsstörung ärztlich behandelt worden. Aus diesen Gründen sei ein Abstammungsverfahren für die Beteiligte zu 2 unzumutbar und würde ihr Leben erheblich verwirren. Die Beteiligte zu 2 wachse mit den zwei älteren Kindern der Adoptiveltern auf und es gehe ihr sehr gut. Mit Volljährigkeit würden die Adoptiveltern die Daten der Mutter ihrer Adoptivtochter zur Verfügung stellen.
8
Vor diesem Hintergrund sei ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers nicht gegeben, da er sich in der Zeit unmittelbar nach der Geburt nicht um die Feststellung seiner Vaterschaft gekümmert habe, obwohl er nach seinen Angaben selbst und die Kindesmutter von seiner Vaterschaft ausgegangen waren. Vielmehr habe er zehn Jahre gewartet, sodass sein Recht auf Vaterschaftsfeststellung verwirkt sei.
9
In seiner Stellungnahme vom 12. Januar 2012 hat das Jugendamt im Vorverfahren darauf hingewiesen, dass das Offenbarungs- und Ausforschungsverbot nach § 1758 BGB aufrechterhalten werden solle. Es sei nur schwer nachvollziehbar, warum der Antragsteller in Kenntnis von Schwangerschaft und Geburt des Kindes sein Anliegen nicht zum damaligen Zeitpunkt weiterverfolgt habe. Die Kindesmutter habe seit der Adoption keinen Kontakt zu ihrer Tochter gehabt. Die Adoptionseltern würden C. bei ihrer Suche nach ihren Wurzeln unterstützen, wenn sie ein dahingehendes Interesse äußere. Eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Biografie zum jetzigen Zeitpunkt erscheint aus Sicht des Jugendamtes nicht angemessen und würde das Kind psychisch belasten.
10
Mit Beschluss vom 5. Januar 2012 hatte das Amtsgericht Syke den Antrag des hiesigen Antragstellers auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe mit der Begründung zurückgewiesen, dass für seinen Antrag auf Vaterschaftsanfechtung keine Erfolgsaussichten bestünden, weil dessen rechtliche Vaterschaft mangels einer Anerkennung oder gerichtlichen Feststellung nicht begründet sei. Seinem Hilfsantrag auf Feststellung der Vaterschaft gemäß § 1600d BGB stehe jedoch die durch Adoption begründete rechtliche Vaterschaft entgegen, wobei keine Anhaltspunkte dafür gegeben seien, dass diese nach Maßgabe der §§ 1759 ff. BGB aufgehoben werden könnte. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers wurde vom 15. Senat des Oberlandesgerichts Celle mit Beschluss vom 7. Februar 2012 (15 WF 23/12) mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Frist für eine Aufhebung des Annahmeverhältnisses nach §§ 1764 Abs. 3 BGB, 1762 Abs. 2 BGB abgelaufen sei und im Übrigen eine solche Aufhebung das Kindeswohl erheblich gefährden würde (§ 1761 Abs. 2 BGB). Darüber hinaus wies der Senat darauf hin, dass im vorliegenden Verfahren, in dem noch nie eine sozial familiäre Beziehung zum Kind bestanden habe und nach erfolgter Adoption nicht konkret mit der Aufhebung des Annahmeverhältnisses zu rechnen sei, ein Recht des Vaterschaftsprätendenten auf Klärung der Abstammung im Hinblick auf das zu wahrende Kindeswohl auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zu bejahen sei.
11
Im vorliegenden Verfahren beruft sich der Antragsteller auf sein Recht auf Kenntnis der Abstammung und behauptet hierzu, dass er und die Beteiligte zu 2 zweifelsfrei die Klärung der Vaterschaft wünschten, ohne dass im Rahmen eines einzuholenden Vaterschaftstests die Identität der Beteiligten zu 2 preisgegeben werden müsse. Der Antragsteller sei daher damit einverstanden, die Personalien bzw. die Identität der Beteiligten zu 2 nicht offenzulegen, auch soweit diese im Rahmen der Probeentnahme dokumentiert werden. Hierzu legt der Antragsteller ein Schreiben des Jugendamts des Landkreises D. vom 4. Februar 2020 vor, mit dem das Jugendamt für die Beteiligte zu 2 auf dessen Schreiben vom 14. November 2019 reagiert hatte. Darin teilt das Jugendamt mit, dass C. nach erfolgter Rücksprache grundsätzlich an einer zweifelsfreien Klärung der Vaterschaft interessiert sei. In dem Schreiben heißt es weiter:
12
„Grundsätzlich ist sie an der zweifelsfreien Klärung der Vaterschaft interessiert und würde sich nach entsprechender Klärung offen für Informationsaustausch und eventuell ein Kennenlernen zeigen.
13
Es sollte daher ein Vaterschaftstest erfolgen. „C.“ möchte ihre Identität bis zu dieser Klärung nicht preisgeben. Mit der praktischen Durchführung eines Tests unter Wahrung der Anonymität liegen mir keine Erfahrungen vor. Eventuell verfügen sie über praktikable Vorschläge?
14
„C.“ geht es gut. Sie lebt selbstständig und verfolgt derzeit ihre beruflichen Pläne. Über eine Information, wie sich das Leben des Herrn A. gestaltet, würde sie sich freuen. Bei Bedarf könnte ich einen Brief und Fotos gerne weiterleiten.“
15
Im angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht dem Antragsteller die nachgesuchte Verfahrenskostenhilfe mit der Begründung versagt, dass dem Begehren auf Feststellung der Vaterschaft die im März 2003 ausgesprochene Inkognito-Adoption entgegenstehe, ohne dass die Volljährigkeit der Beteiligten zu 2 hieran etwas ändere. Eine Aufhebung des Annahmeverhältnisses sei weder beabsichtigt noch werde diese gerichtlich geltend gemacht. Auch ein hilfsweise beantragtes Verfahren auf Klärung der Vaterschaft nach § 1598a BGB biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil der Kreis der klärungsberechtigten Personen in Abs. 1 der Vorschrift abschließend geregelt sei.
16
Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde vom 15. Mai 2020 und macht darin geltend, dass er für sein fortbestehendes Begehren auf die gerichtliche Unterstützung zur Klärung der Abstammung angewiesen sei, um auf diesem Wege die Anonymität der Beteiligten zu 2 bis zur Klärung der biologischen Vaterschaft wahren zu können. Darin möchte der Antragsteller die Beteiligte zu 2 unterstützen. Auch die Beteiligte zu 2 habe ein großes Interesse an der Klärung ihrer Identität. Dabei sei zu berücksichtigen, dass dem Antragsteller das Verfahren nach § 1598a BGB nicht zur Verfügung stehe und auch in einem solchen Vorgehen die Anonymität der Beteiligten zu 2 nicht gewahrt werden könne. Das Verfahren sei erforderlich, „um eine Zukunftsperspektive für die Wiedervereinigung der Herkunftsfamilie zu erhalten und ein von allen Beteiligten gewünschtes Kennenlernen zu ermöglichen.“
II.
17
Die gemäß §§ 76 Abs. 2 FamFG, 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO zulässige Beschwerde ist begründet.
18
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts kann dem Begehren des Antragstellers, die Vaterschaft zu der Beteiligten zu 2 festzustellen oder zu klären, eine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 76 Abs. 1 FamFG, 114 ZPO) nicht abgesprochen werden.
19
Dies gilt im Hinblick darauf, dass der Antragsteller mit dem Schreiben des Jugendamtes des Landkreises D. vom 4. Februar 2020 ein gleich gelagertes Interesse der Beteiligten zu 2 glaubhaft gemacht hat (dazu unter 2.) und es sich darüber hinaus um eine schwierige Rechtsfrage handelt (dazu unter 1.), deren Entscheidung dem Verfahren auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nicht vorbehalten bleiben kann.
20
1. Nach § 1600d Abs. 1 BGB kann eine antragsberechtigte Person die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft begehren, wenn eine rechtliche Vaterschaft zu dem Kind nach § 1592 Nr. 1 und 2 BGB sowie nach § 1593 BGB nicht besteht.
21
a) Eine durch Ehe mit der Mutter der Beteiligten zu 2 begründete Vaterschaft i.S.v. § 1592 Nr. 1 BGB besteht nicht, weil die Kindesmutter zum Zeitpunkt der Geburt nicht verheiratet war. Dies ergibt sich aus der im Vorverfahren vorgelegten Geburtsurkunde für die Beteiligte zu 2. Dass der Antragsteller oder ein anderer Mann die Vaterschaft zu der Beteiligten zu 2 nach Maßgabe der §§ 1594 ff. BGB wirksam anerkannt hat, ist weder durch die Geburtsurkunde dokumentiert, noch lässt sich dies dem Akteninhalt der vom Senat beigezogenen Verfahren entnehmen.
22
Nach h.M. wird die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft auch dann für zulässig erachtet, wenn das Kind durch einen Dritten adoptiert wurde, jedoch keine Vaterschaft nach § 1592 BGB besteht (vgl. Palandt/Götz, BGB, 79. Aufl., § 1754 Rn. 2; Erman/Teklote, BGB, 16. Aufl., § 1755 Rn. 8; Staudinger/Rauscher (2011) § 1600d Rn. 14; Frank FamRZ 2017, 497, 501; OLG Bamberg FamRZ 2017, 1236, 1237). An einem Rechtsschutzbedürfnis fehle es deswegen nicht, weil die Adoption zwar ein Kindschaftsverhältnis herstelle, das an die Stelle der leiblichen Verwandtschaft trete, dieses aber nicht rückwirkend ersetze (Staudinger/Rauscher [2011] § 1600d Rn. 14) und im Fall der Aufhebung der Adoption wieder aufleben könne (vgl. OLG Celle vom 8. Juli 1980 – 14 U 201/79, nach juris = DAVorm 1980, 940, 941). Die biologische Abstammung habe auch Folgen im Eheschließungs- und Strafrecht (§§ 1307 BGB, 173 StGB). Mit Blick „auf gewisse Nebenwirkungen des leiblichen Verwandtschaftsverhältnisses“ hat das Oberlandesgericht Koblenz (FamRZ 1979, 968 f.) im Rahmen einer Kostenbeschwerde ein Rechtsschutzinteresse für die Vaterschaftsfeststellung bejaht.
23
Demgegenüber differenziert Helms (in: Staudinger [2019] § 1755 Rn. 18 ff.) zwischen dem Feststellungsbegehren des Kindes einerseits sowie des mutmaßlich leiblichen Vaters andererseits. Während sich ein Rechtschutz- bzw. Feststellungsinteresse für das Kind jedenfalls aus dessen Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung herleiten lasse und darüber hinaus „rechtliche Nachwirkungen des Altstatus“ im Einzelfall gegeben sein können, soll dies für den leiblichen Vater nur dann gelten, wenn dieser ein „legitimes Interesse“ an der Feststellung seiner Vaterschaft geltend machen könne, wovon aber nur selten ausgegangen werden könne (vgl. Staudinger/Helms [2019] § 1755 Rn. 21; (weitergehend) Frank FamRZ 2017, 497, 501; Coester-Waltjen FamRZ 2013, 1693, 1697; Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl., § 68 Rn. 114; MünchKommBGB/Maurer, 8. Aufl., § 1755 Rn. 33 f.; BeckOGK/Löhnig, 2020, § 1755 Rn. 31 f.).
24
b) Die Adoption eines Kindes durch dessen Pflegeeltern oder andere Personen steht einer gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft nicht grundsätzlich entgegen.
25
Über die gerichtliche Vaterschaftsfeststellung nach § 1600d Abs. 1 BGB soll dem „vaterlosen“ Kind ein zweiter Elternteil zugeordnet werden können, wenn die Voraussetzungen der vorrangigen Alternativen in § 1592 Nr. 1 und 2 BGB nicht gegeben sind (vgl. MünchKommBGB/Wellenhofer, a.a.O., 8. Aufl., § 1600d Rn. 1). Nach dem Wortlaut des § 1600d Abs. 1 BGB steht ein durch Adoption begründetes Eltern-Kind-Verhältnis der gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft nicht entgegen. Allerdings führt der gerichtliche Adoptionsbeschluss gemäß § 1754 Abs. 1 und 2 BGB dazu, dass das angenommene Kind die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes der Ehegatten bzw. des Annehmenden (§ 1741 Abs. 2 Satz 1 und 2 BGB) erlangt und dadurch vollständig in die Familie des/der Annehmenden integriert wird (vgl. Staudinger/Helms, [2019], § 1754 Rn. 7; zur Gleichwertigkeit der Elternschaft BGH FamRZ 2020, 577, 579 [Rn. 28]). Eines auf die Feststellung eines Eltern-Kind-Verhältnisses gerichteten Abstammungsverfahrens bedürfte es danach nicht, weil dieses durch die Adoption begründet wird. Demgegenüber ist die durch Abstammung bestimmte Verwandtschaft i.S.v. § 1589 Abs. 1 Satz 1 dadurch definiert, dass eine Person von der anderen (in gerader Linie) abstammt und begründet aus diesem Grund eigenständig ein Eltern-Kind-Verhältnis. Hierauf ist die gerichtliche Vaterschaftsfeststellung nach § 1600d Abs. 1 BGB i.V.m. § 169 Nr. 1 FamFG bezogen, ohne das Eltern-Kind-Verhältnis nach erfolgter Adoption in den Blick zu nehmen.
26
Ein Kind erlangt gemäß § 1754 Abs. 1 BGB mit der Wirksamkeit des Adoptionsbeschlusses (§ 1752 Abs. 1 BGB) die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen Kindes der Ehegatten, wie dies in Abs. 3 der Vorschrift für die elterliche Sorge ausdrücklich normiert ist. Die Adoption begründet damit ein umfassendes gesetzliches Verwandtschaftsverhältnis zum Annehmenden und dessen Verwandten (vgl. Palandt/Götz, a.a.O., § 1754 Rn. 2; Staudinger/Helms, [2019], § 1754 Rn. 8 ff.), sodass in diesem Verhältnis die Vorschriften für leibliche Kinder, insbes. für die Unterhaltsverpflichtung, das Sorge- und Erbrecht, gelten. Spiegelbildlich hierzu erlischt gemäß § 1755 Absatz 1 Satz 1 BGB mit der Annahme das Verwandtschaftsverhältnis des (minderjährigen) Kindes zu seinen bisherigen Verwandten. Das Entfallen der sich aus der bisherigen Verwandtschaft ergebenden Verpflichtungen erfährt nach Satz 2 insoweit eine Einschränkung, als die bis zur Annahme entstandene Ansprüche des Kindes, insbes. auf Renten und vergleichbare Ansprüche, hiervon nicht erfasst sind, wovon wiederum Unterhaltsansprüche ausgenommen sind.
27
Die Position der rechtlichen Eltern bzw. des leiblichen Vaters wird dadurch in ausreichendem Maße gewährleistet, dass die Adoption nach § 1747 Abs. 1 Satz 1 BGB die Einwilligung beider Eltern erfordert. Besteht eine rechtliche Vaterschaft nach § 1592 BGB nicht, so ist nach Satz 2 der Regelung die Einwilligung des Mannes erforderlich, der die Voraussetzungen einer intimen Beziehung mit der Kindesmutter in der gesetzlichen Empfängniszeit (§ 1600d Abs. 2 Satz 1 BGB) glaubhaft macht. Der Sinn und Zweck dieser mit dem KindRG von 1997 eingeführten Regelung (BT-Drs. 13/4899, S. 112 ff.) besteht darin, dem potentiellen leiblichen Vater durch eine „vorläufige Vaterschaftsvermutung“ die Beteiligung am Verfahren zu ermöglichen, damit er während des laufenden Adoptionsverfahrens seine Vaterschaft feststellen lassen kann, um ggf. sein Elternrecht auch gegen den Willen der Kindesmutter geltend zu machen (vgl. Palandt/Götz, a.a.O., § 1747 Rn. 3; Staudinger/Helms [2019] § 1747 Rn. 21 ff.; Erman/Teklote, a.a.O., § 1747 Rn. 3). Daher ist auch der leibliche, nicht rechtliche Vater als möglicher Vaterschaftsprätendent am Adoptionsverfahren zu beteiligen, sofern dessen Einwilligung nicht ausnahmsweise nach § 1747 Abs. 4 BGB entbehrlich ist oder dieser von vorherein hierauf verzichtet hat.
28
Vor diesem Hintergrund erlangt für den Antragsteller und sein Begehren, die Abstammung zur Beteiligten zu 2 zu klären, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (FamRZ 2015, 828 ff.) zum Umfang der hiernach gebotenen (gerichtlichen) Ermittlungen Bedeutung. Diesen Aspekt hat der Bundesgerichtshof in einem auf einen Samenspender bezogenen Verfahren geklärt und klargestellt, dass auch der Samenspender Vater im Sinne des § 1747 Abs. 1 Satz 2 BGB mit der Folge sein kann, dass dessen Einwilligung erforderlich ist. Aus dieser Rechtsstellung hat der Bundesgerichtshof den Umfang der im Adoptionsverfahren erforderlichen Ermittlungen in Bezug auf die Person des potentiellen leiblichen Vaters hergeleitet. Ein möglicher Verzicht auf die Mitwirkung am Verfahren setzt jedenfalls die Kenntnis des leiblichen Vaters von der Geburt des Kindes sowie vom laufenden Adoptionsverfahren voraus. Für den Fall einer offiziellen (bzw. anonymen) Samenspende kann im Gegensatz zur privaten Samenspende regelmäßig davon ausgegangen werden, dass der Samenspender eine rechtliche Vaterstellung zu dem Kind von vornherein nicht einnehmen will (vgl. BGH FamRZ 2015, 828, 830 [Rn. 17 ff.]; OLG Bamberg FamRZ 2017, 1236, 1237; Staudinger/Helms [2019] § 1747 Rn. 27 ff.), weil von einem Einverständnis mit einer späteren Adoption ausgegangen werden kann und seine Vaterschaftsfeststellung durch § 1600d Abs. 4 BGB ausgeschlossen ist.
29
c) Ein (beachtenswertes) Interesse an der Feststellung eines Rechtsverhältnisses zu dem potentiellen leiblichen Vater könnte fehlen, weil ein signifikanter Unterschied in Bezug auf das Eltern-Kind-Verhältnis zwischen der rechtlichen Abstammung i.S.v. §§ 1591 ff. BGB einerseits und einer Adoption gemäß §§ 1747, 1754 BGB andererseits im Allgemeinen kaum besteht und die Wirkungen der Adoption nach § 1762 Abs. 2 BGB nur in ganz begrenztem Umfang beseitigt werden können. Denn eine Adoption kann allein aus den in § 1760 BGB genannten Gründen sowie nur binnen einer Frist von 3 Jahren nach Annahme des Kindes aufgehoben werden. Nach Ablauf dieser Frist kommt eine Aufhebung der Adoption während der Minderjährigkeit des Kindes nach § 1763 BGB nur aus schwerwiegenden Gründen des Kindeswohls in Betracht (vgl. hierzu Palandt/Götz, a.a.O., § 1763 Rn. 2; Staudinger/Helms (2019) § 1763 Rn. 7 ff.).
30
Vorliegend könnte für den beabsichtigten Antrag auf Feststellung der Vaterschaft und damit auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Eltern-Kind-Verhältnisses i.S.v. § 169 Nr. 1 FamFG das Rechtschutzinteresse fehlen, weil durch die wirksame Adoption ein Eltern-Kind-Verhältnis zu der Beteiligten zu 2 begründet worden ist und keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass dieses Rechtsverhältnis aufgehoben werden könnte, worauf der 15. Senat des Oberlandesgerichts Celle in seinem Beschluss vom 7. Februar 2012 (15 WF 23/12) im vorangegangenen Verfahren abgestellt hatte. Wenn die gerichtliche Feststellung eines (weiteren) Eltern-Kind-Verhältnisses in einem Abstammungsverfahren ausgeschlossen wäre, könnte der Antragsteller sein Begehren nicht auf die genetische Abstammung als biologischer Tatsache beschränken, denn Gegenstand einer gerichtlichen Feststellung kann nur ein Rechtsverhältnis sein, deren Grundlage die genetische Verbindung zweier Personen bildet.
31
Dies wird auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (FamRZ 2016, 877 ff.) bestätigt. Danach ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, neben dem Verfahren auf Feststellung der Vaterschaft nach § 1600d Abs. 1 BGB ein Verfahren zur isolierten (rechtsfolgenlosen) Klärung der Abstammung von einem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater bereitzustellen. Hierzu führt das Bundesverfassungsgericht u.a. an, dass auf Seiten mutmaßlicher Väter die Gefahr von Abstammungsuntersuchungen ins Blaue hinein und deswegen „eine erhebliche personelle Streubreite“ bestehe. Das aus Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitete Recht auf Kenntnis der Abstammung verdichtet sich deswegen auf die Konstellationen zur Überprüfung einer rechtlich etablierten Vaterschaft (BVerfG FamRZ 2016, 877, 882 f. [Rn. 49 ff., 60]). Der Anspruch auf Klärung der Abstammung aus § 1598a BGB ist – wie das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat – in seiner geltenden Fassung auf die bestehende rechtliche Familie mit der Folge begrenzt, dass weder seitens des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters ein Klärungsanspruch gegenüber dem Kind noch dessen Verpflichtung zur Klärung einer direkten verwandtschaftlichen Beziehung auf Begehren des Kindes besteht (vgl. BGH FamRZ 2017, 219, 220; 2019, 1543; 1545 f.; eine weitergehende Konzeption verfolgt der Diskussionsentwurf zur Reform des Abstammungsrechts in § 1600g Abs. 1 Nr. 6 DiskE; dazu Schwonberg FamRZ 2019, 1303, 1309 f.; Finger FuR 2020, 559 ff.; s. Thesen 75 – 91 des Abschlussberichts Arbeitskreis Abstammungsrecht, 2017, S. 82 ff.).
32
d) Der Rechtsverfolgung des Antragstellers kann vorliegend jedoch eine hinreichende Aussicht auf Erfolg deswegen nicht abgesprochen werden, weil er sowohl sein Recht auf Kenntnis über die Abstammungsverhältnisse, das das Bundesverfassungsgericht (FamRZ 2007, 441, 442) aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des potentiellen biologischen Vaters aus Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet hat, als auch sein Recht auf Zugang zu seinem (möglichen) Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (BVerfG FamRZ 2003, 816, 820) in dem im Jahr 2002 durchgeführten Adoptionsverfahren nicht wahrnehmen konnte. Nach Frank (FamRZ 2017,4 197,501) ist ein Feststellungsinteresse deswegen zu bejahen, weil Adoptivkinder einen „Alt- und einen Neustatus haben.“ Die Vaterschaftsfeststellung sei nach erfolgter Adoption auf die Feststellung des noch nicht abschließend geklärten Altstatus gerichtet, der mit seinen Ausstrahlungen das Leben des Adoptivkinds weiterhin bestimme. Werde dem Kind ein entsprechendes Antragsrecht auf Vaterschaftsfeststellung zuerkannt, könne dies dem biologischen Vater nicht versagt bleiben.
33
Als weiteres Argument, dem allerdings im vorliegenden Verfahren zu der volljährigen Beteiligten zu 2 keine maßgebliche Bedeutung zukommt, wird die gestärkte Rechtsposition des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters angeführt, dem unter den Voraussetzungen des § 1686a BGB ein Umgangsrecht mit seinem minderjährigen Kind sowie ein Anspruch auf Auskunft zusteht. Auch wenn mit der Einwilligung eines Elternteils in die Annahme nach § 1751 Abs. 1 Satz 1 BGB die Befugnis zum persönlichen Umgang mit dem Kind nicht mehr ausgeübt werden kann, soll das Umgangsrecht nach der vorgenannten Vorschrift hiervon nicht tangiert werden, wenn der biologische Vater in die Adoption aufgrund einer bestehenden rechtlichen Vaterschaft eines anderen Mannes nicht einwilligen konnte oder er entgegen § 1747 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht ordnungsgemäß am Verfahren beteiligt wurde (vgl. Staudinger/Helms, [2019] § 1751 Rn. 15; BeckOGK/Löhnig, 2020, § 1755 Rn. 21 f).
