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JURE100055033
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100114
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IX ZB 72/08
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Beschluss
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§ 4 InsO, § 13 ZPO, § 251 ZPO
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vorgehend LG Aachen, 17. März 2008, Az: 6 T 104/07, Beschluss vorgehend AG Aachen, 13. Februar 2007, Az: 92 IN 9/07
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DEU
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Insolvenzverfahren: Anwendbarkeit der Vorschrift über das Ruhen des Verfahrens; Beschwerderecht des Insolvenzverwalters im Zusammenhang mit der Verfahrenseröffnung
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Der Antrag des weiteren Beteiligten zu 2 auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Aachen vom 17. März 2008 wird auf Kosten der Schuldnerin als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 50.000 € festgesetzt.
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1. Einer Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Schuldnerin das Ruhen des Verfahrens beantragt hat. Die Vorschrift über das Ruhen des Verfahrens (§ 251 ZPO) ist im grundsätzlich eilbedürftigen, auf eine rasche Befriedigung der Gläubiger angelegten Insolvenzverfahren und damit auch im Verfahren über eine insolvenzrechtliche Rechtsbeschwerde nicht anwendbar (MünchKomm-InsO/Ganter, 2. Aufl. § 4 Rn. 15; Jaeger/Gerhardt, InsO § 4 Rn. 57; HK-InsO/Kirchhof, 5. Aufl. § 4 Rn. 25; HmbKomm-InsO/Rüther, 3. Aufl. § 4 Rn. 57). Im Übrigen hat die weitere Beteiligte zu 1, die als Gläubigerin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt hat, als Rechtsbeschwerdegegnerin dem Antrag nicht zugestimmt.
2. Dem weiteren Beteiligten zu 2 kann nach § 4 InsO in Verbindung mit §§ 114 ff ZPO keine Prozesskostenhilfe gewährt werden, weil er im Rechtsbeschwerdeverfahren gegen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine eigenen Rechte verfolgen kann. Im Ausgangspunkt kann Prozesskostenhilfe nur der "Partei" gewährt werden (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dieser Begriff ist zwar weit auszulegen (vgl. Musielak/Fischer, ZPO 7. Aufl. § 114 Rn. 2); es ist deshalb anerkannt, dass die Vorschrift auch Antragsteller, Antragsgegner sowie die Streithelfer der Parteien erfasst. Der weitere Beteiligte zu 2 gehört im Streitfall als Insolvenzverwalter indes nicht zu diesem Personenkreis (vgl. MünchKomm-InsO/Ganter, aaO § 4 Rn. 21; Jaeger/Gerhardt, aaO § 4 Rn. 48). Er ist nicht berechtigt, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen (§ 13 Abs. 1 InsO). Auch ein Beschwerderecht räumt ihm die Insolvenzordnung im Zusammenhang mit der Verfahrenseröffnung nicht ein (BGH, Beschl. v. 8. März 2007 - IX ZB 163/06, ZIP 2007, 792).
3. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 7, 6, 34 Abs. 2 Satz 1 InsO, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO), aber unzulässig. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 574 Abs. 2 ZPO).
a) Die von der Rechtsbeschwerde für grundsätzlich erachtete Frage, ob eine nach dem Ausscheiden ihres vorletzten Gesellschafters erloschene, aber noch im Handelsregister eingetragene Kommanditgesellschaft nach dem Rechtsgedanken des § 15 HGB weiterhin insolvenzfähig ist, bedarf im Streitfall keiner Entscheidung, weil das Beschwerdegericht den Austritt der Gesellschafter aus der KG ohne zulassungsrelevanten Rechtsfehler als unwirksam nach § 117 BGB beurteilt hat; seine Rechtsauffassung zu § 15 HGB war daher nicht entscheidungserheblich.
b) Auch die Ausführungen des Beschwerdegerichts zum rechtlichen Interesse der weiteren Beteiligten zu 1 an der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 14 Abs. 1 InsO) begründen nicht die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde. Dass die Vorinstanzen den zugrunde liegenden Sachverhalt insoweit anders subsumiert haben als der zuständige Abteilungsrichter im Insolvenzverfahren betreffend das Vermögen des L. N., berührt nicht die Einheitlichkeit der Rechtsprechung i.S.v. § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO (BGH, Beschl. v. 16. September 2003 - XI ZR 238/02, NJW 2004, 1167).
c) Dahinstehen kann schließlich, ob das Beschwerdegericht die Forderung der U. GmbH gegen die Schuldnerin bei der Beurteilung des Eröffnungsgrundes der Zahlungsunfähigkeit trotz der Erklärung des "Generalbevollmächtigten" der U. GmbH betreffend eine angebliche Stundung dieser Forderung berücksichtigen durfte. Denn die Beurteilung des Beschwerdegerichts zur Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin wird bereits durch die unstreitig bestehende Umsatzsteuerforderung des Finanzamts G. getragen. Die von der Rechtsbeschwerde insoweit gerügte Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) liegt nicht vor.
Ganter Gehrlein Vill
Fischer Grupp
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055035
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100114
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IX ZB 76/09
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Beschluss
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§ 315 InsO, § 13 ZPO, § 16 ZPO, § 3 EGV 1346/2000
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vorgehend LG München I, 14. Februar 2009, Az: 14 T 352/09, Beschluss vorgehend AG München, 2. Oktober 2008, Az: 1542 IN 2678/08
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DEU
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Nachlassinsolvenzverfahren: Örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts; grenzüberschreitende Insolvenz; wohnsitzlose Person als Erblasser
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Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 14. Zivilkammer des Landgerichts München I vom 14. Februar 2009 wird auf Kosten des Antragstellers als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 50.000 € festgesetzt.
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Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit §§ 6, 7, 34 Abs. 1 InsO), jedoch unzulässig. Die nach § 574 Abs. 2 ZPO geltend gemachten Zulässigkeitsgründe liegen nicht vor; weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
1. Die Frage der örtlichen Zuständigkeit des Amtsgerichts München für die Eröffnung des Nachlassinsolvenzverfahrens wäre schon nicht entscheidungserheblich, wenn die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht gegeben wäre. Wäre § 3 EuInsVO für das Nachlassinsolvenzverfahren anwendbar (nach wohl herrschender Meinung ist dies zu bejahen; vgl. HK-InsO/Marotzke, 5. Aufl. § 315 Rn. 8 m.w.N.), schiede die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte aus, weil der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in Spanien hatte. Ein Zulässigkeitsgrund wird insoweit nicht dargelegt.
2. Ist § 3 EuInsVO nicht anwendbar, wird für die internationale und örtliche Zuständigkeit § 315 InsO maßgebend. Ausschließlich zuständig ist danach das Insolvenzgericht, in dessen Bezirk der Erblasser zur Zeit seines Todes seinen allgemeinen Gerichtsstand hatte. Dies richtet sich gemäß § 13 ZPO nach dem Wohnsitz. Bei wohnsitzlosen Personen ist gemäß § 16 ZPO allgemeiner Gerichtsstand der Aufenthaltsort im Inland, wenn ein solcher nicht bekannt ist der Ort des letzten Wohnsitzes. Hat die Person einen Wohnsitz im Ausland, ist dagegen § 16 ZPO nicht anwendbar, und es besteht keine inländische Zuständigkeit (MünchKomm-InsO/Siegmann, 2. Aufl. § 315 Rn. 8; MünchKomm-InsO/Ganter, aaO § 3 Rn. 17). Das Beschwerdegericht hat einen Wohnsitz im Ausland bejaht.
Die Frage, wann jemand wohnsitzlos im Sinne des § 16 ZPO ist, hat keine grundsätzliche Bedeutung. Es ist geklärt, wann ein Wohnsitz vorliegt. Der Wohnsitz wird gemäß § 7 Abs. 1 BGB dort begründet, wo sich eine Person ständig niederlässt. Erforderlich ist eine tatsächliche Niederlassung mit dem Willen, den Ort zum ständigen Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen. Die Niederlassung erfordert eine eigene Unterkunft, ein Obdachloser hat keinen Wohnsitz. Es genügt jedoch eine behelfsmäßige Unterkunft. Der Domizilwille muss darauf gerichtet sein, den Ort zum ständigen Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen. Dies kann sich aus den Umständen ergeben. Beides war hier der Fall. Es ist nicht erkennbar, dass das Landgericht den Begriff verkannt hätte. Es hat auch nicht Obdachlosigkeit mit Wohnsitzlosigkeit verwechselt, sondern lediglich angedeutet, dass Obdachlose keinen Wohnsitz haben.
Aus der öffentlichen Zustellung des vom Antragsteller erwirkten Versäumnisurteils ergibt sich schon deshalb nichts anderes, weil völlig offen ist, ob damals die hierfür erforderlichen Voraussetzungen tatsächlich vorgelegen haben und sich zwischenzeitlich auch nichts geändert hat.
3. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Antragstellers liegt nicht darin, dass das Beschwerdegericht kein Partikularinsolvenzverfahren eröffnet hat. Die Eröffnung eines solchen Verfahrens war nicht - auch nicht hilfsweise - beantragt worden. Dessen Voraussetzungen hatte der Gläubiger auch nicht dargelegt, sein Interesse hieran nicht glaubhaft gemacht. Das Vorliegen inländischen Vermögens wurde nicht substantiiert dargelegt. Die Grundstücke liegen in Spanien und stehen im Eigentum spanischer Gesellschaften. Ob auf die Gesellschaftsanteile des Schuldners zugegriffen werden kann und ob sie werthaltig sind, ist unklar. Lediglich eine geschäftsführend tätige Gesellschaft soll ihren Sitz in B. S. haben.
Eine örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts München besteht hierfür jedenfalls nicht (vgl. § 354 Abs. 3 InsO; Art. 102 § 1 Abs. 2 und 3 EGInsO). Der Gläubiger hatte auch keinen Verweisungsantrag gemäß § 281 ZPO, § 4 InsO gestellt.
Ganter Gehrlein Vill
Lohmann Fischer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055051
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BGH
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2. Strafsenat
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20100113
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2 ARs 569/09
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Beschluss
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§ 42 Abs 3 JGG
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DEU
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Jugendgerichtsverfahren: Abgabe an das nach Wohnsitzwechsel des Angeklagten zuständige Gericht
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Für die Untersuchung und Entscheidung der Sache ist das Amtsgericht - Jugendrichter - Nürnberg zuständig.
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Die Abgabe durch das Amtsgericht Darmstadt gemäß § 42 Abs. 3 JGG ist zulässig, weil der Angeklagte seinen Wohnsitz Anfang September 2009 und damit nach der Erhebung der Anklage nach Nürnberg verlegt hat (vgl. BGHSt 13, 209, 217). Sie ist auch im Hinblick auf die am Verfahren zu beteiligende Jugendgerichtshilfe des neuen Wohnortes zweckmäßig (vgl. BGH StraFo 2007, 162). Demgegenüber kommt hier dem Umstand, dass Zeugen in Hessen wohnhaft sind, nur eine untergeordnete Bedeutung zu (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Februar 2007 - 2 ARs 547/06).
Rissing-van Saan Fischer Appl
Cierniak Krehl
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055072
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BGH
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2. Strafsenat
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20100113
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2 StR 428/09
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Urteil
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§ 212 StGB, § 227 StGB
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vorgehend LG Frankfurt, 10. Juni 2009, Az: 5/22 Ks 5/09 - 3590 Js 242390/08 Kap, Urteil
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DEU
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Bedingter Tötungsvorsatz bei zum Tode führender Körperverletzung
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt, zugleich seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass ein Jahr der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, die sich vor allem gegen die Ablehnung eines (bedingten) Tötungsvorsatzes wendet, hat mit der Sachrüge Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen der Schwurgerichtskammer hielt sich der Angeklagte, bei dem schon im Grundschulalter ein (nicht erfolgreich behandeltes) Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom festgestellt worden war, am 4. Oktober 2008 zwischen 1.00 Uhr und 1.30 Uhr im Bereich der P. schule in F. auf. Auf einem zum Teil unbeleuchteten Verbindungsweg, der zu Sportplätzen und einem Kleingartengelände führt, traf er auf das Tatopfer, einen ihm vom Sehen her bekannten Obdachlosen. Aus nicht näher zu klärenden Gründen gerieten dieser und der Angeklagte, der seiner Gewohnheit entsprechend im Laufe des Tages in größeren Mengen alkoholische Getränke zu sich genommen und mehrere Joints Marihuana geraucht hatte, in einen Streit, der in eine heftige Schlägerei überging. Im Zuge der gewalttätigen, etwa 30 Minuten dauernden Auseinandersetzung, deren Ablauf im Einzelnen nicht geklärt werden konnte, brachte der Angeklagte, der selbst unverletzt blieb, seinem Opfer - u.a. durch Faustschläge und Fußtritte - zahlreiche schwerwiegende Verletzungen bei. Anschließend zerrte er den Schwerverletzten - mit dem Rücken auf dem Boden schleifend - über den Weg, ließ ihn schließlich dort liegen und entfernte sich sodann vom Tatort. Er ging zum in der Nähe gelegenen Wohnhaus eines Freundes, berichtete diesem, er habe sich mit jemandem geschlagen, der "irgendwo da hinten" liege, und veranlasste ihn, mit ihm in Richtung Tatort zu laufen. Als es diesem aber mulmig wurde, weigerte er sich, weiter mit dem Angeklagten ins Dunkle zu gehen, und lief nach Hause zurück. Er ging dabei davon aus, dass der Angeklagte ihm ohnehin eine Lügengeschichte erzählt und niemanden geschlagen habe.
Das Tatopfer wurde am frühen Morgen des 4. Oktober 2008 tot auf dem Verbindungsweg aufgefunden. Es wies zahlreiche Verletzungen am gesamten Körper auf, insbesondere im Gesicht und im Bauchbereich, u.a. eine Mittelgesichtstrümmerfraktur und eine Einblutung in das große Netz mit Rippenserienbrüchen auf beiden Seiten. Ursache des binnen 30 Minuten eingetretenen Todes waren durch einen Jochbeinbruch eingetretene Verletzungen arterieller Gefäße und/oder venöser Geflechte, die zu starker Blutung und schneller Einatmung des Blutes geführt hatten.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt, sich aber an einer Verurteilung wegen Totschlags, auch in Form eines Unterlassens, gehindert gesehen, weil ein (bedingter) Tötungsvorsatz dem Angeklagten, der sein Opfer erheblich verletzen wollte, nicht nachweisbar gewesen sei. Zwar könnten massive Verletzungen, wie der Angeklagte sie seinem Opfer zugefügt habe, den Schluss auf einen bedingten Tötungsvorsatz nahe legen. Angesichts der Besonderheiten in der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten, seiner alkohol- und drogenbedingten Enthemmung zur Tatzeit und des Umstandes, dass die konkrete Ursache der letztlich zum Tode führenden Gesichtsverletzung nicht zu klären gewesen sei, könne nicht ausgeschlossen werden, dass dem Angeklagten das Ausmaß der Gefährlichkeit seines Handelns nicht bewusst gewesen sei und er den tödlichen Ausgang auch nicht gebilligt habe. Dies gelte auch, soweit der Angeklagte das Tatopfer liegen gelassen habe, ohne Hilfe zu holen. Ob ihm zu diesem Zeitpunkt bewusst gewesen sei, dass dieses unversorgt sterben könnte, und ob ihm dies gegebenenfalls gleichgültig gewesen sei, müsse offen bleiben. Angesichts der persönlichkeitsbedingten Unfähigkeit des Angeklagten, Verantwortung zu empfinden und Konsequenzen seines Handelns zu bedenken, könne nicht ausgeschlossen werden, dass er darauf vertraut habe, das Opfer werde die Verletzungen überleben (UA S. 18).
II.
Die Verneinung bedingten Tötungsvorsatzes durch das Landgericht hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei oder sieht er von einer weiter reichenden Verurteilung ab, weil er Zweifel nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Dieses hat insoweit nur zu beurteilen, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2004, 238; 2005, 147).
2. Die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht einen Tötungsvorsatz hinsichtlich der aktiven Verletzungshandlung des Angeklagten verneint hat, ist rechtsfehlerhaft.
a) Das Landgericht hat bereits das Wissenselement eines bedingten Tötungsvorsatzes nicht feststellen können (UA S. 18). Die Beweiswürdigung hierzu ist lückenhaft. Keiner der drei zum Ausschluss des Wissenselementes vorgebrachten Umstände vermag dieses Ergebnis ohne nähere Erläuterung zu tragen. Die "Besonderheiten in der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten" beschreiben Verhaltensauffälligkeiten und Eigenschaften, die im Laufe der Zeit - ausgehend von einer hyperkinetischen Störung (ICD-10 F90.1) - zu einer dissozialen Entwicklung des Angeklagten (F60.2) geführt haben (UA S. 3 f., 16). Anhaltspunkte dafür, dass sich das dem Angeklagten nach diesem Befund eigene Verhaltensmuster auf seine Erkenntnisfähigkeit ausgewirkt haben könnte, teilt das Urteil nicht mit. So lässt sich für das Revisionsgericht nicht nachvollziehen, ob der beschriebenen Persönlichkeitsentwicklung überhaupt Einfluss auf das Wissenselement beim Vorsatz zukommen kann.
Auch die "alkohol- und drogenbedingte Enthemmung des Angeklagten" zur Tatzeit ergibt nicht ohne Weiteres einen Anhalt dafür, dass ihm das Ausmaß der Gefährlichkeit seines Handelns nicht bewusst gewesen sein könnte. Nur in Fällen außergewöhnlich hoher Alkohol- und Drogenintoxikation liegt es auf der Hand, dass es neben der Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens auch zu einer Einschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit kommen kann. Insoweit wäre das Landgericht gehalten gewesen, näher darzulegen, dass beim Angeklagten - trotz des Umstands, dass man seinen übertriebenen Trinkmengenangaben keinen Glauben geschenkt hat (UA S. 16) - ein solcher auch die Erkenntnisfähigkeit beeinträchtigender Zustand vorgelegen haben könnte. Dabei hätte es sich auch damit auseinandersetzen müssen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls bei schweren und lang andauernden Gewalthandlungen die Erkenntnisfähigkeit trotz alkoholbedingter Bewusstseinstrübung kaum fraglich sein kann (vgl. BGH NStZ-RR 1997, 296).
Auch erlaubt der Umstand, dass das Landgericht eine konkrete Ursache für die zum Tode führenden Gesichtsverletzungen nicht feststellen konnte, einen Rückschluss darauf nicht, der Angeklagte habe die Gefährlichkeit der beim Tatopfer eingetretenen, zum Tode führenden Gesichtsverletzungen nicht wahrgenommen. Das Landgericht hat - sachverständig beraten - ausgeschlossen, dass das Opfer ohne Zutun des Angeklagten mehrmals hintereinander mit dem Gesicht auf das Geländer gestürzt sein und sich dadurch verletzt haben könnte. Es ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Gesichtsverletzungen dem Opfer durch mehrfache Gewalteinwirkung seitens des Angeklagten beigebracht worden sind, wobei die konkrete Art der Verursachung offen geblieben ist (UA S. 15). Warum der Angeklagte trotz der Feststellung, dass die Verletzungen jedenfalls auf konkreten, jeweils für sich lebensgefährlichen Gewalttätigkeiten des Angeklagten beruhen, gleichwohl die Gefährlichkeit seines Handelns nicht erkannt haben soll, erschließt sich deshalb nicht.
Schließlich ergibt sich auch unter zusammenfassender Betrachtung aller Gesichtspunkte keine tragfähige Grundlage für die Ablehnung des kognitiven Vorsatzelements. Auch soweit das Landgericht letztlich lediglich nicht ausgeschlossen hat, dass dem Angeklagten das Ausmaß der Gefährlichkeit seines Handelns nicht bewusst gewesen sei, fehlt es an der erforderlichen umfassenden Würdigung aller subjektiven und objektiven Tatumstände (vgl. dazu Fischer, StGB, 57. Aufl., 2010, § 212, Rdn. 7 m.w.N.). Das Landgericht hätte zusätzlich etwa den Umstand erörtern müssen, dass der Angeklagte nach Verlassen des Tatortes einen Freund aufgesucht hat und mit diesem zu dem am Boden liegend zurückgelassenen Tatopfer zurückkehren wollte. Mit der sich danach aufdrängenden Überlegung, der Angeklagte habe erkannt oder zumindest mit der Möglichkeit gerechnet, dass sich das Opfer in einer hilfsbedürftigen, lebensbedrohlichen Lage befand, hat sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt.
b) Das Schwurgericht hat aufgrund der genannten Umstände auch nicht ausschließen können, dass der Angeklagte den tatsächlichen Ausgang seines Handelns nicht gebilligt habe. Auch hinsichtlich dieser (wohl zusätzlich für den Fall des Vorliegens des Wissenselements angestellten) Erwägung fehlt es an der gebotenen umfassenden Abwägung sämtlicher die Tat und die Persönlichkeit des Angeklagten betreffender Umstände.
3. Die fehlerhafte Beweiswürdigung zum bedingten Vorsatz hinsichtlich der gegen das Tatopfer gerichteten Gewalthandlung des Angeklagten führt zur Aufhebung und Zurückverweisung, ohne dass es noch auf die weiter erhobenen Einwände gegen die Ablehnung eines versuchten Totschlags durch Unterlassen und die unterlassene Prüfung einer Strafbarkeit nach § 221 StGB ankommt.
Rissing-van Saan Fischer Appl
Cierniak Krehl
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055074
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BGH
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2. Strafsenat
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20100113
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2 StR 447/09
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Beschluss
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§ 20 StGB, § 224 StGB, § 241 StGB
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vorgehend LG Mühlhausen, 24. Juni 2009, Az: 120 Js 58726/08 - 1 Ks, Urteil
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DEU
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Strafverfahren wegen Bedrohung und gefährlicher Körperverletzung: Prüfung der Schuldunfähigkeit bei hoher Blutalkoholkonzentration und nicht nachvollziehbarem Tatmotiv
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 24. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Bedrohung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der allgemeinen Sachrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen spielten der Angeklagte, das spätere Tatopfer und ein Dritter am Tattag seit dem frühen Morgen im Haus des Geschädigten Karten und konsumierten dabei erhebliche Mengen Alkohol. Gegen 16.30 Uhr fütterte der Angeklagte eine fremde Katze aus der Nachbarschaft, worüber der Geschädigte seinen Unmut zum Ausdruck brachte. Daraufhin verließ der Angeklagte das Haus, holte aus dem Hof eine Axt und äußerte ins Wohnzimmer zurückkehrend gegenüber seinen Mitspielern, er werde sie totschlagen. Anschließend griff er, die Axt schwingend, den Geschädigten an, dem - von zwei Schlägen nur gestreift - leicht verletzt die Flucht zu einem Nachbarhaus gelang, von wo aus er die Polizei verständigte. Währenddessen setzte sich der Angeklagte wortlos zu dem dritten im Wohnzimmer verbliebenen Spieler und wartete auf das Eintreffen der Polizei. Eine ihm um 18.00 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine BAK von 2,91 Promille.
2. Das Landgericht ist sachverständig beraten davon ausgegangen, der Angeklagte sei infolge des zuvor genossenen Alkohols aufgrund eines mittelgradigen Rausches nur erheblich vermindert in der Lage gewesen, sein Verhalten zu steuern. Mit der Frage einer möglichen Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB hat sich die Strafkammer nicht auseinandergesetzt. Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Rückgerechnet auf den Tatzeitpunkt wies der Angeklagte - was das Landgericht nicht bedacht hat - eine BAK von 3,41 Promille auf. Bei einer solch hohen Blutalkoholkonzentration ist regelmäßig die Prüfung einer Aufhebung der Schuldfähigkeit veranlasst (Fischer, StGB 57. Aufl. § 20 Rdn. 19 ff. m.w.N.). Zu einer solchen Prüfung bestand hier auch Veranlassung im Hinblick auf das kaum nachvollziehbare Tatmotiv, das ungewöhnliche Nachtatverhalten und angesichts des Umstandes, dass der nicht vorbestrafte Angeklagte weder generell zu Wut- und Aggressionsausbrüchen neigt noch sonst für aggressive Entgleisungen bekannt ist (UA 9).
3. Die aufgezeigte Lückenhaftigkeit des Urteils führt zu dessen Aufhebung und Zurückverweisung. Der neue Tatrichter wird - sollte er erneut zu einer entsprechenden Verurteilung kommen - zu bedenken haben, dass bei Verhängung von einzelnen Geldstrafen, die in einer Gesamtstrafe aufgehen, neben der Anzahl der Tagessätze auch immer die Tagessatzhöhe festzusetzen ist (BGHSt 30, 93, 96; BGHR StGB § 54 Abs. 3 Tagessatzhöhe 1).
Rissing-van Saan Fischer Appl
Cierniak Krehl
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100055435
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BGH
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Senat für Anwaltssachen
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20100107
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AnwZ (B) 79/09
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Beschluss
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§ 14 Abs 2 Nr 7 BRAO, § 259 Abs 1 S 2 InsO, § 291 Abs 1 InsO
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vorgehend OLG Hamm, 24. April 2009, Az: 1 AGH 11/09, Beschluss
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DEU
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Anwaltliches Berufsrecht: Widerruf der Anwaltszulassung bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bei Kanzleifreigabe und Beantragung der Restschuldbefreiung
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Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des 1. Senats des Anwaltsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen vom 24. April 2009 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen und der Antragsgegnerin die ihr im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen außergerichtlichen Auslagen zu erstatten.
Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 50.000 € festgesetzt.
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I.
Die Antragstellerin ist im Bezirk der Antragsgegnerin als Rechtsanwältin zugelassen. Am 29. Februar 2008 beantragte sie die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen. Dem entsprach das Amtsgericht - Insolvenzgericht - M... mit Beschluss vom 24. September 2008. Am 27. Oktober 2008 waren in dem bislang nicht abgeschlossenen Insolvenzverfahren Forderungen in Höhe von 92.417,73 € angemeldet. Mit Bescheid vom 27. Januar 2009 hat die Antragsgegnerin die Zulassung der Antragstellerin zur Rechtsanwaltschaft wegen Vermögensverfalls widerrufen. Deren Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat der Anwaltsgerichtshof zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Antragstellerin mit der sofortigen Beschwerde. Die Antragsgegnerin beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.
II.
Das nach § 215 Abs. 3 BRAO i.V.m. § 42 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 BRAO a. F. zulässige Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
1. Nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO ist die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu widerrufen, wenn der Rechtsanwalt in Vermögensverfall geraten ist, es sei denn, dass dadurch die Interessen der Rechtsuchenden nicht gefährdet sind. Ein Vermögensverfall ist gegeben, wenn der Rechtsanwalt in ungeordnete, schlechte finanzielle Verhältnisse geraten ist, die er in absehbarer Zeit nicht ordnen kann, und außer Stande ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Beweisanzeichen hierfür sind insbesondere die Erwirkung von Schuldtiteln und Vollstreckungsmaßnahmen gegen ihn (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschl. v. 25. März 1991, AnwZ (B) 73/90, BRAK-Mitt. 1991, 102; Beschl. v. 21. November 1994, AnwZ (B) 40/94, BRAK-Mitt. 1995, 126; Beschl. v. 26. November 2002, AnwZ (B) 18/01, NJW 2003, 577). Wird das Insolvenzverfahren über sein Vermögen eröffnet, wird der Vermögensverfall gesetzlich vermutet.
2. Diese Voraussetzungen lagen bei Erlass des Widerrufsbescheids vor.
a) Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Antragstellerin in Vermögensverfall. Sie hatte über 70.000 € Schulden, die sie weder mit ihren Einnahmen aus ihrer anwaltlichen Tätigkeit noch aus ihrem Vermögen zurückzahlen konnte. Sie hatte deshalb selbst die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen beantragt und später Restschuldbefreiung beantragt. Der von dem Insolvenzgericht bestellte vorläufige Insolvenzverwalter stellte in seinem Bericht fest, dass ermittelten Gläubigerforderungen von etwa 92.000 € eine freie Masse von etwa 14.500 € gegenüberstand. Aus diesem Bericht ergibt sich auch, dass die Antragstellerin nicht in der Lage war, ihren eigenen und den Lebensunterhalt ihrer beiden minderjährigen Kinder aus ihren Einkünften zu bestreiten, und dass ihr deshalb staatliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 1.030,40 € bewilligt worden waren. Der Vermögensverfall wurde bei der Antragstellerin auch gesetzlich vermutet, weil das Insolvenzgericht auf Grund des Berichts des vorläufigen Insolvenzverwalters mit Beschluss vom 24. September 2008 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Antragstellerin eröffnet hatte. Diese Vermutung hat die Antragstellerin nicht entkräftet.
b) Bei Erlass des Widerrufsbescheids lagen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Interessen der Rechtsuchenden nicht gefährdet waren und deshalb nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 Halbsatz 1 BRAO von einem Widerruf abzusehen war.
aa) Wie der Bestimmung des § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO zu entnehmen ist, geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Interessen der Rechtsuchenden gefährdet sind, wenn sich der Rechtsanwalt in Vermögensverfall befindet (Senat, Beschl. v. 31. März 2008, AnwZ (B) 33/07, juris). Das ist in der Regel auch der Fall, insbesondere im Hinblick auf den Umgang des Rechtsanwalts mit Fremdgeldern und den darauf möglichen Zugriff von Gläubigern (Senat, Beschl. v. 18. Oktober 2004, AnwZ (B) 43/03, NJW 2005, 511 unter II 2 a). Diese Gefährdung entfällt nicht bereits durch die Insolvenzeröffnung und die damit verbundene Verfügungsbeschränkung des Insolvenzschuldners (Senat, Beschl. v. 25. Juni 2007, AnwZ (B) 101/05, NJW 2007, 2924, 2925, Tz. 12; Beschl. v. 31. März 2008, AnwZ (B) 33/07, juris). Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens löst nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 Halbsatz 2 BRAO die Vermutung des Vermögensverfalls aus. Das wiederum hat seinen Grund darin, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 16 InsO einen Eröffnungsgrund - das sind nach §§ 17 bis 19 InsO Zahlungsunfähigkeit, drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung - voraussetzt und damit eine Gefährdung der Rechtsuchenden indiziert. Nach dieser Wertung des Gesetzgebers kann die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht schon als solche dazu führen, dass die Gefährdung der Rechtsuchenden durch den mit der Verfahrenseröffnung gerade vermuteten Vermögensverfall nicht mehr besteht. Dann liefe die Vermutung im Ergebnis ins Leere.
bb) Die Gefährdung der Rechtsuchenden entfällt auch nicht schon mit der Freigabe der Kanzlei durch den Insolvenzverwalter (Senat, Beschl. v. 16. April 2007, AnwZ (B) 6/06, ZVI 2007, 619, 620). Die Kanzlei wird nämlich regelmäßig - und so auch im Fall der Antragstellerin - deshalb freigegeben, weil sich der Insolvenzverwalter von ihrem weiteren Betrieb keine Übererlöse für die Insolvenzmasse verspricht und Kosten vermeiden möchte. Mit ihrer Freigabe durch den Insolvenzverwalter unterliegt die Kanzlei zwar nicht mehr dem Insolvenzbeschlag. Damit kann der Rechtsanwalt dann auch wieder frei seine Kanzlei betreiben. Entgegen der Annahme der Antragstellerin verbessert das die Lage der Rechtsuchenden aber nicht. Der Rechtsanwalt kann wieder Fremdgelder entgegennehmen und über sie verfügen. Seine Gläubiger können auf das Kanzleivermögen zugreifen wie auf andere freie Vermögenswerte des Rechtsanwalts. Die Interessen der Rechtsuchenden bleiben deshalb auch und gerade nach einer Freigabe der Kanzlei mangels Ertrags unverändert gefährdet.
3. Die Voraussetzungen für den Widerruf der Zulassung sind auch nicht im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens zweifelsfrei entfallen.
a) Im gerichtlichen Verfahren gegen Entscheidungen über den Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats zu berücksichtigen, ob der Grund für den Widerruf nachträglich entfallen ist (BGHZ 75, 356, 357; 84, 149, 150). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass der Rechtsanwalt andernfalls nach Bestätigung des Widerrufs sogleich wieder zur Rechtsanwaltschaft zugelassen werden müsste. Erfolgt der Widerruf wegen Vermögensverfalls, besteht ein Anspruch auf Wiederzulassung aber nur, wenn geordnete Verhältnisse zweifelsfrei wiederhergestellt sind. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass es ihm gelungen ist, den Vermögensverfall zu beseitigen, trifft den Rechtsanwalt (BGH, Beschl. v. 10. Dezember 2007, AnwZ (B) 1/07, BRAK-Mitt. 2008, 73, Tz. 8; Feuerich/Weyland, BRAO, 7. Aufl., § 14 Rdn. 60). Deshalb kann ein nachträglicher Wegfall des Widerrufsgrunds des Vermögensverfalls auch bei der gerichtlichen Überprüfung des Widerrufs der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nur berücksichtigt werden, wenn er zweifelsfrei nachgewiesen wird.
b) Diesen Nachweis hat die Antragstellerin nicht geführt.
aa) Die Vermögensverhältnisse eines Rechtsanwalts können grundsätzlich erst mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens, mit welcher der Schuldner das Recht zurückerhält, über die vormalige Insolvenzmasse frei zu verfügen (§ 259 Abs. 1 Satz 2 InsO), und mit der Ankündigung der Restschuldbefreiung durch Beschluss des Insolvenzgerichts (§ 291 Abs. 1 InsO) wieder als geordnet angesehen werden (Senat, Beschl. v. 7. Dezember 2004, AnwZ (B) 40/04, NJW 2005, 1271 unter II 2 und 3). Daran fehlt es hier. Das Insolvenzverfahren ist nicht abgeschlossen. Greifbare Anhaltspunkt dafür, dass sich ein Verfahrensabschluss mit einer Restschuldbefreiung oder einem Insolvenzplan kurzfristig erreichen ließe, bestehen nicht. Der Insolvenzverwalter hat zwar in seinem Gutachten für das Insolvenzgericht vom 29. August 2008 die Möglichkeit angesprochen, mit einem Darlehen der Eltern der Antragstellerin über 10.000 € einen "Vergleich" mit den Gläubigern und einen kurzfristigen Verfahrensabschluss zu erreichen. Die Antragstellerin hat aber weder die Bereitstellung der Mittel nachgewiesen noch dargelegt, dass sie statt der von ihr zunächst beantragten Restschuldbefreiung vorrangig den Abschluss des Verfahrens durch Schuldenbereinigungsplan anstrebt und aus welchen Gründen der erwogene Schuldenbereinigungsplan in dem seit Eröffnung des Insolvenzverfahrens verstrichenen Zeitraum von mehr als einem Jahr nicht zustande gekommen ist. Das geht zu ihren Lasten.
bb) Die Gefährdung der Rechtsuchenden besteht grundsätzlich fort, solange das Verfahren läuft. Auch der Antrag auf Restschuldbefreiung im Insolvenzverfahren ändert an dem Fortbestand einer Gefährdung der Rechtsuchenden nichts (Senat, Beschl. v. 13. März 2000, AnwZ (B) 28/99, NJW-RR 2000, 1228, 1229; Beschl. v. 7. März 2005, AnwZ (B) 7/04, NJW 2005, 1944; Beschl. v. 31. März 2008, AnwZ (B) 33/07, juris). Vielmehr kann in aller Regel erst dann davon ausgegangen werden, dass nicht nur der Vermögensverfall, sondern auch eine Gefährdung der Interessen der Rechtsuchenden nach dem Abschluss des Insolvenzverfahrens nicht mehr fortbesteht, wenn das Insolvenzverfahren zu einem Abschluss führt, bei dem mit einer Konsolidierung der Vermögensverhältnisse des Antragstellers gerechnet werden kann. Das setzt die Ankündigung der Restschuldbefreiung durch Beschluss des Insolvenzgerichts (Senat, Beschl. v. 7. Dezember 2004, AnwZ (B) 40/04, NJW 2005, 1271 unter II 2; Beschl. v. 7. März 2005, AnwZ (B) 7/04, NJW 2005, 1944; Beschl. v. 16. April 2007, AnwZ (B) 6/06, ZVI 2007, 619, 620) oder die Annahme eines Schuldenbereinigungsplans durch die Gläubiger oder die Ersetzung von deren Zustimmung durch das Insolvenzgericht (Senat, Beschl. v. 6. November 2000, AnwZ (B) 1/00, juris; Beschl. v. 7. Dezember 2004, AnwZ (B) 40/04, NJW 2005, 1271) voraus. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Es ist nicht einmal erkennbar, ob das Verfahren durch Schuldenbereinigungsplan oder im Wege der Restschuldbefreiung beendet werden soll. Auch das geht zu Lasten der Antragstellerin.
4. Der Senat entscheidet im schriftlichen Verfahren, weil die Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben. Die Besetzung bestimmt sich mangels abweichender Übergangsregelung auch in Verfahren, die vor dem 1. September 2009 bei dem Senat anhängig geworden sind, nach § 106 Abs. 2 Satz 1 BRAO in der seitdem geltenden Fassung (Senat, Beschl. v. 4. November 2009, AnwZ (B) 16/09 für BGHZ bestimmt, juris).
Ganter Ernemann Schmidt-Räntsch
Wüllrich Braeuer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055470
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BGH
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4. Strafsenat
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20100105
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4 StR 478/09
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Beschluss
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§ 224 Abs 1 Nr 5 StGB
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vorgehend LG Arnsberg, 19. März 2009, Az: 2 Ks 382 Js 591/08 (26/08a), Urteil
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DEU
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Gefährliche Körperverletzung: Lebensgefährdende Behandlung durch Werfen auf die Fahrbahn
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 19. März 2009 im Strafausspruch dahin geändert, dass
a) der Angeklagte zu einer Einzelstrafe von vier Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe und einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren drei Monaten und einer Woche verurteilt wird,
b) die Tagessatzhöhe für die verhängte Einzelgeldstrafe auf einen Euro festgesetzt wird.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr (Einzelstrafe: vier Jahre drei Monate und drei Wochen Freiheitsstrafe) und wegen vorsätzlicher Körperverletzung (Einzelstrafe: Geldstrafe von 20 Tagessätzen) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Bei der Bemessung der Einsatzstrafe hat das Landgericht die Vorschrift des § 39 StGB nicht berücksichtigt, wonach Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr nach vollen Monaten und Jahren zu bemessen sind. Der Senat setzt diese Strafe daher auf eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten herab und bildet aus dieser und der für die vorsätzliche Körperverletzung erkannten Geldstrafe die - hier denkbar niedrigste - Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren drei Monaten und einer Woche (vgl. hierzu Fischer StGB 57. Aufl. § 39 Rdn. 6).
2. Außerdem hat das Landgericht die Festsetzung der Tagessatzhöhe für die verhängte Einzelgeldstrafe unterlassen, die auch dann zu treffen ist, wenn, wie hier, eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wird (vgl. BGHSt 30, 93, 96). Der Senat hat dies nachgeholt und die Tagessatzhöhe auf den Mindestsatz nach § 40 Abs. 2 Satz 3 StGB festgesetzt.
3. Im Übrigen bemerkt der Senat ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts:
a) Entgegen den insoweit missverständlichen Ausführungen im angefochtenen Urteil (UA 35) ist für die Tatbestandsverwirklichung des § 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB keinesfalls nur auf eine konkrete Gefährdung des von der Zeugin V. geführten Fahrzeugs abzustellen. Anders als in der vom Landgericht zitierten Senatsentscheidung vom 13. Juni 2006 - 4 StR 123/06 - NZV 2006, 483 f. hat sich der Geschädigte hier die Verletzungen nicht bereits bei dem Sturz auf die Fahrbahn zugezogen. Vielmehr ist dadurch, dass der Geschädigte vom Angeklagten auf die Fahrbahn geworfen wurde, angesichts des noch vorhandenen Fahrzeugverkehrs eine weitere - zunächst noch abstrakte - Gefahrenlage für den Geschädigten entstanden, die sich in dem nachfolgenden Unfallgeschehen auch realisiert hat (vgl. Senat, Beschluss vom 26. August 1997 - 4 StR 350/97).
b) Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen belegen nicht, dass der Angeklagte tateinheitlich zu der schweren Körperverletzung auch eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB begangen hat. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Art der Behandlung des Geschädigten durch den Täter nach den Umständen des Einzelfalls (generell) geeignet wäre, das Leben zu gefährden (st. Rspr.; vgl. Fischer aaO § 224 Rdn. 12 m.w.N.). Die Feststellungen belegen indes nicht, dass das Werfen auf die Fahrbahn bereits für sich als lebensbedrohlich in diesem Sinne angesehen werden kann. Zwar ist es infolge der dadurch verursachten Lage des Geschädigten auf der Fahrbahn zu einem dessen Leben bedrohenden Unfallgeschehen gekommen. Dies ist aber für die rechtliche Bewertung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB ohne Relevanz, weil der Körperverletzungserfolg erst durch den nachfolgenden Unfall und nicht "mittels" der Art der Behandlung durch den Angeklagten eingetreten ist (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Juni 2006 aaO).
Tepperwien Maatz Athing
Solin-Stojanović Franke
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055472
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BGH
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2. Strafsenat
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20100113
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2 StR 519/09
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Beschluss
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§ 64 S 2 StGB, § 73a StGB, § 31 BtMG
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vorgehend LG Bonn, 21. Juli 2009, Az: 24 KLs 3/09 - 930 Js 265/08, Urteil
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DEU
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Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Hinreichend konkrete Aussicht der Rückfallfreiheit
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 21. Juli 2009 mit den Feststellungen aufgehoben
a) im Ausspruch über die Maßregel,
b) soweit das Landgericht den Verfall des Wertersatzes angeordnet hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bonn zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Es hat seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass sechs Monate der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel zu vollziehen sind. Ferner hat es ausgesprochen, dass "der Betrag von 1.750 € … dem Wertersatzverfall" unterliegt. Die hiergegen gerichtete, auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Nachprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers ergeben.
2. Hingegen hat die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt keinen Bestand.
Nach § 64 Satz 2 StGB ergeht diese Anordnung nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Angeklagten durch die Behandlung zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf seinen Hang zurückgehen. Die hinreichend konkrete Aussicht der Rückfallfreiheit muss sich demgemäß auf einen "erheblichen" Zeitraum erstrecken. Konkrete Anhaltspunkte für einen die Behandlung im Maßregelvollzug überdauernden Therapieerfolg (vgl. BGH, Beschl. v. 16. September 2008 - 5 StR 378/08; Fischer StGB 57. Aufl. § 64 Rdn. 19) hat das Landgericht nicht festgestellt. Es hat sich vielmehr dem gehörten Sachverständigen angeschlossen, der ausgeführt hat, der Angeklagte sei "zumindest verbal therapiewillig und erscheine auch aufgrund seiner Ausstattung und Persönlichkeitsstruktur therapiefähig … Die Möglichkeit, eine entsprechende therapeutische Veränderung herbeizuführen, könne bejaht werden." Damit hat die Strafkammer jedoch lediglich, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend näher ausgeführt hat, die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung festgestellt. Eine weitergehende Erfolgsaussicht vermag der Senat dem angefochtenen Urteil auch in seinem Gesamtzusammenhang nicht zu entnehmen, zumal der Angeklagte nach regulärer Beendigung eines in den Jahren 2005 und 2006 durchgeführten Methadonprogramms wieder massiv rückfällig geworden ist.
Damit entfällt auch die Anordnung des Vorwegvollzugs von sechs Monaten der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird im Falle der erneuten Anordnung der Unterbringung auch die voraussichtlich notwendige Dauer des Maßregelvollzugs mit sachverständiger Hilfe festzulegen haben. Erforderlich ist eine präzise Prognose darüber, wie lange genau die Unterbringung voraussichtlich erforderlich sein wird. Nur auf der Grundlage einer solchen Prognose kann bestimmt werden, welcher Teil der Strafe (einschließlich der anzurechnenden Untersuchungshaft, vgl. BGH NStZ-RR 2008, 182) vorab zu vollziehen ist, bis exakt der in § 67 Abs. 5 StGB bezeichnete Zeitpunkt der Halbstrafenentlassung erreicht sein wird (vgl. BGH StV 2008, 638).
3. Die Strafkammer hat den Betrag von 1.750 € als Ersatz für den Wert des erlangten Heroins und Kokains für verfallen erklärt. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Denn insoweit hatte der Angeklagte aus den Taten nicht einen Erlös, sondern lediglich die Betäubungsmittel selbst erlangt. Diese unterliegen als Beziehungsgegenstände nur der Einziehung nach § 33 Abs. 2 BtMG, nicht aber dem Verfall (vgl. BGH StV 2002, 260). Damit scheidet auch die Anordnung des Wertersatzverfalls nach § 73 a StGB aus, die nur (ersatzweise) anstelle des Verfalls in Betracht kommt. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird zu prüfen haben, ob in der genannten Höhe (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) der Verfall von Wertersatz im Blick auf die vom Angeklagten aus den Betäubungsmittelgeschäften erzielten Erlöse anzuordnen ist; auch insoweit erhält der Angeklagte durch die neue Hauptverhandlung das rechtliche Gehör.
Rissing-van Saan Fischer Appl
Cierniak Krehl
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055477
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BGH
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4. Strafsenat
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20100114
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4 StR 399/09
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Urteil
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§ 21 StGB, § 211 StGB
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vorgehend LG Essen, 16. Februar 2009, Az: 22 Ks 29/08 - 70 Js 318/08, Urteil
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DEU
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Heimtückemord: Fehlendes Ausnutzungsbewusstsein bei affektivem Impulsdurchbruch
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1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft, der Nebenkläger und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 16. Februar 2009 werden verworfen.
2. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft sowie die dem Angeklagten hierdurch und seine durch die Revisionen der Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt. Die Nebenkläger tragen die Kosten ihrer Rechtsmittel. Die im Revisionsverfahren durch die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger entstandenen gerichtlichen Auslagen tragen jedoch die Staatskasse und die Nebenkläger je zur Hälfte. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Hiergegen wenden sich der Angeklagte, die Staatsanwaltschaft sowie die Nebenkläger mit ihren jeweils auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen. Während sich das Rechtsmittel des Angeklagten, mit dem dieser Beschwerdeführer die Nichtanwendung des § 213 StGB beanstandet, allein gegen die Strafzumessung richtet, streben die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger mit ihren Rechtsmitteln eine Verurteilung des Angeklagten wegen Heimtückemordes an. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
I.
Nach den Feststellungen tötete der nicht bestrafte, seinerzeit 21 Jahre alte Angeklagte die im Tatzeitpunkt 19jährige Abiturientin Sarah L., zu der er "eine Art Ersatzbeziehung" unterhielt, in der Nacht zum 17. Juli 2008, indem er ihr insgesamt 49 Messerstiche versetzte. Unmittelbarer Auslöser für die Gewaltattacke war eine abfällige Äußerung des Tatopfers über die bisherige Freundin des Angeklagten, mit der er seine bisherige Beziehung fortsetzen zu können hoffte.
Das Landgericht ist - dem psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. Le. sowie dem psychologischen Sachverständigen Dr. S. folgend - davon ausgegangen, der Angeklagte habe die Tat infolge eines Affekts im Zustand nicht ausschließbar erheblich verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB begangen.
II. Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger
Die Schwurgerichtskammer hat das Vorliegen der mordqualifizierenden Merkmale der Heimtücke, der niedrigen Beweggründe und der Grausamkeit geprüft, diese aber im Ergebnis verneint. Zwar erfülle die Tat objektiv die Voraussetzungen der Heimtücke, weil sich Sarah keines Angriffs durch den Angeklagten versehen habe. Es blieben aber - so das Landgericht - in subjektiver Hinsicht Zweifel, dass der Angeklagte die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers erkannt und diese zur Tat ausgenutzt habe. Diese Zweifel gründeten sich auf den affektiven Impulsdurchbruch beim Angeklagten als Folge einer von ihm als Provokation empfundenen Äußerung Sarahs. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte Sarah bereits mit der Erwägung, sie zu töten, an den Tatort gelockt haben könnte, bestünden nicht.
Die dieser Wertung zu Grunde liegende Beweiswürdigung des Tatrichters weist keinen Rechtsfehler auf. Die Schwurgerichtskammer hat nicht verkannt, dass nach der Rechtsprechung (BGH NStZ 2008, 510, 511) allein auf Grund eines relevanten Affekts vom Schweregrad des § 21 StGB nicht ohne Weiteres auf das Fehlen des Ausnutzungsbewusstseins geschlossen werden darf. Wenn das Gericht angesichts der besonderen äußeren und inneren Umstände des Tatgeschehens in Übereinstimmung mit den Sachverständigen eine sichere Überzeugung von der subjektiven Tatseite der mordqualifizierenden Merkmale nicht zu gewinnen vermochte, so hält sich dies im Rahmen der in erster Linie dem Tatrichter vorbehaltenen Würdigung und ist deshalb vom Revisionsgericht hinzunehmen. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger zeigen demgegenüber durchgreifende Lücken oder Widersprüche in der Beweiswürdigung nicht auf. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 30. Oktober 2009.
III. Revision des Angeklagten
Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung des Angeklagten hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Auch insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 30. Oktober 2009 Bezug.
IV. Damit hat es bei dem angefochtenen Urteil sein Bewenden.
Zu der Kosten- und Auslagenentscheidung verweist der Senat auf den Beschluss des BGH vom 30. November 2005 - 2 StR 402/05 (NStZ-RR 2006, 128, nur LS).
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055492
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BGH
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4. Strafsenat
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20100114
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4 StR 93/09
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Beschluss
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§ 202a Abs 1 StGB, § 202a Abs 2 StGB
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vorgehend LG Münster, 20. November 2008, Az: 9 KLs 210 Js 223/07 - 8/08, Urteil
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DEU
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Ausspähen von Daten durch Auslesen von auf dem Magnetstreifen einer Zahlungskarte gespeicherten Daten
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1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird
a) mit Zustimmung des Generalbundesanwalts der Vorwurf des jeweils tateinheitlich begangenen Ausspähens von Daten gemäß § 154 a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO von der Verfolgung ausgenommen;
b) das angefochtene Urteil des Landgerichts Münster vom 20. November 2008, soweit es die Angeklagten betrifft,
aa) in den Schuldsprüchen dahin geändert, dass die Verurteilungen wegen tateinheitlich begangenen Ausspähens von Daten entfallen;
bb) hinsichtlich der Angeklagten V., Ch. und N. jeweils im gesamten Strafausspruch und hinsichtlich des Angeklagten P. in den Aussprüchen über die in den Fällen I. bis III. der Anklage verhängten Einzelstrafen und über die Gesamtstrafe aufgehoben.
2. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat die Angeklagten V., Ch. und N. des Ausspähens von Daten in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßiger Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in vier Fällen, davon in zwei Fällen mit gewerbs- und bandenmäßigem Computerbetrug, und den Angeklagten P. des Ausspähens von Daten in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßiger Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Beihilfe zum gewerbs- und bandenmäßigen Computerbetrug, und der Beihilfe zur Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion schuldig gesprochen. Es hat die Angeklagten V. und N. jeweils zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren, den Angeklagten Ch. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten und den Angeklagten P. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung sachlichen Rechts; die Angeklagten P., Ch. und N. beanstanden ferner das Verfahren.
Die Revisionen haben in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Vorwurf des jeweils tateinheitlich begangenen Ausspähens von Daten wird mit Zustimmung des Generalbundesanwalts aus verfahrensökonomischen Gründen gemäß § 154 a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO von der Verfolgung ausgenommen. Nach Auffassung des Senats erfüllt das bloße Auslesen von auf dem Magnetstreifen einer Zahlungskarte gespeicherten Daten, um mit diesen Daten Kartendubletten herzustellen, nicht den Tatbestand des Ausspähens von Daten. § 202 a Abs. 1 StGB setzt u.a. voraus, dass der Täter sich oder einem anderen den Zugang zu Daten, die gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind, unter Überwindung der Zugangssicherung verschafft. Der Überwindung einer solchen Zugangssicherung bedarf es aber nicht, wenn diese lediglich ausgelesen werden sollen. Dies ist ohne Weiteres mittels eines handelsüblichen Lesegeräts und der ebenfalls im Handel erhältlichen Software möglich. Dass Daten magnetisch und damit nicht unmittelbar wahrnehmbar gespeichert sind, stellt keine besondere Sicherung gegen unberechtigten Zugang dar. Vielmehr handelt es sich gemäß § 202 a Abs. 2 StGB nur bei Daten, die auf diese Weise gespeichert sind, um Daten im Sinne des Abs. 1 dieser Vorschrift. Schon daraus ergibt sich, dass nicht schon diese Art der Speicherung eine besondere Sicherung im Sinne des § 202 a Abs. 1 StGB darstellt, sondern dass darüber hinaus Vorkehrungen getroffen sein müssen, die den unbefugten Zugriff auf Daten ausschließen oder zumindest erheblich erschweren (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 202 a Rdn. 8). Der Senat sieht sich an einer Änderung des Schuldspruchs durch das Urteil des 3. Strafsenats vom 10. Mai 2005 - 3 StR 425/04 (NStZ 2005, 566) gehindert. Mit Rücksicht darauf, dass sich der Abschluss des Revisionsverfahrens durch die Durchführung des zur Klärung der Rechtsfrage erforderlichen Anfrageverfahrens und die möglicherweise danach gebotene Anrufung des Großen Senats für Strafsachen erheblich verzögern würde, sieht der Senat von der Klärung dieser Rechtsfrage in diesem Verfahren ab. Zudem fällt das mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedrohte Vergehen des Ausspähens von Daten gegenüber dem Verbrechen der Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion nicht beträchtlich ins Gewicht.
2. Die Beschränkung der Strafverfolgung führt zu entsprechenden Änderungen der Schuldsprüche.
Zwar fällt die Verwirklichung des Straftatbestandes des § 202 a StGB neben der Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion nicht beträchtlich ins Gewicht. Der Senat kann aber gleichwohl nicht ausschließen, dass die Verurteilung der Angeklagten auch wegen Ausspähens von Daten die Bemessung der Einzelstrafen beeinflusst hat, weil das Landgericht die tateinheitliche Verwirklichung auch dieses Straftatbestandes bei allen Angeklagten ausdrücklich strafschärfend gewürdigt hat. Dies nötigt hinsichtlich der Angeklagten V., Ch. und N. jeweils zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs. Hinsichtlich des Angeklagten P. haben aus dem vorgenannten Grund die in den Fällen I. bis III. der Anklage verhängten Einzelstrafen sowie der Ausspruch über die Gesamtstrafe keinen Bestand. Dagegen weist die Zumessung der gegen ihn im Fall VI. der Anklage wegen Beihilfe zur Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion verhängte Einzelstrafe von einem Jahr und sechs Monaten keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
Die zu Grunde liegenden Feststellungen sind rechtsfehlerfrei getroffen und können deshalb bestehen bleiben. Ergänzende Feststellungen, die hierzu nicht in Widerspruch stehen, sind möglich.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055495
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100120
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IV ZR 111/07
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Beschluss
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§ 7 BUZ
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vorgehend OLG Köln, 18. April 2007, Az: 5 U 180/06, Urteil vorgehend LG Köln, 26. Juli 2006, Az: 23 O 508/02
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DEU
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Berufsunfähigkeitsversicherung: Feststellung und Nachweis der Voraussetzungen und des Umfangs der Leistungspflicht des Versicherers im Deckungsprozess des Versicherungsnehmers nach Kulanzentscheidung
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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 18. April 2007 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Beschwerdewert: 74.414,88 €
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg, weil die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht vorliegen. Die als rechtsgrundsätzlich bezeichneten Fragen sind geklärt oder nicht entscheidungserheblich.
Zur rechtlichen Bedeutung einer befristeten Leistungszusage, die sich für den Versicherungsnehmer eindeutig erkennbar lediglich als Kulanzentscheidung darstellt, hat der Senat entschieden, dass darin kein Anerkenntnis liegt, das den Versicherer über den zugesagten Zeitraum hinaus bindet mit der Folge, dass er eine Leistungseinstellung nur im Wege des Nachprüfungsverfahrens nach § 7 BB-BUZ erreichen kann (Urteil vom 12. November 2003 - IV ZR 173/02 - VersR 2004, 96 unter II 1 a m.w.N.). Das Schreiben der Beklagten vom 17. September 1998 ist vom Berufungsgericht zutreffend als eine solche Kulanzentscheidung ausgelegt worden. Der Kläger hat dies auch nicht anders verstanden, wie seinem Schreiben vom 22. September 1998 zu entnehmen ist. Die Frage nach dem zulässigen Inhalt einer Vereinbarung über die Leistungspflicht im Sinne der Senatsurteile vom 7. Februar 2007 (IV ZR 244/03 - VersR 2007, 633) und vom 28. Februar 2007 (IV ZR 46/06 - VersR 2007, 777) stellt sich deshalb nicht.
Da die Beklagte ein Anerkenntnis nicht abgegeben hatte, war der Kläger darauf verwiesen, seine Ansprüche im Wege der Klage geltend zu machen. Im Rechtsstreit ist dann - wie hier auch geschehen - zunächst vom Versicherungsnehmer der Nachweis bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit zu führen. Ist danach ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Leistungspflicht gegeben, steht dem Versicherer im selben Rechtsstreit der Beweis offen, dass und ab welchem Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Herabsetzung oder Einstellung der Leistungen nach § 7 BB-BUZ eingetreten sind (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1997 - IV ZR 6/97 - VersR 1998, 173 unter 2 b und 3; vom 11. Dezember 1996 - IV ZR 238/95 - VersR 1997, 436 unter II 1 und vom 27. September 1989 - IVa ZR 132/88 - VersR 1989, 1182 unter 4). Im Urteil ist dann über Beginn und Ende der Leistungspflicht zu entscheiden.
Diese vom Berufungsgericht getroffene Entscheidung ist nicht zum Nachteil des Klägers ausgefallen. Nach den nicht angefochtenen Feststellungen lag ab dem 1. Januar 2000 bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit nicht mehr vor. Dem entspricht das Urteil des Landgerichts. Da das Berufungsgericht dem Kläger Leistungen bis Ende Juni 2001 zuerkannt hat, sind die Ausführungen im Berufungsurteil zu § 242 BGB nicht entscheidungserheblich.
Terno Seiffert Dr. Kessal-Wulf
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055497
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100113
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IV ZR 188/07
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Beschluss
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§ 4 Abs 1 Nr 6 Buchst a AHB
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vorgehend OLG Düsseldorf, 26. Juni 2007, Az: I-4 U 64/06, Urteil vorgehend LG Duisburg, 21. Februar 2006, Az: 4 O 403/05
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DEU
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Versäumnisurteil im Haftpflichtprozess: Bindungswirkung im Deckungsprozess gegen den Haftpflichtversicherer
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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 26. Juni 2007 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.
Streitwert: 71.149 €
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Anders als der Beschwerdeführer meint, hat das Landgericht Duisburg mit dem im Rechtsstreit 3 O 239/04 (Haftpflichtprozess) am 15. Dezember 2004 erlassenen Versäumnisurteil nicht für den vorliegenden Deckungsprozess bindend festgestellt, dass die der früheren Vermieterin des Klägers zuerkannten Mangelbeseitigungs- und Schadensersatzansprüche auf der Beschädigung einer fremden, vom Kläger gemieteten Sache im Sinne des Leistungsausschlusses des § 4 I Nr. 6 Buchst. a AHB beruhen.
Auch wenn man das dem Versäumnisurteil zugrunde liegende Vorbringen der dortigen Klägerin (früheren Vermieterin des jetzigen Klägers) in den Blick nimmt (vgl. dazu Senatsurteil vom 19. März 2003 - IV ZR 233/01 - VersR 2003, 635 unter II 2 b), ergibt sich lediglich, dass dem Kläger (und Versicherungsnehmer) des vorliegenden Rechtsstreits das von ihm 1992 zum Zweck des Betriebs einer chemischen Reinigung angemietete Geschäftslokal von der Vermieterin in mangelfreiem Zustand überlassen worden war und er es bei Beendigung des Mietverhältnisses in mangelhaftem Zustand zurückgegeben, sich ferner mit der Verpflichtung, den Mangel zu beseitigen, in Verzug befunden hat. Der Mangel der Mietsache bestand darin, dass das Erdreich unmittelbar und seitlich versetzt unter der angemieteten Ladenfläche mit leicht halogenisierten Kohlenwasserstoffen (LHKW) kontaminiert war.
Soweit der jetzige Kläger in dem genannten Versäumnisurteil zur Beseitigung dieser Bodenverunreinigung und zum Ersatz für Schäden verurteilt worden ist, die auf der verspäteten Erfüllung dieser Verpflichtung beruhen, stützt sich das auf den Anspruch der Vermieterin wegen der Verletzung einer Nebenpflicht aus dem Mietvertrag nach § 280 BGB. Zwar ist der Mieter gemäß § 546 BGB auch verpflichtet, die Mietsache nach Beendigung des Mietverhältnisses an den Vermieter zurückzugeben. Für diese Rückgabeverpflichtung ist der Zustand der Mietsache (d.h. die Mangelfreiheit) jedoch grundsätzlich ohne Bedeutung (BGHZ 104, 285, 289; 86, 204, 209). Gibt der Mieter eine mangelhafte Mietsache zurück, so kann dies aber seine Schadensersatzpflicht wegen Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht begründen (Palandt/Weidenkaff, BGB 69. Aufl. § 546 Rdn. 5). Hier ist der gemietete Laden selbst vollständig geräumt übergeben worden. Für eine Schadensersatzverpflichtung nach § 280 BGB reichte es aus, dass der von der Vermieterin beanstandete Mangel auf einer äußeren Einwirkung auf die Mietsache beruhte (vgl. dazu Weidenkaff aaO § 536 Rdn. 20), nämlich die durch die Ausgasung von LHKW aus dem Boden verursachte Gefahr für künftige Mieter und andere Personen. Insoweit war es für den Erlass des Versäumnisurteils unerheblich, ob die Substanz der Mietsache selbst beschädigt war und ob sich der Mietvertrag auch auf das kontaminierte Erdreich erstreckt hatte. Ebensowenig musste im Haftpflichtprozess die versicherungsrechtliche Frage geklärt werden, ob eine Beschädigung der Mietsache im Sinne des Leistungsausschlusses nach § 4 I Nr. 6 Buchst. a AHB gegeben war. Entsprechende - bindende - Feststellungen können dem Versäumnisurteil deshalb auch nicht entnommen werden.
Das Berufungsgericht durfte vielmehr im vorliegenden Deckungsprozess prüfen, ob das kontaminierte Erdreich zur Mietsache gehörte und die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses erfüllt waren.
Soweit es beide Fragen verneint hat, ferner soweit es den Vortrag des Klägers zum Vorliegen eines Versicherungsfalles als ausreichend bewertet hat, zeigt die Nichtzulassungsbeschwerde auch im Übrigen nicht auf, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 544 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 ZPO).
Seiffert Wendt Felsch
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055515
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100114
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IX ZB 78/09
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Beschluss
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§ 290 InsO, § 295 Abs 1 Nr 1 InsO, § 296 Abs 1 S 1 InsO
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vorgehend LG Oldenburg (Oldenburg), 25. Februar 2009, Az: 6 T 63/09, Beschluss vorgehend AG Vechta, 5. Januar 2009, Az: 10 IN 91/02, Beschluss
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DEU
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Versagung der Restschuldbefreiung: Beginn der Wohlverhaltensperiode; Verletzung der Erwerbsobliegenheit
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Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg vom 25. Februar 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.
Dem Schuldner wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für dieses Rechtsbeschwerdeverfahren bewilligt. Ihm werden die Rechtsanwälte J. und Dr. H. beigeordnet.
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I.
In dem am 30. Juli 2002 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners haben die weiteren Beteiligten zu 1 und 2 als Gläubiger die Versagung der Restschuldbefreiung beantragt. Das Amtsgericht hat die Restschuldbefreiung versagt und die dem Schuldner gewährte Stundung der Verfahrenskosten aufgehoben. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Schuldner die Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses sowie Erteilung der Restschuldbefreiung, hilfsweise Zurückverweisung.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO, § 296 Abs. 3, §§ 6, 7 InsO statthaft und zulässig, § 574 Abs. 2 ZPO. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
1. Der angefochtene Beschluss unterliegt schon deshalb der Aufhebung, weil er nicht mit Gründen versehen ist (§ 576 Abs. 3, § 547 Nr. 6 ZPO). Beschlüsse, die mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden können, müssen den maßgeblichen Sachverhalt wiedergeben, über den entschieden wird, denn das Beschwerdegericht hat grundsätzlich von demjenigen Sachverhalt auszugehen, den das Beschwerdegericht festgestellt hat (§ 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 ZPO). Fehlen tatsächliche Feststellungen, ist es zu einer rechtlichen Überprüfung nicht in der Lage. Ausführungen des Beschwerdegerichts, die eine solche Überprüfung nicht ermöglichen, sind keine Gründe im zivilprozessualen Sinne (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 9. März 2006 - IX ZB 17/05, NZI 2006, 481; v. 27. März 2008 - IX ZB 144/07, ZIP 2008, 1034 f Rn. 3 f).
Das Landgericht hat den Entscheidungsgründen zwar einen Sachverhalt vorangestellt. Aus ihm können jedoch ebenso wenig wie aus den Entscheidungsgründen die hier maßgeblichen Umstände entnommen werden. Der amtsgerichtliche Beschluss, auf den das Landgericht womöglich Bezug nehmen will, enthält keinen Sachverhalt.
Der Beschluss des Landgerichts kann damit keinen Bestand haben. Er ist aufzuheben; die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 ZPO).
2. Im Übrigen ergibt sich nach der - verfahrensrechtlich unbeachtlichen - Aktenlage, dass der Beschluss auch in der Sache fehlerhaft ist. Das Landgericht hat die Restschuldbefreiung versagt mit der Begründung, der Schuldner habe seine Erwerbsobliegenheit nach § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO verletzt. Es ist hierbei offenbar wie schon das Amtsgericht und die Treuhänderin davon ausgegangen, dass diese Erwerbsobliegenheit ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens besteht. Das ist unzutreffend. Für das weitere Verfahren weist der Senat deshalb vorsorglich auf folgende Gesichtspunkte hin:
a) Der Antrag auf Versagung der Restschuldbefreiung aus einem der Gründe des § 290 Abs. 1 InsO ist gemäß § 290 Abs. 2 InsO nur zulässig, wenn der Gläubiger einen Versagungsantrag glaubhaft gemacht hat. Die Glaubhaftmachung des Versagungsgrundes muss im Schlusstermin erfolgen und kann - auch im Beschwerdeverfahren - nicht nachgeholt werden (BGHZ 156, 139, 142 f; BGH, Beschl. v. 5. April 2006 - IX ZB 227/04, ZVI 2006, 596, 597 Rn. 6; v. 18. Mai 2006 - IX ZB 103/05, NZI 2006, 538; v. 23. Oktober 2008 - IX ZB 53/08, ZInsO 2008, 1272 Rn. 8 ff; v. 5. Februar 2009 - IX ZB 185/08, ZInsO 2009, 481, 482 Rn. 6).
Da im Schlusstermin Versagungsanträge nach Aktenlage nicht gestellt wurden, kommt eine Versagung nach §§ 289, 290 InsO nicht in Betracht. Nach Aktenlage ist dem Schuldner vielmehr am 2. Juni 2008 zutreffend die Restschuldbefreiung angekündigt worden.
b) Die Obliegenheiten des Schuldners gemäß § 295 InsO gelten ab Aufhebung des Insolvenzverfahrens und Ankündigung der Restschuldbefreiung (BGH, Beschl. v. 18. Dezember 2008 - IX ZB 249/07, ZInsO 2009, 299 Rn. 8 ff). Dies setzt jedenfalls die Kenntnis des Schuldners von diesen Umständen und damit die Kenntnis von dem Ankündigungsbeschluss und dem Aufhebungsbeschluss voraus.
Nach Aktenlage ist im vorliegenden Fall der Ankündigungsbeschluss am 2. Juni 2008, der Aufhebungsbeschluss am 2. Juli 2008 erlassen worden. Da der Aufhebungsbeschluss nach Aktenlage am 3. Juli 2008 mit einfacher Post versandt wurde, kann er den Schuldner frühestens am 4. Juli 2008 erreicht haben. Die Wohlverhaltensperiode, in der der Schuldner der Erwerbsobliegenheit nachzukommen hatte, dauerte demgemäß allenfalls vom 5. Juli 2008 bis 30. Juli 2008, § 287 Abs. 2 InsO.
Ob womöglich die Obliegenheiten nach § 295 InsO erst mit Rechtskraft der genannten Beschlüsse beginnen, kann hier dahinstehen, weil insoweit eine Entscheidungserheblichkeit nicht erkennbar ist. Nach Aktenvermerk soll die Rechtskraft des Aufhebungsbeschlusses erst am 31. Juli 2008 eingetreten sein. Dann würde allerdings die Wohlverhaltensperiode einen Tag vor ihrem Beginn geendet haben. Der Schuldner hätte dann keine Obliegenheiten nach § 295 InsO einzuhalten gehabt.
c) Der Antrag eines Gläubigers auf Versagung der Restschuldbefreiung wegen einer Obliegenheitsverletzung nach § 295 InsO ist nur zulässig, wenn der Gläubiger die Voraussetzungen glaubhaft macht, § 296 Abs. 1 Satz 3 InsO. Dabei genügt es allerdings, dass der Gläubiger die Tatsachen vorträgt und glaubhaft macht, aus denen sich eine Obliegenheitsverletzung objektiv ergibt. Das Verschulden des Schuldners hat der Gläubiger nicht glaubhaft zu machen, es wird vielmehr vermutet; die Vermutung kann vom Schuldner gemäß § 296 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 InsO widerlegt werden (BGH, Beschl. v. 24. September 2009 - IX ZB 288/08, ZInsO 2009, 2069; v. 3. Dezember 2009 - IX ZB 139/07, z.V.b.).
Nach Aktenlage haben sich die Gläubiger in ihren Versagungsanträgen ausschließlich auf den Schlussbericht der Verwalterin vom 15. April 2008 und auf Vorgänge vor diesem Zeitpunkt bezogen. Damit kann kein Verstoß gegen eine Erwerbsobliegenheit in der Zeit vom 4. Juli 2008 bis 30. Juli 2008 dargelegt und glaubhaft gemacht werden.
d) Die Versagung der Restschuldbefreiung wegen Verletzung der in § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO bestimmten Erwerbsobliegenheit setzt voraus, dass hierdurch die Befriedigung der Insolvenzgläubiger beeinträchtigt worden ist (§ 296 Abs. 1 Satz 1 InsO). Hierfür genügt nicht eine abstrakte Gefährdung der Befriedigungsinteressen der Gläubiger, sondern nur eine messbare tatsächliche Beeinträchtigung (BGH, Beschl. v. 5. April 2006 - IX ZB 50/05, NZI 2006, 413; v. 22. Oktober 2009 - IX ZB 160/09, ZInsO 2009, 2210, 2211 Rn. 11 mit weiteren Ausführungen zur Berechnung). Dass der Schuldner in der Zeit vom 4. Juli 2008 bis 30. Juli 2008 sich bei pflichtgemäßen Bemühungen eine derartige Erwerbstätigkeit hätte suchen, sie hätte ausüben und dabei pfändbare Beträge hätte erzielen können, ist nach Aktenlage von den Gläubigern schon nicht glaubhaft gemacht gewesen. Das Beschwerdegericht hat derartiges auch nicht festgestellt.
e) Die von der Rechtsbeschwerde aufgeworfene Frage, ob einem Schuldner, dem die Bundesagentur für Arbeit ermöglicht hat, von der sogenannten "58er-Regelung" Gebrauch zu machen, überhaupt schuldhaft gegen eine Erwerbsobliegenheit nach § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO verstoßen kann, ist bisher nicht entscheidungserheblich. Es liegt fern, dass diese allgemeine Regelung die Erwerbsobliegenheit nach § 295 InsO für das Restschuldbefreiungsverfahren entfallen lassen könnte.
f) Sofern danach der Versagungsgrund des § 295 Abs. 1 Nr. 1, § 296 InsO nicht festzustellen ist, wird sich das Beschwerdegericht nunmehr mit den anderen geltend gemachten Versagungsgründen zu befassen haben.
g) Die vom Amtsgericht aufgehobene Verfahrenskostenstundung ist mit keinem Wort begründet, aber offenbar auf § 4c Nr. 4 InsO gestützt worden. Das Beschwerdegericht hat sich damit nicht erkennbar befasst. Insoweit wird auf die Entscheidung des Senats vom 22. Oktober 2009 (IX ZB 160/09 aaO) hingewiesen.