34
Dem Senat erschließt sich nicht, aus welchen Gründen der Antragsteller an dem Adoptionsverfahren in keiner Weise vom Amtsgericht beteiligt worden ist. In der prekären Lebenssituation der Mutter der Beteiligten zu 2, die durch den Konsum von Drogen geprägt war, erschien es jedenfalls nicht fernliegend, dass das Jugendamt die Mutter zu Männern, die als Vater ihrer Tochter in Betracht gekommen waren, hätte befragen müssen. Das Jugendamt hatte in seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 13. April 1999 angeführt, dass nach Angaben des Krankenhauses die Mutter zumindest einmal in Begleitung eines verwahrlost wirkenden Mannes auf der Intensivstation erschienen war. Nach dem mit Schriftsatz vom 20. Mai 1999 vorgelegten „Betreuungsverlauf“ sollte ein Transport von Kindermöbeln von der Kindesmutter und ihrem Freund Anfang März 1999 durchgeführt werden. Auch wenn sich darüber hinaus weder dem einstweiligen Anordnungsverfahren noch der vom Senat beigezogenen Adoptionsakte weitere Anhaltspunkte zur Person des leiblichen Vaters entnehmen lassen, wären weitere Ermittlungen zu dessen Person durch das mit Beschluss vom 26. Juli 1999 zum Vormund bestellte Jugendamt, aber auch durch das Amtsgericht im späteren Adoptionsverfahren geboten und rechtlich erforderlich gewesen.
35
Zwar mag in der Lebenssituation des Antragstellers in den Jahren 1999 und 2002 nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden können, dass sich der Antragsteller zu einer Vaterschaft bekannt oder dass die Mutter der Beteiligten zu 2 diesen als möglichen Vater ihrer Tochter benannt hätte. Unabhängig hiervon bestand gemäß §§ 26, 27 FamFG die rechtliche Verpflichtung, den potentiellen biologischen Vater in angemessenem Umfang zu ermitteln.
36
Konnte danach der Antragsteller seine Rechte im Adoptionsverfahren nicht wahrnehmen, besteht ein hinreichend legitimes Interesse an der Feststellung seiner Vaterschaft trotz des durch die Adoption der Beteiligten zu 2 begründeten rechtlichen Eltern-Kind-Verhältnisses.
37
e) Der Antrag des Antragstellers festzustellen, dass die Beteiligte zu 2 das Kind des Antragstellers ist, erscheint danach für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe trotz des bestehenden Eltern-Kind-Verhältnisses zulässig. Diesem Rechtsverhältnis wird auch in der Entscheidung des Amtsgerichts und der Tenorierung Rechnung zu tragen sein.
38
Sollte sich im weiteren Hauptsacheverfahren nach Einholung eines Abstammungsgutachtens die leibliche Vaterschaft des Beteiligten zu 1 erweisen, wäre eine gerichtliche Entscheidung, die diese Vaterschaft feststellt, grundsätzlich darauf gerichtet, ein Eltern-Kind-Verhältnis zu begründen, wie dies im Verfahren nach §§ 1600d Abs. 1, 1592 Nr. 3 BGB infolge der rechtsgestaltenden Entscheidung mit Wirkung für und gegen alle (§ 184 Abs. 2 FamFG) erfolgt. So hatte das Oberlandesgericht Celle (DAVorm 1980, 940) trotz erfolgter Adoption festgestellt, „daß der Beklagte der Vater des Klägers ist.“ Eine doppelte rechtliche Vaterschaft steht indessen mit den familienrechtlichen Regelungen nicht in Einklang, zumal aufgrund einer erfolgreichen Entscheidung im Vaterschaftsfeststellungsverfahren wohl keine Eintragung im Geburtenregister erfolgen könnte. Eine zweite bzw. doppelte Vaterschaft wäre auch nicht begrenzt, wenn die abstammungsrechtliche Vaterschaft nur einen „Altstatus“ des betroffenen Kindes vor der Adoption beträfe oder als latente Vaterschaft, erst im Fall einer künftigen Aufhebung der Adoption Wirkung entfalten sollte. Denn beide Einschränkungen kämen durch die herkömmliche Tenorierung im Vaterschaftsfeststellungsverfahren nicht zum Ausdruck. Auf die rechtliche Beziehung der Beteiligten zu 2 zu ihren Adoptiveltern hätte die Hauptsacheentscheidung im vorliegenden Verfahren keinen Einfluss.
39
Daher wird im Hauptsacheverfahren eine Entscheidungsformel zu treffen sein, die dem Elternrecht des Antragstellers Rechnung trägt, ohne die Interessen der Beteiligten zu 2 oder ihrer Adoptiveltern zu beeinträchtigen. Das Amtsgericht wird in der zu treffenden Entscheidung, die keine unmittelbare rechtliche Gestaltungswirkung zur Folge hätte, zu erwägen haben, ob eine solche Begrenzung der Entscheidungswirkung und damit der Rechtskraft des Beschlusses in der Entscheidungsformel zum Ausdruck zu bringen ist. Dieser Aspekt bedarf im Verfahrenskostenhilfeprüfungsverfahren keiner abschließenden Beurteilung durch den Senat, könnte aber z.B. in der Weise erfolgen, dass die gerichtliche Entscheidung nicht darauf gerichtet ist, dass festgestellt wird, dass der Antragsteller der Vater der Beteiligten zu 2 ist. Vielmehr könnte das Amtsgericht seine Entscheidung dahingehend fassen festzustellen, dass der Beteiligte zu 1 der leibliche Vater der Beteiligten zu 2 ist oder festzustellen, dass die Beteiligte zu 2 vom Antragsteller abstammt, wobei die Wirkungen einer solchen Entscheidungsformel in den Gründen näher erläutert werden können.
40
Ob es sich dann um ein „isoliertes Abstammungsfeststellungsverfahren“ bzw. ein „statusunabhängiges Feststellungsverfahren“ handelt, kann der Senat im Rahmen des vorliegenden Beschwerdeverfahrens dahinstehen lassen. Die Möglichkeit solcher Verfahren wurde im Rahmen des früher begrenzten Anfechtungsrechts volljährige Kinder zur Durchsetzung ihres Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung diskutiert. Nach der Einführung des Anspruchs auf Abstammungsklärung nach § 1598a BGB ist jedoch ein entsprechendes Rechtsschutzbedürfnis zu verneinen (vgl. BT-Drs. 13/4899, S. 56 f., 147; Frank in: GS Arens, S. 65 ff.; Helms in: FS Frank, S. 225 ff.).
41
f) Dem Antragsteller ist auch deswegen Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen, weil es sich bei der Frage, ob nach erfolgter Adoption eines Kindes eine Feststellung der Vaterschaft auf Antrag des mutmaßlich leiblichen Vaters zulässig ist, um eine – wie die voranstehenden Ausführungen zeigen – schwierige, bisher nicht abschließend geklärte Frage handelt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dient die Prüfung der Erfolgsaussichten nicht dazu, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Verfahrenskostenhilfeprüfungsverfahren zu verlagern. Vielmehr erfordert das Gebot der Rechtsschutzgleichheit, dass ein Rechtsschutzbegehren schon dann hinreichende Erfolgsaussicht haben kann, wenn die Entscheidung von der Beantwortung einer schwierigen und noch nicht (abschließend) geklärten oder in einem hohen Maß streitigen Rechtsfrage abhängt (vgl. BVerfG NJW 1991, 413 ff., FamRZ 2007, 1876; 2020, 1559, 1560 [zu § 1626a Abs. 2 BGB]; Zöller/Schultzky, ZPO, 31. Aufl., § 114 Rn. 25; Prütting/Gehrlein/Zempel/Völker, ZPO, 9. Aufl., § 114 Rn. 2).
42
Der Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für den Antragsteller steht auch nicht die Entscheidung des 15. Senats des Oberlandesgerichts Celle vom 7. Februar 2012 (22 F 268/11 Amtsgericht Syke = 15 WF 23/12), mit der dem Antragsteller diese versagt worden war, entgegen. Zwar wird die Entscheidung über die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe mit Ablauf der Frist für die sofortige Beschwerde (§ 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO) bestandskräftig. Sie erwächst jedoch nicht in materielle Rechtskraft und schließt daher einen neuen Bewilligungsantrag nicht aus. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein erneuter Antrag auf Verfahrenskostenhilfe im Einzelfall nur dann unzulässig, wenn sich die erneute Antragstellung als rechtsmissbräuchlich erweist, wobei auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen ist (vgl. BGH FamRZ 2009,496; Zöller/Schultzky, a.a.O., § 117 Rn. 5).
43
Zwar bezieht sich der Antragsteller in seinem Bewilligungsantrag vom 22. Februar 2020 im Wesentlichen auf denselben Sachvortrag, den er bereits im Vorverfahren (22 F 268/11 Amtsgericht Syke) geltend gemacht hat. Allerdings ist vorliegend bereits deswegen eine abweichende Beurteilung nicht ausgeschlossen, weil die Beteiligte zu 2 volljährig geworden ist und nicht mehr durch ihre Adoptiveltern wie im Vorverfahren vertreten wird. Darüber hinaus hat der Antragsteller sich auf das Schreiben des Jugendamtes vom 14. November 2019 berufen.
44
2. Die Rechtsverfolgung des Antragstellers erscheint darüber hinaus auch deswegen erfolgversprechend, weil die Beteiligten gleichlaufende Interessen verfolgen.
45
Für sein Begehren, die leibliche Vaterschaft zu klären, hat der Antragsteller im Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens im November 2019 Kontakt zum zuständigen Jugendamt aufgenommen. Im Schreiben vom 4. Februar 2020 teilte das Jugendamt des Landkreises D. Dem Antragsteller mit, dass auch die Beteiligte zu 2 Interesse an einer zweifelsfreien Klärung der Vaterschaft habe. Darüber hinaus würde sie sich nach einer entsprechenden Klärung für einen Informationsaustausch und darüber hinausgehend für ein Kennenlernen offen zeigen.
46
Die Beteiligten könnten eine Klärung der Abstammung einvernehmlich durch ein außergerichtlich einzuholendes, privates Abstammungsgutachten herbeiführen. Gleichwohl steht dem Antragsteller ein Rechtsschutzanspruch dahingehend zu, die Abstammung als Rechtsverhältnis feststellen zu lassen. Zum einen kann die genetische Beziehung und daraus folgende Verwandtschaft für weitere Bereiche – etwa im Rahmen einer testamentarischen Erbfolge (§§ 2067, 2068 f BGB) – Relevanz erlangen. Zum anderen ist ein privates Abstammungsgutachten vom fortbestehenden Einvernehmen der beteiligten Personen abhängig, während für das gerichtliche Abstammungsverfahren eine Mitwirkungspflicht der Untersuchungspersonen aus § 178 Abs. 1 FamFG folgt. Zudem könnten in diesem Kontext Probleme dadurch entstehen, dass zum Schutz der Beteiligten zu 2 dem Offenbarungs- und Ausforschungsgebot hinreichend Rechnung tragen zu wäre.
47
Ein einfacherer und kostengünstigerer Weg für den Antragsteller besteht auch nicht darin, einen Antrag auf Regelung des Umgangs nach § 1686a Abs. 1 BGB zu stellen, denn dessen Anwendungsbereich beschränkt sich auf minderjährige Kinder und ist daher vorliegend nicht einschlägig. Auch wenn in einem solchen Verfahren auch die leibliche Vaterschaft eines Antragstellers zu dem jeweiligen Kind zu klären wäre, dürfte nicht selten die weitere Voraussetzung, dass der Antragsteller ein ernsthaftes Interesse an dem Kind gezeigt hatte, fraglich sein, wenn nach der Geburt des Kindes zu diesem keinerlei Kontakt bestanden hatte.
48
Vor diesem Hintergrund bedarf es auch keiner weiteren Beurteilung, ob ein Antrag auf Feststellung der Vaterschaft nach erfolgter Adoption nur dann begründet sein könnte, wenn die Feststellung auch dem Wohl des Kindes dient. Dies könnte etwa dann der Fall sein, wenn Kontakte eines minderjährigen Kindes zum potentiellen leiblichen Vater in Aussicht genommen sind (vgl. DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2014, 511, 512). Hierauf kommt es vorliegend jedoch deswegen nicht an, weil die Beteiligte zu 2 volljährig ist und über einen Kontakt zum Antragsteller selbst entscheiden kann.
III.
49
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
50
1. Nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 FamFG wird im nunmehr vom Amtsgericht zu betreibenden Hauptsacheverfahren die Mutter der Beteiligten zu 2 zu beteiligen und ihr rechtliches Gehör zu gewähren sein. In diesem Rahmen obliegt es dem Amtsgericht von Amts wegen – ggf. unter Mitwirkung der Beteiligten bzw. des Jugendamts – den aktuellen Aufenthalt der Kindesmutter zu ermitteln. Die Adoptiveltern der Beteiligten zu 2 sind nach § 7 Abs. 2 FamFG, der neben der Regelung in § 172 FamFG anwendbar ist, nur dann als Beteiligte zum Verfahren hinzuzuziehen, wenn deren Rechte durch das Verfahren unmittelbar betroffen wären, was vorliegend nach Volljährigkeit der Beteiligten zu 2 fraglich erscheint.
51
Darüber hinaus wird der Antragsteller weiteren Sachvortrag dahingehend zu halten haben, in welcher Weise sich seine Beziehung zur Mutter der Beteiligten zu 2 vor und nach deren Geburt gestaltet hat. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Antrag auf Feststellung der Vaterschaft nur dann zulässig, wenn hinreichende Anhaltspunkte für eine intime Beziehung mit der Mutter des Kindes in der gesetzlichen Empfängniszeit (§ 1600d Abs. 3 BGB) konkret vorgetragen werden. Fehlt es an dahingehendem Vorbringen, ist der Antrag auf Vaterschaftsfeststellung nicht zulässig (vgl. BGH FamRZ 2015, 35; 2016, 1849).
52
2. Der Feststellung der Vaterschaft durch Einholung eines Abstammungsgutachtens steht nicht das Offenbarungs- und Ausforschungsverbot des § 1758 Abs. 1 BGB entgegen. Danach dürfen Tatsachen, die geeignet sind, die Annahme und ihre Umstände aufzudecken, ohne Zustimmung des Annehmenden und des Kindes nicht offenbart oder ausgeforscht werden. Den hierdurch geschützten Interessen der Beteiligten zu 2 kann im Rahmen des Hauptsacheverfahrens sowie bei der Erstellung des Abstammungsgutachtens in der Weise Rechnung getragen werden, dass der vom Sachverständigen bzw. von dem die genetische Probe entnehmenden Arzt zu fertigende Identitätsnachweis der Beteiligten zu 2, der dem Gutachten beizufügen ist, dem Antragsteller solange nicht zur Verfügung gestellt und nicht zum Akteninhalt genommen wird, bis die Beteiligte zu 2 ihr Einverständnis mit einer entsprechenden Information des Antragstellers erklärt. Eine telefonische Nachfrage des Senats bei einem Sachverständigen für Abstammungsgutachten hat ergeben, dass gegen ein entsprechendes Vorgehen aus dessen Sicht keinerlei Bedenken bestehen. Mit einer solchen Handhabung hat sich der Antragsteller im Schriftsatz vom 26. Februar 2020 einverstanden erklärt, da die Personalien und die Identität für ihn nicht offengelegt werden müssen und er auf eine Prüfung der Identität durch Einsicht in die Akte verzichtet hat.
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Tenor
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 100 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Zwangsgeldfestsetzung in dem Bescheid vom 16. September 2020 kann keinen Erfolg mehr haben. Für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Zwangsgeldfestsetzung fehlt es dem Antragsteller an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis.
2
Zu den Zulässigkeits- oder Sachurteilsvoraussetzungen für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes gehört, dass ein schutzwürdiges Interesse an der begehrten gerichtlichen Entscheidung besteht. Dieses sogenannte allgemeine Rechtsschutzinteresse ist unter anderem dann zu verneinen, wenn sich die rechtliche Situation eines Antragstellers auch im Falle des Obsiegens nicht nennenswert verbessern würde, die Beschreitung des Rechtsweges somit unnütz wäre. Dies ist der Fall, wenn ein zu beseitigender Nachteil nicht vorliegt oder sich ein bestehender Nachteil nicht beheben lässt (vgl. Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 06. Mai 2020 – 1 B 53/20 –, Rn. 5 - 6, juris).
3
Dem Antragsteller fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis, weil der Antragsgegner in seinem Schriftsatz vom 30. September 2020 zugesichert hat, dass eine Vollstreckung aus dem Bescheid vom 16. September 2020 über die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 200 € nicht stattfinden und der Bescheid aufgehoben werden wird, nachdem – nunmehr durch die Anlage zur Antragsschrift auch für den Antragsgegner ersichtlich – feststand, dass eine Beprobung des Trinkwassers im Jahre 2019 nicht erfolgt ist. Der Antragsgegner hat sich in den Schriftsatz bereits vorsorglich einer Erledigungserklärung des Antragstellers angeschlossen. Das Gericht hat den Antragsteller mit Verfügung vom 2. Oktober 2020 gebeten, bis zum 9. Oktober 2020 (Eingang bei Gericht) mitzuteilen, ob er das Verfahren für erledigt erklärt. Eine entsprechende Erledigungserklärung des Antragstellers ist jedoch nicht eingegangen, sodass der noch offene Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen ist.
4
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 2, 52 Abs. 1, 63 Abs. 2 GKG; im Hinblick auf die Vorläufigkeit des Rechtsschutzverfahrens hat die Kammer die Hälfte des festgesetzten Zwangsgeldes als Streitwert zugrunde gelegt.
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Tenor
Auf den Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwal-tungsgerichts Stuttgart vom 8. Juni 2020 - A 11 K 367/19 - zugelassen, soweit die Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art 3 EMRK und Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgewiesen wurde.
Gründe
1 Der die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG (zum nationalen Abschiebungsschutz auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG als einheitlichem, in sich nicht weiter teilbarem Streitgegenstand vgl. BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319) betreffende Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist zulässig und begründet.
2 Die Berufung ist zuzulassen, da der vom Kläger hinreichend dargelegte Verfahrensmangel in Gestalt einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG) auch in der Sache vorliegt.
3 Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Allerdings gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz dagegen, dass ein angebotener Beweis aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts nicht erhoben wird. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisantrags verstößt nur dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18.06.1993 - 2 BvR 1815/92 -, NVwZ 1994, 60, vom 17.09.1999 - 1 BvR 47/99 -, NJW 2000, 1327, und vom 25.10.2002 - 1 BvR 2116/01 -, NJW 2003, 1655; StGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.03.2015 - 2/15 -, NJW 2015, 1869; BVerwG, Beschlüsse vom 27.03.2000 - 9 B 518.99 -, InfAuslR 2000, 412, vom 29.06.2001 - 1 B 131.00 -, NVwZ-RR 2002, 311, vom 31.07.2014 - 2 B 20.14 -, NVwZ-RR 2014, 887, und vom 25.01.2016 - 2 B 34.14 -, NVwZ-RR 2016, 428; Urteil vom 11.09.2007 - 10 C 8.07 -, BVerwGE 129, 251). Das ist der Fall, wenn aus den angegebenen Gründen ein Beweisantrag schlechthin nicht abgelehnt werden darf (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 17.06.1998 - A 14 S 1178/98 -, NVwZ 1998, 110), wenn das Gericht den ohne weiteres erkennbaren Sinn des Beweisantrags nicht erkennt oder wenn die vom Verwaltungsgericht gegebene Begründung offenkundig unrichtig oder unhaltbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.06.1993, a. a. O.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.01.1997 - A 13 S 2325/96 -, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9 S. 67; Hess. VGH, Beschluss vom 08.07.1999 - 9 ZO 177/98.A -, InfAuslR 2000, 128; Senatsbeschluss vom 09.01.2020 - A 9 S 3325/19 -; GK-AsylG, Stand: Dezember 2019, § 78 Rn. 355 ff.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
4 1. Der Klägervertreter hatte in der mündlichen Verhandlung am 05.06.2020 beantragt, durch Einholen einer Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und des Auswärtigen Amtes Beweis darüber zu erheben, ob in Gambia die Medikamente Quetiapin, Sertralin und Lorazepam bzw. entsprechende Substitute erhältlich sind und ggf. zu welchen Kosten. Das Verwaltungsgericht lehnte den Beweisantrag mit der Begründung ab, auf die zu beweisenden Tatsachen komme es nicht an. Es sei nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass der Kläger die genannten Medikamente tatsächlich regelmäßig einnehme und auf diese angewiesen sei. Die Einnahme der Medikamente Quetiapin und Sertralin werde ausweislich des ärztlichen Attests vom 06.05.2020 vom Kläger im Anamnesegespräch lediglich behauptet, jedoch aktuell an keiner Stelle, z.B. durch Vorlage entsprechender Rezepte, belastbar nachgewiesen. Dagegen, dass der Kläger die Medikamente benötige, spreche im Übrigen, dass im Attest vom 06.05.2020 der Verlauf einer zwischenzeitlichen Behandlung seit dem Attest vom 06.06.2019 nicht geschildert werde. Im Übrigen halte die Berichterstatterin die Diagnose im Attest vom 16.08.2018, in dem der Arzt Dr. C. erstmalig die Behandlung mit Sertralin, Quetiapin und Lorazepam verordnet habe, nicht für tragfähig, da nicht dargelegt sei, auf welchem traumatisierenden Ereignis sie beruhe. Damit sei dem medizinischen Befund die tatsächliche Basis entzogen und die Notwendigkeit der Verschreibung der genannten Medikamente zweifelhaft.
5 Nach Anhörung des Klägers und dessen ehrenamtlicher Betreuerin wiederholte der Klägervertreter den Beweisantrag mit dem Hinweis, der Kläger sei auf die Medikamente angewiesen, sie seien verschreibungspflichtig. Ein Nachweis für eine regelmäßige Medikation könne bis kommenden Montag nachgereicht werden.
6 Das Verwaltungsgericht lehnte den Beweisantrag erneut ab und führte zu Begründung aus, auf die zu beweisende Tatsache komme es immer noch nicht an. Es ergebe sich aus dem letzten ärztlichen Attest auch weiterhin nicht, dass der Kläger auf die Medikamente angewiesen sei. Die Angaben von Frau G., die keine Ärztin sei, reichten nicht aus, um dies nachzuweisen. Weiterhin blieben die Zweifel an der Diagnose im Attest vom 16.08.2018, da die Berichterstatterin immer noch nicht von der Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers zum traumatisierenden Ereignis überzeugt sei.
7 2. Die Ablehnung des Beweisantrags findet im Prozessrecht keine Stütze. Denn auf der Grundlage der zum Gesundheitszustand des Klägers vorgelegten Unterlagen mussten sich dem Verwaltungsgericht jedenfalls die Fragen aufdrängen, ob der Kläger nicht an einer anderen fachärztlich behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung als einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und ob er zur Behandlung dieses Leidens der angesprochenen Medikamente bedarf (unter a). Vor diesem Hintergrund ist das Verwaltungsgericht erkennbar von einem zu engen Verständnis des Beweisantrags ausgegangen, weshalb dessen Ablehnung prozessual nicht tragfähig ist (unter b).