Ganter Gehrlein Vill
Lohmann Fischer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055517
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100114
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IX ZR 50/07
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Urteil
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§ 7 Abs 5 S 2 KAG TH vom 19.09.2000, § 7 Abs 7 S 2 Nr 1 KAG TH vom 17.12.2004, § 7 Abs 9 KAG TH vom 19.09.2000, § 21a Abs 4 KAG TH, § 10 Abs 1 Nr 3 ZVG
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vorgehend Thüringer Oberlandesgericht, 22. Februar 2007, Az: 1 U 269/06, Urteil vorgehend LG Mühlhausen, 21. Februar 2006, Az: 3 O 443/05, Urteil
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DEU
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Kommunales Abgabenrecht: Fälligkeit einer Beitragsforderung für die Erschließung eines Grundstücks mit Wasserentsorgungseinrichtungen in Thüringen; Vorrang der Beitragsforderung gegenüber Grundschuld nach der Zwangsversteigerung
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 22. Februar 2007 aufgehoben.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Mühlhausen vom 21. Februar 2006 abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen
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Die Klägerin war Inhaberin einer Grundschuld an dem unbebauten Grundstück der Gemarkung N. , Flur Flurstück , Straße in N. . Die beklagte Belegenheitsgemeinde hat gegenüber dem früheren Grundstückseigentümer mit bestandskräftigem Bescheid vom 4. Dezember 2002 auf der Grundlage des Thüringer Kommunalabgabengesetzes (ThürKAG) in der Fassung vom 19. September 2000 einen Beitrag in Höhe von 30.243,51 € für die Erschließung des Grundstücks mit Wasserentsorgungseinrichtungen erhoben. Nach der Zwangsversteigerung des Grundstücks am 11. Februar 2005 hat das Vollstreckungsgericht die Beitragsforderung der Beklagten einschließlich der angefallenen Säumniszuschläge in Höhe von 7.550 € als öffentliche Last im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG angesehen, welche der Grundschuldforderung der Klägerin im Range vorgehe. Auf den Widerspruch der Klägerin hat das Vollstreckungsgericht im Teilungsplan vom 16. März 2005 bestimmt, dass der auf die Forderung der Beklagten entfallende Erlösanteil in Höhe von 37.793,51 € zu hinterlegen und der Klägerin zuzuteilen sei, sofern ihr Widerspruch sich als begründet erweise.
Auf die Widerspruchsklage hat das Landgericht den Teilungsplan dahingehend abgeändert, dass die Grundschuldforderung der Klägerin gegenüber der Beitragsforderung der Beklagten vorrangig zu befriedigen sei. Im Hinblick auf die von der Beklagten verlangten Säumniszuschläge hat das Landgericht die Widerspruchsklage abgewiesen. Nachdem die Berufung der Beklagten erfolglos geblieben ist, verfolgt diese mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision den Antrag auf vollständige Klagabweisung weiter.
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Die Revision hat in der Sache Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat im Anschluss an das Landgericht ausgeführt, die Beitragsforderung der Beklagten habe zwar als öffentliche Last auf dem Grundstück geruht, sei jedoch nicht fällig. Zwar entstehe der Beitragsanspruch bei leitungsgebundenen Einrichtungen grundsätzlich, sobald das Grundstück an diese angeschlossen werden könne (vgl. § 7 Abs. 7 Satz 1 ThürKAG). Auch sehe der Beitragsbescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2002 entsprechend der örtlichen Beitragssatzung vor, dass der Beitrag einen Monat nach Bekanntgabe des Bescheids fällig werde. Mit der Novellierung des ThürKAG durch Gesetz vom 17. Dezember 2004 sei die Fälligkeit von Beitragsforderungen für den Anschluss unbebauter Grundstücke an Abwasserentsorgungseinrichtungen jedoch auf den Zeitpunkt hinausgeschoben worden, zu welchem das Grundstück bebaut und tatsächlich an die Abwasserleitung angeschlossen werde, was vorliegend nicht erfolgt sei (§ 7 Abs. 7 Satz 2 Nr. 1 ThürKAG in der Fassung vom 17. Dezember 2004). Da diese Regelung bei ihrem Inkrafttreten auch bereits entstandene Beiträge erfasse (§ 21a Abs. 4 Satz 1 ThürKAG), sei die Fälligkeit der Beitragsforderung entfallen. Diese sei deshalb nicht als rückständig im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG anzusehen.
II.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist abzuändern.
1. Entgegen der Auffassung der Revision ist das Berufungsurteil nicht schon deshalb unrichtig, weil das Berufungsgericht den Grundsatz der Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten verkannt hätte.
a) Im Ausgangspunkt zutreffend weist die Revision darauf hin, dass Gerichte und Behörden die durch einen Verwaltungsakt getroffene Regelung grundsätzlich ohne eigenständige Überprüfung als verbindlich zu beachten haben (BGHZ 158, 19, 22; BVerwG, NVwZ 1987, 496; Kopp/Ramsauer, VwVfG 10. Aufl. § 43 Rn. 18 f; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG 7. Aufl. § 43 Rn. 137 ff; MünchKomm-ZPO/Zimmermann, 3. Aufl. § 17 GVG Rn. 13). Die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe die Fälligkeit der Beitragsforderung wegen dessen Tatbestandswirkung nicht abweichend vom Beitragsbescheid beurteilen dürfen, setzt jedoch voraus, dass der Bescheid bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht in unveränderter Fassung fortbestand. Grundsätzlich bedarf die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsakts eines gesonderten Verwaltungsakts (vgl. die gemäß § 15 ThürKAG hier entsprechend anwendbare Bestimmung des § 124 Abs. 2 AO). Der Grundsatz steht jedoch unter dem Vorbehalt abweichender spezialgesetzlicher Regelung (vgl. Kopp/Ramsauer, aaO § 43 Rn. 43; Stelkens/Bonk/Sachs, aaO § 43 Rn. 203; Bader/Ronellenfitsch/Schemmer, VwVfG § 43 Rn. 53).
b) Vorliegend hat das Berufungsgericht die Neuregelung in § 21a Abs. 4, § 7 Abs. 7 Satz 2 Nr. 1 ThürKAG in der Fassung des Gesetzes vom 17. Dezember 2004 in der Weise ausgelegt, dass hierdurch nicht lediglich die materielle Neuregelung auf in der Vergangenheit liegende Sachverhalte erstreckt, sondern auch schon bestehende Beitragsbescheide kraft Gesetzes abgeändert werden, ohne dass es eines die Änderung vollziehenden Verwaltungsakts bedürfe. Das Berufungsgericht hat sich insoweit ersichtlich den Ausführungen des Landgerichts angeschlossen, wonach Beitragsbescheide nach der Gesetzesnovelle zwar formal aufrechterhalten bleiben, jedoch die durch Bescheid titulierten Forderungen kraft Gesetzes ihre Fälligkeit verlieren. Diesem Verständnis der ThürKAG-Novelle ist das Berufungsgericht auch in anderen Verfahren gefolgt (vgl. Thüringer OLG, Urt. v. 25. Mai 2007 - 7 U 970/06, bei juris Rn. 24 ff). An die Auslegung des Berufungsgerichts zu dieser nicht über den Bezirk eines Oberlandesgerichts hinaus geltenden landesrechtlichen Regelung ist der Senat nach den gemäß Art. 111 FGG-Reformgesetz hier weiterhin anzuwendenden Bestimmungen der §§ 560, 545 Abs. 1 ZPO in der bis zum 31. August 2009 geltenden Fassung gebunden (vgl. BGH, Urt. v. 19. November 2009 - IX ZR 24/09 Umdruck S. 5 Rn. 8, z.V.b.).
2. Das Berufungsurteil erweist sich jedoch aufgrund des Urteils des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom 23. April 2009 (ThürVerfGH 32/05, bei juris; Leitsatz: NVwZ-RR 2009, 612) als unrichtig.
a) Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat festgestellt, dass die hier gegenständliche Neuregelung des Beitragsrechts für Wasserentsorgungseinrichtungen in § 7 Abs. 7 Satz 2 bis 6 ThürKAG in der Fassung des Gesetzes vom 17. Dezember 2004 mit der Landesverfassung unvereinbar und nichtig ist. Die Entscheidung hat nach § 25 Abs. 2, § 11 Nr. 2 des Thüringer Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof Gesetzeskraft. Das Verfassungsgericht hat damit im Hinblick auf die Fälligkeit noch nicht entrichteter Erschließungsbeiträge für Wasserentsorgungseinrichtungen die vor der ThürKAG-Novelle bestehende Rechtslage wieder hergestellt (ThürVerfGH aaO bei juris Rn. 177). Die Nichtigkeit des vom Berufungsgericht angewandten Rechts ist trotz dessen fehlender Revisibilität (§ 545 ZPO a.F.) auch im Revisionsverfahren beachtlich (vgl. RGZ 152, 86, 90; BGHZ 36, 348, 352; MünchKomm-ZPO/Wenzel, 3. Aufl. § 560 Rn. 6; Musielak/Ball, ZPO 7. Aufl. § 560 Rn. 4).
b) Die Nichtigkeitserklärung durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof ist nicht deshalb unbeachtlich, weil bei der Entscheidung über die Widerspruchsklage nach § 115 Abs. 1 ZVG, §§ 876 ff ZPO auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Verteilungstermins abzustellen ist. Auch wenn die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Zeitpunkt des Verteilungstermins noch nicht vorlag, war die Verfassungswidrigkeit der hier maßgeblichen Bestimmungen der ThürKAG-Novelle bereits im Verteilungstermin gegeben und beruht nicht auf einer nachträglichen Änderung der Rechtslage. Zudem gebieten verfassungsprozessrechtliche Erwägungen die Berücksichtigung der Nichtigkeitserklärung.
Gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG lässt die Nichtigkeitserklärung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht nicht mehr anfechtbare gerichtliche Entscheidungen unberührt; sie führt jedoch zur Unzulässigkeit ihrer Vollstreckung. Hieraus folgt zugleich, dass die Nichtigkeitserklärung bei noch anfechtbaren gerichtlichen Entscheidungen im Rahmen des nach der jeweiligen Verfahrensordnung gegebenen Rechtsmittels stets zu berücksichtigen ist (vgl. Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Bethge, BVerfGG 29. Aufl. § 79 Rn. 51; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht 2. Aufl. Rn. 1255). Gleichlautende Regelungen im Hinblick auf Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte sieht das Bundesrecht nur für die Verwaltungs- und die Finanzgerichtsbarkeit (§ 183 VwGO; § 157 FGO), nicht jedoch die Zivilrechtspflege vor. Während einzelne Landesrechte entsprechende Bestimmungen für die Entscheidung ihrer Verfassungsgerichte vorsehen (§ 24 VerfGHG Sachsen; § 46 VerfGHG Saarland; § 26 Abs. 4 Satz 3 und 4 VerfGHG Rheinland-Pfalz; § 40 Abs. 3 Satz 2 und 3 StGHG Hessen), enthält das Thüringer Recht keine ausdrückliche Regelung. Diese Regelungslücke ist durch Rückgriff auf den in Art. 79 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgedanken (vgl. BVerfGE 20, 230, 236; 37, 217, 262 f; 97, 35, 48; BGHZ 54, 76, 79) zu schließen, welcher auch § 183 VwGO, § 157 FGO sowie den Regelungen der bezeichneten Landesrechte zu Grunde liegt (vgl. Bethge, aaO § 79 Rn. 9; Sodan/Ziekow/Heckmann, VwGO 2. Aufl. § 183 Rn. 23; Pietzner in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO § 183 Rn. 49; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht 16. Aufl. § 159 Rn. 13; vgl. auch Pestalozza, Verfassungsprozessrecht 3. Aufl. § 23 Rn. 125, § 28 Rn. 25, § 29 Rn. 42). Die durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof für nichtig erklärten Bestimmungen der ThürKAG-Novelle vom 17. Dezember 2004 können daher vorliegend nicht mehr zur Anwendung kommen.
c) Wie die Vorinstanzen zutreffend angenommen haben und zwischen den Parteien in rechtlicher Hinsicht auch nicht in Streit steht, war die Beitragsforderung der Beklagten nach der Rechtslage vor der ThürKAG-Novelle vom 17. Dezember 2004 und dem hierauf beruhenden Beitragsbescheid vom 4. Dezember 2002 fällig (§ 7 Abs. 5 Satz 2 ThürKAG in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. September 2000) und ruhte als öffentliche Last auf dem Grundstück (§ 7 Abs. 9 ThürKAG in dieser Fassung). Auf der Grundlage der vom Thüringer Verfassungsgerichtshof wieder hergestellten Gesetzeslage hat folglich das Vollstreckungsgericht zu Recht im Teilungsplan der Beitragsforderung der Beklagten gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG Vorrang gegenüber der Grundschuldforderung der Klägerin eingeräumt (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 19. November 2009 - IX ZR 24/09 z.V.b.).
3. Die Neuregelung des Thüringer Kommunalabgabenrechts durch das Thüringische Beitragsbegrenzungsgesetz vom 18. August 2009 berührt die Richtigkeit des streitgegenständlichen Teilungsplans nicht.
a) Der Thüringer Landesgesetzgeber hat in dem am 28. August 2009 verkündeten Beitragsbegrenzungsgesetz (Thüringer GVBl. S. 646 f) die durch Urteil des Landesverfassungsgerichts vom 23. April 2009 für nichtig erklärten Bestimmungen des ThürKAG durch eine Regelung ersetzt, die in der hier maßgeblichen Frage der Fälligkeit von Erschließungsbeiträgen für Abwasserentsorgungseinrichtungen bei unbebauten Grundstücken vollumfänglich mit der zuvor für nichtig erklärten Fassung übereinstimmt (§ 7 Abs. 7 Satz 2 Nr. 1 ThürKAG in der Fassung des Gesetzes vom 18. August 2009). Der vom Landesverfassungsgericht für nichtig befundenen Gesetzesfassung entspricht auch die Anwendbarkeit der Neuregelung auf zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits entstandene Beitragsforderungen (§ 21a Abs. 4 ThürKAG in dieser Fassung).
Während der Gesetzentwurf ursprünglich vorsah, die Neufassung am Tag nach der Verkündung in Kraft treten zu lassen (Art. 2 des Gesetzentwurfs vom 16. Juni 2009, Thüringer LT-Drucks. 4/5333 S. 7), ist der Gesetzgeber der Beschlussempfehlung des Innenausschusses (Thüringer LT-Drucks. 4/5428 S. 3) gefolgt und hat die Novelle rückwirkend zum 1. Januar 2005 in Kraft gesetzt (Art. 2 Beitragsbegrenzungsgesetz). Der Gesetzgeber hat diese Rückwirkung hier für möglich erachtet, weil sie den Betroffenen lediglich Vorteile bringe (vgl. die Stellungnahme der Abg. Groß, Thüringer LT Plenarprotokoll 4/111 S. 11296). Indem die Neufassung in § 21a Abs. 4 Satz 1 ThürKAG sich auch auf die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beitragsbegrenzungsgesetzes bereits entstandenen Beitragsforderungen bezieht, erfasst diese auch die hier streitgegenständliche Forderung der Beklagten.
b) Unabhängig von der Frage, ob die Erstreckung auf bereits entstandene Beitragsforderungen in § 21a Abs. 4 Satz 1 ThürKAG in der Fassung vom 18. August 2009 deren Fälligkeit kraft Gesetzes abändert oder lediglich einen Anspruch auf Erlass eines Stundungsbescheids verschafft, ist diese Neufassung für die vorliegende Widerspruchsklage nicht beachtlich.
Bei der Entscheidung über die Widerspruchsklage ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Verteilungstermins abzustellen, während spätere Änderungen außer Betracht bleiben (RGZ 62, 168, 171; 65, 62, 66; 75, 313, 315; 84, 8, 10; BGHZ 113, 169, 174 ff, 177; 166, 319, 326 Rn. 19; BGH, Urt. v. 25. Januar 1974 - V ZR 68/72, WM 1974, 371, 372; OLG Düsseldorf, NJW-RR 1989, 599; Zöller/Stöber, ZPO 28. Aufl. § 878 Rn. 14; Musielak/Becker, aaO § 878 Rn. 5; Prütting/Gehrlein/Zempel, ZPO § 878 Rn. 6; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO 68. Aufl. § 878 Rn. 9; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO 30. Aufl. § 878 Rn. 6; a.A. Stein/Jonas/Münzberg, ZPO 22. Aufl. § 878 Rn. 36; MünchKomm-ZPO/Eickmann, 3. Aufl. § 878 Rn. 26; Hk-ZPO/Kindl, 3. Aufl. § 878 Rn. 4). Die Maßgeblichkeit des Zeitpunkts des Verteilungstermins bedeutet dabei keine Abweichung von dem verfahrensrechtlichen Grundsatz, wonach die bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung im Zivilprozess eingetretenen und vorgetragenen Ereignisse Grundlage der Entscheidung sind, sondern stellt eine materiell-rechtliche Regel dar. Der Teilungsplan begründet einen Anspruch auf Zuteilung nach der im Zeitpunkt des Verteilungstermins gegebenen Rechtslage. Wird ein zu diesem Zeitpunkt nicht berechtigter Widerspruch erhoben und findet deshalb insoweit die gesetzlich vorgesehene sofortige Verteilung des Erlöses (§ 117 Abs. 1 ZVG) nicht statt, vermag dieser Widerspruch den Zuteilungsanspruch des Begünstigen nicht zu beseitigen, auch wenn er aufgrund einer später eintretenden rückwirkenden Änderung der Rechtslage als begründet anzusehen sein würde (vgl. BGHZ 113, 169, 176 f).
Im vorliegenden Fall war wegen der Nichtigkeit der ThürKAG-Novelle vom 17. Dezember 2004 zum Zeitpunkt des Verteilungstermins am 16. März 2005 die Fassung des Gesetzes vom 19. September 2000 weiterhin geltendes Recht. Auf dieser Grundlage ist der Beitragsforderung der Beklagten im Teilungsplan zu Recht der Vorrang gegenüber der Grundschuldforderung der Klägerin eingeräumt worden. Die mit Gesetz vom 18. August 2009 rückwirkend zum 1. Januar 2005 erfolgte Änderung des ThürKAG berührt den Zuteilungsanspruch der Beklagten daher nicht.
Ganter Gehrlein Vill
Lohmann Fischer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055519
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BGH
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8. Zivilsenat
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20100112
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VIII ZB 64/09
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Beschluss
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§ 519 Abs 2 Nr 2 ZPO
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vorgehend LG Verden, 13. August 2009, Az: 2 S 101/09, Beschluss vorgehend AG Syke, 10. Februar 2009, Az: 9 C 669/08
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DEU
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Berufungsschrift: Fehlende Bezeichnung der Berufungskläger
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Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Verden vom 13. August 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 1.385 € festgesetzt.
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I.
Die Kläger begehren von dem Beklagten nach Beendigung des Mietvertrages die Rückzahlung der von ihnen geleisteten Mietkaution. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil haben die erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Kläger Berufung eingelegt. Die mit dem Briefkopf der Rechtsanwaltssozietät des Klägervertreters versehene Berufungsschrift, der eine Ablichtung des erstinstanzlichen Urteils anlag, hat folgenden Wortlaut:
" Geschäftszeichen: 9 C 669/08
In Sachen
S. R. und Herrn K.
Bevollmächtigte RAe: K. und Kollegen
gegen
J. P.
Bevollmächtigte RAe: B. & H.
legen wir hiermit gegen das Urteil vom 10.02.2009
Berufung
ein.
Eine Ablichtung des erstinstanzlichen Urteils haben wir in der Anlage mit beigefügt."
Das Landgericht hat die Berufung der Kläger als unzulässig verworfen, weil die Berufungsschrift nicht erkennen lasse, für wen - für die Klägerin zu 1, den Kläger zu 2 oder beide - das Rechtsmittel eingelegt werde. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Kläger.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist kraft Gesetzes statthaft (§ 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) und im Übrigen auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 575 ZPO). Sie ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Der angefochtene Beschluss verletzt das Verfahrensgrundrecht der Kläger auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. dazu BVerfGE 77, 275, 284; 74, 228, 234; BVerfG, NJW 2005, 814, 815; BVerfG, NJW 2003, 281; BVerfG NJW 1991, 3140; Senatsbeschluss vom 27. September 2005 - VIII ZB 105/04, NJW 2005, 3775, unter II 1; BGHZ 151, 221, 227; BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, unter II 1 bb; BGH, Beschluss vom 5. November 2002 - VI ZB 40/02, NJW 2003, 437, unter II 3 b). Indem das Berufungsgericht zu Unrecht (dazu unter 2) davon ausgegangen ist, dass die Berufungsschrift auch durch Auslegung nicht erkennen lasse, für wen das Rechtsmittel eingelegt werde, hat es den Klägern den Zugang zur Berufungsinstanz ungerechtfertigt verwehrt.
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat die Berufung zu Unrecht nach § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen.
a) Das Berufungsgericht ist allerdings in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zutreffend davon ausgegangen, dass zum notwendigen Inhalt der Berufungsschrift gemäß § 519 Abs. 2 ZPO auch die Angabe gehört, für und gegen welche Partei das Rechtsmittel eingelegt wird. Aus der Berufungsschrift muss entweder für sich allein oder mit Hilfe weiterer Unterlagen bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eindeutig zu erkennen sein, wer Berufungskläger und wer Berufungsbeklagter sein soll. Dabei sind vor allem an die eindeutige Bezeichnung des Rechtsmittelführers strenge Anforderungen zu stellen; bei verständiger Würdigung des gesamten Vorgangs der Rechtsmitteleinlegung muss jeder Zweifel an der Person des Rechtsmittelklägers ausgeschlossen sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die erforderliche Klarheit über die Person des Berufungsklägers ausschließlich durch dessen ausdrückliche Bezeichnung zu erzielen wäre; sie kann auch im Wege der Auslegung der Berufungsschrift und der etwa sonst vorliegenden Unterlagen gewonnen werden. Dabei sind, wie auch sonst bei der Ausdeutung von Prozesserklärungen, alle Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Die Anforderungen an die zur Kennzeichnung der Rechtsmittelparteien nötigen Angaben richten sich nach dem prozessualen Zweck dieses Erfordernisses, also danach, dass im Falle einer Berufung, die einen neuen Verfahrensabschnitt vor einem anderen als dem bis dahin mit der Sache befassten Gericht eröffnet, zur Erzielung eines auch weiterhin geordneten Verfahrensablaufs aus Gründen der Rechtssicherheit die Parteien des Rechtsmittelverfahrens, insbesondere die Person des Rechtsmittelführers, zweifelsfrei erkennbar sein müssen (Senatsbeschlüsse vom 9. April 2008 - VIII ZB 58/06, NJW-RR 2008, 1161, Tz. 5, und vom 6. Dezember 2005 - VIII ZB 30/05, juris, Tz. 4; BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2006 - XI ZB 14/06, NJW-RR 2007, 413, Tz. 8; BGH, Beschluss vom 13. März 2007 - XI ZB 13/06, FamRZ 2007, 903, Tz. 7; jeweils m.w.N.).
b) Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht zu Unrecht angenommen, es sei innerhalb der Berufungsfrist nicht erkennbar gewesen, für wen mit dem Schriftsatz vom 19. März 2009 Berufung eingelegt worden sei.
aa) Die Auslegung von Prozesshandlungen und damit auch der Berufungsschrift unterliegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der freien revisionsrechtlichen Nachprüfung (Senatsbeschluss vom 24. Juni 1992 - VIII ZR 203/91, NJW 1992, 2413, unter I 2 a; BGH, Beschluss vom 20. Januar 2004 - VI ZB 68/03, NJW-RR 2004, 862, unter II 3 a; jeweils m.w.N.). Sie orientiert sich an dem Grundsatz, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und dem recht verstandenen Interesse entspricht. Lediglich theoretisch mögliche Zweifel, für die tatsächliche Anhaltspunkte nicht festgestellt sind, können bei der Auslegung der Berufungsschrift nicht ausschlaggebend sein (BGH, Beschluss vom 20. Januar 2004, aaO).
bb) In der hier zu beurteilenden Berufungsschrift werden zwar die Parteirollen nicht genannt. Der Berufungsschrift war jedoch eine Abschrift der angefochtenen Entscheidung beigefügt. Diesem vom Berufungsgericht nicht berücksichtigten Umstand kommt entscheidende Bedeutung zu. Denn die in der Sollvorschrift des § 519 Abs. 3 ZPO vorgesehene Vorlage einer Ausfertigung oder beglaubigten Abschrift des angefochtenen Urteils ist zwar nicht der einzige Umstand, aufgrund dessen sich eine fehlende Angabe in der Berufungsschrift als unschädlich erweisen kann; sie stellt indessen ein geeignetes Mittel und letztlich den sichersten Weg dar, um Zweifelsfälle zu vermeiden (vgl. BGHZ 165, 371, 373; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2006 - IV ZB 20/06, NJW-RR 2007, 935, Tz. 8). Im vorliegenden Fall lässt sich durch einen Abgleich der Berufungsschrift mit der beigefügten Abschrift des erstinstanzlichen Urteils jeder vernünftige Zweifel hinsichtlich der Frage, ob für beide oder nur für einen Kläger Berufung eingelegt werden soll, ausräumen.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts besteht kein Zweifel, dass mit der Berufungsschrift das Rechtsmittel für beide Kläger eingelegt worden ist. Im Eingang des angefochtenen Urteils des Amtsgerichts wird als Prozessbevollmächtigter beider Kläger die Rechtsanwaltssozietät genannt, zu der der Klägervertreter gehört und unter deren - auch seinen Namen aufweisenden - Briefkopf er die Berufungsschrift gefertigt hat. Hinzu kommt, dass die genannte Rechtsanwaltssozietät auch im Rubrum der Berufungsschrift als Prozessbevollmächtigte der Kläger aufgeführt wird. Ferner ergibt sich aus der Urteilsformel des Amtsgerichts, dass die Klage in vollem Umfang abgewiesen worden ist. Vernünftige Zweifel, dass das Rechtsmittel für beide Kläger eingelegt worden ist, können bei dieser Sachlage - zumal beide Kläger in der Berufungsschrift aufgeführt sind und sich der Berufungsschrift auch ansonsten keine Anhaltspunkte für eine Beschränkung der Rechtsmitteleinlegung auf einen der Kläger entnehmen lassen - nicht aufkommen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2005 - V ZB 42/04, BGHReport 2005, 1216, unter III 2 b).
3. Nach alledem kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Er ist daher aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Ball Dr. Frellesen Dr. Milger
Dr. Fetzer Dr. Bünger
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055708
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BVerwG
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Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs 2 VwGO
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20100107
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20 F 5/09
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Beschluss
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§ 99 Abs 1 S 2 VwGO
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vorgehend Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, 15. Mai 2009, Az: 8 F 430/08, Beschluss
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DEU
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Rechtmäßigkeit einer Sperrerklärung
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Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 15. Mai 2009 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Zwischenverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
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I
Mit der diesem Zwischenverfahren zugrundeliegenden Klage begehrt der Kläger vollständige Auskunft über sämtliche beim Beklagten zu seiner Person gespeicherten Daten und Informationen. Dem anhängigen Zwischenverfahren ist ein erstes Zwischenverfahren vorangegangen, in dem der Senat auf die Beschwerde des Klägers festgestellt hat, dass die auf die Sperrerklärung vom 24. April 2007 gestützte Verweigerung der Aktenvorlage an das Gericht - soweit sie noch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens war - rechtswidrig war, weil der Beigeladene sein Ermessen gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht ordnungsgemäß ausgeübt hatte (Beschluss vom 18. Juni 2008 - BVerwG 20 F 44.07 -). Wie sich aus den Sperrerklärungen vom 24. April 2007 und vom 31. Oktober 2008 ergibt, handelt es sich um Aktenteile einer von dem Beklagten jahrgangsweise geführten Sachakte, in der die Ergebnisse der seit Dezember 1999 bis zum 31. Dezember 2007 dauernden Beobachtung der "Linkspartei.Landesverband Saarland", vormals Landesverband Saarland der "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) festgehalten sind, außerdem um Auszüge aus dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem NADIS der Verfassungsschutzbehörden und der Amtsdatei des Beklagten, die - soweit nicht vorgelegt - gesperrt seien und nur für dieses Verfahren Verwendung fänden.
Mit Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 hat der Beigeladene erneut die vollständige Vorlage der Akten verweigert und hinsichtlich der Sachakte unter Angabe von Blattzahlen dargelegt, welche Aktenseiten ohne Einschränkung und aus welchen Gründen Aktenseiten gar nicht oder nur teilweise geschwärzt vorgelegt werden können, sowie erläutert, aus welchen Gründen die gefertigten Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei nicht vorgelegt werden können. Mit Beschluss vom 15. Mai 2009 hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts festgestellt, dass die Verweigerung der Aktenvorlage rechtmäßig ist. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
II
Die Beschwerde des Klägersist unbegründet. Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts entschieden, dass die Weigerung des Beigeladenen, die begehrten Aktenseiten vorzulegen, auf der Grundlage der Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 rechtmäßig ist.
Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Dokumente dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile, ist ihre Geheimhaltung ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 7. November 2002 - BVerwG 2 AV 2.02 - NVwZ 2003, 347 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 5), das eine Verweigerung der Vorlage gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen kann. Ein Nachteil in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (stRspr, vgl. nur Beschlüsse vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8 = Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 27, vom 25. Februar 2008 - BVerwG 20 F 43.07 - juris Rn. 10, vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F 24.08 - juris Rn. 4, vom 3. März 2009 - BVerwG 20 F 9.08 - juris Rn. 7 - und vom 2. Juli 2009 - BVerwG 20 F 4.09 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 54 Rn. 8). An diesen besonderen Gründen des Geheimnisschutzes hat sich der Beigeladene (nunmehr) ausgerichtet. Wie der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts zutreffend ausgeführt hat, hat der Beigeladene in der (erneuten) Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 erkannt, dass die Gründe, die eine Sperrerklärung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen können, von denjenigen Gründen zu unterscheiden sind, die im Verfahren der Hauptsache zur Verweigerung der Aktenvorlage angeführt werden. Er hat auf dieser Grundlage das ihm gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumte Ermessen ausgeübt und auch erkannt, dass bei der Abwägung neben den Gründen des Geheimnisschutzes nicht nur das öffentliche Interesse an der von Amts wegen gebotenen Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht, sondern auch das private Interesse des Klägers an der Durchsetzung seines Auskunftsanspruchs zu berücksichtigen ist. Ausgerichtet an dem legitimen Anliegen, eine mögliche Gefährdung der künftigen Aufgabenerfüllung des Landesamts für Verfassungsschutz zu verhindern und Quellenschutz zu gewährleisten, hat der Beigeladene im jeweiligen konkreten Einzelfall - bei der Sachakte je Aktenseite - die inhaltliche Qualität der Information in den Blick genommen und zunächst zwischen sog. Deckblattmeldungen und Anlagen unterschieden und dabei wiederum nach verschiedenen Geheimhaltungsinteressen geordnete Gruppen gebildet und untersucht. Auf dieser Grundlage war es ihm dann möglich, die nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO geforderte Abwägung vorzunehmen und dabei auch dem Offenbarungsinteresse des Klägers Rechnung zu tragen, was darin zum Ausdruck kommt, dass er zwischen einer uneingeschränkten Offenlegung, einer durch Schwärzungen eingeschränkten Offenlegung und einer Vorenthaltung der übrigen Seiten der Sachakte sowie der Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei unterschieden hat. Dass er dabei alle sog. Deckblattmeldungen schon aus inhaltlichen Gründen wegen der Vielzahl der enthaltenen Informationen zur Arbeitsweise des Beklagten und aus der Zusammenarbeit mit Quellen als schützenswert erachtet hat, ist nicht zu beanstanden. Daten, die dem Quellenschutz dienen oder Methoden der operativen Arbeit der Sicherheitsbehörde bei einer Offenlegung offenbaren würden, lassen Rückschlüsse auf geheime Einschätzungen und Entscheidungsbildungen auch in Sachfragen zu. Das gilt auch für die verweigerte Vorlage der Auszüge aus NADIS. Ebenso wenig sind die formalen Gesichtspunkte zu beanstanden, an Hand derer der Beigeladene in jedem Einzelfall entschieden hat, welche als Anlagen und sonstige Bestandteile bezeichneten Aktenseiten im Interesse des Klägers insgesamt oder nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zumindest teilweise - mit Schwärzungen - vorgelegt werden können. Wie der Senat bereits entschieden hat, sind formale, die Aktenführung betreffende Gesichtspunkte wie beispielsweise Aktenzeichen, Organisationskennzeichen und Bezeichnungen des Verwaltungsvorgangs, Handzeichen und Mitarbeiternamen, Verfügungen, schriftliche Randbemerkungen, Arbeitshinweise und Querverweise, Hervorhebungen und Unterstreichungen grundsätzlich geeignet, vor allem im Rahmen einer umfangreichen Zusammenschau, die künftige Aufgabenerfüllung der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden zu erschweren, weil sich daraus Rückschlüsse auf Arbeitsweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung ableiten lassen (vgl. nur Beschlüsse vom 1. August 2007 - BVerwG 20 F 10.06 - juris Rn. 7 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 9). Auch die weitere Differenzierung bei den als Anlagen bezeichneten Aktenseiten, bei der unter dem Gesichtspunkt des Quellenschutzes unterschieden wird, ob es sich um Informationen, die ausschließlich für einen beschränkten Personenkreis bestimmt waren, oder um Dokumente und Unterlagen allgemeinen Inhalts handelt, die aber angesichts des Zeitpunkts der Kenntniserlangung im kleinen Personenkreis Rückschlüsse auf die Quelle erlauben, zeigt, dass der Beigeladene berücksichtigt hat, im Rahmen seiner Ermessenserwägungen gerade auch dem Offenbarungsinteresse des Klägers an den in der Sachakte des Beklagten zusammengetragenen Informationen Rechnung zu tragen.
Vor diesem Hintergrund ist - wie auch der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts angemerkt hat - der Einwand des Klägers, die Sperrerklärung vom31. Oktober 2008 leide an demselben Ermessensfehler wie die ursprüngliche Sperrerklärung, nicht nachvollziehbar. Die vom Senat mit Beschluss vom 18. Juni 2008 beanstandete Sperrerklärung vom 24. April 2007 beschränkte sich darauf, ohne jegliche Differenzierung nach Art der Information und Grund der Weigerung pauschal auf eine Geheimhaltungsbedürftigkeit aller Unterlagen zu verweisen.
Der Senat hat die ihm im Original vorgelegten Seiten der Sachakte, die dem Kläger nicht oder nur als Kopien mit Schwärzungen zugänglich gemacht worden sind, sowie die Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei im Einzelnen durchgesehen. Dabei hat sich ergeben, dass der Beigeladene keine Informationen vorenthalten und keine Eintragungen geschwärzt hat, die nicht den oben aufgeführten Kriterien entsprechen und gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO geheimhaltungsbedürftig sind. Die Einsicht hat auch bestätigt, dass es sich bei den Eintragungen in der Amtsdatei lediglich um Zusammenfassungen von Informationen handelt, die bereits in der Sachakte enthalten sind und für die - ebenso wie für die Auszüge aus NADIS - Geheimhaltungsgründe vorliegen, soweit die Informationen nicht bereits bekannt gegeben worden sind.
Der unter Bezugnahme auf das gerichtliche Schreiben des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts vom 4. Februar 2009 erhobene Einwand des Klägers, im Hauptsacheverfahren werde lediglich vollständige Auskunft über sämtliche zu seiner Person gespeicherten Daten und Informationen verlangt, auch das Verwaltungsgericht habe die "einschlägigen" Verwaltungsakten angefordert, sodass die Vorlage eines ganzen Aktenordners als bewusste Verschleierungs- und Vernebelungstaktik anzusehen sei, zielt anscheinend - soweit sich der Vortrag dem Senat erschließt - auf den Vorwurf, der Beigeladene schaffe sich selbst durch Hinzuziehung von Material, das keinen Bezug zum Kläger habe, überhaupt erst die Voraussetzungen, um Unterscheidungen treffen zu können und damit den Anschein einer sorgfältigen Ermessensentscheidung zu erzeugen. Dieser Vorwurf liegt neben der Sache. Die Einsicht hat bestätigt, dass die Sachakte Informationen enthält, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Klägers für die damals beobachtete Partei angefallen sind. Das gilt auch für Dokumente und Unterlagen mit allgemeinem Inhalt, die indes die Besonderheit aufweisen, dass sie vor dem Zeitpunkt der Allgemeinzugänglichkeit durch den Einsatz sicherheitsbehördlicher Mittel erlangt wurden. Soweit Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Beklagten ausgeschlossen erscheinen, hat der Beigeladene die Unterlagen z.T. vollständig, z.T. mit Schwärzungen auch vorgelegt. Ob - wie der Kläger weiter geltend macht - die bis zum31. Dezember 2007 dauernde Beobachtung der Partei und der damit verbundene Einsatz von sicherheitsbehördlichen Mitteln rechtmäßig war, ist keine Frage, über die der nach § 99 Abs. 2 VwGO angerufene Fachsenat zu entscheiden hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100055708&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055709
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BVerwG
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Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs 2 VwGO
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20100107
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20 F 7/09
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Beschluss
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vorgehend Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, 15. Mai 2009, Az: 8 F 433/08, Beschluss
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DEU
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Die gegen diese Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 25.05.2012 - 1 BvR 554/10 - nicht zur Entscheidung angenommen.
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Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 15. Mai 2009 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zwischenverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
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I
Mit der diesem Zwischenverfahren zugrundeliegenden Klage begehrt die Klägerin vollständige Auskunft über sämtliche beim Beklagten zu ihrer Person gespeicherten Daten und Informationen. Dem anhängigen Zwischenverfahren ist ein erstes Zwischenverfahren vorangegangen, in dem der Senat auf die Beschwerde der Klägerin festgestellt hat, dass die auf die Sperrerklärung vom 18. September 2007 gestützte Verweigerung der Aktenvorlage an das Gericht - soweit sie noch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens war - rechtswidrig war, weil der Beigeladene sein Ermessen gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht ordnungsgemäß ausgeübt hatte (Beschluss vom 18. Juni 2008 - BVerwG 20 F 47.07 -). Wie sich aus den Sperrerklärungen vom 18. September 2007 und vom 31. Oktober 2008 ergibt, handelt es sich um Aktenteile einer von dem Beklagten jahrgangsweise geführten Sachakte, in der die Ergebnisse der seit Dezember 1999 bis zum 31. Dezember 2007 dauernden Beobachtung der "Linkspartei.Landesverband Saarland", vormals Landesverband Saarland der "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) festgehalten sind, außerdem um Auszüge aus dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem NADIS der Verfassungsschutzbehörden und der Amtsdatei des Beklagten, die - soweit nicht vorgelegt - gesperrt seien und nur für dieses Verfahren Verwendung fänden.
Mit Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 hat der Beigeladene erneut die vollständige Vorlage der Akten verweigert und hinsichtlich der Sachakte unter Angabe von Blattzahlen dargelegt, welche Aktenseiten ohne Einschränkung und aus welchen Gründen Aktenseiten gar nicht oder nur teilweise geschwärzt vorgelegt werden können, sowie erläutert, aus welchen Gründen die gefertigten Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei nicht vorgelegt werden können. Mit Beschluss vom 15. Mai 2009 hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts festgestellt, dass die Verweigerung der Aktenvorlage rechtmäßig ist. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin.
II
Die Beschwerde der Klägerin ist unbegründet. Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts entschieden, dass die Weigerung des Beigeladenen, die begehrten Aktenseiten vorzulegen, auf der Grundlage der Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 rechtmäßig ist.
Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Dokumente dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile, ist ihre Geheimhaltung ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 7. November 2002 - BVerwG 2 AV 2.02 - NVwZ 2003, 347 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 5), das eine Verweigerung der Vorlage gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen kann. Ein Nachteil in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (stRspr, vgl. nur Beschlüsse vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8 = Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 27, vom 25. Februar 2008 - BVerwG 20 F 43.07 - juris Rn. 10, vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F 24.08 - juris Rn. 4, vom 3. März 2009 - BVerwG 20 F 9.08 - juris Rn. 7 - und vom 2. Juli 2009 - BVerwG 20 F 4.09 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 54 Rn. 8). An diesen besonderen Gründen des Geheimnisschutzes hat sich der Beigeladene (nunmehr) ausgerichtet. Wie der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts zutreffend ausgeführt hat, hat der Beigeladene in der (erneuten) Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 erkannt, dass die Gründe, die eine Sperrerklärung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen können, von denjenigen Gründen zu unterscheiden sind, die im Verfahren der Hauptsache zur Verweigerung der Aktenvorlage angeführt werden. Er hat auf dieser Grundlage das ihm gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumte Ermessen ausgeübt und auch erkannt, dass bei der Abwägung neben den Gründen des Geheimnisschutzes nicht nur das öffentliche Interesse an der von Amts wegen gebotenen Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht, sondern auch das private Interesse der Klägerin an der Durchsetzung ihres Auskunftsanspruchs zu berücksichtigen ist. Ausgerichtet an dem legitimen Anliegen, eine mögliche Gefährdung der künftigen Aufgabenerfüllung des Landesamts für Verfassungsschutz zu verhindern und Quellenschutz zu gewährleisten, hat der Beigeladene im jeweiligen konkreten Einzelfall - bei der Sachakte je Aktenseite - die inhaltliche Qualität der Information in den Blick genommen und zunächst zwischen sog. Deckblattmeldungen und Anlagen unterschieden und dabei wiederum nach verschiedenen Geheimhaltungsinteressen geordnete Gruppen gebildet und untersucht. Auf dieser Grundlage war es ihm dann möglich, die nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO geforderte Abwägung vorzunehmen und dabei auch dem Offenbarungsinteresse der Klägerin Rechnung zu tragen, was darin zum Ausdruck kommt, dass er zwischen einer uneingeschränkten Offenlegung, einer durch Schwärzungen eingeschränkten Offenlegung und einer Vorenthaltung der übrigen Seiten der Sachakte sowie der Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei unterschieden hat. Dass er dabei alle sog. Deckblattmeldungen schon aus inhaltlichen Gründen wegen der Vielzahl der enthaltenen Informationen zur Arbeitsweise des Beklagten und aus der Zusammenarbeit mit Quellen als schützenswert erachtet hat, ist nicht zu beanstanden. Daten, die dem Quellenschutz dienen oder Methoden der operativen Arbeit der Sicherheitsbehörde bei einer Offenlegung offenbaren würden, lassen Rückschlüsse auf geheime Einschätzungen und Entscheidungsbildungen auch in Sachfragen zu. Das gilt auch für die verweigerte Vorlage der Auszüge aus NADIS. Ebenso wenig sind die formalen Gesichtspunkte zu beanstanden, an Hand derer der Beigeladene in jedem Einzelfall entschieden hat, welche als Anlagen und sonstige Bestandteile bezeichneten Aktenseiten im Interesse der Klägerin insgesamt oder nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zumindest teilweise - mit Schwärzungen - vorgelegt werden können. Wie der Senat bereits entschieden hat, sind formale, die Aktenführung betreffende Gesichtspunkte wie beispielsweise Aktenzeichen, Organisationskennzeichen und Bezeichnungen des Verwaltungsvorgangs, Handzeichen und Mitarbeiternamen, Verfügungen, schriftliche Randbemerkungen, Arbeitshinweise und Querverweise, Hervorhebungen und Unterstreichungen grundsätzlich geeignet, vor allem im Rahmen einer umfangreichen Zusammenschau, die künftige Aufgabenerfüllung der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden zu erschweren, weil sich daraus Rückschlüsse auf Arbeitsweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung ableiten lassen (vgl. nur Beschlüsse vom 1. August 2007 - BVerwG 20 F 10.06 - juris Rn. 7 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 9). Auch die weitere Differenzierung bei den als Anlagen bezeichneten Aktenseiten, bei der unter dem Gesichtspunkt des Quellenschutzes unterschieden wird, ob es sich um Informationen, die ausschließlich für einen beschränkten Personenkreis bestimmt waren, oder um Dokumente und Unterlagen allgemeinen Inhalts handelt, die aber angesichts des Zeitpunkts der Kenntniserlangung im kleinen Personenkreis Rückschlüsse auf die Quelle erlauben, zeigt, dass der Beigeladene berücksichtigt hat, im Rahmen seiner Ermessenserwägungen gerade auch dem Offenbarungsinteresse der Klägerin an den in der Sachakte des Beklagten zusammengetragenen Informationen Rechnung zu tragen.
Vor diesem Hintergrund ist - wie auch der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts angemerkt hat - der Einwand der Klägerin, die Sperrerklärung vom31. Oktober 2008 leide an demselben Ermessensfehler wie die ursprüngliche Sperrerklärung, nicht nachvollziehbar. Die vom Senat mit Beschluss vom 18. Juni 2008 beanstandete Sperrerklärung vom 18. September 2007 beschränkte sich darauf, ohne jegliche Differenzierung nach Art der Information und Grund der Weigerung pauschal auf eine Geheimhaltungsbedürftigkeit aller Unterlagen zu verweisen.
Der Senat hat die ihm im Original vorgelegten Seiten der Sachakte, die der Klägerin nicht oder nur als Kopien mit Schwärzungen zugänglich gemacht worden sind, sowie die Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei im Einzelnen durchgesehen. Dabei hat sich ergeben, dass der Beigeladene keine Informationen vorenthalten und keine Eintragungen geschwärzt hat, die nicht den oben aufgeführten Kriterien entsprechen und gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO geheimhaltungsbedürftig sind. Die Einsicht hat auch bestätigt, dass es sich bei den Eintragungen in der Amtsdatei lediglich um Zusammenfassungen von Informationen handelt, die bereits in der Sachakte enthalten sind und für die - ebenso wie für die Auszüge aus NADIS - Geheimhaltungsgründe vorliegen, soweit die Informationen nicht bereits bekannt gegeben worden sind.
Der unter Bezugnahme auf das gerichtliche Schreiben des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts vom 4. Februar 2009 erhobene Einwand der Klägerin, im Hauptsacheverfahren werde lediglich vollständige Auskunft über sämtliche zu ihrer Person gespeicherten Daten und Informationen verlangt, auch das Verwaltungsgericht habe die "einschlägigen" Verwaltungsakten angefordert, sodass die Vorlage eines ganzen Aktenordners als bewusste Verschleierungs- und Vernebelungstaktik anzusehen sei, zielt anscheinend - soweit sich der Vortrag dem Senat erschließt - auf den Vorwurf, der Beigeladene schaffe sich selbst durch Hinzuziehung von Material, das keinen Bezug zur Klägerin habe, überhaupt erst die Voraussetzungen, um Unterscheidungen treffen zu können und damit den Anschein einer sorgfältigen Ermessensentscheidung zu erzeugen. Dieser Vorwurf liegt neben der Sache. Die Einsicht hat bestätigt, dass die Sachakte Informationen enthält, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Klägerin für die damals beobachtete Partei angefallen sind. Das gilt auch für Dokumente und Unterlagen mit allgemeinem Inhalt, die indes die Besonderheit aufweisen, dass sie vor dem Zeitpunkt der Allgemeinzugänglichkeit durch den Einsatz sicherheitsbehördlicher Mittel erlangt wurden. Soweit Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Beklagten ausgeschlossen erscheinen, hat der Beigeladene die Unterlagen z.T. vollständig, z.T. mit Schwärzungen auch vorgelegt. Ob - wie die Klägerin weiter geltend macht - die bis zum31. Dezember 2007 dauernde Beobachtung der Partei und der damit verbundene Einsatz von sicherheitsbehördlichen Mitteln rechtmäßig war, ist keine Frage, über die der nach § 99 Abs. 2 VwGO angerufene Fachsenat zu entscheiden hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
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Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs 2 VwGO
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vorgehend Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, 15. Mai 2009, Az: 8 F 431/08, Beschluss
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DEU
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Die gegen diese Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 25.05.2012 - 1 BvR 555/10 - nicht zur Entscheidung angenommen.
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Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 15. Mai 2009 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Zwischenverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
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I
Mit der diesem Zwischenverfahren zugrundeliegenden Klage begehrt der Kläger vollständige Auskunft über sämtliche beim Beklagten zu seiner Person gespeicherten Daten und Informationen. Dem anhängigen Zwischenverfahren ist ein erstes Zwischenverfahren vorangegangen, in dem der Senat auf die Beschwerde des Klägers festgestellt hat, dass die auf die Sperrerklärung vom 20. Juni 2007 gestützte Verweigerung der Aktenvorlage an das Gericht - soweit sie noch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens war - rechtswidrig war, weil der Beigeladene sein Ermessen gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht ordnungsgemäß ausgeübt hatte (Beschluss vom 18. Juni 2008 - BVerwG 20 F 46.07 -). Wie sich aus den Sperrerklärungen vom 20. Juni 2007 und vom 31. Oktober 2008 ergibt, handelt es sich um Aktenteile einer von dem Beklagten jahrgangsweise geführten Sachakte, in der die Ergebnisse der seit Dezember 1999 bis zum 31. Dezember 2007 dauernden Beobachtung der "Linkspartei.Landesverband Saarland", vormals Landesverband Saarland der "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) festgehalten sind, außerdem um Auszüge aus dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem NADIS der Verfassungsschutzbehörden und der Amtsdatei des Beklagten, die - soweit nicht vorgelegt - gesperrt seien und nur für dieses Verfahren Verwendung fänden.
Mit Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 hat der Beigeladene erneut die vollständige Vorlage der Akten verweigert und hinsichtlich der Sachakte unter Angabe von Blattzahlen dargelegt, welche Aktenseiten ohne Einschränkung und aus welchen Gründen Aktenseiten gar nicht oder nur teilweise geschwärzt vorgelegt werden können, sowie erläutert, aus welchen Gründen die gefertigten Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei nicht vorgelegt werden können. Mit Beschluss vom 15. Mai 2009 hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts festgestellt, dass die Verweigerung der Aktenvorlage rechtmäßig ist. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
II
Die Beschwerde des Klägersist unbegründet. Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts entschieden, dass die Weigerung des Beigeladenen, die begehrten Aktenseiten vorzulegen, auf der Grundlage der Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 rechtmäßig ist.
Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Dokumente dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile, ist ihre Geheimhaltung ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 7. November 2002 - BVerwG 2 AV 2.02 - NVwZ 2003, 347 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 5), das eine Verweigerung der Vorlage gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen kann. Ein Nachteil in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (stRspr, vgl. nur Beschlüsse vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8 = Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 27, vom 25. Februar 2008 - BVerwG 20 F 43.07 - juris Rn. 10, vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F 24.08 - juris Rn. 4, vom 3. März 2009 - BVerwG 20 F 9.08 - juris Rn. 7 - und vom 2. Juli 2009 - BVerwG 20 F 4.09 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 54 Rn. 8). An diesen besonderen Gründen des Geheimnisschutzes hat sich der Beigeladene (nunmehr) ausgerichtet. Wie der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts zutreffend ausgeführt hat, hat der Beigeladene in der (erneuten) Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 erkannt, dass die Gründe, die eine Sperrerklärung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen können, von denjenigen Gründen zu unterscheiden sind, die im Verfahren der Hauptsache zur Verweigerung der Aktenvorlage angeführt werden. Er hat auf dieser Grundlage das ihm gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumte Ermessen ausgeübt und auch erkannt, dass bei der Abwägung neben den Gründen des Geheimnisschutzes nicht nur das öffentliche Interesse an der von Amts wegen gebotenen Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht, sondern auch das private Interesse des Klägers an der Durchsetzung seines Auskunftsanspruchs zu berücksichtigen ist. Ausgerichtet an dem legitimen Anliegen, eine mögliche Gefährdung der künftigen Aufgabenerfüllung des Landesamts für Verfassungsschutz zu verhindern und Quellenschutz zu gewährleisten, hat der Beigeladene im jeweiligenkonkreten Einzelfall - bei der Sachakte je Aktenseite - die inhaltliche Qualität der Information in den Blick genommen und zunächst zwischen sog. Deckblattmeldungen und Anlagen unterschieden und dabei wiederum nach verschiedenen Geheimhaltungsinteressen geordnete Gruppen gebildet und untersucht. Auf dieser Grundlage war es ihm dann möglich, die nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO geforderte Abwägung vorzunehmen und dabei auch dem Offenbarungsinteresse des Klägers Rechnung zu tragen, was darin zum Ausdruck kommt, dass er zwischen einer uneingeschränkten Offenlegung, einer durch Schwärzungen eingeschränkten Offenlegung und einer Vorenthaltung der übrigen Seiten der Sachakte sowie der Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei unterschieden hat. Dass er dabei alle sog. Deckblattmeldungen schon aus inhaltlichen Gründen wegen der Vielzahl der enthaltenen Informationen zur Arbeitsweise des Beklagten und aus der Zusammenarbeit mit Quellen als schützenswert erachtet hat, ist nicht zu beanstanden. Daten, die dem Quellenschutz dienen oder Methoden der operativen Arbeit der Sicherheitsbehörde bei einer Offenlegung offenbaren würden, lassen Rückschlüsse auf geheime Einschätzungen und Entscheidungsbildungen auch in Sachfragen zu. Das gilt auch für die verweigerte Vorlage der Auszüge aus NADIS. Ebenso wenig sind die formalen Gesichtspunkte zu beanstanden, an Hand derer der Beigeladene in jedem Einzelfall entschieden hat, welche als Anlagen und sonstige Bestandteile bezeichneten Aktenseiten im Interesse des Klägers insgesamt oder nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zumindest teilweise - mit Schwärzungen - vorgelegt werden können. Wie der Senat bereits entschieden hat, sind formale, die Aktenführung betreffende Gesichtspunkte wie beispielsweise Aktenzeichen, Organisationskennzeichen und Bezeichnungen des Verwaltungsvorgangs, Handzeichen und Mitarbeiternamen, Verfügungen, schriftliche Randbemerkungen, Arbeitshinweise und Querverweise, Hervorhebungen und Unterstreichungen grundsätzlich geeignet, vor allem im Rahmen einer umfangreichen Zusammenschau, die künftige Aufgabenerfüllung der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden zu erschweren, weil sich daraus Rückschlüsse auf Arbeitsweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung ableiten lassen (vgl. nur Beschlüsse vom 1. August 2007 - BVerwG 20 F 10.06 - juris Rn. 7 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 9). Auch die weitere Differenzierung bei den als Anlagen bezeichneten Aktenseiten, bei der unter dem Gesichtspunkt des Quellenschutzes unterschieden wird, ob es sich um Informationen, die ausschließlich für einen beschränkten Personenkreis bestimmt waren, oder um Dokumente und Unterlagen allgemeinen Inhalts handelt, die aber angesichts des Zeitpunkts der Kenntniserlangung im kleinen Personenkreis Rückschlüsse auf die Quelle erlauben, zeigt, dass der Beigeladene berücksichtigt hat, im Rahmen seiner Ermessenserwägungen gerade auch dem Offenbarungsinteresse des Klägers an den in der Sachakte des Beklagten zusammengetragenen Informationen Rechnung zu tragen.
Vor diesem Hintergrund ist - wie auch der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts angemerkt hat - der Einwand des Klägers, die Sperrerklärung vom31. Oktober 2008 leide an demselben Ermessensfehler wie die ursprüngliche Sperrerklärung, nicht nachvollziehbar. Die vom Senat mit Beschluss vom 18. Juni 2008 beanstandete Sperrerklärung vom 20. Juni 2007 beschränkte sich darauf, ohne jegliche Differenzierung nach Art der Information und Grund der Weigerung pauschal auf eine Geheimhaltungsbedürftigkeit aller Unterlagen zu verweisen.
Der Senat hat die ihm im Original vorgelegten Seiten der Sachakte, die dem Kläger nicht oder nur als Kopien mit Schwärzungen zugänglich gemacht worden sind, sowie die Auszüge aus NADIS und der Amtsdatei im Einzelnen durchgesehen. Dabei hat sich ergeben, dass der Beigeladene keine Informationen vorenthalten und keine Eintragungen geschwärzt hat, die nicht den oben aufgeführten Kriterien entsprechen und gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO geheimhaltungsbedürftig sind. Die Einsicht hat auch bestätigt, dass es sich bei den Eintragungen in der Amtsdatei lediglich um Zusammenfassungen von Informationen handelt, die bereits in der Sachakte enthalten sind und für die - ebenso wie für die Auszüge aus NADIS - Geheimhaltungsgründe vorliegen, soweit die Informationen nicht bereits bekannt gegeben worden sind.
Der unter Bezugnahme auf das gerichtliche Schreiben des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts vom 4. Februar 2009 erhobene Einwand des Klägers, im Hauptsacheverfahren werde lediglich vollständige Auskunft über sämtliche zu seiner Person gespeicherten Daten und Informationen verlangt, auch das Verwaltungsgericht habe die "einschlägigen" Verwaltungsakten angefordert, sodass die Vorlage eines ganzen Aktenordners als bewusste Verschleierungs- und Vernebelungstaktik anzusehen sei, zielt anscheinend - soweit sich der Vortrag dem Senat erschließt - auf den Vorwurf, der Beigeladene schaffe sich selbst durch Hinzuziehung von Material, das keinen Bezug zum Kläger habe, überhaupt erst die Voraussetzungen, um Unterscheidungen treffen zu können und damit den Anschein einer sorgfältigen Ermessensentscheidung zu erzeugen. Dieser Vorwurf liegt neben der Sache. Die Einsicht hat bestätigt, dass die Sachakte Informationen enthält, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Klägers für die damals beobachtete Partei angefallen sind. Das gilt auch für Dokumente und Unterlagen mit allgemeinem Inhalt, die indes die Besonderheit aufweisen, dass sie vor dem Zeitpunkt der Allgemeinzugänglichkeit durch den Einsatz sicherheitsbehördlicher Mittel erlangt wurden. Soweit Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Beklagten ausgeschlossen erscheinen, hat der Beigeladene die Unterlagen z.T. vollständig, z.T. mit Schwärzungen auch vorgelegt. Ob - wie der Kläger weiter geltend macht - die bis zum31. Dezember 2007 dauernde Beobachtung der Partei und der damit verbundene Einsatz von sicherheitsbehördlichen Mitteln rechtmäßig war, ist keine Frage, über die der nach § 99 Abs. 2 VwGO angerufene Fachsenat zu entscheiden hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100055710&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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BVerwG
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Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs 2 VwGO
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20100107
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20 F 9/09
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Beschluss
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vorgehend Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, 15. Mai 2009, Az: 8 F 434/08, Beschluss
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DEU
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Die gegen diese Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 25.05.2012 - 1 BvR 533/10 - nicht zur Entscheidung angenommen.
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Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 15. Mai 2009 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Zwischenverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
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I
Mit der diesem Zwischenverfahren zugrundeliegenden Klage begehrt der Kläger, der auch Verfahrensbevollmächtigter der Kläger der Parallelverfahren BVerwG 20 F 5.09, 7.09 und 8.09 ist, vollständige Auskunft über sämtliche beim Beklagten zu seiner Person gespeicherten Daten und Informationen. Ursprünglich hatte der Beigeladene mit Sperrerklärung vom 14. Mai 2008 die Vorlage der Akten an das Gericht verweigert. Nachdem der Senat mit Beschlüssen vom 18. Juni 2008 in dem ersten Zwischenverfahren der Kläger der Parallelverfahren festgestellt hat, dass die Verweigerung der Aktenvorlage - soweit sie noch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens war - rechtswidrig war, weil der Beigeladene sein Ermessen gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht ordnungsgemäß ausgeübt hatte, hob der Beigeladene mit Schreiben vom 10. September 2008 die Sperrerklärung vom 14. Mai 2008 auf. Wie sich aus den Sperrerklärungen vom 14. Mai 2008 und vom 31. Oktober 2008 ergibt, handelt es sich um Aktenteile einer von dem Beklagten jahrgangsweise geführten Sachakte, in der die Ergebnisse der seit Dezember 1999 bis zum 31. Dezember 2007 dauernden Beobachtung der "Linkspartei.Landesverband Saarland", vormals Landesverband Saarland der "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) festgehalten sind.
Mit Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 hat der Beigeladene erneut die vollständige Vorlage der Akten verweigert und hinsichtlich der Sachakte unter Angabe von Blattzahlen dargelegt, welche Aktenseiten ohne Einschränkung und aus welchen Gründen Aktenseiten gar nicht oder nur teilweise geschwärzt vorgelegt werden können. Mit Beschluss vom 15. Mai 2009 hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts festgestellt, dass die Verweigerung der Aktenvorlage rechtmäßig ist. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
II
Die Beschwerde des Klägersist unbegründet. Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts entschieden, dass die Weigerung des Beigeladenen, die begehrten Aktenseiten vorzulegen, auf der Grundlage der Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 rechtmäßig ist.
Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Dokumente dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile, ist ihre Geheimhaltung ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 7. November 2002 - BVerwG 2 AV 2.02 - NVwZ 2003, 347 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 5), das eine Verweigerung der Vorlage gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen kann. Ein Nachteil in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (stRspr, vgl. nur Beschlüsse vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8 = Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 27, vom 25. Februar 2008 - BVerwG 20 F 43.07 - juris Rn. 10, vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F 24.08 - juris Rn. 4, vom 3. März 2009 - BVerwG 20 F 9.08 - juris Rn. 7 - und vom 2. Juli 2009 - BVerwG 20 F 4.09 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 54 Rn. 8). An diesen besonderen Gründen des Geheimnisschutzes hat sich der Beigeladene (nunmehr) ausgerichtet. Wie der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts zutreffend ausgeführt hat, hat der Beigeladene in der (erneuten) Sperrerklärung vom 31. Oktober 2008 erkannt, dass die Gründe, die eine Sperrerklärung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen können, von denjenigen Gründen zu unterscheiden sind, die im Verfahren der Hauptsache zur Verweigerung der Aktenvorlage angeführt werden. Er hat auf dieser Grundlage das ihm gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumte Ermessen ausgeübt und auch erkannt, dass bei der Abwägung neben den Gründen des Geheimnisschutzes nicht nur das öffentliche Interesse an der von Amts wegen gebotenen Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht, sondern auch das private Interesse des Klägers an der Durchsetzung seines Auskunftsanspruchs zu berücksichtigen ist. Ausgerichtet an dem legitimen Anliegen, eine mögliche Gefährdung der künftigen Aufgabenerfüllung des Landesamts für Verfassungsschutz zu verhindern und Quellenschutz zu gewährleisten, hat der Beigeladene im jeweiligenkonkreten Einzelfall - bei der Sachakte je Aktenseite - die inhaltliche Qualität der Information in den Blick genommen und zunächst zwischen sog. Deckblattmeldungen und Anlagen unterschieden und dabei wiederum nach verschiedenen Geheimhaltungsinteressen geordnete Gruppen gebildet und untersucht. Auf dieser Grundlage war es ihm dann möglich, die nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO geforderte Abwägung vorzunehmen und dabei auch dem Offenbarungsinteresse des Klägers Rechnung zu tragen, was darin zum Ausdruck kommt, dass er zwischen einer uneingeschränkten Offenlegung, einer durch Schwärzungen eingeschränkten Offenlegung und einer Vorenthaltung der übrigen Seiten der Sachakte unterschieden hat. Dass er dabei alle sog. Deckblattmeldungen schon aus inhaltlichen Gründen wegen der Vielzahl der enthaltenen Informationen zur Arbeitsweise des Beklagten und aus der Zusammenarbeit mit Quellen als schützenswert erachtet hat, ist nicht zu beanstanden. Daten, die dem Quellenschutz dienen oder Methoden der operativen Arbeit der Sicherheitsbehörde bei einer Offenlegung offenbaren würden, lassen Rückschlüsse auf geheime Einschätzungen und Entscheidungsbildungen auch in Sachfragen zu. Ebenso wenig sind die formalen Gesichtspunkte zu beanstanden, an Hand derer der Beigeladene in jedem Einzelfall entschieden hat, welche als Anlagen und sonstige Bestandteile bezeichneten Aktenseiten im Interesse des Klägers insgesamt oder nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zumindest teilweise - mit Schwärzungen - vorgelegt werden können. Wie der Senat bereits entschieden hat, sind formale, die Aktenführung betreffende Gesichtspunkte wie beispielsweise Aktenzeichen, Organisationskennzeichen und Bezeichnungen des Verwaltungsvorgangs, Handzeichen und Mitarbeiternamen, Verfügungen, schriftliche Randbemerkungen, Arbeitshinweise und Querverweise, Hervorhebungen und Unterstreichungen grundsätzlich geeignet, vor allem im Rahmen einer umfangreichen Zusammenschau, die künftige Aufgabenerfüllung der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden zu erschweren, weil sich daraus Rückschlüsse auf Arbeitsweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung ableiten lassen (vgl. nur Beschlüsse vom 1. August 2007 - BVerwG 20 F 10.06 - juris Rn. 7 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 9). Auch die weitere Differenzierung bei den als Anlagen bezeichneten Aktenseiten, bei der unter dem Gesichtspunkt des Quellenschutzes unterschieden wird, ob es sich um Informationen, die ausschließlich für einen beschränkten Personenkreis bestimmt waren, oder um Dokumente und Unterlagen allgemeinen Inhalts handelt, die aber angesichts des Zeitpunkts der Kenntniserlangung im kleinen Personenkreis Rückschlüsse auf die Quelle erlauben, zeigt, dass der Beigeladene berücksichtigt hat, im Rahmen seiner Ermessenserwägungen gerade auch dem Offenbarungsinteresse des Klägers an den in der Sachakte des Beklagten zusammengetragenen Informationen Rechnung zu tragen.
Vor diesem Hintergrund ist - wie auch der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts angemerkt hat - der Einwand des Klägers, die Sperrerklärung vom31. Oktober 2008 leide an demselben Ermessensfehler, den der erkennende Senat in dem Beschluss vom 18. Juni 2008 festgestellt habe, nicht nachvollziehbar. Die vom Senat mit Beschluss vom 18. Juni 2008 beanstandete Sperrerklärung vom 24. April 2007 beschränkte sich darauf, ohne jegliche Differenzierung nach Art der Information und Grund der Weigerung pauschal auf eine Geheimhaltungsbedürftigkeit aller Unterlagen zu verweisen.
Der Senat hat die ihm im Original vorgelegten Seiten der Sachakte, die dem Kläger nicht oder nur als Kopien mit Schwärzungen zugänglich gemacht worden sind, im Einzelnen durchgesehen. Dabei hat sich ergeben, dass der Beigeladene keine Informationen vorenthalten und keine Eintragungen geschwärzt hat, die nicht den oben aufgeführten Kriterien entsprechen und gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO geheimhaltungsbedürftig sind.
Der unter Bezugnahme auf das gerichtliche Schreiben des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts vom 4. Februar 2009 erhobene Einwand des Klägers, im Hauptsacheverfahren werde lediglich vollständige Auskunft über sämtliche zu seiner Person gespeicherten Daten und Informationen verlangt, auch das Verwaltungsgericht habe die "einschlägigen" Verwaltungsakten angefordert, sodass die Vorlage eines ganzen Aktenordners als bewusste Verschleierungs- und Vernebelungstaktik anzusehen sei, zielt anscheinend - soweit sich der Vortrag dem Senat erschließt - auf den Vorwurf, der Beigeladene schaffe sich selbst durch Hinzuziehung von Material, das keinen Bezug zum Kläger habe, überhaupt erst die Voraussetzungen, um Unterscheidungen treffen zu können und damit den Anschein einer sorgfältigen Ermessensentscheidung zu erzeugen. Dieser Vorwurf liegt neben der Sache. Die Einsicht hat bestätigt, dass die Sachakte Informationen enthält, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Klägers für die damals beobachtete Partei angefallen sind. Das gilt auch für Dokumente und Unterlagen mit allgemeinem Inhalt, die indes die Besonderheit aufweisen, dass sie vor dem Zeitpunkt der Allgemeinzugänglichkeit durch den Einsatz sicherheitsbehördlicher Mittel erlangt wurden. Soweit Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Beklagten ausgeschlossen erscheinen, hat der Beigeladene die Unterlagen z.T. vollständig, z.T. mit Schwärzungen auch vorgelegt. Ob - wie der Kläger weiter geltend macht - die bis zum31. Dezember 2007 dauernde Beobachtung der Partei und der damit verbundene Einsatz von sicherheitsbehördlichen Mitteln rechtmäßig war, ist keine Frage, über die der nach § 99 Abs. 2 VwGO angerufene Fachsenat zu entscheiden hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100055930
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BVerwG
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8. Senat
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20100126
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8 B 43/09
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Beschluss
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§ 4 Abs 2 S 1 VermG
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vorgehend VG Chemnitz, 12. Dezember 2008, Az: 4 K 1479/01, Urteil
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DEU
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Vorliegen tatsächlicher Voraussetzungen für einen redlichen Erwerb
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Die Beschwerde der Beigeladenen zu 2 und 3 gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 12. Dezember 2008 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladenen zu 2 und 3 tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1, die diese selbst trägt.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 220 000 € festgesetzt.
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die von den Beigeladenen zu 2 und 3 geltend gemachten Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO liegen nicht vor.
1. Die Divergenzrüge gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO greift nicht durch. Die Beschwerde hat nicht dargelegt, mit welchem das angefochtene Urteil unmittelbar tragenden abstrakten Rechtssatz das Verwaltungsgericht von eben einem solchen Rechtssatz in den genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen sein soll. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht keinen Rechtssatz aufgestellt, der den im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Februar 2001 - BVerwG 8 C 10.00 - niedergelegten Rechtssätzen widerspricht. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht den Entscheidungsgründen einen mit diesem Urteil konformen Rechtssatz vorangestellt. Er lautet: „Hierbei gilt der Grundsatz, dass dann, wenn sich nicht abschließend aufklären lässt, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für einen redlichen Erwerb gegeben sind, ein anspruchsausschließender Erwerb nicht angenommen werden kann. Dies gilt allerdings nur dann, wenn überhaupt greifbare Anhaltspunkte für eine mögliche Unredlichkeit des Erwerbers bestehen, die aber für sich allein genommen zur Überzeugungsbildung noch nicht ausreichen.“ (UA S. 8 oben). Diese Formulierung entspricht nahezu wörtlich dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Januar 2000 - BVerwG 7 C 39.98 - und den vorausgegangenen Beschlüssen vom 16. Oktober 1995 - BVerwG 7 B 163.95 - (Buchholz 428 § 4 VermG Nr. 22) und vom 2. November 1998 - BVerwG 8 B 211.98 - (Buchholz 428 § 4 VermG Nr. 59). Mit ihren Ausführungen versucht die Beschwerde, nach Art einer Berufungsbegründung, die Rechtsausführungen des Verwaltungsgerichts anzugreifen, was aber zur Begründung einer Divergenzrüge nicht ausreicht.