8 a) Nach den vorliegenden Unterlagen befindet sich der Kläger seit dem 19.01.2018 in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C. (vgl. dessen ärztliche Gutachten bzw. Atteste vom 16.08.2018, vom 06.06.2019 und vom 06.05.2020 sowie die Bescheinigung vom 23.05.2020 über 10 Termine des Klägers). Zur Symptomatik wird im Ärztlichen Attest vom 06.05.2020 ausgeführt: „... Bereits auf dem Fluchtweg kam es zu Ängsten, Panikattacken und Schlafstörungen, die sich in der Folgezeit immer weiter verstärkten. Inzwischen sind die nächtlichen Angstbilder auch belastend bei der Tagesaktivität, führen zu Konzentrationsproblemen, zu Antriebsschwäche und zeitweilig auch zu Suizidgedanken. Der Betroffene wirkt auch bei den Untersuchungen hier bisweilen apathisch und emotional nicht anwesend, zeigt Konzentrationsstörungen. Im Kontakt mit Menschen erträgt er schlecht Unruhe und zwischenmenschliche Unstimmigkeiten, die sich insbesondere während der Gruppenunterbringung zeigten. Innere Anspannung kann der Betroffene selbst kaum artikulieren. Es finden sich starke Verunsicherungen hinsichtlich des Selbstwertes und der eigenen Fähigkeiten. Trotz regelmäßiger Einnahme von Quetiapin und Sertralin sowie Alprazolam bei Bedarf kommt es weiterhin häufig zu Alpträumen mit wiederkehrenden Bildern, die ein Gefühl lebensbedrohlichen Schreckens und inneren Gelähmtseins auslösen. Auch werden immer wieder Angstzustände mit Herzrasen und vorübergehenden Sehstörungen bis hin zu einer „Blindheit" während einer Panikattacke beschrieben. Bei der Schilderung des Befindens/der Symptomatik fanden sich bislang keinerlei Hinweise für eine Aggravation oder Dissimulation. ... Konkrete Folgen eines Behandlungsabbruchs wären mit großer Wahrscheinlichkeit eine weitere Zunahme der Symptomatik mit daraus resultierenden panikartigen Ängsten und dem Wunsch, diesen durch einen Suizid ein Ende zu bereiten. Der Betroffene zeigt eine ausgesprochene Unfähigkeit, sich selbständig Hilfe zu suchen und sich Konflikten zu stellen bzw. sich in Konfliktsituationen durchzusetzen. Dazu kommt die Schwierigkeit des Betroffenen, Anderen gegenüber Vertrauen zu fassen und diese um Hilfe zu bitten. Unter beängstigenden Umständen, wie sie bei einer Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten wären, ist konkret mit autoaggressivem Verhalten bis hin zu Suizidversuchen zu rechnen. ... Das Krankheitsbild des Betroffenen ist als schwer einzuschätzen. ...“
9 Zur Medikation wird im ärztlichen Gutachten vom 16.08.2018 ausgeführt: Vorbehandlungen seien mit Promethazin, Melperon und zuletzt Quetiapin erfolgt. Unter Kombinationsbehandlung mit Quetiapin, Sertralin und Lorazepam habe sich der Zustand im Laufe der etwaigen sechswöchigen Kontrolluntersuchungen zwischenzeitlich wenig stabil gezeigt. Aktuell nehme der Patient 100mg Sertralin, 250mg Quetiapin ret. und 50-100mg Quetiapin unretardiert zur Nacht sowie Lorazepam bei Bedarf (Alpträume). Im Attest vom 06.06.2019 heißt es, die intensive Behandlung mit Neuroleptika und Antidepressiva habe bislang nur eine Dämpfung der Symptome bis hin zu einer Symptomverschiebung ergeben. Im Attest vom 06.05.2020 wird ausgeführt, trotz regelmäßiger Einnahme von Quetiapin und Sertralin sowie [seit 04.02.2020] Alprazolam bei Bedarf komme es weiterhin häufig zu Alpträumen mit wiederkehrenden Bildern (vgl. auch den Medikationsplan vom 08.06.2020 mit handschriftlichen Vermerken).
10 Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung zahlreicher weiterer Unterlagen (vgl. „Epikrise“ der m. Klinik K., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 28.03.2017 über eine „notfallmäßige Aufnahme ... aufgrund unklarer Distanzierung von Suizidalität“ in der Zeit vom 24.03.2017 bis 28.03.2017, Diagnose (ICD 10): Anpassungsstörungen F 43.2; Bescheinigung der m. Klinik K. vom 21.11.2018 über die erneute stationäre Aufnahme am 13.11.2018; Überweisungsschein an „Facharzt Psychiatrie“ vom 29.05.2017, ausgestellt von Dr. R.-B., Diagnose/Verdachtsdiagnose: F43.1 G Posttraumatische Belastungsstörung; F 41.0.Panikstörung [episodisch paroxymale Angst]; R 45.8 V Verdacht auf Suizidgedanken; Schlafstörung; Bescheinigung des Psychosozialen Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge N. vom 22.05.2017; Schreiben des Sozialpsychiatrischen Dienstes N. vom 14.12.2018; Schreiben der ehrenamtlichen Betreuerin des Klägers vom 26.05.2020) lagen damit konkrete und deutliche Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger jedenfalls an einer gravierenden und persistierenden fachärztlich behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung leidet. Nach Aktenlage konnten auch keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, dass dem Kläger wegen seiner psychiatrischen Erkrankung seit Jahren die im Beweisantrag bezeichneten Medikamente bzw. entsprechende Substitute vom Facharzt verschrieben werden und dass der Kläger diese einnimmt.
11 b) Bei dieser besonderen Sachlage konnte die Frage, ob das Leiden des Klägers fachärztlicherseits als posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert (und dementsprechend in das Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen (ICD) eingeordnet) werden kann oder nicht, ersichtlich nicht allein ausschlaggebend sein für die im Rahmen der Prüfung des Begehrens nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erhebliche Ausgangsfrage, ob es dem Kläger im Falle der Rückkehr wegen einer Erkrankung nicht gelingen bzw. wesentlich erschwert würde, sich in seinem Herkunftsland ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Deshalb konnte auch der Beweisantrag des Klägers offensichtlich vom Verwaltungsgericht nicht in dem eingeschränkten Sinn verstanden werden, der Erhältlichkeit der bezeichneten Medikamente komme nur Bedeutung im Falle einer beim Kläger diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung zu. Es stellt deshalb eine mit der Gewährleistung des Rechts auf rechtliches Gehör unvereinbare Verkennung des klaren Sinns des klägerischen Beweisantrags dar, wenn das Verwaltungsgericht diesen ablehnt ohne auf die Frage einzugehen, ob der Kläger auch unabhängig von einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht jedenfalls der angesprochenen Medikamente bedarf und diese in Gambia erhalten kann.
12 Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG).
13 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 5. Juni 2020 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 500,- Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO nur zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO innerhalb der Begründungsfrist dargelegt ist und vorliegt. Das ist hier nicht der Fall.
31. Es bestehen nicht die vom Kläger der Sache nach geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
4a) Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Gewährung einer Parkerleichterung für Schwerbehinderte ist § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO. Danach kann die Straßenverkehrsbehörde in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftzeichen, Richtzeichen, Verkehrseinrichtungen oder Anordnungen erlassen sind.
5Den Straßenverkehrsbehörden ist dabei ein Ermessen eingeräumt. Das Merkmal der Ausnahmesituation ist Bestandteil der Ermessensentscheidung. Diese wiederum unterliegt nach § 114 Satz 1 VwGO nur einer eingeschränkten richterlichen Überprüfung. Das Gericht kann insoweit nur prüfen, ob die Behörde das Ermessen überhaupt ausgeübt hat, ob sie bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat oder ob sie von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Das Ermessen der Straßenverkehrsbehörden wird durch die aufgrund Art. 84 Abs. 2 GG erlassene Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) gelenkt und gebunden. Es handelt sich dabei nicht um eine Rechtsnorm, sondern um innerdienstliche Richtlinien, die keine unmittelbaren Rechte und Pflichten für den Bürger begründen. Sie entfalten im Verhältnis zum Bürger nur deshalb Wirkungen, weil die Verwaltung zur Wahrung des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet ist und sich demgemäß durch die pflichtgemäße Anwendung der Verwaltungsvorschriften selbst bindet. Maßgeblich ist die bestehende Verwaltungspraxis.
6Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. August 2011 ‑ 8 A 2247/10 -, juris Rn. 24 ff.; Beschluss vom 21. Dezember 2018 - 8 A 2763/17 -, juris Rn. 4 f.; jeweils m. w. N.
7Nach Ziffer I Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Nr. 11 StVO können Parkerleichterungen grundsätzlich nur schwerbehinderten Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung gestattet werden. Allerdings sind nach Ziffer II Nr. 3 VwV-StVO zu § 46 Nr. 11 StVO die ermessenslenkenden Vorschriften über die Gestattung von Parkerleichterungen sinngemäß auch auf folgende Personengruppen anzuwenden:
8a) Blinde Menschen;
9b) Schwerbehinderte Menschen mit beidseitiger Amelie oder Phokomelie oder mit vergleichbaren Funktionseinschränkungen, wobei die zeitlichen Begrenzungen, die eine Betätigung der Parkscheibe voraussetzen, nicht gelten;
10c) Schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen G und B und einem Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 80 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken);
11d) Schwerbehinderte Menschen mit den Merkzeichen G und B und einem GdB von wenigstens 70 allein für Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirken) und gleichzeitig einem GdB von wenigstens 50 für Funktionsstörungen des Herzens oder der Atmungsorgane;
12e) Schwerbehinderte Menschen, die an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa erkrankt sind, wenn hierfür ein GdB von wenigstens 60 vorliegt;
13f) Schwerbehinderte Menschen mit künstlichem Darmausgang und zugleich künstlicher Harnableitung, wenn hierfür ein GdB von wenigstens 70 vorliegt.
14Mit Erlass vom 30. November 2015 hat das Ministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen angeordnet, dass für die Inanspruchnahme von Parkerleichterungen das Merkzeichen B zukünftig in Nordrhein-Westfalen nicht mehr erforderlich ist.
15Im Übrigen regelt die VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 den Personenkreis, der für Ausnahmegenehmigungen in Betracht kommt, nicht abschließend. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften hindern die Behörde nicht generell, ihr Ermessen in begründeten anders gelagerten Fällen abweichend auszuüben. Durch derartige Verwaltungsvorschriften wird vielmehr das gesetzlich eingeräumte Ermessen abstrakt wahrgenommen und der Behörde zur Einzelfallentscheidung eine Orientierung gegeben. Es entspricht jedoch dem Sinn und Zweck einer Ermessensermächtigung, dass die Ermessensausübung nicht nach einem starren Schema erfolgt.
16Insbesondere in solchen Fällen, in denen sich ein Antragsteller auf eine nicht von den Fallgruppen der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 erfasste Behinderung beruft, hat die Straßenverkehrsbehörde den ihr durch das Ermessen eingeräumten Entscheidungsspielraum wahrzunehmen; sie hat in besonders gelagerten atypischen Fällen, die nicht in genereller Weise durch die Verwaltungsvorschriften vorentschieden sind, die ihr vom Gesetzgeber aufgegebene Bewertung des Sachverhalts im Rahmen einer Einzelfallwürdigung vorzunehmen. Dazu gehört die Feststellung, ob sonstige besondere Umstände vorliegen, die bei einem wertenden Vergleich mit den in der Verwaltungsvorschrift angeführten Fallgruppen eine vergleichbare Entscheidung rechtfertigen.
17Zwar ist der Personenkreis, der aufgrund der bundesweit geltenden Verwaltungsvorschriften für Parkerleichterungen in Betracht kommt, über die Fälle der außergewöhnlichen Gehbehinderung und der Blindheit hinaus erweitert worden. Es sind aber dennoch Fallgestaltungen möglich, die von den aufgezählten Fallgruppen nicht erfasst werden und in denen physische oder auch psychische Beeinträchtigungen vorliegen, die in ihren Auswirkungen mit den von der Verwaltungsvorschrift erfassten Krankheiten und Behinderungen zu vergleichen sind.
18In diesen Fällen besteht keine Bindung an die in der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 genannten Fallgruppen, sondern die Straßenverkehrsbehörde muss eine auf die konkreten Umstände des Einzelfalles bezogene Prüfung vornehmen, ob eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden kann.
19Bestehen aber keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer vom Regelfall abweichenden Fallkonstellation, dann begründet es keinen Ermessensmangel, wenn die Behörde ohne weitere auf den Einzelfall bezogene Ermessenserwägungen nach Maßgabe der Verwaltungsvorschrift entscheidet.
20Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. August 2011 - 8 A 2247/10 -, juris Rn. 73 ff., 103 f., m. w. N.
21Soweit es für die Entscheidung über die Ausnahmegenehmigung auf die Feststellung des (Gesamt-)Grades der Behinderung oder das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen von Merkzeichen ankommt, sind die Straßenverkehrsbehörden an die Feststellungen der für Aufgaben des Schwerbehindertenrechts zuständigen Behörden (in Nordrhein-Westfalen die Kreise und kreisfreien Städte) gebunden. Das ergibt sich aus § 152 Abs. 5 Satz 2 i. V. m. § 152 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGB IX). Danach dient der Schwerbehindertenausweis dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Leistungen und sonstigen Hilfen, die schwerbehinderten Menschen nach Teil 3 des SGB IX oder nach anderen Vorschriften zustehen. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, über das Vorliegen und den Grad der Behinderung sowie über das Vorliegen weiterer gesundheitlicher Merkmale in einem einheitlichen Verfahren zu entscheiden und durch die Ausstellung des Schwerbehindertenausweises sicherzustellen, dass der behinderte Mensch gegenüber jedermann die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen nachweisen kann.
22Bindungswirkung kommt dabei nicht nur den im Schwerbehindertenausweis dokumentierten positiven Feststellungen über gesundheitliche Merkmale im Sinne des § 152 Abs. 4 SGB IX zu, sondern auch den negativen Feststellungen, dass solche Merkmale nicht vorliegen.
23Eine über die Feststellungen des Schwerbehindertenausweises hinausgehende Bindungswirkung besteht hingegen nicht. Die Straßenverkehrsbehörden sind insbesondere nicht an die Stellungnahmen der Sozialbehörden gebunden, die diese im Wege der Amtshilfe nach Aktenlage abgeben. Die Bindungswirkung des § 152 Abs. 5 Satz 2 SGB IX bezieht sich allein auf die in den Schwerbehindertenausweis einzutragenden Feststellungen, also das Vorliegen einer Behinderung und den (Gesamt-) Grad der Behinderung (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) sowie die weiteren gesundheitlichen Merkmale (§ 152 Abs. 4 SGB IX), nicht auch auf sonstige Stellungnahmen der Sozialverwaltung zum Vorliegen bestimmter Krankheiten oder Funktionsbeeinträchtigungen.
24Eine Bindung an versorgungsbehördliche Stellungnahmen ergibt sich auch nicht aus der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO.
25Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. August 2011 - 8 A 2247/10 -, juris Rn. 80 ff.; Beschluss vom 21. Dezember 2018 - 8 A 2763/17 -, juris Rn. 14 ff.
26b) Dies zugrunde gelegt, hat das Verwaltungsgericht einen Anspruch des Klägers auf Gestattung der begehrten Parkerleichterung zu Recht abgelehnt.
27aa) Der Kläger gehört nicht zu dem Personenkreis, dem nach der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Parkerleichterungen zu bewilligen sind. Nichts anderes gilt für Nordrhein-Westfalen nach dem genannten Erlass vom 30. November 2015.
28Zwar sind im Schwerbehindertenausweis des Klägers die Merkzeichen „G“ und „B“ eingetragen. Diese Merkzeichen berechtigen nach Ziffer II Nr. 3 c) oder d) der VwV-StVO zu § 46 Nr. 11 StVO jedoch nur kumulativ mit einer Gehbehinderung des dort beschriebenen Ausmaßes zu einer Parkerleichterung. Eine solche Gehbehinderung liegt bei dem Kläger unstreitig nicht vor. Ebenso wenig ist in seinem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „aG“ eingetragen, das nach Ziffer I Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 unmittelbar einen Anspruch auf Erteilung einer Parkerleichterung begründet.
29bb) Dahinstehen kann, ob die Beratungsstelle Planen, Bauen und Verkehr tatsächlich - wie es in der Begründung des angefochtenen Bescheides heißt - das Vorliegen besonders gelagerter atypischer Umstände geprüft hat oder ob sie dies - wofür jedenfalls ihr nach Erlass des Ablehnungsbescheides verfasstes Schreiben vom 10. Dezember 2019 spricht - tatsächlich unterlassen und lediglich (insoweit dann auch rechtlich zweifelhaft) das Ergebnis der Prüfung durch das Amt für Soziales und Wohnen / Fachbereich Schwerbehindertenrecht übernommen hat, ohne selbst zu prüfen, ob atypische, von der Verwaltungsvorschrift nicht vorentschiedene Umstände vorliegen, die den von dieser erfassten Fallgruppen aber gleichwohl vergleichbar sind. Ebenso kann offen bleiben, ob der bloß ergebnishafte Hinweis, besonders gelagerte atypische Umstände, die nicht in genereller Weise durch die Verwaltungsvorschriften vorentschieden seien, bestünden ebenfalls nicht, noch den Begründungsanforderungen des § 39 Abs. 1 VwVfG NRW genügt.
30Jedenfalls liegt unter den hier gegebenen Umständen insoweit weder ein die Sachentscheidung möglicherweise beeinflussender Verfahrens- bzw. Formfehler noch ein Ermessensfehler vor, weil sich aus den vom Kläger geltend gemachten Umständen keine solche atypische Fallkonstellation ergibt, die der Beklagten hätte Anlass geben müssen, auf den Einzelfall bezogene gesonderte Ermessenserwägungen anzustellen.
31Soweit sich der Kläger zur Begründung eines atypischen Falles auf eine Orientierungslosigkeit aufgrund seiner geistigen Behinderung beruft, ist dieser Umstand bereits typischerweise von dem Merkzeichen „B“ abgedeckt. Dieses Merkzeichen berechtigt zur Mitnahme einer Begleitperson bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln (vgl. § 229 Abs. 2 SGB IX) und wird nach Teil D Nr. 2 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung erteilt, wenn schwerbehinderte Menschen, bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "Gl" (Gehörlosigkeit im Sinne des Teil D Nr. 4 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung) oder "H" (Hilflosigkeit im Sinne von § 33b Abs. 6 EStG) vorliegen, bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder wenn Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei Querschnittgelähmten, Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.
32Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. August 2011 - 8 A 2247/10 -, juris Rn. 63, m. w. N.
33Da die VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 das Merkzeichen „B“ ausdrücklich aufführt, dieses nach Ziffer II Nr. 3 c) bzw. d) der VwV-StVO zu § 46 Nr. 11 StVO jedoch allein noch keinen Anspruch auf Erteilung einer Parkerleichterung begründet, genügt typischerweise auch eine geistige Behinderung mit Orientierungslosigkeit im Sinne des Merkzeichens „B“ nicht für die Annahme eines besonders gelagerten atypischen Falles. Vielmehr handelt es sich gerade um einen von der Verwaltungsvorschrift bewusst geregelten Sachverhalt. Dass in seinem Fall zusätzlich zu der geistigen Behinderung eine Gehbehinderung der von Ziffer II Nr. 3 c) bzw. d) der VwV-StVO zu § 46 Nr. 11 StVO vorausgesetzten Schwere vorliegt, macht der Kläger selbst nicht geltend.
34Vor diesem Hintergrund verfängt auch der von dem Kläger angeführte Vergleich mit blinden Menschen nach Ziffer II Nr. 3 a) der VwV-StVO zu § 46 Nr. 11 StVO nicht. Soweit das Vorbringen des Klägers dahingehend zu verstehen sein sollte, dass die Verwaltungsvorschrift selbst gleichheitswidrig sei, ergibt sich hieraus nichts anderes. Der Erlassgeber ist insofern ersichtlich davon ausgegangen, dass bei einer geistigen Behinderung ein hinreichender Nachteilsausgleich grundsätzlich bereits über die einschlägigen Merkzeichen (insbesondere „B“, „G“ und „H“) gewährt wird. Ein sachlicher Grund für die Differenzierung liegt danach vor. Zudem sind die Auswirkungen der unterschiedlichen Beeinträchtigungen schon nicht ohne Weiteres miteinander vergleichbar.
35Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. August 2011 - 8 A 2247/10 -, juris Rn. 72.
36Ein atypischer Fall ist hier auch nicht deshalb anzunehmen, weil der Kläger aufgrund seiner geistigen Behinderung mit Impulskontrollstörung zu einem unkontrollierten Loslaufen auf der Straße neigt. Die gutachterliche Stellungnahme vom 29. August 2019 zum Verfahren nach dem Schwerbehindertenrecht führt diesbezüglich bereits explizit aus, dass eine ausreichende Berücksichtigung des Mehraufwandes bei der Beförderung im öffentlichen Straßenverkehr über die Zuerkennung der Merkzeichen „H“ und „B“ erfolge. Dies steht im Einklang mit den vorstehenden Ausführungen.
372. Der Kläger hat nicht nach § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO dargelegt, dass die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist. Es genügt insofern nicht, dass der Kläger die Vorschrift des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO im Zulassungsvorbringen aufgeführt hat. Im Übrigen liegen nach dem Vorstehenden die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht vor. Die vom Kläger aufgeworfenen Sach- und Rechtsfragen begründen keine Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils, die dessen Richtigkeit als offen erscheinen lassen und einer Klärung in einem Berufungsverfahren bedürften.
383. Die sinngemäß geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist ebenfalls nicht hinreichend dargelegt (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
39Der Kläger formuliert schon keine grundsätzlich klärungsbedürftige und klärungsfähige Frage. Im Gegenteil rückt er selbst die Besonderheiten des Einzelfalls ins Zentrum seines Vortrages. Soweit die Frage der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Parkerleichterung wegen einer behinderungsbedingten Orientierungslosigkeit überhaupt grundsätzlicher Art und nicht bloß einzelfallbezogen beantwortbar ist, ist diese Frage nach dem Vorstehenden für dieses Verfahren im Einklang mit der genannten Rechtsprechung des Senats beantwortet. Einen über diese bereits vorliegende Rechtsprechung hinausgehenden Klärungsbedarf verallgemeinerungsfähiger Art legt die Antragsbegründung nicht dar.
40Die vom Kläger ohne die erforderliche Vertretung nach § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO und damit unzulässig vorgebrachte Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung hätte ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung geführt.
41Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
42Die Streitwertsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1 GKG. Die Bedeutung der Sache ist nach der Rechtsprechung des Senats mit 500,- Euro ausreichend bewertet.
43Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 26. Juni 2020 ‑ 8 E 467/20 -, juris.
44Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 6 Satz 3 GKG).
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Tenor
Es wird festgestellt, dass die Durchsuchungsanordnung in Nr. 1 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 22. August 2017 - 4 K 7022/17 - rechtswidrig gewesen ist.Der Beschwerdegegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.1 Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine auf Antrag des Beschwerdegegners in einem vereinsrechtlichen Verbotsverfahren erlassene gerichtliche Durchsuchungsanordnung.2 Der Beschwerdeführer ist ein eingetragener Verein („... ...). Er mietet seit ... von der Stadt ... Räume in dem Gebäude ...-... ... .... Bei dem Gebäude handelt es sich um ein ehemaliges ...-... auf einem im Eigentum der ... stehenden, von der Stadt als Hauptmieterin gemieteten Grundstück. Dort betreibt der Beschwerdeführer das „...“ (Mietvertrag vom ...), einen sog. ... (im Folgenden: KTS).3 Mit Verfügung vom 14.08.2017 stellte das Bundesministerium des Innern (BMI) fest, dass der Verein „linksunten.indymedia“ verboten ist und aufgelöst wird (Nr. 2 der Verfügung). Es stellte weiter fest, dass es verboten ist, die unter dem Namen „linksunten.indymedia.org“ unterhaltenen Internetpräsenzen des Vereins weiter zu betreiben (Nr. 3), und ordnete die Beschlagnahme sowie Einziehung des Vereinsvermögens an (Nr. 5). Das BMI adressierte die Verfügung an die Vereinigung „linksunten.indymedia“ zu Händen von drei Personen, die seines Erachtens führende Mitglieder waren, darunter Herr ....4 Zur Begründung der Verfügung führte das BMI unter anderem aus, bei „linksunten.indymedia“ handele es sich um einen Verein, dessen Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderliefen und der sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richte. Vereinszweck sei es, als selbständiges Mitglied des globalen Netzwerks „Independent Media Center“ eine unabhängige Gegenöffentlichkeit im Internet zu schaffen. Zu diesem Zweck betreibe „linksunten.indymedia“ das anonyme Veröffentlichungs- und Diskussionsportal „linksunten.indymedia.org“. Dieses Portal habe sich mittlerweile als wichtigste Plattform gewaltorientierter Linksextremisten in ganz Deutschland etabliert. Viele der dort eingestellten Inhalte verletzten die Strafgesetze. So werde öffentlich zur Begehung von Straftaten aufgefordert, es würden Straftaten gebilligt und Anleitungen zu Straftaten, etwa zum Bau von zeitverzögerten Brandsätzen, veröffentlicht. Auf der Plattform werde immer wieder zur Anwendung von Gewalt gegen Personen und Sachen aufgefordert oder Gewalt angedroht, viele Inhalte enthielten Beleidigungen oder üble Nachrede. Diese Inhalte würden durch das Betreiberteam in der Regel weder zensiert noch gelöscht. Die Möglichkeit, auf „linksunten.indymedia.org“ anonym eine breite Öffentlichkeit erreichen zu können, senke die Hemmschwelle tatgeneigter Personen und animiere zu Straftaten. Der verbotene Verein rufe daher die Gefahr der Begehung von Straftaten hervor oder verstärke sie. Er weise mit der Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols und der Billigung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung auch eine kämpferisch-aggressive verfassungsfeindliche Grundhaltung auf, die sich in der Anpreisung und Bereitstellung einer Plattform für die propagandistische Verwertung solcher Gewalttaten zeige. Der Verein habe sich bei einem Gründungstreffen vom 23. bis 25.05.2008 in ... ... gebildet. Auch in den Folgejahren hätten regelmäßig „linksunten“-Treffen im KTS in ... und an anderen Orten stattgefunden.5 Ebenfalls am 14.08.2017 richtete das BMI ein Vollzugs- und Ermittlungsersuchen an das Innenministerium Baden-Württemberg (IM). Es bat darum, die Verbotsverfügung am 25.08.2017 um 05:30 Uhr den im Adressfeld genannten Personen, darunter Herr ... („Person BW-01“), förmlich zuzustellen und fünf näher bezeichnete Objekte zu durchsuchen, darunter die Wohnung von Herrn ... („Objekt BW-01“) sowie den KTS („Objekt BW-04“). Wegen der Einzelheiten des Ersuchens wird auf das Schreiben des BMI vom 14.08.2017 und die ihm als Anlage 2 beigefügte „Objektliste“ verwiesen.6 Mit Schreiben vom 16.08.2017 bat das IM das Regierungspräsidium Freiburg, die notwendigen Anträge bei dem Verwaltungsgericht Freiburg zu stellen, die richterlichen Anordnungen zuzustellen und diese zu vollziehen.7 Auf Antrag des Landes Baden-Württemberg (dort Antragstellers, vorliegend Beschwerdegegners) ordnete das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21.08.2017 - 4 K 7029/17 - mit näheren Maßgaben die Durchsuchung der Wohnräume von Herrn ... zum Zweck der Sicherstellung des beschlagnahmten Vermögens des Vereins „linksunten.indymedia“ sowie des Auffindens weiterer Unterlagen und Gegenstände, die als Beweismitteln in dem Verbotsverfahren gegen diesen Verein von Bedeutung sein können, an (Nr. 1 des Tenors). Es ordnete ferner mit näheren Bestimmungen die Beschlagnahme von dabei aufgefundenen Gegenständen und Unterlagen an (Nr. 2). Gegen diesen Beschluss legte Herr ... Beschwerde zum Verwaltungsgerichtshof ein (Verfahren 1 S 2071/17).8 Mit weiteren Beschlüssen ebenfalls vom 21.08.2017 erließ das Verwaltungsgericht antragsgemäß vier weitere und im Wesentlichen inhaltsgleiche Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen. Diese betrafen die beiden anderen Adressaten der Verbotsverfügung (Verfahren 4 K 7027/17 und 4 K 7028/17) sowie zwei weitere Personen, die aus Sicht des BMI Mitglieder des Vereins „linksunten.indymedia“ waren (Verfahren 4 K 7023/17 und 4 K 7024/17). Diese vier Personen legten gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts ebenfalls jeweils Beschwerde ein (entsprechend der zuvor genannten Reihenfolge Verfahren 1 S 2049/17, 1 S 2125/17, 1 S 2048/17 und 1 S 2124/17).9 Mit Beschluss vom 22.08.2017 - 4 K 7042/17 - ordnete das Verwaltungsgericht antragsgemäß mit näheren Maßgaben die Sicherstellung der an den Wohnsitz von Herrn ... adressierten organisationsbezogenen Briefe und anderer Postsendungen gegen die Deutsche Post AG an. Der Beschluss wurde Herrn ... zunächst nicht bekannt gegeben.10 Mit - vorliegend verfahrensgegenständlichem - Beschluss vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - ordnete das Verwaltungsgericht auf Antrag des Regierungspräsidiums vom 18.08.2017 mit näheren Maßgaben die Durchsuchung „aller im Erdgeschoss sowie in den beiden Untergeschossen des Gebäudes ... ... in ... ... (‚...‘ - KTS) befindlichen Räume“ zu den oben genannten Zwecken an (Nr. 1 des Tenors). Es ordnete außerdem mit näheren Bestimmungen die Beschlagnahme von dabei aufgefundenen Gegenständen und Unterlagen an (Nr. 2). An dem Verfahren 4 K 7022/17 waren als Antragsteller das Land Baden-Württemberg (der Beschwerdegegner des vorliegenden Verfahrens) sowie Herr ... unter seiner Privatanschrift (..., ... ...) beteiligt. Das entsprach dem Antrag des Regierungspräsidiums. Dieses hatte dazu vorgetragen, Herr ... sei eine Führungspersönlichkeit in dem Verein „linksunten.indymedia.org“ und nehme zugleich eigentliche Aufgaben der Vorstandschaft des Trägervereins des KTS, des „(KTS-)...“ (des Beschwerdeführers im vorliegenden Verfahren), wahr. Herr ... sei zumindest (Mit-)Gewahrsamsinhaber der genannten Räumlichkeiten des KTS. Der „... ...“ selbst (der Beschwerdeführer des vorliegenden Verfahrens) war an dem Verfahren 4 K 7022/17 nicht beteiligt.11 Herr ... legte gegen diesen ihm am 25.08.2017 übergebenen, die Durchsuchung des KTS betreffenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - keine Beschwerde ein.12 Am 25.08.2017 wurde die Verbotsverfügung des BMI öffentlich bekannt gemacht und unter anderem Herrn ... zugestellt. Am selben Tag wurden die genannten fünf Objekte durchsucht. Die Durchsuchung der Räume des KTS dauerte von 05.35 Uhr bis 10.15 Uhr und führte zur Beschlagnahme von 48 Gegenständen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift des Landeskriminalamtes vom 25.08.2017 verwiesen.13 Am 29.08.2017 erhoben fünf Personen, die nach Einschätzung des BMI Mitglieder des Vereins „linksunten.indymedia“ waren, darunter Herr ... (Az. zunächst 1 A 12.17), jeweils im eigenen Namen Klage zum Bundesverwaltungsgericht mit dem Antrag, die Verfügung aufzuheben (Aktenzeichen zuerst 1 A 11.17 bis 1 A 15.17, zuletzt 6 A 1.19 bis 6 A 5.19).14 Am 04.09.2017 hat der Beschwerdeführer des vorliegenden Verfahrens, der „...“, Klage zum Verwaltungsgericht Freiburg (4 K 7588/17) gegen das Land Baden-Württemberg (dort Beklagter, vorliegend Beschwerdegegner) erhoben mit dem Antrag festzustellen, dass die Durchsuchung der von ihm gemieteten Räumlichkeiten in der ..., ...-..., am 25.08.2017 rechtswidrig war.15 Während dieses Klageverfahren bei dem Verwaltungsgericht anhängig war, hat Herr ... unter dem 11.10.2017 bei dem Verwaltungsgericht beantragt festzustellen, dass die Sicherstellung der an seine Wohnsitzadresse adressierten organisationsbezogenen Briefe und Postsendungen rechtswidrig gewesen sei. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag als Beschwerde gegen seinen diese Sicherstellung betreffenden Beschluss vom 22.08.2017 - 4 K 7042/17 - behandelt und ihn dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Der Senat hat den Antrag an das Verwaltungsgericht zur Entscheidung in eigener Zuständigkeit unter Verweis auf § 10 Abs. 2 Satz 4 VereinsG i.V.m. § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO zurückgereicht (Vfg. v. 28.12.2018 - 1 S 2548/17 -). Mit Beschluss vom 07.05.2018 - 4 K 70417/17 - hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit an das Bundesverwaltungsgericht verwiesen.16 Ebenfalls noch während das die Durchsuchung des KTS betreffende Klageverfahren 4 K 7588/17 bei dem Verwaltungsgericht anhängig war, hat der Senat mit Beschluss vom 19.06.2018 - 1 S 2071/17 - auf die Beschwerde des Herrn ... gegen den ihn und seine eigenen Wohnräume betreffenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 21.08.2017 - 4 K 7029/17 - die Beschlagnahmeanordnung in diesem Beschluss aufgehoben und die Beschwerde im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat der Senat unter anderem ausgeführt, die Beschwerde sei unbegründet, soweit Herr ..., die Durchsuchungsanordnung in dem Beschluss angreife. Die Beschlagnahmeanordnung sei dagegen aufzuheben, weil sie nicht hinreichend bestimmt sei. Mit weiteren Beschlüssen ebenfalls vom 19.06.2018 hat der Senat auch die anderen Beschlagnahmeanordnungen in den Beschlüssen des Verwaltungsgerichts vom 21.08.2017 in den vier andere mutmaßliche Mitglieder des Vereins „linksunten.indymedia“ betreffenden Parallelverfahren 4 K 7027/17, 4 K 7028/17, 4 K 7023/17 und 4 K 7024/17 aufgehoben und die Beschwerden gegen die Durchsuchungsanordnungen betreffend die Wohnräume dieser Personen jeweils zurückgewiesen (Senat, Beschlüsse vom 19.06.2018 in den Verfahren 1 S 2049/17, 1 S 2125/17, 1 S 2048/17 und 1 S 2124/17).17 Mit Verfügung vom 05.08.2019 hat das Verwaltungsgericht die Beteiligten in dem zwischen dem ... als Kläger (vorliegend Beschwerdeführer) und dem Land Baden-Württemberg als Beklagtem (vorliegend Beschwerdegegner) geführten, die Durchsuchung des KTS betreffenden Klageverfahren 4 K 7588/17 unter anderem auf Folgendes hingewiesen: Die Einwände des Klägers gälten zu einem ganz erheblichen Teil der Durchsuchungsanordnung in seinem Beschluss vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - betreffend die Durchsuchung der Räumlichkeiten des KTS. Denn der Kläger mache geltend, das Verwaltungsgericht habe diese Durchsuchungsanordnung nicht wie geschehen - d.h. nicht gegenüber dem dort bezeichneten Antragsgegner Herrn ..., jedenfalls nicht ohne Aufnahme des Klägers (... ...-...) als weiteren Antragsgegner - erlassen dürfen. Insoweit sei wohl allein eine Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - statthaft. Außerhalb des Beschwerdeverfahrens sei wohl unter anderem zu prüfen, falls der Kläger geltend machen wolle, der Beklagte sei seiner Pflicht nicht nachgekommen, bei der Durchsuchung keine Räume zu durchsuchen, an denen ggf. offensichtlich doch kein Mitgewahrsam des Adressaten (gemeint: des Antragsgegners Herr ...) bestanden habe. Wegen der im Detail schwierigen Abgrenzung der beiden unterschiedlichen Rechtsbehelfsgegenstände - Durchsuchungsanordnung einerseits und Art und Weise der Durchsuchung andererseits - könne es aus Sicht des Verwaltungsgerichts sachdienlich sein, wenn der vom Kläger am 04.09.2017 als Klage 4 K 7588/17 eingelegte Rechtsbehelf vorerst allein als Beschwerde mit dem Ziel verstanden werde, festzustellen, dass die „erledigte Durchsuchung“ (gemeint wohl: die erledigte Durchsuchungsanordnung) rechtswidrig gewesen sei.18 Auf diesen Hinweis des Verwaltungsgerichts haben die Beteiligten des Klageverfahrens 4 K 7588/17 sinngemäß erklärt, einer Auslegung oder Umdeutung der Klage in eine Beschwerde nicht entgegenzutreten.19 Das Verwaltungsgericht hat daraufhin mit Beschluss vom 02.10.2019 - 4 K 7588/17 - entschieden, es helfe „der Beschwerde“ gegen seinen Beschluss vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - nicht ab, und die Akten 4 K 7022/17 und 4 K 4829/18 dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Diese Beschwerde ist Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens 4 K 7588/17, an dem der vormalige Kläger des Verfahrens 4 K 7588/17, der „...“, als Beschwerdeführer, und der vormalige Beklagte des Verfahrens 4 K 7588/17 und Antragsteller im Durchsuchungsanordnungsverfahren 4 K 7022/17, das Land Baden-Württemberg, als Beschwerdegegner beteiligt sind.20 Während des Beschwerdeverfahrens hat das Bundesverwaltungsgericht die Klagen gegen die den Verein „linksunten.indymedia“ betreffende Verbotsverfügung des BMI mit Urteilen vom 29.01.2020 in den Verfahren 6 A 1.19 bis 6 A 5.19 abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe dieser Urteile wird Bezug genommen (jeweils juris).21 Mit Beschluss vom 10.06.2020 - 6 AV 7.19 - (juris) hat das Bundesverwaltungsgericht den von Herrn ... gestellten Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7042/17 - angeordneten Postbeschlagnahme sowie der Art und Weise ihres Vollzugs abgelehnt. Zur Begründung hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, es sei zwar entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sachlich nicht für die Entscheidung zuständig, aber aufgrund der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des eigentlich zuständigen Verwaltungsgerichts zur Entscheidung berufen. Der Antrag von Herrn ... sei zulässig, aber unbegründet. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Gründe des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts Bezug genommen.22 Zur Begründung der vorliegenden Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - betreffend die Durchsuchung der Räume des KTS macht der Beschwerdeführer geltend, die Durchsuchung der von ihm gemieteten Räumlichkeiten habe einen Eingriff jedenfalls in sein Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG begründet und sei rechtswidrig gewesen.23 Der Beschwerdegegner habe bereits seine Kompetenz, das Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI vom 14.08.2017 zu vollziehen, überschritten. Das BMI haben den Beschwerdegegner um Durchsuchung von sechs in einer sog. Objektliste bezeichneten Objekten und Personen („BW-01“ bis „BW-06“) ersucht. Unter der Objektnummer „BW-04“ sei der vom Beschwerdeführer betriebene KTS mit der Funktion „Infrastruktur“ aufgeführt. Weder aus dem Ersuchen noch aus der Verbotsverfügung des BMI vom 14.08.2017 ergäben sich Tatsachen, dass seitens des BMI als Verbotsbehörde das Durchsuchungsobjekt „KTS“ dem (Mit-)Gewahrsam von Herrn ... zugerechnet worden sei. Vielmehr beruhe diese Annahme allein auf Ermittlungen oder Erkenntnissen des Beschwerdegegners. Aus der Verbotsverfügung ergebe sich vielmehr, dass der KTS als Dritter im Sinne von § 10 Abs. 2 VereinsG und nicht als Räumlichkeit des verbotenen Vereins oder eines seiner Mitglieder angesehen worden sei. Daher habe der Beschwerdegegner (mit seinem gegen Herrn ... und nicht gegen den Beschwerdeführer gerichteten Antrag auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung) seine Vollzugskompetenz überschritten.24 Die Durchsuchungsanordnung sei außerdem mit § 4 VereinsG nicht zu vereinbaren. Nach § 4 Abs. 4 Satz 3 VereinsG sei die Durchsuchung bei „anderen Personen“ (als den zum Verein zugeordneten) nur zur Beschlagnahme bestimmter Beweismittel und nur dann zulässig, wenn Tatsachen darauf schließen ließen, dass sich die gesuchte Sache in ihrem Gewahrsam befinde. Vorab sei gemäß § 4 Abs. 2 VereinsG eine richterliche Anordnung zu beantragen. Entgegen dieser Vorschrift gebe es keinen gegen ihn (den Beschwerdeführer) gerichteten richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Bereits deshalb sei die Durchsuchung rechtswidrig erfolgt. Es sei damit zugleich der Richtervorbehalt aus Art. 13 Abs. 2 GG missachtet worden.25 Es sei zwar zutreffend, dass, wie der Beschwerdegegner geltend mache, für eine Durchsuchungsanordnung ein Mitgewahrsam ausreichend sei und die Ermittlungsbehörde bei Beantragung einer Durchsuchungsanordnung nicht verpflichtet sei, die sonstigen Gewahrsamsverhältnisse zu ermitteln. Entgegen dem Vortrag des Beschwerdegegners sei Herr ... aber nicht als derjenige anzusehen, der die gemieteten Räumlichkeiten des KTS innegehabt habe. Mieter der Räume sei allein er, der Beschwerdeführer. Wie sich aus den vom Beschwerdegegner selbst vorgelegten Unterlagen ergebe, würden die gemieteten Räume des KTS u.a. von einer Kochgruppe, einer Samba-Musikgruppe, einer Theater- und Konzertgruppe, einem Umsonst-Laden, einem Medienzimmer, einer Siebdruckwerkstatt und einem Info-Laden genutzt. Die Annahme des Beschwerdegegners, Herr ... habe eigentlich Aufgaben der Vorstandschaft des Beschwerdeführers wahrgenommen, ohne formal Vorstandsmitglied zu sein, werde bestritten. Der Beschwerdegegner habe dazu keine Beweismittel vorgelegt. Das zum Beleg angeführte, auf nachrichtendienstliche Informationsaufkommen verweisende Behördenzeugnis des Landesamts für Verfassungsschutz vom 17.08.2017 und die weiteren Schreiben seien derart unsubstantiiert, dass ein substantiiertes Bestreiten nicht möglich sei.26 Dessen ungeachtet würden die Unterlagen auch bei Unterstellung ihrer inhaltlichen Richtigkeit nicht den Schluss tragen, Herr ... habe (Mit-)Gewahrsam an den von der Durchsuchung betroffenen Räumlichkeiten gehabt. Insbesondere ergebe sich allein aus der Durchführung zeitlich begrenzter Treffen des Vereins „linksunten.indymedia“ in den Räumlichkeiten über einen Zeitraum von mehreren Jahren kein Nachweis dafür, dass ein Mitglied dieses Vereins Verfügungsgewalt über die von einer Vielzahl von Gruppen genutzten Räumlichkeiten habe, zumal, wenn das letzte Treffen mehrere Jahre zurückliege. Auch die vom Beschwerdegegner weiter angeführten Umstände, dass Herr ... im September ..., mithin ... Jahre vor der Durchsuchung, einen Schlüssel zum Haupteingang besessen habe, und ... mutmaßlich im Auftrag des Beschwerdeführers bei einem Internetanbieter einen neuen VDSL-Router bestellt habe, böten keine Anhaltspunkte für seine Mitgewahrsamsinhaberschaft an den Räumen. Auch der Umstand, dass von der Durchsuchungsanordnung sämtliche Räume des Beschwerdeführers betroffen gewesen seien, belege, dass der Beschwerdegegner keine validen Kenntnisse über eine Gewahrsamsinhaberschaft des Herrn ... gehabt haben könnte. Es sei nicht ansatzweise erkennbar, warum beispielsweise ein Café oder eine Siebdruckwerkstatt von ihm dergestalt genutzt worden sein sollten, dass sich daraus eine Gewahrsamsinhaberschaft ergeben sollte. Auch bestünden keinerlei Anhaltspunkte, dass solche Räumlichkeiten von dem verbotenen Verein „linksunten.indymedia“ genutzt worden sein könnten.27 Bestritten werde auch, dass die Voraussetzungen des § 4 Abs. 4 Satz 3 VereinsG für eine Durchsuchung bei Dritten vorgelegen hätten. Richte sich die Durchsuchung gegen „andere Personen“ im Sinne dieser Vorschrift, habe die Behörde substantiiert darzulegen und der Gerichtsbeschluss genau zu benennen, gegen welche Personen warum ermittelt werden solle. Daran habe es hier beim Erlass der Durchsuchungsanordnung gefehlt. Der Beschwerdegegner habe sich dazu auch nach wie vor nicht näher geäußert.28 Hinzu komme, dass die Verwaltungsakten des Beschwerdegegners unvollständig und unsystematisch geführt seien. Ausweislich der Gerichtsakte hätten auch dem Verwaltungsgericht nicht alle in der Antragsschrift genannten Unterlagen vorgelegen und habe das Gericht entschieden, obwohl es die genannten Belege nicht habe kennen können. Der Beschwerdegegner habe es nach wie vor nicht geschafft, einen nachvollziehbaren paginierten Aktenvorgang anzulegen. Er habe damit unter Verstoß gegen das Gebot der Aktenvollständigkeit vereitelt, dass sein Verhalten, hier insbesondere der Umfang der Vorlage der Akten an das Verwaltungsgericht, nachvollzogen werden könne.29 Der Beschwerdegegner gehe unabhängig davon selbst davon aus, dass der Beschwerdeführer an den Räumlichkeiten des KTS im Jahr 2017 jedenfalls Mitgewahrsam gehabt habe. Deshalb sei es in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung gemäß § 65 Abs. 2 VwGO zwingend erforderlich gewesen, den Beschwerdeführer beizuladen. Das sei unterblieben.30 Unter Verstoß gegen § 10 Abs. 2 VereinsG sei gegenüber ihm (dem Beschwerdeführer) als Gewahrsamsinhaber außerdem kein Sicherstellungsbescheid erlassen worden. Ferner seien elementare rechtsstaatliche Grundsätze zur Ausführungen einer Beschlagnahme missachtet worden. Ihm (dem Beschwerdeführer) sei das Recht der Anwesenheit nach § 4 Abs. 4 Satz 4 VereinsG i.V.m. § 106 StPO vorenthalten worden. Der Beschwerdegegner hätte dieses Recht erfüllen können, weil bei Beginn der Durchsuchung Herr ... (gemeint wohl ...) als Nutzer der Räumlichkeiten anwesend gewesen sei, der als Angehöriger oder Hausgenosse im Sinne von § 106 Abs. 1 Satz 2 StPO anzusehen gewesen sei. Auch das Gebot zur Hinzuziehung von Zeugen aus § 4 Abs. 4 Satz 4 VereinsG i.V.m. § 105 Abs. 2 StPO sei missachtet worden. Der nach dem Beschlagnahmeprotokoll und der Erklärung des Beschwerdegegners als Zeuge hinzugezogene Herr ... sei Beamter in einem Referat des Regierungspräsidiums und könne als solcher mangels Neutralität nicht als Zeuge fungieren. Auch die nach § 4 Abs. 4 Satz 4 VereinsG i.V.m. § 106 Abs. 2, § 103 StPO gegenüber dem Inhaber der Räume erforderliche Bekanntgabe des Zwecks der Durchsuchung vor deren Beginn sei nicht erfolgt.31 Der Beschwerdeführer beantragt,32 festzustellen, dass die Durchsuchungsanordnung in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - rechtswidrig war.33 Der Beschwerdegegner beantragt,34 die Beschwerde zurückzuweisen.35 Er meint, die Beschwerde sei unbegründet. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sei nur die Rechtmäßigkeit der Durchsuchungsanordnung vom 22.08.2017, nicht aber der Art und Weise der am 25.08.2017 durchgeführten Durchsuchung. Jedenfalls sei beides - die Durchsuchungsanordnung selbst und die Durchsuchung - rechtmäßig.36 Er (der Beschwerdegegner) habe seine Kompetenz, das Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI vom 14.08.2017 zu vollziehen, nicht überschritten. Dass in dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI vom selben Tag in der Objektliste zu dem Objekt „BW-04“ der KTS und nicht Herr ... aufgeführt gewesen sei, führe nicht dazu, dass der Antrag auf Erlass der Durchsuchungsanordnung gegen Herrn ... von dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen nicht gedeckt gewesen sei. Das BMI habe als „Herrin des Verfahrens“ die Behörden des Beschwerdegegners ausdrücklich darum ersucht, das Objekt „BW-04“, also den KTS, zu durchsuchen. Dessen Räumlichkeiten hätten nicht durchsucht werden sollen, weil dieser selbst habe verboten werden sollen oder als Teilorganisation des verbotenen Vereins „linksunten.indymedia“ angesehen worden sei, sondern weil der verbotene Verein vielfach dessen Räumlichkeiten genutzt habe. Dieser Grund für das Vollzugs- und Ermittlungsersuchen in Bezug auf das „Objekt BW-04“ sei auch durch die Durchsuchungsanordnung gegen Herrn ... als (Mit-)Gewahrsamsinhaber dieser Räumlichkeiten umgesetzt worden.37 Auch die Voraussetzungen des § 4 VereinsG für den Erlass der Durchsuchungsanordnung hätten vorgelegen. Bei deren Erlass hätten tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestanden, dass in den zu durchsuchenden Räumlichkeiten des KTS sowohl zu beschlagnahmendes Vermögen des Vereins „linksunten.indymedia“ als auch Beweismittel für das Vereinsverbotsverfahren aufzufinden sein würden. Das sei sogar wahrscheinlich gewesen. Denn es hätten Anhaltspunkte dafür bestanden, dass Herr ... jedenfalls Mitgewahrsam an den Räumen gehabt habe. Er habe über einen Schlüssel verfügt und im Verein des Beschwerdeführers eine hervorgehobene Stellung eingenommen. Das zeige sich insbesondere daran, dass er sich nach einem ... stattgehabten Brand Polizeibeamten gegenüber als für die Räume Verantwortlicher ausgegeben und ... namens des Beschwerdeführers einen VDSL-Router bestellt habe, sowie daran, dass er im Verein „linksunten.indymedia“ einen führende Stellung gehabt und dieser verbotene Verein die Räume des KTS über Jahre hinweg umfangreich und intensiv genutzt habe sowie seinerseits von dem Beschwerdeführer finanziell unterstützt worden sei. Dass diese Erkenntnisse teils über Behördenzeugnisse von Verfassungsschutzbehörden eingeführt worden seien, stehe deren Berücksichtigung nicht entgegen.38 Aus dem Mitgewahrsam von Herrn ... an den Räumen des KTS folge zugleich, dass an die Durchsuchungsanordnung entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht die einschränkenden Voraussetzungen für die Durchsuchung von Räumen Dritter - „anderen Personen“ im Sinne von § 4 Abs. 4 Satz 3 VereinsG - anzulegen seien. Diese Vorschrift greife wie die Parallelvorschrift in § 103 StPO nur, wenn der Dritte Alleingewahrsam an den zu durchsuchenden Räumen habe. Das sei hier nicht der Fall gewesen.39 Unbegründet sei auch die Rüge des Beschwerdeführers, der Durchsuchungsbeschluss sei ihm nicht bekanntgegeben worden. Da gegen den Beschwerdeführer kein Durchsuchungsbeschluss habe ergehen müssen, sei es sowohl für die Rechtmäßigkeit des Beschlusses vom 22.08.2017 als auch für diejenige der Durchsuchung selbst unerheblich, ob der Beschwerdeführer sich die am 25.08.2017 erfolgte Zustellung des Beschlusses an Herrn ... zurechnen lassen müsse oder erst nach der Durchsuchung von dem Beschluss Kenntnis erlangt habe.40 Die Durchsuchung selbst sei am 25.08.2017 auch im Übrigen rechtmäßig durchgeführt worden. Die entsprechende Anwendung der vom Beschwerdeführer in Bezug genommenen Vorschriften aus § 105 Abs. 2, § 106 StPO sei im vereinsrechtlichen Verbotsverfahren nur für den Fall der Durchsuchung zum Zweck des Auffindens von Beweismitteln, nicht aber zum Zweck der Beschlagnahme von Vereinsvermögen vorgeschrieben. Soweit die Durchsuchung hier auch für den zuerst genannten Zweck erfolgt sei, fänden die Bestimmungen zum Erfordernis einer vorherigen Bekanntmachung des Durchsuchungszwecks aus § 106 Abs. 2 StPO keine Anwendung. Es sei auch nicht notwendig gewesen, Herrn ... gemäß § 4 Abs. 4 Satz 4 VereinsG i.V.m. § 106 Abs. 1 Satz 2 VereinsG als Zeugen bei der Durchsuchung beizuziehen. Die Durchführung der Durchsuchung sei auch nicht wegen der Hinzuziehung von Herrn ..., einem Beamten des Regierungspräsidiums, als Zeugen rechtswidrig erfolgt.41 Ohne Erfolg bleibe auch der Vortrag des Beschwerdeführers zu seiner (des Beschwerdegegners) Aktenführung. Es sei zwar zutreffend, dass seine Akten etwas unübersichtlich erschienen. Dem Verwaltungsgericht seien aber sämtliche verfahrensrelevanten Unterlagen vorgelegt worden.42 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vom Beschwerdegegner vorgelegten Verwaltungsvorgänge (1 Hefter, 2 Aktenbände und 1 Ordner), die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts zu den Verfahren 4 K 7022/17 und 4 K 7588/17 sowie die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen verwiesen.II.43 Die zulässige Beschwerde (1.), über die der Senat ohne Beiladung von Herrn ... entscheidet (2.), ist begründet (3.).44 1. Die Beschwerde ist zulässig.45 a) Die Beschwerde gegen eine in einem vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahren ergangene richterliche Durchsuchungsanordnung ist in Ermangelung von spezialgesetzlichen vereinsrechtlicher Regelungen - wie sie etwa für Postbeschlagnahmeanordnungen bestehen - nach § 146 Abs. 1 VwGO statthaft. Die Beschwerde gegen eine Durchsuchungsanordnung ist nach dem Vollzug der Durchsuchung mit dem Ziel zulässig, die Rechtswidrigkeit dieser Anordnung analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO feststellen zu lassen (vgl. Senat, Beschl. v. 19.06.2018 - 1 S 2071/17 - juris, v. 27.10.2011 - 1 S 1864/11 - VBIBW 2012, 103, juris, v. 14.05.2002 - 1 S 10/02 - VBlBW 2002, 426 m.w.N.; ebenso Albrecht, in: Albrecht/Roggenkamp, Vereinsgesetz, § 4 Rn. 78 f.; Groh, Vereinsgesetz, § 4 Rn. 15; Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl., § 4 Rn. 47).46 b) Der Beschwerdeführer ist auch beschwerdebefugt.47 Die Beschwerde gegen - wie hier - Beschlüsse des Verwaltungsgerichts steht, soweit nicht in der Verwaltungsgerichtsordnung etwas anderes bestimmt ist, nach § 146 Abs. 1 VwGO den Beteiligten und den sonst von der Entscheidung Betroffenen zu. Im vorliegenden Fall ist der Beschwerdeführer zwar kein „Beteiligter“. Denn er war an dem Verfahren 4 K 7022/17 nicht - insbesondere nicht als Antragsgegner oder Beigeladener - förmlich beteiligt (vgl. § 63 VwGO). Der Beschwerdeführer ist aber in Bezug auf die Durchsuchungsanordnung des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - ein im Sinne von § 146 Abs. 1 VwGO „sonst von der Entscheidung Betroffener“ (vgl. - im Ergebnis ebenso - OVG NRW, Beschl. v. 22.03.2017 - 3d B 296/17 - juris).48 Als „sonst von der Entscheidung betroffen“ sind grundsätzlich (nur) solche Personen anzusehen, die von dem erstinstanzlichen Verfahren, aber nicht von der Sachentscheidung beeinträchtigt werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 10.07.2011 - 10 S 1311/11 - NVwZ-RR 2011, 998, v. 06.02.1997 - 8 S 29/97 - NVwZ-RR 1998, 611, und v. 13.09.1984 - 5 S 2049/84 - NVwZ 1986, 141). An einer solchen „Beeinträchtigung“ fehlt es in Klageverfahren grundsätzlich, wenn ein Dritter, dessen Beiladung zu einem Verfahren in Betracht gekommen wäre, keinen Beiladungsantrag gestellt hat, weil er dann mangels Beiladungsantrag nicht formell beschwert und mangels Beteiligtenstellung und daher fehlender Bindungswirkung der Entscheidung (vgl. § 121 Nr. 1 VwGO) regelmäßig nicht materiell beschwert ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.07.2011, a.a.O., und v. 13.09.1984, a.a.O.; OVG MV, Beschl. v. 27.12.2005 - 3 M 81/05 - NVwZ-RR 2006, 850; s. auch BayVGH, Beschl. v. 20.11.2013 - 22 C 13.2123 - juris).49 Diese Grundsätze sind allerdings auf Klageverfahren zugeschnitten und auf Verfahren auf Erlass einer verwaltungsgerichtlichen Durchsuchungsanordnung nicht ohne weiteres übertragbar. In Klageverfahren ist über die dortigen Streitgegenstände - etwa über das Bestehen eines vom Kläger gegen den beklagten Hoheitsträger geltend gemachten Leistungsanspruchs - mit Bindungswirkung zu entscheiden (vgl. § 121 VwGO). In solchen Fällen kann ein am Verfahren nicht beteiligter Dritter von der darin ergangenen Entscheidung in der Tat mangels Bindung regelmäßig materiell nicht beschwert sein. Verfahren auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung unterscheiden sich davon allerdings grundlegend. Hier tritt der Hoheitsträger nicht als Beklagter (Antragsgegner), sondern als Antragsteller auf und hat das Verwaltungsgericht nicht über einem Klageverfahren vergleichbare Streitgegenstände, sondern zur Erfüllung des Richtervorbehalts aus Art. 13 Abs. 2 GG über die Zulässigkeit einer Wohnungsdurchsuchung und damit über die tatsächliche Zulassung eines gravierenden Grundrechtseingriffs zu entscheiden. In dieser Situation ist eine Person, die Inhaber der betroffenen Wohnung ist, von der gerichtlichen Entscheidung unabhängig von der Reichweite ihrer Rechtskraft materiell beschwert, da diese Entscheidung den Grundrechtseingriff erst ermöglicht hat.50 Ob der Betroffene zu dem erstinstanzlichen Verfahren hätte beigeladen werden können oder müssen, ist daher in einem erstinstanzlichen Verfahren auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung für seine Beschwerdebefugnis ohne Belang. Das gilt umso mehr als die Beiladung in einem solchen Verfahren - wiederum anders als bei einem erstinstanzlichen Klageverfahren - in aller Regel ohnehin nicht dazu führen wird, dass sich der Betroffene in dem Verfahren tatsächlich beteiligen und äußern kann. Denn vereinsrechtliche Anträge auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung werden regelmäßig - wie es auch hier geschah - behördlicherseits bis zum Beginn der beabsichtigten Durchsuchung als Verschlusssache eingestuft und mit dem Antrag verbunden, die Durchsuchungsanordnung ohne Anhörung des Antragsgegners zu erlassen, um den beabsichtigten Ermittlungserfolg nicht zu gefährden. Ebenso wie in der Regel der Antragsgegner würde auch der Beigeladene von dem verwaltungsgerichtlichen Durchsuchungsbeschluss faktisch erst nach dem Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens Kenntnis erlangen. Den Antragsgegner in dieser Situation auf eine Beschwerde gegen den Beschluss zu verweisen, den Beigeladenen aber in der faktisch gleichen Lage auf eine - bei Verneinung seiner Beschwerdebefugnis zur Gewährung von effektivem Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) gebotene - Klage, würde zu einer inhaltlich nicht zu rechtfertigenden und auch der Prozessökonomie widersprechenden „Rechtsmittelspaltung“ führen.51 Für die Einordnung des von einer Durchsuchungsanordnung Drittbetroffenen als „sonst von der Entscheidung Betroffener“ im Sinne von § 146 Abs. 1 VwGO spricht schließlich auch, dass die bei Verneinung der Beschwerdebefugnis in Betracht zu ziehende Klage mit dem sinngemäßen Antrag, festzustellen, dass die Durchsuchungsanordnung des Verwaltungsgerichts rechtswidrig war und den Betroffenen in seinen Rechten verletzte, dazu führen würde, dass das Verwaltungsgericht eine von ihm erlassene erstinstanzliche Entscheidung - den Durchsuchungsbeschluss - in einem weiteren erstinstanzlichen Verfahren selbst zu kontrollieren hätte. Das wäre in der Systematik der Verwaltungsgerichtsordnung, die von ausdrücklich geschriebenen Ausnahmen abgesehen (vgl. § 152a VwGO) grundsätzlich auf die Überprüfung von gerichtlichen Entscheidungen durch die nächste Instanz zugeschnitten ist, ein Fremdkörper.52 c) Die Beschwerde ist auch nicht verfristet.53 Die Beschwerde ist nach § 147 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen, wobei die Beschwerdefrist auch gewahrt ist, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Beschwerdegericht eingeht. Die Frist des § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO beginnt mit der Bekanntgabe der vollständigen, mit Gründen versehenen Entscheidung des Gerichts zu laufen, wobei wegen § 56 Abs. 1 VwGO die Bekanntgabe in der Form der Zustellung der vollständigen Entscheidung maßgeblich ist (vgl. Senat, Beschl. v. 22.06.2020 - 1 S 1418/20 - und v. 26.03.2020 - 1 S 424/20 - juris; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl., § 148 Rn. 2).54 Davon ausgehend steht § 147 VwGO der Zulässigkeit der Beschwerde nicht entgegen. Es bedarf keiner Entscheidung, ob - wie das Verwaltungsgericht meint - die von dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer am 04.09.2017 ausdrücklich als solche erhobene Klage (Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO) knapp zwei Jahre später auf Anregung des Gerichts in eine bereits am 04.09.2017 eingelegte Beschwerde „umgedeutet“ werden konnte (vgl. näher zum diesbezüglichen Meinungsstand W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl., Vorb § 124 Rn. 14 m.w.N.) oder ob der Beschwerdeführer tatsächlich erst mit der prozessualen Erklärung vom 06.09.2019, er widerspreche der ihm vom Verwaltungsgericht nahegelegten Auslegung seines Rechtsbehelfs als Beschwerde nicht, Beschwerde eingelegt hat. Denn der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - wurde dem Beschwerdeführer nie förmlich zugestellt (vgl. § 56 Abs. 2 ZPO). Das hat zur Folge, dass die Beschwerdefrist des § 147 VwGO nie zu laufen begonnen hat und eine Beschwerde gegen den Beschluss auch im September 2019 noch ohne Verstoß gegen § 147 VwGO eingelegt werden konnte. Zeitliche Grenzen für die Einlegung der Beschwerde konnten sich mangels Zustellung allenfalls nach den Grundsätzen für eine prozessuale Verwirkung von Rechtsbehelfen ergeben (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl., Vor § 124 Rn. 34). Die Voraussetzungen für eine Verwirkung des Beschwerderechts des Beschwerdeführers lagen jedoch am 06.09.2019 nicht vor. Insbesondere konnte der Beschwerdegegner damals nicht darauf vertrauen, dass sich der Beschwerdeführer nicht (weiterhin) gegen den streitbefangenen Durchsuchungsbeschluss wehren würde (vgl. zu diesem sog. Umstandsmoment nur Happ, a.a.O., Vor § 124 Rn. 34 m.w.N.; s. auch W.-R. Schenke, a.a.O., Vorb § 40 Rn. 52 f.).55 2. Über die auch im Übrigen zulässige Beschwerde entscheidet der Senat ohne Beteiligung von Herrn ....56 a) Die Beschwerde des Beschwerdeführers führt nicht allein deshalb, weil Herr ... an dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren, in dem die vom Beschwerdeführer beanstandete Durchsuchungsanordnung erlassen wurde (4 K 7022/17), als Antragsgegner beteiligt war, dazu, dass Herr ... auch in dem vorliegenden Beschwerdeverfahren ipso iure beteiligt ist.57 Eine Beschwerde hat zwar grundsätzlich zur Folge, dass das Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vor dem Beschwerdegericht (nach näherer Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung, vgl. insbesondere § 146 Abs. 4 VwGO) erneuert und wiederholt wird (Devolutiveffekt, vgl. Happ, a.a.O., § 146 Rn. 1; Rudisile, in: Schoch u.a., VwGO, 38. Erg.-Lfg., § 146 Rn. 4). Das bedeutet allerdings nicht, dass stets alle Beteiligten des erstinstanzlichen Ausgangsverfahrens auch am Beschwerdeverfahren beteiligt sind. Sind auf Kläger- oder Beklagtenseite mehrere Personen beteiligt, können diese Personen vielmehr grundsätzlich jeweils gesondert Rechtsmittel einlegen, die auch nur für den jeweiligen Rechtsmittelführer wirken (vgl. Bier/Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch, a.a.O., § 64 Rn. 12, 23, 29; s. auch W.-R. Schenke, VwGO, 26. Aufl., § 64 Rn. 10, 12 f.). Das gilt auch in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren betreffend vereinsrechtliche Ermittlungsverfahren (vgl. OVG MV, Beschl. v. 03.03.2015 - 3 O 37/14 - NordÖR 2015, 283). Als Hauptbeteiligter wäre Herr ... an dem Beschwerdeverfahren daher nur dann beteiligt, wenn er selbst Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - eingelegt hätte. Das ist nicht der Fall.58 b) Der Senat hat auch keinen Anlass, Herrn ... beizuladen. Das gilt unabhängig von der Frage, ob eine Person, die im erstinstanzlichen Verfahren Hauptbeteiligter (hier Antragsgegner, vgl. § 63 Nr. 2 VwGO) und daher dort kein beiladungsfähiger „anderer“ bzw. „Dritter“ im Sinne von § 65 VwGO war (vgl. Czybulka/Kluckert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 65 Rn. 66; W.-R. Schenke, a.a.O., § 65 Rn. 1; Bier/Steinbeiß-Winkelmann, a.a.O., § 65 Rn. 12), im Falle des Verzichts auf eigene Rechtsmittel im Rechtsmittelverfahren für eine Beiladung in Betracht kommt (vgl. zur Frage der Beiladung von klagebefugten Personen, die keine Klage erhoben haben, grds. ablehnend BVerwG, Beschl. v. 17.05.2005 - 4 A 1005.04 - juris; näher zum Meinungsstand W.-R. Schenke, a.a.O., § 65 Rn. 2 m.w.N.). Denn die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine notwendige Beiladung von Herrn ... liegen nicht vor (aa) und von einer einfachen Beiladung sieht der Senat jedenfalls in Ausübung des ihm insoweit zustehenden Ermessens ab (bb).59 aa) Ein Fall der notwendigen Beiladung (§ 65 Abs. 2 VwGO) liegt nicht vor.60 Gemäß § 65 Abs. 2 VwGO sind Dritte, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann, beizuladen. Die Voraussetzungen für eine solche notwendige Beiladung sind hier nicht erfüllt. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung im Sinne des § 65 Abs. 2 VwGO liegt nur dann vor, wenn die begehrte Sachentscheidung nicht wirksam getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig und unmittelbar in Rechte des Dritten eingegriffen wird (BVerwG, Beschl. v. 07.02.2011 - 6 C 11.10 - NVwZ-RR 2011, 382; Beschl. v. 31.03.2008 - 6 C 14.07 - NVwZ 2008, 798 m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall. Wenn der Senat, wie vom Beschwerdeführer begehrt, feststellen würde, dass die Durchsuchungsanordnung in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - rechtswidrig gewesen ist, würde durch diese Feststellung nicht in Rechte von Herrn ... eingegriffen.61 bb) Von der danach allenfalls in Betracht kommenden einfachen Beiladung von Herrn ... sieht der Senat in Ausübung des ihm von § 65 Abs. 1 VwGO eröffneten Ermessens ab. Er lässt sich dabei maßgeblich von der Erwägung leiten, dass es Herrn ... offenstand, gegen den ihm zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - selbst Beschwerde einzulegen und so dessen Überprüfung in einem zweitinstanzlichen Verfahren zu erreichen, und er von dieser Möglichkeit bewusst abgesehen hat (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. v. 17.05.2005 - 4 A 1001.04 - juris). Hinzu kommt auch hier, dass eine dem Beschwerdeführer stattgebende Entscheidung subjektive Rechte von Herrn ... nicht beeinträchtigen und ihn auch sonst nicht negativ beeinträchtigen könnte (vgl. zur Relevanz dieses Befunds für die Entscheidung über eine einfache Beiladung Czybulka/Kluckert, a.a.O., § 65 Rn. 113 m.w.N.).62 3. Die Beschwerde des Beschwerdeführers ist begründet.63 Der im Beschwerdeverfahren auf seine Rechtmäßigkeit allein zu prüfende Beschwerdegegenstand, die Durchsuchungsanordnung in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - (a), war im maßgeblichen Zeitpunkt (b) rechtswidrig (c).64 a) Die Beschwerde gegen eine in einem vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahren ergangene richterliche Durchsuchungsanordnung ist nach dem Vollzug der Durchsuchung, wie gezeigt (oben 1.a)), mit dem Ziel zulässig, die Rechtswidrigkeit dieser Anordnung analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO feststellen zu lassen (vgl. erneut Senat, Beschl. v. 27.10.2011, a.a.O., und grdl. v. 14.05.2002, a.a.O., m.w.N.). Prüfungsgegenstand der Beschwerde ist mit anderen Worten der Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem die Durchsuchung angeordnet und in erster Linie über das „Ob“ der Durchsuchung entschieden wurde. Für einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit (auch) der anschließenden Durchführung der Durchsuchung - also der Rechtswidrigkeit der Art und Weise („Wie“ der Durchsuchung) - ist demgegenüber in dem Beschwerdeverfahren regelmäßig kein Raum. Denn zur Durchführung der Durchsuchung trifft der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts zumeist - und so auch hier - keine Regelung. Diese war nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens (vgl. Senat, Beschl. v. 19.06.2018, a.a.O.; OVG NRW, Beschl. v. 30.01.2009 - 5 E 1492/08 - juris m.w.N.).65 Soweit der von einer Durchsuchung Betroffene auch die Art und Weise des Vollzugs gerichtlich überprüfen lassen will, stehen ihm dafür andere Möglichkeiten des effektiven Rechtsschutzes außerhalb des Beschwerdeverfahrens offen. Diese sind in Ermangelung von spezialgesetzlichen Verweisen im Vereinsgesetz auf spezielle Rechtsbehelfe der Strafprozessordnung grundsätzlich der insoweit keine Regelungslücken enthaltenden, insbesondere die Feststellungsklage vorsehenden Verwaltungsgerichtsordnung zu entnehmen (vgl. Senat, Beschl. v. 02.04.2019 - 1 S 982/18 - VBlBW 22020, 68; vgl. dazu auch OVG Bln.-Brbg., Beschl. v. 17.09.2010 - 1 L 83.10 - juris; NdsOVG, Beschl. v. 09.02.2009 - 11 OB 417/08 - NVwZ-RR 2009, 517; Albrecht, a.a.O., § 4 Rn. 82; Groh, a.a.O., § 4 Rn. 15; a.A. insoweit wohl Roth, a.a.O., Rn. 52, 54 f.: § 4 Abs. 5 Satz 2 VereinsG i.V.m. § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO).66 b) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen und den alleinigen Prüfungsgegenstand bildenden Durchsuchungsanordnung des Verwaltungsgerichts ist der Zeitpunkt des Erlasses des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses, mit dem die Durchsuchung angeordnet wurde (vgl. BayVGH, Beschl. v. 11.02.2009 - 4 C 08.2888 - juris; Roth, a.a.O., § 4 Rn. 47 m.w.N.).67 c) Ausgehend davon erweist sich der angefochtene Durchsuchungsbeschluss als rechtswidrig. Das Verwaltungsgericht hat die Durchsuchung der in Nr. 1 seines Beschlusses vom 22.08.2017 - 4 K 7022/17 - genannten Räumlichkeiten des vom Beschwerdeführer betriebenen KTS auf den gegen Herrn ... gerichteten Antrag des Beschwerdegegners zu Unrecht angeordnet. Es war zur Entscheidung über diesen Antrag auf Erlass der Durchsuchungsanordnung berufen (aa), hätte ihn aber ablehnen müssen (bb).68 aa) Mit dem Verwaltungsgericht Freiburg, in dessen Bezirk die Durchsuchung vorgenommen werden sollte, hat das für den Antrag gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2, § 10 Abs. 2 Satz 6 VereinsG zuständige Gericht entschieden.69 bb) Das Verwaltungsgericht hätte diesen Antrag aber ablehnen müssen, weil das Regierungspräsidium Freiburg nicht gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VereinsG befugt war, die streitgegenständliche Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung gegenüber dem Antragsgegner zu beantragen. Denn das Regierungspräsidium konnte sich für seinen Antrag nicht auf ein gemessen an § 4 Abs. 1 und 4 VereinsG (1) ausreichend bestimmtes Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI stützen (2).70 (1) Zuständig für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens und auch für die Durchführung der Ermittlungen nach § 4 VereinsG einschließlich der Stellung der entsprechenden Anträge beim Verwaltungsgericht (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 1 VereinsG) sind grundsätzlich die in § 3 Abs. 2 VereinsG bezeichneten, für das Verbot eines Vereins zuständigen Verbotsbehörden (Senat, Beschl. v. 14.05.2002, a.a.O.). Zuständige Verbotsbehörde war hier nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 VereinsG das BMI, da sich die Organisation und Tätigkeit des Vereins „linksunten.indymedia“ über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckte.71 Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 VereinsG, mit der die in Art. 35 GG allgemein begründete Amtshilfeverpflichtung der Behörden untereinander konkretisiert wird (vgl. Groh, a.a.O., § 4 Rn. 2; Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 231. Erg.