2. Erfolglos bleibt auch die erhobene Verfahrensrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, das Verwaltungsgericht sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass in der DDR nach § 8 Abs. 2 der Wohnraumlenkungsverordnung vom 14. September 1967 die Mitwirkung der Wohnungskommission unter anderem „bei der Prüfung der Zuweisungsanträge und für die Unterbreitung eines Vergabevorschlages“ obligatorisch gewesen sei, rügen sie keine Verletzung einer Verfahrensvorschrift im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, also einer für das verwaltungsgerichtliche Verfahren maßgeblichen Regelung des Prozessrechts.
Soweit die Beschwerde mit dem Vorbringen, das Verwaltungsgericht habe unter Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO keine hinreichenden Aufklärungen für seine Feststellungen getroffen, dass die Beschwerdeführer mit ihrer vor dem Wohnungstausch zusammen mit einem Kind bewohnten Vier-Zimmer-Wohnung - Plattenbau - bereits "überversorgt" gewesen seien und dass eine Wohnraumzuweisung für das Einfamilienhaus vom 27. März 1979 nicht vorliege, ist die Verfahrensrüge unzulässig, weil sie nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 VwGO entspricht. Bei einem behaupteten Verstoß gegen das Amtsermittlungsgebot (§ 86 Abs. 1 VwGO) muss substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. Beschluss vom 6. März 1995 - BVerwG 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265).
Diesen Anforderungen wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
Hinsichtlich der behaupteten Aufklärungsbedürftigkeit der für die Wohnraumvergabe in Karl-Marx-Stadt maßgeblichen besonderen Vergabekriterien ("Belegungsnormative") wird in der Beschwerde jedenfalls nicht dargelegt, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Ebenso wird weder dargelegt noch ist ersichtlich, dass bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen.
Soweit die Beschwerdeführer rügen, der Notar sei zu Unrecht nicht als Zeuge dazu vernommen worden, ob die Wohnraumzuweisung vom 27. März 1979 beim Kaufvertragsabschluss tatsächlich vorgelegen habe, ist nicht ersichtlich, dass sie einen entsprechenden Beweisantrag in der ersten Instanz gestellt haben, obwohl das Verwaltungsgericht ausdrücklich auf die fehlende Auffindbarkeit der Wohnraumzuweisung vom 27. März 1979 hingewiesen hatte. Die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer haben auch keine Umstände dafür dargetan, dass sich eine Vernehmung des Notars - ohne Beweisantrag - dem Verwaltungsgericht aufdrängen musste. Dagegen spricht im Übrigen, dass das Verwaltungsgericht auf Grund der bei den Akten befindlichen Wohnraumzuweisung vom 1. November 1979 auf Grund der von ihm gewürdigten Gesamtumstände offenbar zu der Schlussfolgerung gelangt ist, dass für dasselbe Wohnobjekt keine weitere Zuweisung bestanden habe und dass der Hinweis in dem notariellen Kaufvertrag vom 20. September 1979 auf eine am 27. März 1979 erfolgte Zuweisung angesichts der Gesamtumstände nicht der Wahrheit entsprach, zumal im Schreiben der VEB Gebäudewirtschaft an den Rat des Stadtbezirks Süd vom 19. März 1979 u.a. mitgeteilt worden war, dass den Beschwerdeführern vom Stadtbezirk Süd die Wohnraumzuweisung bereits zu diesem Zeitpunkt erteilt gewesen sei, was wiederum - in einer weiteren Version - von den Angaben im notariellen Kaufvertrag abwich.
Auch soweit die Beigeladenen im Hinblick auf die Umstände des Wohnungstausches vom 12. Februar 1979 die unterbliebene Vernehmung der Zeugen N. und Sch. als Aufklärungsmangel rügen, wird in der Beschwerde jedenfalls nicht dargelegt, dass sie im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht einen diesbezüglichen Beweisantrag gestellt haben oder aus welchem Grund sich dem Gericht die Notwendigkeit der Zeugenvernehmung von sich aus hätte aufdrängen müssen.
Soweit die Beschwerdeführer das Unterbleiben weiterer gerichtlicher Feststellungen zu den Umständen und Hintergründen der am 22. Oktober 1979 erfolgten grundbuchrechtlichen Eintragung des Nutzungsrechts rügen, legen sie mit ihrer Beschwerde weder dar, welche weiteren gerichtlichen Aufklärungsmaßnahmen in Betracht gekommen wären noch welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Auch ist wiederum nicht ersichtlich, dass sie bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme einer diesbezüglichen Sachverhaltsaufklärung hingewirkt haben oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen.
Gleiches gilt hinsichtlich des Vortrages der Beschwerdeführer, das Verwaltungsgericht habe keine hinreichenden Feststellungen zum Einbau der Warmwasserheizung und den daraus von ihm gezogenen rechtlichen Schlussfolgerungen getroffen. Soweit die Beschwerdeführer sich sinngemäß gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts wenden, dass ein bereits vor der Grundstücksverkehrsgenehmigung und der Verleihung des dinglichen Nutzungsrechts vorgenommener Einbau einer Warmwasserheizung (Rechnung vom 25. September 1979) gegen die Redlichkeit des Erwerbs spreche, legen sie insbesondere nicht dar, welche Beweismittel das Verwaltungsgericht zur Feststellung der von ihnen angeführten Verwaltungspraxis hätte nutzen müssen sowie welche entscheidungsrelevanten tatsächlichen Feststellungen bei Vernehmung der von ihnen angeführten Zeugen Sch. und N. voraussichtlich getroffen worden wären. Die Zeugen Sch. und N. sind von den Beschwerdeführern lediglich als Zeugen dafür benannt worden, dass die letzte Mieterin des Hauses Ende Juni 1979 ausgezogen sei.
Soweit die Beschwerdeführer sinngemäß einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO rügen, hat ihre Beschwerde ebenfalls keinen Erfolg.
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Tatsachengericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Diese Pflicht verletzt es dann, wenn es seiner Entscheidung den ermittelten Sachverhalt unrichtig oder unvollständig zugrunde legt (vgl. dazu Urteile vom 2. Februar 1984 - BVerwG 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 = Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 145 und vom 25. März 1987 - BVerwG 6 C 10.84 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 183). § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO verlangt zudem, dass im Urteil die Gründe angegeben werden, die für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind. Wie umfangreich und detailliert dies zu geschehen hat, lässt sich nicht abstrakt umschreiben. Im Allgemeinen genügt es, wenn der Begründung entnommen werden kann, dass das Gericht eine vernünftige und der jeweiligen Sache angemessene Gesamtwürdigung und Beurteilung vorgenommen hat (Beschluss vom 12. Juli 1999 - BVerwG 9 B 374.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 43). Das Tatsachengericht muss das Ergebnis seiner Würdigung in den Entscheidungsgründen in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise darlegen. Es verstößt gegen § 108 Abs. 1 VwGO, wenn es gewichtige Tatsachen oder Tatsachenkomplexe in den Entscheidungsgründen übergeht.
Das Vorbringen der Beschwerdeführer lässt eine Verletzung dieser rechtlichen Vorgaben nicht erkennen.
Soweit die Beschwerdeführer rügen, die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass bereits vor dem notariellen Kaufvertrag vom 20. September 1979 das Nutzungsrecht an dem Grundstück eingeräumt worden sei (S. 10, letzter Absatz der Urteilsgründe), stehe im Widerspruch zum Akteninhalt und zu den eigenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts, liegt offenbar ein Fehlverständnis vor. Das Verwaltungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass die "Nutzungsurkunde" vom 12. Oktober 1979 datiert und dass die Eintragung des Nutzungsrechts in das Grundbuch am 22. Oktober 1979 vorgenommen wurde, also jeweils nach dem Kaufvertrag vom 20. September 1979. Mit der gerügten Formulierung hat das Verwaltungsgericht ersichtlich zum Ausdruck bringen wollen, dass das Nutzungsrecht rückwirkend zum 1. Juli 1979 und damit auf einen Zeitpunkt vor Abschluss des Kaufvertrages eingeräumt wurde, was auch die Beschwerdeführer nicht in Zweifel ziehen.
Soweit die Beschwerdeführer die Würdigung der Aussage der Zeugin K. durch das Verwaltungsgericht angreifen und auch insoweit einen Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO geltend machen, führt dies ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. (Vermeintliche) Fehler in der Beweiswürdigung des Tatsachengerichts sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen und können daher einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht begründen. Eine Ausnahme kommt bei einer aktenwidrigen, gegen die Denkgesetze verstoßenden oder sonst von objektiver Willkür geprägten Beweiswürdigung in Betracht (vgl. u.a. Beschluss vom 22. Mai 2008 - BVerwG 9 B 34.07 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 65 S. 29 f. m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Insbesondere ist entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer keine Aktenwidrigkeit gegeben. Das Verwaltungsgericht hat mit der „bevorzugten Behandlung“ der Eintragung des Nutzungsrechts in diesem Zusammenhang allein auf den zeitlichen Aspekt („die Eintragung sofort vorzunehmen“) abgestellt, den es der Aussage der Zeugin entnommen hat. Diesen zeitlichen Aspekt räumen auch die Beschwerdeführer ein (S. 9 der Beschwerdebegründung).
Die Darlegungen der Beschwerdeführer, dass die vom Verwaltungsgericht herangezogenen Indizien keine Hinweise auf die Absicht ergäben, den Erwerbsvorgang gezielt zu beeinflussen, und dass das Verwaltungsgericht sich nicht mit den subjektiven Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 Buchst. a VermG befasst habe, betreffen keine Verfahrensfehler, sondern gehören zur materiell-rechtlichen Beurteilung des Falles.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47, 52 GKG.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056011
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BGH
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5. Strafsenat
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20100128
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5 StR 552/09
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Beschluss
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§ 265 Abs 2 StPO, § 63 StGB, § 66 Abs 2 StGB
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vorgehend LG Berlin, 14. August 2009, Az: (517) 2 Op Js 2066/07 KLs (36/08), Urteil
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DEU
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Hinweis auf die Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts: Verfahrensfehlerhaftes Unterbleiben eines Hinweises auf die mögliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 14. August 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Raubes in sechs Fällen, Diebstahls in 77 Fällen, Computerbetrugs in acht Fällen und versuchten Computerbetrugs zu Einzelstrafen zwischen zwei Monaten und vier Jahren verurteilt und daraus eine Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren gebildet. Außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Revision des Angeklagten ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, soweit das Rechtsmittel sich gegen den Schuldspruch und den Strafausspruch richtet. Jedoch muss auf eine Verfahrensrüge die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben werden.
Der Beschwerdeführer beanstandet mit der auf § 265 Abs. 2 StPO gestützten Verfahrensrüge zu Recht, dass ihm kein rechtlicher Hinweis auf die Möglichkeit seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erteilt worden ist. Weder in der Anklageschrift noch in dem Eröffnungsbeschluss ist auf die Möglichkeit einer Unterbringung nach § 63 StGB hingewiesen worden und auch in der Hauptverhandlung hat das Gericht einen solchen Hinweis nicht erteilt. Dass die psychologische Sachverständige in ihrem Gutachten die Maßregel des § 63 StGB angesprochen hat und die Frage in der Hauptverhandlung erörtert wurde, macht einen solchen gerichtlichen Hinweis nicht entbehrlich (vgl. BGHR StPO § 265 Abs. 2 Hinweispflicht 6 m.N.; BGH NStZ-RR 2002, 271; StV 2003, 151; NStZ-RR 2008, 316; BGH, Beschluss vom 28. April 2009- 4 StR 544/08). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Staatsanwaltschaft und Verteidigung in ihren Schlussanträgen übereinstimmend lediglich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt beantragt haben, vermag der Senat nicht auszuschließen, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht. Zutreffend hat der Generalbundesanwalt darauf hingewiesen, dass auch durch den von der Verteidigung gestellten Beweisantrag auf Anhörung eines weiteren Sachverständigen dazu, „dass die Voraussetzungen der Unterbringung gemäß § 63 und § 66 StGB beim Angeklagten nicht vorliegen“, ein Beruhen nicht ausgeschlossen wird. Dieser Antrag wurde nach Erteilung des rechtlichen Hinweises gestellt, dass „auch die Rechtsfolge der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB in Betracht“ komme, und belegt keine eindeutige Orientierung des Angeklagten.
Basdorf Raum Schaal
König Bellay
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056016
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BGH
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3. Strafsenat
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20100113
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3 StR 500/09
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Beschluss
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§ 263 Abs 1 StGB
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vorgehend LG Oldenburg (Oldenburg), 28. November 2008, Az: 2 KLs 112/08 - 950 Js 39229/07, Urteil
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DEU
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Betrug: Erforderliche Urteilsfeststellungen zur Person des Verfügenden bei arbeitsteilig tätigen Unternehmen wie einer Bank
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 28. November 2008 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt er die Verletzung materiellen Rechts und beanstandet das Verfahren. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
1. Der Schuldspruch wegen Betruges hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift ausgeführt:
"Eine Strafbarkeit wegen Betruges gemäß § 263 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass eine andere Person über Tatsachen getäuscht wird und durch den so hervorgerufenen Irrtum zu einer vermögensmindernden Verfügung veranlasst wird (Fischer, StGB 56. Aufl. § 263 Rdn. 5). Bei arbeitsteilig tätigen Unternehmen müssen die Urteilsgründe daher regelmäßig darlegen, wer im konkreten Fall auf welcher Grundlage und mit welchen Vorstellungen die Entscheidung über die Erbringung der vom Täter erstrebten Leistung getroffen und damit die Verfügung vorgenommen hat (Senat NStZ 2002 [richtig: 2003], 313, 314 f.). Im Allgemeinen werden bei einer Bank Auszahlungsanordnungen auf der üblicherweise dafür vorgesehenen Sachbearbeiterebene getroffen. Im vorliegenden Fall ist angesichts der Größenordnung des Geschäfts jedoch davon auszugehen, dass die Entscheidung auf einer vorgesetzten Ebene getroffen wurde oder diese dem Sachbearbeiter zumindest Anweisungen erteilt hat, bevor es zur Auszahlung des angeblichen Kaufpreises kam. Für die Beurteilung der Irrtumsfrage bedurfte es daher der Feststellung, wer die Verfügung traf und welche Erkenntnisse der Verfügende hinsichtlich des finanzierten Geschäfts hatte (vgl. Senat aaO; BGHR StGB § 263 Abs. 1 Irrtum 9 und 15; Cramer/Perron in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 263 Rdn. 41a).
Die knappen Feststellungen des Landgerichts bieten keine hinreichende Grundlage für die Beantwortung der Frage, inwieweit die Auszahlung des Kaufpreises durch einen täuschungsbedingten Irrtum des Verfügenden veranlasst wurde. Die Strafkammer hat insoweit lediglich festgestellt, dass durch die Vorlage der unter Mitwirkung des Angeklagten zum Schein erstellten Verträge und Rechnungen die den (angeblichen) Kauf finanzierende Litauische Bank zur Überweisung des Kaufpreises veranlasst werden sollte. Zugleich hat sie jedoch festgestellt, dass ein 'involvierter Direktor der U. banko' einen fest vereinbarten Anteil des ausgezahlten Betrages erhalten sollte (UA S. 5). Angesichts dieser Umstände hätte es der weiteren Klärung bedurft, inwieweit der Direktor, der offensichtlich Kenntnis von dem Scheingeschäft hatte, für die Auszahlung des Betrages verantwortlich war. Soweit dieser die Verfügung selbst vornahm oder eine entsprechende Anweisung erteilte, käme eine Verurteilung des Angeklagten wegen Betruges nicht in Betracht. Es wäre dann zu prüfen, ob der Angeklagte Beihilfe zu der vom Direktor zum Nachteil der litauischen Bank begangenen Untreue geleistet hat ...
Der neue Tatrichter wird ergänzende Feststellungen hinsichtlich der Person des Verfügenden und dessen Vorstellungen treffen müssen. Da die bisher getroffenen Feststellungen von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind, können diese bestehen bleiben."
Dem schließt sich der Senat an.
2. Das weitergehende Rechtsmittel ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Becker Pfister Sost-Scheible
Hubert Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056019
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BGH
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4. Strafsenat
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20100121
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4 StR 407/09
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Urteil
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§ 200 StPO, § 29 Abs 1 S 1 Nr 1 BtMG
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vorgehend LG Dortmund, 20. April 2009, Az: 36 KLs 49/08 - 150 Js 150/07, Urteil
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DEU
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Strafverfahren wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge: Aufhebung der Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat wegen Veränderung des Tatzeitraums
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1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 20. April 2009 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 20 Fällen (Verkauf von jeweils 10 g Kokaingemisch im Juli und August 2006) verurteilt worden ist; insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,
b) das vorbezeichnete Urteil im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die weiteren Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hatte den Angeklagten mit Urteil vom 24. April 2008 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 59 Fällen und wegen Versuchs der Beteiligung an einem Verbrechen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt sowie den Verfall von Wertersatz angeordnet. Gegenstand der Verurteilung waren Betäubungsmittelverkäufe des Angeklagten im Zeitraum Anfang März bis Ende Juni 2006. Auf die Revision des Angeklagten hat der Senat mit Beschluss vom 14. Oktober 2008 - 4 StR 384/08 - das Urteil aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Dieses hat nunmehr den Angeklagten des Handelns mit Betäubungsmitteln im Zeitraum Anfang Juni bis Ende August 2006 für schuldig befunden und ihn wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen und wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 30 Fällen unter Freisprechung im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Zugleich hat es hinsichtlich eines Geldbetrages von 14.409,70 € den erweiterten Verfall angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel ist teilweise begründet.
1. Das Verfahren ist gemäß § 260 Abs. 3 StPO einzustellen, soweit der Angeklagte wegen des Verkaufs von jeweils 10 g Kokaingemisch in 20 Fällen, begangen in den Monaten Juli und August 2006, verurteilt worden ist, da es insoweit an der Verfahrenvoraussetzung einer wirksamen Anklageerhebung fehlt.
a) Die - unverändert zugelassene - Anklage vom 21. November 2007 hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, in dem Zeitraum Anfang März bis Ende Juni 2006 an den Zeugen J. (alias H.) Kokain verkauft zu haben, und zwar mindestens an jedem zweiten Tag zwischen 10 bis 30 g, in einem weiteren Fall 50 g und in einem Fall nochmals mindestens 100 g. In dem angefochtenen Urteil ist demgegenüber das Landgericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte von Anfang Juni bis Ende August 2006 über einen Zeitraum von mindestens 13 Wochen jeweils wöchentlich zwei Kokainverkäufe und an jedem zweiten Wochenende einen zusätzlichen Verkauf, d.h. insgesamt 32 Kokainverkäufe, an J. getätigt hat. Hinsichtlich der Menge hat es dabei in 30 Fällen eine Mindestmenge von 10 g, und in den zwei verbleibenden Fällen eine solche von 50 g und von 100 g zu Grunde gelegt. Den nunmehr festgestellten Tatzeitraum hat es dabei von der Anklageschrift vom 21. November 2007 als mit umfasst angesehen.
b) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Allerdings braucht eine Veränderung des Tatzeitraums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben (vgl. BGHSt 46, 130, 133; BGH NStZ-RR 2006, 316, 317 jeweils m.w.N.). Dies setzt aber voraus, dass die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert ist (BGH aaO). Das ist hier in Bezug auf die 20 Taten im Juli und August 2006 nicht der Fall. Diese betreffen jeweils dieselbe Verkaufsmenge von 10 g Kokaingemisch und weisen auch im Übrigen keine individualisierende Merkmale auf, die sie als einmalige, unverwechselbare Geschehen erscheinen lassen könnten. Allein der Umstand, dass die Kokainverkäufe ohne weitere nähere Zuordnung in zwei verschiedenen Wohnungen stattfanden, genügt hierfür nicht (vgl. auch BGHSt 46, 130, 133 f.).
c) Anders liegt es indes bei den beiden Verkaufsgeschäften über 50 g bzw. 100 g Kokaingemisch. Zwar hat das Landgericht nicht feststellen können, ob sich diese in dem von der Anklage noch erfassten Zeitraum Juni 2006 oder erst im Juli oder August 2006 ereignet haben. Dem Angeklagten lagen jedoch von vorneherein nur zwei Kokainverkäufe über diese Mengen an den Zeugen J. zur Last. Damit ist insoweit auch bei Zugrundelegung einer Tatzeit erst im Juli oder August 2006 die „Nämlichkeit“ der Tat noch gewahrt, da sich diese beiden Taten unverwechselbar von der übrigen Tatserie abheben (vgl. auch BGH, Urteil vom 28. Mai 2002 - 5 StR 55/02).
2. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
a) Die Formalrüge (Verstoß gegen § 358 Abs. 1 StPO) ist nicht ordnungsgemäß ausgeführt und erweist sich daher bereits als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
b) Auch sachlichrechtlich weist das Urteil keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler auf, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat.
3. Die Sache bedarf daher zur Höhe der neu festzusetzenden Gesamtstrafe der erneuten Verhandlung und Entscheidung. Hierbei wird der neue Tatrichter die lange Verfahrensdauer gebührend zu berücksichtigen haben.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056020
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BGH
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5. Strafsenat
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20100126
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5 StR 528/09
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Beschluss
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§ 57 StPO, § 337 StPO
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vorgehend LG Cottbus, 10. Juli 2009, Az: 21 KLs 18/08, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Beruhen des Urteils auf Bekundungen des als Zeuge vernommenen Sachverständigen ohne entsprechende Belehrung
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Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 10. Juli 2009 wird aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 21. Dezember 2009 nach § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen.
Die Revision des Angeklagten gegen das vorgenannte Urteil wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
Die durch den Angeklagten erhobene Rüge, die Strafkammer habe Bekundungen des psychiatrischen Sachverständigen über Zusatztatsachen verwertet, obwohl der Sachverständige nicht als Zeuge belehrt und vernommen worden sei, ist entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts zulässig als Verfahrensrüge erhoben. Jedoch schließt der Senat unter den hier gegebenen Umständen aus, dass der Sachverständige, wäre er zugleich als Zeuge behandelt worden, andere Angaben gemacht hätte, und dass dann die Beweiswürdigung für den Angeklagten günstiger ausgefallen wäre (vgl. BGH NStZ 1985, 135).
Basdorf Brause Schaal
Schneider König
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056022
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BGH
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4. Strafsenat
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20100113
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4 StR 562/09
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Beschluss
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§ 52 StGB, § 53 StGB, § 235 StGB, § 239b StGB, § 315c StGB
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vorgehend LG Bochum, 24. Juli 2009, Az: 1 KLs 36 Js 100/09, Urteil
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DEU
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Idealkonkurrenz: Verbindung mehrerer Delikte durch ein mit ihnen jeweils tateinheitlich zusammentreffendes anderes Delikt
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 24. Juli 2009
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte in den Fällen III. 3. und 4. der Urteilsgründe der Geiselnahme in Tateinheit mit Entziehung Minderjähriger und mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs schuldig ist,
b) in den Einzelstrafaussprüchen bezüglich dieser Fälle und im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Körperverletzung, wegen Geiselnahme, wegen Entziehung Minderjähriger in Tateinheit mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs und wegen Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt; außerdem hat es eine Maßregelanordnung nach §§ 69, 69 a StGB getroffen. Mit seiner hiergegen eingelegten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat nur den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen (vorläufigen) Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat verkannt, dass das Verbrechen der Geiselnahme und das Vergehen der fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs, die bei isolierter Betrachtungsweise in Tatmehrheit zueinander stehen, durch das Vergehen der Entziehung Minderjähriger zur Tateinheit verbunden werden, weil dieses seinerseits mit jedem der anderen Delikte tateinheitlich zusammentrifft. Diese Wirkung tritt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch dann ein, wenn eines der betroffenen Delikte schwerer wiegt als dasjenige, das die Verbindung begründet (vgl. BGHSt 31, 29, BGHR StGB § 52 Abs. 1 Klammerwirkung 7 m.w.N.; vgl. auch Fischer StGB 57. Aufl. Vor § 52 Rdn. 30).
Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert; § 265 StPO steht dem nicht entgegen, da sich der geständige Angeklagte gegen die Annahme von Tateinheit nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.
Die abweichende rechtliche Bewertung der Konkurrenzverhältnisse in den Fällen III. 3. und 4. der Urteilsgründe führt zur Aufhebung der insoweit erkannten Einzelstrafen. Dies zieht die Aufhebung der für sich gesehen nicht zu beanstandenden Gesamtstrafe nach sich.
Einer Aufhebung der zugehörigen Feststellungen bedarf es nicht, da diese rechtsfehlerfrei getroffen sind. Ergänzende Feststellungen, die zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen, bleiben zulässig. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die neu zu bemessende Einzelstrafe die Summe der beiden aufgehobenen Einzelstrafen nicht überschreiten darf.
Tepperwien Maatz Athing
Solin-Stojanović Ernemann
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056024
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BGH
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5. Strafsenat
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20100113
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5 StR 464/09
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Beschluss
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§ 138 Abs 1 StGB, § 138 Abs 2 StGB
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vorgehend LG Berlin, 10. Juli 2009, Az: (517) 68 Js 23/09 KLs (8/09), Urteil nachgehend BGH, 19. Mai 2010, Az: 5 StR 464/09, Urteil nachgehend BGH, 11. März 2010, Az: 1 ARs 1/10, Beschluss nachgehend BGH, 9. März 2010, Az: 3 ARs 3/10, Beschluss nachgehend BGH, 17. März 2010, Az: 2 ARs 45/10, Beschluss nachgehend BGH, 23. März 2010, Az: 4 ARs 3/10, Beschluss
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DEU
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Strafbarkeit der Nichtanzeige geplanter Straftaten bei Verdacht der Beteiligung an geplanter Straftat
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Der Senat beabsichtigt zu entscheiden:
Auch bei fortbestehendem Verdacht einer Beteiligung an einer in § 138 Abs. 1 oder 2 StGB bezeichneten Katalogtat hindert der Zweifelssatz eine Verurteilung wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten nicht.
Der Senat fragt bei den anderen Strafsenaten an, ob an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit einer nicht näher ausgeführten allgemeinen Sachrüge. Der Senat möchte die Revision des Angeklagten entsprechend dem Beschlussantrag des Generalbundesanwalts verwerfen (§ 349 Abs. 2 StPO), sieht sich daran jedoch durch bindende Rechtsprechung anderer Strafsenate gehindert.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Der Angeklagte hatte bereits Mitte 2007 erfahren, dass sein Bruder Y. D. (rechtskräftig verurteilt wegen schwerer räuberischer Erpressung, vgl. Senatsbeschluss vom 13. Oktober 2009 - 5 StR 409/09) und ihr gemeinsamer Freund Z. planten, ein Bekleidungsgeschäft in Berlin zu überfallen. Y. D. und der in dem Bekleidungsgeschäft angestellte Z. entschlossen sich, die Tat am Abend des 4. Oktober 2008 auszuführen. Der Angeklagte wurde davon unterrichtet und durch seinen Bruder gebeten, mit ihm „zusammen den Überfall durchzuführen“, was er indes ablehnte. Am Tatabend gegen 19 Uhr trafen sich der Angeklagte, dessen Bruder sowie Z., der Y. D. dabei über Geschäftsinterna, den Tresor sowie die bestehenden technischen Sicherungen informierte. Der Angeklagte lehnte auf erneute Nachfrage seines Bruders eine Teilnahme an dem Überfall ab. Gegen 21 Uhr trafen der Angeklagte und sein Bruder den anderweitig verfolgten H. Dieser erklärte sich auf Vorschlag des Y. D. bereit, gemeinsam mit diesem den Raubüberfall zu begehen. Der Angeklagte hielt sich weiterhin aus sämtlichen Planungen heraus, nahm aber zur Kenntnis, dass H. und Y. D. auch den Einsatz einer geladenen Schreckschusspistole bei der Tatbegehung vereinbarten. Alle drei begaben sich sodann in die Nähe des Tatorts, wo sich der Angeklagte von seinem Bruder und H. trennte. Der Raubüberfall wurde sodann gegen 22 Uhr desselben Abends plangemäß und entsprechend den Informationen des Z. durch Y. D. und H. ausgeführt, die dabei etwa 40.000 € erbeuteten.
b) Obgleich am Tatort DNA-Spuren des Angeklagten sichergestellt wurden und die anderweitig Verfolgten H. und Z. dessen aktive Beteiligung jedenfalls bei der Tatplanung - wenngleich nicht übereinstimmend - bekundeten, vermochte sich die Strafkammer „mangels weiterer Beweise“ nicht von einer Tatbeteiligung des Angeklagten an dem Raubüberfall zu überzeugen. Sie ist daher „zu seinen Gunsten davon ausgegangen“, dass er entsprechend seiner Einlassung trotz Kenntnis von der bevorstehenden Umsetzung des Tatplans keinen Versuch unternahm, seinen Bruder von der Tatbegehung abzuhalten oder die Polizei zu informieren, obgleich ihm dies möglich war.
c) Die Strafkammer vermochte mithin unter Anwendung des Zweifelssatzes eine Beteiligung des Angeklagten an der schweren räuberischen Erpressung nicht festzustellen. Dies stehe einer Verurteilung wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten indes nicht entgegen, denn entsprechend BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 6 sei eine doppelte Anwendung des Zweifelssatzes zugunsten des Angeklagten wegen des zwischen Katalogtat des § 138 StGB und dem strafbewehrten Verstoß gegen die Anzeigepflicht bestehenden normativ-ethischen Stufenverhältnisses nicht geboten.
2. Diese Rechtsansicht des Landgerichts ist unvereinbar mit bindender Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
a) Die Pflicht zur Anzeige geplanter Straftaten besteht nach dem Wortlaut des § 138 StGB grundsätzlich für jedermann. Der Bundesgerichtshof hat die Reichweite des Tatbestandes indes eingeschränkt. Als tauglicher Täter scheidet danach bereits tatbestandlich aus, wer an der geplanten Katalogtat als Täter, Anstifter oder Gehilfe - auch durch Unterlassen - beteiligt ist oder straflose Vorbereitungshandlungen zur Tatplanung beisteuert; die Tat muss eine völlig fremde sein (vgl. BGHSt 36, 167, 169; 39, 164, 167; BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 2, 5; BGH NJW 1964, 731, 732; BGH NStZ 1982, 244; wistra 1992, 348; vgl. ferner Hanack in LK StGB 12. Aufl. § 138 Rdn. 42 m.w.N.).
Von der Strafbarkeit wegen Verletzung der Anzeigepflicht ebenfalls befreit ist danach, wer nach Abschluss der Beweisaufnahme der Beteiligung an der nicht angezeigten Tat verdächtig bleibt (BGHSt 36, 167, 169; 39, 164, 167; BGH StV 1988, 202; BGH MDR/H 1979, 635; Hanack aaO Rdn. 48; Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl. § 138 Rdn. 20/21; aA Westendorf, Die Pflicht zur Verhinderung geplanter Straftaten durch Anzeige 1999 S. 156 m.w.N.). Lediglich die Möglichkeit, sich durch die Gebotserfüllung der Beteiligung an der geplanten Straftat selbst verdächtig machen zu können, reicht für den Ausschluss des Tatbestandes indes noch nicht aus (vgl. BGHSt 36, 167, 170; aA Joerden Jura 1990, 633, 638).
b) Hiernach hätte mit Rücksicht auf den Zweifelssatz nicht nur eine Verurteilung des Angeklagten wegen der ihm zur Last gelegten Katalogtat des § 138 Abs. 1 und 2 StGB zu unterbleiben, wenn sich das Tatgericht nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung nicht von der Beteiligung des Angeklagten an der Katalogtat zu überzeugen vermochte, sondern es müsste auch eine Verurteilung nach § 138 StGB unterbleiben, wenn der Verdacht der Beteiligung hieran fortbesteht. Zwar ist in der angeklagten Beteiligung an einer Katalogtat des § 138 StGB zugleich - im Sinne prozessualer Tatidentität (§§ 264, 155 StPO) - der Vorwurf enthalten, die beabsichtigte Begehung dieses Delikts nicht angezeigt zu haben; dies untersteht damit ebenfalls der tatrichterlichen Kognition (vgl. BGHSt 32, 215; 36, 167, 169; BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 37; BGH NStZ 1993, 50; NStZ-RR 1998, 204). Allerdings ist hier im Wege neuerlicher (doppelter) Anwendung des Zweifelssatzes die tatbestandsausschließend wirkende Beteiligung an der Katalogtat zu unterstellen, deren Vorhandensein nicht sicher ausgeschlossen werden konnte. Auch eine Wahlfeststellung zwischen den Vergehen des § 138 StGB und der strafbaren Beteiligung scheidet auf Grund mangelnder Vergleichbarkeit beider Verhaltensweisen aus; der Angeklagte ist in dieser Konstellation demnach freizusprechen (BGHSt 36, 167, 174 [3 StR 453/88]; 39, 164, 167, [1 StR 21/93]; BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 1 [1 StR 382/87], 2 [5 StR 276/86]; BGH bei Holtz MDR 1979, 635, 636 [1 StR 481/78]; BGH NStZ 1982, 244 [3 StR 437/81 - nicht tragend]; BGH StV 1988, 202 [5 StR 521/87]; MDR 1993, 785, 786 [1 StR 21/93]).
3. Der Senat ist der Auffassung, dass diese doppelte Anwendung des Zweifelssatzes in der vorgenannten Konstellation rechtlich weder zwingend noch gerechtfertigt ist. In diesem Sinne - freilich nicht tragend - hat sich der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs geäußert (BGHR StGB § 138 Anzeigepflicht 6).
a) Die zuvor unter 2. dargestellte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist auf beachtliche Einwände in der Literatur gestoßen.
Mehrheitlich wird eine doppelte Anwendung des Zweifelssatzes abgelehnt und auf die Möglichkeit einer eindeutigen Verurteilung des Angeklagten wegen § 138 StGB hingewiesen. Zwischen der Katalogtat und ihrer Nichtanzeige nach § 138 StGB bestehe ein normatives Stufenverhältnis, das eine Verurteilung gemäß § 138 StGB im Wege einfacher Anwendung des Zweifelssatzes bei nicht erwiesener Katalogtat eröffne; dessen Unrechtsgehalt gehe vollständig in dem der Katalogtat auf (vgl. Hanack aaO Rdn. 75; Rudolphi/Stein in SK-StGB § 138 Rdn. 35; Lackner/Kühl StGB 26. Aufl. § 138 Rdn. 6; Cramer/Sternberg-Lieben aaO § 138 Rdn. 29; Maurach/Schroeder/Maiwald StGB BT II § 98 Rdn. 17; Rudolphi in Roxin-FS (2001) S. 827, 837; Westendorf aaO S. 167; aA Ostendorf in NK 2. Aufl. § 138 Rdn. 25; Hohmann in MünchKomm StGB § 138 Rdn. 25). Der Angeklagte sei aus § 138 StGB als dem milderen Gesetz zu bestrafen, weil ihm der von ihm (mit-)verursachte tatbestandliche Unrechtserfolg - freilich in einer im Vergleich zum Täter der Katalogtat abgestuften Intensität - zugerechnet werden könne (vgl. nur Rudolphi/Stein aaO; Hanack aaO). Diese Entscheidung auf eindeutiger Tatsachengrundlage gehe einer - hier ohnehin fraglichen - (echten) Wahlfeststellung im weiteren Sinne vor (vgl. Dannecker in LK 12. Aufl. Anh. § 1 Rdn. 58 ff.; Rudolphi/Wolter SK-StGB Anh. zu § 55 Rdn. 15, 20).
Grundsätzlich zu keinem anderen Ergebnis gelangt eine in der Literatur vereinzelt vertretene Auffassung, die eine Verurteilung wegen § 138 StGB im Wege der sogenannten (konkurrenzrelevanten) Postpendenzfeststellung befürwortet (vgl. Joerden Jura 1990, 633, 640; ders. JZ 1988, 847, 853).
b) Der Senat neigt der erstgenannten Literaturmeinung zu. Die Annahme eines normativ-ethischen Stufenverhältnisses zwischen Katalogtat und einer Strafbarkeit aus § 138 StGB setzt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem durch § 138 StGB geschützten Rechtsgut konsequent fort. Das für normativ-ethische Stufenverhältnisse zwischen Tatbeständen maßgebende Kriterium, nach dem das Unrecht eines Tatbestandes vollständig im Unrecht des anderen enthalten sein muss (vgl. Dannecker aaO Anh. § 1 Rdn. 60, 91), ist hier gegeben. Jedenfalls seit BGHSt 42, 86, 88 ist anerkannt, dass durch § 138 StGB die Rechtsgüter der dort genannten Katalogtaten mittelbar geschützt werden (vgl. das insoweit zustimmende Schrifttum Rudolphi/Stein aaO Rdn. 2b; Hanack aaO Rdn. 2; Cramer/Sternberg-Lieben aaO Rdn. 1; Lackner/Kühl aaO Rdn. 1; Ostendorf aaO Rdn. 3; Fischer, StGB 57. Aufl. § 138 Rdn. 3, 20). Der Unrechtskern der Nichtanzeige liegt demnach in der Gefährdung desselben Rechtsguts, gegen das sich die anzuzeigende Katalogtat richtet, und bleibt lediglich quantitativ hinter ihr zurück (Rudolphi/Stein aaO Rdn. 35).
Eine entsprechende normative Differenz hat der Bundesgerichtshof beispielsweise bereits für Täterschaft und Teilnahme (vgl. BGHSt 31, 136, 137; 43, 41, 53; NStZ-RR 1997, 297), Vorsatz und Fahrlässigkeit (vgl. BGHSt 32, 48, 57) sowie insbesondere der Beteiligung an der Begehungstat und unterlassener Hilfeleistung (vgl. BGHSt 39, 164, 166) ausreichen lassen (zum Verhältnis § 323a StGB und Rauschtat vgl. Fischer aaO § 323a Rdn. 11a ff.). Die vorliegende Konstellation fügt sich ohne Brüche ein, schließt auf diese Weise bestehende, sachlich nicht erzwungene Strafbarkeitslücken (vgl. Geilen JuS 1965, 426, 429) und schafft die für das Verteidigungsverhalten des Angeklagten notwendige Rechtssicherheit (vgl. Joerden Jura 1990, 633, 640 f.).
3. Der Senat beabsichtigt daher tragend zu entscheiden, dass ein auch nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung fortbestehender Verdacht der Beteiligung an einer Katalogtat des § 138 StGB einer Bestrafung wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten auch mit Rücksicht auf den Zweifelssatz nicht entgegensteht. Die zuvor unter 1. dargestellten und andere möglicherweise vergleichbare Entscheidungen anderer Strafsenate widerstreiten dem.Der Senat fragt daher - unter Aufgabe eigener entgegenstehender Rechtsprechung - bei den anderen Strafsenaten an, ob entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben wird.
Basdorf Raum Schaal
Schneider König
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JURE100056025
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5. Strafsenat
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20100113
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5 StR 506/09
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§ 25 Abs 2 StGB, § 27 StGB, § 30 Abs 2 StGB, § 31 Abs 1 StGB
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vorgehend LG Berlin, 14. Mai 2009, Az: (513) 47 Js 4240/08 KLs (76/08), Urteil
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DEU
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Verabredung zu einem Verbrechen: Mittäterschaft oder Beihilfe bei Fahren eines Fluchtfahrzeugs; Freiwilligkeit des Rücktritts
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1. Die Revision des Angeklagten I. gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 14. Mai 2009 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
2. Auf die Revision des Angeklagten Q. wird das vorgenannte Urteil, soweit es ihn betrifft, nach § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird insoweit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat die Angeklagten Q. und I. sowie den Nichtrevidenten S. wegen Verabredung zum (besonders) schweren Raub verurteilt. Gegen den Angeklagten Q. hat es hierwegen eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten, gegen den Angeklagten I. eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verhängt. Ihre Verurteilungen greifen die Angeklagten Q. und I. jeweils mit Verfahrensrügen und der allgemeinen Sachrüge an. Während das Rechtsmittel des Angeklagten I. keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil dieses Angeklagten aufdeckt, dringt die Revision des Angeklagten Q. durch.
1. Das Rechtsmittel des Angeklagten Q. führt mit der Sachrüge zur Aufhebung und Zurückverweisung. Eines Eingehens auf die Verfahrensrügen bedarf es daher nicht mehr.
a) Dem Angeklagten liegt zur Last, sich mit I. und S. zu einem Überfall auf ein Autohaus verabredet zu haben. Nach dem gemeinsam gefassten Tatplan sollten zur Ausführung der Raubtat eine Soft-Air-Vorderschaftrepetierflinte sowie zwei Reizstoffsprühgeräte eingesetzt werden, die S. bei sich trug. Während I. und S. die Raubtat ausführen sollten, kam Q. die Aufgabe zu, das Fluchtfahrzeug nahe dem Tatort bereit zu halten und dieses nach Abschluss der Tat vorzufahren. Ob Q. ein Anteil an der Beute zufallen sollte, hat die Strafkammer nicht festgestellt.
b) Das Landgericht ist zur Annahme einer täterschaftlichen Beteiligung des Angeklagten Q. mit der Begründung gelangt, dass das Fahren des Fluchtfahrzeugs zu den wesentlichen Voraussetzungen für die erfolgreiche Durchführung eines Überfalls gehöre, was für eine mittäterschaftliche Beteiligung spreche (UA S. 14). Weitere Erwägungen hat es nicht angestellt.
c) Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mittäterschaft liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann vor, wenn ein Tatbeteiligter nicht bloß fremdes Tun fördern will, sondern seinen Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils will. Ob ein Beteiligter dieses enge Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten von seiner Vorstellung umfassten Umständen in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte hierfür können gefunden werden im Grad des eigenen Interesses am Erfolg der Tat, im Umfang der Tatbeteiligung und in der Tatherrschaft oder wenigstens im Willen zur Tatherrschaft, so dass Durchführung und Ausgang der Tat maßgeblich von seinem Willen abhängen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH StraFo 1998, 166; NStZ 2006, 94).
Eine Bewertung nach diesen Grundsätzen hat das Landgericht nicht vorgenommen. Zwar ist es richtig, dass Mittäterschaft nicht zwingend auch eine Mitwirkung am Kerngeschehen erfordert (vgl. BGH NStZ 2009, 25) und dass dem Fahren des Fluchtfahrzeugs als einem unverzichtbaren Beitrag für das Gelingen der Tat hinsichtlich der Frage der Täterschaft wesentliche Bedeutung zukommt (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 74). Entgegen der durch die Strafkammer wohl vertretenen Auffassung ist jedoch nicht grundsätzlich anerkannt, dass das Fahren eines Fluchtfahrzeugs stets zur Annahme von Mittäterschaft führt; vielmehr kann sich ein solches Verhalten - je nach den weiteren Tatumständen - auch als Beihilfe darstellen (vgl. etwa BGH aaO sowie BGH NStZ 2006, 94).
Der Senat schließt nicht aus, dass in einer neuen Hauptverhandlung Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung des Angeklagten Q. wegen Verbrechensverabredung tragen. Das neue Tatgericht wird auf dieser Grundlage die notwendige vollständige wertende Betrachtung nachzuholen haben.
2. Hingegen ist die Revision des Angeklagten I. unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
a) Die Verfahrensrüge wegen Verlesung und Verwertung der nicht durch die Ermittlungsrichterin unterzeichneten Niederschrift über die Vernehmung dieses Angeklagten vom 21. September 2008 greift nicht durch. Denn ausweislich der ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführten Niederschrift über die Aussage des Angeklagten im Haftprüfungstermin vom 8. Oktober 2008 hat dieser das Eingeständnis seiner Tatverabredung dort in vollem Umfang, lediglich mit letztlich unerheblichen Ergänzungen wiederholt. Die inhaltliche Bewertung dieses Geständnisses hat die Strafkammer rechtsfehlerfrei vorgenommen, ohne dabei auf seine wiederholte Abgabe abzustellen. Im Hinblick darauf kann ein Beruhen des Urteils auf dem die Urkunde vom 21. September 2008 betreffenden Verfahrensfehler ausgeschlossen werden.
b) Keinen Bedenken begegnet es, dass die Strafkammer die Voraussetzungen eines Rücktritts nach dem hier allein in Betracht kommenden § 31 Abs. 1 Nr. 2 StGB verneint hat. Nach den Feststellungen haben die Angestellten des Autohauses die Eingangstüren verschlossen, nachdem sie I. und S. gesehen und wegen eines sechs Wochen zuvor erfolgten Überfalls den Verdacht eines bevorstehenden neuerlichen Überfalls geschöpft hatten. l. und S., die zu dieser Zeit etwa fünf bis sechs Meter von der vorderen Ladentür entfernt waren, bemerkten dies und brachen die weitere Tatausführung ab, weil sie erkannten, dass ein Überfall auf das Autohaus jetzt nicht mehr möglich war (UA S. 7).
Diese Feststellungen, auf deren Grundlage eine freiwillige Aufgabe des Vorhabens im Sinne von § 31 Abs. 1 Nr. 2 StGB ausgeschlossen ist (vgl. BGH NStZ 1998, 510; Fischer, StGB 57. Aufl. § 24 Rdn. 19a), hat das Landgericht in nicht zu beanstandender Weise anhand der äußeren Umstände in Verbindung mit den Aussagen der Zeugen K. und T. getroffen. Der Einlassung des in der Hauptverhandlung schweigenden Angeklagten I. gemäß Vernehmungsniederschrift vom 8. Oktober 2008, er habe das Vorhaben aufgegeben, weil ihm seine frühere Strafverbüßung in den Sinn gekommen sei, musste die Strafkammer nicht folgen. Auf die überflüssige Anmerkung, dass I. bei dieser zweiten Aussage anwaltlich vertreten war, hat das Landgericht seine Beweiswürdigung dabei nicht gestützt. Die in diesem Zusammenhang von der Verteidigung erhobene Inbegriffsrüge geht daher schon aus diesem Grunde ins Leere.
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BGH
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5. Strafsenat
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20100126
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5 StR 507/09
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Beschluss
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§ 21 StGB, § 49 Abs 1 StGB, § 54 Abs 1 S 2 StGB, § 54 Abs 2 StGB
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vorgehend LG Berlin, 10. Juli 2009, Az: (538) 25 Ju Js 1900/07 KLs (37/07), Urteil
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DEU
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Gesamtstrafenbildung: Aufhebung der Gesamtstrafe wegen des engen Zusammenhangs mit aufgehobenen Einsatzstrafen
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. Juli 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO im Ausspruch über die Einsatzstrafe von einem Jahr und neun Monaten Freiheitsstrafe sowie im Gesamtstrafausspruch aufgehoben. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung (Einsatzstrafe von einem Jahr und neun Monaten Freiheitsstrafe), unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an eine Person unter 18 Jahre in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in drei Fällen (Einzelfreiheitsstrafen von acht und zweimal sechs Monaten) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt, von der drei Monate wegen überlanger Verfahrensdauer als vollstreckt gelten, und hat den Verfall von Wertersatz in Höhe von 10 Euro angeordnet.
Gegen dieses Urteil richtet sich die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Unbegründet sind die vom Beschwerdeführer gegen die Bemessung des wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärten Teils der Strafe gerichteten Beanstandungen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts; die Kompensationsentscheidung bleibt daher bestehen. Hingegen begegnet die Strafzumessung im Übrigen im Blick auf die Einsatz- und auf die Gesamtstrafe durchgreifenden Bedenken.
Das Landgericht hat die Strafe für die besonders schwere räuberische Erpressung dem Sonderstrafrahmen des § 250 Abs. 3 StGB entnommen; es hat dabei allerdings den vertypten Strafmilderungsgrund des § 21 StGB - erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund einer bipolaren affektiven Störung (ICD-10 F 31.0) - herangezogen, ohne den nach Auffassung des Landgerichts ein minder schwerer Fall nicht hätte bejaht werden können, so dass eine weitere Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB nicht mehr in Frage kam (§ 50 StGB). Bei der von ihm durchgeführten Gesamtwürdigung hat es dem Angeklagten außerdem zugute gehalten, dass er nicht vorbestraft ist, die Tat über vier Jahre zurückliegt und seit knapp dreieinhalb Jahren ein Strafverfahren gegen ihn läuft, er einen eher geringen Tatbeitrag leistete und die Beute nicht sehr hoch war. Gegen das Vorliegen eines minder schweren Falles sprach, dass der Angeklagte und seine Mittäter planvoll vorgegangen sind, die mittäterschaftliche Begehungsweise die objektive Gefährlichkeit der Tat gesteigert hat und der Geschädigte noch einige Zeit in Form von Schlafstörungen unter den Folgen der Tat litt.
Dies lässt besorgen, dass das Landgericht weitere strafmildernde Umstände nicht bedacht hat, wonach insgesamt auch ohne Heranziehung des § 21 StGB das Vorliegen eines minder schweren Falles auf der Hand lag. So handelte es sich um eine spontane, aus der Situation heraus entstandene Tat, der ein gruppendynamisches Geschehen zugrunde lag. In die Würdigung maßgebend einzubeziehen war ferner der Umstand, dass es sich um eine Tat innerhalb des Drogenmilieus mit bereits geringer Beuteerwartung handelte. Das Messer, mit dem das Opfer aus einem Meter Entfernung bedroht wurde, war nicht vom Angeklagten, sondern von einem Mittäter geführt worden. Keine negativen Feststellungen hat das Landgericht schließlich zur strafrechtlichen Entwicklung des Angeklagten seit den im Zeitpunkt des Urteils vier (Raubtat) bzw. knapp drei (Betäubungsmittelstraftaten) Jahre zurückliegenden Taten getroffen.
Der Ausspruch über die Einsatzstrafe kann danach keinen Bestand haben; dabei verkennt der Senat deren verhältnismäßig milde Bemessung im Ergebnis nicht. Die Einzelfreiheitsstrafen betreffend die Betäubungsmittelstraftaten sind rechtsfehlerfrei; sie haben Bestand.
Die Aufhebung der Gesamtstrafe ist nicht allein auf die Aufhebung der Einsatzstrafe zurückzuführen. Das Landgericht hat auf den besonders engen Zusammenhang zwischen den Betäubungsmitteldelikten hingewiesen, im Widerspruch hierzu aber die Einsatzstrafe um mehr als die Hälfte der Summe der sonstigen Einzelstrafen in Anwendung des § 54 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 StGB erhöht.
Da die Aufhebung wegen Begründungs- und Wertungsfehlern erfolgt, können die hierzu gehörenden Feststellungen insgesamt bestehen bleiben. Das neue Tatgericht ist nicht gehindert, weitergehende Feststellungen zu treffen, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.
Hinsichtlich der - freilich nicht angefochtenen - Verfallsentscheidung weist der Senat für künftige Fälle auf §§ 430, 442 StPO hin.
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BGH
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5. Strafsenat
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20100126
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5 StR 509/09
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Beschluss
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§ 11 Abs 1 S 2 BtMG, § 29 Abs 1 S 1 Nr 1 BtMG, § 29 Abs 1 S 1 Nr 5 BtMG, § 30 Abs 2 BtMG, § 46 StGB
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vorgehend LG Dresden, 4. August 2009, Az: 421 Js 10097/09 - 4 KLs, Urteil
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DEU
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Betäubungsmitteleinfuhr: Vollendete Einfuhr zum Weitertransport ins Ausland bestimmter inkorporierter Betäubungsmittel und Strafzumessung bei einem Ersttäter
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 4. August 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt. Es hat ferner 400 € sowie Mobiltelefone eingezogen. Die Revision hat mit der Sachrüge lediglich hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg. Das Rechtsmittel ist im Übrigen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Der Angeklagte verschluckte am 7. März 2009 in Amsterdam 100 Substanzpresslinge mit insgesamt rund einem Kilogramm Kokain (knapp 300 g KHC), um sie gegen eine Belohnung mit einem Mietwagen einem in Prag ansässigen Betäubungsmittelkäufer zu überbringen. Nach einem Hinweis tschechischer Zollbehörden wurde der Angeklagte gegen 22.30 Uhr in Begleitung seines 8-jährigen Sohnes vor Verlassen der Bundesrepublik Deutschland gestellt. „Wegen nicht auszuschließender gesundheitlicher Komplikationen musste das Ausscheiden der Bodypacks im Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt bis zum 10.03.2009 ärztlich - und zusätzlich polizeilich - überwacht werden. Hierdurch entstanden Kosten in Höhe von 1.638,41 €“ (UA S. 6).
2. Dies rechtfertigt den Schuldspruch auch wegen vollendeter Einfuhr. Dem Angeklagten stand das inkorporierte Rauschgift in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung, was eine Durchfuhr im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 2 und des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BtMG ausschließt (BGH, Beschluss vom 5. September 2008 - 2 StR 375/08; Weber, BtMG 3. Aufl. § 29 Rdn. 774).
3. Indes hält der Strafausspruch der - freilich eingeschränkten (vgl. BGHSt 3, 179; 24, 268) - revisionsgerichtlichen Prüfung nicht stand.
Die maßgeblich gegen die Anwendung des § 30 Abs. 2 BtMG angeführte Erwägung, dass „der Angeklagte seinen 8-jährigen Sohn auf die Schmuggelfahrt mitnahm, obgleich ihm als Fahrer des Pkw, der hunderte Kilometer auf der Autobahn bis zur grenzpolizeilichen Kontrolle zurücklegte, bewusst gewesen ist, dass es wegen der großen Menge an geschluckten Drogen jederzeit zu Komplikationen hätte kommen können, wodurch sein minderjähriger Sohn einer nicht unerheblichen Gefährdung ausgesetzt wurde“ (UA S. 38), ist schon an sich nicht unbedenklich, da sie in einem Spannungsverhältnis steht zu dem weiteren, indes zugunsten des Angeklagten bewerteten Umstand, dass dieser seinen Sohn mitgenommen habe, weil er in der Kürze der Zeit keine angemessene Betreuung für ihn habe finden können (UA S. 38). Jedenfalls ist die Würdigung des Landgerichts, das zugunsten des Angeklagten ausgeführt hat, dass er unbestraft gewesen ist, das Kokain nicht in den Verkehr gelangt ist und schon von Anfang an die Wahrscheinlichkeit bestand, dass er sein Ziel Prag nicht erreichen würde, lückenhaft. Das Landgericht hat nicht erwogen, dass der Angeklagte bereits kurz nach seiner Festnahme im Krankenhaus von sich aus mitgeteilt hat, dass er rund ein Kilogramm Kokain geschluckt habe (UA S. 34). Diese noch als Spontangeständnis zu bewertenden Angaben werden durch den wesentlich später im Rahmen einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung und in der Hauptverhandlung geltend gemachten - indes gänzlich unplausiblen - Nötigungsnotstand und die hinsichtlich der Art des inkorporierten Rauschgifts gemachte Angabe (gekochtes Marihuana) auch angesichts des bestehenden Tatverdachts nicht wesentlich entwertet (vgl. Fischer, StGB 57. Aufl. § 46 Rdn. 50 zur Strafzumessung bei Teilbestreiten).
Zudem begründet es einen Wertungsfehler zum Nachteil des Angeklagten, soweit das Landgericht nicht unerhebliche Kosten für ärztliche und polizeiliche Überwachung im Krankenhaus zum Ausschluss gesundheitlicher Komplikationen straferschwerend angelastet hat (UA S. 39). Der zur Aufklärung einer Straftat notwendige Kostenaufwand steht grundsätzlich in keiner Relation zur Tatschuld. Zwar wäre vorliegend in Betracht gekommen, eine planmäßige Verminderung des Überführungsrisikos als Ausdruck erheblicher krimineller Energie strafschärfend zu werten, was beim Körperschmuggel von Drogen grundsätzlich anzunehmen sein wird (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Juni 2009 - 3 StR 171/09 Tz. 6). Hierauf hat das Landgericht aber nicht abgestellt.
Der Senat ist zur Anwendung des § 354 Abs. 1a StPO nicht in der Lage. Vielmehr erweist sich die verhängte Strafe insbesondere bei der Unbestraftheit des lediglich als Kurier und Gehilfe beim Handeltreiben eingesetzten Angeklagten auch in Anbetracht von Art und Menge des sichergestellten Rauschgifts als vergleichsweise hoch.
4. Die Strafe ist insgesamt neu zu bestimmen. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es bei der hier vorliegenden Lücke und dem Wertungsfehler nicht. Das Landgericht wird die Strafe aufgrund der bisherigen Feststellungen zu bemessen haben. Ergänzend können weitere Feststellungen herangezogen werden, die freilich den bisher getroffenen nicht widersprechen dürfen.
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BGH
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5. Strafsenat
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20100113
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5 StR 510/09
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Beschluss
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§ 21 StGB, § 49 StGB, § 64 S 2 StGB
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vorgehend LG Dresden, 26. August 2009, Az: 612 Js 198/09 - 2 KLs, Urteil
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DEU
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Strafrahmenverschiebung bei alkoholbedingter erheblich verminderter Schuldfähigkeit; Erfolgsaussicht bei Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 26. August 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Der mehrfach, jedoch nicht wegen Sexualstraftaten vorbestrafte 23 Jahre alte Angeklagte konsumiert bereits seit früher Jugend Alkohol und illegale Drogen. Er befand sich deshalb in der Vergangenheit schon zweimal über mehrere Monate in stationärer Therapie. Nach Beendigung der letzten Behandlung im April 2008 lebte der Angeklagte in einer sozialtherapeutisch betreuten Wohngemeinschaft und besuchte regelmäßig eine Suchtberatung. Bei ihm liegt nach Auffassung der sachverständig beratenen Strafkammer eine „psychische und Verhaltensstörung durch multiplen Substanzgebrauch, schädlicher Gebrauch“ (ICD 10 F 19.1) vor; sein Trinkverhalten ist als chronisches Alkoholmissbrauchsverhalten mit schädlichen Auswirkungen im psychischen, physischen und sozialen Bereich zu beschreiben und „der Störungsform des Alpha- und Betaalkoholismus (nach Jellinek)“ zuzuordnen; eine „komplette Ausprägungsform süchtiger Abhängigkeit“ lasse sich demgegenüber nicht belegen (UA S. 4).
b) Der Angeklagte lebte in einer betreuten Wohngemeinschaft gemeinsam mit der zur Tatzeit 17 Jahre alten Geschädigten und einer 16-jährigen weiteren Mitbewohnerin. In der Tatnacht drang der alkoholisierte Angeklagte in das Zimmer der Geschädigten ein und forderte sie zu sexuellen Handlungen auf. Weil sie dies ablehnte, drosselte er sie mit einem Gürtel und schlug ihren Kopf gegen die Zimmerwand. Dann nötigte er sie unter Einsatz des um ihren Hals gelegten Gürtels, ihm in sein Zimmer zu folgen. Dort drohte er ihr mit einem Elektroschockgerät. Nachdem er zunächst den Oralverkehr mit ihr erzwungen hatte, forderte er sie auf, vaginal mit ihm zu verkehren. Von diesem Vorhaben ließ er jedoch ab, als die Geschädigte auf die Gefahr der Entstehung einer Schwangerschaft hinwies. Stattdessen versuchte er mehrfach erfolglos, mit seinem nicht ausreichend erigierten Glied in den Anus des Mädchens einzudringen. Schließlich gelangte er durch Selbstbefriedigung zum Samenerguss.
c) Die Strafkammer nimmt eine erhebliche Verminderung der Hemmungsfähigkeit (§ 21 StGB) des Angeklagten aufgrund von Alkoholgenuss an. Sie stützt sich dabei zum einen auf die von ihm angegebenen Alkoholkonsummengen, die zu einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 2,15 ‰ geführt haben. Zum anderen begründet sie ihre Annahme mit Bekundungen der Zeugin über ihren Eindruck vom Angeklagten in der Tatnacht („der war voll auf Droge“, „völlig ausgerastet“, „übelst komisch“, „so hatte ich ihn noch nie erlebt“ - UA S. 49). Das Landgericht kommt indes zu dem Ergebnis, dass seine erheblich verminderte Schuldfähigkeit den Angeklagten nicht entlastet, „da er sehr wohl wusste …, dass er unter dem Einfluss von Alkohol aggressiv reagiert und zu Gewalthandlungen neigt.“ Bereits im Rahmen der letzten Begutachtung in einem anderen Strafverfahren, die ebenfalls durch den von der Strafkammer gehörten Sachverständigen vorgenommen worden war, sei „herausgearbeitet und vom Angeklagten so auch im Grunde bestätigt worden, dass der Grund für seine Gewalthandlungen in alkoholbedingter Enthemmung zu suchen sei“ (UA S. 48).
d) Eine Unterbringung nach § 64 StGB lehnt die Strafkammer gestützt auf die Ausführungen des Sachverständigen ab. Zwar könne „unter Umständen“ vom Vorliegen eines Hanges ausgegangen werden, wobei es sich aber um einen Grenzfall handele. Jedoch stünden hier neben der eigentlichen Entwöhnungsproblematik vorrangig sozio-rehabilitative Aspekte im Vordergrund, die besser in einer Betreuungsform außerhalb des Maßregelvollzuges zu therapieren seien.
2. Die Einwände der Revision gegen den Schuldspruch, insbesondere die tatrichterliche Beweiswürdigung, sowie die hierauf bezogene Verfahrensrüge sind offensichtlich unbegründet.
3. Indes hält der Rechtsfolgenausspruch der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand.
a) Das Landgericht hat dem Angeklagten eine Strafmilderung aufgrund seiner erheblich verminderten Schuldfähigkeit mit rechtsfehlerhafter Begründung versagt. Zwar kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Strafrahmenverschiebung aufgrund verminderter Schuldfähigkeit abgelehnt werden, wenn der Täter schon früher unter Alkoholeinfluss straffällig geworden ist und deshalb wusste, dass er in einem solchen Zustand zu Straftaten neigt (vgl. BGHR StGB § 21 Vorverschulden 4; BGHSt 49, 239, 242). Dabei sind an die Vergleichbarkeit der unter Alkoholeinfluss begangenen Straftaten keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Es ist nicht erforderlich, dass der Täter zuvor bereits eine gleiche oder ähnliche Tat begangen hat. Entscheidend ist regelmäßig nicht die äußerliche Vergleichbarkeit der einzelnen Taten, sondern die nämliche Wurzel des jeweiligen deliktischen Verhaltens (BGHSt 49, 239, 243 m.w.N.). Indes kann die Versagung der Strafrahmenverschiebung nicht mit dem Hinweis auf frühere unter Alkoholeinfluss begangene Straftaten begründet werden, wenn die neue Tat im Hinblick auf ihre andersartige Anlage und Zielrichtung und den zugrunde liegenden strafrechtlich bedeutsamen Antrieb in gänzlich andere Richtung als die bisherigen Taten weist, sie also mit den bisherigen Bild der Delinquenz nicht in Einklang zu bringen ist, und mit der der Täter deshalb nicht rechnen konnte (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 3).
Der Angeklagte ist zwar bereits früher, soweit ersichtlich einmal, unter Alkoholeinfluss gewalttätig geworden. Er soll dabei dem Geschädigten mehrfach ins Gesicht geschlagen und gegen die Rippen getreten sowie unter dem Einfluss von Alkohol und Cannabis seine damalige Lebensgefährtin geschlagen, gewürgt und in den Arm gebissen haben. Indes weisen jener Fall und der vorliegende unterschiedliche charakteristische Besonderheiten auf. Wegen eines Delikts gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist der Angeklagte zuvor nicht bestraft worden. Auch deuten die Feststellungen nicht darauf hin, dass die situativen Verhältnisse des Einzelfalles das Risiko der Tatbegehung infolge der Alkoholisierung vorhersehbar signifikant erhöht hätten (vgl. BGHSt 49, 239, 243): Der Angeklagte trank bei sich zu Hause zunächst mit seiner anderen Mitbewohnerin, dann mit einem Freund; sein Verhältnis zu seinen beiden Mitbewohnerinnen war gut. Es bestanden weder eine intime Beziehung zur Geschädigten, noch Konflikte oder erkennbare sexuelle Spannungen innerhalb der Wohngemeinschaft, die vorhersehbar die Gefahr gewaltsamer sexueller Übergriffe des zudem massiv alkoholgefährdeten Angeklagten unter Alkoholeinfluss begründeten.
b) Darüber hinaus ist die Ablehnung der Unterbringung nach § 64 StGB rechtsfehlerhaft begründet.
Die Frage, ob ein Hang im Sinne von § 64 StGB vorliegt, wird im angefochtenen Urteil nicht abschließend geklärt. Die in diesem Zusammenhang wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen veranlassen den Senat zu dem Hinweis, dass eine Alkoholabhängigkeit nicht zwingende Voraussetzung für die Annahme eines Hanges ist (vgl. BGHR StGB § 64 Hang 2 und § 64 Abs. 1 Hang 5). Denn hierunter fällt nicht nur eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit, sondern es genügt eine eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, ohne dass diese den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss (BGH, Beschluss vom 18. August 1998 - 5 StR 363/98; Beschluss vom 18. Juli 2007 - 5 StR 279/07). Eine solche Neigung liegt bei dem festgestellten Alkoholmissbrauch des Angeklagten durchaus nahe. Aus den bisherigen Feststellungen ergibt sich auch nicht, dass eine stationäre Therapie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 64 Satz 2 StGB) oder andere Voraussetzungen der Maßregelanordnung offensichtlich nicht vorliegen. Der Hinweis darauf, dass der Angeklagte besser in einer Betreuungsform außerhalb des Maßregelvollzugs zu behandeln wäre, vermag die Ablehnung der Unterbringung nach § 64 StGB auch eingedenk des eröffneten tatgerichtlichen Ermessens nicht zu rechtfertigen.
c) Nach alledem erscheinen auf Grund der bisherigen Feststellungen die Zubilligung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB und eine Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB nahe liegend. Angesichts der bislang nicht näher aufgeklärten Motivlage und des Verhaltens und Erscheinungsbildes des Angeklagten bei der Tat bedarf es aber erneut der umfassenden Prüfung seiner Schuldfähigkeit mit Hilfe eines Sachverständigen (§ 246a StPO). Einzubeziehen ist - unter Umständen sogar im Hinblick auf eine jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossene Unterbringung nach § 63 StGB - die Frage, ob eine sonstige schwere seelische Störung oder eine krankhafte Alkoholüberempfindlichkeit des Angeklagten in Betracht kommt.
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§ 54 StGB
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vorgehend BGH, 5. August 2009, Az: 5 StR 294/09, Beschluss vorgehend LG Bautzen, 29. September 2009, Az: 250 Js 15663/07 - 1 KLs, Urteil vorgehend LG Bautzen, 29. April 2009, Az: 250 Js 15663/07 - 1 KLs, Urteil
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DEU
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Gesamtstrafenbildung bei einer Serientat: Begründung der erheblichen Überschreitung der Einsatzstrafe
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bautzen vom 29. September 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben. Die Gesamtstrafe unterliegt ungeachtet der Reduzierung um ein Jahr denselben Bedenken, die dem Senatsbeschluss vom 5. August 2009 in dieser Sache zugrunde liegen.
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XII ZR 110/07
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§ 41 GKG
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vorgehend BGH, 23. September 2009, Az: XII ZR 110/07, Beschluss vorgehend OLG Stuttgart, 16. Juli 2007, Az: 5 U 214/06, Urteil vorgehend LG Stuttgart, 24. November 2006, Az: 22 O 318/06, Urteil
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DEU
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(Streitwertbemessung im Räumungsverfahren)
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Auf die als Gegenvorstellung zu wertende Eingabe der Beklagten zu 3 wird unter Zurückweisung im Übrigen der Beschluss des Senats vom 23. September 2009 abgeändert:
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens beträgt 50.437 €.
Im Verhältnis zur Beklagten zu 3 beträgt er nur 18.595 €.
Das Verfahren ist gebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
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Die nach § 63 Abs. 3 GKG zulässige Gegenvorstellung der Beklagten zu 3 ist nur zum Teil begründet.
Zu Recht weist die Beklagte zu 3 darauf hin, dass sie am Rechtsstreit nur beteiligt ist, soweit die Räumung der streitgegenständlichen Räume in Rede steht, also lediglich in Höhe von 18.595 €.
Für eine weitere Herabsetzung des Streitwerts ist demgegenüber kein Raum. Entgegen der Auffassung der Beklagten zu 3 kommt eine Bemessung des Streitwerts gemäß § 41 GKG nach Kopfteilen nicht in Betracht.
Dose Wagenitz Vézina
Klinkhammer Schilling
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056046
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100121
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I ZB 14/09
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Beschluss
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Nr 3104 RVG-VV, Teil 3 Vorbem 3 Abs 3 Alt 3 RVG-VV
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vorgehend OLG Dresden, 15. Januar 2009, Az: 3 W 2/09, Beschluss vorgehend LG Dresden, 16. Dezember 2008, Az: 42 HKO 177/08, Kostenfestsetzungsbeschluss
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DEU
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Rechtsanwaltsgebühr: Anfall der Terminsgebühr durch eine auf Erledigung des Verfahrens gerichtete telefonische Besprechung in einer Wettbewerbssache
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Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers werden der Beschluss des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 15. Januar 2009 aufgehoben und der Kostenfestsetzungsbeschluss der Rechtspflegerin des Landgerichts Dresden vom 16. Dezember 2008 in seiner durch den Beschluss des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 15. Januar 2009 berichtigten Fassung dahingehend abgeändert, dass der Beklagte der Klägerin über die in diesem Beschluss festgesetzten Kosten hinaus weitere 922,49 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. August 2008 zu erstatten hat.
Der Beklagte hat die Kosten der Rechtsmittel zu tragen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 922,49 € festgesetzt.
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I. Der Kläger hat den Beklagten in einer Wettbewerbssache auf Unterlassung und Ersatz von Abmahnkosten in Anspruch genommen. Nachdem ihm die Klage am 8. Juli 2008 zugestellt worden war, rief der Beklagte am 11. Juli 2008 in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten des Klägers an und sprach mit der Rechtsanwältin, die die Sache vertretungsweise bearbeitete. Er verwies zunächst auf eine von ihm verfasste E-Mail an den Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 18. April 2008. Die Rechtsanwältin erklärte, dass sich eine E-Mail vom 18. April 2008 nicht bei der Akte befinde. Anschließend erörterte er mit der Rechtsanwältin die Möglichkeiten einer Beendigung des Verfahrens. Die Rechtsanwältin stellte ihm anheim, die Unterlassungserklärung abzugeben und die Abmahnpauschale auszugleichen und erklärte, der Kläger werde dann den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklären. Nach diesem Telefonat ging eine E-Mail des Beklagten vom 18. April 2008 mit einer Stellungnahme des Beklagten vom 16. April 2008 in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers ein. Daraufhin erklärte der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Der Beklagte stimmte dieser Erledigungserklärung zu.
Das Landgericht hat dem Beklagten gemäß § 91a ZPO die Kosten des Rechtsstreits auferlegt und den Streitwert auf 20.000 € festgesetzt. Der Kläger hat die Festsetzung seiner Kosten beantragt und dabei eine 1,2-fache Terminsgebühr gemäß Nr. 3104 RVG VV in Höhe von - einschließlich Umsatzsteuer - 922,49 € geltend gemacht.
Die Rechtspflegerin beim Landgericht hat die geltend gemachte Terminsgebühr bei der Kostenfestsetzung nicht berücksichtigt. Die sofortige Beschwerde des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Das Beschwerdegericht hat den Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts nur wegen eines Rechenfehlers nach § 319 Abs. 1 ZPO berichtigt. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Kläger seinen Antrag auf Festsetzung der Terminsgebühr weiter.
II. Die aufgrund ihrer Zulassung durch das Beschwerdegericht statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 575 ZPO) Rechtsbeschwerde ist begründet; sie führt zur Festsetzung weiterer 922,49 € zugunsten des Klägers.
1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, das Telefonat des Beklagten mit der Vertreterin des Prozessbevollmächtigten des Klägers habe eine Terminsgebühr nicht begründet. Die Rechtsanwältin habe dem Beklagten nur die Möglichkeit aufgezeigt, die vom Kläger verlangte Erklärung abzugeben und in Aussicht gestellt, der Kläger werde den Rechtsstreit dann in der Hauptsache für erledigt erklären. Allein die Besprechung der grundsätzlichen Bereitschaft und abstrakten Möglichkeit, die Sache ohne richterliche Entscheidung zu erledigen, lasse nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Terminsgebühr nicht entstehen. Mit der Terminsgebühr werde das Bemühen des Anwalts honoriert, das gerichtliche Verfahren möglichst früh sowie der Sach- und Rechtslage entsprechend zu beenden. Das Anheimstellen der Erfüllung und das Aufzeigen einer prozessualen Möglichkeit zur Beendigung des Klageverfahrens sei kein Bemühen um eine Beendigung des Rechtsstreits.
2. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts ist aufgrund des Telefonats des Beklagten mit der Vertreterin des Prozessbevollmächtigten des Klägers gemäß § 2 Abs. 2 RVG i.V. mit Nr. 3104 i.V. mit Vorbemerkung 3 Abs. 3 Fall 3 RVG VV eine 1,2-fache Terminsgebühr aus einem Streitwert von 20.000 € in Höhe von 922,49 € entstanden.
Das Beschwerdegericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass ein allgemeines Gespräch über die grundsätzliche Bereitschaft oder ab-strakte Möglichkeit einer außergerichtlichen Erledigung nicht schon die 1,2-fache Terminsgebühr nach Nr. 3104 RVG VV auslöst (BGH, Beschl. v. 27.2.2007 - XI ZB 38/05, NJW 2007, 2858 Tz. 10). Vielmehr muss es sich gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 3 Fall 3 RVG VV um eine auf die Erledigung des Verfahrens gerichtete Besprechung handeln. Das Beschwerdegericht hat jedoch rechtsfehlerhaft zu hohe Anforderungen an die Voraussetzungen einer auf die Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechung im Sinne dieser Bestimmung gestellt und das Entstehen einer Terminsgebühr daher zu Unrecht verneint. Mit der Regelung in Vorbemerkung 3 Abs. 3 Fall 3 RVG VV soll das ernsthafte Bemühen des Prozessbevollmächtigten um einen Abschluss des Verfahrens ohne Beteiligung des Gerichts honoriert und damit zugleich die außergerichtliche Streitbeilegung - auch zur Entlastung der Gerichte - gefördert werden (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf eines Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes, BT-Drucks. 15/1971, S. 148, 209). Danach ist beispielsweise schon dann von einer Besprechung im Sinne dieser Vorschrift auszugehen, wenn der Gegner eine auf die Erledigung des Verfahrens gerichtete Erklärung zwecks Prüfung und Weiterleitung an seine Partei entgegennimmt (BGH, Beschl. v. 20.11.2006 - II ZB 9/06, NJW-RR 2007, 286 Tz. 8).
Nach diesen Maßstäben ist auch das hier zu beurteilende Telefonat als eine auf die Erledigung des Verfahrens gerichtete Besprechung zu werten. In diesem Telefonat hat die Rechtsanwältin, die die Sache vertretungsweise für den Prozessbevollmächtigten des Klägers bearbeitete, mit dem Beklagten die Möglichkeiten einer Beendigung des Verfahrens erörtert. Dabei handelte es sich nicht nur um ein allgemeines Gespräch über die abstrakte Möglichkeit einer außergerichtlichen Erledigung. Gegenstand der Besprechung war vielmehr ersichtlich die konkrete Frage, ob der Rechtsstreit mit Rücksicht auf die E-Mail des Beklagten vom 18. April 2008 ohne Beteiligung des Gerichts beigelegt werden könne. Diese E-Mail, die sich nach Darstellung der Rechtsanwältin nicht bei ihren Akten befand und die der Beklagte nach dem Telefonat übersandte, enthielt - wie sich dem Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 7. August 2008 entnehmen lässt - zwar nicht die geforderte, wohl aber eine inhaltsähnliche, etwas abgemilderte Unterlassungserklärung des Beklagten. Die Rechtsanwältin hatte dem Beklagten im Telefonat anheimgestellt, diese Unterlassungserklärung abzugeben und erklärt, der Kläger werde dann - falls sein Unterlassungsanspruch damit erfüllt sei - den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklären. Sie hat dem Beklagten demnach zugesagt, im Falle der Abgabe der Überlassungserklärung zu prüfen, ob der Rechtsstreit mit Blick auf diese Erklärung namens des Klägers für erledigt erklärt werden kann. Sie hat dem Beklagten damit eine konkrete Möglichkeit zur außergerichtlichen Beendigung des Klageverfahrens aufgezeigt und sich somit ernsthaft um einen Abschluss des Verfahrens ohne Beteiligung des Gerichts bemüht.
III. Danach ist der angefochtene Beschluss des Beschwerdegerichts aufzuheben und der Kostenfestsetzungsbeschluss der Rechtspflegerin des Landgerichts in seiner durch den angefochtenen Beschluss berichtigten Fassung dahingehend abzuändern, dass der Beklagte der Klägerin über die in diesem Beschluss festgesetzten Kosten hinaus weitere 922,49 € nebst Zinsen zu erstatten hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Bornkamm Büscher Schaffert
Kirchhoff Koch
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056047
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100114
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I ZB 34/09
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Beschluss
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§ 91a ZPO, § 765a ZPO, Art 14 GG, Art 19 GG
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vorgehend LG Ulm, 5. Mai 2009, Az: 4 T 7/09 vorgehend AG Göppingen, 1. April 2009, Az: 1 M 379/09
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DEU
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Räumungszwangsvollstreckung aus Zuschlagsbeschluss: Einstweilige Einstellung wegen Suizidgefahr des Schuldners
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Der Gläubiger trägt die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 3.000 € festgesetzt.
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I. Der Gläubiger betreibt aus einem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts Göppingen vom 19. November 2008 die Räumungsvollstreckung gegen den Schuldner. Der Schuldner hat gegen die vom Gerichtsvollzieher auf den 22. April 2009 anberaumte Zwangsräumung Gewährung von Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO beantragt, weil bei ihm im Falle einer zwangsweise durchgeführten Räumung eine akute Suizidgefahr bestehe, die nur durch seinen Verbleib in dem zu räumenden Wohnhaus abgewendet werden könne. Der Gläubiger ist der beantragten Gewährung von Räumungsschutz entgegengetreten.
Das Vollstreckungsgericht hat die Zwangsvollstreckung in Bezug auf das vom Schuldner genutzte Wohnhaus längstens bis zum 31. Juli 2009 eingestellt und dem Schuldner aufgegeben, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben oder eine solche fortzuführen und die Aufnahme der Behandlung unverzüglich sowie den Verlauf bis zum 29. Mai 2009 durch Vorlage von fachärztlichen Bescheinigungen dem Vollstreckungsgericht nachzuweisen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Gläubigers ist erfolglos geblieben.
Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde hat der Gläubiger zunächst seinen Antrag auf Zurückweisung des vom Schuldner nachgesuchten Räumungsschutzes weiterverfolgt. Im Blick auf den Ablauf der vom Vollstreckungsgericht angeordneten Befristung des Vollstreckungsschutzes haben die Parteien das Rechtsbeschwerdeverfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
II. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens werden dem Gläubiger auferlegt.
1. Die Erledigung der Hauptsache kann auch noch in der Rechtsmittelinstanz erklärt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 30.9.2004 - I ZR 30/04, WRP 2005, 126; zur übereinstimmenden Erledigungserklärung im Revisionsverfahren vgl. BGH, Beschl. v. 10.12.2009 - I ZR 201/07 Tz. 9 m.w.N.). Da durch die übereinstimmenden Erklärungen der Parteien das Verfahren betreffend den Vollstreckungsschutzantrag des Schuldners vom 5. März 2009 insgesamt erledigt ist, ist über alle bisher entstandenen Kosten des Verfahrens gemäß der auch im Verfahren der Rechtsbeschwerde geltenden Vorschrift des § 91a ZPO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands zu entscheiden. Dabei ist der mutmaßliche Ausgang des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu berücksichtigen (BGH WRP 2005, 126).
2. Danach sind die Kosten des Vollstreckungsschutzverfahrens dem Gläubiger aufzuerlegen. Eine für den Gläubiger günstige Entscheidung über die Kosten des Räumungsschutzverfahrens könnte nur erfolgen, wenn die Rechtsbeschwerde nach dem Sach- und Streitstand bei Eintritt des erledigenden Ereignisses Erfolg gehabt und zu einer Zurückweisung des Antrags des Schuldners auf Gewährung von Vollstreckungsschutz geführt hätte. Dies ist hier nicht der Fall. Die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde war zwar gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO zulässig. In der Sache hätte sie jedoch keinen Erfolg gehabt, weil das Beschwerdegericht die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Vollstreckungsgerichts vom 1. April 2009 mit Recht zurückgewiesen hat.
a) Die Vorschrift des § 765a ZPO ermöglicht den Schutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen, die wegen ganz besonderer Umstände eine Härte für den Schuldner bedeuten, die mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Die Anwendung von § 765a ZPO kommt nur dann in Betracht, wenn im Einzelfall die Zwangsvollstreckungsmaßnahme nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis für den Schuldner führen würde (vgl. BGHZ 161, 371, 374; 163, 66, 71 f.; Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 765a Rdn. 5; Musielak/Lackmann, ZPO, 7. Aufl., § 765a Rdn. 5 ff.; Scheuch in Prütting/Gehrlein, ZPO, § 765a Rdn. 8).
Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies die Untersagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufgaben überbürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen (BGHZ 163, 66, 72 ff.; BGH, Beschl. v. 22.11.2007 - I ZB 104/06, NJW 2008, 1000 Tz. 8; Beschl. v. 13.3.2008 - I ZB 59/07, NJW 2008, 1742 Tz. 9). Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Dabei kann vom Schuldner erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen (BGHZ 163, 66, 74; BGH NJW 2008, 1000 Tz. 9; NJW 2008, 1742 Tz. 9).
b) Nach diesen Grundsätzen erweisen sich die Interessenabwägungen sowohl des Vollstreckungsgerichts als auch des Beschwerdegerichts als rechtsfehlerfrei.
Das Beschwerdegericht ist in Übereinstimmung mit dem Vollstreckungsgericht aufgrund des schriftlichen Gutachtens der Amtsärztin Dr. O. vom 15. Januar 2009 und deren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung des Beschwerdegerichts am 27. April 2009 davon ausgegangen, dass der Schuldner im Falle einer Zwangsräumung ernsthaft suizidgefährdet ist. Aus dem schriftlichen Gutachten der Amtsärztin ergibt sich des Weiteren, dass die beim Schuldner bestehende Suizidgefahr durch seine Unterbringung nach dem Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker oder durch andere Maßnahmen jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Vollstreckungsgerichts nicht beseitigt werden konnte.
In einem solchen Fall ist eine befristete Einstellung des Zwangsvollstreckungsverfahrens grundsätzlich zu erwägen. Das Interesse des Gläubigers an der Fortsetzung des Verfahrens verbietet eine dauerhafte Einstellung, weil die staatliche Aufgabe, das Leben des Schuldners zu schützen, nicht auf unbegrenzte Zeit durch ein Vollstreckungsverbot gelöst werden kann (vgl. BGH, Beschl. v. 14.6.2007 - V ZB 28/07, NJW 2007, 3719 Tz. 15; Beschl. v. 6.12.2007 - V ZB 67/07, NJW 2008, 586 Tz. 10). Die Einstellung ist zu befristen und mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuldners wiederherzustellen. Das gilt auch dann, wenn die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustands des Schuldners gering sind. Im Interesse des Gläubigers ist dem Schuldner zuzumuten, auf die Verbesserung seines Gesundheitszustands hinzuwirken und den Stand seiner Behandlung dem Vollstreckungsgericht nachzuweisen (BGH NJW 2008, 586 Tz. 10).
Diesen Anforderungen genügt die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts. Es hat die Zwangsvollstreckung lediglich für die Dauer von vier Monaten einstweilen eingestellt und die Einstellung zudem auf die Räumung des Wohnhauses beschränkt. Ferner hat das Vollstreckungsgericht dem Schuldner aufgegeben, sich in ambulante oder - soweit erforderlich - stationäre fachärztliche Behandlung zu begeben und deren Aufnahme dem Vollstreckungsgericht unverzüglich nachzuweisen. Des Weiteren wurde dem Schuldner aufgegeben, den Verlauf der Behandlung durch Vorlage von fachärztlichen Bescheinigungen bis zum 29. Mai 2009 darzulegen. Unter diesen Umständen ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht die sofortige Beschwerde des Gläubigers gegen die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts zurückgewiesen hat.
Bornkamm Pokrant Büscher
Bergmann Kirchhoff
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056049
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100114
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I ZB 97/08
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Beschluss
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§ 233 ZPO, § 238 Abs 2 S 1 ZPO, § 522 Abs 1 S 4 ZPO, § 574 Abs 1 Nr 1 ZPO, § 574 Abs 2 ZPO
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vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 8. Oktober 2008, Az: 5 U 5/08, Beschluss vorgehend LG Hamburg, 12. Oktober 2007, Az: 406 O 64/07
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DEU
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist: Fehlende Plausibilität der Glaubhaftmachung - Aktenzeichen des Verfügungsverfahrens
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Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg, 5. Zivilsenat, vom 8. Oktober 2008 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Beschwerdewert: 60.000 €.
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I. Das Landgericht hat die Beklagte aufgrund markenrechtlicher Ansprüche zur Unterlassung und Auskunft verurteilt sowie ihre Verpflichtung zur Schadensersatzleistung festgestellt. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte fristgerecht Berufung ein. Die Frist zur Begründung der Berufung lief am 17. Dezember 2007 ab. Die Berufungsbegründung ging erst am 28. Dezember 2007 beim Berufungsgericht ein; zugleich hat die Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Zur Begründung hat die Beklagte vorgetragen, dass in der Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten für jede einzutragende Frist zusätzlich eine Vorfrist von einer Woche notiert werde, zu der die jeweilige Akte dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt vorgelegt werde. Mit Ablauf dieser Vorfrist am 10. Dezember 2007 sei dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt Dr. E. von der Auszubildenden S. Si. indes nicht die Akte zum vorliegenden Verfahren (mit dem internen Aktenzeichen H/E 559-07), sondern diejenige zum parallelen Verfügungsverfahren (mit dem internen Aktenzeichen H/E 1413/06/AH) vorgelegt worden. Rechtsanwalt Dr. E. habe diesen Irrtum bemerkt und die Akte mit der schriftlichen Anweisung an seine Chefsekretärin M. D. zurückgegeben, ihm die Hauptsacheakte vorzulegen. Frau D. sei eine langjährige Mitarbeiterin, die stets sehr sorgfältig arbeite und noch niemals einen Fehler begangen habe. Frau D. habe daraufhin noch am selben Tag die richtige Akte aus der Registratur geholt. Sie habe jedoch festgestellt, dass sich in der Akte ein Schreiben der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts vom 19. November 2007 befunden habe, mit dem der Eingang der Berufung bestätigt worden sei. Auf diesem sei allerdings das falsche interne Aktenzeichen in dem Feld "Ihr Zeichen" eingefügt gewesen, nämlich das Aktenzeichen zum Verfügungsverfahren. Frau D. habe sich daraufhin - in der Hauptsacheakte - das Urteil des Landgerichts vom 12. Oktober 2007 angesehen und dabei bemerkt, dass auch dort das interne Aktenzeichen der für die Beklagte tätigen Prozessbevollmächtigten für das Verfügungsverfahren angegeben gewesen sei. Frau D. habe nun in die Akte des Verfügungsverfahrens gesehen und festgestellt, dass dort längst eine Berufungsbegründung eingereicht gewesen sei. Deshalb habe Frau D. gedacht, dass die notierte Frist mit Ablauf 17. Dezember 2007 längst erledigt sei. Sie habe eigenmächtig diese Frist gestrichen, ohne Rechtsanwalt Dr. E. darauf hinzuweisen. Dies habe zur Folge gehabt, dass die Akte Rechtsanwalt Dr. E. nicht wieder vorgelegt, dass er am Tage des Fristablaufs hierauf nicht aufmerksam gemacht und dass die Frist nicht mehr überwacht worden sei.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten zurückgewiesen und ihre Berufung verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte habe keinen Ablauf glaubhaft gemacht, nach dem sie ohne ihr Verschulden daran gehindert war, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Es sei nicht vorstellbar, dass der Mitarbeiterin D. die von der Beklagten vorgetragene Kette höchst gravierender Fehler unterlaufen sei. Selbst wenn man die Schilderung der Beklagten als zutreffend unterstelle, liege jedoch ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten vor. Wenn zu einer wichtigen Frist die falsche Akte vorgelegt werde und der Anwalt sodann anordne, ihm sogleich die richtige Akte vorzulegen, gebiete es anwaltliche Sorgfalt, die ausstehende Vorlage dieser Akte wenigstens für den Zeitraum im Kopf zu behalten, der üblicherweise ausreichend sei, um diese Anweisung auszuführen, und alsbald nachzuhaken, wenn die Akte nicht innerhalb dieses Zeitraums vorgelegt werde.
Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO i.V. mit § 238 Abs. 2 Satz 1, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft, aber unzulässig. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen (BGH, Urt. v. 22.3.2005 - XI ZB 36/04, NJW-RR 2005, 865 m.w.N.), sind nicht erfüllt. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Bundesgerichtshofs erforderlich. Der angefochtene Beschluss verletzt nicht die Ansprüche der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs und wirkungsvollen Rechtsschutz.
1. Die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, der von Frau D. geschilderte Ablauf sei nicht plausibel und daher nicht glaubhaft, beruht nicht auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde hat das Berufungsgericht nicht den Kern des Vorbringens der Beklagten durch die Annahme unrichtig erfasst, Frau D. habe das vorliegende Hauptsacheverfahren und das vorgeschaltete Verfügungsverfahren für ein und dieselbe Sache gehalten.
Aus dem Gesamtzusammenhang der Beschlussgründe ergibt sich vielmehr deutlich, dass das Berufungsgericht entsprechend dem Vortrag der Beklagten davon ausgegangen ist, Frau D. habe gewusst, dass es Verfügungs- und Hauptsacheverfahren mit identischen Rubren gab. Soweit der Würdigung des Vortrags der Beklagten durch das Berufungsgericht zu entnehmen sein sollte, Frau D. müsse angenommen haben, Verfügungs- und Hauptsacheverfahren seien dieselbe Sache, könnte damit allein gemeint sein, sie habe nicht erkannt, dass das Urteil des Landgerichts vom 12. Oktober 2007 nicht das Verfügungsverfahren betraf und insofern nicht zwischen den verschiedenen Verfahren unterschieden. Diese tatrichterliche Folgerung verletzte schon deshalb kein Verfahrensgrundrecht der Beklagten, weil die irrtümliche Zuordnung des landgerichtlichen Urteils nach dem Vortrag der Beklagten Ursache der fehlerhaften Streichung der Vorfrist war.
2. Der angefochtene Beschluss beeinträchtigt auch nicht den Anspruch der Beklagten auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Das Berufungsgericht hat nicht gegen den Grundsatz verstoßen, dass sich die Beklagte keine Fehler der Büroangestellten ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen muss (BGH, Beschl. v. 12.8.1997 - VI ZB 13/97, NJW 1997, 3243). Es hat vielmehr angenommen, die Beklagte habe kein mangelndes Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten glaubhaft gemacht, weil der von Frau D. geschilderte Ablauf nicht plausibel sei; die Beklagte habe demnach keinen Sachverhalt glaubhaft gemacht, nach dem sie ohne ihr Verschulden daran gehindert gewesen sei, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Diese Ausführungen lassen keinen zulassungsrelevanten Rechtsfehler erkennen.
Nach dem Vortrag der Beklagten zur Kanzleiorganisation ihres Prozessbevollmächtigten hätte weder die Berufungsbegründungsfrist noch die entsprechende Vorfrist gestrichen werden dürfen. Wird die Schilderung von Frau D. für nicht glaubhaft gehalten, fehlt es an einem Vorbringen, das erklärt, wie es zu dem Fristversäumnis kommen konnte. Das Berufungsgericht hat die Beklagte auf diese Einschätzung hingewiesen. Eine andere Erklärung für die Fristversäumung hat die Beklagte nicht gegeben.
3. Es kann deshalb dahinstehen, ob der vom Berufungsgericht bei Unterstellung des von der Beklagten vorgetragenen Ablaufs hilfsweise angenommene Grund für die Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrags zutrifft, den Prozessbevollmächtigten treffe an dem Fristversäumnis ein Verschulden, weil er nach den konkreten Umständen Anlass gehabt habe, wegen der ausbleibenden Vorlage der richtigen Akte bei seinem Personal nachzufragen.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Bornkamm Pokrant Büscher
Bergmann Kirchhoff
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056079
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100114
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I ZR 67/07
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Urteil
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§ 3 UWG, § 4 Nr 11 UWG, § 2 AMG, § 21 AMG
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vorgehend OLG Celle, 29. März 2007, Az: 13 U 171/06, Urteil vorgehend LG Hannover, 17. Juli 2006, Az: 23 O 140/05
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DEU
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Unlauterer Wettbewerb: Diätetische Zimttabletten als Lebensmittel; Abgrenzung zu Arzneimitteln
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 29. März 2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Beklagte bewirbt und vertreibt das Mittel "Nobilin GLUCO Zimt" als "Diätetische Zimttabletten - Zur besonderen Ernährung bei Diabetes mellitus im Rahmen eines Diätplanes". Eine Tablette enthält 100 mg Zimtextrakt, ferner Zink, Mangan, Folsäure, Chrom, Selen und verschiedene Vitamine. Auf der Umverpackung und auf der Gebrauchsinformation ist jeweils angegeben:
Zimt kann im Rahmen unterstützender diätetischer Maßnahmen (Diätplan) den Erhalt gesunder Blutzuckerwerte begünstigen. Für Diabetiker kann es deshalb sinnvoll sein, den Stoffwechsel mit Zimt zu unterstützen. Eine Tablette Nobilin GLUCO Zimt enthält 100 mg eines hochwertigen Zimtextrakts, dies entspricht ca. 1 g Zimt-Pulver. Diabetiker können zudem vermehrt Freien Radikalen ausgesetzt sein und haben deshalb einen besonderen Bedarf an Antioxidantien. Nobilin GLUCO Zimt erhält daher neben anderen wichtigen Vitalstoffen auch die Antioxidantien Vitamin C, E, Selen und Zink.
Im Internetauftritt der Beklagten befindet sich folgende Produktinformation:
Um Glukose in die Zelle aufnehmen zu können, benötigt der Körper das Hormon Insulin. Bei Diabetikern vom Typ 2 ist zwar genug Insulin vorhanden, die Zellen nutzen das Insulin jedoch nicht, oder nur unzureichend, was zur Folge hat, dass nicht mehr genügend Glukose in die Zellen aufgenommen wird. Der im Zimt enthaltene Wirkstoff kann die Insulin-Empfindlichkeit der Zellen stimulieren.
Der Kläger, der Verband Sozialer Wettbewerb e.V., hat die Auffassung vertreten, das Produkt "Nobilin GLUCO Zimt" der Beklagten sei kein diätetisches Lebensmittel, sondern ein Arzneimittel, weil es hinsichtlich des bestimmenden Bestandteils Zimt keinen besonderen Ernährungszweck habe. Zimt diene in dem Mittel allein der Beeinflussung des Blutzuckerspiegels, weil der im Zimt enthaltene Wirkstoff MHCP (Methylhydroxychalson-Polymer) bei Diabetikern die zellulären Rezeptoren aktiviere und innerhalb der Zelle synergetisch mit Insulin wirke. Das Mittel habe somit eine pharmakologische Wirkung. Deshalb sei der Beklagten das Inverkehrbringen und Bewerben des Mittels als diätetisches Lebensmittel zu untersagen.
Der Kläger hat beantragt,
der Beklagten bei Vermeidung der gesetzlichen Ordnungsmittel zu untersagen, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs das Mittel "Nobilin GLUCO Zimt" als "diätetisches Lebensmittel zur besonderen Ernährung bei Diabetes mellitus im Rahmen eines Diätplans" zu bewerben und/oder in den Verkehr zu bringen.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat vorgetragen, bei ihrem Produkt handele es sich um ein Lebensmittel, das für die besonderen Ernährungsbedürfnisse von Diabetikern bestimmt sei. Bei der angegebenen Dosierung wirke das Produkt rein ernährungsphysiologisch wie beim Verzehr von Zimt im Rahmen der gewöhnlichen Ernährung.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben (OLG Celle ZLR 2007, 398). Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, verfolgt die Beklagte ihr auf Abweisung der Klage gerichtetes Begehren weiter.
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I. Das Berufungsgericht hat einen Unterlassungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte aus § 8 Abs. 1 und 3 Nr. 2, §§ 3, 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG 2004 angenommen und zur Begründung ausgeführt:
Die Bewerbung und das Inverkehrbringen eines Mittels als "diätetisches Lebensmittel" seien nur zulässig, wenn es den Voraussetzungen der Diätverordnung entspreche. Nach der Diätverordnung seien diätetische Lebensmittel solche Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt seien (§ 1 Abs. 1 DiätV). Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor, weil es sich bei "Nobilin GLUCO Zimt" um ein Arzneimittel und nicht um ein Lebensmittel handele.
Im Hinblick auf die Wirkungsweise eines Produkts liege ein gewichtiger Anhaltspunkt für ein Arzneimittel vor, wenn bei dem Produkt eine pharmakologische Manipulation der körpereigenen physiologischen Funktionen im Vordergrund stehe. Zwar könnten auch Stoffe, die mit der normalen Ernährung aufgenommen würden, die physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers beeinflussen. Solche Stoffe ("Verbrauchsmaterial") veränderten jedoch regelmäßig die Funktionen des Körpers nicht, sondern trügen im Gegenteil dazu bei, die Körperfunktionen unverändert zu erhalten. Deshalb liege die Einordnung als Funktionsarzneimittel nahe, wenn von außen her aktiv in das natürliche, durch die Gene bestimmte Funktionsprogramm des Körpers eingriffen werde.
So sei es hier bei dem Mittel der Beklagten, das aus der Sicht eines Durchschnittsverbrauchers durch den Bestandteil Zimt geprägt werde. Bei Typ-2-Diabetikern sei Insulin in ausreichendem Maße verfügbar; die Empfindlichkeit der Zellen gegenüber Insulin sei jedoch so weit herabgesetzt, dass nicht mehr genügend Glukose in die Zellen aufgenommen werde. Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten, den der Kläger sich zu Eigen gemacht habe, könne der im Zimt enthaltene aktive Wirkstoff MHCP die reduzierte Insulin-Sensitivität bei den Patienten beeinflussen. Für eine Einordnung als Arzneimittel spreche außerdem, dass es sich bei Zimt um einen ambivalenten Stoff handele, der sowohl eine lebensmitteltypische Zweckbestimmung (Gewürz) als auch eine arzneiliche Zweckbestimmung (Senkung der Blutzuckerwerte) habe. Zweck des Präparats der Beklagten sei nicht die Verwendung als Gewürz. Auf der Umverpackung und in der Gebrauchsinformation werde vielmehr herausgestellt, dass Zimt den Erhalt gesunder Blutzuckerwerte begünstigen könne. Aus der Sicht der angesprochenen Verbraucher liege deshalb nahe, dass das Mittel wie andere zugelassene Medikamente zur Senkung des Blutzuckers als Arzneimittel einzustufen sei. Die Bezeichnung als "diätetisches Lebensmittel" führe nicht zu einer Einstufung als Lebensmittel.
Entgegen der Auffassung der Beklagten nehme der Verbraucher bei der empfohlenen Dosierung nicht nur diejenige Menge an Zimt auf, die er auch bei einer kleinen Portion "Milchreis mit Zimt" verzehre. "Nobilin GLUCO Zimt" enthalte pro Kapsel 100 mg wässrigen Zimtextrakt und damit mehr, als Verbraucher mit normalen Ernährungsgewohnheiten zu sich nähmen.
II. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision führen zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Auffassung des Berufungsgerichts, bei dem Produkt der Beklagten handele es sich um ein Arzneimittel, wird von den bislang getroffenen Feststellungen nicht getragen.
1. Auf den in die Zukunft gerichteten Unterlassungsanspruch des Klägers ist das UWG 2008 anzuwenden. Da das Unterlassungsbegehren auf Wiederholungsgefahr gestützt ist, ist es allerdings nur begründet, wenn das beanstandete Verhalten auch schon zur Zeit der Begehung wettbewerbswidrig war. Der hier in Rede stehende Irreführungstatbestand des § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG 2004 (jetzt: § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 UWG 2008) hat durch die Umsetzung der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken keine Änderung erfahren, so dass eine Unterscheidung zwischen altem und neuem Recht nicht geboten ist.
2. Nach der Rechtsprechung des Senats ist der Begriff des Funktionsarzneimittels gemäß § 2 AMG im Sinne des europarechtlichen Arzneimittelbegriffs nach den Richtlinien 2004/27/EG vom 31. März 2004 und 2001/83/EG vom 6. November 2001 zu bestimmen (BGH, Urt. v. 26.6.2008 - I ZR 61/05, GRUR 2008, 830 Tz. 12, 16 = WRP 2008, 1213 - L-Carnitin II; Urt. v. 26.6.2008 - I ZR 112/05, GRUR 2008, 834 Tz. 14 = WRP 2008, 1209 - HMB-Kapseln). Danach sind bei der Beurteilung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Funktionsarzneimittels fällt, alle seine Merkmale und insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften, wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern sowie die Risiken zu berücksichtigen, die seine Verwendung mit sich bringen kann (EuGH, Urt. v. 9.6.2005 - C-211/03, C-299/03 und C-316/03 bis C-318/03, Slg. 2005, I-5141 = WRP 2005, 863 Tz. 51 - HLH Warenvertrieb und Orthica; Urt. v. 15.11.2007 - C-319/05, Slg. 2007, I-9811 = GRUR 2008, 271 Tz. 55 - Kommission/Deutschland [Knoblauchkapseln]; Urt. v. 15.1.2009 - C-140/07, GRUR 2009, 511 Tz. 37 - Hecht-Pharma/Staatliches Gewerbeaufsichtsamt, vgl. ferner BGHZ 151, 286, 293 - Muskelaufbaupräparate; BGH GRUR 2008, 830 Tz. 18 - L-Carnitin II; GRUR 2008, 834 Tz. 19 - HMB-Kapseln). Die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind dabei der Faktor, auf dessen Grundlage, ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses, zu beurteilen ist, ob dieses im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt werden kann (EuGH, Urt. v. 30.4.2009 - C-27/08, GRUR 2009, 790 Tz. 20 = WRP 2009, 728 - BIOS Naturprodukte/Saarland, m.w.N.).
Stoffe, die zwar auf den menschlichen Körper einwirken, sich aber nicht nennenswert auf den Stoffwechsel auswirken und somit dessen Funktionsbedingungen nicht wirklich beeinflussen, dürfen nicht als Funktionsarzneimittel eingestuft werden (EuGH GRUR 2008, 271 Tz. 60 - Knoblauchkapseln; GRUR 2009, 511 Tz. 41 - Hecht-Pharma/Staatliches Gewerbeaufsichtsamt; EuGH, Urt. v. 5.3.2009 - C-88/07, ZLR 2009, 321 Tz. 75 - Kommission/Königreich Spanien; BGH GRUR 2008, 830 Tz. 19 - L-Carnitin II; GRUR 2008, 834 Tz. 20 - HMB-Kapseln). Der Begriff des Funktionsarzneimittels soll nur diejenigen Erzeugnisse erfassen, deren pharmakologische Eigenschaften wissenschaftlich festgestellt und die tatsächlich dazu bestimmt sind, eine ärztliche Diagnose zu erstellen oder physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu bessern oder zu beeinflussen (EuGH GRUR 2008, 271 Tz. 61 - Knoblauchkapseln). Enthält ein Erzeugnis im Wesentlichen einen Stoff, der auch in einem Lebensmittel in dessen natürlichem Zustand vorhanden ist, so gehen von ihnen keine nennenswerten Auswirkungen auf den Stoffwechsel aus, wenn bei einem normalen Gebrauch des fraglichen Erzeugnisses (vgl. EuGH GRUR 2009, 790 Tz. 22 - BIOS Naturprodukte/Saarland) seine Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkungen hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann (BGH GRUR 2008, 830 Tz. 19 - L-Carnitin II). Es kann dann nicht als ein Erzeugnis eingestuft werden, das die physiologischen Funktionen wiederherstellen, bessern oder beeinflussen könnte (EuGH GRUR 2008, 271 Tz. 68 - Knoblauchkapseln). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat demgemäß die Arzneimitteleigenschaft eines Knoblauchextrakt-Pulvers, das bei angabegemäßer Dosierung dieselbe Menge Allicin enthielt wie 7,4 g roher frischer Knoblauch, mit der Begründung verneint, die physiologischen Wirkungen des Pulvers könnten auch durch den Verzehr der entsprechenden Menge Knoblauch als Lebensmittel erzielt werden (EuGH GRUR 2008, 271 Tz. 66 - Knoblauchkapseln).
3. Nach diesen Grundsätzen wird die Beurteilung des Berufungsgerichts, bei dem Produkt der Beklagten handele es sich um ein Arzneimittel, von den bislang getroffenen Feststellungen nicht getragen.
a) Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass Zimt der charakteristische Bestandteil des Produkts der Beklagten ist, weil der im Zimt enthaltene Wirkstoff MHCP die reduzierte Insulin-Sensitivität der Patienten beeinflusst und dadurch die Senkung der Blutzuckerwerte bewirkt. Nach den vom Berufungsgericht zugrunde gelegten Feststellungen entspricht der in einer Kapsel "Nobilin GLUCO Zimt" enthaltene Anteil von 100 mg wässrigem Zimtextrakt ca. 1 g Zimt-Pulver. Die empfohlene Tagesdosierung von drei Kapseln entspricht demnach 3 g reinem Zimt und damit - entsprechend dem Vortrag der Beklagten - einer Menge von einem Teelöffel Zimt. Den von ihm unterstellten Umstand, dass Zimt in dieser Menge im Verlaufe eines Tages auch mit der normalen Ernährung aufgenommen werden kann, hat das Berufungsgericht für unbeachtlich gehalten, weil eine solche Menge von Verbrauchern zwar einmal im Verlaufe eines Tages verzehrt werden möge, nicht jedoch täglich.
b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es für die Feststellung, ob ein Erzeugnis deshalb kein Arzneimittel ist, weil seine Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkungen hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann, nicht darauf an, ob es bereits zu den normalen Ernährungsgewohnheiten der angesprochenen Verbraucher gehört, eine entsprechende Menge des betreffenden Stoffs mit der Ernährung aufzunehmen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in dem von ihm entschiedenen Fall nicht darauf abgestellt, dass es zu den normalen Ernährungsgewohnheiten der Verbraucher gehört, eine Menge von 7,4 g rohen, frischen Knoblauch zu sich zu nehmen. Maßgeblich war vielmehr die Erwägung, dass durch die Aufnahme einer solchen Menge an Knoblauch dieselben physiologischen Wirkungen erzielt werden könnten wie durch das betreffende Mittel und dass es sich dabei noch um eine für den Verzehr als Lebensmittel angemessene Menge handelt.
Bewegt sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Verzehrmenge von ca. 3 g reinem Zimt an einem Tag als solche - jedenfalls auf einen einzelnen Tag bezogen - im Rahmen der normalen Ernährungsgewohnheiten, kann folglich die Arzneimitteleigenschaft des Mittels der Beklagten nicht damit begründet werden, der Verbraucher verzehre gewöhnlich nicht jeden Tag eine solche Menge Zimt. Unter diesen Umständen ist die Einordnung als Arzneimittel schon deshalb zu verneinen, weil durch die tägliche Einnahme von ca. 3 g reinem Zimt mit der Ernährung dieselben physiologischen Wirkungen erzielt werden könnten wie mit dem Mittel der Beklagten. Dass eine solche tägliche Aufnahme nicht zu den normalen Ernährungsgewohnheiten gehört, also nicht üblich ist, steht der Annahme, es handele sich gleichwohl um den Verzehr einer angemessenen Menge, nicht entgegen. Sonstige Anhaltspunkte, die die Beurteilung rechtfertigen könnten, dass diese Menge Zimt, wenn sie nicht nur einmal im Verlaufe eines Tages, sondern bei entsprechender Anpassung der Ernährungsgewohnheiten täglich verzehrt wird, als eine unangemessene Menge anzusehen ist, lassen sich den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht entnehmen. Soweit die Revisionserwiderung geltend macht, der tägliche Verzehr einer entsprechenden Menge Zimt führe wegen der im Zimt enthaltenen ätherischen Öle zu Unzuträglichkeiten, kann sie sich nicht auf eine entsprechende Feststellung des Berufungsgerichts stützen und zeigt auch nicht auf, dass diese Tatsache in den Vorinstanzen zwischen den Parteien unstreitig war.
III. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben. Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit dieses weitere Feststellungen dazu treffen kann, ob die mit dem Mittel der Beklagten bezweckte physiologische Wirkung (Senkung des Blutzuckerspiegels) auch durch Aufnahme einer entsprechenden Menge an (reinem) Zimt über die Ernährung erreicht werden kann. Dabei wird das Berufungsgericht gegebenenfalls etwaige schädliche Nebenwirkungen des Verzehrs von reinem Zimt in einer bestimmten Menge über eine längere Zeitdauer zu beachten haben. Zwar kann eine negative Auswirkung auf die Gesundheit als solche allein die Arzneimitteleigenschaft eines Mittels nicht begründen (vgl. EuGH GRUR 2009, 790 Tz. 25 ff. - BIOS Naturprodukte/Saarland). Geht es wie im vorliegenden Fall jedoch um die Frage, ob dieselben physiologischen Wirkungen durch den Verzehr eines Lebensmittels in einer angemessenen Menge erzielt werden können, so kann von einer angemessenen Nahrungsaufnahme nicht mehr ausgegangen werden, wenn die betreffenden Wirkungen über die Ernährung nur durch den Verzehr einer von den normalen Ernährungsgewohnheiten abweichenden, die Gesundheit gefährdenden Menge des betreffenden Lebensmittels erreicht werden könnten.
IV. Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV (früher Art. 234 EG) bedarf es nicht, weil sich die durch den Streitfall aufgeworfenen Fragen zum europarechtlichen Arzneimittelbegriff anhand der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs beantworten lassen.
Bornkamm Pokrant Büscher
Bergmann Kirchhoff
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100056079&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056080
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100121
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IX ZB 163/08
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Beschluss
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§ 5 InsO, § 6 InsO, § 7 InsO, § 64 InsO, § 1 InsVV, § 3 InsVV
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vorgehend LG Frankfurt, 2. Juli 2008, Az: 2/9 T 64/08, Beschluss vorgehend AG Bad Homburg, 18. Juni 2007, Az: 61 IN 207/03, Beschluss
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DEU
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Insolvenzverwalter: Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters
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Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 2. Juli 2008 wird auf Kosten der weiteren Beteiligten zu 1 als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 897.231,56 € festgesetzt.
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I.
Der weitere Beteiligte zu 3 ist Verwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin. Zuvor war er als vorläufiger Insolvenzverwalter tätig. In dieser Eigenschaft schloss er im Dezember 2003 einen Vergleich mit der B. L., der Mehrheitsgesellschafterin der Schuldnerin. Nach Verfahrenseröffnung am 17. Dezember 2003 wurde der Vergleich von der vorläufigen Gläubigerversammlung genehmigt. Auf Antrag verschiedener Insolvenzgläubiger bestellte der Insolvenzrichter mit Beschluss vom 3. Dezember 2004 den weiteren Beteiligten zu 2 zum Sonderinsolvenzverwalter mit folgendem Wirkungskreis: Prüfung des Bestehens und gegebenenfalls gerichtliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen infolge des Abschlusses des Vergleichs mit der B. L. vom Dezember 2003. Es wurde angeordnet, dass sich die Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters nach der Insolvenzverwaltervergütungsverordnung bestimmt. Die vom Insolvenzverwalter gegen den Beschluss eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (vgl. BGH, Beschl. v. 1. Februar 2007 - IX ZB 45/05, ZIP 2007, 547).
In seinem Gutachten kam der Sonderinsolvenzverwalter zu dem Ergebnis, dass gegen den Insolvenzverwalter Schadensersatzansprüche in Höhe von mindestens 47.622.608,76 € bestehen. Die anberaumte Gläubigerversammlung entschied jedoch, den ermittelten möglichen Schadensersatzanspruch nicht geltend zu machen.
Der Sonderinsolvenzverwalter hat beantragt, seine Vergütung auf 1.319.458,15 € festzusetzen und die Auslagen auf 37.251,89 € jeweils zuzüglich 19 % Umsatzsteuer, zusammen 1.614.484,95 €. Das Amtsgericht hat die Vergütung auf insgesamt 717.253,40 € festgesetzt. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde einer Gläubigerin, der weiteren Beteiligten zu 1, hat das Landgericht zurückgewiesen. Auf die Anschlussbeschwerde des Sonderinsolvenzverwalters hat es die Vergütung auf insgesamt 1.390.177,07 € festgesetzt (veröffentlicht in KTS 2009, 232). Mit der hiergegen gerichteten Rechtsbeschwerde verfolgt die weitere Beteiligte zu 1 ihr Anliegen weiter, die Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters auf insgesamt 492.945,51 € herabzusetzen.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit §§ 6, 7, 64 Abs. 3 Satz 1 InsO), jedoch unzulässig; weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 574 Abs. 2 ZPO). Dabei prüft der Bundesgerichtshof wie bei der Nichtzulassungsbeschwerde nur die Zulässigkeitsgründe, welche die Rechtsmittelbegründung nach § 575 Abs. 3 Nr. 2 ZPO schlüssig und substantiiert dargelegt hat (BGH, Beschl. v. 29. September 2005 - IX ZB 430/02, ZInsO 2005, 1162; v. 9. März 2006 - IX ZB 209/04, ZVI 2006, 351, 352 Rn. 4; v. 18. Dezember 2008 - IX ZB 46/08, ZInsO 2009, 495, 496 Rn. 4; v. 19. November 2009 - IX ZB 105/08).
1. Der angefochtene Beschluss weicht nicht von der Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. Mai 2008 (IX ZB 303/05, ZIP 2008, 1294) ab.
a) Im Tenor des Bestellungsbeschlusses vom 3. Dezember 2004 hatte das Amtsgericht angeordnet, dass sich die Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters nach der Insolvenzrechtlichen Vergütungsverordnung bestimmt. Dieser Beschluss ist rechtskräftig. Er hätte insoweit gemäß §§ 6, 7, 64 Abs. 3 Satz 1 InsO als Grundbeschluss zur Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters angefochten werden können, was nicht geschehen ist. Eine Nichtigkeit dieses Beschlusses kommt insoweit schon deshalb nicht in Betracht, weil zum Zeitpunkt dieser Entscheidung des Amtsgerichts die Grundsätze für die Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters ungeklärt waren (vgl. BGH, Beschl. v. 29. Mai 2008 aaO Rn. 7 ff) und der Sonderinsolvenzverwalter ein berechtigtes Interesse daran hatte, Rechtsklarheit über die Art seiner Vergütung zu erhalten.
Für das vorliegende Verfahren war deshalb bindend entschieden, dass die Insolvenzrechtliche Vergütungsverordnung Anwendung findet.
b) Nach der Entscheidung des Senats vom 29. Mai 2008 findet auf die Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters grundsätzlich die Insolvenzrechtliche Vergütungsverordnung Anwendung. Hat der Sonderinsolvenzverwalter lediglich die Aufgabe, einzelne Ansprüche zu prüfen, zur Tabelle anzumelden oder anderweitig rechtlich durchzusetzen, ist seine Tätigkeit mit der eines Insolvenzverwalters allerdings kaum mehr vergleichbar. In diesen Fällen kann die Vergütung jedenfalls nicht höher festgesetzt werden, als sie nach § 5 InsVV beansprucht werden könnte, wenn der Sonderinsolvenzverwalter nach dieser Vorschrift für eine Tätigkeit als Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer zu vergüten gewesen wäre. Liegt diese Voraussetzung vor, bemisst sich die Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters nach den Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) (vgl. BGH, Beschl. v. 29. Mai 2008 aaO S. 1296 Rn. 24 ff). Bei Eingreifen dieser Grundsätze wäre das RVG, allerdings in der damals geltenden Fassung, anwendbar (§ 60 Abs. 1 Satz 1, § 61 Abs. 1 Satz 1 RVG).
Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts war ein Schwerpunkt der Aufgabe des Sonderinsolvenzverwalters die Feststellung und Aufbereitung des Sachverhalts, was besonders schwierig und zeitintensiv gewesen ist. Die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts hätte jedoch auch ein Insolvenzverwalter, der nicht selbst Rechtsanwalt ist, nicht gemäß § 5 InsVV einem Rechtsanwalt übertragen dürfen. Diese Aufgabe hätte ihm vielmehr selbst oblegen, wenn auch gegebenenfalls in Absprache mit einem zur Beurteilung der Rechtslage eingeschalteten Rechtsanwalt. Denn dessen Aufgabe ist, jedenfalls in erster Linie, lediglich die Beratung und Vertretung in Rechtsangelegenheiten (vgl. § 3 Abs. 1 BRAO). Um die übernommene Rechtsbetreuung fehlerfrei vornehmen zu können, hat er zwar zunächst den maßgeblichen Sachverhalt festzustellen (Zugehör in Zugehör/Fischer/Sieg/Schlee, Handbuch der Anwaltshaftung, 2. Aufl. Rn. 507 ff). Damit korrespondiert aber die Informationspflicht des Mandanten, der den Rechtsanwalt vollständig informieren und die einschlägigen Unterlagen zur Verfügung stellen muss (Zugehör aaO Rn. 511). Auf die Richtigkeit der Angaben des Mandanten darf der Anwalt in der Regel ohne eigene Nachforschungen vertrauen (Zugehör aaO Rn. 513). Im Gegensatz dazu oblag hier dem Sonderinsolvenzverwalter selbst die Ermittlung des Sachverhalts. Dabei hatte ihn zwar der Insolvenzverwalter zu unterstützen. Der Sonderinsolvenzverwalter durfte auf dessen Informationen aber nicht ohne nähere Überprüfung vertrauen; denn er sollte gerade die Ansprüche gegen den Insolvenzverwalter ermitteln.
Das Beschwerdegericht hat daher auch nicht stillschweigend den von der Rechtsbeschwerde behaupteten Obersatz aufgestellt, dass der Vergütungsanspruch eines Rechtsanwalts nach dem RVG für die Festsetzung der Vergütung eines Sonderinsolvenzverwalters völlig unerheblich sei, auch wenn dieser lediglich die Aufgabe hat, einzelne Ansprüche zu prüfen und gegebenenfalls auf dem Rechtsweg zu verfolgen. Letzteres war nicht der Fall. Auf die Vergütung nach dem RVG kam es deshalb im vorliegenden Fall nicht an.
2. Der Zulässigkeitsgrund der Einheitlichkeitssicherung ergibt sich nicht daraus, dass das Beschwerdegericht der Beschwerdeführerin nicht mitgeteilt hat, der Sonderinsolvenzverwalter habe eine - dann allein erfolgreiche - Anschlussbeschwerde eingelegt. Denn die Rechtsbeschwerdeführerin legt nicht dar, dass die Beschwerdeentscheidung hierauf beruht (zu diesem Erfordernis vgl. Musielak/Ball, aaO § 543 Rn. 9 f m.w.N.). Sie lässt nicht erkennen, welchen relevanten zusätzlichen Sachvortrag sie bei Gewährung rechtlichen Gehörs gehalten oder dass sie etwa durch eine Zurücknahme der sofortigen Beschwerde der Anschlussbeschwerde die Grundlage entzogen (§ 567 Abs. 3 Satz 2 ZPO) und auf die Durchführung ihrer sofortigen Beschwerde verzichtet hätte. Sie verweist lediglich auf ihr (rechtliches) Vorbringen in der Rechtsbeschwerdebegründung, das jedoch zu einer Änderung der Entscheidung des Beschwerdegerichts keinen Anlass gegeben hätte.
3. Hinsichtlich der zuerkannten Zu- und Abschläge stellen sich keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung. Willkür liegt nicht vor.
a) Die Zulässigkeit von Zu- und Abschlägen auch bei der Festsetzung der Vergütung des Sonderinsolvenzverwalters ist im Sinne der Entscheidung des Beschwerdegerichts geklärt (BGH, Beschl. v. 29. Mai 2008 aaO S. 1295 Rn. 22). Wie bei der Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters ist die Vergütung so zu berechnen, dass besondere Umstände, welche die Tätigkeit erleichtern oder erschweren, unmittelbar den für den Sonderinsolvenzverwalter maßgeblichen Bruchteil der Vergütung verringern oder erhöhen (vgl. BGH, Beschl. v. 18. Dezember 2003 - IX ZB 50/03, ZIP 2004, 518, 519; st.Rspr.). Entsprechend ist das Landgericht - anders als noch das Insolvenzgericht - verfahren.
b) Die Bemessung vorzunehmender Zu- und Abschläge ist grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters (BGH, Beschl. v. 11. Mai 2006 - IX ZB 249/04, ZIP 2006, 1204, 1208 Rn. 44; st.Rspr.). Sie ist in der Rechtsbeschwerde nur darauf zu überprüfen, ob sie die Gefahr der Verschiebung von Maßstäben mit sich bringt (BGH, Beschl. v. 4. Juli 2002 - IX ZB 31/02, ZIP 2002, 1459, 1460; v. 12. Juni 2008 - IX ZB 184/07, Rn. 4; v. 13. November 2008 - IX ZB 141/07, ZInsO 2009, 55, 56 Rn. 8). Eine derartige Gefahr besteht im vorliegenden Fall nicht.
aa) Der Abschlag von 40 %, den das Landgericht mit der Begründung vorgenommen hat, es habe sich um keine Insolvenzverwaltung im herkömmlichen Sinne gehandelt, ist zutreffend (BGH, Beschl. v. 29. Mai 2008 aaO S. 1295 Rn. 21). Das Beschwerdegericht ist nicht - entgegen dem Beschluss des Senats (aaO) - von einer Regelvergütung des Sonderinsolvenzverwalters in dieser Höhe ausgegangen. Derartiges ergibt sich auch nicht aus der von ihm in Bezug genommenen Literaturstelle. Das Landgericht hat vielmehr zutreffend einen Abschlag nach den Umständen des Einzelfalls vorgenommen.
bb) Der weitere Abschlag von 10 % wegen vorzeitiger Beendigung des Auftrags (Wegfall der gerichtlichen Durchsetzung) steht dem Grunde nach nicht in Frage (vgl. auch § 3 Abs. 2 Buchst. c InsVV). Zweifelhaft erscheint insoweit zwar die Ansicht des Beschwerdegerichts, die gerichtliche Geltendmachung der Ansprüche hätte nach der Vorarbeit nur noch eine geringe Rolle gespielt. Dies stünde - für sich betrachtet - in Widerspruch zur Bewertung des RVG in der damals geltenden Fassung in Nr. 2103 VV (Gutachtengebühr) einerseits und Nrn. 3100 ff VV (Gebühren für die Rechtszüge im streitigen gerichtlichen Verfahren) andererseits. Die Festsetzung des Abschlags von 10 % steht jedoch im Zusammenhang mit dem weiteren Abschlag von 40 % und der Überlegung, dass bei gerichtlicher Geltendmachung Zuschläge zuzubilligen gewesen wären. Allein der Umstand, dass die gerichtliche Geltendmachung der Ansprüche bereits Gegenstand des ursprünglichen Auftrags war, hindert die Zuerkennung von Zuschlägen entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht. Maßgebend wäre allein, ob deren Voraussetzungen vorliegen. Dies ist, wenn der Verwalter nicht nach § 5 InsVV verfährt, in Fällen mit besonders schwieriger Sach- und Rechtslage zu bejahen (vgl. Haarmeyer/Wutzke/Förster, InsVV 4. Aufl. § 3 Rn. 78 Stichwort "rechtliche Probleme").
cc) Die vom Landgericht festgestellte erforderliche, besonders schwierige Aufbereitung des Sachverhalts und der Rechtslage lässt die Zuerkennung eines Zuschlags von 1,0 entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht als willkürlich erscheinen.
4. Hinsichtlich der Berechnungsgrundlage, die das Beschwerdegericht wie schon das Amtsgericht mit 47.622.608,76 € zugrunde gelegt hat, macht die Rechtsbeschwerde Zulässigkeitsgründe nicht geltend.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 577 Abs. 6 Satz 3 ZPO abgesehen.
Ganter Raebel Vill
Lohmann Pape
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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JURE100056111
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BGH
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8. Zivilsenat
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20100204
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VIII ZB 84/09
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Einstweilige Anordnung
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§ 522 ZPO, § 570 Abs 3 Halbs 1 ZPO, § 575 Abs 5 ZPO, § 535 BGB
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vorgehend LG Köln, 14. Oktober 2009, Az: 9 S 52/09 vorgehend AG Bergisch Gladbach, 13. Januar 2009, Az: 63 C 255/08, Teilurteil
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DEU
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Einstweilige Anordnung des Rechtsbeschwerdegerichts: Aussetzung der Vollziehung eines Räumungsurteils des erstinstanzlichen Gerichts
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Die Zwangsvollstreckung aus dem Teilurteil des Amtsgerichts Bergisch Gladbach vom 13. Januar 2009 wird einstweilen bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde des Beklagten mit der Maßgabe eingestellt, dass die Zwangsvollstreckung unzulässig ist, wenn der Beklagte nachweist, dass er für den Monat Februar 2010 eine Nettomiete von 656 € zuzüglich einer Nebenkostenvorauszahlung von 185 € an die Klägerin geleistet hat, und er für die folgenden Monate nachweist, dass die monatliche Nettomiete nebst Nebenkostenvorauszahlung in Höhe von insgesamt 841 € bis zum 3. Werktag des jeweiligen Monats an die Klägerin geleistet worden ist.
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I.
Das Rechtsbeschwerdegericht kann im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 570 Abs. 3 Halbs. 1, § 575 Abs. 5 ZPO auch die Vollziehung einer Entscheidung der ersten Instanz aussetzen, wenn hierdurch dem Rechtsbeschwerdeführer größere Nachteile drohen als dem Gegner, die Rechtsbeschwerde zulässig erscheint und die Rechtsmittel des Rechtsbeschwerdeführers nicht von vornherein ohne Erfolgsaussicht sind (Senatsbeschluss vom 6. August 2003 - VIII ZB 77/03, WuM 2003, 509; BGH, Beschluss vom 21. März 2002 - IX ZB 48/02, NJW 2002, 1658, unter II 2). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Durch die für den 12. Februar 2010 angesetzte Vollstreckung des Räumungsurteils würde dem Beklagten ein unwiderbringlicher Nachteil entstehen. Er hat glaubhaft gemacht, aufgrund der Vorbereitungen für sein Examen (schriftliche Prüfungen im Zeitraum vom 20. Januar bis 22. Januar 2010; mündliche Prüfung am 10. Februar 2010) keine ausreichende Gelegenheit zur Anmietung einer Ersatzwohnung gefunden zu haben. Der Klägerin drohen dagegen durch den Aufschub der Vollstreckung keine wesentlichen Nachteile. Denn sie ist auf die Nutzung der Wohnung nicht dringend angewiesen, da nach dem glaubhaft gemachten Vorbringen des Beklagten in dem Objekt zwei Wohnungen leer stehen. Zudem steht die Einstellung unter der Bedingung, dass der Beklagte die Miete für Februar 2010 bis zum Vollstreckungstermin zahlt und auch in den künftigen Monaten die Mietzahlungen fristgerecht erbringt.
Die nach § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde des Beklagten erscheint zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig und auch begründet. Die Rechtsbeschwerdebegründung zeigt auf, dass das Berufungsgericht den rechtzeitig gestellten Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist rechtsfehlerhaft abgewiesen hat. Ein Rechtsanwalt, der seinem zuverlässigen Büropersonal die Anweisung gibt, Faxsendungen rechtzeitig an das Gericht zu übermitteln und den Sendebericht auf die gelungene Übermittlung des Schriftsatzes (Aufdruck "OK") zu überprüfen, hat regelmäßig ausreichende organisatorische Maßnahmen für eine rechtzeitige Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen getroffen (vgl. Senatsbeschluss vom 20. Oktober 2009 - VIII ZB 97/08, juris, Tz. 13). Dass sich der Beklagtenvertreter auf die Mitteilung seiner Bürokraft verlassen hat, der Schriftsatz sei ordnungsgemäß übermittelt worden, ist entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 20. Oktober 2009, aaO, Tz. 16, 17; BGH, Beschluss vom 26. Januar 2006 - I ZB 64/05, NJW 2006, 1519, Tz. 11). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Beklagtenvertreter die Frist im Kalender aufgrund der Angaben seiner Kanzleikraft eigenhändig gelöscht hat. Die vorliegende Fallgestaltung unterscheidet sich - anders als das Berufungsgericht meint - in einem wesentlichen Punkt von der Sachverhaltskonstellation, mit der sich der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zu befassen hatte (vgl. Beschluss vom 11. Februar 2009 - IV ZB 26/08, NJW-RR 2009, 785). Im dortigen Fall wurde die Fristversäumung dadurch ausgelöst, dass die Kanzleikraft einen fristgebundenen Schriftsatz übersehen hatte. Dieses Versäumnis hätte behoben werden können, wenn der damalige Prozessbevollmächtigte die Frist nicht eigenhändig ohne die - in diesen Fällen erforderliche - Überprüfung der Sachlage gelöscht hätte (Beschluss vom 11. Februar 2009, aaO, Tz. 2, 7 f.). Vorliegend steht jedoch ein anderes Fehlverhalten des Büropersonals (Missdeutung der Angaben auf dem Sendeprotokoll) in Rede. Die Erledigung dieser Aufgaben brauchte der Beklagtenvertreter nicht zu überwachen (Senatsbeschluss vom 20. Oktober 2009, aaO, Tz. 17; BGH, Beschluss vom 26. Januar 2006, aaO).
Auch der vom Beklagten eingelegten Berufung kann die Erfolgsaussicht nach dem gegenwärtigen Stand nicht abgesprochen werden. Aus der vom Beklagten in Bezug genommenen Berufungsbegründung ergibt sich, dass das Amtsgericht eine mögliche Aufrechnungsbefugnis des Beklagten nach § 566d BGB nicht geprüft hat. Dies wird im Berufungsverfahren nachzuholen sein.
Ball Hermanns Dr. Milger
Dr. Fetzer Dr. Bünger
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056115
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100121
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IX ZB 67/09
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Beschluss
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§ 295 Abs 1 InsO, § 296 Abs 1 InsO
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vorgehend LG Mainz, 3. Februar 2009, Az: 802 T 254/08, Beschluss vorgehend AG Mainz, 12. August 2008, Az: 290 IK 168/05, Beschluss
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DEU
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Restschuldbefreiungsverfahren: Voraussetzungen eines zulässigen Versagungsantrags
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Auf die Rechtsmittel des Schuldners werden der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 3. Februar 2009 und der Beschluss des Amtsgerichts Mainz vom 12. August 2008 aufgehoben.
Der Antrag der weiteren Beteiligten zu 1 auf Versagung der Restschuldbefreiung wird als unzulässig zurückgewiesen.
Die weitere Beteiligte zu 1 hat die Kosten des Verfahrens der sofortigen Beschwerde und der Rechtsbeschwerde zu tragen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 5.000 € festgesetzt.
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I.
In dem auf Eigenantrag am 27. Oktober 2005 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners wurde diesem mit Beschluss vom 31. Mai 2007 die Restschuldbefreiung angekündigt. Dieser Beschluss wurde dem Schuldner am 3. August 2007 zugestellt, das Insolvenzverfahren mit Beschluss vom 7. September 2007 aufgehoben.
Nach einem Bericht des Treuhänders vom 22. Juli 2008, dass der Schuldner seinen Auskunfts- und Mitwirkungspflichten nicht nachkomme, setzte das Amtsgericht dem Schuldner mit Verfügung vom 24. Juli 2008 eine Frist, bis spätestens 31. Juli 2008 die verlangten Unterlagen zu übergeben und die notwendigen Auskünfte zu erteilen. Die Verfügung wurde dem Schuldner am 30. Juli 2008 zugestellt. An diesem Tag beantragte die Gläubigerin die Versagung der Restschuldbefreiung unter Bezugnahme auf den genannten Bericht des Treuhänders.
Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 12. August 2008 die Restschuldbefreiung versagt. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Schuldner die Aufhebung dieser Beschlüsse und die Zurückweisung des Gläubigerantrags.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. §§ 6, 7, 296 Abs. 3 Satz 1 InsO) und zulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO). Sie ist begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen und zur Zurückweisung des Gläubigerantrags.
1. Das Landgericht hat gemeint, die Restschuldbefreiung sei auf Antrag der Gläubigerin zu versagen, weil der Schuldner seine Obliegenheiten nach § 295 Abs. 1 Nr. 3 InsO verletzt habe. Zum einen sei der Schuldner bereits am 12. Juni 2007 unter seiner alten Anschrift nicht mehr erreichbar gewesen; die neue Anschrift habe das Gericht erst Ende Juli 2007 ermitteln können. Damit habe der Schuldner seinen Wohnsitzwechsel jedenfalls dem Gericht gegenüber nicht unverzüglich angezeigt.
Zum anderen sei der Schuldner der Aufforderung des Gerichts, sich bis spätestens 31. Juli 2008 mit dem Treuhänder in Verbindung zu setzen, nicht nachgekommen. Die erst nach Ablauf der gesetzten Frist am 5. August 2008 dem Treuhänder übergebenen Unterlagen seien verspätet eingereicht und unvollständig gewesen.
2. Diese Ausführungen tragen die getroffene Entscheidung nicht. Der Antrag der Gläubigerin auf Versagung der Restschuldbefreiung ist schon unzulässig.
Amtsgericht und Landgericht haben die Restschuldbefreiung nicht von Amts wegen gemäß § 296 Abs. 2 Satz 2 bis 4 InsO versagt, sondern auf Antrag der Gläubigerin gemäß § 295 Abs. 1 Nr. 3, § 296 Abs. 1 InsO. Hierfür fehlte es an einem zulässigen Antrag.
a) Ein Antrag des Gläubigers ist gemäß § 296 Abs. 1 Satz 3 InsO nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 296 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO glaubhaft gemacht wurden. Der Gläubiger muss in seinem Antrag sowohl die Obliegenheitsverletzung als auch die darauf beruhende Beeinträchtigung der Insolvenzgläubiger glaubhaft machen; Letzteres liegt nur vor, wenn bei wirtschaftlicher Betrachtung eine konkrete messbare Schlechterstellung der Gläubiger wahrscheinlich ist (BGH, Beschl. v. 5. April 2006 - IX ZB 50/05, ZInsO 2006, 547, 548 Rn. 4; v. 8. Februar 2007 - IX ZB 88/06, ZInsO 2007, 322, 323 Rn. 5; v. 12. Juni 2008 - IX ZB 91/06, VuR 2008, 434 Rn. 3).
Der erforderliche Sachvortrag des Gläubigers und die erforderliche Glaubhaftmachung können zwar auch mittels einer konkreten Bezugnahme auf einen Bericht des Treuhänders erfolgen (BGH, Beschl. v. 17. Juli 2008 - IX ZB 183/07, ZInsO 2008, 920, Rn. 7 m.w.N.; v. 8. Januar 2009 - IX ZB 73/08, NZI 2009, 253 Rn. 6). Dies setzt allerdings voraus, dass der Bericht des Treuhänders seinerseits den genannten Anforderungen genügt.
Auf andere als die vom Antragsteller geltend gemachten Gründe des § 295 Abs. 1 InsO darf das Insolvenzgericht die Versagung der Restschuldbefreiung auf Antrag nicht stützen (BGH, Beschl. v. 8. Februar 2007 aaO S. 323 Rn. 6, 8).
aa) Die Obliegenheitsverletzungen, auf die das Beschwerdegericht die Versagung der Restschuldbefreiung gestützt hat, waren von der Gläubigerin nicht glaubhaft gemacht:
In ihrem Antrag auf Versagung der Restschuldbefreiung macht diese geltend, der Schuldner habe seine Obliegenheiten verletzt, insbesondere seine pfändbaren Einkommensteile nicht abgeführt. Zur näheren Konkretisierung wird allein auf den Bericht des Treuhänders vom 22. Juli 2008 Bezug genommen. Die Obliegenheitsverletzungen, auf die das Landgericht die Versagung der Restschuldbefreiung gestützt hat, sind dort dagegen weder dargelegt noch glaubhaft gemacht.
(1) Zu dem Umstand, dass der Schuldner im Juni und Juli 2007 die Änderung seines Wohnsitzes nicht mitgeteilt hat, finden sich Ausführungen weder im Antrag der Gläubigerin noch im Bericht des Treuhänders.
Davon abgesehen durfte auf diesen vom Beschwerdegericht zugrunde gelegten Umstand die Versagung der Restschuldbefreiung nach § 295 Abs. 1 Nr. 3 InsO auch deshalb nicht gestützt werden, weil die Restschuldbefreiung mit Beschluss vom 31. Mai 2007 (zugestellt am 3. August 2007) angekündigt und das Insolvenzverfahren am 7. September 2007 (rechtskräftig seit 13. November 2007) aufgehoben worden ist. Denn die Obliegenheiten des Schuldners gemäß § 295 InsO beginnen erst ab Ankündigung der Restschuldbefreiung und Aufhebung des Insolvenzverfahrens (BGH, Beschl. v. 18. Dezember 2008 - IX ZB 249/07, ZInsO 2009, 299 Rn. 8 ff.).
Dabei kann hier dahinstehen, ob auf die Bekanntgabe dieser Beschlüsse an den Schuldner oder ihre Rechtskraft abzustellen ist. Denn nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens hat sich die dem Insolvenzgericht und dem Treuhänder bekannte Anschrift des Schuldners jedenfalls nicht mehr geändert, weshalb insoweit Obliegenheiten nach § 295 Abs. 1 Nr. 3 ohnehin nicht verletzt sein können.
(2) Zu der weiteren Begründung des Landgerichts, der Schuldner sei der Aufforderung des Gerichts nicht gefolgt, sich bis spätestens 31. Juli 2008 mit dem Treuhänder in Verbindung zu setzen, ist in dem Antrag der Gläubigerin und dem Bericht des Treuhänders ebenfalls nichts ausgeführt. Das war auch zeitlich gar nicht möglich, weil der Bericht des Treuhänders vom 22. Juli 2008 stammt, die Aufforderung des Gerichts aber erst am 24. Juli 2008 erlassen und am 29. Juli 2008 zur Post gegeben wurde.
bb) Konkret angesprochen ist in dem Bericht des Treuhänders lediglich, dass der Schuldner seine Einkommensnachweise nicht vorgelegt und sein pfändbares Einkommen nicht an den Treuhänder abgeführt habe. Hierauf hat das Beschwerdegericht nicht abgestellt; wegen unterschiedlicher Darstellung des Sachverhalts durch den Schuldner und den Treuhänder hat es diese mögliche Obliegenheitsverletzung offen gelassen.
Ob die Obliegenheitsverletzung als hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht angesehen werden kann, so dass hierauf eine Versagung der Restschuldbefreiung gestützt werden könnte, erscheint zweifelhaft, kann aber dahinstehen.
Die Gläubigerin hat jedenfalls - auch insoweit - nicht glaubhaft gemacht, dass die Befriedigung der Gläubiger beeinträchtigt worden ist. Die erforderliche konkret messbare Schlechterstellung ist nicht dargelegt worden. Der Antrag der Gläubigerin enthält ohne konkreten Sachverhalt die schlichte Behauptung, die Befriedigung der Insolvenzgläubiger sei nicht unerheblich beeinträchtigt, weil der Schuldner seine pfändbaren Einkommensteile nicht abgeführt habe. Der Bericht des Treuhänders enthält keine Ausführungen hierzu. Es fehlen damit schon Darlegungen, ob pfändbares Einkommen überhaupt erzielt wurde.
Versagungsanträge "ins Blaue hinein", bei denen die Gläubigerbenachteilung lediglich pauschal vermutet wird, genügen jedoch nicht, ebenso wenig wie eine bloße Gefährdung der Befriedigung der Insolvenzgläubiger (BGH, Beschl. v. 12. Juni 2008 - IX ZB 91/06, aaO Rn. 3).
3. Das Amtsgericht wird zu prüfen haben, ob eine Versagung der Restschuldbefreiung nach § 296 Abs. 2 Satz 2 bis 4 InsO in Betracht kommt. Dies setzt weder einen Gläubigerantrag noch eine Schlechterstellung der Gläubiger voraus. Der Schuldner muss jedoch in der Regel ausdrücklich belehrt worden sein, dass er mit der Versagung der Restschuldbefreiung rechnen muss, falls er auch gegenüber dem Gericht untätig bleibt (BGH, Beschl. v. 14. Mai 2009 - IX ZB 116/08, ZInsO 2009, 1268, 1269 Rn. 9). Diese Belehrung muss hinreichend klar sein. Das Schreiben des Amtsgerichts an den Schuldner vom 24. Juli 2008 ist aber widersprüchlich, weil es zwei miteinander nicht vereinbare Fristen setzt (Stellungnahme innerhalb einer Woche; Frist von einem Tag) und unklar bleibt, wem gegenüber der Schuldner zu handeln hat.
Die zum 31. Juli 2008 gesetzte Frist ist jedenfalls unwirksam, weil sie unangemessen kurz ist. Das Schreiben ist dem Schuldner erst am 30. Juli 2008 zugestellt worden. Hierdurch ist allenfalls die angemessene Frist von einer Woche in Lauf gesetzt worden.
Ob die vom Schuldner am 5. August 2008 an den Treuhänder übergebenen Unterlagen unvollständig sind, hat das Gericht gegebenenfalls selbst festzustellen. Die Übernahme einer entsprechenden rechtlichen Wertung des Treuhänders, ohne dass das Gericht den zugrunde liegenden Sachverhalt und den Umfang der übergebenen Unterlagen kennt, ist unzulässig.