-Lfg., § 4 VereinsG Rn. 3), kann die Verbotsbehörde für ihre Ermittlungen auch die Hilfe der für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zuständigen Behörden und Dienststellen - hier des Regierungspräsidiums Freiburg (vgl. § 61 Abs. 1 Nr. 2, § 62 Abs. 2, § 68 Abs. 1 PolG) - in Anspruch nehmen. Die Befugnis einer solchen Behörde oder Dienststelle zur Durchführung von konkreten Ermittlungsmaßnahmen, etwa zur Stellung eines Antrags beim Verwaltungsgericht nach § 4 Abs. 2 Satz 1 VereinsG, setzt allerdings ein - ggf. über die zuständige oberste Landesbehörde vermitteltes (§ 4 Abs. 1 Satz 2 VereinsG) - Vollzugs- und Ermittlungsersuchen der Verbotsbehörde voraus. Dieses Erfordernis rührt daher, dass die Verbotsbehörde „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ ist (vgl. Groh, a.a.O., § 4 Rn. 2). Sie allein ist berechtigt, ein Ermittlungsverfahren mit dem Ziel des Vereinsverbotes einzuleiten. Ferner bestimmt sie Art und Umfang der Ermittlungen und vermag insbesondere zu entscheiden, gegen wen sich die Ermittlungen richten und welche Maßnahmen im Einzelnen getroffen werden sollen (vgl. zum Ganzen Senat, Beschl. v. 14.05.2002, a.a.O., m.w.N.; HessVGH, Urt. v. 16.02.1993 - 11 TJ 185/93 u.a. - NJW 1993, 2826).72 Stellt ein vom BMI über die oberste Landesbehörde um Hilfe ersuchtes Regierungspräsidium einen Antrag auf Erlass einer Durchsuchungs- (ggf. und Beschlagnahme-)Anordnung gegen einen Antragsgegner, darf das Verwaltungsgericht diesem Antrag daher nur dann stattgeben, wenn sicher festgestellt werden kann, dass der Antrag von dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen umfasst ist (vgl. Senat, Beschl. v. 14.05.2002, a.a.O.). Hat das BMI eine Liste der Personen und Organisationen, die von dem Vollzug betroffen sein sollen, angefertigt und dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen beigefügt, spricht beispielsweise der Umstand, dass eine Person darin nicht als Antragsgegner aufgeführt ist, dafür, dass das Regierungspräsidium auch nicht befugt ist, einen gegen diese Person gerichteten Antrag auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung zu stellen. Es ist zwar grundsätzlich möglich, dass die Verbotsbehörde im vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahren die nach § 4 Abs. 1 VereinsG zur Hilfe verpflichteten Behörden nicht nur um einzelne konkrete Ermittlungshandlungen ersucht, sondern ihnen einen Spielraum bei der Durchführung der Ermittlungen einräumt (vgl. Albrecht, a.a.O., § 4 Rn. 17; Roth, a.a.O., § 4 Rn. 8). Dies muss sie dann allerdings - nicht zuletzt angesichts der erheblichen Grundrechtsrelevanz von vereinsrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere von Durchsuchungen (vgl. Art. 13 GG) - in ihrem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen hinreichend deutlich zum Ausdruck bringen (Senat, Beschl. v. 14.05.2002, a.a.O.; ebenso Wache, a.a.O., § 4 Rn. 3; Groh, a.a.O., § 4 Rn. 2; Roth, a.a.O., § 4 Rn. 8 m.w.N.; Albrecht, a.a.O., § 4 Rn. 17: „eindeutig“).73 (2) An den vorstehenden Maßstäben gemessen, hätte das Verwaltungsgericht den gegen Herrn ... gerichteten Antrag des Regierungspräsidiums Freiburg vom 18.08.2017, die genannten Räumlichkeiten des KTS zu durchsuchen, ablehnen müssen. Denn das Regierungspräsidium konnte sich für diesen Antrag nicht auf ein gemessen an § 4 Abs. 1 und 4 VereinsG ausreichend bestimmtes Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI stützen.74 Das Vereinsgesetz unterscheidet in dieser Vorschrift zwischen der „Durchsuchung der Räume des Vereins sowie der Räume, der Sachen und der Person eines Mitglieds oder Hintermannes des Vereins“ auf der einen Seite (Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG) und der Durchsuchung bei „anderen Personen“ auf der anderen Seite. Für Durchsuchungen bei „anderen Personen“ stellt es andere - erheblich strengere - Anforderungen auf als für die Durchsuchung von Räumen des Vereins oder seiner Mitglieder (vgl. Satz 3 des § 4 Abs. 4 VereinsG). In einem Ermittlungs- und Verbotsverfahren kann deshalb nicht offengelassen werden, ob Räume als solche des verbotenen Vereins oder als solche von „anderen Personen“ durchsucht werden sollen.75 Materiell-rechtlich kommt es für diese Unterscheidung - die der gesetzlichen Differenzierung zwischen strafprozessrechtlich angeordneten Durchsuchungen bei dem Beschuldigten (vgl. § 102 StPO) und „anderen Personen“ (vgl. § 103 StPO) nachgebildet ist - nicht auf das Eigentum an den zu durchsuchenden Sachen, sondern nur darauf an, ob das Vereinsmitglied (oder der Beschuldigte) eine tatsächliche Verfügungsgewalt über den fraglichen Gegenstand hat (vgl. OVG Bln.-Brdb., Beschl. v. 17.09.2010 - 1 L 71.10 - juris; Roth, a.a.O., § 4 Rn. 40), wobei ein Mitbesitz (Mitgewahrsam) ausreicht (vgl. BGH, Urt. v. 15.10.1985 - 5 StR 338/85 - NStZ 1986, 84; Hauschild, in: MüKo-StPO, § 102 Rn. 18; s. auch zur Postbeschlagnahme BayVGH, Beschl. v. 22.12.1992 - 4 C 92.3878 - juris m.w.N.). Besteht ein solcher Mitgewahrsam, ist die Durchsuchung bereits dann rechtmäßig, wenn die Voraussetzungen der Vorschriften über die Durchsuchung beim Vereinsmitglied (Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG) erfüllt sind (vgl. zu §§ 102 f. StPO BVerfG, Beschl. v. 08.04.2004 - 2 BvR 2224/03 - juris; OVG NRW, Beschl. v. 22.03.2017 - 3d 296/17.O - juris, auch für das beamtenrechtliche Disziplinarverfahren; BGH, Beschl. v. 08.04.1998 - StB 5/98 - juris Urt. v. 15.10.1985, a.a.O.).76 Wenn die Verbotsbehörde eine Landesbehörde um die Durchsuchung von bestimmten Räumen ersuchen will, muss sie deshalb in dem Ersuchen grundsätzlich klarstellen, ob diese Räume als solche im Gewahrsam des verbotenen Vereins angesehen und deshalb mit einem gegen ein Vereinsmitglied gerichteten Antrag nach Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG durchsucht werden sollen, oder ob sie davon ausgeht, dass sich die Räume im Gewahrsam von „anderen Personen“ befinden und die Durchsuchung deshalb nach Satz 3 des § 4 Abs. 4 VereinsG mit einem gegen einen Dritten gerichteten Antrag durchgeführt werden soll. Kann oder will die Verbotsbehörde diese Frage aufgrund der eigenen Erkenntnisse ausnahmsweise nicht selbst beantworten, kann sie den um Hilfe ersuchten Behörden in dieser Hinsicht nach dem oben Gesagten einen Spielraum bei der Durchführung der Ermittlungen und bei dem Vollzug einräumen. Dies muss dann allerdings, wie gezeigt, wegen der erheblichen Grundrechtsrelevanz in ihrem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen hinreichend deutlich zum Ausdruck kommen (vgl. dazu erneut Senat, Beschl. v. 14.05.2002, a.a.O., und näher oben unter (1) m.w.N.).77 Von diesen Anforderungen ausgehend, konnte sich das Regierungspräsidium Freiburg bei seinem am 18.08.2017 beim Verwaltungsgericht gegen Herrn ... gestellten Antrag, die Räume des vom Beschwerdeführer gemieteten KTS zu durchsuchen, auf kein ausreichendes Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI stützen. Das BMI hat in seinem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen selbst nicht vorgegeben, dass der Antrag auf Durchsuchung des KTS - wie vom Regierungspräsidium gewählt - gegen Herrn ... nach Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG gerichtet werden solle (a) und es hat den um Hilfe ersuchten Landesbehörden insoweit auch nicht mit der gebotenen Bestimmtheit einen Ermittlungs- und Entscheidungsspielraum delegiert (b).78 (a) Das BMI selbst hat in seinem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen vom 14.08.2017 nicht ausgeführt, dass es den KTS als im Gewahrsam des verbotenen Vereins „linksunten.indymedia“ stehend ansehe und sich ein Antrag deshalb gegen ein Mitglied dieses Vereins, etwa Herrn ..., richten solle. Das BMI hat in dem Schreiben um Durchsuchung „der in der Objektliste unter BW-01 bis BW-06 genannten Objekte sowie der unter BW-01 bis BW-03 sowie BW-05 bis BW-06 genannten Personen“ und um „Durchführung weitergehender Maßnahmen nach § 10 Abs. 2 sowie § 4 Abs. 2 und 4 VereinsG wie Post- und E-Mail-Beschlagnahme“ ersucht. Die genannte „Objektliste“ wies folgenden Inhalt auf:....................................79 Mit dem so formulierten Vollzugs- und Ermittlungsersuchen hat das BMI die Frage, gegen welche (natürliche oder juristische) Person sich die Durchsuchung des KTS richten und ob der KTS als Räumlichkeit des verbotenen Vereins (§ 4 Abs. 4 Satz 2 VereinsG) oder als solcher von Dritten („anderen Personen“, § 4 Abs. 4 Satz 3 VereinsG) durchsucht werden sollte, nicht beantwortet. Es hat den um Hilfe ersuchten Landesbehörden des Beschwerdegegners insbesondere nicht vorgegeben, dass es den KTS als Raum im Gewahrsam des verbotenen Vereins ansehe und die Durchsuchung deshalb - wie von dem Regierungspräsidium beim Verwaltungsgericht aber im Ergebnis beantragt - gerade nach Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG gegen Herrn ... als Vereinsmitglied und Gewahrsamsinhaber beantragt werden sollte.80 Eine dahingehende Vorgabe war dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen vom 14.08.2017 schon nach dessen Wortlaut nicht zu entnehmen. Die Zeile „BW-04“ nannte in der Spalte „Person“ nicht etwa - wie in den übrigen Zeilen - eine konkrete Person, sondern nur den in der Spalte „Funktion“ als „Infrastruktur“ bezeichneten KTS und in der Spalte „Objekt“ lediglich die Anschrift des KTS und nicht etwa die Anschrift von Mitgliedern des verbotenen Vereins.81 Dass sich das BMI in dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen nicht zu der Frage verhalten hat, ob es die Räume des KTS als im Gewahrsam des verbotenen Vereins ansah und ob die Durchsuchung deshalb gegenüber einem Vereinsmitglied nach Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG oder nach dessen Satz 3 gegen einen Dritten beantragt werden sollte, erschließt sich zusätzlich aus der Verbotsverfügung des BMI vom selben Tag, die dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen als Anlage 1 beigefügt war. Diese Verfügung enthielt Angaben dazu, dass der verbotene Verein „linksunten.indymedia“ den KTS nach den Erkenntnissen des BMI regelmäßig für Treffen genutzt und es Hinweise für eine „enge Verflechtung“ zwischen dem verbotenen Verein und dem KTS gegeben hatte (vgl. S. 5 ff. d. Vfg.). Die Verbotsverfügung enthielt ferner Angaben dazu, dass nach Auffassung des BMI unter anderem Herr ... als Mitglied im Betreiberteam für den verbotenen Verein und seine Internetpräsenz verantwortlich war (vgl. S. 9 ff. d. Vfg.). Die Verfügung enthielt hingegen keine Angaben dazu, dass das BMI davon ausgegangen sei, der verbotene Verein oder Mitglieder von ihm, insbesondere Herr ..., habe darüber hinaus auch Gewahrsam an dem Räumen des KTS gehabt. Insbesondere konnte nicht allein aus den Angaben des BMI zu den regelmäßigen Treffen des verbotenen Vereins im KTS der Schluss gezogen werden, dieser Verein sei deshalb bereits Mitgewahrsamsinhaber der Räume, die er nicht selbst gemietet hatte und in denen auch nach den Angaben in der Verfügung regelmäßig Treffen und Veranstaltungen von anderen Personen und Gruppen aus der linken Szene stattfanden (vgl. Bl. 6 d. Vfg.).82 Die Verwaltungsakten des Beschwerdegegners belegen zusätzlich, dass nicht schon das BMI in dessen Vollzugs- und Ermittlungsersuchen vom 14.08.2017, sondern erst nach dessen Eingang der Beschwerdegegner aufgrund eigener Erkenntnisse die Entscheidung getroffen hat, die Räume des KTS als solche im (Mit-)Gewahrsam des verbotenen Vereins anzusehen und den Antrag auf Erlass der Durchsuchungsanordnung gegen Herrn ... als - aus Sicht des Beschwerdegegners - Mitgewahrsamsinhaber zu richten und auf Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG zu stützen. Denn die Erkenntnisse, die den Beschwerdegegner zur Annahme veranlasst haben, Herr ... sei nicht nur Nutzer, sondern Mitgewahrsamsinhaber der KTS-Räume gewesen (Besitz eines Schlüssels zum Haupteingang, Auftreten als Verantwortlicher gegenüber der Polizei nach einem ... stattgehabten Brand, Bestellung eines Routers im Auftrag des KTS im Jahr ...), stammen nicht aus dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI. Sie stammen vielmehr aus einem Behördenzeugnis des Landesamts für Verfassungsschutz, das von dieser Landesbehörde erst nach dem Eingang des Vollzugs- und Ermittlungsersuchens am 17.08.2017 erstellt wurde (vgl. den unsortierten und nicht paginierten Hefter in dem vorgelegten Aktenkonvolut).83 Das BMI hat nach alledem die Frage, ob es die Räume des KTS als solche im Gewahrsam des verbotenen Vereins ansah und diese deshalb mit einem gegen ein Vereinsmitglied gerichteten Antrag nach Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG durchsucht werden sollen, oder ob es davon ausging, dass sich die Räume im Gewahrsam von „anderen Personen“ befinden und die Durchsuchung deshalb nach Satz 3 des § 4 Abs. 4 VereinsG mit einem gegen einen Dritten gerichteten Antrag durchgeführt werden sollten, in seinem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen nicht selbst beantwortet. Das Regierungspräsidium konnte sich deshalb bei seinem (nur) gegen Herrn ... nach Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG gestützten Antrag auf Erlass einer Anordnung zur Durchsuchung der Räume des KTS nicht auf eine dahingehende Vorgabe aus dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI stützen.84 (b) Das Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI wäre deshalb für den vom Regierungspräsidium beim Verwaltungsgericht gestellten Antrag nach dem dazu oben (unter (1)) Gesagten allenfalls dann ausreichend gewesen, wenn das BMI den um Hilfe ersuchten Behörden gerade in dieser Hinsicht bewusst einen Spielraum bei der Durchführung der Ermittlungen einräumen wollte und dies in dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hätte. Das ist jedoch nicht erfolgt.85 Die Bitte des BMI in dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen um „Durchführung weitergehender Maßnahmen nach § 10 Abs. 2 sowie § 4 Abs. 2 und 4 VereinsG wie Post- und E-Mail-Beschlagnahme“ bezog sich nicht auf Durchsuchungen und erst recht nicht auf die Frage, welche Personen von den Maßnahmen betroffen sein sollten. Unabhängig davon war dem Vollzugs- und Ermittlungsersuchen nicht zu entnehmen, weshalb (nur) in der Zeile zu dem Objekt „BW-04“ der konkrete Antragsgegner nicht benannt worden war. Das konnte möglicherweise seine Ursache darin haben, dass das BMI diese Frage nicht selbst beantworten wollte. Es war allerdings ebenso möglich, dass diese Frage dort versehentlich nicht geprüft und daher schon nicht entschieden wurde, wer sie beantworten sollte. Ein Vollzugs- und Ermittlungsersuchen, das - wie mithin hier - im Ergebnis nicht erkennen lässt, ob es die Auswahl der von einer Durchsuchungsanordnung betroffenen Antragsgegner geprüft hat und/oder den ersuchten Ermittlungsbehörden überlassen will, genügt den oben genannten Bestimmtheitsanforderungen nicht. Denn bei diesem Sachstand ist nicht klar, ob die Einleitung eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen eine bestimmte Person und das Unterlassen eines solchen Verfahrens gegen eine andere, von der Durchsuchung möglicherweise materiell (Art. 13 Abs. 1 GG) mindestens ebenso betroffene Person von dem Willen des BMI als „Herrn des Verfahrens“ umfasst ist oder nicht.86 Der Beschwerdegegner kann dem nicht mit Erfolg seinen Einwand entgegensetzen, der Grund für das Vollzugs- und Ermittlungsersuchen des BMI sei in Bezug auf das „Objekt BW-04“ der Umstand gewesen, dass der verbotene Verein „linksunten.indymedia“ die Räume des KTS benutzt habe, und dieser Grund sei durch die Durchsuchungsanordnung gegen Herrn ... als (Mit-)Gewahrsamsinhaber dieser Räumlichkeiten umgesetzt worden. Dieses Vorbringen greift zu kurz, weil es nicht in den Blick nimmt, dass gerade die Verbotsbehörde als „Herrin des Verfahrens“ wegen der beträchtlichen Grundrechtsrelevanz einer Durchsuchung entweder selbst entscheiden muss, ob sie eine Durchsuchung bei dem verbotenen Verein oder - trotz der insoweit höheren Anforderungen - bei Dritten („anderen Personen“) veranlassen will (vgl. erneut Satz 2 gegenüber Satz 3 des § 4 Abs. 4 VereinsG), oder zumindest deutlich zum Ausdruck bringen muss, dass sie den um Hilfe ersuchten Behörden gerade in dieser Hinsicht einen Ermittlungs- und Entscheidungsspielraum delegieren will. Daran fehlt es hier. Im vorliegenden Fall hatte das BMI als Verbotsbehörde ausweislich der vorgelegten Akten gerade keine Kenntnis davon, dass Herr ... Mitgewahrsam an den Räumen des KTS gehabt hätte. Eine Entscheidung, dass die Räume des KTS mit einem Antrag gegen Herrn ... gestützt auf Satz 2 des § 4 Abs. 4 VereinsG durchsucht werden sollten, hat das BMI daher, wie ausgeführt, ersichtlich nicht getroffen. Für die Einräumung eines dahingehenden Spielraums an die Landesbehörden fehlt es, wie ebenfalls ausgeführt, an Anhaltspunkten in dem Ersuchen und auch in den übrigen vorgelegten Akten.87 Bei diesem Sachstand war das Verwaltungsgericht nicht - jedenfalls nicht ohne Aufklärung des dahingehenden Sachverhalts - dazu befugt, die von der um Hilfe ersuchte Landesbehörde gegen Herrn ... und nicht gegen den materiell offensichtlich betroffenen Beschwerdeführer beantragte Durchsuchungsanordnung zu erlassen.88 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil im Beschwerdeverfahren lediglich eine Festgebühr nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) anfällt (vgl. Senat, Beschl. v. 19.06.2018 - 1 S 2071/17 -).89 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). | {
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Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 17. September 2020 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1G r ü n d e :
2Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 17. September 2020, mit dem dieses den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.
3I. Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst und nur dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss oder überwiegend wahrscheinlich ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe versagt werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsschutzbegehrens darf dabei nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den grundrechtlich garantierten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Schwierige, bislang nicht geklärte Rechts- und Tatsachenfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren geklärt werden.
4Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Juli 2015 – 8 E 532/14 –, juris Rn. 3 f., m. w. N.
5Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht versagt. Das Rechtsschutzbegehren des Klägers hat erkennbar keine Erfolgsaussichten. Die angefochtene Ordnungsverfügung vom 2. Juli 2020, mit der dem Kläger die Führung eines Fahrtenbuches für die Dauer von sechs Monaten auferlegt und Kosten in Höhe von insgesamt 107,32 EUR festgesetzt wurden, verletzt diesen nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
61. Rechtsgrundlage der Fahrtenbuchauflage ist § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO. Danach kann die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene oder künftig zuzulassende Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war.
7a) Die Beklagte ist für den Erlass der hier angefochtenen Anordnung zum Führen eines Fahrtenbuchs nach § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO i. V. m. § 68 Abs. 2 StVZO und § 12 der Verordnung über Zuständigkeiten im Bereich Straßenverkehr und Güterbeförderung NRW zuständig. Das Fahrzeug, auf das sich die Fahrtenbuchauflage bezieht, ist nicht am Wohnort des Klägers (H. ), sondern nach Mitteilung der Beklagten in Anwendung von § 6 Abs. 1 und § 46 Abs. 2 FZV am Ort des Betriebssitzes des Klägers zugelassen (sog. Standortzulassung). Mithin ist die Beklagte als die für den Betriebssitz des Klägers zuständige Kreisordnungsbehörde auch für die Fahrtenbuchanordnung zuständig. Der in § 68 Abs. 2 StVZO verwendete Begriff des Handelsunternehmens ist nach Sinn und Zweck der Vorschrift weit auszulegen.
8Vgl. Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 68 StVZO Rn. 11; Bay. VGH, Beschluss vom 18. März 2008 - 11 CS 08.268 -, juris Rn. 5 unter Hinweis auf den Begriff der gewerblichen Niederlassung (§ 42 Abs. 2 GewO a. F.; nunmehr § 4 Abs. 3 GewO).
9Dass der Kläger in Bottrop eine Schank- und Speisewirtschaft betreibt, ist nach den von ihm vorgelegten PKH-Unterlagen nicht zweifelhaft.
10b) Die materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer Fahrtenbuchauflage liegen vor. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht entgegen der Auffassung des Klägers zu Recht angenommen, dass die Feststellung des Fahrzeugführers unmöglich im Sinne des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO war, weil der Kläger von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat und sich der Bußgeldbehörde auch sonst keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Feststellung des verantwortlichen Fahrers ergeben haben. Der Halter eines Fahrzeugs kann nicht verlangen, von einer Fahrtenbuchauflage verschont zu bleiben, wenn er in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren ein Zeugnis- oder Aussageverweigerungsrecht geltend gemacht hat. Ein „doppeltes Recht“, nach einem Verkehrsverstoß im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Zeugnis bzw. die Aussage zu verweigern und zugleich trotz fehlender Mitwirkung bei der Ermittlung des Fahrzeugführers von einer Fahrtenbuchauflage verschont zu bleiben, besteht nicht.
11Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 1981 ‑ 2 BvR 1172/81 ‑, juris Rn. 7; BVerwG, Beschlüsse vom 22. Juni 1995 – 11 B 7.95 –, juris Rn. 2 ff., und vom 11. August 1999 – 3 B 96.99 –, juris Rn. 2 f.; OVG NRW, Beschluss vom 15. Mai 2018 ‑ 8 A 740/18 ‑, juris Rn. 37 f.
12c) Die angefochtene Fahrtenbuchauflage ist frei von Ermessensfehlern (vgl. § 40 VwVfG NRW, § 114 Satz 1 VwGO).
13Insbesondere ist sie entgegen der Auffassung des Klägers nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie im Grunde nur als Bestrafung eingesetzt werde. Eine Fahrtenbuchauflage stellt keine Sanktionierung in Anbetracht des geltend gemachten Zeugnisverweigerungsrechts dar. Ihr Zweck besteht allein darin, die Sicherheit und Ordnung im Straßenverkehr zu gewährleisten und sicherzustellen, dass zukünftige Verkehrsverstöße nicht ungeahndet bleiben.
14Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Mai 2006 – 8 A 3429/04 –, juris Rn. 6 f., m. w. N.
15Auf diesen Zweck hat der Beklagte ausweislich der Begründung des Bescheides (vgl. § 39 Abs. 1 VwVfG NRW) den Erlass der Fahrtenbuchauflage auch gestützt.
16Ohne Erfolg stellt der Kläger in Abrede, dass die Fahrtenbuchauflage die Verkehrssicherheit und die Aufklärung etwaiger zukünftiger Verstöße fördert. Bei der Anordnung eines Fahrtenbuchs kommt es nicht auf eine konkrete Wiederholungsgefahr an. § 31a StVZO zielt vielmehr auf eine abstrakte Wiederholungsgefahr, die daran anknüpft, dass der verantwortliche Fahrer bei Begehung des Verkehrsverstoßes anonym geblieben ist.
17Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2014 – 8 B 591/14 –, juris Rn. 31 ff.