Ganter Raebel Vill
Lohmann Pape
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056583
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BGH
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3. Strafsenat
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20100112
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3 StR 439/09
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Beschluss
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§ 66 Abs 2 StGB, § 66b Abs 1 S 2 StGB, § 66b Abs 2 StGB
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vorgehend LG Hannover, 15. Juni 2009, Az: 39 Ks 2/08 - 1352 Js 35701/93, Urteil
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DEU
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Nachträgliche Sicherungsverwahrung: Zulässigkeit bei rechtlich möglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung
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Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 15. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.
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Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Verurteilten mit einer Verfahrensbeanstandung sowie der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Gegen den Verurteilten wurde bereits im Alter von 19 Jahren wegen mehrerer Brandstiftungsdelikte eine Jugendstrafe von unbestimmter Dauer verhängt. Den Taten ging jeweils eine situationsgebundene Verärgerung voraus, die der Verurteilte nicht bewältigen konnte und die sich deshalb in der Brandlegung entlud. Nach seiner Entlassung aus einem neunmonatigen Freiheitsentzug lernte der Verurteilte R. kennen, die er Ende 1982 heiratete. Am 20. Februar 1984 erdrosselte er seine Frau, nachdem es in der Ehe zunehmend zu Streitigkeiten gekommen war. Er wurde deshalb am 26. September 1984 vom Landgericht Hildesheim wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt, die er bis zur Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung im Februar 1989 teilweise verbüßte. Im Sommer 1990 lernte der Verurteilte die damals 19jährige V. kennen und heiratete sie wenige Monate später. Die Eheleute lebten mit dem Sohn B. aus einer früheren Verbindung von Frau V. und der gemeinsamen Tochter Va. zunächst ohne Auffälligkeiten zusammen. Ab März 1992 kam es indes auch in dieser Ehe zu einer krisenhaften Entwicklung, in deren Verlauf die Ehefrau Trennungsabsichten äußerte, sich mit der Ehe unzufrieden zeigte und häufig an dem Verurteilten "herumnörgelte". In der Nacht zum 21. Mai 1993 tötete dieser seine Ehefrau sowie seinen Stiefsohn. Er wurde deshalb am 26. Januar 1994 vom Landgericht Hannover wegen Totschlags in zwei Fällen (Einzelstrafen von elf und zwölf Jahren) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünfzehn Jahren verurteilt. Das Schwurgericht ging in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen Sachverständigen von nicht erheblich eingeschränkter Schuldfähigkeit aus und stellte fest, der Verurteilte "sei leicht kränkbar, unausgewogen in Durchsetzungsfähigkeit und Passivität, ein auf die eigene Geltung bedachter Mensch mit einem ausgeprägten Bedarf an Anerkennung und Neigung zu impulsiv unbedachten Verhaltensmustern"; bei ihm "bestehe ein hohes Risiko für weitere brutale Gewaltentfaltung gegenüber Menschen, die eine Partnerbeziehung zu ihm eingingen"; er habe "sich mit dem Risiko, das von seiner Person ausgehe, nicht auseinandergesetzt". Die Gesamtfreiheitsstrafe begründete das Landgericht auch damit, dass der Verurteilte "für künftige Partner eine erhebliche Gefahr" darstelle. Im Anschluss daran führte es aus: "Die Anordnung von Sicherungsverwahrung kommt nicht in Betracht, weil die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB - zweimal Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr (§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder Begehung von drei vorsätzlichen Straftaten (§ 66 Abs. 2 StGB) - nicht vorliegen."
Der Verurteilte verbüßte die Strafe aus dem Urteil vom 26. Januar 1994 bis zum 29. Mai 2008 vollständig. Seither wird die Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vollstreckt. Das Strafende ist für den 26. November 2010 notiert. Die Staatsanwaltschaft hat am 8. April 2008 den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gestellt.
2. Das Landgericht ist nunmehr sachverständig beraten zu der Überzeugung gelangt, dass der Verurteilte aufgrund eines Hanges zu erheblichen Straftaten mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in § 66 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB vorausgesetzten Art begehen werde. Es hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung auf § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB gestützt. Dies ergibt sich daraus, dass es darlegt, zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung im Januar 1994 hätten "die formellen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsverwahrung" nicht vorgelegen, "so dass die Anordnung aus rechtlichen Gründen nicht" habe "erfolgen" können. Folgerichtig enthält das Urteil keine Feststellungen zu etwaigen nach der Anlassverurteilung erkennbar gewordenen, neuen Tatsachen im Sinne von § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB. Vielmehr führt das Landgericht aus, dass die schon 1994 bekannte Gefährlichkeit des Angeklagten andauere.
3. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt regelmäßig voraus, dass nach einer Verurteilung wegen einer bestimmten Anlasstat und vor dem Ende des Strafvollzugs Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB). Diese "erkennbar werdenden" Tatsachen - in Literatur und Rechtsprechung durchweg als "neue" Tatsachen bezeichnet - sind insoweit zwingende gesetzliche Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung; in ihnen muss sich auch die hangbedingte Gefährlichkeit des Verurteilten widerspiegeln (vgl. BGHSt 50, 275, 279).
An die Annahme neuer Tatsachen sind, zumal die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung den Bestand eines rechtskräftigen Urteils tangiert und nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein soll (BGHSt 50, 275, 278 m. w. N.; BVerfG StV 2006, 574, 575; NJW 2009 980, 982), strenge Anforderungen zu stellen. Es kommen nur solche Umstände in Betracht, die entweder erst nach der Anlassverurteilung entstanden sind oder vom Richter des Ausgangsverfahrens nicht erkannt werden konnten. Allein die neue Bewertung bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bekannter Tatsachen genügt nicht (BGHSt 50, 180, 188; 50, 275, 278; 50, 373, 379; BGH NJW 2006, 3154, 3155). Nur so ist sichergestellt, dass durch die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein korrigiert werden (BGHSt 50, 121, 126; 50, 284, 297; BVerfG StV 2006, 574, 576).
b) Nur ausnahmsweise sind neue Tatsachen nicht erforderlich: War im Zeitpunkt der Anlassverurteilung die Anordnung der Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen nicht möglich, so kann die Gefährlichkeit auch aus tatsächlichen Umständen abgeleitet werden, die zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bereits erkennbar waren (§ 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB, eingefügt durch das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht vom 13. April 2007 - BGBl I 513).
Die Voraussetzungen für diese Ausnahmeregelung liegen hier jedoch nicht vor. Vielmehr hätte das Landgericht in seinem Urteil vom 26. Januar 1994 gegen den Verurteilten Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB anordnen können.
aa) Nach § 66 Abs. 2 StGB ist die Verhängung von Sicherungsverwahrung möglich, wenn der Angeklagte drei vorsätzliche Straftaten begangen hat, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wenn er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird und darüber hinaus die Voraussetzungen von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB (hangbedingte Gefährlichkeit) gegeben sind.
Diese drei vorsätzlichen Taten müssen nicht gemeinsam in der Entscheidung abgeurteilt werden, in welcher die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB angeordnet wird. Vielmehr können eine oder zwei von ihnen schon vorher rechtskräftig abgeurteilt sein (st. Rspr.; RGSt 68, 330, 331; BGHSt 1, 313, 317; BGH NJW 1964, 115; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Gefährlichkeit 1). Diese Rechtsprechung ist seit jeher dem Standardkommentar zum Strafgesetzbuch zu entnehmen (Fischer, StGB 57. Aufl. (2010) § 66 Rdn. 12; so schon Tröndle/Fischer, StGB 49. Aufl. (1999) § 66 Rdn. 9; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. (1985) § 66 Rdn. 9). Soweit dort § 66 Abs. 2 StGB als "in erster Linie für unentdeckt gebliebene gefährliche Serientäter gedachte" Vorschrift bezeichnet wird (Fischer, StGB 57. Aufl. (2010) § 66 Rdn. 11; so schon Tröndle/Fischer, StGB 49. Aufl. (1999) § 66 Rdn. 7; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. (1985) § 66 Rdn. 7), kann dies zu Missverständnissen keinen Anlass geben.
bb) Entgegen der - sowohl bei der Anlassverurteilung als auch bei der verfahrensgegenständlichen Entscheidung vertretenen - Ansicht des Landgerichts waren danach die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB bereits im Zeitpunkt des Urteils vom 26. Januar 1994 gegeben, da der Angeklagte wegen insgesamt drei Vorsatztaten, für die er Strafen von sieben Jahren und sechs Monaten, von elf und von zwölf Jahren verwirkt hatte, zu Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt wurde.
c) Die deshalb für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten notwendigen neuen Tatsachen hat das Landgericht nicht festgestellt. Die Maßregel hat daher keinen Bestand. Der Senat schließt angesichts der Darlegungen im angefochtenen Urteil aus, dass in einer neuen Verhandlung noch Tatsachen festgestellt werden könnten, die für die Gefährlichkeitsprognose des Verurteilten bedeutsam, aber erst nach der Anlassverurteilung erkennbar geworden sind. Er entscheidet daher selbst, dass die Maßregelanordnung entfällt.
4. Der Senat sieht Anlass zu folgenden ergänzenden Bemerkungen:
a) Da die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht vorliegen, muss der Senat nicht entscheiden, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (AZ 19359/04) Anlass gibt, an der Vereinbarkeit der Ausnahmevorschrift des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB mit dem Grundgesetz oder der Europäischen Menschenrechtskonvention zu zweifeln.
b) Eine an die derzeitige Verbüßung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim anknüpfende Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung kommt nicht in Betracht. Zwar waren bei Erlass dieses Urteils die sich aus der späteren Tötung zweier weiterer Menschen ergebenden, gefährlichkeitsbegründenden Tatsachen noch nicht erkennbar, so dass insoweit Nova angenommen werden könnten. Die nachträgliche Maßregelverhängung würde hier indes an dem Vorrang des zwischenzeitlich durchgeführten Erkenntnisverfahrens vor dem Landgericht Hannover (vgl. BGHSt 50, 373; BGH NStZ 2008, 332) scheitern.
Becker Pfister von Lienen
Hubert Schäfer
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Deutschland
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BMJV
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JURE100056585
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BGH
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1. Strafsenat
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20100113
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1 StR 372/09
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Urteil
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§ 66b Abs 1 StGB, § 66b Abs 2 StGB
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vorgehend LG München II, 27. Februar 2009, Az: NSV 1 JKLs 22 Js 11438/94, Urteil
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DEU
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Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung: Erkennbarkeit neuer Tatsachen nach der Anlassverurteilung
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Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 27. Februar 2009 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen, gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 2 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sach- und eine Formalrüge gestützten, vom Generalbundesanwalt nicht vertretenen Revision. Dem Rechtsmittel bleibt der Erfolg versagt.
I.
Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
1. Der Verurteilte wurde bislang - neben zweier, hier unerheblicher Geldstrafen wegen Diebstahls in den Jahren 1981 und 1982 - wie folgt bestraft:
a) Mit Urteil des Landgerichts München II vom 10. Mai 1985 wurde er wegen Vergewaltigung einer fünfzehnjährigen Schülerin - am 27. August 1984 unter Fesselung und Verschleppung mit seinem Pkw - in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zwei Drittel dieser Strafe verbüßte er bis zum 8. Juni 1988. Die Reststrafe wurde nach Ablauf einer vierjährigen Bewährungszeit mit Wirkung vom 21. Oktober 1992 erlassen.
b) Grundlage des jetzigen Verfahrens - Anlassverurteilung - ist das Urteil des Landgerichts München II vom 16. März 1995. Wegen zweier tateinheitlicher Vergewaltigungen, jeweils mit sexueller Nötigung, (eine Tat im rechtlichen Sinne) am 16./17. April 1994 erkannte das Gericht auf eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren.
Der Anlassverurteilung vom 16. März 1995 lag zugrunde, dass der Verurteilte in der Nacht vom 16. auf den 17. April 1994 zwei 14 und 15 Jahre alte Anhalterinnen in seinem speziell hierfür präparierten VW-Bus nach sorgfältiger Tatplanung über mehrere Stunden hinweg sexuell misshandelte und vergewaltigte. Dabei versetzte er die Mädchen unter Bedrohung mit einer Pistole in Todesangst, verklebte deren Mund und fesselte sie. Beiden Mädchen stach er schließlich mit einer Nadel zweimal in die inneren Schamlippen und zog einen Faden durch diese. Die Fäden hielt er bei der Weiterfahrt zunächst in der Hand und verknotete sie später bei der Freilassung seiner Opfer. Zudem führte er ring- und schlauchartige Gegenstände in die Scheide der Mädchen ein.
Die Anordnung von primärer Sicherungsverwahrung - gemäß § 66 StGB in der damals geltenden Fassung - schied seinerzeit bereits deshalb aus, weil die vom Gesetz geforderten formellen Voraussetzungen - zwei Vorverurteilungen (§ 66 Abs. 1 StGB) bzw. drei Straftaten (§ 66 Abs. 2 StGB) - fehlten.
Gleichwohl führte das damals erkennende Gericht in den Urteilsgründen aus: „Im Übrigen konnte die Strafkammer in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Prof. Dr. N.“ - er war bestellt zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des damaligen Angeklagten - „auch keinen Hang des Angeklagten zu erheblichen Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 und 2 StGB feststellen. Außer der einschlägigen Vorstrafe haben sich diesbezüglich keine sicheren Anhaltspunkte ergeben.“
2. Die Haftzeit des Verurteilten verlief nach den Feststellungen der Strafkammer „ohne besondere Vorkommnisse“. Seine Ehe wurde geschieden (bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache hatte der Verurteilte „ein arbeitsames Leben geführt und für seine Familie gesorgt“).
Der Verurteilte bezeichnete sich weiterhin als unschuldig, insbesondere den Mitgefangenen gegenüber, zu denen er allerdings mit Ausnahme des Zeugen B. wenig Kontakt pflegte. Dabei äußerte er, nur eines der Mädchen habe zivilrechtlich Schadensersatz begehrt, dabei auf seine Kosten den Führerschein gemacht und einen Motorroller erworben. Der Zeuge B. drängte ihn immer wieder, das „unrichtige“ Urteil nicht auf sich beruhen zu lassen und ein Wiederaufnahmeverfahren zu betreiben. Vor diesem Hintergrund äußerte der Verurteilte mehrfach, die „Schlampen bekämen ihr Fett ab“, für sie lasse er „sich etwas einfallen“. Diese „in ihrer Bedeutung ungenauen Kraftausdrücke“ belegten indes, so die Strafkammer, keine erhöhte Gewaltbereitschaft. Der Kontext der Äußerungen lasse es zumindest in gleichem Grad wahrscheinlich erscheinen, dass der Verurteilte damit lediglich einer Erörterung der Tat mit seinem Mitgefangenen aus dem Weg gehen wollte.
Im Rahmen der Prüfung einer bedingten Entlassung aus der Strafhaft erstattete der Sachverständige Prof. Dr. Athen ein Psychiatrisches Gutachten. Angesichts der nach seiner Einschätzung fortbestehenden Gefährlichkeit des Verurteilten empfahl er eine bedingte Entlassung nicht.
Der Verurteilte bewarb sich während der Strafhaft zweimal für eine Sexualtherapie in anderen Vollzugsanstalten. Von einer dieser Einrichtungen wurde er abgelehnt, da er - im Jahre 1951 geboren - zu alt sei. Die in einer weiteren Anstalt schon begonnene Therapie wurde abgebrochen, da der Verurteilte nach Einschätzung der Therapeuten noch eine zu lange Reststrafe zu verbüßen hatte. Erst im Jahre 2007 - am 17. April 2008 stand das Haftende an - sollte der Verurteilte in die sozialtherapeutische Abteilung seiner Justizvollzugsanstalt verlegt werden. Der Verurteilte widersetzte sich, da er nicht krank sei. Dies wurde mit einem dreitägigen Arrest disziplinarisch geahndet - der einzigen Disziplinarmaßnahme gegen den Verurteilten während der gesamten Haftzeit. Nachdem er - dann wohl doch verlegt - zu einer Mitwirkung an der Therapie gleichwohl nicht zu gewinnen war, wurde er wieder in den Normalvollzug überwiesen.
3. Am 22. Januar 2008 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München II die Einleitung des Verfahrens zur Unterbringung des Verurteilten in der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Im Hinblick auf die bevorstehende Entlassung beantragte die Staatsanwaltschaft zudem den Erlass eines Unterbringungsbefehls. Diesen Antrag wies das Landgericht München II zurück, das Oberlandesgericht München gab ihm auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft statt. Seit dem Ende der Strafhaft - 17. April 2008 - befand sich der Verurteilte in vorläufiger Unterbringung bis zum Erlass des hier angefochtenen Urteils am 27. Februar 2009, mit dem zugleich der Unterbringungsbefehl aufgehoben wurde. (Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Aufhebung des Unterbringungsbefehls verwarf das Oberlandesgericht München inzwischen mit Beschluss vom 7. Mai 2009.) Der Verurteilte nahm Wohnung bei seinem Bruder in Nordrhein-Westfalen.
4. Im nunmehrigen Verfahren zur Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung hörte die Strafkammer zwei psychiatrische Sachverständige, Dr. Mattias H. und Dr. K.. Zu einer Exploration war der Verurteilte nicht bereit. Zur Gefährlichkeitsprognose führte die Strafkammer aus:
Aus Sicht der Sachverständigen ergab die Beweisaufnahme über die den beiden Urteilen vom 10. Mai 1985 und vom 16. März 1995 zugrunde liegenden Feststellungen hinaus keine neuen relevanten Umstände von Gewicht für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Verurteilten, wenn man die Äußerungen zu seinen Opfern - wie die Strafkammer - nicht als ernstlich gemeinte Drohungen ansieht. Dieses und die weitere Bemerkung des Verurteilten dem Zeugen B. gegenüber, wonach eine Frau „nichts wert“ sei, man könne sie „gebrauchen“ und „wegwerfen“, belegten allerdings eine anhaltend frauenverachtende Einstellung.
Die Therapieverweigerung im Jahre 2007 stelle keinen die Gefahrprognose erhöhenden Umstand dar. Es sei nachvollziehbar, dass der Verurteilte wegen der bei Gefangenen üblichen Legendenbildung - er sei zu Unrecht verurteilt - in der eigenen Vollzugsanstalt eine Therapie nicht antreten wollte.
Insgesamt ergebe sich aber aus den zwei Urteilen aus den Jahren 1985 und 1995 eine ungünstige Prognose mit hoher Rückfallwahrscheinlichkeit. Bei gestörter Sexualpräferenz (ICD 10 F 65.5) sei eine Steigerung der Gewalt zu verzeichnen durch Hinzutreten sadistischer Handlungen, eine Zunahme der Intensität des Handlungsablaufs und der Erniedrigung der Opfer. Ungünstig zu bewerteten sei auch die Vorplanung - Bereitstellung der Tatwerkzeuge - und das Suchverhalten des Verurteilten (junge Anhalterinnen) bei der letzten Tat. Mit Einschränkung günstig sei das fortgeschrittene Alter des Verurteilten zu sehen.
Der Gutachter im Ausgangsverfahren, Prof. Dr. N., verwies bei seiner Anhörung darauf, dass es 1995 noch Stand der Wissenschaft gewesen sei, eine Wiederholungsgefahr nur dann anzunehmen, wenn zwischen zwei einschlägigen Taten auch positiv Befunde über Auffälligkeiten im Sexualleben getroffen werden könnten. Da nach Angaben der Ehefrau insoweit alles normal verlaufen sei, seien ihm nur die beiden Straftaten als Beurteilungsgrundlage verblieben, zwischen denen ein Zeitraum von knapp zehn Jahren liege. Heute beurteile er das anders. Für die Annahme einer sexuellen Deviation genüge nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft nunmehr das Vorliegen von zwei Straftaten. Grund hierfür sei „in der wechselseitigen Beeinflussung sowohl der Fortschritt der Wissenschaft wie auch die erhöhte Sensibilisierung der Öffentlichkeit gegenüber Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“.
II.
Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat die Strafkammer abgelehnt.
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 StGB sei schon mangels Vorliegens der dafür zusätzlichen formellen Voraussetzungen des § 66 StGB rechtlich nicht möglich.
Auch die Maßregel nach § 66b Abs. 2 StGB scheide aus. Es lägen keine neuen, erst während des Strafvollzugs erkennbar gewordene Tatsachen von Gewicht vor, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinwiesen.
Die hier relevanten Tatsachen seien deshalb nicht - wie von § 66b Abs. 2 StGB gefordert - neu, weil die den Hang zu erheblichen Straftaten sowie die Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit begründenden Befundtatsachen bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bekannt gewesen seien. „Vorliegend beruhen die von den Sachverständigen (Dr. H. und Dr. K.) und den sachverständigen Zeugen (Prof. Dr. N. und Prof. Dr. A.) bekundeten devianten Entwicklungen der Sexualität des Antragsgegners, die Grundlage der Feststellung eines Hanges bilden könnten, auf Tatsachen, die in den Urteilen des Landgerichts München II aus den Jahren 1995 und 1985 festgehalten sind, und den darauf gegründeten fachlichen Schlussfolgerungen dieser Personen. Tatsachen aus der Zeit nach der letzten Verurteilung des Antragsgegners ... haben keinen Eingang in die Bekundungen der sachverständigen Zeugen oder die Gutachten der Sachverständigen gefunden ... und sind auch für das Gericht nicht ersichtlich.“
Prognoserelevant seien auch nicht die „Kraftausdrücke“ des Verurteilten in Bezug auf seine beiden Opfer. Diese hätten der Untermauerung seiner Legende gedient, unschuldig verurteilt worden zu sein. Als Grund hierfür komme in Betracht, dass unter den Insassen einer Vollzugsanstalt diejenigen Gefangenen, die wegen Sexualdelikten verurteilt wurden, zumal bei Opfern im kindlichen und jugendlichen Alter, in der internen Hierarchie auf niedrigster Stufe stehen und daher prädestinierte Ziele für Angriffe der Mitgefangenen seien. Ein erhöhter Gefährlichkeitsgrad könne aus den Äußerungen des Verurteilten deshalb nicht geschlossen werden. Dies sieht die Strafkammer auch darin bestätigt, dass der Verurteilte nach seiner Entlassung fernab vom Umfeld der Geschädigten in Bayern bei seinem Bruder in Nordrhein-Westfalen Wohnung nahm.
Auch der fehlende Therapiewille in der Endphase der Strafhaft stelle sich nicht als neue Tatsache im Sinne von § 66b StGB dar. Es könne nicht festgestellt werden, dass der - seinerzeit bestreitende - damalige Angeklagte sich bei der Verhandlung im Jahre 1995 bereit gefunden habe, sich einer Therapie zu unterziehen. Außerdem sei auch die Ablehnung einer Therapie im Jahre 2007 in der Vollzugsanstalt, in der er viele Jahre verbracht hat, vor dem Hintergrund seiner Unschuldslegende nachvollziehbar und lasse keinen Schluss auf erhöhte Gefährlichkeit zu.
III.
Den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat das Landgericht im Ergebnis zutreffend zurückgewiesen. Die angefochtene Entscheidung entspricht der Rechtslage und ist auch sonst frei von durchgreifenden Rechtsfehlern.
1. Der Rüge der Verletzung formellen Rechts bleibt der Erfolg versagt.
Die Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet die Ablehnung ihres Beweisantrags vom 23. Februar 2009 auf Vernehmung des Vorsitzenden und eines weiteren Richters des Ausgangsverfahrens. Nach dem Inhalt der Revisionsbegründungsschrift richtet sich die Rüge nur gegen die Zurückweisung der Beweiserhebung über die unter Nr. 3 des Antrags genannten Umstände. Auch insoweit hat die Strafkammer den Beweisantrag mit noch tragfähiger Begründung zurückgewiesen. Über die in den verlesenen Urteilgründen genannten Anknüpfungstatsachen hinaus enthält der Beweisantrag keinen konkreten Tatsachenvortrag zur Feststellung eines Hanges im Zusammenhang mit der Anlassverurteilung.
2. Die Zurückweisung des Antrags auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung hält auch sachlich-rechtlicher Prüfung stand.
a) Die Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB liegen - wie die Strafkammer im Einzelnen zutreffend dargestellt hat - schon aus formellen Gründen nicht vor.
Zusätzlich zu den Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 StGB müssen nämlich auch die (übrigen) Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt sein. Das ist aber nicht der Fall: Zwar würde für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB (in der jetzt geltenden Fassung) eine Vorverurteilung vor der Anlassverurteilung genügen. Die Vorverurteilung aus dem Jahre 1985 hat jedoch gemäß § 66 Abs. 4 Satz 3 und 4 StGB wegen „Rückfallverjährung“ außer Betracht zu bleiben. Zwischen dem Ende des hierauf beruhenden Strafvollzugs - am 8. Juni 1988 - und der neuen Tat - am 16. April 1994 - waren mehr als fünf Jahre vergangen. Da die Anlassverurteilung nur wegen einer Tat erfolgte, sind auch die Voraussetzungen einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ohne Vorverurteilung gemäß § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB nicht gegeben.
b) Auch § 66b Abs. 2 StGB bietet im vorliegenden Fall keine Grundlage zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung.
Zwar sind insoweit die formellen Eingangsvoraussetzungen - Anlassverurteilung wegen einer Katalogtat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren - gegeben. Das Landgericht München II verhängte mit Urteil vom 16. März 1995 gegen den Verurteilten wegen eines Verbrechens gegen die sexuelle Selbstbestimmung - Vergewaltigung - eine Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren (14 Jahre).
Die von der Strafkammer referierten Darlegungen der Sachverständigen und der sachverständigen Zeugen - das Landgericht selbst äußert sich hierzu nicht ausdrücklich - lassen auch den Schluss zu, dass der Verurteilte infolge eines Hangs zur Begehung erheblicher (Sexual-)Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist (zum Erfordernis der Feststellung eines entsprechenden Hangs auch bei § 66b Abs. 2 StGB vgl. BGH, Beschl. vom 9. Januar 2007 - 1 StR 605/06 - [BGHSt 51, 191] Rdn. 21).
Dies beruht jedoch allein auf den Feststellungen in den Urteilen vom 10. Mai 1985 und vom 16. März 1995. Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB setzt aber - wie in den Fällen des Abs. 1 Satz 1 - zusätzlich voraus, dass sich diese Gefährlichkeit ergänzend auch aus der Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzugs ergibt.
Es müssen deshalb nach der Anlassverurteilung vor dem Ende des Strafvollzugs Tatsachen - und zwar neue Tatsachen - erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit hinweisen und in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (vgl. BGH, Urt. vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 - [BGHSt 50, 284, 296]; Beschlüsse vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05 - Rdn. 15; 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - [BGHSt 50, 373, 378]; 9. Januar 2007 - 1 StR 605/06 - Rdn. 10, insoweit in BGHSt 51, 191 nicht abgedruckt; 17. Juni 2008 - 1 StR 227/08 - Rdn. 13; 7. Oktober 2008 - GSSt 1/08 - [BGHSt 52, 379, 389 Rdn. 32]; BVerfG - Kammer - Beschl. vom 23. August 2006 - 2 BvR 226/06 - [BVerfGK 9, 108]).
Denn § 66b Abs. 2 StGB eröffnet nicht die Möglichkeit, die bei der Anlassverurteilung gemäß der damaligen und insoweit bis heute unveränderten Rechtslage verwehrte primäre Anordnung der Sicherungsverwahrung (gemäß § 66 Abs. 1 StGB) bei Strafende aufgrund derselben Erkenntnisgrundlage wie zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nachzuholen.
§ 66b Abs. 1 Satz 2 StGB, der keine neuen Tatsachen voraussetzt, gilt - ersichtlich - nicht für § 66b Abs. 2 StGB. Dies hat der Gesetzgeber klargestellt: Diese Regelung wurde für „Altfälle“ geschaffen (insbesondere im Hinblick darauf, dass § 66 StGB auf im Beitrittsgebiet begangene Taten zunächst nicht anwendbar war). Durch dieses Gesetz - das am 18. April 2007 in Kraft getretene Gesetz zur Reform zur Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I 513) - wurden zugleich in § 66b Abs. 2 StGB die Worte eingefügt, dass „Tatsachen der in Absatz 1 Satz 1 genannten Art“ verwertet werden dürfen, die „nach einer Verurteilung ... erkennbar“ geworden sind. Solche Tatsachen müssen also „neu“ sein.
Rechtspolitische Anregungen im Zusammenhang mit dem damaligen Gesetzgebungsverfahren, die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch für diejenigen Fälle im Grundsatz zu ermöglichen, in denen - etwa wie hier wegen der eingetretenen „Rückfallverjährung“ - bei der Anlassverurteilung aus rechtlichen Gründen keine Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 StGB angeordnet werden konnte und auch gegenwärtig nicht angeordnet werden könnte, blieben erfolglos (vgl. BGH, Urt. vom 17. Juni 2008 - 1 StR 227/08 - Rdn. 14 ff.; Kett-Straub GA 2009, 586, 599 f.; zum Anwendungsbereich des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB vgl. auch BGH, Urt. vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09 - Rdn. 25 ff.). Inwieweit eine derartige Regelung in Fällen der vorliegenden Art allerdings überhaupt möglich wäre ohne mit den bestehenden Vorschriften über die „Rückfallverjährung“ (§ 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 4 Satz 3 StGB) in einen Wertungswiderspruch zu geraten, kann hier dahinstehen.
„Neue Tatsachen“ liegen dann nicht vor, wenn sie dem früheren Tatrichter bekannt waren oder wenn sie ein sorgfältiger Tatrichter hätte aufklären und erkennen müssen. In diesem Sinne erkennbar sind zunächst solche Umstände, die ein Tatrichter nach Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO für die Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung hätte aufklären müssen.
Hier kam im Zusammenhang mit der Anlassverurteilung die Anordnung einer Sicherungsverwahrung allerdings schon aus formellen Gründen von vorneherein nicht in Betracht. Dann musste sich das damals zuständige Gericht mit der Frage eines Hanges des Angeklagten und seiner Gefährlichkeit im Hinblick auf die Maßregel seinerzeit im Grundsatz auch nicht auseinandersetzen.
Für die Beantwortung der Frage, ob in derartigen Fällen eine Tatsache im Sinne von § 66b Abs. 2 StGB neu ist, kann aber auch dann nur maßgebend sein, ob die der Bewertung (von Hang und Gefährlichkeit) zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Anlassverurteilung bereits vorlagen und für das damals erkennende Gericht erkennbar waren (vgl. auch BGH, Beschl. vom 25. Juli 2006 - 1 StR 274/06 - Rdn. 12). Nicht neu sind demnach in diesen Fällen solche Tatsachen, die das Gericht, hätte es die Anordnung einer Sicherungsverwahrung zu prüfen gehabt, seinerzeit hätte feststellen müssen und können.
Allerdings wird es auf derartige außerhalb der Kognitionspflicht des Gerichts der Anlassverurteilung liegende Erkenntnismöglichkeiten in aller Regel nicht ankommen. Denn Umstände, die den Hang eines Angeklagten zu erheblichen Straftaten und seine Gefährlichkeit begründen, kennzeichnen auch maßgeblich seine Persönlichkeit und sind für die Strafzumessung und die Frage der Schuldfähigkeit von grundlegender Bedeutung. So liegt es jedenfalls in diesem Fall. Deshalb konnte sich der zur Frage der Schuldfähigkeit des damaligen Angeklagten gehörte Sachverständige im Verfahren, das der Anlassverurteilung zugrunde lag, auf derselben Tatsachenbasis auch zum Hang äußern.
Dass die Sachverständigen die Frage des Hangs des Verurteilten zu erheblichen Straftaten und seine Gefährlichkeit nunmehr - 14 Jahre später - und zwar aufgrund derselben Anknüpfungstatsachen anders beurteilen, stellt keine neue Tatsache im Sinne von § 66b Abs. 1 und 2 StGB dar (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. November 2005 - 4 StR 483/05 - [BGHSt 50, 275, 279]; 22. Februar 2006 - 5 StR 585/05 - [BGHSt 50, 373, 379, 383]; 25. Juli 2006 - 1 StR 274/06 - Rdn. 11 f.; im Unterschied zu § 66b Abs. 3 StGB, vgl. BVerfG - Kammer - Beschl. vom 5. August 2009 - 2 BvR 2098, 2633/08 - B. I. 3. b) aa) (3)).
Voraussetzung für die Einordnung eines während des Strafvollzugs bekannt gewordenen Sachverhalts als „neue Tatsache“ im Sinne des § 66b StGB ist, dass er die Gefährlichkeit des Betroffenen höher oder in einem grundsätzlich anderen Licht erscheinen lässt (vgl. BGH, Beschl. vom 12. September 2007 - 1 StR 391/07). Derartiges konnte die Strafkammer vorliegend nicht feststellen (wie dies auch das Oberlandesgericht München in seinem eingehend begründeten Beschluss vom 7. Mai 2009 zutreffend dargelegt hat).
Als möglicherweise „neue Tatsachen“ standen allein die gegenüber Mitgefangenen geäußerten Drohungen in Bezug auf die Tatopfer im Raum. Dass hieraus kein Schluss auf eine erhöhte Gefährlichkeit gezogen werden kann, hat die Strafkammer ausführlich und tragfähig damit begründet, dass dies lediglich Teil der - in der Vollzugsanstalt für einen Sexualstraftäter mit jugendlichen Opfern geradezu existenznotwendigen - Unschuldslegende gewesen sei. Diese Bewertung des Landgerichts ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Der Generalbundesanwalt hat dies mit seinen Ausführungen in der Revisionshauptverhandlung ebenso beurteilt und deshalb beantragt, die Revision der Staatsanwaltschaft zu verwerfen. Dem folgte der Senat aus den dargelegten Gründen.
Nack Rothfuß Hebenstreit
Elf Jäger
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100056585&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056588
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BGH
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2. Strafsenat
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20100127
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2 StR 444/09
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Urteil
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§ 256 Abs 1 Nr 2 StPO, § 261 StPO, § 344 StPO
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vorgehend LG Kassel, 17. Juni 2009, Az: 4641 Js 43207/08 Jug - 3 Ks, Urteil
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DEU
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Revisionsbegründung in Strafsachen: Notwendige Alternativrüge bei auslegungsfähiger Formulierung des Sitzungsprotokolls zur Verlesung einer Urkunde
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kassel vom 17. Juni 2009 wird verworfen.
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen; jedoch hat er seine sowie die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fall 3) sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (Fälle 1 und 2) zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision, mit der er Verfahrensrügen und die Sachrüge erhebt, bleibt ohne Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte am Abend des 2. Dezember 2008 gegen 23.00 Uhr unter Alkoholeinfluss auf seinen Nachbarn, den Zeugen W., drei Mal mittels eines nicht mehr feststellbaren gefährlichen Gegenstandes eingeschlagen und ihm im Gesichtsbereich erhebliche Verletzungen zugefügt (Fall 1).
Gegen Mitternacht ließ der Angeklagte am Fernsehgerät in seiner Wohnung einen Musiksender in voller Lautstärke laufen. Der Nebenkläger, der zu Besuch bei der Geschädigten G. und ihrer Tochter in der darunter liegenden Wohnung war, begab sich wegen des Lärms nach oben, hämmerte gegen die Wohnungstür des Angeklagten und rief, er solle die Musik leiser stellen. Der Angeklagte fühlte sich hierdurch persönlich angegriffen und beleidigt, öffnete die Wohnungstür jedoch nicht. Einige Zeit später begab er sich zur Wohnung der Geschädigten G., klopfte gegen die Wohnungstür und rief nach dem Nebenkläger. Der Angeklagte hatte eine Schere, die vorne spitz zulief und eine Schnittklingenlänge von 5,5 cm hatte, sowie einen Kerzenständer dabei. Nachdem die Geschädigte G. die Tür geöffnet hatte, schlug er mit dem Kerzenständer nach ihr und traf sie zwei Mal am Hinterkopf. Die Geschädigte erlitt dadurch u.a. Verletzungen am Schädel (Fall 2).
Der Nebenkläger kam der Geschädigten G. zu Hilfe, so dass diese in die Wohnung flüchten konnte. Der Angeklagte stach zielgerichtet mit der Schere in Richtung des ungeschützten Kopfes des Nebenklägers. Der Stich durchdrang die Wange und reichte bis in den Gaumen. Der Nebenkläger, der sofort stark blutete, wehrte sich. Im Laufe des Kampfes gingen beide zu Boden. Dem Angeklagten gelang es, sich auf den Nebenkläger zu setzen. Von dieser Position aus stach er noch mindestens zwei weitere Male mit der Schere in das Gesicht des Nebenklägers, wodurch dieser weitere Schnittverletzungen im Gesicht sowie Verletzungen an Gaumen und Zunge davontrug. Bei allen Stichen erkannte der Angeklagte die Möglichkeit, tödliche Verletzungen an Schläfe oder Halsschlagader herbeizuführen und nahm dies in Kauf. Der Geschädigten G. gelang es schließlich, dem Angeklagten die Schere, mit der er weiter zustechen wollte, zu entreißen, sie in ihren Wohnungsflur zu werfen und den Angeklagten von dem Nebenkläger herunterzuziehen, weshalb er den Angriff abbrechen musste (Fall 3).
2. Die Sachrüge sowie die Verfahrensrügen haben überwiegend aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen keinen Erfolg. Näherer Erörterung bedarf allein zu Fall 3 die Rüge, die Verlesung des Berichtes des Klinikums K. vom 8. Dezember 2008 verstoße gegen § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO, weil sie zumindest auch zum Nachweis des versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil des Nebenklägers gedient habe. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rüge angeschlossen.
a) Sie greift jedoch nicht durch. Ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist nicht bewiesen. Im Protokoll (Bl. 95 Bd. II) heißt es, "dass der Vermerk über die Aufnahme des Klinikums K. vom 8.12.2008, Bl. 127 f. Bd. I d.A. … von dem Vorsitzenden verlesen" wurde. Diese Formulierung lässt vor dem Hintergrund, dass der betreffende Arztbericht im Zusammenhang mit der Vernehmung des Nebenklägers in die Hauptverhandlung eingeführt wurde, die Möglichkeit offen, dass die Verlesung nicht nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO im Urkundsbeweis, sondern zum Zwecke des Vorhalts im Rahmen dieser Vernehmung erfolgte. Für die Annahme eines bloßen Vernehmungsbehelfs könnte - außer dem Umstand, dass § 256 StPO nicht ausdrücklich genannt wird - insbesondere sprechen, dass das Schriftstück nicht als Attest oder Gutachten, sondern als "Vermerk" bezeichnet wird.
Soweit der Generalbundesanwalt auf die Formulierung im Urteil hinweist, dass die Feststellungen zu den Verletzungen auch auf der Verlesung des ärztlichen Attestes beruhten (UA 19), könnte mit Rücksicht darauf allenfalls in Betracht gezogen werden, das Landgericht habe bei seiner Überzeugungsbildung ein Beweismittel verwertet, das nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war. Insoweit hätte es jedoch der - vom Beschwerdeführer nicht erhobenen - Verfahrensrüge bedurft, das Landgericht habe seine Überzeugung entgegen § 261 StPO nicht aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpft.
b) Darüber hinaus würde das Urteil selbst dann nicht auf einem etwaigen Verstoß gegen § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO beruhen, wenn man eine Verlesung nach dieser Vorschrift als bewiesen erachtete. Der Senat kann - anders als dies etwa in der vom Generalbundesanwalt zitierten Entscheidung (BGH StV 2007, 569) der Fall war - ausschließen, dass das Landgericht seine Überzeugung von einem bedingten Tötungsvorsatz zumindest auch aus dem Arztbericht des Klinikums K. gewonnen hat. Die Urteilsgründe (UA 21 ff.) nehmen zu dieser Frage weder wörtlich noch sinngemäß auf das Schriftstück Bezug, sondern enthalten davon unabhängige, eigenständige Überlegungen der Kammer. Dies gilt auch, soweit das Landgericht bei der Feststellung "dass die Stiche mit großem Kraftaufwand ausgeführt worden sind" u.a. auf die "gefundenen Verletzungen" abstellt. Auch soweit die Kraftentfaltung bei den Stichen indiziell den Tötungsvorsatz mit begründen könnte, stellt das Landgericht lediglich von dem Attest unabhängige Erwägungen an, die "bereits ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen" zu klären waren und deren Grundlagen ihm durch die Vernehmung des Nebenklägers sowie die Inaugenscheinnahme der Lichtbilder von seinen Verletzungen vermittelt worden sein konnten.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056613
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BGH
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3. Strafsenat
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20100112
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3 StR 466/09
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Beschluss
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§ 20 Abs 1 Nr 4 VereinsG, § 52 StGB, § 53 StGB
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vorgehend LG Dresden, 6. Juli 2009, Az: 14 KLs 201 Js 12036/08, Urteil
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DEU
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Zuwiderhandlung gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot: Vorliegen einer Bewertungseinheit; Zäsurwirkung einer Verurteilung
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 6. Juli 2009 dahin geändert, dass der Angeklagte wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen. Jedoch wird die Gebühr um ein Viertel ermäßigt; die Staatskasse trägt ein Viertel der dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten des Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot in zwei Fällen schuldig gesprochen und ihn deswegen zum einen unter Auflösung der mit Urteil des Landgerichts Gera vom 29. Mai 2008 gebildeten Gesamtgeldstrafe und Einbeziehung der dort verhängten Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten sowie zum anderen zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafen hat es zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte in der Zeit vom 10. Januar 2007 bis zum 13. März 2009 als Funktionär des KONGRA-GEL (Kongra Gele Kurdistan - Volkskongress Kurdistans), einer Nachfolgeorganisation der PKK (Patiya Karkeren Kurdistan - Arbeiterpartei Kurdistan), Verantwortlicher für den Raum Dresden. In Ausübung dieser Tätigkeit sammelte er für die Organisation Spenden und verkaufte bzw. vertrieb Propagandamaterialien.
Durch Urteil des Landgerichts Gera vom 29. Mai 2008 wurden gegen ihn wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot in zwei Fällen Geldstrafen von jeweils 60 Tagessätzen zu je 15 € verhängt, aus denen das Landgericht eine Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen bildete. Dem lag zugrunde, dass der Angeklagte am 17. Januar und 14. Februar 2006 in Erfurt und Umgebung Spendengelder für KONGRA-GEL eingesammelt und Propagandamaterial verteilt hatte.
1. Die Strafkammer hat angenommen, das bezeichnete Urteil des Landgerichts Gera wirke als Zäsur mit der Folge, dass im vorliegenden Fall zwei materiellrechtliche Taten anzunehmen seien. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das hier abgeurteilte Verhalten des Angeklagten stellt vielmehr nur eine sachlichrechtliche Tat dar.
a) Jedes Zuwiderhandeln gegen ein Betätigungsverbot nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG ist grundsätzlich eine materiellrechtlich selbstständige Straftat (BGHSt 43, 312). Übernimmt ein Täter allerdings im Interesse eines mit einem Betätigungsverbot belegten Vereins ein auf eine gewisse Dauer angelegtes Amt oder einen bestimmten Tätigkeitsbereich mit dem Willen, zur Aufrechterhaltung oder zur Unterstützung der verbotenen Tätigkeit des Vereins beizutragen, so verbindet das übernommene Amt sämtliche in seiner Ausübung begangenen Zuwiderhandlungen gegen das vereinsrechtliche Betätigungsverbot zu einer einzigen Tat (Bewertungseinheit) des § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG (BGHSt 46, 6).
Danach sind die hier abgeurteilten Tätigkeiten, die der Angeklagte als Verantwortlicher für den Raum Dresden in der Zeit vom 10. Januar 2007 bis zum 13. März 2009 ausübte, materiellrechtlich als eine Zuwiderhandlung gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot zu würdigen.
b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts führt das Urteil des Landgerichts Gera vom 29. Mai 2008 nicht dazu, dass der Angeklagte zwei Taten nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG begangen hat. Zwar bewirkt die Verurteilung wegen eines Dauerdelikts eine Zäsur mit der Folge, dass das Aufrechterhalten des Dauerzustands nach dem Urteil als selbstständige Tat zu werten ist (Rissing-van Saan in LK 12. Aufl. Vor § 52 Rdn. 56; Stree/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. Vorbem. §§ 52 ff. Rdn. 87). Dieser Grundsatz ist sinngemäß auf Straftaten nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG übertragbar, wenn mehrere Tätigkeiten des Angeklagten im Wege der Bewertungseinheit zu einer Tat im materiellrechtlichen Sinne zusammengefasst werden. Jedoch entfaltet eine Verurteilung, die in den zeitlichen Rahmen der Zuwiderhandlungen gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot fällt, welche zu einer Bewertungseinheit zusammengefasst werden, nur dann eine Zäsurwirkung, wenn in dem Urteil bis zu diesem Zeitpunkt ausgeübte Tätigkeiten des Angeklagten sanktioniert werden, die Teile der Bewertungseinheit sind. Eine Verurteilung wegen sonstiger Delikte nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG vermag demgegenüber eine Zäsur nicht zu bewirken.
Daraus folgt, dass die Annahme von zwei materiellrechtlich selbstständigen Taten hier ausscheidet; denn die durch das Landgericht Gera am 29. Mai 2008 abgeurteilten, zu Beginn des Jahres 2006 in Erfurt und Umgebung begangenen Taten sind nicht Teil der Tätigkeit des Angeklagten als Verantwortlicher für den Raum Dresden in der Zeit vom 10. Januar 2007 bis zum 19. März 2009.
2. Der Senat kann den Schuldspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO umstellen, da auszuschließen ist, dass in einer neuen Hauptverhandlung Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung wegen zweier materiellrechtlich selbstständiger Vergehen nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG tragen. § 265 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen; denn der geständige Angeklagte hätte sich gegen den Vorwurf, nur eine sachlichrechtliche Tat begangen zu haben, nicht wirksamer als geschehen verteidigen können.
3. Der Senat hat mit Blick auf die gebotene Beschleunigung des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO die Strafe auf sechs Monate Freiheitsstrafe festgesetzt. Dies entspricht derjenigen Strafe, die das Landgericht für die von ihm angenommene zweite Tat, mithin für die Tätigkeiten des Angeklagten in seiner Funktion als Raumverantwortlicher in der Zeit vom 30. Mai 2008 bis zum 13. März 2009, für angemessen erachtet hat. Es ist auszuschließen, dass ein neues Tatgericht für die strafbaren Handlungen des Angeklagten in dem gesamten Tatzeitraum vom 10. Januar 2007 bis zum 13. März 2009 eine geringere Strafe festsetzen würde.
Die Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe nach § 55 StGB mit den Einzelstrafen aus dem Urteil des Landgerichts Gera vom 29. Mai 2008 kommt nicht in Betracht. Die hier abgeurteilte Tat erstreckte sich bis zum 13. März 2009; sie war folglich nicht vor der früheren Verurteilung beendet. Die in dem Urteil des Landgerichts Gera verhängten Einzelstrafen und die daraus gebildete Gesamtstrafe bleiben somit neben der Strafe im hiesigen Verfahren bestehen.
Becker Pfister von Lienen
Hubert Schäfer
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JURE100056614
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BGH
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5. Strafsenat
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20100126
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5 StR 520/09
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Beschluss
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§ 21 StGB, § 64 S 1 StGB, § 244 Abs 2 StPO, § 212 StGB, § 5 Abs 3 JGG, § 7 Abs 1 JGG
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vorgehend LG Görlitz, 12. August 2009, Az: 103 Js 15866/08 - 4 KLs, Urteil
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DEU
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Jugendstrafverfahren wegen Totschlags: Berücksichtigung des Atemalkoholwerts bei der Beweiswürdigung bezüglich eines Nachtrunks und der unterbliebenen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei Bemessung der Jugendstrafe
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Görlitz vom 12. August 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen; er trägt indes die notwendigen Auslagen der Nebenklägerin.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags unter Einbeziehung zweier amtsgerichtlicher Urteile (zuletzt sechs Monate Jugendstrafe unter Anwendung des § 31 Abs. 2 JGG) zu einer einheitlichen Jugendstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
1. Die Jugendkammer hat sich im Wesentlichen auf der Grundlage des Geständnisses des Angeklagten und des Obduktionsgutachtens davon überzeugt, dass der Angeklagte am 7. November 2008 - wenige Tage vor seinem 16. Geburtstag - gegen 19.00 Uhr den stark alkoholisierten S. auf einem Zittauer Spielplatz getötet hat.
Der Angeklagte war mit dem späteren Opfer in Streit geraten wegen von diesem versprochener, vom Vater des Angeklagten im Voraus bezahlter Fahrradteile. Dabei bezeichnete S. den Angeklagten und dessen Vater als „Arschloch“ und „Wichser“. „Herr S. erhob sich von der Parkbank und griff dem Angeklagten an den Hals. Der Angeklagte hatte das Gefühl, er werde gewürgt, befreite sich aber rasch und ohne Probleme aus dieser Lage und stieß Herrn S. zu Boden … Der Angeklagte entschloss sich spätestens jetzt - aus Ärger über die vermeintlich fehlende Lieferung der Fahrradteile und aus Ärger über das Verhalten des Geschädigten - Herrn S. massiv zu verletzen. Dabei nahm er im Laufe des Geschehens den Tod des Geschädigten zumindest billigend in Kauf. S. war auf dem Boden liegend zu einer effektiven Gegenwehr und Verteidigung nicht mehr in der Lage. Der Angeklagte schlug und trat mit äußerster Kraft und Stärke wiederholt gegen den Rumpf, den Kopf und den Hals seines Opfers. Darüber hinaus wirkte er mehrfach und unter hoher Kraftaufwendung mit dem Hals einer abgebrochenen Bierflasche auf Kopf und Hals des Geschädigten ein. Das Gesicht und der Hals des Herrn S. bluteten aufgrund der erlittenen Verletzungen sehr stark. In diese stark blutenden Gesichts- und Halswunden trat der Angeklagte wiederum wiederholt mit großer Kraft mit seinem Fuß ein“ (UA S. 9). Die hervorgerufenen Rippenserienbrüche führten zu erheblichen Verletzungen innerer Organe. Die Menge des hierdurch nach innen und aus den Verletzungen am Kopf und am Hals des Opfers nach außen ausgetretenen Blutes verursachte einen tödlichen Verblutungsschock.
2. Die Revision des Angeklagten bleibt zum Schuldspruch erfolglos im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Die insoweit fehlerfreien Feststellungen belegen insbesondere den Tötungsvorsatz des Angeklagten, dessen Verantwortungsreife und nicht aufgehobene Schuldfähigkeit.
3. Indes ist die Jugendstrafe aufzuheben, weil tragende Strafzumessungserwägungen, mit denen das Landgericht eine erhebliche Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB ausgeschlossen hat, und zur Höhe der Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit auf zu Lasten und zu Gunsten des Angeklagten wirkenden Fehlern in der Beweiswürdigung beruhen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. März 2007 - 5 StR 32/07 Tz. 7 f.).
a) Das Landgericht hat - sachverständig beraten - zwar eine Störung des Sozialverhaltens des Angeklagten, die hohe Alkoholkonzentration zur Tatzeit und die Provokation durch das Opfer unter den jeweils zutreffenden Eingangsmerkmalen der §§ 20, 21 StGB erörtert, indes die gebotene Gesamtbetrachtung (vgl. BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 3) unterlassen und zudem die markanten Tatumstände, die eine besonders starke Enthemmung nahe legen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 2002 - 5 StR 543/01, insoweit in NStZ-RR 2002, 107 nicht abgedruckt), nicht ersichtlich erwogen.
Soweit das Landgericht die aus dem Blutentnahmeprotokoll vom 8. November 2008, 3.32 Uhr, entnommenen Feststellungen dafür herangezogen hat, dass der Angeklagte zur Tatzeit um 19.00 Uhr in seiner Leistungsfähigkeit nicht wesentlich eingeschränkt gewesen sei (UA S. 28), stößt dies auf durchgreifende Bedenken. Der nur auf einen leichten Alkoholeinfluss hindeutende Untersuchungsbefund fußt auf der Blutalkoholkonzentration von 1,23 ‰ zum Entnahmezeitpunkt und ist schon deswegen nicht geeignet, das Leistungsvermögen des Angeklagten unter Wirkung einer Blutalkoholkonzentration von 2,81 ‰ zu belegen.
Zudem ist zu besorgen, dass die vom Landgericht für einen Ausschluss erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit herangezogene Alkoholgewöhnung und fehlende Erinnerungslücke überbewertet worden sind (vgl. BGHSt 43, 66, 71, 73, 76; BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 4; BGH, Beschluss vom 28. März 2007 - 5 StR 32/07 Tz. 8).
b) Soweit das Landgericht aufgrund einer an sich zutreffenden Rückrechnung unter Würdigung von Angaben des Angeklagten zu einem Nachtrunk von lediglich 0,375 l Bier zu der angenommenen maximalen Blutalkoholkonzentration von 2,81 ‰ gelangt ist, steht dies schon in einem vom Landgericht nicht ersichtlich bedachten Spannungsverhältnis zu den übrigen rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum eher eine geringere Alkoholintoxikation nahe legenden Nachtatverhalten des Angeklagten. Hinzu tritt, dass es das Landgericht unterlassen hat, die Bedeutung des anlässlich einer Polizeikontrolle um 22.50 Uhr durchgeführten Atemalkoholtests mit 0,76 mg/l in seine Beweiswürdigung einzubeziehen. Zwar ist eine direkte Konvertierung von Atemalkohol- in Blutalkoholkonzentrationen ausgeschlossen (BGHSt 46, 358, 365). Indes wird jedem AAK-Wert eine gewisse Bandbreite von BAK-Werten entsprechen (BGHSt aaO m.w.N.), die ohne Weiteres in die Beweiswürdigung über den Umfang eines Nachtrunks, zumal bei - wie hier – widersprüchlichen Angaben eines Angeklagten, in Befolgung der Aufklärungspflicht einzubeziehen und mit zu bewerten ist. Demnach hätte es nahe gelegen, bei dem Angeklagten zum Zeitpunkt der von ihm als Fahrradfahrer anstandslos passierten Polizeikontrolle von einer BAK von noch unter 2 ‰ auszugehen (vgl. BGHSt aaO S. 366).
4. Zudem hat die festgesetzte Jugendstrafe auch deshalb keinen Bestand, weil es das Landgericht trotz Vorliegens erheblicher hierfür sprechender Umstände verabsäumt hat, die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt zu erwägen (§ 7 Abs. 1 JGG), was die mit am Erziehungsbedarf orientierte Festsetzung der Jugendstrafe - auch ohne dass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 JGG hätten erfüllt werden können - beeinflusst haben könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 2002 - 5 StR 543/01, insoweit nicht in NStZ-RR 2002, 107 abgedruckt; BGH, Beschluss vom 25. November 2008 - 3 StR 404/08 Tz. 6).
Das Landgericht hat zum Alkoholkonsum des Angeklagten Feststellungen getroffen, die eine Würdigung als Hang im Sinne des § 64 Satz 1 StGB erfordert hätten. Nach den - freilich zweifelhaften (vgl. oben 3.) - Feststellungen führte der Angeklagte die Tat unter Wirkung einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 2,81 ‰ aus. Er trank seit Anfang 2008 nunmehr auch in der Woche regelmäßig Alkohol. „Ab Sommer 2008 kam es bei dem Angeklagten zu regelmäßigem, fast täglichen Alkoholkonsum mit wiederholt einsetzenden Rauschzuständen“ (UA S. 7). Die Freundin des Angeklagten beendete ihre Beziehung mit diesem, weil der Angeklagte im Sommer 2008 angefangen habe, oft schon frühmorgens Alkohol zu trinken (UA S. 18).
Die getroffenen Feststellungen hätten die Annahme des nach § 64 StGB weiter gebotenen symptomatischen Zusammenhangs zwischen dem Hang, der Tat und der zukünftigen Gefährlichkeit (vgl. BGHR StGB § 64 Zusammenhang, symptomatischer 1) nicht grundlegend in Frage gestellt (vgl. BGH, Beschluss vom 16. September 2008 - 4 StR 316/08 Tz. 5 m.w.N.). Zwar hat das Landgericht aus zwei früher geahndeten - mit Mittätern begangenen - gefährlichen Körperverletzungen ohne Alkoholeinfluss auf eine hohe Gewaltbereitschaft und eine ausgesprochen geringe Hemmschwelle des Angeklagten geschlossen (UA S. 30, 36). Dem steht indes die für die Zeit stark gesteigerten Alkoholkonsums getroffene Feststellung entgegen, dass der Angeklagte gerade unter Alkohol häufig aggressiv geworden ist (UA S. 18).
Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls zu beachten haben, dass eine Maßregel nach § 64 StGB nicht die Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB erfordert (BGHR StGB § 64 Ablehnung 6).
5. Die Sache bedarf demnach hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs neuer Aufklärung und Bewertung. Insbesondere sofern das neue Tatgericht erneut die Voraussetzungen einer Provokation entsprechend § 213 StGB, 1. Alternative bejahen sollte, wird es seine Strafzumessungserwägungen schon aus diesem Grund nicht - wie im angefochtenen Urteil erfolgt (UA S. 37) - am Höchstmaß einer zu verhängenden Jugendstrafe orientieren können.
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BGH
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3. Strafsenat
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20100113
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3 StR 508/09
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Beschluss
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§ 32 StGB, § 240 StGB, § 52 Abs 1 Nr 1 WaffG
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vorgehend LG Duisburg, 10. Juni 2009, Az: 95 Ks 132 Js 26/08 (1/08), Urteil
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DEU
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Nötigung durch Gebrauch einer Schusswaffe in Notwehr: Strafbarkeit des Führens der Waffe
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Auf die Revisionen der Angeklagten V. Ö. und I. Ö. wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 10. Juni 2009, soweit es sie und den Angeklagten T. betrifft, aufgehoben.
Die Angeklagten T., V. Ö. und I. Ö. werden freigesprochen.
Die auf sie entfallenden Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
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Das Landgericht hat die Angeklagten T., V. Ö. und I. Ö. wegen gemeinschaftlicher Nötigung, den Angeklagten T. auch wegen eines tateinheitlich hinzutretenden "Verstoßes gegen § 52 Abs. 1 Nr. 1 Waffengesetz", zu Freiheitsstrafen verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten V. Ö. und I. Ö. führen zu deren Freispruch; ihre Rechtsmittel sind, ebenfalls mit der Folge des Freispruchs, auf den nicht revidierenden Angeklagten T. zu erstrecken.
1. Die rechtsfehlerfreien Feststellungen tragen keine Verurteilung der Angeklagten V. Ö., I. Ö. und T. wegen (gemeinschaftlicher) Nötigung.
a) Das Landgericht hat festgestellt: Der Angeklagte T., der ein Lokal in D. betreibt, sah sich seit einiger Zeit Schutzgeldforderungen einer Bande ausgesetzt, der auch der Mitangeklagte C. angehörte. Obwohl die Bande schon im Jahre 2006 das Lokal verwüstet und so dessen längere Schließung verursacht hatte, lehnte der Angeklagte T. Schutzgeldzahlungen ab. C. war deshalb entschlossen, den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Zusammen mit sechs weiteren Personen begab er sich am 9. Februar 2008 gegen 04.30 Uhr in das Lokal, um "den Angeklagten T. durch das demonstrative Auftreten mit mehreren Begleitern einzuschüchtern und dadurch zu veranlassen, zukünftige Schutzgeldforderungen der Bande zu erfüllen." C. begrüßte den Angeklagten T. mit Handschlag, ließ dessen Hand aber nicht mehr los, sondern zog ihn zu sich heran und forderte ihn auf, an den Tisch der Gruppe zu kommen, weil er etwas mit ihm zu bereden habe. Der Angeklagte T. erkannte, dass er wiederum wegen der Zahlung von Schutzgeld unter Druck gesetzt werden sollte, und entgegnete, er habe mit ihm, C., nichts zu bereden. Gleichwohl hielt C. den Angeklagten T. weiter an der Hand fest. Dieser riss sich schließlich los und schrie auf türkisch "raus!", worauf ihm C. mit beiden Händen gegen die Brust stieß. Da der Angeklagte T. nun eine weitere Eskalation befürchtete, entschloss er sich, C. und seine Gruppe aus dem Lokal zu vertreiben. Hierzu zog er eine Pistole und gab mehrere Warnschüsse gegen die Decke ab. Die in seiner Nähe stehenden Angeklagten V. Ö. und I. Ö. wollten ihn unterstützen und begannen ihrerseits zu schießen, teils mit scharfen, teils mit Schreckschusswaffen. Verfolgt von den drei Angeklagten flüchteten C. und seine Begleiter daraufhin aus dem Lokal. Im Verlauf dieses Geschehens erlitten C. und zwei seiner Begleiter Schussverletzungen, ein weiterer eine Stichverletzung, die aber nicht lebensgefährlich waren.
Feststellungen dazu, wer dem Mitangeklagten C. und seinen Begleitern die Verletzungen zufügte, hat das Landgericht nicht treffen können. Es hat auch nicht feststellen können, dass die Angeklagten T., V. Ö. und I. Ö. damit rechneten, einer von ihnen werde zur Durchsetzung des gemeinsamen Ziels, die Gruppe um C. zu vertreiben, eine Waffe auch gegen eine Person einsetzen.
b) Danach haben die Angeklagten den Mitangeklagten C. und seine Begleiter zwar durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zum Verlassen des Lokals genötigt. Jedoch war, was das Landgericht zu prüfen versäumt hat, das Handeln der Angeklagten als Notwehr bzw. Nothilfe nach § 32 StGB gerechtfertigt. Die in der Abgabe von Warnschüssen liegende Androhung des Schusswaffengebrauchs war erforderlich und geboten, um jedenfalls die andauernde Verletzung des Hausrechts des Angeklagten T. durch den Mitangeklagten C. und seine Begleiter zu beenden. Diese hatten das Lokal betreten, um den Angeklagten T. einzuschüchtern und zu Schutzgeldzahlungen gefügig zu machen; ihre Gewaltbereitschaft lag angesichts des Vorfalls im Jahre 2006 nahe. Der nachdrücklichen Aufforderung, sich aus dem Lokal zu entfernen, leistete der Mitangeklagte C. keine Folge, sondern griff den Angeklagten T. tätlich an. Ob anders zu entscheiden wäre, wenn sich die Angeklagten nicht auf Warnschüsse beschränkt, sondern gezielte Schüsse gegen die Person zumindest billigend in Kauf genommen hätten, braucht der Senat nicht zu erörtern, denn dies konnte das Landgericht nicht feststellen.
2. Die Rechtsmittel der Angeklagten V. Ö. und I. Ö. sind nach § 357 StPO auf den nicht revidierenden Angeklagten T. zu erstrecken, da das Urteil, soweit es ihn betrifft, auf demselben sachlich-rechtlichen Fehler beruht. Dies gilt auch für seine Verurteilung wegen eines in Tateinheit zur Nötigung stehenden "Verstoßes gegen § 52 Abs. 1 Nr. 1 Waffengesetz". Insoweit liegt dem Schuldspruch die Feststellung zu Grunde, dass der Angeklagte "mit einer von ihm geführten Schusswaffe" mehrere Schüsse in Richtung der Decke des Lokals abgab. Bleibt aber der Gebrauch der Schusswaffe straflos, weil das Handeln des Täters entschuldigt oder - etwa wie hier durch Notwehr - gerechtfertigt ist, entfällt auch die Strafbarkeit wegen des Führens der Waffe, soweit es mit diesem Geschehen unmittelbar zusammenfällt (BGH NStZ 1981, 299; 1999, 347). Dass der Angeklagte die Schusswaffe über die Verwendung zur Verteidigung seines Hausrechts hinaus geführt oder besessen hat, ist weder festgestellt noch Gegenstand der Anklage.
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Deutschland
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BMJV
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JURE100056617
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BGH
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3. Strafsenat
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20100113
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3 StR 528/09
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Beschluss
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§ 257c StPO, § 267 Abs 1 S 3 StPO, § 267 Abs 3 S 5 StPO, § 273 Abs 1a StPO
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vorgehend LG Hannover, 20. August 2009, Az: 33 KLs 16/09 - 6021 Js 67402/08, Urteil
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DEU
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Dokumentation der Verständigung im Strafverfahren: Erforderliche Angaben in der Sitzungsniederschrift
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1. Dem Angeklagten wird nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 20. August 2009 auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.
2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend zu der Begründung der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
Das Landgericht hat im Rahmen der Beweiswürdigung mitgeteilt, dass dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist und "wegen der Einzelheiten auf das Verhandlungsprotokoll Bezug genommen". Dem stehen im Ergebnis Rechtsbedenken nicht entgegen.
Die Bezugnahme auf die Niederschrift wäre zwar nicht geeignet, einer etwaigen Dokumentationspflicht über den Inhalt einer Verständigung in den Urteilsgründen Genüge zu tun, da die Urteilsurkunde aus sich heraus verständlich sein muss und eine Bezugnahme nur im Rahmen von § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO zulässig ist (Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 267 Rdn. 8). § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO (eingefügt durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 - BGBl I 2353) erfordert indes lediglich die Angabe, dass dem Urteil eine Verständigung (§ 257 c StPO) vorausgegangen ist. Die Vorschrift soll "auch für die Urteilsgründe Transparenz" herstellen (BegrRE BTDrucks. 16/12310 S. 15). Hierfür ist die Angabe des Inhalts der Verständigung nicht erforderlich. Insoweit findet die notwendige Dokumentation in der Sitzungsniederschrift statt (§ 273 Abs. 1 a StPO). Diese ist ggf. die Grundlage für die - vom Revisionsgericht nicht von Amts wegen, sondern nur aufgrund einer Verfahrensrüge unter erforderlichem Tatsachenvortrag vorzunehmende - Prüfung, ob das Verfahren nach § 257 c StPO eingehalten worden ist (anders wohl Meyer-Goßner aaO EH § 267 Rdn. 1).
Becker Pfister Sost-Scheible
Hubert Mayer
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JURE100056620
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BGH
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5. Strafsenat
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20100128
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5 StR 169/09
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Beschluss
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§ 249 Abs 1 StPO, § 249 Abs 2 S 1 StPO, § 261 StPO
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vorgehend LG Hamburg, 16. Oktober 2008, Az: 608 KLs 10/07 - 6700 Js 87/06, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Beweis des Protokolls für die Kenntnisnahme der Richter von einem Prüfbericht in Tabellenform im Selbstleseverfahren
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Die Revision des Angeklagten O. gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. Oktober 2008 wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Der Senat bemerkt ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts:
1. Die Rüge, das Landgericht habe Urkunden entgegen § 249 Abs. 2 Satz 1 und 3 StPO und § 261 StPO verwertet, ist unbegründet. In der Sitzung vom 29. Mai 2008 hat der Vorsitzende die Durchführung des Selbstleseverfahrens auch hinsichtlich eines 515 Seiten umfassenden, zahlreiche Zahlenwerke in Tabellenform enthaltenden Prüfberichts angeordnet, der im Urteil unter III.1 „Geschichte der Volksbank Lauenburg in den Tatzeiträumen“ (UA S. 25 bis 30) hinsichtlich einer gebotenen Verdoppelung des Risikovorsorgebedarfs im Zusammenhang auch mit an den Angeklagten ausgereichten Krediten in die Feststellungen eingeflossen ist (UA S. 30).
Bei dem Prüfbericht handelt es sich um eine verlesbare Urkunde im Sinne des § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO. Sie ist geeignet, durch ihren Gedankeninhalt Beweis zu erbringen (vgl. BGHSt 27, 135, 136). Dies gilt auch für die Zahlenwerke in Tabellenform. Zwar ergibt sich aus dem Wortlaut des Protokolls hier lediglich, dass die Berufsrichter und die Schöffen vom „Inhalt“ (auch) des Prüfberichts Kenntnis genommen haben. Dies erfasst indes - worauf es gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO ankommt - auch deren Wortlaut (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 227 [bei Becker]). Nach dem Inhalt des Protokolls steht außer Frage, dass die festgestellte Kenntnisnahme der Berufsrichter und der Schöffen nach deren abgegebenen Erklärungen im Selbstleseverfahren erfolgt ist. Dann aber haben die Erklärenden auch vom Wortlaut insgesamt Kenntnis genommen (vgl. BGH aaO), weil anders eine Kenntnisnahme vom „Inhalt“ der Urkunde nicht möglich ist (möglicherweise anders, indes nicht tragend BGHR StPO § 249 Kenntnisnahme 1). Eine näher an den Gesetzeswortlaut angelehnte Formulierung im Protokoll hätte überdies keinen Beweis dafür erbringen können, dass Richter und Schöffen tatsächlich vom Wortlaut insgesamt Kenntnis genommen haben (BGH NStZ-RR 2004, 227 [bei Becker]).
2. Die den Grundstückssachverständigen K. betreffende Beweisantragsrüge ist zulässig.
Das Landgericht hat in seinem Beschluss vom 23. September 2009 ausgeführt: „Die Behauptung, dass der Marktwert des Geschäftsgebäudes Hotel Riviera gemäß dem Gutachten des K. vom 14.02.2003 7,5 Mio. € betragen hat, ist durch die Selbstlesung des Gutachtens (Urkundenliste 1 Rdn. 54) bereits erwiesen.“ Hiernach bedurfte es der Vorlage des Gutachtens nicht, um geltend machen zu können, dass die Strafkammer in ihren Feststellungen von dem als bewiesen erachteten Grundstückswert abgewichen ist.
Dies ist auch der Fall, soweit das Landgericht auf UA S. 47 von einem „angeblichen Wert“ von 7,5 Mio. € ausgeht und davon, dass dem Angeklagten bewusst gewesen sei, „dass das Ergebnis des Gutachtens mit Vorsicht zu behandeln war“ (UA S. 47). Indes schließt der Senat aus, dass die Überzeugungsbildung des Landgerichts auf dieser, das Kerngeschehen - die Ausreichung eines Kredits an einen Strohmann ohne ausreichende Sicherheiten - nicht betreffenden Abweichung beruht.
3. Es stellt keinen sachlichrechtlich durchgreifenden Widerspruch dar, soweit das Landgericht einerseits angenommen hat (UA S. 83, 86, 251), eine Vertretung der Firma L. habe bei den notariellen Vertragsschlüssen in Skopje am 18. und 19. Oktober 2004 aufgrund erteilter Einzelvollmachten durch Rechtsanwalt T. stattgefunden, und andererseits festgestellt hat, dass dieser Rechtsanwalt ein beratendes Mandat ausschließlich für den Angeklagten und R. und später für die Bauträgergesellschaft LI. wahrgenommen hat (UA S. 83, 251). Die beschriebene allgemeine Vertretung der L. durch Rechtsanwalt T. (UA S. 256) stellt lediglich eine missverständliche Verallgemeinerung des Vertretungsumfangs dar, die indes im Zusammenhang mit den dort beschriebenen Voraussetzungen für eine Eintragung einer Hypothek sachlich ohne Aussagegehalt gewesen ist. Die Erwähnung der Vertretungsverhältnisse ist nicht im Zusammenhang mit einer rechtsgeschäftlichen Vertretung erfolgt, sondern es standen lediglich die der Bauträgergesellschaft LI. obliegenden Nachweise über den Zahlungsfluss von L. an diese Gesellschaft und deren Weiterreichung an den Notar in Frage.
Basdorf Raum Brause
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100056621
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BGH
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5. Strafsenat
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20100127
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5 StR 254/09
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Beschluss
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§ 73 Abs 1 S 2 StGB, § 38 Abs 1 Nr 1 WpHG, § 826 BGB
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vorgehend LG Hamburg, 25. Februar 2009, Az: 608 KLs 10/08 - 5500 Js 68/06 - 2 Ss 48/09, Urteil
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DEU
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Ausschluss der Verfallsanordnung nach Insiderhandel: Deliktischer Anspruch eines Dritten aus der Tat
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1. Auf die Revision des Angeklagten B. wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 25. Februar 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO dahingehend abgeändert, dass
a) bei dem Angeklagten B. und gemäß § 357 StPO bei dem Angeklagten A. der angeordnete Verfall entfällt,
b) gemäß § 357 StPO bei den Angeklagten B. und P. sowie bei der Nebenbeteiligten der angeordnete Verfall auf 753.851,12 € ermäßigt wird.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten B. sowie die Revision des Angeklagten K. werden nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen.
3. Die Beschwerdeführer tragen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens; jedoch wird bei dem Angeklagten B. die Gebühr um ein Zehntel ermäßigt; je ein Zehntel der gerichtlichen und notwendigen Auslagen dieses Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
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Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen Kurs- und Marktpreismanipulation in Tateinheit mit Insiderhandel in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt und den Verfall von 32.500 € angeordnet. Den Angeklagten K. hat das Landgericht der Kurs- und Marktpreismanipulation in Tateinheit mit Insiderhandel schuldig gesprochen und ihn mit einer - zur Bewährung ausgesetzten - Freiheitsstrafe von neun Monaten belegt. Die Revision des Angeklagten K. ist im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO unbegründet. Die Revision des Angeklagten B. führt zu einer Aufhebung der Verfallsanordnung, die gemäß § 357 StPO auch auf die nichtrevidierenden Mitangeklagten und die Verfallsbeteiligte zu erstrecken ist. Im Übrigen ist die Revision des Angeklagten B. gleichfalls unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verfallsanordnung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB hier der Anordnung des Verfalls entgegensteht. Diese musste deshalb entfallen. Einer vom Senat angeregten Verfahrensweise nach §§ 430, 442 StPO hat der Generalbundesanwalt nicht zugestimmt.
a) Sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB gegeben, schließen sie die Anordnung des Verfalls aus. Dies gilt auch im Hinblick auf die nach § 111i Abs. 2 bis 8 StPO geschaffene Möglichkeit, das Erlangte im Urteil zu bezeichnen und gegebenenfalls eine Sicherstellung aufrechtzuerhalten. Diese Vorschrift ist als strengeres Recht auf vor dem 1. Januar 2007 begangene Altfälle nicht anwendbar (BGH NJW 2008, 1093; StV 2008, 226, 227). Da die ausgeurteilten Taten 2003 und 2004 begangen wurden, kommt das besondere Festsetzungsverfahren gemäß § 111i Abs. 2 bis 8 StPO nicht in Betracht.
b) Aus der Tat sind Ansprüche von Verletzten erwachsen. Der Senat kann allerdings hier offenlassen, ob - was das Landgericht verneint hat - § 38 Abs. 1 Nr. 1 WpHG drittschützend ist. Dies erscheint jedenfalls in den Fällen nahe liegend, bei denen die Tat manipulativ unmittelbar auf eine Schädigung der Erwerber der Wertpapiere gerichtet ist (differenzierend auch BGHZ 170, 226, 232). Im vorliegenden Fall braucht dem jedoch nicht näher nachgegangen zu werden, weil die Erwerber der Aktien unmittelbar aus dem abgeurteilten Geschehen jedenfalls einen deliktischen Anspruch nach § 826 BGB haben. Hierfür müssen sämtliche Beteiligte, die an der Schadenszufügung mitgewirkt haben, als Gesamtschuldner einstehen (§ 830 BGB).
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung gegeben ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs handelt in der Regel sittenwidrig, wer im Geschäftsverkehr über verkehrswesentliche Umstände bewusst unwahre Angaben macht (BGH NJW 2008, 1734, 1736; 2004, 3423, 3424). Dies gilt gleichermaßen bei vorsätzlich unzutreffenden Mitteilungen im Zusammenhang mit den Pflichten nach dem Wertpapierhandelsgesetz (Palandt/Sprau, BGB 69. Aufl. § 826 Rdn. 30; vgl. auch BGH NJW 2008, 1734, 1736; Gaßmann wistra 2004, 41, 44). Die Angeklagten haben durch das Lancieren bewusster Falschmeldungen wissentlich eine Informationslage geschaffen, die einen höheren Aktienkurs herbeiführte. Hierauf kam es ihnen auch an, weil sie ihre Aktien möglichst teuer verkaufen wollten. Die vorsätzliche, auf betrügerische Machenschaften aufgebaute Täuschung des Publikums, das letztlich auf der Grundlage dieser Fehlvorstellungen einen ungerechtfertigt hohen Preis zu zahlen bereit war, erfüllt den Tatbestand der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (vgl. Ziouvas, Das neue Kapitalmarktstrafrecht 2005 S. 257).
c) Ein deliktischer Anspruch eines Dritten, der aus dem strafbaren Verhalten entstanden ist, reicht aus, um den Verfall nach § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB auszuschließen (Schmidt in LK 12. Aufl. § 73 Rdn. 41; Fischer, StGB 57. Aufl. § 73 Rdn. 20); jedenfalls insoweit ist er Verletzter im Sinne der Norm. Entscheidend ist nämlich nicht, ob sich aus einer Verletzung eines Strafgesetzes der Ersatzanspruch eines Dritten ergibt. Maßgeblich ist vielmehr, dass sich der Ersatzanspruch aus dem historischen Sachverhalt herleitet, der auch der Verwirklichung der Strafnorm zugrunde liegt. Eine solche auf das tatsächliche Geschehen abstellende Auslegung des Verletztenbegriffs im Sinne des § 73 Abs.1 Satz 2 StGB folgt aus dem Normzweck der Vorschrift, dem Geschädigten das ungeschmälerte Vermögen des Schädigers zu erhalten (BGHR StGB § 73 Verletzter 3). Um dies sicherzustellen, kann es nur - was im Übrigen auch der mit § 264 StPO korrespondierende Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB nahe legt - auf die Tat als tatsächliches Geschehen und nicht auf die einzelne Gesetzesverletzung ankommen. Aufgrund einer am Schutzzweck des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB orientierten Auslegung hat der Bundesgerichtshof auch die Anordnung des Verfalls von Bestechungslohn abgelehnt, wenn dem Bestechungslohn spiegelbildlich ein Schaden gegenübersteht, obwohl Schutzgut der Bestechung nicht das Vermögen, sondern das Vertrauen der Allgemeinheit in die Lauterkeit des öffentlichen Dienstes ist (BGHR StGB § 73 Verletzter 4). Eine solche Auslegung vermeidet zudem Zufälligkeiten, die zu Lasten des verletzten Dritten dadurch entstehen würden, dass drittschützende Straftatbestände nach §§ 154, 154a StPO ausgeschieden werden. Auch dies belegt, dass der Anspruch des verletzten Dritten nicht unmittelbar an den verwirklichten Straftatbestand anknüpfen kann (BGHR StGB § 73 Verletzter 3, 4). Entscheidend ist vielmehr, inwieweit eine zwingende innere Verknüpfung zwischen dem erlangten Vorteil und dem ersatzfähigen Schaden eines Dritten vorliegt (BGHR StGB § 73 Verletzter 4).
Die Geschädigten haben durch den Ankauf der Aktien zu höheren Kursen die Kursgewinne für die Angeklagten erst ermöglicht. Die deliktsrechtliche Norm des § 826 BGB erlaubt eine Rückabwicklung der rechtswidrig erlangten Vermögenswerte zugunsten der Geschädigten. Deren Individualansprüche haben Vorrang (Schmidt aaO Rdn. 34; Gaßmann wistra 2004, 41, 46). Deshalb ist es bei einer solchen Sachverhaltskonstellation unerheblich, ob dem Straftatbestand dann selbst ein Schutzgesetzcharakter (etwa im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB) zukommt.
2. Die Anordnung des Verfalls muss gemäß § 357 StPO auf die Mitangeklagten und die Verfallsbeteiligte erstreckt werden. Die Erstreckung kann allerdings nur für denjenigen Fall angeordnet werden, auf den sich die Aufhebung zugunsten des Revidenten B. bezieht; sie betrifft hinsichtlich der Nichtrevidenten freilich weit höhere Verfallsanordnungen bis zur Höhe des Gesamtbetrages von über 970.000 €.
Soweit in einem anderen Fall gegen den Revidenten kein Verfall angeordnet wurde und er an einem weiteren, zusätzlichen selbständig ausgeurteilten Fall nicht beteiligt war, verbleibt es - selbst wenn hier derselbe Rechtsfehler vorläge - bei der vom Landgericht ausgesprochenen Verfallsanordnung. Insoweit handelt es sich um jeweils selbständige prozessuale Taten im Sinne des § 264 StPO (BGH NJW 1983, 2097, 2099; BGH, Beschluss vom 12. September 1996 - 1 StR 509/96; Kuckein in KK, StPO 6. Aufl. § 357 Rdn. 8), die von der Erstreckung nach § 357 StPO nicht erfasst sind.
Basdorf Raum Schaal
Schneider König
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056622
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BGH
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5. Strafsenat
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20100127
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5 StR 488/09
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Beschluss
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§ 267 StGB
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vorgehend LG Cottbus, 14. Juli 2009, Az: 22 KLs 6/09, Urteil
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DEU
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Urkundenfälschung: Telekopie und Ausdruck einer Computerdatei als Urkunde
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 14. Juli 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO dahingehend abgeändert, dass der Angeklagten wegen Untreue zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt ist und im Übrigen freigesprochen wird.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Die Staatskasse trägt die Kosten, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist; im Übrigen trägt der Angeklagte die Kosten seiner Revision.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Untreue in Tatmehrheit mit Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die hiergegen mit Verfahrensrügen und der allgemeinen Sachrüge gerichtete Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts sagte der Angeklagte dem Geschädigten zwischen Ende 2003 und Beginn 2004 zu, über ein von ihm in Thailand gehaltenes Bankkonto einen Zahlungsfluss des Geschädigten in Höhe von 571.000 € von Deutschland über Thailand in die Schweiz verschleiern zu helfen. Der Geschädigte wollte den Geldbetrag hierdurch dem Zugriff seiner damaligen Ehefrau im Rahmen eines bevorstehenden Scheidungsverfahrens entziehen. Da sich das Bankinstitut in Thailand mangels Herkunftsnachweises weigerte, die Weiterüberweisung in die Schweiz an eine andere Person als den Angeklagten durchzuführen, überwies der Angeklagte einen Teilbetrag von 520.000 € auf ein Schweizer Konto, dessen Inhaber er selbst war. Von dort aus wollte er den Betrag auf das Schweizer Konto des Geschädigten weiterleiten. Jedoch verlangte auch sein Schweizer Bankinstitut einen Beleg dafür, dass die Summe aus einer rechtmäßigen Quelle herrühre. Spätestens jetzt fasste der Angeklagte den Entschluss, die Geldmittel für sich selbst zu verwenden. Er täuschte den Geschädigten über den Verbleib des Geldes und brach dann den Kontakt ab.
Um das Geld anlegen zu können, gebrauchte der Angeklagte gegenüber seiner Schweizer Bank eine manipulierte notarielle Urkunde über einen Grundstücksverkauf. Hierzu ging er wie folgt vor: Er verfügte über eine CD, auf der eine eingescannte Version des zwischen ihm und dem Geschädigten im September 2003 geschlossenen notariellen Kaufvertrages abgespeichert war. Die eingescannte Version war in mehreren Punkten verändert worden, wobei das Landgericht nicht festzustellen vermochte, dass der Angeklagte selbst die Manipulationen vorgenommen hatte. So war im Original die Wohnanschrift des Angeklagten in Deutschland aufgeführt. Diese war in eine Briefkastenanschrift in Thailand verändert. Der Kaufpreis von ehemals 80.000 € war auf 571.000 € erhöht, das Datum der Fälligkeit vom 1. November 2003 auf den 5. Februar 2004 verschoben. Darüber hinaus war in der verfälschten Version bestimmt, dass der Kaufpreis vom Geschädigten auf das Konto des Angeklagten in Thailand zu überweisen sei.
Anfang April 2004 druckte der Angeklagte die veränderte Version des Kaufvertrags aus. Er übermittelte sie am 5. April 2004 per Telekopie an seine Schweizer Bank. Die Bank akzeptierte den Nachweis und legte den größten Teil des Geldes zu seinen Gunsten in verschiedenen Fonds an.
2. Die Verfahrensrügen versagen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts. Jedoch führt die revisionsrechtliche Nachprüfung auf die allgemeine Sachrüge hin zur Aufhebung des Schuldspruchs und zur Freisprechung wegen Urkundenfälschung, demzufolge zum Wegfall der verhängten Einzelgeldstrafe sowie der Gesamtfreiheitsstrafe.
a) Die Verurteilung wegen Untreue wird entgegen der Auffassung der Verteidigung von den Feststellungen getragen. Namentlich steht der Anwendbarkeit des § 266 Abs. 1 StGB nicht entgegen, dass der durch den Geschädigten an den Angeklagten erteilte Auftrag rechtlich und sittlich missbilligten Zwecken diente (BGHSt 8, 254, 256 ff.; BGH NJW 1984, 800; Fischer, StGB 57. Aufl. § 266 Rdn. 46).
b) Demgegenüber hält die Verurteilung wegen Urkundenfälschung rechtlicher Prüfung nicht stand. Der Angeklagte hat weder durch das Ausdrucken des manipulierten Kaufvertrages eine unechte oder verfälschte Urkunde hergestellt noch hat er eine solche durch Versendung dieses Ausdrucks hergestellt oder gebraucht.
aa) Das ausgedruckte Exemplar des manipulierten Schriftstücks erfüllte den Urkundenbegriff nach § 267 Abs. 1 StGB nicht. Urkunden im Sinne des Strafrechts sind verkörperte Erklärungen, die ihrem gedanklichen Inhalt nach geeignet und bestimmt sind, für ein Rechtsverhältnis Beweis zu erbringen, und die ihren Aussteller erkennen lassen (st. Rspr.; vgl. etwa BGHSt 4, 60, 61; 24, 140, 141; Fischer aaO § 267 Rdn. 2 m.w.N.). Zwar kann im Wege computertechnischer Maßnahmen wie der Veränderung eingescannter Dokumente grundsätzlich eine (unechte) Urkunde hergestellt werden (vgl. BGHR StGB § 267 Abs. 1 Urkunde 5). Dafür muss die Reproduktion jedoch den Anschein einer von einem bestimmten Aussteller herrührenden Gedankenäußerung vermitteln, also einer Originalurkunde so ähnlich sein, dass die Möglichkeit einer Verwechslung nicht ausgeschlossen werden kann (BayObLG NJW 1989, 2553, 2554; Fischer aaO § 267 Rdn. 12d).
Daran fehlt es hier. Der bloße Ausdruck der Computerdatei wies nicht die typischen Authentizitätsmerkmale auf, die einen notariellen Kaufvertrag bzw. die Ausfertigung eines solchen prägen. Er spiegelte für den Betrachter erkennbar lediglich ein Abbild eines anderen Schriftstücks wider. Damit stand er einer bloßen Fotokopie gleich, der, sofern als Reproduktion erscheinend, mangels Beweiseignung sowie Erkennbarkeit des Ausstellers ebenfalls kein Urkundencharakter beizumessen ist (vgl. BGHSt 20, 17, 18 f.; 24, 140, 141 f. m.w.N.; BGH wistra 1993, 225; 341).
bb) Mit der Übermittlung des Schriftstücks per Telekopie und dessen Ausdruck auf dem Empfängergerät hat der Angeklagte desgleichen keine Urkunde hergestellt. Nicht anders als bei einer („gewöhnlichen“) Fotokopie enthält die beim Empfänger ankommende Telekopie eines existenten Schriftstücks - für den Adressaten und jeden Außenstehenden offensichtlich - nur die bildliche Wiedergabe der in jenem Schriftstück verkörperten Erklärung (vgl. OLG Zweibrücken NJW 1998, 2918; OLG Oldenburg NStZ 2009, 391; Erb in MünchKomm-StGB § 267 Rdn. 89; Zieschang in LK 12. Aufl. § 267 Rdn. 125; Fischer aaO § 267 Rdn. 12d; Beckemper JuS 2000, 123). Eine Beweisbedeutung kann ihr demgemäß mangels Erkennbarkeit eines Ausstellers und damit verbundener eigener Garantiefunktion für die Richtigkeit des Inhalts (vgl. BGH wistra 1993, 341) jedenfalls unter den hier gegebenen Umständen (zu den in Betracht kommenden Fallgestaltungen Beckemper aaO) nicht beigemessen werden.
Anderes ergibt sich auch nicht dann, wenn - was das Landgericht nicht ausdrücklich festgestellt hat - durch das Gerät des Empfängers auf der Telekopie die übliche Kurzbezeichnung des Absenders aufgedruckt gewesen ist. Ein solcher Aufdruck ist entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung (Cramer/Heine in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 267 Rdn. 43 m.w.N.) nicht etwa einer Beglaubigung gleichzusetzen. Der Rechtsverkehr misst ihm eine solche Bedeutung ersichtlich nicht zu. Ferner bestätigt der Empfängeraufdruck nicht die inhaltliche Richtigkeit des versandten Schriftstücks (zur Lage bei der Beglaubigung BGHR StGB § 267 Abs. 1 Gebrauchmachen 4), sondern allenfalls, dass die eingegangene Telekopie vom Absender gemäß Aufdruck in das Telekopiergerät eingelegt und versandt worden ist. Insofern gibt er aber das Geschehene zutreffend wieder.
cc) Da es dem übermittelten Schriftstück an der Qualität als Urkunde ermangelte (vgl. Buchstabe aa), liegt schließlich kein Gebrauchmachen von einem unechten oder verfälschten „originalen“ Falsifikat vor (vgl. dazu BGHSt 24, 140, 142; Fischer aaO Rdn. 24).
3. Andere Straftatbestände sind nicht erfüllt. Namentlich scheidet § 269 Abs. 1 StGB in der Form des Gebrauchmachens veränderter Daten aus. Denn das auf der CD gespeicherte und dann in den Arbeitsspeicher des Computers des Angeklagten eingelesene Abbild enthielt aus den Gründen zu Ziffer 2 a nicht die Merkmale einer Urkunde (vgl. BGHR StGB § 269 Verfälschen 1).
4. Die Einzelgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5 € wegen Urkundenfälschung sowie die Gesamtfreiheitsstrafe müssen nach alledem entfallen. Hiervon nicht beeinflusst wird die wegen Untreue verhängte Freiheitsstrafe von neun Monaten. Sie kann deshalb bestehen bleiben.
Basdorf Raum Schaal
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056624
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BGH
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5. Strafsenat
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20100128
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5 StR 524/09
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Beschluss
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§ 261 StPO
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vorgehend LG Berlin, 16. Juli 2009, Az: (535) 1 Kap Js 156/09 Ks (8/09), Urteil
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DEU
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Freie Beweiswürdigung im Strafverfahren: Glaubwürdigkeit eines vorbestraften Belastungszeugen; Würdigung einer Aussage als nur teilweise glaubhaft
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 16. Juli 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte wegen versuchter Anstiftung zum Mord sowie zum erpresserischen Menschenraub verurteilt ist,
b) im gesamten Strafausspruch.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter Erpressung und wegen versuchter Anstiftung zum erpresserischen Menschenraub sowie zum Mord zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit einer Verfahrensrüge; ferner rügt er die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel erzielt mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts versuchte der Angeklagte im Jahr 2008 und im Januar 2009, seinen ehemaligen Arbeitgeber durch Drohungen zur Zahlung von zuletzt 6,3 Mio. € zu veranlassen. Er kündigte an, dem Unternehmen durch - auch öffentliche - Anprangerung von ihm behaupteter Unregelmäßigkeiten namentlich im Zusammenhang mit Verkaufsprospekten schweren Schaden zuzufügen, falls seine Zahlungsforderung nicht erfüllt werde.
Das Unternehmen kam dem Verlangen jedoch nicht nach. Deswegen fasste der Angeklagte den Entschluss, die Zahlung der 6,3 Mio. € durch die Entführung eines Vorstandsmitglieds des Unternehmens zu erzwingen. Den Tatplan entwickelte er im Januar 2009 bei mehreren Treffen mit dem Zeugen D., der zuletzt wegen Mordes, schweren Raubes und gefährlicher Körperverletzung zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt und Mitte des Jahres 2008 aus der Strafhaft entlassen worden war.
Auf Initiative des Angeklagten und nach seinem Vorstellungsbild war D. spätestens am 19. Januar 2009 bereit, die Tat zwischen dem 20. und 28. Januar 2009 durchzuführen. Er sollte das ins Auge gefasste Opfer vor dessen Arbeitsstelle „wegfangen“. Dann sollte er den Geschädigten u. a. mit einem Telefonbuch schlagen, damit drohen, ihn auch zu Hause aufzusuchen, und zumindest konkludent Übergriffe auf dessen Tochter in Aussicht stellen (UA S. 31). Das Opfer sollte auf diese Weise dazu gebracht werden, die vom Angeklagten erstrebte Summe auf dessen Konto zu überweisen. Von dort aus sollte das Guthaben zu einer Bank in Luxemburg transferiert werden, wo es der Angeklagte abheben und dem D. 500.000 € übergeben wollte. Das Opfer sollte nach Zahlung freigelassen werden. D. sollte es aber einige Wochen später gegen Zahlung von weiteren 50.000 € „liquidieren“, damit es keine Aussage machen und den Angeklagten nicht belasten könne (UA S. 31).
Wie spätestens nach dem Treffen vom 19. Januar 2009 beabsichtigt führte D. die Tat nicht aus. Vielmehr offenbarte er sich zunächst einem Rechtsanwalt, der den Sachverhalt am 21. Januar 2009 bei der Staatsanwaltschaft vortrug und dafür sorgte, dass sein Mandant noch am selben Tage in den Räumlichkeiten der Mordkommission erschien und eine umfassende Aussage machte.
2. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchter Anstiftung zum erpresserischen Menschenraub sowie zum Mord, weswegen es eines Eingehens auf die insoweit erhobene Verfahrensrüge nicht bedarf. Die mitgeteilte Beweiswürdigung ist unklar und lückenhaft (vgl. BGH NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abgedruckt). Sie unterlässt es, prägende Umstände der Tat, wie sie sich nach den Bekundungen des Hauptbelastungszeugen zugetragen hat, näher zu würdigen (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 377 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2009 - 5 StR 407/09 Tz. 9; Brause NStZ 2007, 505, 506).
Die Strafkammer stützt ihre Überzeugung, der Angeklagte habe D. zu einer Entführung und anschließenden Ermordung des Tatopfers anzustiften versucht, maßgebend auf dessen Aussage. Eine hinreichende, die revisionsgerichtliche Nachprüfung ermöglichende Würdigung der Glaubhaftigkeit dieser Zeugenaussage nimmt sie jedoch nicht vor. Sie beschränkt sich vielmehr auf den Hinweis, der Zeuge habe „ohne ersichtliches Belastungsinteresse die Versuche des Angeklagten, ihn zu den in den Feststellungen geschilderten Taten zu veranlassen, glaubhaft geschildert“ (UA S. 51), und die Mitteilung der Gründe, die den Zeugen nach seinen Bekundungen zur Erstattung der Strafanzeige veranlasst haben. Das wird den Anforderungen nicht gerecht.
a) Bei dem Zeugen handelt es sich, wie aus seinen Vorbelastungen ersichtlich ist, um eine außerordentlich problematische Persönlichkeit. Schon deswegen durfte sich das Landgericht nicht mit der formelhaften Wendung begnügen, sie habe dessen Aussage „einer besonders kritischen Würdigung unterzogen“ (UA S. 51), sondern musste diese tatsächlich vornehmen.
Im Anschluss an die Verfahrensrüge merkt der Senat in diesem Zusammenhang an, dass sich das Landgericht mit dem Umstand hätte auseinandersetzen müssen, dass der Zeuge ausweislich des Urteils des Landgerichts Berlin vom 21. November 1989, hinsichtlich dessen die Strafkammer die Durchführung des Selbstleseverfahrens angeordnet hatte und das durch die Verteidigung im Revisionsverfahren vorgelegt worden ist, u. a. wegen Verdeckungsmordes verurteilt ist, wobei er nach den Urteilsfeststellungen seinen Tatbeitrag bagatellisiert und die wesentlichen Verletzungen des Tatopfers seinem Mittäter angelastet hatte. Vorstrafen machen einen Zeugen zwar nicht schlechthin unglaubwürdig; sie nötigen aber jedenfalls unter den hier gegebenen Umständen zu einer ausführlichen Würdigung seiner Aussage (vgl. BGH NStZ 2002, 495).
b) Die Aussage des Zeugen weist auch inhaltliche Merkwürdigkeiten auf, mit denen sich das Landgericht nicht auseinandersetzt. Insbesondere widerspricht die Feststellung, D. habe das Opfer nach der Tat zunächst freilassen, einige Wochen später aber gegen Zahlung von weiteren 50.000 € zur Verhinderung einer Belastung des Angeklagten „liquidieren“ sollen (UA S. 31), jeglicher „Verbrechervernunft“ und drängt demnach zu näherer Erörterung.
c) Unzureichend würdigen die Urteilsgründe ferner die Bekundungen des Zeugen zum Motiv der Strafanzeige. Seine Angabe, er habe „Beweise sammeln wollen“, glaubt ihm die Strafkammer nicht. Hingegen folgt sie ihm darin, dass er den Angeklagten anfangs nicht ganz ernst genommen, als es konkret geworden sei, aber „kalte Füße“ bekommen habe, dass er - was sich in den Feststellungen im Übrigen nicht widerspiegelt - die Sorge hatte, mit der Tat in Verbindung gebracht zu werden, wenn - einer Ankündigung des Angeklagten entsprechend - bei seiner Weigerung ein „zweites Team“ die Tat „durchziehen“ werde, und dass er davon ausgegangen sei, er werde „keinen Cent zu sehen bekommen, wenn der Angeklagte das Geld erst auf dem Luxemburger Konto gehabt hätte“ (UA S. 51 f.). Zwar ist das Tatgericht nicht gehindert, einem Zeugen nur teilweise zu glauben; es muss dann jedoch die hierfür maßgebenden Gründe darlegen (BGH NStZ 2004, 635, 636; Schoreit in KK 6. Aufl. § 261 Rdn. 29). Hieran fehlt es gänzlich. Hinzu kommt, dass die Angaben des Zeugen miteinander und auch mit den durch das Landgericht getroffenen Feststellungen teils nur schwer vereinbar sind.
d) Die Erwägungen der Strafkammer sind nicht tragfähig, allein einen Schuldspruch wegen versuchter Anstiftung zum erpresserischen Menschenraub zu bestätigen und einen solchen wegen tateinheitlich versuchter Anstiftung zum Mord sicher auszuschließen. Allerdings erscheint nach der Gesamtheit der festgestellten Begleitumstände ein solches Ergebnis nach einer vollständigen rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung nicht unwahrscheinlich.
3. Aufgrund der Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchter Anstiftung zum erpresserischen Menschenraub sowie zum Mord haben die insoweit verhängte Einzelfreiheitsstrafe von sechs Jahren sowie die Gesamtfreiheitsstrafe keinen Bestand. Der Senat hebt den gesamten Strafausspruch auf, um dem neuen Tatgericht eine ausgewogene Strafzumessung zu ermöglichen.
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten angesichts zahlreicher Auffälligkeiten seiner Person und der ihm zur Last gelegten Taten einer eingehenderen Würdigung bedarf als bisher geschehen. Im Rahmen der Strafzumessung wird hinsichtlich der versuchten Erpressung maßgebend zu erörtern sein, dass für den Angeklagten von vornherein keinerlei Aussichten bestanden, die erstrebte Zahlung zu erlangen. Das Landgericht bezeichnet das Vorgehen des Angeklagten dementsprechend in anderem Zusammenhang selbst als „dilettantisch“ (UA S. 52). Soweit die Strafkammer in Bezug auf die versuchte Anstiftung strafschärfend verwertet, der Angeklagte habe „zu der im Strafgesetzbuch mit der höchsten Strafe sanktionierten Tat anstiften“ wollen (UA S. 55), begegnet dies unter dem Aspekt des § 46 Abs. 3 StGB Bedenken.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056627
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BGH
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11. Zivilsenat
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20100126
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XI ZR 12/09
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Urteil
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§ 203 BGB, § 765 Abs 1 BGB, § 768 Abs 2 BGB
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vorgehend OLG Frankfurt, 11. Dezember 2008, Az: 15 U 122/08, Urteil vorgehend LG Marburg, 19. Juni 2008, Az: 1 O 360/04 nachgehend BGH, 14. Juni 2016, Az: XI ZR 242/15, Urteil nachgehend OLG Frankfurt, 13. Mai 2015, Az: 15 U 122/08, Urteil
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DEU
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Verjährung des Anspruchs aus einer Bürgschaft: Verjährungshemmende Wirkung der Verhandlung mit Hauptschuldner
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Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 15. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 11. Dezember 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Klägerin nimmt den Beklagten aus zwei selbstschuldnerischen Höchstbetragsbürgschaften in Anspruch.
Mit Verträgen vom 30. September 1992 und 23. März 1993 gewährte die Rechtsvorgängerin der Klägerin (im Folgenden: Klägerin) Frau S., der früheren Ehefrau des Beklagten, und Frau H. (im Folgenden: Hauptschuldnerin) zwei grundschuldgesicherte Darlehen in Höhe von 650.000 DM und 850.000 DM für den Ankauf und die Sanierung einer Wohnanlage. In gleicher Höhe übernahm der Beklagte der Klägerin gegenüber am 26. Oktober 1992 und am 20. Juli 1993 zwei unbefristete selbstschuldnerische Bürgschaften zur Sicherung aller Ansprüche aus der Geschäftsverbindung der Klägerin zu den Darlehensnehmerinnen. Am 9. Mai 1995 wurde die frühere Ehefrau des Beklagten aus der Haftung für die Darlehen entlassen. Mit Einwilligung des Beklagten vom 13. Januar 1997 wurde die Tilgung der Darlehen in der Zeit vom 10. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 1998 und ohne seine Zustimmung auch darüber hinaus ausgesetzt. Die Hauptschuldnerin unterzeichnete am 16. Januar 1997 zwei Fortsetzungsverträge unter den Geschäftsnummern der ursprünglichen Darlehen. Nach Zahlungseinstellung durch die Hauptschuldnerin und Anordnung der Zwangsverwaltung über die Immobilie kündigte die Klägerin am 29. Juni 2001 die Geschäftsverbindung zur Hauptschuldnerin und stellte die Hauptforderung in Höhe von 1.431.759,61 DM zzgl. Zinsen und Kosten fällig. Ab Februar 2002 verhandelte sie mit der Hauptschuldnerin über eine vergleichsweise Lösung. Am 4. Juni 2004 nahm sie den Beklagten aus den Bürgschaften in Anspruch. Am 13. Oktober 2004 erhob sie Bürgschaftsklage, die dem Beklagten am 5. November 2004 zugestellt wurde. Am 19. Juni 2007 teilte die Klägerin dem Landgericht mit, dass die "langwierigen außergerichtlichen Verhandlungen" mit den Beteiligten gescheitert seien. Am 2. März 2007 erwirkte sie die Anordnung der Zwangsversteigerung der Immobilie und am 27. Dezember 2007 den Erlass eines Mahnbescheids gegen die Hauptschuldnerin.
Der Beklagte erhebt verschiedene Einwendungen gegen die Bürgschaften und die Hauptforderung. Unter anderem beruft er sich auf die Verjährung der Hauptforderung.
Die zuletzt auf Zahlung von 697.481,42 € nebst Zinsen gerichtete Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
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Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Hauptforderung sei vorbehaltlich der Hemmung ihrer Verjährung gemäß § 203 BGB mit Ablauf des 31. Dezember 2004 verjährt. Eine mögliche Verjährungshemmung durch Verhandlungen zwischen Klägerin und Hauptschuldnerin entfalte gemäß § 768 Abs. 2 BGB keine Wirkung zu Lasten des Beklagten. Dessen Berufung auf die Verjährung der Hauptforderung sei nicht treuwidrig, da er die Hauptforderung in unverjährter Zeit weder anerkannt noch an den Vergleichsverhandlungen der Klägerin mit der Hauptschuldnerin teilgenommen habe. Die Tatsache, dass der Beklagte ab Mai 2005 mit der Klägerin über eine Gesamtlösung verhandelt habe, stehe dem nicht entgegen, denn die Hauptforderung sei zu diesem Zeitpunkt bereits verjährt gewesen.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand. Nach den bislang getroffenen Feststellungen hat das Berufungsgericht die Bürgschaftsforderung der Klägerin gegen den Beklagten aus § 765 Abs. 1 BGB zu Unrecht verneint.
1. Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht zwar davon ausgegangen, dass die Hauptforderung durch die fristlose Kündigung der Klägerin vom 29. Juni 2001 fällig geworden ist, so dass die dreijährige Verjährungsfrist gemäß §§ 195, 199 Abs. 1 BGB, Art. 229 § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 EGBGB für die Hauptforderung am 1. Januar 2002 zu laufen begonnen hat, und dass diese Frist am 31. Dezember 2004 abgelaufen wäre, wenn sie nicht vorher gehemmt worden wäre.
2. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht jedoch gemeint, der Beklagte könne sich mit Erfolg auf die Verjährung der Hauptforderung mit Ablauf des 31. Dezember 2004 berufen, weil eine eventuelle Verjährungshemmung durch Verhandlungen zwischen Klägerin und Hauptschuldnerin gemäß § 768 Abs. 2 BGB keine Wirkung zu seinen Lasten entfalte.
Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden und eingehend begründet hat, ist eine Hemmung der Verjährung gemäß § 203 Satz 1 BGB, die dadurch eintritt, dass der Hauptschuldner mit dem Gläubiger ernsthaft über den Bestand der Hauptschuld verhandelt, auch gegenüber dem Bürgen wirksam, da dies vom Gesetzgeber erkennbar so gewollt ist und solche Verhandlungen einem Verjährungsverzicht durch den Hauptschuldner nicht vergleichbar sind (Senat, Urteil vom 14. Juli 2009 - XI ZR 18/08, WM 2009, 1597, Tz. 21 ff., vorgesehen für BGHZ).
Hier ist mangels gegenteiliger Feststellungen des Berufungsgerichts gemäß dem Vortrag der Klägerin davon auszugehen, dass die im Februar 2002 begonnenen Verhandlungen der Klägerin mit der Hauptschuldnerin über eine vergleichsweise Lösung bis zur Mitteilung über das Scheitern durch den Schriftsatz vom 19. Juni 2007 angedauert haben und ernsthafter Natur waren. Danach war die Verjährung der Hauptforderung gemäß § 203 BGB in der Zeit von Februar 2002 bis Juni 2007 gehemmt, so dass vor Erlass des Mahnbescheids gegen die Hauptschuldnerin im Dezember 2007, durch den die Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB erneut gehemmt worden ist, keine Verjährung der Hauptforderung eingetreten ist.
III.
Das Berufungsurteil ist nach alledem aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif, weil das Berufungsgericht - von seinem Standpunkt aus konsequent - weder im Hinblick auf die vom Beklagten erhobene Verjährungseinrede Feststellungen zur konkreten Dauer der Verhandlungen zwischen der Klägerin und der Hauptschuldnerin noch gegebenenfalls zu Grund und Höhe der Klageforderung getroffen hat. Daher ist sie zur weiteren Sachaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dies gibt der Klägerin Gelegenheit, dem - bislang nicht im Vordergrund des Rechtsstreits stehenden - Umstand Rechnung zu tragen, dass die Tilgung der verbürgten Darlehen nach Ablauf des Jahres 1998 ohne Zustimmung des Beklagten ausgesetzt worden ist (vgl. insoweit BGH, Urteil vom 6. April 2000 - IX ZR 2/98, WM 2000, 1141, 1143).
Wiechers Joeres Mayen
Ellenberger Matthias
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056629
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100204
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I ZR 160/08
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Beschluss
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Art 103 Abs 1 GG
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vorgehend OLG Frankfurt, 24. Juli 2008, Az: 6 U 254/07, Urteil vorgehend LG Frankfurt, 7. November 2007, Az: 2/6 O 267/06, Urteil nachgehend OLG Frankfurt, 27. Mai 2010, Az: 6 U 254/07, Urteil nachgehend BGH, 7. Juli 2011, Az: I ZR 120/10, Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen
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DEU
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Gehörsverletzung durch Nichterhebung eines Beweises
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Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 24. Juli 2008 gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
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Die Beklagte macht zu Recht eine entscheidungserhebliche Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG geltend.
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte in ihrer vom Kläger beanstandeten Broschüre unter Verstoß gegen § 3 Satz 2 Nr. 1 HWG den Eindruck einer therapeutischen Wirksamkeit ihrer KernspinResonanzTherapie erweckt, die dieser Therapie fehlt oder zumindest wissenschaftlich nicht hinreichend gesichert ist.
Das Landgericht hatte angenommen, dass die Aushändigung der Broschüre an Patienten nicht ausgeschlossen sei und der der Broschüre nach dem Vortrag der Beklagten beigefügte Aufklärungshinweis die Irreführung der Patienten nicht beseitigte.
Das Berufungsgericht hat demgegenüber zugunsten der Beklagten unterstellt, dass die beanstandete Broschüre nur an Ärzte zum Zwecke der Weiterleitung an die Krankenkassen ausgegeben werde, und die Frage, ob der Aufklärungshinweis entsprechend dem Vortrag der Beklagten die vom Kläger geltend gemachte Irreführung verhinderte, offen gelassen. Es hätte auf dieser - vom Standpunkt des Landgerichts abweichenden - Grundlage dann aber dem unter Zeugenbeweis gestellten Vortrag der Beklagten nachgehen müssen, dass (auch) die Ärzte von dem Aufklärungshinweis (schon vorab) in einer Weise Kenntnis erhielten, die eine Irreführung ausschließe. Die Nichterhebung dieses Beweises ist daher offenkundig unrichtig und verletzt, da sie im Prozessrecht keine Stütze findet, den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör (vgl. BVerfGE 69, 141, 143 f.; 69, 145, 149; 75, 302, 312; BVerfG, Kammerbeschl. v. 5.11.2008 - 1 BvR 1822/08, juris Tz. 3 f. m.w.N.).
Bornkamm Pokrant Büscher
Schaffert Koch
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100056630
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100121
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I ZR 27/07
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Urteil
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§ 27 Abs 1 S 1 LFGB, § 27 Abs 1 S 2 Nr 1 Alt 2 LFGB
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vorgehend OLG Hamm, 16. Januar 2007, Az: 4 U 99/06, Urteil vorgehend LG Bielefeld, 9. Mai 2006, Az: 15 O 54/06, Urteil
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DEU
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Irreführende Werbung für ein kosmetisches Mittel: Behauptung der Wirksamkeit von Coffein gegen Haarausfall; Voraussetzungen der hinreichenden wissenschaftlichen Absicherung
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 16. Januar 2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Beklagte bewarb das von ihr hergestellte und im Rahmen ihrer Produktlinie "P." vertriebene Haarpflegemittel "Coffein-Shampoo" in einer am 6. März 2006 in der Zeitschrift "B." erschienenen Anzeige mit den Angaben, die im nachstehend wiedergegebenen Klageantrag unter den Nummern 1 und 2 aufgeführt sind. In ihrem Internetauftritt warb die Beklagte für die Produktlinie "P." mit den im Klageantrag unter den Nummern 3 bis 9 genannten Angaben.
Der Kläger, der Verein Sozialer Wettbewerb e.V., dem unter anderem Heilpraktiker, Hersteller von Kosmetika, Betreiber von Kurkliniken, Hersteller und Vertreiber von Naturheilmitteln und pharmazeutischer Produkte sowie Lebensmittelunternehmer angehören, hält diese Werbeaussagen für sachlich unrichtig, weil Coffein die ihm dort in Bezug auf Haarausfall zugeschriebenen Wirkungen nicht habe. Jedenfalls seien solche Wirkungen nicht wissenschaftlich gesichert. Dasselbe gelte für die im Internetauftritt der Beklagten auch angesprochenen Inhaltsstoffe aus der Traubensilberkerze und das dort ebenfalls erwähnte natürliche Soja.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
der Beklagten unter Androhung näher bezeichneter Ordnungsmittel zu untersagen, im geschäftlichen Verkehr für "P."-Produkte wie folgt zu werben
1. Mit Coffein gegen Haarausfall
2. Jetzt haben deutsche Wissenschaftler einen Stoff entwickelt, der die Haarwurzel vor hormonbedingten Erschöpfungszuständen schützt: Ein Phyto-Coffein-Complex …
wie geschehen in der Werbung in der Zeitschrift "B." gemäß Anlage K 2
und mit den Aussagen
3. In der Menopause (Wechseljahre) gerät der Hormonhaushalt einer Frau aus dem Gleichgewicht und stört so das Haarwachstum. Unsere Forschung hat mit renommierten Wissenschaftlern und modernsten Technologien daran gearbeitet, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Daraus wurde ein Phyto-Coffein-Complex entwickelt, der die Haarwurzeln vor dem negativen Einfluss des männlichen Hormons (Testosteron) schützt, wenn der Anteil weiblicher Hormone (Östrogene) sinkt. Daher ist dieser Wirkstoff-Complex ein wichtiger Bestandteil aller P. Produkte.
4. Die Dr. W.-Forschung hat in Zusammenarbeit mit dem dermato-logischen Fachbereich der Universitätsklinik Jena einen Phyto-Coffein-Complex entwickelt, der die Haarwurzeln vor hormonbedingten Erschöpfungszuständen schützt. Er verhindert, dass Testosteron die Haarwurzeln angreift und so die Energieversorgung einschränkt.
5. Für kräftigen Haarwuchs und festes Haar ab Vierzig. Die coffeinhaltige Rezeptur dieses Tonikums trägt dazu bei, dass das Haarwachstum nach der Menopause (Wechseljahre) nicht erschlafft.
6. Durch erbliche Veranlagung wächst in der Menopause der Einfluss von Testosteron. Er stört auch das Haarwachstum, weil die Haarwurzeln vorzeitig erschlaffen. Hochkonzentrierte Pflanzenwirkstoffe schützen davor und normalisieren die Haarproduktion. Coffein und weitere wertvolle Inhaltsstoffe aus Traubensilberkerze (Cimicifuga racemosa) und natürliches Soja (Glycine soja) ergänzen sich in der Schutzwirkung und kräftigen die geschwächten Haarwurzeln.
7. P. Coffein-Tonikum:
Eine Anwendungsbeobachtung an der Universitätsklinik Jena zeigt: 75% der Testpersonen stellen subjektiv einen deutlichen bis sehr starken Haarausfall fest, der sich teilweise um bis zu 3 Schweregrade verbesserte.
8. P. Außen-Innen-Kur:
Eine Anwendungsbeobachtung des Privatdozenten Dr. med. G. L. hat gezeigt:
Eine viermonatige Kombinationsbehandlung aus P. Haar-Aktiv-Kapseln und Coffein-Serum führte zu einer Verringerung des androgenetischen Haarausfalls bei 85% der Probandinnen.
9. Die antiandrogene Wirkung der Phytoflavone helfen auch in der Haarwurzel, deren Widerstandskraft zu stärken und die Energieversorgung zu verbessern. Damit unterstützen sie das Wachstum und die Regeneration der Haarwurzeln. Frauen in der Menopause, die den nachlassenden Östrogenschutz an der steigenden Zahl der ausfallenden Haare messen, können mit den phytoöstrogenen Pflanzeninhaltsstoffen, Radikalfängern und Coffein diesen Haarausfall wirksam und nachhaltig bekämpfen. Sie erhalten ihr Haar in einem gesunden und kraftvollen Zustand.
wie geschehen in der Internetwerbung der Beklagten vom 14. Februar 2006 gemäß Anlage K 3.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben (LG Bielefeld MD 2006, 948). Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
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I. Das Berufungsgericht hat die Unterlassungsklage für gemäß §§ 8, 3, 4 Nr. 11 UWG (2004) i.V. mit § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Fall 2 LFGB begründet erachtet. Die Beklagte habe die Wirkungsweise ihrer Mittel mit den beanstandeten Aussagen als wissenschaftlich gesichert dargestellt. Sie habe aber nicht bewiesen, dass ihre Werbeaussage gesicherter Stand der Wissenschaft sei. Die Beklagte könne den ihr insoweit obliegenden Beweis nicht durch den Nachweis erbringen, dass die von ihr vorgelegten Untersuchungen lege artis durchgeführt worden seien und die sich aus ihnen ergebenden Wirkungsaussagen zuträfen, weil auch etwaige neue Erkenntnisse immer noch nicht als gesicherter Stand der Wissenschaft angesehen werden könnten. Diese Untersuchungen wiesen im Übrigen selbst nicht aus, dass die Wirkung von Coffein gegen erbbedingten Haarausfall als gesicherter Stand der medizinischen Wissenschaft angesehen werden könne.
II. Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die von diesem bislang getroffenen Feststellungen tragen nicht seine Annahme, dem Kläger stünden die Klageansprüche zu, weil die Beklagte nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Fall 2 LFGB irreführend für ihre kosmetischen Mittel geworben habe.
1. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 LFGB ist es verboten, kosmetische Mittel unter irreführender Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung gewerbsmäßig in den Verkehr zu bringen oder für kosmetische Mittel allgemein oder im Einzelfall mit irreführenden Darstellungen oder sonstigen Aussagen zu werben. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LFGB liegt eine Irreführung insbesondere dann vor, wenn einem kosmetischen Mittel Wirkungen beigelegt werden, die ihm nach den Erkenntnissen der Wissenschaft nicht zukommen oder die wissenschaftlich nicht hinreichend gesichert sind. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist eine Werbeaussage, die inhaltlich zutrifft, nicht irreführend i.S. von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LFGB.
a) Die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 LFGB enthält keine Erweiterung, sondern lediglich eine der Konkretisierung dienende Erläuterung des Irreführungsverbots in § 27 Abs. 1 Satz 1 LFGB. Dies folgt aus dem Wortlaut ("insbesondere") sowie aus dem systematischen Verhältnis dieser Bestimmung zum ihr vorangehenden Satz 1. Die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 2 LFGB enthält lediglich nicht abschließende Regelbeispiele des in Satz 1 geregelten Irreführungsverbots (vgl. Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, C 102, Stand November 2005, § 27 LFGB Rdn. 34 f. und 41; Reinhart in Meyer/Streinz, LFGB BasisVO, § 27 LFGB Rdn. 33; Zindel, ZLR 1983, 396, 397; vgl. ferner - zur entsprechenden Regelung für Lebensmittel in § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 LFGB - Zipfel/Rathke aaO C 102, Stand Juli 2005, § 11 LFGB Rdn. 186).
b) Die Regelung des § 27 Abs. 1 LFGB ist zudem richtlinienkonform in diesem Sinne auszulegen, weil die Richtlinie 76/768/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel für diese Mittel - im vorliegenden Fall Haarbehandlungsmittel (vgl. Art. 1 Abs. 1 und 2 i.V. mit Anhang I der Richtlinie) - eine abschließende Harmonisierung der nationalen Vorschriften über die Verpackung, die Etikettierung sowie die Werbung herbeigeführt hat (vgl. EuGH, Urt. v. 2.2.1995 - C-315/92, Slg. 1994, I-317 = GRUR 1994, 303 Tz. 11 = WRP 1994, 380 - Clinique; Urt. v. 28.1.1999 - C-77/97, Slg. 1999, I-431 = GRUR Int. 1999, 349 Tz. 24 = WRP 1999, 311 - Unilever ./. SmithKline Beecham; Urt. v. 13.1.2000 - C-220/98, Slg. 2000, I-117 = GRUR Int. 2000, 354 Tz. 23 = WRP 2000, 289 - Lifting Creme; Urt. v. 24.10.2002 - C-99/01, Slg. 2002, I-9375 = ZLR 2003, 63 Tz. 17 - Linhart und Biffl). Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 76/768/EWG bestimmt, dass die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen von kosmetischen Mitteln nicht aufgrund der in dieser Richtlinie und ihren Anhängen enthaltenen Anforderungen ablehnen, verbieten oder beschränken dürfen, wenn sie den Bestimmungen dieser Richtlinie und ihrer Anhänge entsprechen. Nach Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 1 (früher: Abs. 2) der Richtlinie 76/768/EWG treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass bei der Etikettierung, der Aufmachung für den Verkauf und der Werbung für kosmetische Mittel nicht Texte, Bezeichnungen, Warenzeichen, Abbildungen und andere bildhafte oder nicht bildhafte Zeichen verwendet werden, die Merkmale vortäuschen, die die betreffenden Erzeugnisse nicht besitzen. Der abschließende Charakter dieser Regelung hat zur Folge, dass die Mitgliedstaaten nicht mehr befugt sind, strengere nationale Maßnahmen zum Zweck der Bekämpfung irreführender Werbung in Bezug auf die Merkmale kosmetischer Mittel zu erlassen (EuGH ZLR 2003, 63 Tz. 24 - Linhart und Biffl). Wirkungen eines Mittels fallen unter den Begriff der Merkmale des Mittels i.S. von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 76/768/EWG (vgl. EuGH ZLR 2003, 63 Tz. 32 - Linhart und Biffl). Mit Blick auf Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 76/768/EWG kann eine wegen Irreführung unzulässige Werbung über Wirkungen eines kosmetischen Mittels i.S. von § 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 LFGB folglich nur angenommen werden, wenn das betreffende Mittel die behaupteten Wirkungen tatsächlich nicht besitzt.
2. Das Berufungsgericht hat festgestellt, die beanstandeten Werbeaussagen der Beklagten würden von den angesprochenen Verbrauchern dahin verstanden, dass die Mittel der Beklagten durch den Inhaltsstoff Coffein dem erbbedingten Haarausfall vorbeugen sollen. Dass die Mittel der Beklagten diese Wirkung nicht besitzen, hat das Berufungsgericht jedoch nicht festgestellt. Die Annahme einer irreführenden Werbung i.S. von § 27 Abs. 1 und 2 LFGB kann daher nicht darauf gestützt werden, die Mittel der Beklagten erreichten die behauptete Wirkung nicht.
3. Das Berufungsgericht ist ferner davon ausgegangen, die Beklagte habe in der beanstandeten Werbung die Wirksamkeit von Coffein gegen Haarausfall als wissenschaftlich gesichert dargestellt. Auch insoweit tragen die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts die Annahme einer irreführenden Werbung i.S. von § 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 LFGB aber nicht.
a) Die Auffassung des Berufungsgerichts, in der beanstandeten Werbung werde die Wirksamkeit von Coffein als wissenschaftlich gesichert dargestellt, lässt allerdings keinen Rechtsfehler erkennen. In der Werbung vom 6. März 2006 wird im Zusammenhang mit der beworbenen Wirkung des "Phyto-Coffein-Complexes" davon gesprochen, deutsche Wissenschaftler hätten einen Stoff entwickelt, der die Haarwurzel vor hormonbedingten Erschöpfungszuständen schütze. Im Internetauftritt ist davon die Rede, dieser Stoff sei in Zusammenarbeit mit dem dermatologischen Fachbereich der Universitätsklinik Jena entwickelt worden. Weiter wird auf Ergebnisse von Anwendungsbeobachtungen hingewiesen, die an der Universitätsklinik Jena sowie von einem Bonner Privatdozenten durchgeführt worden seien. Es ist insbesondere im Hinblick auf die maßgebliche Erwartung eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers (vgl. EuGH ZLR 2003, 63 Tz. 31 - Linhart und Biffl) nicht erfahrungswidrig (§ 286 ZPO), wenn das Berufungsgericht diese Angaben dahin gewürdigt hat, damit werde die Wirksamkeit von Coffein gegen Haarausfall als objektiv richtig und zugleich als wissenschaftlich gesichert dargestellt. Entgegen der Auffassung der Revision wird angesichts des Gesamtzusammenhangs der beanstandeten Angaben allein durch den Umstand, dass nur deutsche Wissenschaftler genannt werden, in den beanstandeten Werbeanzeigen nicht deutlich gemacht, dass die behauptete Wirkung wissenschaftlich noch nicht gesichert sei.
b) Eine Irreführung im Hinblick auf die in der Werbung der Beklagten enthaltene Aussage, die behauptete Wirkung von Coffein sei wissenschaftlich gesichert, kann jedoch gleichfalls nur angenommen werden, wenn davon auszugehen ist, dass eine solche wissenschaftliche Absicherung nicht gegeben ist. Auch der Umstand, dass bestimmte Wirkungen eines Mittels durch Tests oder ähnliche wissenschaftliche Methoden nachgewiesen sind, gehört zu den Merkmalen des Mittels i.S. von Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 76/768/EWG (vgl. EuGH ZLR 2003, 63 Tz. 30 ff. - Linhart und Biffl, zu der Angabe "dermatologisch gestestet"). Die Revision rügt mit Recht, dass das Berufungsgericht das Fehlen einer hinreichenden wissenschaftlichen Absicherung der behaupteten Wirkung von Coffein nicht rechtsfehlerfrei festgestellt hat. Das Berufungsgericht hat zu strenge Anforderungen an eine hinreichende wissenschaftliche Absicherung i.S. von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Fall 2 LFGB gestellt.
aa) Das Berufungsgericht hat den von der Beklagten angetretenen Beweis durch Sachverständigengutachten dafür, dass die von ihr angeführten Untersuchungen lege artis durchgeführt worden seien und die sich aus ihnen ergebende Wirkungsaussage zutreffend sei, für unbeachtlich gehalten. Zur Begründung hat es ausgeführt, es komme nicht darauf an, ob die Untersuchungen fachgerecht erfolgt und ihre Ergebnisse richtig seien, weil auch etwaige neue Erkenntnisse immer noch nicht als gesicherter Stand der Wissenschaft angesehen werden könnten.
bb) Dabei ist das Berufungsgericht zwar zunächst rechtlich zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagte die Verantwortung für die Richtigkeit ihrer Wirkungsaussage trifft und sie diese deshalb gegebenenfalls auch beweisen muss. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Hersteller eines kosmetischen Mittels nach Art. 7a Abs. 1 der Richtlinie 76/768/EWG sicherzustellen hat, dass den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zu Kontrollzwecken bestimmte Angaben leicht zugänglich sind, und nach Absatz 1 lit. g dieser Vorschrift dazu der Nachweis der für das kosmetische Mittel angepriesenen Wirkung gehört, wenn dies aufgrund der Beschaffenheit des Erzeugnisses oder der angepriesenen Wirkung gerechtfertigt ist.
cc) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts setzt die hinreichende wissenschaftliche Absicherung i.S. von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Fall 2 LFGB jedoch nicht voraus, dass die dem beworbenen Mittel beigelegte Wirkung in dem Sinne gesicherter Stand der Wissenschaft geworden ist, dass darüber zunächst eine allgemeine wissenschaftliche Diskussion geführt worden ist. Die hinreichende wissenschaftliche Absicherung kann sich vielmehr - auch ohne einen entsprechenden Forschungsstreit - schon aus einer oder mehreren einzelnen Arbeiten ergeben, sofern diese auf überzeugenden Methoden und Feststellungen beruhen (vgl. Zipfel/Rathke aaO § 27 LFGB Rdn. 43; Reinhart in Meyer/Streinz aaO § 27 LFGB Rdn. 39).
Die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zur Durchführung von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 76/768/EWG zu ergreifen haben, müssen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (vgl. EuGH ZLR 2003, 63 Tz. 26 - Linhart und Biffl, m.w.N.). Dies gilt folglich auch für die Anforderungen, die an den Nachweis zu stellen sind, ob das kosmetische Mittel eine von dem Werbenden behauptete Wirkung besitzt oder nicht. In diesem Zusammenhang ist weiter zu beachten, dass mit der Richtlinie 76/768/EWG der Hauptzweck der Erhaltung der Volksgesundheit verfolgt wird (vgl. Erwägungsgrund 3 der Richtlinie). Danach ist das Verbot kosmetischer Mittel wegen Irreführung über die ihnen beigelegten Wirkungen mit der Richtlinie 76/768/EWG nicht vereinbar, wenn - wovon nach dem unter Beweis gestellten Vorbringen der Beklagten für die rechtliche Beurteilung in der Revisionsinstanz mangels abweichender Feststellungen des Berufungsgerichts auszugehen ist - lege artis durchgeführte Untersuchungen zu dem Ergebnis geführt haben, dass die betreffende Wirkungsaussage zutreffend ist, ablehnende wissenschaftliche Stellungnahmen von unabhängigen Wissenschaftlern zu der betreffenden Studie nicht vorliegen und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Mittel gesundheitsschädlich ist.
III. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dieses die erforderlichen Feststellungen zur hinreichenden wissenschaftlichen Absicherung der behaupteten Wirkung von Coffein nachzuholen haben.
Bergmann Pokrant Büscher
Schaffert Koch
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100056630&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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BMJV
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JURE100056663
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100128
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III ZB 64/09
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§ 91 Abs 1 ZPO, § 91 Abs 2 S 1 Halbs 2 ZPO, § 91 Abs 2 S 2 ZPO
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vorgehend LG Schwerin, 8. Juli 2009, Az: 5 T 380/08, Beschluss vorgehend AG Schwerin, 7. Juli 2008, Az: 17 C 174/07
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DEU
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Kostenfestsetzungsverfahren: Erstattungsfähigkeit der Terminsreisekosten des auswärtigen Prozessbevollmächtigten
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Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Einzelrichters der 5. Zivilkammer des Landgerichts Schwerin vom 8. Juli 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 297,25 € festgesetzt.
Gerichtskosten für das Rechtsbeschwerdeverfahren werden nicht erhoben.
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I.
In dem der Rechtsbeschwerde zugrunde liegenden Verfahren hat die Klägerin, vertreten durch eine Anwaltskanzlei aus D., im Urkundsprozess gegen die Beklagte eine Forderung über 1.140,81 € nebst außergerichtlicher Kosten und Zinsen geltend gemacht. Nach der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht S. am 27. Februar 2008 haben sich die Parteien verglichen (Beschluss gemäß § 278 Abs. 6 ZPO vom 24. April 2008). Hierbei hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der gegeneinander aufgehobenen Kosten des Vergleichs übernommen. Im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens hat die Klägerin unter anderem 303 € (2 x 0,30 € x 505 km) Fahrtkosten sowie 60 € Abwesenheitsgeld ihrer Prozessbevollmächtigten nach Nr. 7003, 7005 VV RVG geltend gemacht. Das Amtsgericht S. hat stattdessen lediglich die fiktiven Kosten eines in S. ansässigen Unterbevollmächtigten zur Teilnahme am Verhandlungstermin in Höhe von 65,75 € berücksichtigt. Die sofortige Beschwerde der Klägerin hat die 5. Zivilkammer des Landgerichts S. durch ihren Vorsitzenden als Einzelrichter mit Beschluss vom 14. Mai 2009 zurückgewiesen. Auf die hiergegen erhobene Gehörsrüge gemäß § 321a ZPO hat die 5. Zivilkammer - erneut durch den Vorsitzenden als Einzelrichter - mit Beschluss vom 8. Juli 2009 das Beschwerdeverfahren gemäß § 321a Abs. 5 ZPO fortgeführt und den Beschluss vom 14. Mai 2009 - unter Aufrechterhaltung im Übrigen - dahingehend ergänzt, dass die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen wird. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 575 ZPO). Ihre Zulassung ist nicht deshalb unwirksam, weil der Einzelrichter entgegen § 568 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO anstelle des Kollegiums entschieden hat. Der angefochtene Beschluss unterliegt jedoch der Aufhebung, weil er unter Verletzung des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ergangen ist. Der Einzelrichter durfte auf der Grundlage seiner Auffassung, wonach die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen ist, nicht selbst entscheiden. Nach § 568 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO überträgt der Einzelrichter das Verfahren dem Beschwerdegericht zur Entscheidung in der im Gerichtsverfassungsgesetz vorgeschriebenen Besetzung, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Hierbei umfasst der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung - wie in § 348 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und § 526 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1 ZPO - neben der grundsätzlichen Bedeutung im engeren Sinne die in § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO - wie in § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO - genannten Fälle der Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (vgl. nur BGHZ 154, 200, 202; BGH, Beschlüsse vom 9. März 2006 - V ZB 178/05 - juris Rn. 11; 22. Januar 2008 - X ZB 27/07 - juris Rn. 5; 16. Juli 2009 - V ZB 45/09 - juris Rn. 7; 17. September 2009 - V ZB 44/09 - juris Rn. 5). Mit seiner gegenteiligen Entscheidung hat der Einzelrichter damit die Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache dem Kammerkollegium als dem gesetzlich zuständigen Richter entzogen. Dies führt wegen Verletzung des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückweisung der Sache an das Beschwerdegericht (BGH, aaO; siehe auch Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2005 - III ZB 66/05 - juris Rn. 3 zu § 17a Abs. 4 Satz 4-6 GVG).
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
Nach § 91 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO sind Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, insoweit zu erstatten, als seine Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur Beschlüsse vom 16. Oktober 2002 - VIII ZB 30/02 - juris Rn. 14 ff; 11. März 2004 - VII ZB 27/03 - NJW-RR 2004, 858; 2. Dezember 2004 - I ZB 4/04 - juris Rn. 19; 13. September 2005 - X ZB 30/04 - NJW-RR 2005, 1662; 16. April 2008 - XII ZB 214/04 - NJW 2008, 2122, 2123 f, Rn. 7, 14) stellt die Zuziehung eines am Wohn- oder Geschäftsort der Partei ansässigen Rechtsanwalts durch eine an einem auswärtigen Gericht klagende Partei im Regelfall eine solche Maßnahme zweckentsprechender Rechtsverfolgung dar. Ein tragender Grund hierfür ist die Annahme, dass üblicherweise ein persönliches mündliches Gespräch erforderlich und gewünscht ist. Ferner ist von Bedeutung, dass die Partei grundsätzlich ein berechtigtes Interesse daran hat, sich durch einen Rechtsanwalt ihres Vertrauens auch vor auswärtigen Gerichten vertreten zu lassen. Letzteres ist ein entscheidender Gesichtspunkt bereits für die Änderung des Lokalisationsprinzips in § 78 ZPO gewesen (vgl. BT-Drucks. 12/4993, S. 43, 53) und vom Bundesverfassungsgericht im Streit um die Singularzulassung als ein rechtlich anzuerkennender Vorteil für den Mandanten gewürdigt worden (BVerfGE 103, 1, 16).
b) Soweit das Beschwerdegericht in diesem Zusammenhang - unter Bezugnahme auf den diesbezüglichen Hinweis der Beklagten, dass die Klägerin vorprozessual sowie im Klage- und im Kostenfestsetzungsverfahren durch unterschiedliche sachbearbeitende Rechtsanwälte vertreten gewesen sei - das Fehlen eines "besonderen" bzw. "speziellen" anwaltlichen Vertrauensverhältnisses, das die Anreise eines dieser Rechtsanwälte zum Termin nach S. gerechtfertigt habe, moniert hat, ist dies rechtsfehlerhaft.
Bei der Prüfung der Notwendigkeit einer bestimmten Rechtsverfolgungs- oder Rechtsverteidigungsmaßnahme ist eine typisierende Betrachtungsweise geboten. Denn der Gerechtigkeitsgewinn, der bei einer übermäßig differenzierenden Beurteilung im Einzelfall zu erzielen ist, steht in keinem Verhältnis zu den sich ergebenden Nachteilen, wenn in nahezu jedem Einzelfall darum gestritten werden kann, ob die Kosten zu erstatten sind oder nicht (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 2. Dezember 2004, aaO Rn. 16; 13. September 2005, aaO; 28. Juni 2006 - IV ZB 44/05 - NJW 2006, 3008, 3009, Rn. 13; 11. Dezember 2007 - X ZB 21/07 - NJW-RR 2008, 1378, Rn. 8; 16. April 2008, aaO S. 2124, Rn. 19). Deshalb bedarf es für die Erstattungsfähigkeit von Reisekosten nicht der Feststellung im Einzelfall, dass die Partei zu dem den Termin wahrnehmenden Rechtsanwalt ein besonderes Vertrauensverhältnis gehabt hat. Abgesehen davon hat das Beschwerdegericht - selbst bei Zugrundelegung seiner Auffassung - nicht berücksichtigt, dass die Klägerin durchgängig durch Rechtsanwälte der Anwaltskanzlei B. aus D. vertreten worden ist, wobei Rechtsanwalt B., der die mündliche Verhandlung in S. für die Klägerin wahrgenommen hat, im Übrigen bereits die Anspruchsbegründung vom 16. November 2007 sowie die Replik vom 11. Januar 2008 unterzeichnet, es sich mithin bei ihm ersichtlich um den im Prozess sachbearbeitenden Rechtsanwalt der Kanzlei gehandelt hat.
c) Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Zuziehung eines am Wohn- oder Geschäftsort der Partei ansässigen Rechtsanwalts durch eine an einem auswärtigen Gericht klagende Partei im Regelfall eine Maßnahme zweckentsprechender Rechtsverfolgung darstellt, kann allerdings dann eingreifen, wenn schon im Zeitpunkt der Beauftragung des Anwalts feststeht, dass ein eingehendes Mandantengespräch für die Prozessführung nicht erforderlich sein wird. Dies kommt zum Beispiel in Betracht bei gewerblichen Unternehmen, die über eine eigene Rechtsabteilung verfügen, die die Sache bearbeitet hat. Die Zuziehung eines Rechtsanwalts am Ort des Prozessgerichts kann ferner zur Kostenersparnis zumutbar sein, wenn bei einem in tatsächlicher Hinsicht überschaubaren Streit um eine Geldforderung die Gegenseite versichert hat, nicht leistungsfähig zu sein und gegenüber einer Klage keine Einwendungen zu erheben (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 16. Oktober 2002, aaO Rn. 20; 2. Dezember 2004, aaO Rn. 20 f; 28. Juni 2006, aaO Rn. 8; 16. April 2008, aaO Rn. 8). Dass ein solcher Fall hier vorliegt, ist nicht ersichtlich und vom Beschwerdegericht auch nicht festgestellt worden. Nicht ausreichend ist es demgegenüber, wenn es sich - wie das Beschwerdegericht rückblickend meint - um einen einfach gelagerten Rechtsstreit handelt. Denn welche Schwierigkeiten die Führung eines Rechtsstreits aufwirft, ist für die rechtlich nicht versierte Partei in der Regel nicht überschaubar und hängt darüber hinaus wesentlich vom Verhalten der Gegenseite während des Prozesses ab (vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2002, aaO Rn. 21).
d) Ist danach die Hinzuziehung eines am Wohn- oder Geschäftsort der Partei ansässigen Rechtsanwalts zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig, ist der Partei regelmäßig auch das Recht zuzubilligen, sich durch diesen mit der Sache vertrauten Rechtsanwalt in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen, so dass dessen Reisekosten in vollem Umfang und nicht beschränkt auf die fiktiven Kosten eines unterbevollmächtigten Terminsvertreters zu ersetzen sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. September 2005, aaO; 11. Dezember 2007, aaO Rn. 9 f; siehe auch MünchKomm-ZPO/Giebel, 3. Aufl., § 91 Rn. 66; Zöller/Herget, ZPO, 28. Aufl., § 91 Rn. 13, Stichwort: Reisekosten des Anwalts). Auch im umgekehrten Fall, dass eine Partei, weil ausnahmsweise eine entsprechende Hinzuziehung nicht erforderlich ist, einen am Ort des Prozessgerichts ansässigen Rechtsanwalt beauftragt, würden Reisekosten - dann der Partei zu einem Informationsgespräch mit dem Anwalt - erstattungsfähig sein (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2002, aaO Rn. 17). § 91 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO verlangt insoweit keine zusätzliche Prüfung, ob im konkreten Einzelfall auch die Wahrnehmung des Verhandlungstermins gerade durch diesen Rechtsanwalt unbedingt erforderlich war. Vielmehr ist das Interesse der Partei an der Terminswahrnehmung durch ihren Anwalt gegenüber dem Interesse der Gegenseite an einer Kostenersparnis grundsätzlich vorrangig. Dem Umstand, dass die Reisekosten im Einzelfall - bei geringen Streitwerten und großer Entfernung zwischen Kanzleisitz und Prozessgericht - die Kosten eines Unterbevollmächtigten deutlich übersteigen können, kommt insoweit keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2007 - X ZB 21/07 - aaO Rn. 10).
IV.
Die Aufhebung führt zur Zurückverweisung der Sache an den Einzelrichter, der den angefochtenen Beschluss erlassen hat.
Wegen der durch die Rechtsbeschwerde angefallenen Gerichtskosten macht der Senat von der Möglichkeit des § 21 GKG Gebrauch.
Schlick Dörr Wöstmann
Seiters Tombrink
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JURE100056713
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100128
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III ZR 92/09
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Beschluss
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§ 280 Abs 1 BGB, § 311 Abs 2 BGB, § 328 BGB
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vorgehend OLG München, 3. Februar 2009, Az: 5 U 1738/08, Urteil vorgehend LG München I, 6. Dezember 2007, Az: 3 O 16194/06
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DEU
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Kapitalanlagegesellschaft: Haftung des als Mittelverwendungskontrolleur eingesetzten Wirtschaftsprüfers wegen unterlassenen Hinweis auf eine bislang unterlassene Verwendungskontrolle
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Die Beschwerde des Beklagten zu 1 gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 3. Februar 2009 - 5 U 1738/08 - wird zurückgewiesen.
Der Beklagte zu 1 hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Streitwert: bis 155.000 €.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zu 1 ist unbegründet. Nachdem der Senat in den Parallelverfahren III ZR 108/08 und III ZR 109/08, denen im Wesentlichen gleich gelagerte Sachverhalte zu Grunde lagen, mit Urteilen vom 19. November 2009 (ZIP 2009, 2446 und 2449) die von der Beschwerde aufgeworfenen Rechtsfragen, soweit sie entscheidungserheblich sind, zum Nachteil des Beklagten zu 1 beantwortet hat, ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts weder zur Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) noch zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO) erforderlich.
Nach diesen Entscheidungen gilt zusammengefasst Folgendes:
Den Beklagten zu 1 traf nach dem Vertrag über die Mittelverwendungskontrolle (MVKV) gegenüber den Anlegern unter anderem die Verpflichtung zu überprüfen, ob die Konditionen des Sonderkontos mit den in § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV genannten Kriterien übereinstimmten. Er hatte sich deshalb insbesondere zu vergewissern, dass sämtliche Verfügungsberechtigten nur gemeinsam mit ihm zeichnungsbefugt waren (III ZR 109/08 - ZIP 2009, 2449, 2450 Rn. 17 ff). Allerdings beschränkten sich die Pflichten des Beklagten zu 1 nicht auf diese Überprüfung und darauf, der Fondsgesellschaft gegenüber auf die Beseitigung der Mängel hinzuwirken. Gegenüber Anlegern, die - wie die Klägerin und ihre Rechtsvorgänger - dem Fonds nach Aufnahme seiner Tätigkeit beitraten, war der Beklagte zu 1 darüber hinaus verpflichtet, in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte (aaO S. 2451 Rn. 29). Bei Verletzung dieser Pflicht haftet der Beklagte zu 1 auf den so genannten Zeichnungsschaden (aaO S. 2452 Rn. 33). Seine Haftung scheitert nicht an der Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV. Diese Regelung ist wegen Verstoßes gegen § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam (III ZR 108/08 - ZIP 2009, 2446, 2447 f Rn. 11 ff).