18Die Pflicht zur Dokumentation der einzelnen Fahrten hat eine disziplinierende Wirkung und eröffnet Bußgeldbehörden Erkenntnisse über die jeweiligen Fahrer, ohne auf das Erinnerungsvermögen und die Mitwirkungsbereitschaft des Halters angewiesen zu sein.
19Ob der für den hier in Rede stehenden Verkehrsverstoß verantwortliche Fahrer erneut das Fahrzeug des Klägers nutzen oder dieser als Fahrzeughalter, wie es in der Beschwerde heißt, in Zukunft eigene verkehrsrelevante Maßnahmen einleiten wird, ist danach unerheblich.
202. Fehler der Kostenfestsetzung sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
21II. Angesichts der fehlenden Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung besteht für den Senat kein Anlass, dem Kläger Gelegenheit zu geben, die bislang nur unvollständig ausgefüllte Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu ergänzen.
22Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
23Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Der Antragsgegner wird verpflichtet, ab Oktober 2020 für das minderjährige KindT, geb. am 00.00.0000, einen monatlich im Voraus zu entrichtenden Kindesunterhalt in Höhe von 100% des Mindestunterhalts nach der Düsseldorfer Tabelle für die jeweilige Altersstufe des Kindes, abzüglich des hälftigen Kindergeldes für ein erstes Kind, im Oktober (unter Berücksichtigung auch des hälftigen Kinderbonus) einen Zahlbetrag in Höhe von 272 € und ab November 2020 einen Zahlbetrag in Höhe von derzeit 322,- € zu Händen der Kindesmutter zu zahlen.
Außerdem wird der Antragsgegner verpflichtet, rückständigen Kindesunterhalt für das minderjährige Kind T, geb. am 00.00.0000, für den Zeitraum Juni 2020 bis einschließlich September 2020 in Höhe von insgesamt 308 € an das Jobcenter Rhein-Erft (BG-Nr. 32502//0039724) zu zahlen.
Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin 40 % und der und der Antragsgegner 60 %.
Die sofortige Wirksamkeit des laufenden Unterhalts ab Oktober 2020 wird angeordnet.
Der Verfahrenswert wird wie folgt festgesetzt:
bis zum 7.9.2020: 5.796,00 € (18 x 322 €, Antrag vom 22.7.2020)
danach: 4.508,00 € (14 x 322 €, Antrag vom 7.9.2020)
1Gründe:
2I.
3Die minderjährige Antragstellerin begehrt die Zahlung des Mindestunterhalts von ihrem Vater, dem Antragsgegner. Die Antragstellerin lebt bei ihrer Mutter, welche Leistungen der Unterhaltsvorschusskasse und des Jobcenters für die Antragstellerin bezieht.
4Der Antragsgegner lebt seit sieben Jahren in Deutschland und arbeitet als Küchenhelfer. Er wird als Springer eingesetzt und verdient bis zu 1300 € brutto, wobei er rund 130 Stunden im Monat arbeitet. Aus der Zeit des Zusammenlebens mit der Mutter der Antragstellerin hat er Schulden bei der Agentur für Arbeit und beim Beitragsservice ARD, ZDF, Deutschlandradio, die er in Raten von monatlich 20 € bzw. 40 € zurückgezahlt. Er leistet Zahlungen an die Unterhaltsvorschusskasse, seit Juni in Höhe von monatlich 220 €.
5Auf der Zahlungsstufe hat die Antragstellerin zunächst laufenden Unterhalt ab August 2020 und Rückstände ab Februar 2020, zu zahlen an die Unterhaltsvorschusskasse und das Jobcenter beantragt. Auf Hinweis des Gerichts beantragt sie nunmehr, den Antragsgegner zu verpflichten,
61. ab Oktober 2020 für sie einen monatlich im Voraus zu entrichtenden Kindesunterhalt in Höhe von 100% des Mindestunterhalts, abzüglich des hälftigen Kindergeldes für ein erstes Kind, derzeit einen Zahlbetrag in Höhe von 322,- € zu Händen der Kindesmutter zu zahlen,
72. rückständigen Kindesunterhalt für den Zeitraum Juni 2020 bis einschließlich September 2020 in Höhe von jeweils 322 € monatlich zu zahlen, wobei die Zahlungen an das Jobcenter Rhein-Erft und die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt Bergheim wie folgt zu leisten sind:
8 für den Zeitraum Juni 2020 bis einschließlich September 2020 in Höhe von monatlich 102 € an das Jobcenter Rhein-Erft (BG-Nr. 32502//0039724)
9 für den Zeitraum Juni 2020 bis einschließlich September 2020 in Höhe von monatlich 220 € an die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt Bergheim (dortiges Zeichen: 5.1.1.3. 109/P/02743/19) BG-Nr. 32502//0039724).
10Der Antragsgegner beantragt,
11den Antrag zurückzuweisen.
12Er beruft sich auf fehlende Leistungsfähigkeit. Eine Nebentätigkeit sei ihm nicht möglich, weil er als Springer flexibel eingesetzt werde und nicht im Voraus sagen könne, wann er arbeiten müsse. Für eine andere Tätigkeit fehle es ihm an ausreichenden Deutschkenntnissen. Er leide an einer Lese- und Rechtschreibschwäche.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
14II.
15Der Antrag ist überwiegend begründet. Der Antragsgegner ist seiner minderjährigen Tochter gegenüber unterhaltspflichtig, §§ 1601, 1603 Abs. 2, 1610 BGB.
16Soweit der Antragsgegner sich auf mangelnde Leistungsfähigkeit beruft, dringt er damit nicht durch. Der Unterhaltspflichtige ist gegenüber seinem minderjährigen, den Mindestunterhalt verlangenden Kind für seine mangelnde Leistungsfähigkeit darlegungs- und beweisbelastet (BGH FamRZ 2014, 1992; BVerfG FamRZ 2014, 1977).
17Nach §1603 Abs. 2 BGB sind die Eltern ihren minderjährigen Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel einzusetzen. Sie müssen buchstäblich das „Letzte“ mit ihren Kindern teilen. Daraus fließt eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit. Wenn der Unterhaltspflichtige eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte, sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte zu berücksichtigen (vgl. BGH FamRZ 2011, 1041, Tz. 29). Der Unterhaltspflichtige muss seine Arbeitskraft entsprechend seiner Vorbildung, seinen Fähigkeiten und der Arbeitsmarktlage in zumutbarer Weise bestmöglich einsetzen. Die gesteigerte Unterhaltspflicht nötigt den Unterhaltspflichtigen zur Übernahme jeder ihm gesundheitlich zumutbaren Arbeit, wobei auch Aushilfs- und Gelegenheitsarbeiten unterhalb des Ausbildungsniveaus zumutbar sind, ein Orts- und Berufswechsel verlangt werden kann, ungünstige Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen sind sowie im Einzelfall sogar die Aufnahme mehrerer Nebentätigkeiten bis zu einer 48-Stunden-Woche zu erfolgen hat (OLG Köln NJW 2007, 444, 445; OLG München MDR 2008, 748). Diese gesteigerte Erwerbsobliegenheit trifft auch einen berufstätigen Unterhaltspflichtigen, dessen Einkommen zur Erfüllung der Unterhaltspflichten nicht ausreicht und erlegt ihm auf, sich um eine besser bezahlte Beschäftigungsmöglichkeit zu bemühen, wobei ihm regelmäßig auch eine Tätigkeit über 40 Wochenstunden hinaus bis zu 48 Stunden nach Maßgabe der §§ 3, 9 Abs. 1 ArbZG einschließlich Nebentätigkeiten abverlangt werden können (OLG Brandenburg, Beschluss vom 10.01.2020, 13 UF 184/19, juris). Eine nach diesen Kriterien vorwerfbare Nichtausnutzung der Arbeitskraft rechtfertigt es, den Verpflichteten so zu behandeln, als verfüge er tatsächlich über die erzielbaren – zu schätzenden – Einkünfte.
18So liegen die Dinge hier. Der Antragsgegner hat nicht dargelegt, dass es ihm unmöglich wäre, eine andere Vollzeittätigkeit zum Mindestlohn auszuüben. Bewerbungsbemühungen in dieser Richtung hat er nicht entfaltet. Dem steht nicht entgegen, dass er keine Ausbildung hat, nur unzureichend Deutsch spricht und derzeit als Küchenhelfer arbeitet. Er lebt seit sieben Jahren in Deutschland. Auch unter Berücksichtigung einer Lese- und Rechtschreibschwäche hatte er genug Zeit, die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu lernen. Dass ihm eine Tätigkeit z.B. auf dem Bau oder als Arbeiter in der Industrie unmöglich wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
19Ihm ist daher das Einkommen aus einer Vollzeittätigkeit zum Mindestlohn fiktiv zuzurechnen. Dieses beläuft sich bei 173 Arbeitsstunden im Monat zu 9,35 € auf 1.617,55 € brutto, was netto rund 1.203 € entspricht. Zusätzlich ist ihm eine Nebentätigkeit im Rahmen eines Mini-Jobs zuzurechnen, weil er angesichts der gesteigerten Erwerbsobliegenheit gehalten ist, eine Nebentätigkeit bis zur arbeitsrechtlichen Höchstgrenze von insgesamt 48 Wochenstunden aufnehmen (vgl. BGH FamRZ 2011, 1041; OLG Köln NJW 2007, 444, 445 und FamRZ 2012, 315; OLG Brandenburg a.a.O.). Zu denken ist etwa an das Austragen von Zeitungen, Taxifahren, an Jobs in der Gastronomie, an Tankstellen oder auch im Bereich der Gebäudereinigung. Ihm sind insofern weitere 450 € fiktiv zuzurechnen, was in der Summe 1.653 € netto ergibt. Dieses Einkommen ist um fiktive berufsbedingte Aufwendungen in Höhe von 5% zu bereinigen, womit 1.570 € verbleiben. Selbst unter Berücksichtigung seiner Verbindlichkeiten in Höhe von insgesamt 60 € (wobei diese ggf. aus dem Selbstbehalt zu zahlen wären) und des Selbstbehalts von 1.160 € verbleiben ihm 350 €, womit er zur Zahlung des Mindestunterhalts imstande ist.
20Bei der Höhe ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Bedarf der Antragstellerin im September und Oktober 2020 neben dem Kindergeld auch durch den Kinderbonus teilweise gedeckt wird (Niepmann, NZFam 2020, 606). Der Kinderbonus ist wie das Kindergeld hälftig auf den Barunterhalt anzurechnen. Der Kinderbonus beträgt 300 € pro Kind und wurde im September in Höhe von 200 € und im Oktober in Höhe von 100 € ausgezahlt. Für Oktober sind der Antragstellerin daher nur 322 € – 50 € = 272 € zuzusprechen. Ab November ist der volle Tabellenunterhalt zu titulieren.
21Zum Rückstand: Im September sind 100 € (von 200 €) des Kinderbonus anzurechnen, was den Rückstand beim Jobcenter auf 2 € reduziert. Der Umstand, dass der Kinderbonus nicht auf Sozialleistungen anzurechnen ist (vgl. Niepmann a.a.O.), bedeutet nicht, dass er beim Rückgriff durch das Jobcenter keine Auswirkungen hätte. Denn es ist nur der vom Antragsgegner geschuldete reduzierte Unterhaltsanspruch für September auf das Jobcenter übergegangen. Für die Monate Juni, Juli und August verbleibt es dagegen bei monatlich 102 €, die wegen des Anspruchsübergangs an das Jobcenter zu zahlen sind.
22Zahlungen an die Unterhaltsvorschusskasse sind dagegen nicht geschuldet, weil der Antragsgegner unstreitig monatlich 220 € an die Unterhaltsvorschusskasse zahlt und damit den Unterhaltsanspruch insoweit erfüllt.
23Die Kostenentscheidung folgt aus § 243 Nr. 1 FamFG, §§ 91, 92, 269 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 113 Abs. 1 FamFG. Dabei war das teilweise Unterliegen der Antragstellerin ebenso wie die Teilrücknahme durch den geänderten Antrag vom 7.9.2020 zu berücksichtigen.
24Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit beruht auf § 116 Abs. 3 S. 2 u. 3 FamFG. Diese war allerdings nur in Bezug auf den laufenden Unterhalt und nicht für den Rückstand auszusprechen.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 40.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über den Antrag auf Zulassung der Berufung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§§ 87a Abs. 2 und 3, 125 Abs. 1 VwGO).
3Der Berufungszulassungsantrag hat keinen Erfolg.
4Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Der Kläger stützt seinen Antrag auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1, 2 und 3 VwGO.
5I. Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils liegen vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
6Vgl. statt vieler BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 ‑, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 28 ff. m. w. N.; VerfGH NRW, Beschluss vom 17. Dezember 2019 - 56/19.VB-3 ‑, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.
7Nach diesem Maßstab liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, mit welchem das Verwaltungsgericht einen Anspruch des Klägers, das Prüfungsamt zu verpflichten, über seine Zweite Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe II und für das Lehramt für die Sekundarstufe I unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden, verneint hat, nicht vor.
81. Ernstliche Zweifel liegen zunächst nicht deshalb vor, weil der erste Satz des Tatbestandes des angefochtenen Urteils statt auf die Sekundarstufen I und II auf das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen verweist. Nicht nur, dass dies eine unschädliche Falschbezeichnung sein dürfte. Vor allem handelt es sich hierbei weder um einen tragenden Rechtssatz noch um eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts, die für das Entscheidungsergebnis von Bedeutung gewesen wäre.
9Vgl. zur Kausalitätsprüfung BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2016 - 1 BvR 2453/12 ‑, NVwZ 2016, 1243, juris, Rn. 16 f.; BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004 ‑ 7 AV 4/03 ‑, NVwZ-RR 2004, 542, juris, Rn. 8 ff.
102. Ernstliche Zweifel liegen auch insoweit nicht vor, als der Kläger die Feststellung des Verwaltungsgerichts für falsch hält, die Langzeitbeurteilung des Schulleiters der Ausbildungsschule vom 16. Februar 2017 leide zwar an Verfahrensfehlern, dies habe sich aber auf das Ergebnis der Langzeitbeurteilung nicht ausgewirkt. Der Kläger ist der Auffassung, es könne nicht mehr auf die neue Langzeitbeurteilung vom 16. Februar 2017 ankommen. Die ursprüngliche Langzeitbeurteilung vom 30. September 2016 sei im Widerspruchsbescheid vom 15. März 2017 aufgehoben und entsprechend durch diejenige vom 16. Februar 2017 ersetzt worden. Nach einer Ende 2017 vorgenommenen Rechtsprechungsänderung des beschließenden Senats habe das Prüfungsamt jedoch selbst erklärt, die Prüfungsentscheidung werde nicht länger auf diese neue Langzeitbeurteilung vom 16. Februar 2017 gestützt. Damit gebe es überhaupt keine Langzeitbeurteilung der Ausbildungsschule mehr, die die Prüfungsentscheidung tragen könne.
11Demgegenüber ist die Würdigung des Verwaltungsgerichts (S. 12 bis 16 des Urteils), das Schulleitergutachten vom 16. Februar 2017 werde den aktuellen Anforderungen des beschließenden Senats zwar nicht gerecht, dies habe sich jedoch aus mehreren Gründen auf das Ergebnis der Langzeitbeurteilung nicht ausgewirkt, nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat einen zutreffenden Prüfungsmaßstab angelegt, wonach Verwaltungsgerichte nach der Feststellung von Verfahrens- und Bewertungsfehlern zu prüfen haben, ob Auswirkungen dieser Fehler auf das Ergebnis ausgeschlossen werden können. Sind solche Auswirkungen mit der erforderlichen Gewissheit auszuschließen, so folgt aus dem Grundsatz der Chancengleichheit, dass ein Anspruch auf Neubewertung nicht besteht, weil sich die Prüfungsentscheidung im Ergebnis als zutreffend und damit rechtmäßig darstellt. Die gerichtliche Kausalitätsprüfung darf jedoch nicht in den prüfungsspezifischen Bewertungsspielraum der Prüfer eindringen.
12Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. September 2012 - 6 B 35.12 ‑, NVwZ-RR 2013, 42, juris, Rn. 10 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 31. März 2020 - 19 A 3167/18 ‑, juris, Rn. 17 f., vom 13. Juni 2019 - 6 A 2997/17 ‑, juris, Rn. 48, und Urteil vom 17. Januar 2017 - 14 A 1460/16 ‑, juris, Rn. 28.
13Unter Anlegung der genannten Grundsätze hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass sich der Fehler unter anderem deshalb nicht auf das Ergebnis der Bewertung habe auswirken können, weil die später überarbeitete ursprüngliche Langzeitbeurteilung vom 30. September 2016, welche die frühere Langzeitbeurteilung an der ersten Ausbildungsschule tatsächlich zugrunde gelegt habe, ebenfalls bereits die Endnote „ungenügend“ ausweise. Die Erheblichkeit des Fehlers scheide unter anderem aus diesem Gesichtspunkt aus. Dies gelte unabhängig davon, ob das Prüfungsamt die Langzeitbeurteilung vom 30. September 2016 im Widerspruchsverfahren wirksam aufgehoben habe oder dies überhaupt dürfe. Diese zutreffende Bewertung des Verwaltungsgerichts zur Ergebnisrelevanz des festgestellten Verfahrensfehlers vermag der Kläger mit seiner unsubstantiierten Kritik zum Verhältnis der beiden Langzeitbeurteilungen vom 30. September 2016 und vom 16. Februar 2017 nicht in Zweifel zu ziehen. Auf die konkreten Ausführungen zur Kausalitätsprüfung im Urteil geht er nicht ein.
14Das Verwaltungsgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass die angegriffene Prüfungsentscheidung weiterhin auf der Langzeitbeurteilung vom 16. Februar 2017 beruht. Mit der im Schriftsatz vom 12. April 2018 abgegebenen Erklärung, dass der angegriffene Bescheid nicht länger auf diese Langzeitbeurteilung gestützt werde, hat der Beklagte lediglich deutlich gemacht, dass er nicht in Frage stellt, dass die Langzeitbeurteilung vom 16. Februar 2017 nach der aktuellen Rechtsprechung als fehlerhaft anzusehen ist, dies sich aber angesichts der den rechtlichen Vorgaben entsprechenden Langzeitbeurteilung vom 30. September 2016 hier nicht auf die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids auswirkt.
153. Die weitere Kritik des Klägers, es fehle im angefochtenen Urteil „eine Positionierung hinsichtlich der Fehlerhaftigkeit oder Fehlerfreiheit (der Langzeitbeurteilung vom 16. Februar 2017), weshalb ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung“ bestünden, geht fehl. Das Verwaltungsgericht hat ohne Raum für Zweifel festgestellt, dass die Langzeitbeurteilung vom 16. Februar 2017 den formellen Anforderungen des beschließenden Senats an Langzeitbeurteilungen,
16OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017 - 19 A 811/16 ‑, juris, Rn. 76 ff.,
17nicht gerecht werde, dies sich aber nicht auf das Ergebnis der Bewertung ausgewirkt habe (siehe oben I.2). Ein „Hin und Her“ des Verwaltungsgerichts in diesem Punkt gibt es schlicht nicht.
184. Auf ernstliche Zweifel am angefochtenen Urteil führt auch nicht die Rüge des Klägers, es deute nichts darauf hin, dass die Langzeitbeurteilung der Schulleiterin der früheren Ausbildungsschule vom 23. Januar 2015 bei der Langzeitbeurteilung vom 30. September 2016 Berücksichtigung gefunden habe. Diesem Einwand ist bereits das Verwaltungsgericht überzeugend entgegengetreten. Unter Berücksichtigung des Maßstabs, dass Langzeitbeurteilungen nicht der Überprüfung der vorangegangenen Bewertungen dienen, sondern inhaltlich und zeitlich auf den vorangegangenen Langzeitbeurteilungen aufbauen,
19OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017, a. a. O., Rn. 80,
20hat sich das Verwaltungsgericht – stichprobenartig – vergleichend den beiden Langzeitbeurteilungen formal wie inhaltlich gewidmet und im Einzelnen Belege dafür angeführt, dass der Schulleiter seinem Langzeitgutachten vom 30. September 2016 gerade auch dasjenige der Schulleiterin der früheren Ausbildungsschule vom 23. Januar 2015 zugrundegelegt habe (S. 16 f. des Urteils). Dem tritt das Zulassungsvorbringen nicht ansatzweise substantiiert entgegen.
21Schließlich verfehlt das Zulassungsvorbringen mit seinen Rügen, zum einen sei keine „überarbeitete“ Langzeitbeurteilung des Schulleiters vom 16. Februar 2017 bekannt, sondern nur die mit dem Widerspruchsbescheid vorgelegte Fassung, zum anderen gehe es nicht um einen Begründungsaustausch, sondern nur um die „Aufhebungsproblematik“, jeweils die Begründungsstruktur des angefochtenen Urteils. Die „überarbeitete Langzeitbeurteilung des Schulleiters des T. -Gymnasiums vom 16. Februar 2017“ (S. 17 des Urteils) ist schlicht und einfach die im Widerspruchsverfahren übersandte Fassung. Außerdem hat das Verwaltungsgericht die Problematik einer wirksamen Aufhebung der früheren Langzeitbeurteilung vom 30. September 2016 in den Blick genommen, jedoch wegen der rechtsfehlerfreien Annahme ihrer Unerheblichkeit offen gelassen (S. 15 f. des Urteils). Dass das Verwaltungsgericht darüber hinaus bei seiner Überprüfung der maßgeblichen Langzeitbeurteilung vom 16. Februar 2017 einen etwaigen unzulässigen Begründungsaustausch,
22vgl. dazu OVG NRW, Beschlüsse vom 31. März 2020, a. a. O., Rn. 9 f., und vom 30. Juli 2012 - 19 A 39/11 ‑, juris, Rn. 34,
23berücksichtigt hat, ist nicht zu beanstanden.
24II. Auch die Grundsatzrüge nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO bleibt erfolglos. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- oder Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.
25Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 2019 - 1 BvR 587/17 ‑, BVerfGE 151, 173, juris Rn. 33 m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 2. Dezember 2019 - 2 B 21.19 ‑, juris, Rn. 4 m. w. N.; OVG NRW, Beschlüsse vom 7. August 2018 ‑ 19 A 355/18.A ‑, juris, Rn. 3, und vom 13. Februar 2018 - 1 A 2517/16 ‑, juris, Rn. 32.
26Diesen Darlegungsanforderungen genügt der Kläger nicht. Er formuliert keine Grundsatzfrage in diesem Sinne, sondern belässt es – ohne weitere darauf bezogene Begründung – bei der Benennung des Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache.
27III. Schließlich weist die Rechtssache nach den obigen Ausführungen (siehe I.) auch keine besonderen rechtlichen Schwierigkeiten (Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) auf. Im Übrigen enthält das Zulassungsvorbringen hierzu keinen Vortrag.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
29Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 36.2 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
30Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag der Antragstellerin,
3die Satzung der Antragsgegnerin über die Anordnung einer Veränderungssperre für das Gebiet des Bebauungsplans Nr. 5 „Windenergie N. “ im Ortsteil N. der Stadt T. vom 24. Juni 2020 bis zur Entscheidung über den Normenkontrollantrag im Verfahren 2 D 134/20.NE außer Vollzug zu setzen,
4hat keinen Erfolg. Er ist zwar zulässig, aber unbegründet.
5I. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist die Antragstellerin im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO antragsbefugt. Sie plant im Geltungsbereich der Veränderungssperre, zwei Windenergieanlagen im Wege eines Repowerings zu errichten. Die hierfür gestellten immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsanträge sind nach ihren unwidersprochen gebliebenen und nach dem Inhalt der von der Antragsgegnerin vorgelegten Aufstellungsvorgänge plausiblen Angaben entscheidungsreif.
6II. Der Antrag ist unbegründet. Die materiellen Voraussetzungen für die begehrte Außervollzugsetzung der angegriffenen Veränderungssperre liegen nicht vor.
7Das Normenkontrollgericht kann gemäß § 47 Abs. 6 VwGO eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
8Der Begriff „schwerer Nachteil“ stellt an die Aussetzung des Vollzugs einer (untergesetzlichen) Norm erheblich strengere Anforderungen, als § 123 VwGO sie sonst an den Erlass einstweiliger Anordnungen stellt. Eine Außervollzugsetzung ist nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen gerechtfertigt, die durch Umstände gekennzeichnet sind, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabweisbar erscheinen lassen.
9Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Mai 1998 - 4 VR 2.98 -, NVwZ 1998, 1065 = juris Rn. 3; OVG NRW, Beschlüsse vom 14. Juni 2012 - 2 B 379/12.NE -, juris Rn. 8, und vom 10. April 2015 - 2 B 177/15.NE -, beide m. w. N.
10Der bloße Vollzug eines Bebauungsplans stellt noch keinen schweren Nachteil in diesem Sinne dar. Ein schwerer Nachteil, der die Außervollzugsetzung eines Bebauungsplans nach § 47 Abs. 6 VwGO rechtfertigt, ist - regelmäßig, so auch hier – (nur) dann zu bejahen, wenn die Verwirklichung des angegriffenen Bebauungsplans in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht eine schwerwiegende Beeinträchtigung rechtlich geschützter Positionen des jeweiligen Antragstellers konkret erwarten lässt.
11Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. Juni 2012
12- 2 B 379/12.NE -, juris Rn. 10, m. w. N. zur Rechtsprechung der weiteren Bausenate des OVG NRW.
13Für die Außervollzugsetzung einer Veränderungssperre gilt dieser strenge Maßstab gleichermaßen. Dass die Veränderungssperre die Baugenehmigungsbehörde daran hindert, eine beantragte Baugenehmigung bzw. einen Bauvorbescheid zu erteilen, ist die regelmäßige gesetzliche Folge dieses Instruments der Planungssicherung.
14Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 23. Juni 2020 – 2 B 581/20.NE -, ZNER 2020, 346 = juris Rn. 12, vom 7. Februar 2017 ‑ 2 B 994/16.NE -, NVwZ-RR 2017, 757 = juris, vom 18. Mai 2016 – 2 B 282/16.NE -, juris, und vom 23. Juni 2014 - 2 B 418/14.NE -, juris; OVG Saarl., Beschluss vom 25. Oktober 2012 - 2 B 217/12 -, juris Rn. 22.
15„Aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten“ sein kann die Außervollzugsetzung des Bebauungsplans, wenn dieser sich bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtsfehlerhaft erweist und von einem Erfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren auszugehen ist. Da § 47 Abs. 6 VwGO einstweiligen Rechtsschutz jedoch grundsätzlich nur im individuellen Interesse des jeweiligen Antragstellers gewährt, setzt die Außervollzugsetzung eines offensichtlich unwirksamen Bebauungsplans weiter voraus, dass seine Umsetzung den jeweiligen Antragsteller - unterhalb der Schwelle des schweren Nachteils - konkret so beeinträchtigt, dass die einstweilige Anordnung jedenfalls dringend geboten ist.
16Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2. Juli 2015
17‑ 10 B 530/15.NE -, vom 10. Februar 2015 - 2 B 1323/14.NE -, juris Rn. 42, und vom 1. Juli 2013
18- 2 B 599/13.NE -, juris Rn. 39, alle m. w. N.
19Gemessen an diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für eine Außervollzugsetzung des angegriffenen Bebauungsplans nicht vor.
201. Schwere individuelle Nachteile drohen der Antragstellerin durch den Vollzug der Veränderungssperre nicht. Solche macht sie auch nicht geltend, sondern beruft sich ausdrücklich allein auf die ihrer Ansicht nach offensichtliche Rechtswidrigkeit der Satzung und ihr deshalb drohende Nachteile „unterhalb der Schwelle des schweren Nachteils“.
212. Unter Würdigung der Antragsbegründung ist die Außervollzugsetzung hier auch nicht aus anderen Gründen dringend geboten. Nach der allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung ist die angegriffene Veränderungssperre nicht offensichtlich rechtswidrig.
22Formelle Mängel macht die Antragstellerin nach der erneuten Ausfertigung und Bekanntmachung der Satzung über die Veränderungssperre am (18. September 2020 und) 23. September 2020 rückwirkend zum 1. Juli 2020 in substantiierter Form nicht mehr geltend. Ihre Zweifel, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 2 GO NRW in der Fassung des Gesetzes vom 14. April 2020 (GV. NRW. S. 218b) vorgelegen haben, greifen jedenfalls nicht offensichtlich durch. Im Gegenteil enthält der Eingangstext der Sitzungsniederschrift vom 5. Juni 2020 (Bl. 305 der Aufstellungsvorgänge) den Hinweis, dass der Rat dem Haupt- und Finanzausschuss seine Befugnisse für diese Sitzung übertragen habe. Dies wird in der Sache gestützt durch ein per E-Mail mitgeteiltes Ergebnis einer schriftlichen Delegationsanfrage (§ 60 Abs. 1 Satz 3 GO NRW), wonach 37 Ratsmitglieder der Übertragung zugestimmt haben, während sich sieben dagegen ausgesprochen und weitere sieben sich nicht gemeldet haben (Bl. 298/299 der Aufstellungsvorgänge). Anhaltspunkte dafür, dass dies der tatsächlichen Sachlage widersprechen könnte, sieht der Senat zumindest derzeit nicht.
23Die von der Antragstellerin vorgebrachten materiellen Einwände gegen die Veränderungssperre führen ebenfalls nicht auf ihre bereits bei summarischer Prüfung offensichtliche Rechtwidrigkeit. Es lässt sich derzeit nicht feststellen, dass die Voraussetzungen des § 14 BauGB zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses über die Veränderungssperre am 5. Juni 2020 nicht vorgelegen haben.
24Nach § 14 BauGB kann die Gemeinde, wenn ein Beschluss über die Aufstellung eines Bebauungsplans (wirksam) gefasst ist, zur Sicherung der Planung für den künftigen Planbereich eine Veränderungssperre mit dem Inhalt beschließen, dass Vorhaben im Sinne des § 29 BauGB nicht durchgeführt oder bauliche Anlagen nicht beseitigt werden dürfen.
25Eine Veränderungssperre kann nur verhängt werden, wenn die Planung einen Stand erreicht hat, der ein Mindestmaß dessen erkennen lässt, was Inhalt des zu erwartenden Bebauungsplans sein soll. Hierzu gehören regelmäßig insbesondere konkretisierte Vorstellungen zur angestrebten Art der zulässigen baulichen Nutzungen. Nur dann kann die Veränderungssperre ihren Sinn erfüllen, vorhandene planerische Ziele zu sichern und deren weitere Entwicklung zu ermöglichen. Unzulässig ist eine Veränderungssperre hingegen, wenn zum Zeitpunkt ihres Erlasses der Inhalt der beabsichtigten Planung noch in keiner Weise abzusehen ist. Demgemäß muss dann über den bloßen Aufstellungsbeschluss hinaus auch eine hinreichende Konkretisierung der Planungsabsichten vorliegen, die insbesondere eine Entscheidung über Ausnahmen nach § 14 Abs. 2 BauGB rechtssicher und vorhersehbar ermöglicht. Der der Veränderungssperre zugrunde liegende Beschluss, einen Bebauungsplan aufzustellen, muss über den Inhalt der angestrebten Planung aber keinen abschließenden Aufschluss geben. Eine strikte Akzessorietät zwischen konkreten Planungsabsichten der Gemeinde und der Rechtmäßigkeit der Veränderungssperre besteht nicht. Es ist gerade deren Sinn, vorhandene planerische Ziele zu sichern und deren weitere Entwicklung zu ermöglichen. Wesentlich ist aber, dass die Gemeinde bereits positive Vorstellungen über den Inhalt des Bebauungsplans entwickelt hat. Eine Negativplanung, die sich darin erschöpft, einzelne Vorhaben auszuschließen, reicht grundsätzlich nicht aus.
26Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 21. Oktober 2010 - 4 BN 26.10 -, BRS 76 Nr. 108 = juris Rn. 6, und vom 1. Oktober 2009 - 4 BN 34.09 -, NVwZ 2010, 42 = juris Rn. 9, Urteil vom 19. Februar 2004 ‑ BVerwG 4 CN 16.03 - BVerwGE 120, 138 = juris Rn. 28, Beschlüsse vom 30. September 1992 ‑ 4 NB 35.92 -, BRS 54 Nr. 72 = juris Rn. 6, und vom 9. August 1991 - 4 B 135.91 -, juris Rn. 3; OVG NRW, Urteile vom 11. April 2016 ‑ 2 D 30/15.NE - juris, und vom 26. Februar 2009 ‑ 10 D 40/07.NE -, juris Rn. 44 ff., sowie Beschlüsse vom 23. Juni 2020 – 2 B 581/20.NE -, ZNER 2020, 346 = juris Rn. 27, und vom 16. März 2012 - 2 B 202/12 -, BRS 79 Nr. 119 = juris Rn. 14.
27Dabei gilt der Grundsatz, dass eine eine Veränderungssperre hinreichend tragende Planung regelmäßig erst dann den erforderlichen Konkretisierungsgehalt hat, wenn der Plangeber sie auf einen bestimmten Gebietstyp ausgerichtet hat.
28Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8. Mai 2018 - 2 D 44/17.NE -, BRS 86 Nr. 48 = juris Rn. 44, und Beschluss vom 23. Juni 2020 – 2 B 581/20.NE -, ZNER 2020, 346 = juris Rn. 29; Mitschang, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB-Kommentar, 14. Auflage 2019, § 14 Rn. 9.
29Zielt der Bebauungsplan nicht auf die Festsetzung eines bestimmten Gebietstyps nach der Baunutzungsverordnung, sondern soll er sich auf sonstige Festsetzungen nach § 9 Abs. 1 BauGB beschränken, ist ein hinreichender Konkretisierungsgrad mit Blick auf § 14 Abs. 2 BauGB erst dann erreicht, wenn sich den Planungsvorstellungen ein hinreichend konkreter Gebietsbezug dergestalt entnehmen lässt, für welche Teile des Plangebietes welche dieser Festsetzungen in Betracht gezogen wird.
30OVG NRW, Beschluss vom 23. Juni 2020 – 2 B 581/20.NE -, ZNER 2020, 346 = juris Rn. 31.
31Hiervon ausgehend lagen zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses über die Veränderungssperre am 5. Juni 2020 schon hinreichend konkretisierte Planungsvorstellungen der Antragsgegnerin vor. Im am 27. Mai 2020 gefassten Aufstellungsbeschluss zum Bebauungsplan Nr. 5 heißt es zu den Zielen der Planung wörtlich:
32„Mit der Aufstellung des Bebauungsplanes Nr. 5 „Windenergie N. “ …. werden folgende Planungsziele verfolgt:
33• Festsetzungen zu Art und Maß der baulichen Nutzung, insbesondere Festsetzung eines sonstigen Sondergebietes zum Zwecke der Windenergienutzung, Festsetzungen zu Standorten für Windenergieanlagen (Baufenster) sowie Festsetzungen zur Höhenbeschränkung, unter Umständen nach Standorten differenziert
34• Festsetzungen zu den Verkehrsflächen
35• Ermittlung und Festsetzung des erforderlichen Grünausgleichs“
36In der Begründung der Veränderungssperre selbst ist insoweit ausgeführt, der Bebauungsplan diene dazu, gezielt Standorte für die Windenergieanlagen festzulegen und ihre maximal zulässige Höhe zu regeln. Die derzeitige Höhenbegrenzung von max. 100 m Gesamthöhe solle aufgegeben und statt dessen eine neue zulässige Gesamthöhe festgelegt werden, die einerseits die Anlagenanforderungen der privilegierten Windkraft einbeziehe und andererseits die konkreten örtlichen Standortbedingungen berücksichtige.
37Damit hat der Plangeber sowohl eine konkrete Vorstellung zur Art der baulichen Nutzung (sonstiges Sondergebiet Windenergienutzung nach § 11 BauNVO) entwickelt als auch weitere feinsteuernde Festsetzungen (Baufenster, Höhenfestsetzungen) konkret ins Auge gefasst. Dies erlaubt zugleich, rechtssicher über Ausnahmen zu entscheiden.
38Somit erschöpft sich die angedachte Bebauungsplanung auch nicht in einer reinen Verhinderung der Nutzungswünsche der Antragstellerin. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass die (positiven) Zielsetzungen nur vorgeschoben sind und die Antragsgegnerin in Wahrheit allein eine Negativplanung verfolgte, ergeben sich aus den Aufstellungsvorgängen nicht. Belastbare Indizien für eine derartige Annahme zeigt auch die Antragstellerin nicht auf. Sie unterstellt der Antragsgegnerin vielmehr eher pauschal, sie verfolge mit der Planung lediglich die negative Zielvorstellung der Verhinderung ihres Bauwunsches. Es ist der Gemeinde indes nicht verwehrt, auf einen konkreten Bauantrag mit der Aufstellung bzw. Änderung eines Bebauungsplans zu reagieren, um ihm die materielle Rechtsgrundlage zu entziehen. Entscheidend ist, ob eine bestimmte Planung - auch wenn sie durch den Wunsch, ein konkretes Vorhaben zu verhindern, ausgelöst worden ist - für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. § 1 Abs. 3 BauGB erkennt die gemeindliche Planungshoheit an und räumt der Gemeinde ein Planungsermessen ein. Ein Bebauungsplan ist deshalb in diesem Sinne erforderlich, soweit er nach der planerischen Konzeption der Gemeinde städtebaulich gerechtfertigt ist. Dabei ist entscheidend, ob die getroffene Festsetzung in ihrer eigentlichen, gleichsam positiven Zielsetzung gewollt und erforderlich ist. Sie darf nicht nur das vorgeschobene Mittel sein, um einen Bauwunsch zu durchkreuzen. Letzteres kann aber nicht schon dann angenommen werden, wenn die negative Zielrichtung der Planung im Vordergrund steht. Auch eine zunächst nur auf die Verhinderung einer - aus der Sicht der Gemeinde - Fehlentwicklung gerichteten Planung kann einen Inhalt haben, der rechtlich nicht zu beanstanden ist.
39Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 1990 - 4 NB 8.90 -, BRS 50 Nr. 9; Urteil vom 9. August 1991 - 4 B 135.91 -, Buchholz 406.11, § 14 BauGB Nr. 17; Urteil vom 19. Februar 2004 - 4 CN 13.03 -, BVerwGE 120, 138 = juris Rn. 28; OVG NRW, Urteile vom 11. April 2016 - 2 D 30/15.NE -, juris, und vom 26. Februar 2009 - 10 D 40/07.NE -, juris; Beschluss vom 16. März 2012 - 2 B 202/12 -, BRS 79 Nr. 119 = juris Rn. 14 ff.
40Insoweit vermag der Senat nicht zu unterstellen, dass das etwa in der Begründung der Veränderungssperre angeführte Ziel eines Interessenausgleichs, der auch und gerade die Interessen der Betreiber von Windkraftanlagen berücksichtigt, von der Antragsgegnerin tatsächlich nicht ernsthaft verfolgt werden wird. Im Gegenteil wird die Antragsgegnerin in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse gehalten sein, diesen Interessen im vorliegenden Planungsverfahren maßgebliche Bedeutung beizumessen und (weiterhin) eine wirtschaftlich sinnvolle, den heutigen Erfordernissen entsprechende Gestaltung der baulichen Ausnutzbarkeit des Sondergebietes zu gewährleisten. Denn eine Bauleitplanung, die dazu führte, die Ausnutzbarkeit ihrer einzigen Vorrangfläche so zu steuern, dass sie zukünftig faktisch nicht ausgenutzt werden könnte, wäre nicht nur mit ihrer Flächennutzungsplanung – deren Wirksamkeit an dieser Stelle unterstellt – unvereinbar, sondern führte für sich genommen bereits dazu, dass der gesamte Außenbereich für die Windenergienutzung geöffnet wäre. Es stünde nämlich dann außer Zweifel, dass der Windkraftnutzung im Gemeindegebiet planerisch überhaupt kein Raum mehr zur Verfügung stehen würde. Eine Ausschlusswirkung könnte der Flächennutzungsplan dann jedenfalls deshalb nicht mehr entfalten, ohne dass es insoweit darauf ankäme, ob die Ausschlusswirkung bereits heute aus den von der Antragstellerin angeführten Gründen unwirksam ist.
41Auch im Übrigen bedarf es keiner abschließenden Entscheidung über die von der Antragstellerin ausführlich dargelegten Zweifel an der Wirksamkeit der 130. Änderung des Flächennutzungsplanes, deren Berechtigung allerdings in Ansehung der von ihr angeführten Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts, soweit es um Fragen des Verfahrens einschließlich der Bekanntmachung geht, auf der Hand liegen und ,soweit es um materielle Einwände geht, jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen erscheinen.
42Denn nach vorläufiger Einschätzung des Senats führen die Bedenken dessen unbeschadet in jedem Fall nicht zur (offensichtlichen) Unwirksamkeit des Bebauungsplanes Nr. 5 der Antragsgegnerin und stellen damit auch nicht die städtebauliche Legitimität der durch die angegriffene Veränderungssperre gesicherten Planungsziele in Frage. Die Veränderungssperre bleibt auch ohne eine wirksame Konzentrationszonenplanung als Sicherungsmittel geeignet, weil sich das Planungsziel des Bebauungsplans selbst dann noch rechtmäßig erreichen lässt. Eine Veränderungssperre ist nur dann ungeeignet, wenn sich das aus dem Aufstellungsbeschluss ersichtliche Planungsziel im Wege planerischer Festsetzung nicht erreichen lässt, wenn der beabsichtigte Bebauungsplan einer positiven Planungskonzeption entbehrt oder der Förderung von Zielen dient, für deren Verwirklichung die Planungsinstrumente des Baugesetzbuchs nicht bestimmt sind, oder wenn rechtliche Mängel schlechterdings nicht behebbar sind. (Nur) eine Veränderungssperre, die eine offensichtlich unzulässige Bebauungsplanung sicherstellen soll, ist unwirksam.
43Vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 1993 - 4 NB 40.93 -, NVwZ 1994, 685 = juris Rn. 3; OVG NRW, Urteile vom 23. Mai 2019 – 2 D 39/18.NE -, BauR 2020, 80 = juris Rn. 38, vom 26. Februar 2009 - 10 D 40/07.NE -, juris Rn. 57, und vom 11. März 2004 - 7a D 103/03.NE -, juris Rn. 20 und 38.
44Dafür bestehen jedenfalls derzeit keine durchgreifenden Anhaltspunkte. Selbst unter der Annahme, dass die 130. Änderung des Flächennutzungsplanes unwirksam ist, kann hier der Bebauungsplan als aus dem dann geltenden Flächennutzungsplan entwickelt betrachtet werden. Denn insoweit käme dann wieder die ursprüngliche Ausweisung als Fläche für die Landwirtschaft zum Tragen, die – wie die Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung zu Recht ausgeführt hat – einer bauleitplanerischen Ausweisung eines Sondergebietes Windenergie nicht entgegengehalten werden könnte. Dies gilt hier umso weniger, als Windenergieanlagen unter dieser Prämisse im gesamten Außenbereich der Stadt T. ohnehin zulässig wären, ohne dass dies im positiven Sinne im Flächennutzungsplan eigens dargestellt werden müsste.
45In diesem Fall spricht auch nichts Offensichtliches dafür, dass der Bebauungsplan seine ihm zugedachte Ordnungsfunktion nicht mehr erfüllen könnte. Diese steht jedenfalls nicht offensichtlich unter dem Vorbehalt, dass tatsächlich im übrigen Außenbereich der Antragsgegnerin Windenergieanlagen ausgeschlossen sind. Dies mag zwar der Vorstellung des Bebauungsplaners entsprechen. Anhaltspunkte dafür, dass damit diese Planung „stehen und fallen“ sollte, sind den Aufstellungsvorgängen indes bereits nicht zu entnehmen. Dagegen liegt auf der Hand, dass dem durch die konkreten Bauwünsche der Antragstellerin angestoßenen Steuerungsinteresse der Antragsgegnerin für das Bebauungsplangebiet auch dann Rechnung getragen werden kann, wenn auch andere Flächen im Stadtgebiet für die Nutzung der Windenergie zur Verfügung stünden, zumal entsprechende Nutzungswünsche für andere Standorte weder geltend gemacht noch ersichtlich sind. Eine planerische Notwendigkeit, hier ebenfalls steuernd einzugreifen, musste sich dem Plangeber damit nicht aufdrängen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich Windenergieanlagen im Stadtgebiet bisher tatsächlich nur im Bereich bzw. Umfeld des Bebauungsplans Nr. 5 finden.
46Vor diesem Hintergrund führt die Tatsache, dass der Bebauungsplan Nr. 5 nicht die gesamte Vorrangzone der 130. Änderung umfasst, dafür aber in Teilen über deren Grenzen deutlich hinausgeht, ebenfalls nicht zwangsläufig auf eine Rechtswidrigkeit des Bebauungsplans insgesamt. Selbst wenn insoweit die Beachtung des Entwicklungsgebots möglicherweise nicht zur Gänze auf der Hand liegt, dürfte dies jedenfalls die hier allein in Rede stehenden tatsächlichen Überschneidungsflächen (in der Diktion der Antragsgegnerin der Kern der Vorrangzone) nicht betreffen.
47Zur grundsätzlich möglichen Teilbarkeit vgl. OVG M.-V., Urteil vom 17. Juni 2015 – 3 L 50.13 -, NVwZ-RR 2016, 14 = juris Rn. 61.
48Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Grenzen des Bebauungsplangebiets im Laufe des Planungsverfahrens ebenfalls Änderungen erfahren können.
49Vgl. Mitschang, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB – Kommentar, 14. Aufl. 2019, § 14 Rn. 6, m. w. N.
50Ob dies hier erforderlich werden wird, kann vor Abschluss des Planungsverfahrens allerdings nicht beantwortet werden. Erst dann wird gegebenenfalls auch zu beurteilen sein, wie sich die – auch in § 1 der angefochtenen Veränderungssperre verwandte – textliche Beschreibung des Bebauungsplangebietes als „grob im Bereich der Vorrangzone“ liegend die tatsächlichen Verhältnisse eher sinnentstellend wiedergibt. Weder umfasst das Bebauungsplangebiet die gesamte Vorgangzone, noch geht es über deren Grenzen nur „geringfügig“ (so Seite 9 der Antragserwiderung) hinaus. Tatsächlich dürften etwa 50 % des Plangebietes außerhalb der Konzentrationszone liegen. Für das vorliegende Verfahren spielt dies indes keine Rolle, weil sich die Grenzen des Bebauungsplangebiets aus der vermaßten Karte der Anl. 1 eindeutig ergeben und die mitausgefertigte Anl. 1 zur Satzung über die Anordnung einer Veränderungssperre diese zeichnerische Gebietsfestlegung ebenfalls übernimmt. Durchgreifende Bestimmtheitsbedenken bestehen damit nicht.
51Angesichts des Umstandes, dass dem Plangeber zumindest bewusst ist, dass die im derzeitigen Flächennutzungsplan vorgesehene Höhenbegrenzung auf 100 m nicht mehr tragfähig ist und er insoweit ein Verfahren zur 198. Änderung seines Flächennutzungsplanes bereits angestoßen hat, läuft das mit dem Bebauungsplan Nr. 5 verfolgte Ziel, eine Höhenbegrenzung jedenfalls jenseits von 100 m festzusetzen, auch nicht handgreiflich auf ein rechtmäßiger Weise nicht zu erreichendes Planungsziel hinaus. Im Zusammenhang mit den Ausführungen in der Antragserwiderung merkt der Senat in diesem Zusammenhang indes an, dass die 198. Änderung nach dem derzeitigen Planungsstand offensichtlich im Verhältnis zur 130. Änderung des Flächennutzungsplanes unselbstständig ist, in ihrem Bestand also in jedem Fall von der Rechtmäßigkeit der 130. Änderung abhängt. Es ist jedenfalls weder geltend gemacht noch ersichtlich, dass im Rahmen der 198. Änderung eine Gesamtbetrachtung des Außenbereiches vorgesehen sein könnte. Aus diesem Grunde dürfte sich die in der Antragserwiderung angesprochene Möglichkeit, den Zuschnitt der Vorrangzone durch die 198. Änderung zu verändern (Verkleinerung in Nord-Süd-Richtung, Vergrößerung der Ost-West-Ausdehnung) als Eingriff in das bzw. Änderung des nach Auffassung der Antragsgegnerin wohl den Anforderungen an ein schlüssiges gesamträumliches Planungskonzept genügende(n) Regelungsgefüge(s) der 130. Änderung von vornherein verbieten.
52Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
53Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 GKG i. V. m. Nrn. 8b, 14a des Streitwertkatalogs der Bausenate des OVG NRW vom 22. Januar 2019 (BauR 2019, 610 f.).
54Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.
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