Das Berufungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung im Wesentlichen diese Grundsätze angewandt. Soweit der Senat in dem Verfahren III ZR 109/08 dem Beklagten zu 1 vorbehalten hat, darzutun und gegebenenfalls zu beweisen, dass ihm die Erfüllung seiner Informationspflichten nicht möglich war (aaO S. 2452 Rn. 30), liegt hier - anders als in jenem Streitfall - eine Feststellung des Berufungsgerichts zu diesem Gesichtspunkt vor. Dieses hat ausgeführt, dem Beklagten zu 1 sei es (als ultima ratio) möglich gewesen, sich an die wirtschaftliche Fachpresse mit der Information zu wenden, dass bei dem Fonds eine durchgehende prospektgemäße Mittelverwendungskontrolle nicht sichergestellt sei. Diese tatrichterliche Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz ZPO abgesehen.
Schlick Dörr Herrmann
Hucke Tombrink
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BMJV
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JURE100056732
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BGH
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5. Zivilsenat
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20100108
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V ZR 208/08
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Urteil
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§ 241 Abs 2 BGB, § 249 BGB, § 251 Abs 2 BGB, § 254 BGB, § 280 Abs 1 BGB, § 311 Abs 2 BGB, § 3 Abs 5 VermG
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vorgehend OLG Dresden, 30. September 2008, Az: 9 U 935/07, Urteil vorgehend LG Zwickau, 11. Mai 2007, Az: 1 O 6/06
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DEU
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Schadensersatzpflicht des Verfügungsberechtigten beim Verkauf eines Grundstücks in den neuen Bundesländern wegen Verletzung der Pflicht zur Erkundigung nach angemeldeten Restitutionsansprüchen; Mitverschulden des Käufers und Ersatz seiner eigenen Arbeitskraft
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 30. September 2008 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als dem Kläger ein Anspruch auf Ersatz für seinen Arbeitsaufwand in der Zeit vom Vertragsschluss (21. Juni 2002) bis zur Information über die Anmeldungen (27. August 2002) aberkannt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die beklagte Sparkasse verkaufte dem Kläger, einem Rechtsanwalt und Notar a.D., mit notariellem Vertrag vom 21. Juni 2002 für 383.469 € ein Grundstück in Z. Von den zu diesem Zeitpunkt angemeldeten 21 vermögensrechtlichen Rückübertragungsansprüchen erfuhr der Kläger erst am 27. August 2002. Am 5. November 2003 erklärte er den Rücktritt von dem Kaufvertrag und verlangte Schadensersatz. Die Genehmigung des Kaufvertrages nach der Grundstückverkehrsordnung wurde am 11. Dezember 2003 erteilt. Die Beklagte akzeptierte den Rücktritt am 16. März 2004, lehnte aber die Leistung von Schadensersatz ab.
Der Kläger hat Schadensersatz in Höhe von insgesamt 166.093,98 € und die Feststellung der weitergehenden Schadensersatzpflicht der Beklagten verlangt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht dem Zahlungsantrag in Höhe von 63.826,07 € stattgegeben und es im Übrigen bei der Klageabweisung belassen. Mit seiner von dem Senat insoweit zugelassenen Revision möchte der Kläger die weitergehende Verurteilung der Beklagten zum Ersatz des ihm in der Zeit vom Vertragsschluss (21. Juni 2002) bis zur Information über die Anmeldungen (27. August 2002) entstandenen Arbeitsaufwands (Größenordnung: 26.000 €) erreichen. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
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I.
Das Berufungsgericht meint, die Beklagte sei dem Kläger - unabhängig von den zwischen den Parteien streitigen Zusagen der Beklagten - gemäß § 311 Abs. 2 BGB i.V.m. § 249 BGB unter Anrechnung eines Mitverschuldens des Klägers von 25% zum Ersatz des aus dem gescheiterten Verkauf entstandenen Schadens verpflichtet. Sie sei ihrer Erkundigungspflicht nach § 3 Abs. 5 VermG vor der in dem notariellen Vertrag enthaltenen Verfügung nicht nachgekommen. Ersatz für die eigene Arbeitskraft sei dem Geschädigten indessen nur zu leisten, wenn er sie gewinnbringend anderweitig hätte einsetzen können. Hierzu habe der Kläger nichts dargetan.
II.
Diese Erwägung hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
1. Die Beklagte ist dem Kläger allerdings, wovon das Berufungsgericht zutreffend ausgeht, nach §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 und 241 Abs. 2 BGB zum Ersatz des aus dem gescheiterten Verkauf entstandenen Schadens verpflichtet. Sie hat den Kläger nicht, wie geboten, vor Abschluss des Kaufvertrags, spätestens in dem Notartermin, darauf hingewiesen, dass die Erteilung der erforderlichen Grundstücksverkehrsgenehmigung und das Wirksamwerden des Vertrags unsicher waren. Sie handelte dabei auch fahrlässig, weil sie sich entgegen § 3 Abs. 5 VermG nicht vor dem Verkauf vergewissert hat, ob Anmeldungen vorlagen; damit hat sie die im Verkehr gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen (vgl. Senat, Urt. v. 16. Dezember 2005, V ZR 195/04, NJW-RR 2006, 733, 734; BGH, Urt. v. 17. Januar 2008, III ZR 224/06, NJW-RR 2008, 564, 565).
2. Zu der Entstehung seines Schadens hat allerdings auch der Kläger selbst durch eigene Nachlässigkeit beigetragen. Er musste zwar nicht, wie das Berufungsgericht meint, selbst ein Negativattest einholen. Das ist nach § 3 Abs. 5 VermG grundsätzlich Aufgabe des Verfügungsberechtigten. Die im Verkehr gebotene Sorgfalt verlangte von ihm indessen, sich nach der Einholung eines solchen Negativattestes durch die Beklagte zu erkundigen. Daran ändert eine Zusicherung der Anmeldefreiheit durch die Beklagte nichts. Der Vertrag war genehmigungsbedürftig. Diese Genehmigung war nur mit dem Nachweis der Anmeldefreiheit zu erlangen. Dieser wiederum ist praktisch nur mit einem Negativattest der zuständigen Behörde zu führen. Das musste jedenfalls dem Kläger als Rechtsanwalt und ehemaligem Notar klar sein. Den Mitverschuldensanteil des Klägers hat das Berufungsgericht mit 25% angesetzt. Dieser Ansatz ist auch unter Berücksichtigung des anderen, in der Sache aber gleichwertigen Anknüpfungspunktes für das Mitverschulden nicht zu beanstanden.
3. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht dem Kläger indessen einen Anspruch auf Ersatz des Arbeitsaufwands abgesprochen, der ihm in dem Zeitraum von dem Vertragsschluss (21. Juni 2002) bis zur Information über die Anmeldungen (27. August 2002) entstanden ist.
a) Seine Arbeitskraft hat der Kläger in diesem Zeitraum in dem Vertrauen auf das sichere Wirksamwerden des Vertrags eingesetzt. Dieser Einsatz beruht auf der Pflichtverletzung der Beklagten und ist deshalb nach § 251 Abs. 1 BGB unter Berücksichtigung des Mitverschuldens des Klägers (§ 254 BGB) in Geld zu ersetzen.
b) Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts hat die Beklagte dem Kläger auch für den vergeblichen Einsatz seiner eigenen Arbeitskraft in dem noch offenen Zeitraum Ersatz zu leisten. Der Senat hat zwar früher die von dem Berufungsgericht zugrunde gelegte Ansicht vertreten, für den Einsatz eigener Arbeitskraft sei dem Geschädigten Ersatz nur zu leisten, wenn er sie gewinnbringend anderweitig hätte einsetzen können (BGHZ 69, 34, 36). Diese Rechtsprechung hat der Senat aber seit längerem aufgegeben (BGHZ 131, 220, 224 ff.). Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es nur darauf an, ob die Arbeitskraft einen Marktwert hat und bei wertender Betrachtung vom Schadensersatz nicht auszugrenzen ist (BGHZ 174, 186, 194; BGH, Urt. v. 7. März 2001, X ZR 160/99, NJW-RR 2001, 887, 888). Feststellungen dazu hat das Berufungsgericht, von seinem Standpunkt aus folgerichtig, nicht getroffen.
III.
Die Sache ist deshalb nicht entscheidungsreif und an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Krüger Lemke Schmidt-Räntsch
Stresemann Czub
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BMJV
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public
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JURE100056733
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BGH
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5. Zivilsenat
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20100122
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V ZR 75/09
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Urteil
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§ 18 Abs 1 S 2 WoEigG, § 18 Abs 2 WoEigG, § 18 Abs 3 WoEigG
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vorgehend LG Dresden, 1. April 2009, Az: 2 S 173/08, Urteil vorgehend AG Borna, 29. Februar 2008, Az: 3 C 1319/07 W
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DEU
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Wohnungseigentum: Anspruch auf Veräußerung des Wohnungseigentums bei wechselseitigen Pflichtverletzungen
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Die Revision gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 1. April 2009 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
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Das Grundstück B. straße 30 in B. ist mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebaut. Es ist nach dem Wohnungseigentumsgesetz in vier Einheiten geteilt. Der Klägerin gehören die Wohnungen Nr. 2 bis 4, der Beklagten die Teileigentumseinheit Nr. 1. Zu dieser gehört das Sondereigentum an Ladenräumen im Erdgeschoß und weiteren Räumen im ersten Obergeschoss des Gebäudes, die über eine Außentreppe zu erreichen waren. Nach der Teilungserklärung stehen der Klägerin in der Wohnungseigentümerversammlung drei Stimmen, der Beklagten zwei Stimmen zu.
Verwalter der Wohnungseigentümergemeinschaft war zunächst der Ehemann der Beklagten. Später wurde es die Klägerin. Um das Jahr 1997 riss der Ehemann der Beklagten die Außentreppe ab, weil diese, wie die Beklagte behauptet, baufällig war. Seither sind die Räume im Obergeschoss der Teileigentumseinheit der Beklagten nur noch mit Hilfe eines von dem Nachbarhaus, das dem Ehemann der Beklagten gehört, geschaffenen Durchbruchs erreichbar. Anträge der Beklagten, die Neuerrichtung der Treppe auf die Tagesordnung der Eigentümerversammlung zu setzen oder die Neuerrichtung zu beschließen, blieben ohne Erfolg.
Mit der Zahlung des laufenden Hausgelds geriet die Beklagte bis zum Frühjahr 2007 mit einem Betrag von 5.631,05 € in Rückstand. Die rückständigen Beträge sind in Höhe von 5.092,81 € tituliert. Der titulierte Betrag übersteigt 3 % des Einheitswerts des Teileigentums der Beklagten. Vollstreckungsversuche verliefen erfolglos. Mit Schreiben vom 24. März 2007 drohte die Klägerin der Beklagten an, in der Eigentümerversammlung den Ausschluss der Beklagten aus der Gemeinschaft gemäß § 18 WEG zu beantragen. Am 26. Juni 2007 beschlossen die Wohnungseigentümer mit den drei Stimmen der Klägerin gegen die beiden Stimmen der Beklagten, der Beklagten ihr Teileigentum wegen der Rückstände auf das Hausgeld zu entziehen.
Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr Teileigentum zu veräußern. Die Beklagte hat eingewandt, auch die Klägerin verstoße gegen ihre Pflichten als Wohnungseigentümerin. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landgericht hat sie abgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung der Entscheidung des Amtsgerichts.
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I.
Das Berufungsgericht meint, die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Veräußerung des Teileigentums der Beklagten nach § 18 Abs. 1 WEG seien grundsätzlich gegeben. Trotzdem könne die Klägerin die Veräußerung nicht verlangen, weil auch sie gegen ihre Pflichten als Wohnungseigentümerin grob verstoßen habe. Zur Wiederherstellung der Treppe zu den Räumen der Beklagten im Obergeschoß bedürfe es eines Beschlusses der Wohnungseigentümer. Diesen habe die Klägerin pflichtwidrig verhindert, indem sie einen entsprechenden Antrag der Beklagten zunächst nicht in die Tagesordnung der Wohnungseigentümerversammlung aufgenommen und später einen entsprechenden Beschlussantrag mit der Mehrheit ihrer Stimmen abgelehnt habe.
II.
Das hält rechtlicher Nachprüfung stand. Ein durchsetzbarer Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Veräußerung ihres Teileigentums gemäß § 18 WEG besteht derzeit nicht.
1. Die Voraussetzungen eines Anspruchs der Klägerin gegen die Beklagte auf Veräußerung deren Teileigentums nach § 18 Abs. 1, Abs. 2 WEG sind gegeben. Eines wirksamen Beschlusses gemäß § 18 Abs. 3 WEG bedarf es bei einer aus nur zwei Mitgliedern bestehenden Eigentümergemeinschaft nicht, weil die für einen solchen Beschluss erforderliche, nach Köpfen zu bestimmende absolute Mehrheit nicht erreicht werden kann. An die Stelle des Beschlusses tritt gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 WEG die Klage des anderen Wohnungseigentümers gegen den Störer auf Veräußerung (LG Aachen ZMR 1993, 233; LG Köln ZMR 2002, 227; Jennißen/Heinemann, WEG, Rdn. 5; Riecke in Riecke/Schmid, WEG, 2. Aufl., § 18 Rdn. 39).
2. Bei der Entscheidung der Frage, ob die Pflichtverletzung des Störers zu einem Anspruch auf Veräußerung des Wohnungseigentums führt, darf das Verhalten des Störers nicht isoliert bewertet werden. Es sind vielmehr alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und die Interessen der Beteiligten insgesamt gegeneinander abzuwägen (Jennißen/Heinemann, aaO, Rdn. 13; Riecke, aaO, Rdn. 25 f.). Danach scheidet ein Anspruch auf Veräußerung aus, wenn der klagende Wohnungseigentümer ebenso gegen seine Pflichten wie der beklagte Eigentümer verstößt und der Anspruch auf Veräußerung mit umgekehrten Parteirollen rechtshängig gemacht werden könnte (Kreuzer in Anwaltshandbuch Wohnungseigentumsrecht, 2. Aufl., Teil 10 Rdn. 15).
So liegt es, soweit die Beklagte behauptet, auch die Klägerin habe das von ihr der Wohnungseigentümergemeinschaft geschuldete Hausgeld in erheblichem Maße nicht geleistet oder veruntreut. Feststellungen hierzu sind indessen nicht getroffen.
3. Die Veräußerungsklage scheitert aber auch dann, wenn das dem beklagten Wohnungseigentümer vorgeworfene Verhalten von dem Kläger provoziert ist (Kreuzer, aaO) oder sich sonst als treuwidrig darstellt (Vandenhouten in Niedenführ/Kümmel/Vandenhouten, WEG, 8. Aufl., § 18 Rdn. 22).
So liegt der Fall hier. Die Klägerin verhindert durch ihr Verhalten die Wiederherstellung der zur ordnungsmäßigen Nutzung der im Eigentum der Beklagten stehenden Räume im Obergeschoss des Hauses notwendigen Treppe und verstößt so in grober Weise gegen ihre Pflichten als Wohnungseigentümerin. Auch wenn die Treppe nur dazu dient, das Sondereigentum der Beklagten zu erreichen und, wie die Klägerin behauptet, in der Teilungserklärung dem Eigentum der Beklagten zugewiesen ist, handelt es sich bei der Treppe nach § 5 Abs. 1 letzte Alternative WEG zwingend um gemeinschaftliches Eigentum. Gleichgültig aus welchem Grund die Treppe abgerissen worden ist und ob die Räume im Obergeschoss derzeit von dem Nachbarhaus aus betreten werden können, gehört es zur ordnungsgemäßen Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums, die Treppe wiederherzustellen. Hierzu bedarf es nach § 22 Abs. 1 WEG eines entsprechenden Beschlusses der Wohnungseigentümer. Im Übrigen wird auf die zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts verwiesen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Krüger Klein Stresemann
Czub Roth
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057303
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BGH
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1. Strafsenat
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20100114
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1 StR 620/09
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Beschluss
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§ 244 Abs 3 S 2 StPO, § 251 Abs 1 Nr 1 StPO, § 251 Abs 2 Nr 1 StPO, § 251 Abs 2 Nr 3 StPO, § 251 Abs 4 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO
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vorgehend LG Baden-Baden, 7. August 2009, Az: 2 KLs 204 Js 1003/08, Urteil
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DEU
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Ablehnung eines Beweisantrags im Strafverfahren: Anforderungen an den Beweisantrag auf Vernehmung des geflohenen früheren Mitangeklagten als Zeuge; Verfahrensrüge wegen Zurückweisung des Beweisantrags; fehlerhafte Begründung des Beschlusses über die Verlesung der Zeugenaussage
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 7. August 2009 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
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Der Angeklagte wurde wegen (eines minder schweren Falles des) schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt.
Seine auf zwei Verfahrensrügen und die nicht näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Das Verfahren richtete sich ursprünglich auch gegen B. und war vor dem Amtsgericht Achern anhängig, das die Sache nach Hauptverhandlung an die Strafkammer verwies. Zum ersten Hauptverhandlungstermin vor der Strafkammer erschienen die Angeklagten nicht. Gegen beide erging Haftbefehl. Während der Haftbefehl gegen den Angeklagten alsbald vollstreckt werden konnte, konnte B. in der Folgezeit nicht ergriffen werden. Wiederholte gezielte Bemühungen der örtlich zuständigen Polizeireviere ihn aufzufinden, blieben erfolglos. Das Verfahren gegen ihn wurde abgetrennt, er wurde zur Festnahme ausgeschrieben. Ob und wann er ergriffen werden kann, ist nicht absehbar. Nachdem die Hauptverhandlung schon mehrere Wochen gedauert hatte, beantragte der Angeklagte, B. als Zeugen zu vernehmen. Als Anschrift wurde lediglich die aktenkundige frühere Anschrift genannt, wo er sich, wie der geschilderte Verfahrensgang ergibt, nicht mehr aufhielt. Die Strafkammer lehnte den Antrag unter Schilderung des dargelegten Verfahrensgangs ab, weil der Zeuge unerreichbar sei (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). Hiergegen wendet sich die Revision. Sie legt die inhaltliche Bedeutung einer Aussage B.'s für das Verfahren näher dar. Zur Frage, auf welche Weise sein aktueller Aufenthaltsort hätte festgestellt werden können, äußert sie sich nicht.
Die Rüge versagt.
a) Es liegt schon kein ordnungsgemäßer Beweisantrag vor. Hierfür ist neben der Benennung eines Beweisthemas nicht nur die Benennung eines Beweismittels erforderlich, sondern es ist regelmäßig auch anzugeben, auf welchem Wege das Beweismittel (der Zeuge) erreicht werden kann (vgl. BGH, Urt. vom 14. Juni 2006 - 2 StR 65/06; StV 1996, 581; Urt. vom 10. November 1992 - 1 StR 685/92 m.w.N.). Hier war verfahrenskundig, dass B. unter seiner letzten bekannten Anschrift nicht mehr erreichbar war, und dass intensive, schon vor der Stellung des Beweisantrags vom Gericht über mehrere Wochen hin entfaltete Bemühungen, seiner habhaft zu werden, erfolglos geblieben waren. Unter diesen Umständen ist allein die Angabe der früheren Anschrift nicht ausreichend. Erforderlich gewesen wäre in dem Antrag zumindest substantiierter Vortrag dazu, warum entgegen den bisher angefallenen Erkenntnissen doch Aussicht bestehen soll, B. unter dieser Anschrift zu finden, oder mit welchen vom Gericht bisher nicht ergriffenen Mitteln realistische Aussichten bestehen, den Aufenthaltsort zu ermitteln.
Daher fehlte es schon an einem zulässigen Beweisantrag.
b) Die Zurückweisung eines Antrags, den das Tatgericht zu Unrecht als Beweisantrag behandelt hat, kann die Revision nur dann begründen, wenn eine Verletzung der Aufklärungspflicht vorliegt (vgl. BGH StV 1996, 581; BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 13; BGH, Urt. vom 10. November 1992 - 1 StR 685/92 m.w.N.). Dies kann grundsätzlich der Fall sein, wenn bei der Suche nach einem der Sache nach nicht unbedeutenden Zeugen erkennbar sinnvolle Möglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden (BGH, Urt. vom 10. November 1992 - 1 StR 685/92). Allerdings wäre, zumal das Gericht nach der Beweisperson schon einige Zeit vergeblich mit Haftbefehl fahndete, auch unter dem Blickwinkel einer Aufklärungsrüge vorzutragen gewesen, welche konkreten, vom Gericht bisher nicht ergriffenen Möglichkeiten dies gewesen wären (vgl. BGH, Urt. vom 14. Juni 2006 - 2 StR 65/06). Daran fehlt es.
c) Darauf, dass wegen des aufgezeigten Mangels auch die auf die Unerreichbarkeit eines Zeugen gestützte Ablehnung eines Beweisantrags nicht i.S.d. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ordnungsgemäß gerügt wäre (vgl. Fischer in KK 6. Aufl. § 244 Rdn. 228; Temming in HK StPO 4. Aufl. § 344 Rdn. 20; Frister in SK-StPO 64. Lfg. § 244 Rdn. 256), kommt es hier daher nicht mehr an.
d) Abgesehen davon, dass hier unter keinem Aspekt eine zulässig erhobene Verfahrensrüge vorliegt, ist es aber auch der Sache nach offensichtlich nicht zu beanstanden, wenn ein ehemaliger Mitangeklagter nicht als Zeuge vernommen wird, weil er flüchtig ist und ohne konkrete Aussicht auf Erfolg mit Haftbefehl nach ihm gefahndet wird.
2. Die Strafkammer fasste ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung folgenden Beschluss: “Gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO wird die Niederschrift der Angaben des … B. in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Achern … verlesen.“
Der Beschluss wurde ausgeführt.
An dieses Verfahrensgeschehen knüpft die Revision an. Eine Verlesung gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, so trägt sie vor, setze das Einverständnis der Beteiligten mit der Verlesung voraus. Hier sei, wie auch das Protokoll der Hauptverhandlung belege, ein Einverständnis mit der Verlesung tatsächlich nicht eingeholt worden. Nach Eingang der Revisionsbegründung gab der Vorsitzende der Strafkammer eine - auch dem Beschwerdeführer bekannt gemachte - dienstliche Erklärung ab. Danach habe die Strafkammer - für alle Verfahrensbeteiligten erkennbar - beschlossen, die Entscheidung über die Verlesung der Aussage B.'s auf dessen Unerreichbarkeit (vgl. hierzu näher oben Ziffer 1) zu stützen. Ob er beim Diktieren der Beschlussbegründung in das Hauptverhandlungsprotokoll versehentlich nicht "§ 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO", sondern stattdessen "§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO" diktiert habe, oder ob er zwar "§ 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO" diktiert habe, später aber nicht bemerkt habe, dass sein Diktat falsch niedergeschrieben worden sei, wisse er nicht mehr.
Die Rüge bleibt im Ergebnis erfolglos.
a) Im Ergebnis zutreffend hat der Vorsitzende davon abgesehen, ein Verfahren zur Protokollberichtigung (vgl. BGHSt 51, 298 ff.) einzuleiten, da dies eine sichere Erinnerung der Urkundspersonen voraussetzt (BGHSt aaO 314, 316). Hier hält es der Vorsitzende für möglich, dass das Protokoll seinem Diktat entspricht. In diesem Fall gibt es aber keinen Widerspruch zwischen dem, was geschehen ist, und dem, was im Protokoll als geschehen festgehalten ist, sondern das Protokoll gibt den Geschehensablauf richtig wieder. Dies ist aber auch dann keine Grundlage für eine Berichtigung des Protokolls, wenn dem tatsächlich Geschehenen ein Versehen des Richters zu Grunde liegt.
Darauf, dass das Protokoll auch unbeschadet der dienstlichen Äußerung schon für sich genommen fehlerhaft und unklar erscheint - bei einer auf das Einverständnis der Beteiligten gestützten Verlesung einer richterlichen Vernehmung wäre nicht § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, sondern § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO die maßgebliche Norm - kommt es unter den gegebenen Umständen ebenfalls nicht an.
b) Die Verlesung einer Aussage gemäß § 251 StPO ist durch einen mit Gründen versehenen Beschluss anzuordnen (§ 251 Abs. 4 StPO). Die bloße Angabe der einschlägigen Gesetzesbestimmung gilt hierfür nicht als ausreichend (vgl. zusammenfassend Sander/Cirener in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 251 Rdn. 97; Diemer in KK 6. Aufl. § 251 Rdn. 31 jew. m.w.N.). Hier fehlt es schon an einer über die Angabe der Gesetzesbestimmung hinausgehenden Begründung des Beschlusses; dem braucht der Senat hier jedoch nicht näher nachzugehen, weil dieser Aspekt im Rahmen der Revisionsbegründung nicht geltend gemacht wird (zur Maßgeblichkeit der "Angriffsrichtung" einer Verfahrensrüge vgl. BGH NStZ 2008, 229, 230; Sander/Cirener JR 2006, 300 jew. m.w.N.) Jedoch liegen (außerdem) die tatsächlichen Voraussetzungen der nach dem maßgeblichen Protokoll zur Begründung herangezogenen Bestimmung nicht vor.
c) Jedoch kann das Beruhen des Urteils auf (dem Fehlen eines näher ausgeführten Beschlusses und) der Angabe eines unzutreffenden Verlesungsgrundes ausgeschlossen werden, wenn die Voraussetzungen für die Verlesung tatsächlich gegeben waren und die Verfahrensbeteiligten durch den Mangel nicht in ihrem Prozessverhalten beeinflusst worden sein können (vgl. Sander/Cirener in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 251 Rdn. 81, 97 m.w.N.).
So verhält es sich hier.
(1) Die Voraussetzungen einer Verlesung der Aussage B.'s vor dem Amtsgericht gemäß § 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO lagen vor; dass B. dort als Angeklagter und nicht als Zeuge vernommen worden war, steht nicht entgegen (Sander/Cirener aaO Rdn. 43). Der Vernehmung stand, wie im Zusammenhang mit der Unauffindbarkeit B.'s näher dargelegt, für ungewisse Zeit ein nicht zu beseitigendes Hindernis entgegen (vgl. Sander/Cirener aaO Rdn. 65, 28). Es spricht, selbst wenn die dienstliche Äußerung außer Betracht bliebe, nichts dafür, dass die Strafkammer die Verlesung etwa nicht beschlossen hätte, wenn sie erkannt hätte, dass nicht das (tatsächlich nicht eingeholte) Einverständnis der Beteiligten rechtliche Grundlage der Verlesung ist, sondern hierfür die Unauffindbarkeit B.'s heranzuziehen ist.
(2) Bei der Prüfung der Frage, ob die Angabe von § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO Einfluss auf den Prozessverlauf gehabt haben kann, ist zu unterstellen, dass die Verteidigung deshalb geglaubt hätte, die Strafkammer (hielte die richterliche Vernehmung für eine nichtrichterliche Vernehmung und) verlese die Aussage, weil sie - irrig - vom Einverständnis der Beteiligten ausgehe, während die Verlesung in keinem Zusammenhang mit der Unauffindbarkeit B.'s stünde. Selbst auf dieser (nicht sehr nahe liegenden) Grundlage kann der Senat nicht die Möglichkeit erkennen, dass wegen dieser Fehlvorstellung Erfolg versprechendes Prozessverhalten unterblieben sein könnte, zu dem es aber gekommen wäre, wenn § 251 Abs. 2 Nr. 1 StPO genannt worden wäre.
(3) Freilich heißt es in der Revisionsbegründung, das Urteil beruhe auf dem geltend gemachten Verfahrensverstoß. Näher ausgeführt ist dies jedoch nicht. Der Senat bemerkt in diesem Zusammenhang: Von hier nicht einschlägigen Besonderheiten abgesehen, braucht eine Revisionsbegründung den ursächlichen Zusammenhang zwischen (behauptetem) Rechtsfehler und dem angefochtenen Urteil nicht ausdrücklich darzulegen. Es ist vielmehr grundsätzlich Sache des Revisionsgerichts, die Beruhensfrage von sich aus zu prüfen. Dies sollte jedoch gerade in Fällen, in denen ein Beruhen nicht ohne weiteres nahe liegt, den Beschwerdeführer nicht davon abhalten, konkret darzulegen, warum aus seiner Sicht hier ein Beruhen möglich erscheinen kann (vgl. zusammenfassend Kuckein in KK 6. Aufl. § 344 Rdn. 65 m.w.N.). Andernfalls ist nicht auszuschließen, dass das Revisionsgericht trotz seiner umfassenden Überprüfung der Beruhensfrage eine in diesem Zusammenhang (doch) in Betracht zu ziehende Möglichkeit nicht erkennt und dementsprechend nicht in seine Erwägungen einbezieht.
3. Auch die auf Grund der Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Nack Wahl Rothfuß
Hebenstreit Sander
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057305
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BGH
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1. Strafsenat
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20100120
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1 StR 634/09
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Beschluss
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§ 371 Abs 2 Nr 1 Buchst a Alt 1 AO, § 46a Nr 2 StGB, § 49 StGB
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vorgehend LG Essen, 12. August 2009, Az: 21 KLs 9/09 - 302 Js 137/07, Urteil
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DEU
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Steuerhinterziehung: Strafbefreiende Selbstanzeige eines Finanzbeamten bei Beginn der Innenrevision; Schadenswiedergutmachung bei Veranlassung der Schadensersatzzahlung von mithaftenden Gesamtschuldnern
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Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 12. August 2009 werden mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte P. der Steuerhinterziehung und der Bestechung in jeweils 147 Fällen und der Angeklagte L. der Untreue in Tateinheit mit Steuerhinterziehung in 151 Fällen sowie der Bestechlichkeit in 147 Fällen schuldig sind.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten P. wegen Steuerhinterziehung und Bestechung in jeweils 148 Fällen und den Angeklagten L. wegen Steuerhinterziehung in Tateinheit mit Untreue in 152 Fällen und wegen Bestechlichkeit in 148 Fällen zu Gesamtfreiheitsstrafen von drei bzw. vier Jahren verurteilt. Hiergegen richten sich die Revisionen der Angeklagten mit denen die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt wird. Die Revisionen haben den aus dem Tenor ersichtlichen geringfügigen Teilerfolg. Im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Nach den Feststellungen des Landgerichts manipulierten der Angeklagte P. und der Angeklagte L., der als Finanzbeamter beim Finanzamt G. tätig war, in der Absicht, sich durch die wiederholte Begehung entsprechender Taten eine nicht unerhebliche Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zu verschaffen, Einkommensteuererklärungen der Mitglieder eines vom Angeklagten P. geleiteten Lohnsteuerhilfevereins. Sie gingen dabei gemeinschaftlich handelnd dergestalt vor, dass tatsächlich nicht angefallene Aufwendungen steuermindernd geltend gemacht wurden, um so den Steuerpflichtigen ungerechtfertigte Steuererstattungen zu verschaffen. In Vollzug des Tatplans erstellten die Angeklagten für 116 Steuerpflichtige insgesamt 147 unrichtige Einkommensteuererklärungen, auf deren Grundlage der Angeklagte L., der hierfür jeweils einen Betrag zwischen 20,-- bis 300,-- Euro von dem Angeklagten P. erhielt, jeweils Steuerbescheide erließ, in denen er zu Gunsten der Mitglieder des Vereins die jeweiligen Erstattungsbeträge unrichtig festsetzte. Insgesamt wurde dadurch Einkommensteuer in Höhe von mehr als 178.000,-- Euro verkürzt. Daneben fingierte der Angeklagte L. ohne Mitwirkung des Angeklagten P. mit den Personalien des verstorbenen Vaters seines Nachbarn einen Steuerfall und erließ vier Steuerbescheide für die Veranlagungszeiträume 2003 bis 2006, in denen er insgesamt Steuererstattungen in Höhe von mehr als 18.000,-- Euro zu Unrecht festsetzte und deren Auszahlung veranlasste.
Die Feststellungen belegen entgegen der Zählung des Landgerichts beim Angeklagten P. lediglich 147 Fälle der Steuerhinterziehung und 147 Fälle der Bestechung sowie beim Angeklagten L. lediglich 151 Fälle der Untreue in Tateinheit mit Steuerhinterziehung und 147 Fälle der Bestechlichkeit. Der Schuldspruch ist entsprechend zu berichtigen. Der Wegfall der insoweit verhängten Einzelstrafen führt nicht zur Aufhebung der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe. Der Senat kann ausschließen, dass sich die auf dem Zählfehler beruhende Annahme von 300 bzw. 296 Einzeltaten statt richtig von 298 bzw. 294 Einzeltaten und der insoweit irrtümlich um 1.500,-- Euro zu hoch angenommene Steuerschaden auf die Strafzumessung und die Bildung der Gesamtstrafe zum Nachteil der Angeklagten ausgewirkt hat. Das Urteil beruht mithin darauf nicht.
Der Umstand, dass der Angeklagte L. die von ihm allein begangenen Taten der stellvertretenden Vorsteherin des Finanzamtes G. offenbarte und daraufhin die bereits überwiesenen Erstattungsbeträge zurückgebucht werden konnten, führt nicht dazu, dass dem Angeklagten der persönliche Strafaufhebungsgrund des § 371 Abs. 1 AO zu Gute kommt. Denn hierzu kam es erst, nachdem Beamte der Innenrevision der Oberfinanzdirektion mit der routinemäßigen Prüfung des Finanzamtes G. begonnen hatten, in deren Verlauf es zu Auffälligkeiten im Hinblick auf die Veranlagungstätigkeit des Angeklagten gekommen war. Insoweit ist der Eintritt der Straffreiheit nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) Alt. 1 AO ausgeschlossen. In Fällen der vorliegenden Art, in denen ein Finanzbeamter seine Befugnisse und seine Stellung zur Begehung von Steuerhinterziehungen missbraucht, stellt die Überprüfung der Veranlagungsarbeiten innerhalb eines Finanzamtes durch die Innenrevision der Oberfinanzdirektion eine steuerliche Prüfung durch einen Amtsträger der Finanzbehörde im Sinne von § 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) Alt. 1 AO dar. Zu dieser war, da die Innenrevision bereits begonnen hatte, der Amtsträger auch bereits erschienen.
Kein Rechtsfehler ist auch darin zu erblicken, dass das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung nicht geprüft hat, ob zu Gunsten des Angeklagten P. § 46a Nr. 2 StGB anzuwenden ist. Eine Strafrahmenverschiebung auf der Grundlage von § 46a Nr. 2 StGB kann zwar, wenn auch nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen, auch bei Steuerstraftaten in Betracht kommen (vgl. Jäger in Klein AO 10. Aufl. § 371 Rdn. 100, 102 m.w.N.). Ein solcher besonders gelagerter Ausnahmefall ist vorliegend indes nicht gegeben. Der Angeklagte hat zwar, nachdem seine Taten bekannt geworden waren, die Mitglieder des von ihm geführten Lohnsteuerhilfevereins, die durch seine Taten ungerechtfertigte Steuererstattungen erlangt hatten, “durch intensive Gespräche“ dazu veranlasst, die ungerechtfertigten Steuererstattungen zurück zu zahlen und nach § 153a StPO erteilte Auflagen zu erfüllen. Dadurch waren der Angeklagte P. und seine Familie „erheblichen Vorwürfen und Beschimpfungen der jeweiligen Steuerpflichtigen ausgesetzt“. Diese im Ergebnis erfolgreichen Bemühungen um Schadenswiedergutmachung, die die Strafkammer im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung „zu seinen Gunsten ganz maßgeblich berücksichtigt hat“, sind indes nicht von solchem Gewicht, dass die Strafkammer deswegen darüber hinaus gehalten gewesen wäre, eine Strafrahmenverschiebung nach § 46a Nr. 2 StGB zu erörtern.
Nach § 46a Nr. 2 StGB kann das Gericht die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB mildern, oder, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu dreihundertsechzig Tagessätzen verwirkt ist, von Strafe absehen, wenn die Schadenswiedergutmachung vom Angeklagten erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat.Damit die Schadenswiedergutmachung ihre friedensstiftende Wirkung entfalten kann, hat der Täter einen über die rein rechnerische Kompensation hinausgehenden Beitrag zu erbringen. Die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen allein genügt dafür nicht. Vielmehr muss sein Verhalten Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein (st. Rspr.; BGHR StGB § 46a Wiedergutmachung 1 und 5; BGH wistra 2000, 176; wistra 2000, 421; NJW 2001, 2557; jew. m.w.N.). Nach dem Willen des Gesetzgebers ist insoweit erforderlich, dass „der Täter das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt“ und durch die persönlichen Leistungen oder den Verzicht die materielle Entschädigung erst ermöglicht hat (BTDrucks. 12/6853 S. 22). Dies ist indes nicht der Fall, wenn der Täter, lediglich mithaftende (Gesamt-)Schuldner zur Zahlung veranlasst, ohne eine eigene materielle Leistung zu erbringen, die eine überwiegende Schadenswiedergutmachung darstellt. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem, den die Revision mit Schriftsatz vom 20. Januar 2010 zitiert, bereits im Ansatz.
Der geringe Teilerfolg der Revision gibt zu einer anderen Kostenentscheidung keine Veranlassung (§ 473 Abs. 4 StPO).
Nack Wahl Hebenstreit
Jäger Sander
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100057305&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057306
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BGH
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1. Strafsenat
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20100204
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1 StR 3/10
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Beschluss
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§ 258 Abs 2 StPO
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vorgehend LG München I, 18. August 2009, Az: 3 KLs 369 Js 46450/08, Urteil
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DEU
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Letztes Wort des Angeklagten: Wiedereintritt in die Verhandlung nach Schluss der Beweisaufnahme
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 18. August 2009, soweit es ihn betrifft, im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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1. Das Landgericht München I hat den umfassend geständigen Angeklagten wegen insgesamt 61 Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten ist gemäß § 349 Abs. 2 StPO unbegründet, soweit sie sich gegen den Schuldspruch richtet. Sie führt jedoch aufgrund einer Verfahrensrüge zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs.
2. Mit dieser macht die Revision einen Verstoß gegen § 258 Abs. 2 StPO geltend, weil dem Angeklagten das letzte Wort nicht gewährt worden sei. Nach ihrem - den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden - Vortrag war die Beweisaufnahme geschlossen und die Gelegenheit zum Schlussvortrag des Verteidigers sowie zum letzten Wort des Angeklagten gegeben worden. Hieran anschließend wurde erneut in die Beweisaufnahme eingetreten und die Frage der Einziehung sichergestellter Betäubungsmittel und weiterer Gegenstände erörtert. Diesbezüglich erklärten sich der Angeklagte und sein Verteidiger mit deren formloser Einziehung einverstanden. Nach der erneuten Schließung der Beweisaufnahme wiederholten lediglich die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger ihre zuvor gestellten Anträge, während dem Angeklagten keine Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern.
3. a) Diese Verfahrensweise entsprach nicht dem Gesetz. Denn nach der Rechtsprechung ist dem Angeklagten gemäß § 258 Abs. 2 StPO erneut das letzte Wort zu gewähren, wenn nach dem Schluss der Beweisaufnahme nochmals in die Verhandlung eingetreten worden ist, weil jeder Wiedereintritt den vorausgegangenen Ausführungen des Angeklagten die rechtliche Bedeutung als Schlussvortrag und letztes Wort nimmt und die erneute Beachtung des § 258 StPO erforderlich macht (BGHSt 22, 278, 279/280; BGH NStZ-RR 1998, 15).
Wann von einem Wiedereintritt auszugehen ist, ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Insbesondere liegt ein Wiedereintritt vor, wenn der Wille des Gerichts zum Ausdruck kommt, im Zusammenwirken mit den Prozessbeteiligten in der Beweisaufnahme fortzufahren oder wenn Anträge mit den Verfahrensbeteiligten erörtert werden (BGH NStZ 2004, 505, 507 m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung liegt hier vor. Zum einen wird im Protokoll selbst das prozessuale Geschehen dahingehend bewertet, dass „nochmals in die Beweisaufnahme eingetreten“ und diese „erneut geschlossen“ wurde. Zum anderen kam der Erklärung des Angeklagten, er sei mit der formlosen Einziehung sichergestellter Gegenstände einverstanden, potentielle Bedeutung für die tatgerichtliche Sachentscheidung zu.
b) Der geltend gemachte Verfahrensverstoß ist auch bewiesen. Der für den Nachweis der in Rede stehenden wesentlichen Förmlichkeit (§ 274 Abs. 1 StPO) allein maßgeblichen Sitzungsniederschrift (vgl. BGHSt 22, 278, 280) lässt sich nach Ansicht des Senats nicht entnehmen, dass dem Angeklagten nach dem erneuten Schluss der Beweisaufnahme (nochmals) das letzte Wort gewährt worden ist. Es kommt daher nicht darauf an, dass die an dem Urteil beteiligten Berufsrichter, der staatsanwaltschaftliche Sitzungsvertreter und die Protokollführerin in ihren jeweiligen dienstlichen Stellungnahmen erklärt haben, sich an den konkreten Verfahrensgang nicht mehr zu erinnern.
4. a) Auf dem dargelegten Verfahrensfehler kann jedoch der Schuldspruch nicht beruhen. Der Senat kann im vorliegenden Fall ausschließen, dass der Angeklagte in einem - erneuten - letzten Wort etwas insofern Erhebliches hätte bekunden können. Denn er war zuvor umfassend und für das Tatgericht, das seine Überzeugung zudem auf weitere Beweismittel gestützt hat, glaubhaft geständig gewesen.
b) Dagegen kann der Ausspruch über die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte, wäre ihm das letzte Wort erneut erteilt worden, Ausführungen gemacht hätte, die die Strafzumessung zu seinen Gunsten beeinflusst hätten. Dies gilt umso mehr, als sein nach dem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme erklärtes Einverständnis mit der außergerichtlichen Einziehung sichergestellter Gegenstände jedenfalls unter dem Gesichtspunkt gezeigter Reue als mildernder Umstand hätte gewertet werden dürfen.
Dem steht nicht entgegen, dass sich die Verfahrensbeteiligten ausweislich der Urteilsgründe bereits am ersten der beiden Hauptverhandlungstage hinsichtlich der Gesamtstrafe verständigt hatten. Denn der am 4. August 2009 und damit sechs Tage vor Beginn der Hauptverhandlung in Kraft getretene § 257c StPO sieht in seinem Absatz 3 Satz 2 die Benennung einer Ober- und einer Untergrenze und in seinem Absatz 4 Satz 1 ein Entfallen der Bindung des Gerichts an die Verständigung vor, wenn der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist.
Nack Wahl Elf
Jäger Sander
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100057306&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057309
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BGH
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1. Strafsenat
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20100112
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1 StR 272/09
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Urteil
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§ 13 Abs 1 StGB, § 222 StGB, § 229 StGB
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vorgehend LG Traunstein, 18. November 2008, Az: 2 KLs 200 Js 865/06, Urteil nachgehend BGH, 7. Februar 2013, Az: 1 StR 408/12, Beschluss
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DEU
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Fahrlässige Tötung und Körperverletzung: Verantwortlichkeit eines Bauingenieurs für den Tod und die Verletzung von Personen infolge des Einsturzes des Dachs einer Eissporthalle wegen Unterlassens der pflichtgemäßen "handnahen" Überprüfung der Dachkonstruktion bzw. positiver Aussagen über den Tragwerkszustand des Dachs
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1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger D. S., R. S., M., H., B. und Z. wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 18. November 2008, soweit es den Angeklagten Sp. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten dieser Rechtsmittel - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten - in einem Verfahren gegen insgesamt drei Angeklagte - von dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung in 15 tateinheitlichen Fällen rechtlich zusammentreffend mit fahrlässiger Körperverletzung in sechs tateinheitlichen Fällen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wenden sich die Staatsanwaltschaft und sechs Nebenkläger mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung materiellen Rechts rügen. Die Rechtsmittel führen zur Aufhebung des Urteils, soweit es diesen Angeklagten betrifft.
I.
Das angefochtene Urteil betrifft den Einsturz des Daches der von der Stadt Bad Reichenhall betriebenen Eissporthalle am 2. Januar 2006. 15 Besucher fanden dabei den Tod, sechs weitere wurden schwer verletzt.
Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten, einem Diplomingenieur (FH), Fachbereich Ingenieurbau, zur Last gelegt, er habe den Tod und die Verletzung dieser Besucher durch unzureichende Überprüfung der Dachkonstruktion der Eishalle im Rahmen eines ihm von der Stadt Bad Reichenhall erteilten Auftrags zur Ermittlung des Sanierungsaufwands fahrlässig verursacht. Unter Verletzung der gebotenen Sorgfalt habe er es unterlassen, die Träger des Daches umfassend aus nächster Nähe - „handnah“ - zu betrachten. Risse und weitere Schäden seien so unentdeckt geblieben. Auf diese mit dem gebotenen Nachdruck hingewiesen, hätten die Verantwortlichen der Stadt Bad Reichenhall tiefer gehende Untersuchungen veranlasst und schließlich Maßnahmen ergriffen, um der Gefahr, die von der eingeschränkten Tragfähigkeit der Dachkonstruktion der Eishalle ausging, zu begegnen, etwa durch Schließung der Halle oder zumindest durch Begrenzung der Schneelast.
Das Landgericht hat die vorgeworfene Pflichtverletzung zwar festgestellt. Es sah es jedoch nicht mit dem erforderlichen Maß an Sicherheit für erwiesen an, dass das Fehlverhalten des Angeklagten für das Unglück ursächlich war. Denn es bestünden erhebliche Zweifel, dass die Verantwortlichen der Stadt Bad Reichenhall die Befunde, wären sie denn vom Angeklagten erhoben und mitgeteilt worden, zum Anlass für weitere Maßnahmen genommen hätten.
II.
Das Landgericht hat dazu folgende Feststellungen getroffen:
1. Planung und Bau des Hallenkomplexes.
Die Stadt Bad Reichenhall betrieb seit dem Jahr 1973 auf dem Gelände Münchner Allee 18 eine Schwimm- und Eissporthalle. Die Eissporthalle wurde während der Sommermonate als Tennishalle genutzt. Es handelte sich um zwei eigenständige, von einander getrennte Gebäudeteile, die durch einen Mitteltrakt verbunden waren. Die Dächer der beiden Hallen waren jeweils als Flachdachkonstruktion in Holz-Leim-Bauweise ausgeführt. Die Eissporthalle wurde zunächst in einer zweiseitig offenen Bauweise hergestellt. Von vorneherein war die Erstellung einer rundum geschlossenen Halle ins Auge gefasst und beim Bau planerisch zu berücksichtigen. Die Verglasung der zunächst noch offenen Seiten erfolgte dann im Jahre 1977.
Die Planung der Eissporthalle war hinsichtlich der Tragfähigkeit der aus geleimten Holzteilen gebildeten Überdachung, einer sogenannten Kämpferträgerkonstruktion, von vorneherein mit Mängeln behaftet. Auch die Errichtung verlief nicht fehlerfrei.
Für die Kämpferträgerkonstruktion gab es eine allgemeine baurechtliche Zulassung. Diese erstreckte sich aber nur auf eine Ausführung der Kämpferträger als Doppel-T-Träger bis zu einer maximalen Höhe von 1,20 m. Wegen der großen Spannweite (ca. 40 m) erhielten die (ca. 48 m langen) Träger jedoch eine Höhe von 2,87 m. Außerdem entschieden sich die Planer für Hohlkastenträger. Eine baurechtliche Zulassung im Einzelfall wurde nicht eingeholt. Ob diese hätte erteilt werden können, ist offen. Jedenfalls hätte die dann zuständige oberste bayerische Baubehörde besondere und erhöhte Anforderungen bezüglich der Güteklasse der Holzauswahl (ausschließlich Güteklasse I) und des verwendeten Leims (ausschließlich feuchtigkeitsunempfindliche Resorcinharzprodukte) gestellt, Auflagen hinsichtlich der Ebenheit der Kämpferstegplatten vor der Verklebung erteilt und Hinweise auf die mindere Belastbarkeit bei der Verwendung von Generalkeilzinkenstößen sowie zur Holzfeuchte bei der Herstellung der Bauteile gegeben.
Tatsächlich wurde dann Holz der Güteklasse II und überwiegend feuchtigkeitsempfindlicher Formaldehydharnstoffleim (Harnstoffharzleim) verwendet.
Die gewählte Konstruktion bewirkte, dass die Biege-, Druck- und Zugspannungen die nach der entsprechenden DIN-Norm maximal zulässigen Werte um 42 % überschritten. Dies blieb verborgen, da der zuständige Bauingenieur die erforderlichen statischen Nachweise nicht oder unzutreffend erbrachte.
Die Überschreitung der zulässigen Belastungswerte führte dazu, dass statt des vorgeschriebenen statischen Sicherheitswerts von mindestens 2,1 von vorneherein nur der Faktor 1,5 erreicht wurde. Aufgrund des üblichen Alterungsprozesses war bis zum Tag des Einsturzes - ca. 33 Jahre nach der Errichtung der Eissporthalle - mit einer Minderung des Sicherheitswertes um den Faktor 0,5 - 0,6 zu rechnen, bei ordnungsgemäßer Bauweise also mit einem verbleibenden Sicherheitsfaktor von mindestens 1,5. Wegen des tatsächlich geringeren Ausgangswerts verblieb am Einsturztag rechnerisch nur noch ein Sicherheitsfaktor „unter 1“.
Hinsichtlich der Schneelast war zum Zeitpunkt der Errichtung der Eisspothalle - ordnungsgemäße Planung und mängelfreier Bau vorausgesetzt - 150 kg/m² der richtige Bemessungswert. In einem handschriftlichen Zettel aus der Statik wurde der Wert der maximal zulässigen Schneelast sogar mit 175 kg/m² beziffert.
Die Verwendung des wasserlöslichen Harnstoffharzleims hätte aufgrund dreier Aspekte keine Verwendung finden dürfen:
- Zum einen schon wegen der großen Spannweite und der damit bedingten hohen Belastung der Konstruktion.
- Weiter wegen der erhöhten Feuchtigkeit (Kondenswasser) in geschlossenen Hallen. Hierauf hatte der Architekt der Halle schon in seinem Schreiben vom 22. Juli 1971 an die Stadt Bad Reichenhall hingewiesen.
- Schließlich wegen der sogenannten Blockverklebung der vorgefertigten Stege auf die vorgefertigten Gurte statt der Verbindung der einzelnen Brettlagen durch Nagelpressklebung. Die Blockverklebung - sie war nicht Stand der Technik - hatte zur Folge, dass die Klebefugen häufig größer als ein Millimeter waren. Dann ist Harnstoffharzleim nicht mehr geeignet.
Statt des Harnstoffharzleims hätten in allen Bereichen Resorcinharzprodukte als Klebstoff verwendet werden müssen. Die Mehrkosten bezifferte der Architekt seinerzeit auf 25.000,-- DM.
Über die Planungsfehler hinaus war der Herstellungsprozess mangelhaft, da die Zinkenprofile der Generalzinkenstöße der Stegplatten und die Generalkeilzinkenstöße der Gurte unterschiedliche Profile aufwiesen, so dass die Verklebungen nicht durchgehend gleichmäßig waren, und da zwischen der Fräsung der Kämpferstegplatten und deren Verklebung zur fertigen Trägerlänge beim Transport mehr als die nach DIN zulässige Maximalzeit von 24 Stunden verstrichen war.
2. Die Betriebszeit.
Die ständige Feuchtigkeit als Folge bauphysikalisch bedingter Kondenswasserbildung löste den Harnstoffleim im Laufe der Zeit immer weiter auf. Dies schwächte die - ohnehin vermindert tragfähige - Dachträgerkonstruktion bis sie schließlich nicht mehr in der Lage war, die - bei starkem Schneefall - erforderlichen Lasten zu tragen.
Hinzu kam Folgendes, wenn dies auch - wie die Untersuchungen nach dem Unglück am 2. Januar 2006 ergaben - für den Einsturz der Halle nicht ursächlich war:
- Wegen Mängeln in der Dacheindeckung (zu geringe Neigung) und zu gering bemessener Regenablaufrohre kam es während der gesamten Betriebsdauer der Eissporthalle immer wieder zu größeren Wassereinbrüchen, woran auch Nachbesserungsarbeiten im Jahre 1975 nichts änderten. Seit Ende der siebziger Jahre wurden an den Hohlkastenträgern deutliche Wasserablaufspuren und Wasserflecken erkennbar.
- Mit der Verglasung der Eissporthalle im Jahr 1977 erfolgte der Einbau von vier Abluftanlagen auf die Dachfläche mit einem Gewicht von jeweils 575 kg. Dies erfolgte ohne Baugenehmigungsverfahren und ohne statische Überprüfung.
Bei einer Untersuchung der Sekundärkonstruktion über dem Dach der Schwimmhalle hatte der Angeklagte schon im Jahre 2001 in einem Kurzgutachten in diesem Bereich starke Beschädigungen und fehlende Standfestigkeit dieses Teils festgestellt, die er auf die besonderen klimatischen Verhältnisse in der Schwimmhalle zurückführte. Dem Tragwerk des Daches der Schwimmhalle attestierte er in einem weiteren Kurzgutachten vom Mai 2002 zwar uneingeschränkte Tragfähigkeit. Er wies aber darauf hin, dass die Rohrleitungssysteme in diesem Bereich in äußerst bedenklichem Zustand seien. Die in Folge drohender Undichtigkeiten eintretenden Durchnässungen hätten dann negativen Einfluss auf die gesamte Holzkonstruktion mit möglichen Schäden, die nicht ohne weiteres erkannt werden könnten.
Außerdem weise - so der Angeklagte schon im Jahre 2001 - die frei tragende Vordachkonstruktion über dem Eingangsbereich der Hallen erhebliche Schäden auf. „Die Tragfähigkeit der Holzleimbinder scheint nicht mehr gegeben, da sich die einzelnen Leimverbindungen bereits lösen. ... Eine Sanierung kann nur durch Ersatz des gesamten Vordachs erfolgen.“
Der Angeklagte wiederholte diese Hinweise auf Mängel bei der Schwimmhalle und am Vordach in der hier maßgeblichen Studie für die Sanierung des Gesamtkomplexes im März 2003.
Die Stadt Bad Reichenhall sah sich zunächst nicht veranlasst, bezüglich der im Jahr 2001 festgestellten Mängel irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Erst als im Jahr 2005 ein Bauteil des Vordachs heruntergefallen war, wurde die Stadt tätig, indem sie das Vordach abstützte und später abriss.
Die Strafkammer „ist der Überzeugung“, dass die Stadt möglichst wenig Geld in den Hallenkomplex investieren wollte. Insbesondere ab dem Jahr 2000 wurde seitens der Stadt nur mehr das unbedingt Nötigste veranlasst aufgrund finanzieller Probleme und der Unschlüssigkeit darüber, was mit der Halle geschehen sollte.
Seit dem Jahr 2001 stellte die Stadt Bad Reichenhall - allgemeine - Überlegungen an, was mit dem Gebäudekomplex Eislauf- und Schwimmhalle in Zukunft geschehen solle, da die Technik insbesondere der Schwimmhalle veraltet und der Betrieb unwirtschaftlich war. Dabei war für die Stadt auch eine Option, den Gebäudekomplex vollständig abzureißen. In diesem Zusammenhang sollte vorab der im Falle einer Sanierung erforderliche Aufwand ermittelt werden.
Dazu trat die Stadt zunächst an den Architekten J. heran. Dieser sollte die Schwimm- und Eissporthalle begutachten, um erforderliche Sanierungskosten zu ermitteln und die Frage zu klären, ob sich eine Sanierung bei der vorhandenen Bausubstanz überhaupt lohne. Bei einem deshalb anberaumten Ortstermin fielen dem Zeugen in der Eishalle Betonschäden und an den Nebenträgern des Dachtragewerks Wasserspuren auf. Aufgrund des „augenfälligen Zustands des gesamten Gebäudekomplexes“ teilte der Zeuge mündlich und zudem mit Schreiben vom 9. Juli 2002 den Verantwortlichen der Stadt mit, dass, bevor ein Sanierungsplan mit Kostenschätzung gemacht werden könne, Spezialfachleute das Gebäude genauer, d.h. in ausreichender Tiefe untersuchen müssten. Nachdem der Zeuge dann wochenlang nichts mehr von der Stadt gehört hatte, rief er dort an. Er bekam die Auskunft, dass man es sich anders überlegt habe.
Nach den Darlegungen eines von der Strafkammer gehörten Sachverständigen hätte eine umfassende und tiefgehende Untersuchung, insbesondere eine ordnungsgemäße und fachgerechte Standsicherheitsprüfung mindestens 30.000,-- € gekostet.
3. Der dem strafrechtlichen Vorwurf zugrunde liegende Vorgang.
Statt des Architekten J. wurde nunmehr der Angeklagte am 27. Januar 2003 mit der Abgabe des hier maßgeblichen Bestandsgutachtens - später auch Studie genannt - gegen eine Pauschalvergütung in Höhe von 3.000,-- € einschließlich Mehrwertsteuer, beauftragt.
Gefordert waren in einem „Gesamtgutachten“ - so die Strafkammer - mit den „technischen Erläuterungen“ die Kostenschätzungen für die als notwendig erkannten Sanierungsmaßnahmen für folgende Bauteile: Dachhaut, Dachkonstruktion, Dachentwässerung, Abdichtungen, Stahlbetonkonstruktion und Fassadenkonstruktion der Schwimm- und der Eislaufhalle, Sekundärdachkonstruktion und Wärmedämmung der Schwimmhalle, Abdichtungen und Stahlbetonkonstruktion der Tiefgarage sowie Bodenaufbau, Dämmung und Estrich der Eislaufhalle. „Die Erstellung eines Standsicherheitsgutachtens war seitens der Stadt Bad Reichenhall nicht in Auftrag gegeben worden und auch nicht gewollt“. Der Angeklagte war deshalb auch nicht verpflichtet, die statischen Unterlagen anzusehen und zu überprüfen.
Dagegen war eine „handnahe“ Untersuchung, so die Feststellung der sachverständig beratenen Strafkammer, also eine Betrachtung der gesamten Dachkonstruktion aus nächster Nähe vom Auftrag umfasst.
Der Angeklagte überprüfte den Gebäudekomplex bei Ortsterminen, nachdem ihm verschiedene Unterlagen hierzu übergeben worden waren. Eine (geprüfte) Statik über die Dachkonstruktion befand sich nicht darunter.
Die gebotene „handnahe“ Untersuchung der Dachkonstruktion, insbesondere aller Leimbinder, nahm der Angeklagte dabei nicht vor. Vielmehr untersuchte er lediglich den ersten Leimbinder genauer, der einen deutlich sichtbaren Wasserfleck aufwies, ohne hier jedoch Schäden festzustellen. Die übrigen Leimbinder begutachtete er nur mit einem Teleobjektiv im Bereich der Auflager der Träger auf den Betonpfeilern. Bei einer „handnahen“ Überprüfung hätte der Angeklagte offene Fugen zwischen der Verleimung der Untergurte und den seitlichen Stegplatten und Verfärbungen an den Kleinfugen der Holzkonstruktion vorgefunden. In den Fugen hätte man feststellen können, dass hier brüchige Leimverbindungen vorliegen. Die Verfärbungen wären Hinweise auf das Eindringen von Feuchtigkeit in die Holzkonstruktion gewesen.
Unter dem Datum des 13. Februar 2003 erstellte der Angeklagte eine Grobgliederung für einen Maßnahmenkatalog, die er dem Bauamt der Stadt Bad Reichenhall übergab. Darin führte er aus, die Dachkonstruktion der Eishalle sei in Ordnung. Anschließend fand ein weiterer Ortstermin statt.
Das Ergebnis seiner Untersuchungen fasste der Angeklagte dann in seiner „Studie für die Sanierung des Bauvorhabens Eislauf- und Schwimmhalle, Münchner Allee 18 in 83435 Bad Reichenhall“ vom 21. März 2003 zusammen. Darin führte er unter anderem aus:
„… baulicher Zustand der Eislaufhalle:
Die Tragkonstruktionen - sowohl Holz- als auch Stahlbetonkonstruktion der gesamten Eissporthalle - befinden sich in einem allgemein als gut zu bezeichnenden Zustand. In der Holzkonstruktion sind lediglich Wasserflecken aufgrund von Unregelmäßigkeiten/Wassereinbrüchen aus der Dachentwässerung festzustellen. Diese haben jedoch weder auf die Qualität noch auf die Tragfähigkeit des Tragwerks Einfluss. Schäden sind aufgrund der aufgetretenen Durchfeuchtung nicht erkennbar.
…
Fazit: Abschließend ist festzustellen, dass die Gesamtanlage aus tragwerkplanerischer Sicht einen guten Eindruck macht.“
Der Angeklagte schrieb ergänzend, dass aufgrund der Lebensdauer der Anlage verschiedene Bauteile nunmehr sanierungs- bzw. erneuerungsbedürftig seien. Insbesondere gelte dies für die Dachkonstruktion der Schwimmhalle mit ihren untergeordneten Bauteilen, die umlaufende Attikaverkleidung in der Schwimm- sowie in der Eislaufhalle, Betonsanierungsarbeiten in der Eislaufhalle, sowie die Kompletterneuerung des Eingangsbereichs. Einen Sanierungs- oder Erneuerungsbedarf hinsichtlich der Dachkonstruktion der Eissporthalle erwähnte der Angeklagte nicht.
4. Weiteres zur Betriebszeit.
Im März 2004 erstellte der Architekt L., Referent für Bäderbau des Bayerischen Schwimmverbands, im Auftrag der Stadt Bad Reichenhall nach einer Ortsbesichtigung eine Stellungnahme, in der er betonte, dass jedenfalls bezüglich der Dachkonstruktion der Schwimmhalle genauere Untersuchungen nötig seien. Eine Reaktion seitens der Stadt erfolgte hierauf nicht.
Während der gesamten Dauer der Betriebszeit der Eislaufhalle erfolgte keine Behandlung der Dachträger, wie z.B. das Aufbringen eines Schutzanstrichs. Genauso wenig sah sich die Stadt Bad Reichenhall veranlasst, zu irgend einem Zeitpunkt eine Überprüfung der Leimhölzer durch einen Sachverständigen auf ihre Tragfähigkeit vorzunehmen, obwohl aufgrund der häufigen Wassereinbrüche und der sichtbaren Wasserablaufbahnen an den Trägern hierzu Anlass bestanden hätte. Bis zum Zeitpunkt des Einsturzes am 2. Januar 2006 hatte die Stadt Bad Reichenhall auch keine konkreten Maßnahmen für eine Sanierung oder Erneuerung des Gebäudekomplexes in die Wege geleitet. Im städtischen Bauamt bestanden bei den Verantwortlichen bis dahin keine Bedenken hinsichtlich der Standsicherheit der Dachkonstruktion. Tatsächlich bestand trotz aller Mängel keine akute Gefahr des Einsturzes der Eissporthalle, sofern nicht zusätzliche Belastungen, etwa durch Schnee, hinzukamen.
5. Der Einsturz der Halle.
Bedingt durch Schneefälle vor und am 2. Januar 2006 befand sich auf dem Dach der Eissporthalle eine hohe Schneedecke. Am Vormittag des 2. Januar 2006 ermittelte der Betriebsleiter um 10.00 Uhr eine Schneelast von 166 kg/m². Dies empfand er im Hinblick auf den ihm vorliegenden oben genannten Zettel aus einer Statik mit dem darauf vermerkten Belastungsgrenzwert von 175 kg/m² als unproblematisch. Möglicherweise betrug die Schneelast zu dem genannten Zeitpunkt sogar nur 146 kg/m² und lag damit unter dem zur Bauzeit als statisch richtig angesehenen Höchstwert von 150 kg/m². Deshalb entschloss sich das Betriebspersonal, - erst - nachdem vom Deutschen Wetterdienst eine Warnung vor weiteren starken Schneefällen ab 15.00 Uhr herausgegeben worden war, die Eissporthalle ab 16.00 Uhr nach Beendigung des Publikumslaufs zu sperren, um das Dach am nächsten Tag vom Schnee räumen zu lassen, wie dies in früheren Jahren schon geschehen war. Nicht berücksichtigt waren bei diesen Werten, die das Betriebspersonal zum Maßstab nahm, die konstruktiven und baulichen Mängel und die alterungsbedingte Schwächung der Dachkonstruktion, die deshalb tatsächlich nicht mehr in der Lage war, die Lasten zu tragen.
Um 15.55 Uhr stürzte das Dach der Eissporthalle ein. 15 Menschen wurden durch herabfallende Teile getötet, sechs weitere wurden schwer verletzt.
III.
1. Das Landgericht hat die Pflichtverletzung des Angeklagten in der Unterlassung der „handnahen“ Untersuchung der Dachkonstruktion gesehen, also in der fehlenden Begutachtung der Dachträger aus nächster Nähe. Ohne diese hätte er in seiner Bestandsstudie vom 21. März 2003 den guten Zustand der Dachkonstruktion nicht bescheinigen dürfen.
Bei einer „handnahen“ Untersuchung hätte der Angeklagte die oben genannten Schäden (offene Fugen zwischen der Verleimung der Untergurte und den seitlichen Stegplatten, Verfärbungen an den Kleinfugen der Holzkonstruktion, brüchige Leimverbindungen, mit den Verfärbungen Hinweise auf das Eindringen von Feuchtigkeit in die Holzkonstruktion) feststellen können. Dies hätte ihn dann veranlassen müssen, der Stadt eine aufwändigere und tiefergehende Untersuchung vorzuschlagen. In Betracht gekommen wäre die Erweiterung seines Auftrags oder die Hinzuziehung weiterer Spezialsachverständiger. Dies hätte der Angeklagte nachdrücklich empfehlen sowie eine statische Standsicherheitsprüfung anraten müssen.
Den Schwerpunkt der Pflichtverletzung des Angeklagten hat die Strafkammer im Unterlassen der „handnahen“ Untersuchung gesehen und nicht in der Bescheinigung des guten Zustandes der Tragekonstruktion in seiner in Schriftform übersandten Studie.
2. Die Strafkammer hat allerdings nicht mit dem erforderlichen Maß an Sicherheit festzustellen vermocht, dass das Fehlverhalten des Angeklagten für den Einsturz der Halle am 2. Januar 2006 ursächlich war. Die Kammer hat sich nicht davon überzeugen können, dass der tatsächlich eingetretene Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln des Angeklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre.
Aufgrund der pflichtgemäßen Untersuchungen wäre kein Zustand festgestellt worden, der ein sofortiges Handeln unbedingt erfordert hätte, weil etwa akute Einsturzgefahr bestanden hätte.
Aufgrund dessen, dass die oben geschilderten Vorgänge, die schon genügend Anlass zu tiefergehenden Untersuchungen hätten geben müssen, nicht fruchteten, hat es die Strafkammer sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass entsprechende Vorschläge des Angeklagten zu weitergehenden Untersuchungen bei den Verantwortlichen der Stadt Bad Reichenhall Gehör gefunden hätten. Darauf weise insbesondere hin, dass die entsprechenden Forderungen der Architekten J. im Juli 2002 und L. im März 2004 zu genaueren Untersuchungen unbeachtet blieben.
IV.
Der Freispruch des Angeklagten hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, da die Beweiswürdigung nicht frei von Rechtsfehlern ist.
1. Die Strafkammer ist von zutreffenden rechtlichen Überlegungen ausgegangen.
a) Der Angeklagte hatte im Rahmen des ihm von der Stadt Bad Reichenhall erteilten Prüfungsauftrags zur Feststellung des Sanierungsbedarfs der Eishalle eine von der Stadt übernommene - abgeleitete - Garantenstellung gegenüber der Allgemeinheit. Im Rahmen des Umfangs seines Prüfungsauftrags hatte er alles zu tun, um mögliche Gefahren für Leib und Leben der Besucher der Eissporthalle zu vermeiden.
aa) Begehen durch Unterlassen ist nach § 13 Abs. 1 StGB nur dann strafbar, wenn der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Bei den unechten Unterlassungsdelikten muss ein besonderer Rechtsgrund nachgewiesen werden, wenn jemand ausnahmsweise dafür verantwortlich gemacht werden soll, dass er es unterlassen hat, zum Schutz fremder Rechtsgüter positiv tätig zu werden. Die Gleichstellung des Unterlassens mit dem aktiven Tun setzt deshalb voraus, dass der Täter als Garant für die Abwendung des Erfolgs einzustehen hat (BGH, Urt. vom 25. Juli 2000 - 1 StR 162/00 - [BGHR StGB § 263 Abs. 1 Täuschung 16] m.w.N.).
bb) Ob eine solche Garantenstellung besteht, die es rechtfertigt, das Unterlassen der Schadensabwendung dem Herbeiführen des Schadens gleichzustellen, ist nicht nach abstrakten Maßstäben zu bestimmen. Vielmehr hängt die Entscheidung letztlich von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab; dabei bedarf es einer Abwägung der Interessenlage und des Verantwortungsbereichs der Beteiligten. Vertragliche Pflichten aus gegenseitigen Rechtsgeschäften reichen demgemäß nicht ohne weiteres zur Begründung einer strafbewehrten Garantenpflicht aus. Eine strafrechtlich relevante Hinweis- und Aufklärungspflicht im Rahmen vertraglicher Beziehungen setzt deshalb voraus, dass besondere Umstände - wie etwa ein besonderes Vertrauensverhältnis, eine ständige Geschäftsverbindung, überlegenes Fachwissen oder generell Situationen, in denen der eine darauf angewiesen ist, dass ihm der andere die für seine Entschließung maßgebenden Umstände offenbart - vorliegen (vgl. BGH, Urt. vom 25. Juli 2000 - 1 StR 162/00 - [BGHR StGB § 263 Abs. 1 Täuschung 16]; Beschl. vom 22. März 1988 - 1 StR 106/88; Urt. vom 15. Juni 1954 - 1 StR 526/53 - [BGHSt 6, 198, 199]; Cramer/Perron in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 263 Rdn. 22 f.).
cc) Nach diesen Maßstäben oblag es dem Angeklagten - der auch bereits zuvor für die Stadt Bad Reichenhall Begutachtungen in Bezug auf etwaige Bauwerksmängel der Eis- und Schwimmhalle vorgenommen hatte und der als Bauingenieur über entsprechendes Fachwissen verfügte -, die im Rahmen des ihm erteilten Auftrags erforderlichen Untersuchungen der Eishalle auf bauliche Mängel ordnungsgemäß vorzunehmen. Dazu gehörte auch, die Stadt Bad Reichenhall bei der Schätzung des Sanierungsbedarfs über die im Rahmen seines Prüfungsauftrags erkennbaren Hinweise auf gravierende Mängel zu unterrichten. Nur so konnte die Stadt gegebenenfalls Maßnahmen zur Abwendung der davon ausgehenden Gefahren für Leib und Leben der Besucher der Eissporthalle veranlassen. Diese - neben die Verantwortlichkeit der Stadt Bad Reichenhall als Betreiberin der Eissporthalle tretende - Garantenstellung des Angeklagten erwuchs aus seiner Übernahme der Feststellung von Bauwerksmängeln im Rahmen des Gutachtensauftrags. Sie bezog sich auch auf die Beseitigung der von diesen Mängeln für die Allgemeinheit ausgehenden Gefahren. Denn die vertragliche Übernahme der Feststellung sanierungsbedürftiger Bauwerksmängel begründete zugleich eine Schutzfunktion gegenüber der Allgemeinheit, die in den durch eine unzureichende Mängelfeststellung und -beseitigung geschaffenen Gefahrenbereich geraten würde.
b) Der sachkundige Angeklagte, ein Bauingenieur, musste auch wissen, dass - selbst nur pauschale - Aussagen zum Sanierungsbedarf der Dachkonstruktion nicht verlässlich gemacht werden können, ohne die Leimbinder aus nächster Nähe auf Risse und Fugen hin zu überprüfen. Die möglichen Konsequenzen unzureichender Prüfung und damit weiterhin verborgen gebliebener Mängel in der Dachkonstruktion eines in die Jahre gekommenen Hallenkomplexes mit großer Spannweite, bei der er selbst schon - gerade an Leimverbindungen - erhebliche Schäden festgestellt hatte, waren für ihn vorhersehbar.
c) Fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung sind Erfolgsdelikte. Strafbarkeit liegt bei diesen nur dann vor, wenn das tatbestandsrelevante Verhalten den Erfolg verursacht, wenn der Erfolg auf der Fahrlässigkeit beruht. Folgenlose Fahrlässigkeit ist nur bei fahrlässigen Tätigkeitsdelikten (z.B. § 316 Abs. 2 StGB) strafbar und kann gegebenenfalls als Gefährdungsdelikt erfasst werden. „Fahrlässiger Versuch“ ist straflos (vgl. Vogel in LK 12. Aufl. § 15 Rdn. 179).
Zur Beurteilung der Kausalität bei den (unechten) Unterlassungsdelikten ist auf die hypothetische Kausalität, die so genannte „Quasi-Kausalität“ abzustellen. Danach ist ein Unterlassen dann mit dem tatbestandsmäßigen Erfolg als „quasi-ursächlich“ in Zurechnungsverbindung zu setzen, wenn dieser beim Hinzudenken der gebotenen Handlung entfiele, wenn also die gebotene Handlung den Erfolg verhindert hätte (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urt. vom 4. März 1954 - 3 StR 281/53 - [BGHSt 6, 1, 2]; Urt. vom 19. Dezember 1997 - 5 StR 569/96 - [BGHSt 43, 381, 397]; Urt. vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89 [BGHSt 37, 106, 126]; Urt. vom 6. November 2002 - 5 StR 281/01 - [BGHSt 48, 77, 93]; Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rdn. 70; Stree in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 13 Rdn. 61; Kudlich in Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB § 13 Rdn. 10; Fischer, StGB 57. Aufl. Vor § 13 Rdn. 39 jew. m.w.N.).
Als ursächlich für einen schädlichen Erfolg darf ein verkehrswidriges Verhalten also nur dann angenommen werden, wenn davon auszugehen ist, dass es bei verkehrsgerechtem Verhalten nicht dazu gekommen wäre, wenn der Erfolg nicht unabhängig davon eingetreten wäre. Dabei streitet für einen Angeklagten der Grundsatz in dubio pro reo. Allerdings steht der Bejahung der Ursächlichkeit die bloße gedankliche Möglichkeit eines gleichen Erfolgs auch bei Vornahme der gebotenen Handlung nicht entgegen. Vielmehr muss sich dies aufgrund bestimmter Tatsachen so verdichten, dass die Überzeugung vom Gegenteil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vernünftigerweise ausgeschlossen ist (BGH, Beschl. vom 25. September 1957 - 4 StR 354/57 - [BGHSt 11, 1]; Beschl. vom 29. November 1985 - 2 StR 596/85 -; Urt. vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89 - [BGHSt 37, 106, 126 f.]; Urt. vom 19. April 2000 - 3 StR 442/99 - [BGHR StGB § 13 Abs. 1 Ursächlichkeit 1]; Beschl. vom 6. März 2008 - 4 StR 669/07 - [BGHSt 52, 159, 164]).
Es genügt nicht, dass ein Unterlassen der gebotenen Handlung das Risiko erhöht (zur Risikoerhöhungstheorie vgl. Vogel in LK 12. Aufl. § 15 Rdn. 193). Es kann hier dahinstehen, ob Ursächlichkeit angenommen werden kann, wenn bei Vornahme der Handlung der Erfolg zwar nicht vermieden, aber mit Sicherheit die dem Erfolg zugrunde liegende Gefahrensituation durch Beeinflussung des Kausalverlaufs verändert worden wäre (so Roxin, Kausalität und Garantenstellung bei den unechten Unterlassungen, GA 2009, 73, 76 f.).
Die nach den bisherigen Feststellungen vorliegende Situation nacheinander erfolgter Unterlassungen ist nicht mit der auf gleicher Ebene angesiedelten Entscheidung von Kollektivorganen vergleichbar, nichts zu veranlassen, (vgl. dazu BGH, Urt. vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89 - [BGHSt 37, 106] - Lederspray-Fall) bzw. mit kollektivem Untätigbleiben der Mitglieder entsprechender Gremien (vgl. dazu BGH, Urt. vom 6. November 2002 - 5 StR 281/01 - [BGHSt 48, 77] - Politbüro-Fall). Beschließen etwa die Geschäftsführer einer GmbH einstimmig, eine gebotene Handlung zu unterlassen, so liegt - nur - hinsichtlich dieser Entscheidung selbst mittäterschaftliches Handeln vor. Keiner der Beteiligten kann dann seinen Beitrag zu dieser Pflichtverletzung damit in Frage stellen, dass er sich darauf beruft, im Falle seines Widerspruchs wäre er überstimmt worden (BGHSt 37, 106, 129). Entsprechendes gilt beim stillschweigenden Konsens der Angehörigen eines Gremiums, dem die Schadensabwendungspflicht als Ganzes obliegt, nichts zu tun. Auch dann kann sich keines der - parallel - schweigenden Mitglieder darauf berufen, sein Widerspruch hätte ohnehin kein Gehör gefunden. Die Frage, ob die so getroffene Kollegialentscheidung - das kollektive Unterlassen, die kollektive Pflichtwidrigkeit - für den Erfolg kausal war, beantwortet sich auch dann nach den Regeln der hypothetischen Kausalität (vgl. BGHSt 37, 106, 126 f.).
2. Allerdings ist die Beweiswürdigung, aufgrund derer die Strafkammer zum Ergebnis fehlender Ursächlichkeit des Pflichtenverstoßes für den Tod und die Verletzung der Besucher der Eishalle am 2. Januar 2006 kommt, nicht frei von Rechtsfehlern.
a) Die Formulierung, „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ müsse die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den Taterfolg feststehen, besagt nicht, dass höhere Anforderungen an das erforderliche Maß an Gewissheit von der Kausalität als sonst gestellt werden müssen. „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ ist nichts anderes als die überkommene Beschreibung des für die richterliche Überzeugung erforderlichen Beweismaßes (vgl. BGH, Urt. vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89 - [BGHSt 37, 106, 127]). Da es sich nicht um die Feststellung realer Kausalzusammenhänge handelt, muss das Gericht eine hypothetische Erwägung anstellen und sich auf deren Grundlage eine Überzeugung bilden. Hierbei „nach höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit abzustufen, trifft die Art und Weise der Überzeugungsbildung nicht“ (Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rdn. 72).
b) Die Strafkammer hat für ihre Bewertung, die Verantwortlichen der Stadt wären entsprechend ihrer bisherigen Handhabung auf jeden Fall untätig geblieben, insbesondere darauf abgestellt, dass auch der Architekt J. im Jahre 2002 - wie später auch noch der Architekt L. im Jahre 2004 - vergebens vertiefte Untersuchungen anregten. Dabei hat sich die Strafkammer nicht damit auseinandergesetzt, dass sich die Entscheidungsgrundlage für die Verantwortlichen der Stadt bei pflichtgemäßer „handnaher“ Untersuchung der Deckenkonstruktion der Eissporthallendecke durch den Angeklagten nicht vergleichbar dargestellt hätte. Der Architekt J. hatte zwar - bei oberflächlicher Betrachtung zur Abklärung der Frage, ob er einen Prüfungsauftrag überhaupt übernimmt - Mängel erkannt, wie Betonschäden und Wasserspuren sowie einen - gemeint ist wohl: schlechten - Allgemeinzustand. Dies führte dann bei ihm, wie im Jahre 2004 beim Architekten L., - nur - zur Einsicht, ohne vertiefte Untersuchungen sei der Sanierungsbedarf nicht zu ermitteln. Auf konkrete Schäden, die erhöhte Risiken unmittelbar hätten signalisieren können, haben beide nicht hingewiesen. Das konnten und mussten sie auch nicht. Demgegen-über hätte der Angeklagte bei „handnaher“ Untersuchung im Februar/März 2003 signifikante, konkret auf Gefahr hindeutende Erscheinungen an Trägerelementen der Dachkonstruktion der Eissporthalle entdeckt und diese Information an die Stadt weitergegeben. Insbesondere Hinweise auf die brüchigen Leimverbindungen wären Alarmsignale gewesen, selbst wenn bei der Stadt Unkenntnis darüber geherrscht haben sollte, dass weitgehend wasserlöslicher Klebstoff verwendet worden war. Das Ausmaß der Schäden und der Umfang der tatsächlichen Gefahr wären zwar erst bei weitergehenden Untersuchungen zutage getreten. Dass das Aufdecken konkreter auf eine mögliche Gefahrenlage hindeutender Schäden an der Tragkonstruktion bei den Verantwortlichen der Stadt überhaupt keine Reaktion ausgelöst hätte, hätte jedenfalls der Erörterung bedurft.
c) Als durchgreifender Darstellungsmangel (Lücke) erweist sich in diesem Zusammenhang insbesondere, dass sich die Strafkammer nicht damit auseinandergesetzt hat, ob die Stadt bei einer Mitteilung der oben genannten, konkreten auf eine potentielle Gefahrenlage hinweisenden Mängel im Tragwerk des Daches der Eissporthalle nicht wenigstens für den Fall höherer Schneelasten vorsorglich mit einer Begrenzung des Betriebs bzw. der Veranlassung früherer Räumung des Daches reagiert hätte. Im Hinblick auf das Alter der Halle und in Kenntnis der früheren Warnhinweise (Mängel an der Dachkonstruktion der Schwimmhalle, Auflösung der Leimverbindungen am Vordach, herabstürzende Teile) hätte es sich den zuständigen Mitarbeitern im Bauamt der Stadt Bad Reichenhall dann aufdrängen können, dass nicht mehr ohne weiteres von der zum Zeitpunkt der Erbauung des Hallenkomplexes statisch maximal zulässigen Schneelast ausgegangen werden darf. Zumal die Stadt nach den bisherigen Feststellungen den Kostenaufwand für eine vertiefte Untersuchung scheute, hätte es möglicherweise nahe gelegen, dass sie dann zunächst die kostengünstigere Variante gewählt hätte und dem Betriebspersonal neue Anweisungen für die während des Betriebs der Halle maximal zulässige Belastung des Daches mit Schnee gegeben hätte. Auch dies hätte jedenfalls der Erörterung bedurft.
d) Vor allem aber hätte sich die Strafkammer mit folgender Frage auseinandersetzen müssen, die sich ihr nach den bisherigen Feststellungen hätte aufdrängen müssen:
Es liegt nicht fern, dass der Angeklagte mit seiner positiven Äußerung in seiner Studie vom 21. März 2003 zur Tragkonstruktion - auch des Daches der Eissporthalle - der Erwartungshaltung seitens der Verantwortlichen der Stadt entsprechen wollte. Diese waren möglicherweise erkennbar an einer solchen kostengünstigen - scheinbar - zweifelsfreien sachverständigen Äußerung interessiert. Denkbar ist dann, dass ihnen eine solche Information willkommen war, um teure tiefergehende Untersuchungen zu vermeiden und eine Entscheidung über das weitere Vorgehen vordergründig risikolos hinausschieben zu können.
Folgende Punkte könnten hierauf hindeuten:
Nach den bisherigen Feststellungen bestand keine Pflicht des Angeklagten zur Überprüfung der Standsicherheit der Hallen. Er ermittelte deren Standfestigkeit und die Tragkraft der Dachkonstruktion auch nicht. Er äußerte sich in seiner „Studie“ vom 21. März 2003 gleichwohl - zwar vorsichtig (guter Eindruck, allgemein als gut zu bezeichnender Zustand) - aber letztlich ausdrücklich positiv zur Tragfähigkeit sowohl der Stahlbeton- wie auch der Holzkonstruktion. Dies lag außerhalb des Auftrags. Und er äußerte sich zudem zur Tragkonstruktion der Eissporthalle, ohne sich hierzu eine ausreichende Erkenntnisgrundlage verschafft zu haben. Dessen dürfte er sich als Fachmann auch bewusst gewesen sein. Hierbei wäre auch zu berücksichtigen gewesen, dass er selbst bereits im Jahre 2001 am Vordach des Eingangsbereichs beschädigte Leimverbindungen festgestellt hatte. Außerdem wies der Angeklagte im Zusammenhang mit seiner Äußerung zur Sekundärkonstruktion des Daches der Schwimmhalle und zum dortigen Rohrsystem selbst darauf hin, dass eindringendes Wasser zu Schäden führt, die nicht leicht von außen erkennbar sind. Trotz allem stellte er seine positiven Äußerungen nicht unter den Vorbehalt vertiefter Überprüfungen. Der allgemeine Hinweis, dass Teile der in die Jahre gekommenen Hallenkomplexe einer Sanierung bedürften, beinhaltet dies jedenfalls nicht, zumal das Dach der Eissporthalle dabei gerade nicht genannt wird.
Auch den Verantwortlichen der Stadt waren nach den bisherigen Feststellungen die genannten früheren Warnhinweise (Vordach und Schwimmhalle) und das Alter der Halle bekannt. Sie hätten wohl auch erkannt haben können, dass der Auftragsumfang (kein Gutachten zur Standfestigkeit) und das Auftragsvolumen (3.000,-- €) im Widerspruch standen zu der uneingeschränkt positiven Aussage des Angeklagten zum Tragwerk - auch des Daches - der Eissporthalle ohne jeden Vorbehalt vertiefter Prüfungen. Denn auch im zuständigen Amt der Stadt dürften Fachleute mitgewirkt haben. Die Verantwortlichen der Stadt könnten die positive Aussage zum Tragwerk der Halle in der „Studie“ des Angeklagten als willkommenen - nur scheinbar - tragfähigen und bewusst nicht hinterfragten Freibrief dafür genommen haben, weiterhin keine ernsthaften Aktivitäten zur Abwehr von Gefahren zu entfalten, die bei einer 33 Jahre alten, möglicherweise in einem ersichtlich schlechten Zustand befindlichen und nie auf ihre Standfestigkeit überprüften Halle dieser Bauweise nicht völlig auszuschließen waren.
Dies hätte jedenfalls der Erörterung bedurft.
Denn damit könnte sich die Auswirkung der - nach den bisherigen Feststellungen vorwerfbar - auf unzureichender Grundlage erstellten „Studie“ des Angeklagten auf das Verhalten der Verantwortlichen der Stadt Bad Reichenhall anders, als bisher festgestellt, darstellen. Der Schwerpunkt könnte dann beim positiven Tun, der Abgabe dieser Erklärung liegen. Dessen Ursächlichkeit für die Untätigkeit der Stadt und in der Folge für den Einsturz und für den Tod sowie die Verletzungen der Besucher am 2. Januar 2006 könnte sich bei entsprechenden Feststellungen dann geradezu aufdrängen.
Sollte sich das Verhalten der Verantwortlichen der Stadt in diesem Zusammenhang ebenfalls als pflichtwidrig herausstellen, könnte Nebentäterschaft mit einer Fahrlässigkeitstat des Angeklagten vorliegen. Zwar kann die Zurechnung eines Erfolgs nicht allein auf ein bloßes objektives Ineinandergreifen jeweils individuell fahrlässigen Verhaltens gestützt werden. Denn bei fahrlässigen Delikten entfällt die bei Vorsatztaten begrenzende Funktion der Zurechnung des Tatplans (vgl. Fischer, StGB 57. Aufl. § 25 Rdn. 26). Wenn sich jedoch in der Pflichtwidrigkeit des einen auch die Pflichtwidrigkeit des anderen verwirklicht, kann Nebentäterschaft gegeben sein (vgl. Fischer aaO § 15 Rdn. 16c, vgl. auch BGH, Urt. vom 22. Januar 1953 - 4 StR 417/52 - [BGHSt 4, 20, 21]). Da die Mitursächlichkeit jedes Tatbeitrags auch in diesen Fällen erwiesen sein muss, wird der Begriff der Nebentäterschaft zwar heute vielfach als überflüssig angesehen (vgl. etwa Schünemann in LK 12. Aufl. § 25 Rdn. 222). In Fällen der vorliegenden Art könnte dies die gemeinsame Verursachung - ohne dass Mittäterschaft vorliegt - jedoch treffend kennzeichnen, zumal in derartigen Fällen hinsichtlich der Zurechnung des Erfolgs auch normative Gesichtspunkte von Bedeutung sein könnten (vgl. Murmann in Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB § 25 Rdn. 3; Kudlich aaO Vor § 13 Rdn. 38, 48 ff.).
Mittäterschaftliche Verursachung läge vor, wenn zwischen dem Angeklagten und den Verantwortlichen der Stadt gar - ausdrücklich oder stillschweigend - bewusstes Zusammenwirken festzustellen wäre.
3. Nach allem bedarf die Sache daher - diesen Angeklagten betreffend - der erneuten Verhandlung und Entscheidung.
Nack Rothfuß Hebenstreit
Elf Jäger
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057327
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BGH
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3. Strafsenat
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20100218
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3 StR 486/09
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Beschluss
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§ 136 StPO, § 136a StPO, § 261 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO
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vorgehend LG Lübeck, 5. Juni 2009, Az: 1 Ks 8/08 - 705 Js 46204/08, Urteil
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DEU
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Revision im Strafverfahren: Anforderungen an den Tatsachenvortrag bei Verfahrensrügen
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 5. Juni 2009 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts steht der Zulässigkeit der Rüge, bei der polizeilichen Vernehmung vom 29. Oktober 2008 sei gegen §§ 136, 136 a StPO verstoßen worden, nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer das 28seitige Protokoll der entsprechenden Vernehmung nicht auch bei dieser Rüge, sondern nur zu der zuvor erhobenen Rüge einer Verletzung des § 261 StPO vorgetragen hat.
Sost-Scheible Pfister von Lienen
Hubert Schäfer
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100057337
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BGH
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4. Strafsenat
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20100202
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4 StR 9/10
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Beschluss
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§ 20 StGB, § 21 StGB, § 63 StGB
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vorgehend LG Münster, 29. September 2009, Az: 10 KLs 93 Js 3370/08 - 9/09, Urteil
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DEU
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anwendung des Zweifelssatzes; positiver Nachweis einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der Jugendkammer des Landgerichts Münster beim Amtsgericht Bocholt vom 29. September 2009 im Ausspruch über die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Nötigung unter Einbeziehung einer rechtskräftig erkannten Strafe aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten sowie ferner wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer weiteren Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Darüber hinaus hat es die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und verschiedene Gegenstände eingezogen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat zum Maßregelausspruch mit der Sachrüge Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und zum Strafausspruch sowie zur Anordnung der Einziehung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 13. Januar 2010.
2. Dagegen hat die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus keinen Bestand.
Die Anordnung setzt nach ständiger Rechtsprechung die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB begründet, sowie ferner, dass der Täter in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begangen hat, die auf den die Annahme der §§ 20, 21 StGB rechtfertigenden dauerhaften Defekt zurückzuführen ist (vgl. nur BGHSt 34, 22, 27). Die Voraussetzungen zumindest des § 21 StGB zum Zeitpunkt der Anlasstat müssen danach zweifelsfrei festgestellt sein (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 63 Rdn. 11 m.w.N.). Daran fehlt es.
a) Das Landgericht hat zur Schuldfähigkeit des Angeklagten - darin der gehörten Sachverständigen folgend - angenommen, der Angeklagte habe sich "aufgrund unterstellten permanenten Alkoholkonsums und einer weiteren seelischen Erkrankung (...) in einem Zustand (befunden), in dem seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, vermindert war". Hierzu hat es näher ausgeführt, bei dem Angeklagten liege eine langjährige Alkoholabhängigkeit vor, er habe "keine ausreichende Fähigkeit zur Normachtung, Empathie oder Respektaufbringung gegenüber Dritten". Gerade der Umstand, dass sich der Angeklagte während der JVA-Aufenthalte nach eigenem Bekunden sogar 'wohl fühlte', deute - so die Sachverständige - auf eine massive Persönlichkeitsstörung des Angeklagten hin. Ferner habe die Sachverständige bei dem Angeklagten "eine (nicht ausschließliche) Pädophilie festgestellt". Abschließend heißt es: Jedenfalls habe der Angeklagte, "was seine pädophilen Neigungen angeht, nach den Ausführungen der Sachverständigen nahezu durchgängig, jedenfalls unter Einfluss von Alkohol, Probleme, seine Steuerungsfähigkeit zu kontrollieren. Die Kammer ist daher in Anwendung des Zweifelssatzes auch diesbezüglich von dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB ausgegangen".
b) Die Anwendung des Zweifelssatzes steht der für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorausgesetzten positiven Feststellung eines dauerhaften Zustandes vom Schweregrad zumindest des § 21 StGB entgegen. Schon dies zwingt zur Aufhebung des Maßregelausspruchs. Die bisher getroffenen Feststellungen belegen nur, dass der Angeklagte auf Grund seiner Persönlichkeitsstruktur "jedenfalls unter Einfluss von Alkohol" in einen Zustand geraten kann, der die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB rechtfertigt. Damit ist aber der für die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB erforderliche positive Nachweis eines andauernden Defekts vom Schweregrad zumindest des § 21 StGB nicht erbracht (vgl. BGH, Beschl. vom 26. Juli 2005 - 5 StR 230/05). Der Senat schließt auch aus, dass es sich bei dem Hinweis auf die „Anwendung des Zweifelssatzes“ lediglich um einen Missgriff im Ausdruck handelt. Dagegen spricht bereits, dass das Landgericht auch einen „permanenten Alkoholkonsum“ lediglich „unterstellt“. Die Ausführungen im Urteil zu der „(nicht ausschließlichen) Pädophilie“ und der angenommenen Persönlichkeitsstörung lassen auch nicht erkennen, dass diese Störungsbilder etwa schon für sich genommen den Schweregrad des § 21 StGB begründen. Davon ist nach den in der Rechtsprechung hierzu entwickelten Grundsätzen jedenfalls nicht ohne weiteres auszugehen (vgl. BGH NStZ 1999, 610 f.; NStZ-RR 2004, 201; BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 32, 33 und § 63 Zustand 23, 28). Zudem lässt die Beschreibung der als Persönlichkeitsstörung gewerteten Auffälligkeiten in der Person des Angeklagten jegliche nachvollziehbare Zuordnung nach einem der in der forensischen Psychiatrie gebräuchlichen diagnostischen Klassifikationssysteme (ICD-10, DSM-IV) vermissen.
c) Die Sache bedarf daher zum Maßregelausspruch insgesamt neuer Prüfung und Entscheidung. Insoweit wird sich empfehlen, für das weitere Verfahren einen neuen Sachverständigen hinzuzuziehen. Sofern der neue Tatrichter die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 63 StGB nicht festzustellen vermag, wird mit Blick auf die festgestellte Alkoholabhängigkeit des Angeklagten auch dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) zu prüfen sein.
Tepperwien Maatz Athing
Solin-Stojanović Ernemann
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057356
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100114
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I ZR 4/08
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Urteil
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§ 545 Abs 1 ZPO, § 559 Abs 1 S 1 ZPO
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vorgehend OLG Dresden, 11. Dezember 2007, Az: 14 U 1440/07, Urteil vorgehend LG Dresden, 27. Juli 2007, Az: 43 O 221/06
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DEU
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Revisionsverfahren: Aufhebung und Zurückverweisung bei widersprüchlichen Feststellungen des Berufungsgerichts
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Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 11. Dezember 2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Parteien betreiben in G. Autohäuser. Sie haben gegeneinander wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche wegen bestimmter Werbemaßnahmen geltend gemacht. Für die Revisionsinstanz ist nur noch die Widerklage des Beklagten von Interesse.
Am 28. Juni 2006 warb die Klägerin auf ihrer Internetseite für einen PKW Ford Fiesta mit einem Kilometerstand von 20 km, dessen Erstzulassung am 30. März 2006 erfolgt ist. Die Abbildung des Fahrzeugs wies an der Stelle des Nummernschildes die Bezeichnung „Neuwagen“ auf; auf seiner Frontscheibe und in der Preisauszeichnung an der Seitenscheibe befand sich der Hinweis, dass es sich um ein deutsches Modell mit Tageszulassung handele.
Der Beklagte hält diese Werbung für irreführend. Das Landgericht hat die Klägerin unter Androhung von Ordnungsmitteln dem Antrag des Beklagten gemäß dazu verurteilt,
in ihrer Werbung die Behauptung zu unterlassen, dass ein PKW Ford Fiesta … mit einer ca. drei Monate alten Tageszulassung ein Neuwagen ist.
Außerdem hat das Landgericht dem Beklagten gestattet, die in diesem Zusammenhang entstandenen Abmahnkosten in Höhe von 335,90 € gegen einen Erstattungsanspruch der Klägerin aufzurechnen.
Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag auf Abweisung der Widerklage und Zahlung weiterer 335,90 € weiter. Der Beklagte beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen.
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I. Das Berufungsgericht hat die beanstandete Werbung als irreführend nach §§ 3, 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG 2004 angesehen und dazu ausgeführt:
Die durch die Werbung der Klägerin beim Verkehr erweckte Erwartung, in den Genuss aller Vorteile eines Neuwagens zu kommen, werde beim Kauf des angebotenen Fahrzeugs nicht erfüllt, und zwar auch dann nicht, wenn es vom Händler nicht - etwa als Vorführwagen - genutzt worden sei. Bei einer Tageszulassung werde das Fahrzeug im wirtschaftlichen Wert gemindert, da die Zahl der Halter bzw. Vorbesitzer bei einem späteren Verkauf des Fahrzeugs als Gebrauchtwagen eine erhebliche Rolle spiele. Die durch die Erstzulassung bedingte Verkürzung der Fristen für Herstellergarantie, Neuwertentschädigung in der Vollkaskoversicherung und die nächste TÜV-Prüfung sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur dann unwesentlich, wenn sich die Erstzulassung auf wenige Tage beschränke und die Herstellergarantie um nicht mehr als zwei Wochen verkürzt werde. Es könne dahinstehen, ob bei dem konkret beworbenen Fahrzeug die Neuwagengarantie bereits mit der Tageszulassung zu laufen begonnen habe. Eine Zulassung von ca. drei Monaten mindere unabhängig vom Lauf der Herstellergarantie den Wert des Fahrzeugs. Der durch die Bewerbung als „Neuwagen“ hervorgerufene irreführende Eindruck werde nicht dadurch ausgeräumt, dass in der Frontscheibe und der an den Seitenscheiben angebrachten Preisauszeichnung auf die Erstzulassung hingewiesen werde.
II. Die Revision hat Erfolg. Die rechtliche Beurteilung, die Werbung mit der Angabe, ein Pkw mit einer etwa drei Monate alten Tageszulassung sei ein Neuwagen, sei irreführend, wird von den getroffenen Feststellungen nicht getragen. Die Ausführungen des Berufungsgerichts hierzu sind widersprüchlich und erlauben dem Senat keine hinreichend sichere rechtliche Beurteilung des Parteivorbringens (§ 545 Abs. 1, § 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
1. Das tatsächliche Vorbringen der Parteien ist in erster Linie dem Tatbestand des Urteils zu entnehmen (§ 314 ZPO). In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist jedoch anerkannt, dass vom Geltungsbereich des § 314 ZPO auch diejenigen tatsächlichen Feststellungen erfasst werden, die in den Entscheidungsgründen enthalten sind (BGHZ 139, 36, 39). Die Beweiskraft des Tatbestands und damit auch die Bindung für das Revisionsgericht entfallen aber, soweit die Feststellungen Widersprüche oder Unklarheiten aufweisen (BGHZ 80, 64, 67; BGH, Urt. v. 17.5.2000 - VIII ZR 216/99, NJW 2000, 3007). Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen enthalten einen solchen Widerspruch, der von Amts wegen zu berücksichtigen ist (BGH, Urt. v. 9.3.1995 - III ZR 44/94, NJW-RR 1995, 1058, 1060 m.w.N.).
Das Berufungsgericht hat auf Seite 6 seines Urteils eine „Zulassung von ca. drei Monaten“ angenommen, also eine ununterbrochene Zulassungsdauer von ca. drei Monaten. Dazu stehen das vom Berufungsgericht bestätigte Unterlassungsgebot und die Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts in unlösbarem Widerspruch.
Der Klägerin wurde vom Landgericht untersagt, damit zu werben, „dass ein Ford Fiesta 1.0 Fun mit einer ca. drei Monate alten Tageszulassung ein Neuwagen ist“. Damit bezieht sich der Tenor nach seinem an sich eindeutigen Wortlaut auf ein Fahrzeug, für das ca. drei Monate zuvor eine Tageszulassung bestand, also eine Zulassung von grundsätzlich nur einem oder allenfalls einigen wenigen Tagen. Ein abweichendes Verständnis ergibt sich auch nicht aus den Gründen des landgerichtlichen Urteils. Dort ist auf den Seiten 6 und 7 von einer „Tageszulassung vom 30.03.2006“ die Rede. Auf Seite 11 heißt es, es liege „bereits eine drei Monate zurückliegende anderweitige Zulassung auf einen Dritten“ vor. Auf Seite 16 wird ausgeführt, die Tageszulassung liege drei Monate zurück. Diesen Formulierungen kann nicht entnommen werden, dass das Landgericht mit dem Begriff „ca. drei Monate alte Tageszulassung“ eine Zulassung gemeint hat, die drei Monate ununterbrochen angedauert hat. Wenn in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils dann von einer „Zulassung von ca. drei Monaten“ die Rede ist, ist trotz Bestätigung der landgerichtlichen Verurteilung der Klägerin unklar, ob das Berufungsgericht den Tenor im selben Sinn wie das Landgericht verstanden hat. Es bleibt offen, ob sich das Verbot auf eine Werbung für ein drei Monate lang zugelassenes Fahrzeug bezieht oder für ein solches, das vor drei Monaten für einen oder allenfalls einige wenige Tage zugelassen war.
Damit beruht die rechtliche Würdigung des Berufungsgerichts auf widersprüchlichen Feststellungen, die dem Revisionsgericht keine hinreichend sichere Beurteilung des Sachverhalts erlauben. Das Berufungsurteil ist schon wegen dieses Mangels aufzuheben (vgl. BGH NJW 2000, 3007).
2. Zudem fehlt dem Berufungsurteil ein vollstreckungsfähiger Inhalt. Wegen der Widersprüche zwischen dem Tenor und den Entscheidungsgründen, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung des Urteilsausspruchs heranzuziehen sind (BGHZ 34, 337, 339; BGHZ 118, 53, 55 - Professorenbezeichnung in der Arztwerbung II), ist unbestimmt, welche konkrete Werbeform der Klägerin untersagt ist.
3. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben. Da das Revisionsgericht die Widersprüchlichkeit nicht selbst beseitigen kann, ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, das nunmehr widerspruchsfreie Feststellungen zu treffen hat.
Bornkamm Pokrant Büscher
Bergmann Kirchhoff
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BMJV
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JURE100057359
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100127
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IV ZR 127/08
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Urteil
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§ 59 Abs 2 S 1 VVG, § 307 Abs 1 S 1 BGB, § 307 Abs 2 Nr 2 BGB, § 4 Abs 1 Nr 6 Buchst a AHB
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vorgehend OLG Bamberg, 3. April 2008, Az: 1 U 15/08, Urteil vorgehend LG Coburg, 7. Dezember 2007, Az: 13 O 374/07, Urteil
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DEU
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Ausgleichsanspruch des Feuerversicherers gegen den Haftpflichtversicherer des Mieters: Wirksamkeit des Ausschlusses für unter das RVA fallende Rückgriffsansprüche
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Die Revision gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 3. April 2008 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
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Die Klägerin verlangt als Gebäudeversicherer von der Beklagten als Haftpflichtversicherer einer Mieterin Ersatz von ihrem Versicherungsnehmer erstatteten Aufwendungen, die durch einen in dem gemieteten Einfamilienhaus am 14. August 2006 entstandenen Brand verursacht wurden. Mietsachschäden sind in die Haftpflichtversicherung eingeschlossen. Den Schaden am Hausrat der Mieterin hat deren Hausratversicherer reguliert.
Die Klägerin stützt ihren auf Ausgleich des hälftigen Zeitwertschadens gerichteten Anspruch in Höhe von noch 5.256,87 € auf die nach der Rechtsprechung des Senats (BGHZ 169, 86 Tz. 22 ff.; Urteil vom 18. Juni 2008 - IV ZR 108/06 - VersR 2008, 1108) entsprechend anwendbaren Grundsätze der Doppelversicherung (§ 59 Abs. 2 Satz 1 VVG a.F.).
Die Beklagte meint, eine Doppelversicherung liege nicht vor. Nach Ziffer V.2. ihrer Risikobeschreibungen, Besonderen Bedingungen und Zusatzbedingungen für die Allgemeine Haftpflichtversicherung (RBH) seien die unter den Regressverzicht nach dem Abkommen der Feuerversicherer bei übergreifenden Schadenereignissen (RVA) fallenden Rückgriffsansprüche von der Deckung ausgeschlossen.
Das Landgericht hat der Klage in Höhe von 5.256,87 € nebst Zinsen stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte weiterhin die vollständige Abweisung der Klage.
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Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben (wie schon früher: OLG Bamberg VersR 2007, 1651 f.; LG Coburg r+s 2007, 421 ff.) zutreffend entschieden, dass der Ausschluss für unter das RVA fallende Rückgriffsansprüche in Ziffer V.2. RBH dem Ausgleichsanspruch entsprechend den Grundsätzen der Doppelversicherung nicht entgegensteht. Der Senat folgt der vom Oberlandesgericht Koblenz (VersR 2009, 676 und 1656) vertretenen Ansicht nicht, durch eine solche Klausel sei dieser Ausgleichsanspruch ausgeschlossen, weil und insoweit der Klägerin der Regress gegen die Mieterin schon durch den gegenüber dem vom Bundesgerichtshof entwickelten Regressverzicht vorrangigen Regressverzicht nach dem RVA verwehrt sei. Diese Argumentation berücksichtigt Sinn, Zweck und Auswirkung des RVA wie des Ausschlusses nicht hinreichend.
1. a) aa) Zweck des vom Senat entwickelten Regressverzichts ist der Schutz der Interessen des Vermieters und des Mieters (BGHZ 169, 86 Tz. 9 ff.). Der Regressverzicht soll dagegen ebenso wenig wie der Regressverzicht nach dem RVA (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 1984 - VI ZR 115/82 - VersR 1984, 325 unter II 2) dem Haftpflichtversicherer des Schädigers zugute kommen. Der vom Senat im Wege der Rechtsfortbildung geschaffene Ausgleichsanspruch (BGHZ 169, 86 Tz. 22 ff.) ist das Äquivalent dafür, dass dem Gebäudeversicherer trotz bestehenden Haftpflichtversicherungsschutzes im Interesse beider Mietvertragsparteien der Regressverzicht zugemutet wird (BGHZ aaO Tz. 9-21; Senatsurteil vom 18. Juni 2008 - IV ZR 108/06 - VersR 2008, 1108 Tz. 11). Im Ergebnis führt dieser zu einer Halbierung der Leistungspflicht des Haftpflichtversicherers.
bb) Auch durch den Regressverzicht nach dem RVA wird der Mieter so behandelt, als sei sein Sachersatzinteresse in der Feuerversicherung mitversichert. Dies führt ebenso wie bei dem vom Senat entwickelten Regressverzicht bei einer Mietsachschäden deckenden Haftpflichtversicherung zu einer der Doppelversicherung strukturell vergleichbaren Interessenlage (OLG Bamberg und LG Coburg aaO; LG Köln VersR 2008, 1258 f.; Langheid in Römer/Langheid, VVG 2. Aufl. § 67 Rdn. 37; Sieg BB 1982, 900 f.; Martin, Sachversicherungsrecht 3. Aufl. J I Rdn. 11 f., 14 f.; Kohleick, Die Doppelversicherung im deutschen Versicherungsvertragsrecht S. 36 ff.). Daraus folgt, dass nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. BGHZ 169 aaO Tz. 22 ff.) dem Feuerversicherer auch wegen des Regressverzichts im Rahmen des RVA grundsätzlich ein Ausgleichsanspruch in analoger Anwendung von § 59 Abs. 2 VVG a.F. gegen den Haftpflichtversicherer des Mieters zuzubilligen ist. Das ist das Äquivalent dafür, dass die Feuerversicherer aus sozialer Verantwortung zum Schutz der Schädiger (freiwillig) auf den Regress verzichten.
b) Der Regressverzicht ist gemäß Ziffer 6 RVA in der Fassung von 2005 (Text bei Günther, Der Regress des Sachversicherers 3. Aufl. S. 30 ff.) je Schadenereignis nach unten und oben begrenzt. Er gilt nach Ziffer 6a RVA bei einem Regressschuldner für eine Regressforderung bis zu 600.000 €, jedoch nur insoweit, als die Regressforderung 150.000 € übersteigt. Bis zu diesem Betrag wird also grundsätzlich auf den Regress nicht verzichtet. Ziffer 6b RVA erweitert den Verzicht auf diesen Bereich aber unter anderem für Schäden an der Mietsache, sofern eine Haftpflichtversicherung nach den AHB keine Deckung bietet, weil der Versicherungsschutz nach § 4 I 6 a AHB, jetzt Ziffer 7.6 AHB 2008 ausgeschlossen ist. Daraus ist umgekehrt zu entnehmen, dass Regress genommen wird, wenn Haftpflichtdeckung besteht. Nach dem Zweck des RVA sollte bis zu der Untergrenze von Anfang an nicht auf einen Regress verzichtet werden, weil sich der Regressschuldner in diesem Bereich im Allgemeinen über eine Haftpflichtversicherung absichern konnte (BGH, Urteil vom 24. Januar 1984 aaO; OLG Düsseldorf VersR 1998, 966, 967; Siegel, VersR 2009, 46, 48; Essert, VersR 1981, 1111, 1112; Günther aaO S. 34; Dietz, Wohngebäudeversicherung 2. Aufl. L 5.4; Sieg aaO). Wortlaut, Systematik und Zweck des RVA, den Schädiger, nicht aber dessen Haftpflichtversicherer zu entlasten, führen deshalb zu der Auslegung, dass der Regressverzicht im Verhältnis zu einer Mietsachschäden deckenden Haftpflichtversicherung jedenfalls bis zum Betrag von 150.000 € subsidiär sein soll.
2. Der damit nach Ziffer 6b RVA vorbehaltene Regress gegen den haftpflichtversicherten Schädiger soll durch Ziffer V.2. RBH abgewehrt und damit vom Versicherungsschutz ausgeschlossen werden. Diese Ausschlussklausel ist nach § 307 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam, weil sie den Zweck des Haftpflichtversicherungsvertrages in einem wesentlichen Punkt gefährdet und den Mieter auch im Übrigen unangemessen benachteiligt.
a) Durch Ziffer V.2. RBH wird dem Versicherungsnehmer - abweichend von § 4 I 6 a AHB - Versicherungsschutz für die gesetzliche Haftpflicht aus der Beschädigung von Wohnräumen und sonstigen zu privaten Zwecken gemieteten Räumen in Gebäuden gewährt. Auf diesen Versicherungsschutz ist der Mieter von Wohnraum angewiesen. Leicht fahrlässig verursachte Schäden durch Brand können ein existenzgefährdendes Ausmaß erreichen. Der Einschluss von gemietete Wohnräume betreffenden Haftpflichtschäden ist deshalb längst die Regel, die Wirksamkeit eines formularmäßigen Ausschlusses wäre fraglich (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Dieser versprochene Versicherungsschutz wird durch Ziffer V.2. RBH eingeschränkt (vgl. Siegel, r+s 2007, 498 f.). Allerdings wird nicht ein bestimmtes Risiko vom Versicherungsschutz ausgeschlossen. Vielmehr will der Haftpflichtversicherer nicht leisten, wenn der Feuerversicherer den Mieter als Quasi-Versicherungsnehmer im Wege des Regressverzichts schützt. Damit hat die Klausel die Bedeutung einer einfachen, die umfassend erteilte Leistungszusage einschränkenden Subsidiaritätsabrede.
b) Die Klausel ist insbesondere in ihrer praktischen Auswirkung geeignet, den versprochenen Versicherungsschutz auszuhöhlen.
aa) Durch den Leistungsausschluss in Ziffer V.2. RBH wird der Versicherungsnehmer auf das RVA verwiesen. Dessen Text kennt er nicht. Er wird ihm laut Anmerkung zur Klausel "auf Wunsch zur Verfügung gestellt". Damit wird der Versicherungsnehmer auf ein ihm völlig unbekanntes Vertragswerk verwiesen. Welche Versicherer danach auf einen Regress verzichten, ergibt sich daraus nicht. Der sachliche Gehalt des RVA ist für den Versicherungsnehmer nur schwer zu erfassen. Die Grenzen seiner Verständnismöglichkeiten sind spätestens dann überschritten, wenn er bemerkt, dass Ziffer 6b RVA ihn wieder auf die Haftpflichtversicherung zurückverweist, eine Bestimmung, deren Bedeutung - wie der vorliegende Fall zeigt - schon für sich genommen und insbesondere im Verhältnis zu Ziffer V.2. RBH auch von spezialisierten Versicherungsjuristen nicht erkannt wird. Es kommt hinzu, dass durch die Verweisung auf das RVA auch dessen Änderungen, die ohne Beteiligung der Parteien des Haftpflichtversicherungsvertrages vorgenommen werden, den Umfang des Versicherungsschutzes beeinflussen können (vgl. Grommelt, r+s 2007, 230, 231 f.). So sind beispielsweise seit dem 1. Januar 2010 Mietsachschäden von der Erweiterung des Regressverzichts in Ziffer 6b RVA nicht mehr umfasst (Siegel, VersR 2009, 678, 680). Eine solche Gestaltung des Versicherungsschutzes ist nicht nur intransparent, sondern auch inhaltlich unangemessen.
bb) Die Verweisung des Versicherungsnehmers auf das RVA begründet ferner die praktisch erhebliche Gefahr, dass er letztlich durch keinen der beiden Versicherer den ihm zustehenden Schutz erhält. Wie in drei anderen Verfahren vom dort in Anspruch genommenen Haftpflichtversicherer vorgetragen wurde, haben Gebäudefeuerversicherer in der Vergangenheit haftpflichtversicherte Verursacher eines Brandschadens häufig in Anspruch genommen, obwohl das RVA anwendbar gewesen sei. In solchen Fällen besteht nach Auffassung der Haftpflichtversicherer Anspruch auf Deckungsschutz auch nicht in Form der Anspruchsabwehr. Darüber, ob das RVA einem Regressanspruch gegen den Mieter entgegensteht, werden Feuerversicherer und Haftpflichtversicherer aber oft unterschiedlicher Meinung sein. So kann etwa darüber gestritten werden, ob der Brand auf grober Fahrlässigkeit beruht, ob er von den eigenen Sachen des Mieters ausgegangen ist oder - wie hier - ob die Subsidiaritätsklausel in der Haftpflichtversicherung wirksam ist und sich gegenüber der bereits erörterten einfachen Subsidiaritätsregelung in Ziffer 6b RVA durchsetzt. Dann steht der Mieter zwischen beiden Versicherern, muss sich auf eigene Kosten und eigenes Risiko gegen den Regressanspruch verteidigen und läuft Gefahr, bei einer Verurteilung trotz Haftpflichtversicherung keinen Freistellungsanspruch zu haben. In eine solche Lage darf ein Haftpflichtversicherer seinen Versicherungsnehmer nicht bringen (vgl. BGHZ 171, 56 Tz. 11 ff.; Senatsurteil vom 14. Februar 2007 - IV ZR 54/04 - VersR 2007, 1119 Tz. 11 ff.). Diese Gefahr, die nach den Erfahrungen des Senats nicht selten durch unberechtigte Deckungsablehnungen von Haftpflichtversicherern hervorgerufen wird, war auch ein wesentlicher Grund dafür, trotz bestehender Haftpflichtdeckung einen Regressverzicht des Gebäudeversicherers anzunehmen (BGHZ 169, 86 Tz. 17). Es ist auch nicht hinzunehmen, dass Haftpflichtversicherer und Gebäudeversicherer durch gegenseitige rechtliche Abwehrmaßnahmen den nach allgemeiner Meinung gebotenen Schutz des leicht fahrlässig handelnden Wohnungsmieters unterlaufen (vgl. BGHZ 169, 86 Tz. 8; Staudinger/Kassing, VersR 2007, 10; Looschelders, JR 2007, 424, 426; Günther, VersR 2006, 1539, 1541).
cc) Die Befürchtung, dass der Versicherungsnehmer bei kollidierenden Subsidiaritätsabreden letztlich ganz ohne Versicherungsschutz bleibt, ist auch der Grund dafür, dass nach herrschender Meinung keine der beiden Subsidiaritätsklauseln eingreift mit der Folge eines Ausgleichs nach § 59 Abs. 2 VVG a.F. (Kollhosser in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. § 59 Rdn. 28; Staudinger/Kassing aaO S. 13 Fn. 46; Winter, VersR 1991, 527, 530 f.; Segger, VersR 2006, 38, 41; BK/Schauer, § 59 VVG Rdn. 52; Versicherungsrechts-Handbuch/Armbrüster, 2. Aufl. § 6 Rdn. 88).
3. Die Klägerin hat entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht auf die Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs verzichtet. Die Ansicht der Beklagten, ein solcher Verzicht ergebe sich aus dem Rundschreiben des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft an die Vorstände der Haftpflichtversicherer vom 28. November 1997 zur Neufassung des RVA, ist nicht richtig. Es ist schon fraglich, welche Bedeutung ein Rundschreiben des Gesamtverbandes überhaupt für die Auslegung des RVA haben soll. Überdies kann dieses Rundschreiben den Ausgleichsanspruch analog § 59 Abs. 2 VVG a.F. gar nicht erfassen, weil seinerzeit niemand an einen solchen Ausgleichsanspruch gedacht hat. Der Senat hatte es früher abgelehnt, in eine sogenannte reine Sachversicherung ein Haftpflichtinteresse einzubeziehen (Urteil vom 23. Januar 1991 - IV ZR 284/89 - VersR 1991, 462 unter I). Abgesehen davon geht es hier nicht um das RVA in der Fassung von 1998.
Terno Seiffert Wendt
Dr. Kessal-Wulf Felsch
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057362
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BGH
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2. Strafsenat
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20100122
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2 StR 563/09
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Beschluss
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§ 29a BtMG, § 52 StGB
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vorgehend LG Bonn, 3. Juli 2009, Az: 23 KLs 14/09 - 900 Js 1085/08, Urteil
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DEU
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Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln: Tateinheit bei Bezahlung der ersten Lieferung anlässlich der zweiten Lieferung und bei Umtausch mangelhafter in mangelfreie Ware
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1. Auf die Revision des Angeklagten B. wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 3. Juli 2009, soweit es ihn betrifft, dahin geändert, dass der Angeklagte wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wird.
2. Auf die Revision des Angeklagten S. wird das vorgenannte Urteil, soweit es ihn betrifft, dahin geändert, dass der Angeklagte wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt wird.
3. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.
4. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und den Angeklagten S. wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten führen jeweils zur Abänderung des Schuldspruchs und zum Wegfall der Einzelstrafen, im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Urteilsfeststellungen erwarb der Angeklagte B. Mitte Oktober 2008 10 kg Amfetamin mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 4 % Amfetaminbase und 1 kg Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 2 % THC von einem Lieferanten in den Niederlanden auf Kommissionsbasis zum Zweck des gewinnbringenden Weiterverkaufs. Am 28. November 2008 bestellte er über den Angeklagten S. telefonisch 25 kg Amfetamin und 1 kg Marihuana. Das Amfetamin wurde am selben Tag in D. ausgeliefert. Der Angeklagte B. zahlte bei der Übergabe den für die erste Lieferung vereinbarten Kaufpreis von 12.000 € an den Kurier. Das Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von wiederum 2 % THC wurde in zwei Teillieferungen am 29. November und am 1. Dezember 2008 nachgeliefert. Bei der Lieferung am 29. November 2008 leistete der Angeklagte B. eine Anzahlung auf den Kaufpreis der Betäubungsmittel aus der zweiten Bestellung. Das gelieferte Amfetamin hatte eine sehr schlechte Qualität mit nur 0,6 % Wirkstoffgehalt. Beide Angeklagten reklamierten die schlechte Qualität bei dem Lieferanten, der sich bereit erklärte, es zurückzunehmen und mangelfreie Ware nachzuliefern. Am 15. Dezember 2008 bestellte der Angeklagte S. für den Angeklagten B. weitere 50 kg Amfetamin zum Zwecke des Weiterverkaufs. Die Anlieferung der 50 kg Amfetamin mit einem Wirkstoffgehalt von 5,3 % Amfetaminbase erfolgte am 16. Dezember 2008 auf einem Parkplatz in D. Entsprechend der vorangegangenen Vereinbarung mit dem Lieferanten nahm der Kurier im Gegenzug 12 kg Amfetamin aus der zweiten Lieferung zurück, außerdem übergab ihm der Angeklagte B. 21.900 € Restkaufpreis für das Rauschgift aus der zweiten Bestellung.
2. Die Annahme von Tatmehrheit für die drei Rauschgiftgeschäfte des Angeklagten B. hat keinen Bestand. Der Angeklagte hat das ihm beim ersten Geschäft auf Kommissionsbasis überlassene Rauschgift bei der Übernahme der Amfetaminlieferung aus dem zweiten Geschäft bezahlt. Damit treffen diese beiden Rauschgiftkäufe in einem Handlungsteil zusammen, denn auch die Zahlungsvorgänge sind tatbestandliche Handlungsteile des einheitlichen Handeltreibens mit der konkret betroffenen Betäubungsmittelmenge (vgl. BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 3 Konkurrenzen 5; § 29 Strafzumessung 29; Senatsbeschlüsse vom 2. Oktober 2002 - 2 StR 294/02 -, vom 11. August 2004 - 2 StR 184/04 -, vom 17. Oktober 2007 - 2 StR 376/07 - und vom 9. Januar 2008 - 2 StR 527/07 -). Zwischen dem ersten und dem zweiten Geschäft besteht deshalb Tateinheit. Aber auch das dritte Geschäft ist mit den beiden ersten hier tateinheitlich verbunden. Wird eine zum Weiterverkauf erworbene Rauschgiftmenge in eine andere Menge umgetauscht, weil etwa die gelieferte Qualität nicht den Erwartungen entspricht, so sind auch die Bemühungen um die Rückgabe der mangelhaften und die Nachlieferung einer mangelfreien Ware auf die Abwicklung ein- und desselben Rauschgiftgeschäfts gerichtet (st. Rspr., vgl. BGH NStZ 2005, 232; StV 2007, 83; Senatsbeschlüsse vom 23. September 2009 - 2 StR 325/09 - und vom 30. September 2009 - 2 StR 323/09 -). Bei der Übernahme der dritten Amfetaminlieferung hat der Angeklagte B. 12 kg Amfetamin aus der zweiten Lieferung zurückgegeben und den Restkaufpreis für das Rauschgift aus der zweiten Lieferung bezahlt. Dadurch ist auch das dritte Rauschgiftgeschäft in einem Handlungsteil mit dem zweiten Rauschgiftgeschäft verbunden, so dass insgesamt Tateinheit zwischen allen drei Geschäften des Angeklagten B. besteht.
Da nur eine Haupttat des Angeklagten B. vorliegt, stellen die Beihilfehandlungen des Angeklagten S. zu dem zweiten und dem dritten Rauschgifterwerb auch nur eine Tat der Beihilfe dar.
Der Senat hat die sich hieraus ergebende, die Angeklagten begünstigende Änderung der Schuldsprüche selbst vorgenommen. § 265 StPO steht nicht entgegen, da der umfassend geständige Angeklagte B. und der weitgehend geständige Angeklagte S. sich auch im Falle eines entsprechenden Hinweises nicht anders und Erfolg versprechender als geschehen hätten verteidigen können.
3. Das Landgericht hat mit für sich genommen rechtsfehlerfreien Erwägungen bei dem Angeklagten B. für den Fall 1 eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, für Fall 2 eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten und für den Fall 3 eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren verhängt und hieraus eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren gebildet. Bei dem Angeklagten S. hat es mit ebenfalls rechtsfehlerfreien Erwägungen im Fall 2 auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und im Fall 3 auf eine Freiheitsstrafe von drei Jahren erkannt und daraus eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten gebildet.
Es erscheint auf der Grundlage der Strafzumessungserwägungen des Landgerichts ausgeschlossen, dass es jeweils eine geringere Einzelstrafe als die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe ausgesprochen hätte, wenn es die Konkurrenzen zutreffend beurteilt hätte. Schuldumfang und Unrecht des gesamten Tatgeschehens bleiben von dieser Änderung unberührt. Bei einer solchen Fallgestaltung ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässig, dass die Gesamtfreiheitsstrafe als Einzelstrafe bestehen bleibt (vgl. BGH NStZ 1996, 383 m.w.N.).
Rissing-van Saan Roggenbuck Appl
Cierniak Krehl
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057364
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100204
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IX ZA 40/09
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Beschluss
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§ 290 Abs 1 Nr 3 InsO
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vorgehend LG Duisburg, 5. November 2009, Az: 7 T 175/09, Beschluss vorgehend AG Duisburg, 24. Juni 2009, Az: 60 IK 37/09
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DEU
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Restschuldbefreiung und Verfahrenskostenstundung: Rechtsschutzbedürfnis für Restschuldbefreiung im erneuten Eröffnungsverfahren nach Versagung im früheren Verfahren; Versagung der Verfahrenskostenstundung ohne vorhergehende Restschuldbefreiungsversagung
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Der Antrag des Schuldners auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Rechtsbeschwerdeverfahrens gegen den Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg vom 5. November 2009 wird abgelehnt.
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I.
Auf einen Eröffnungsantrag des Schuldners vom Oktober 2007 lehnte das Insolvenzgericht mit Beschluss vom 18. Juni 2008 die Stundung der Verfahrenskosten ab, weil ein zweifelsfreier Grund für die Versagung der Restschuldbefreiung vorlag. Der Antrag auf Verfahrenseröffnung wurde mangels Masse abgewiesen. Der Versagungsgrund des § 290 Abs. 1 Nr. 6 InsO lag vor, weil der Schuldner in seinem Insolvenzantrag eine Darlehensforderung seines Vaters nicht angegeben hatte, die er noch nach Antragstellung befriedigte.
Am 2. März 2009 hat der Schuldner erneut Stundung der Verfahrenskosten, Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen und Erteilung der Restschuldbefreiung beantragt. Diese Anträge hat das Insolvenzgericht mit Beschluss vom 24. Juni 2009 zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde ist erfolglos geblieben. Der Schuldner beabsichtigt, sich gegen den Beschluss des Beschwerdegerichts vom 5. November 2009 mit der Rechtsbeschwerde zu wenden, für die er um Prozesskostenhilfe nachsucht.
II.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, die Rechtsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (§ 4 InsO; § 114 ZPO).
Die beabsichtigte Rechtsbeschwerde (§§ 6, 7 Abs. 1, § 4d Abs. 1, § 34 Abs. 1 InsO, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) wäre unzulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO).
1. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass einem Antrag des Schuldners auf Restschuldbefreiung das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn er innerhalb von drei Jahren nach rechtskräftiger Versagung der Restschuldbefreiung in einem früheren Verfahren wegen einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verletzung seiner Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten einen erneuten Antrag auf Restschuldbefreiung stellt (BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 - IX ZB 219/08, ZInsO 2009, 1777, 1778 Rn. 8; z.V.b. in BGHZ). Nach einer weiteren Entscheidung vom 21. Januar 2010 (IX ZB 174/09) gilt die dreijährige Sperrfrist, die ab Erlass der Entscheidung über den Eröffnungsantrag zu laufen beginnt, auch dann, wenn der Schuldner es im Eröffnungsverfahren versäumt hat, auf einen Hinweis des Gerichts rechtzeitig einen eigenen Insolvenzantrag verbunden mit einem Antrag auf Restschuldbefreiung zu stellen.
2. Nach diesen Grundsätzen ist der erneut gestellte Eigenantrag nebst Antrag auf Verfahrenskostenstundung und Restschuldbefreiung unzulässig. Steht schon im Eröffnungsverfahren oder im eröffneten Verfahren zweifelsfrei fest, dass dem Schuldner die Restschuldbefreiung zu versagen ist, so kann nach ständiger Rechtsprechung (BGH, Beschl. v. 16. Dezember 2004 - IX ZB 72/03, ZInsO 2005, 207, 208; v. 27. Januar 2005 - IX ZB 270/03, ZInsO 2005, 265; v. 15. November 2007 - IX ZB 74/07, ZInsO 2008, 111, 112 Rn. 18) die Stundung der Verfahrenskosten versagt oder aufgehoben werden, ohne dass es der vorhergehenden Versagung der Restschuldbefreiung bedarf. Diese Aufhebung beruht auf der Unredlichkeit des Schuldners. Die planwidrige Regelungslücke, von der der Senat für das eröffnete Verfahren ausgegangen ist, wenn dem Schuldner die Restschuldbefreiung in einem früheren Verfahren im Schlusstermin versagt werden musste (BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 aaO S. 1779 f Rn. 14 ff), besteht auch hier. Um zu verhindern, dass der im Erstverfahren festgestellte Versagungsgrund sanktionslos bleibt, darf der Schuldner nicht die Möglichkeit haben, sofort wieder einen Antrag auf Restschuldbefreiung zu stellen. Entsprechend dem Grundgedanken des Vorschlags in dem "Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen, zur Stärkung der Gläubigerrechte sowie zur Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen" vom 22. August 2007 (abgedruckt als Beilage 2 zu ZVI Heft 8/2007), mit dem der Versagungstatbestand des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO erweitert werden sollte (vgl. BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 aaO, 1779 f Rn. 16), soll der Schuldner das aufwändige und kostenträchtige Verfahren auch dann nicht sofort wieder in Anspruch nehmen können, wenn es aufgrund seines Fehlverhaltens schon in einem vorangegangenen Eröffnungsverfahren zur Stundungsversagung gekommen ist. Auch hier besteht eine dreijährige Sperrfrist für einen erneuten Antrag, deren Lauf mit Rechtskraft der Entscheidung über die Ablehnung der Verfahrenskostenstundung und Abweisung des Eröffnungsantrags mangels Masse in dem früheren Verfahren beginnt.
3. Dem steht nicht entgegen, dass es hierfür einer doppelten Analogie, nämlich der Anwendung aller Versagungsgründe des § 290 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 InsO im Eröffnungsverfahren auf die Entscheidung über die Verfahrenskostenstundung und der entsprechenden Anwendung des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO nach Maßgabe der Vorschläge des Regierungsentwurfs eines Entschuldungsgesetzes bedarf. Die entsprechende Anwendung aller Versagungsgründe im Eröffnungsverfahren ist - wie oben bereits ausgeführt - im Fall deren zweifelsfreien Vorliegens schon seit langem anerkannt. Anlass, von dieser Rechtsprechung abzugehen oder sie einzuschränken, besteht nicht. Vielmehr ist es zur Sicherung einer maßvollen Inanspruchnahme des zeit- und kostenaufwändigen Restschuldbefreiungsverfahrens geboten, auch bei schon vor Verfahrenseröffnung zweifelsfrei festgestellten Verstößen die übermäßige Inanspruchnahme des Verfahrens zu verhindern. Andere Abgrenzungskriterien haben sich als nicht tragfähig erwiesen (vgl. BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 aaO S. 1780 Rn. 18). In Betracht kommt nur eine zeitlich begrenzte Sperrfrist. Insoweit hält der Senat außerhalb des Anwendungsbereichs des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO einen Zeitabstand von drei Jahren für angemessen (vgl. § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO, hierzu BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 aaO S. 1779 f Rn. 16). Eine übermäßige Beeinträchtigung des Schuldners ist damit nicht verbunden. Auch dies ergibt sich aus der Rechtsprechung des Senats.
Kayser Raebel Fischer
Pape Grupp
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JURE100057365
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BGH
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3. Strafsenat
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20100119
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3 StR 451/09
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Beschluss
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§ 244 Abs 2 StPO, § 244 Abs 5 S 2 StPO, § 244 Abs 6 StPO
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vorgehend LG Hannover, 18. Mai 2009, Az: 40 a 15/08 - 6031 Js 20480/08, Urteil
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DEU
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Ablehnung eines Beweisantrags im Strafverfahren: Anforderungen an die Ablehnung des Antrags auf Vernehmung eines Auslandszeugen und an die Begründung des Ablehnungsbeschlusses
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Auf die Revision des Angeklagten T. C. wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 18. Mai 2009, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit zwei Verfahrensrügen Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts organisierte der Angeklagte den Transport von etwa 10 kg Heroin in einem LKW aus der Türkei nach Deutschland, um das Rauschgift gewinnbringend weiter zu verkaufen. Nach der Ankunft der Betäubungsmittel in K. veranlasste er den Mitangeklagten A., das Heroin abzuholen. Nach der Übergabe wurden A. und der Fahrer des LKW festgenommen. Zeitgleich erfolgte die Festnahme des im Bereich des K.'er Hauptbahnhofs wartenden Angeklagten sowie des Mitangeklagten Ab. C.
Der Angeklagte hat sich dahin eingelassen, er sei davon ausgegangen, dass es sich um eine Ladung geschmuggelter Antiquitäten gehandelt habe, die er für einen erkrankten Bekannten habe entgegennehmen wollen. Dies sei auch Gegenstand der Telefonate gewesen, die er mit Verwandten in der Türkei geführt habe; bei diesen sei es außerdem um illegale Grenzübertritte eines Verwandten gegangen. Das Landgericht hat diese Einlassung - aufgrund einer für sich fehlerfreien Beweiswürdigung - für widerlegt gehalten und dabei auch aus dem Inhalt mehrerer Telefonate des Angeklagten mit Gesprächspartnern in der Türkei auf seine Tatbegehung geschlossen.
2. Vor diesem Hintergrund beanstandet die Revision mit Recht, dass das Landgericht drei in der Hauptverhandlung gestellte Beweisanträge rechtsfehlerhaft zurückgewiesen hat.
a) Die Verteidigung hatte die Vernehmung des in der Türkei befindlichen Neffen des Angeklagten zum Beweis dafür beantragt, dass es bei den Telefonaten mit dem Angeklagten entsprechend seiner Einlassung tatsächlich um einen Freundschaftsdienst im Zusammenhang mit dem Schmuggel von Antiquitäten gegangen sei. Diesen Antrag hat die Strafkammer gestützt auf § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO ohne weitere Begründung mit der Erwägung abgelehnt, auch bei Erwiesenheit der unter Beweis gestellten Tatsache sei kein direkter Schluss darauf möglich, ob der Angeklagte die Tat begangen habe oder nicht.
Mit zwei weiteren Anträgen hatte die Verteidigung die Vernehmung von zwei Zeugen aus der Türkei zum Beweis dafür begehrt, dass Gesprächsinhalt verschiedener Telefonate mit dem Angeklagten der heimliche Transport eines nahen Verwandten aus der Türkei nach Griechenland gewesen sei; die Telefongespräche hätten somit nicht die angeklagte Tat betroffen. Diese Anträge hat das Tatgericht ebenfalls nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO abgelehnt und ausgeführt, die unter Beweis gestellten Tatsachen ließen nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse zu. Ein zwingender Schluss ließe sich auch dann nicht ziehen, wenn die Gesprächspartner tatsächlich davon ausgegangen wären, dass die Telefongespräche den unter Beweis gestellten Inhalt hatten, da auch in diesem Fall die Möglichkeit bestanden habe, dass sie unzutreffend informiert worden seien.
b) Diese Begründungen tragen die Zurückweisung der Beweisanträge nicht.
aa) Nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO kann ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, abgelehnt werden, wenn dessen Anhörung nach pflichtgemäßer Beurteilung des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Ob die Ladung und Vernehmung eines Auslandszeugen geboten ist, richtet sich somit nach der Aufklärungspflicht des Gerichts im Sinne des § 244 Abs. 2 StPO. Bei deren Prüfung hat der Tatrichter namentlich die Bedeutung und den Beweiswert der Aussage des benannten Zeugen vor dem Hintergrund des bisherigen Beweisergebnisses zu würdigen. In diesem Rahmen ist er von dem sonst geltenden Verbot der Beweisantizipation befreit. Daher darf er prognostisch berücksichtigen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu würdigen wären. Kommt er dabei unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse mit rechtsfehlerfreier Begründung zu dem Ergebnis, dass der Zeuge die Beweisbehauptung nicht werde bestätigen können oder dass ein Einfluss der Aussage auf seine - des Tatrichters - Überzeugungsbildung auch dann sicher ausgeschlossen sei, wenn der Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigen werde, ist die Ablehnung des Beweisantrags in aller Regel nicht zu beanstanden (st. Rspr.; s. nur BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 13; BGH NJW 2005, 2322, 2323 m. w. N.).
bb) Eine dementsprechende Ablehnung eines solchen Beweisantrags bedarf eines Gerichtsbeschlusses (§ 244 Abs. 6 StPO), der zu begründen ist. Diese Begründung hat die Funktion, den Antragsteller davon zu unterrichten, wie das Gericht den Antrag bewertet, damit er in der Lage ist, sich in seiner Verteidigung auf die Verfahrenslage einzustellen, die durch die Ablehnung entstanden ist. Zugleich soll durch die Gründe des Ablehnungsbeschlusses dem Revisionsgericht die rechtliche Überprüfung der tatrichterlichen Entscheidung ermöglicht werden. Hieraus folgt, dass das Tatgericht in seinem Beschluss die für die Ablehnung wesentlichen Gesichtspunkte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in ihrem wesentlichen Kern nachvollziehbar darlegen muss (BGHSt 40, 60, 63).
Diesen Anforderungen werden die genannten Beschlüsse nicht gerecht. Sie enthalten noch nicht einmal im Ansatz eine antizipierende Würdigung des zu erwartenden Beweisergebnisses vor dem Hintergrund der bis dahin erhobenen Beweise. Damit ließen sie zum einen den Antragsteller über die Einschätzung der Strafkammer über die Beweissituation und die insoweit bestehende Verfahrenssituation völlig im Ungewissen. Zum anderen ist dem Senat die rechtliche Nachprüfung dahin verwehrt, ob das Landgericht die Voraussetzungen des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO rechtsfehlerfrei angenommen hat. Auf diese Rechtsprüfung ist der Senat beschränkt; er kann insbesondere die notwendige vorweggenommene Beweiswürdigung des Tatgerichts nicht durch eine eigene Bewertung ersetzen (BGH NJW 2005, 2322, 2323).
c) Es bedarf keiner näheren Betrachtung, ob die Ausführungen des Landgerichts dahin zu verstehen sein könnten, es habe trotz seines ausdrücklichen Hinweises auf § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO in der Sache die Beweisanträge nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO als aus tatsächlichen Gründen ohne Bedeutung ablehnen wollen; denn die Beschlüsse genügen auch insoweit den an ihre Begründung zu stellenden Anforderungen nicht (s. hierzu Fischer in KK 6. Aufl. § 244 Rdn. 145 m. w. N.).
3. Das Urteil beruht auf dem dargelegten Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht zu einer abweichenden Beweiswürdigung gelangt wäre, wenn es die benannten Zeugen vernommen hätte und diese die Beweisbehauptungen bestätigt hätten.
Becker von Lienen Sost-Scheible
Schäfer Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057366
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100204
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I ZB 27/09
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Beschluss
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§ 15 RVG, § 18 Nr 3 RVG, § 18 Nr 5 RVG, § 19 Abs 2 Nr 2 RVG, Nr 3309 RVG-VV, § 766 ZPO
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vorgehend LG Heilbronn, 23. März 2009, Az: 1 T 103/09 Bm, Beschluss vorgehend AG Künzelsau, 24. Februar 2009, Az: 2 M 1424/08
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DEU
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Rechtsanwaltsgebühren: Vergütung des mit der Zwangsvollstreckung beauftragten Rechtsanwalts im Erinnerungsverfahren
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Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn vom 23. März 2009 wird auf Kosten der Gläubigerin zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 300 € festgesetzt.
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I. Die Gläubigerin betreibt gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung. Der Schuldner hat die eidesstattliche Versicherung abgegeben und dabei angegeben, im Bistro „..." beschäftigt zu sein und dort monatlich 440 € netto zu verdienen.
Die Gläubigerin hat mit ihrer Erinnerung gemäß § 766 ZPO beantragt, den Gerichtsvollzieher anzuweisen, ein vollständiges Vermögensverzeichnis aufzunehmen. Sie hat geltend gemacht, sie benötige zur Prüfung der Frage, ob das angegebene Entgelt im Sinne von § 850h ZPO angemessen sei, Angaben zu Art und Umfang der Tätigkeit des Schuldners. Die Gläubigerin hat zuvor keinen Antrag zur entsprechenden Ergänzung des Vermögensverzeichnisses beim Gerichtsvollzieher gestellt.
Das Amtsgericht hat die Erinnerung zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Gläubigerin ihren in den Vorinstanzen erfolglosen Antrag weiter.
II. Die aufgrund ihrer Zulassung durch das Beschwerdegericht statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 575 ZPO) Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Der Gläubigerin ist es unter den im Streitfall gegebenen Umständen verwehrt, den zuständigen Gerichtsvollzieher im Wege der Erinnerung anweisen zu lassen, ein vollständiges Vermögensverzeichnis aufzunehmen.
1. Nach Ansicht des Beschwerdegerichts fehlt der Gläubigerin für die von ihr eingelegte Erinnerung das Rechtsschutzbedürfnis. Das Rechtsschutzbedürfnis bestehe aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit nicht, wenn ein anderer prozessualer Weg gleich sicher, aber einfacher oder billiger sei, um das Rechtsschutzziel zu erreichen. Im vorliegenden Fall könne im Ergebnis offen bleiben, ob es höhere Kosten verursache, wenn die Gläubigerin sogleich Vollstreckungserinnerung einlege, ohne zuvor einen Nachbesserungsantrag beim Gerichtsvollzieher zu stellen. Die Einlegung einer Vollstreckungserinnerung ohne vorherigen Nachbesserungsantrag beim Gerichtsvollzieher sei jedenfalls der umständlichere Weg.
2. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung stand. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das Beschwerdegericht mit Recht angenommen, dass der Gläubigerin unter den im Streitfall gegebenen Umständen das Rechtsschutzbedürfnis für das Erinnerungsverfahren fehlt, weil sie zuvor keinen Nachbesserungsantrag beim Gerichtsvollzieher gestellt hat.
Der Senat hat mit Beschluss vom 4. Oktober 2007 (I ZB 11/07, NJW-RR 2008, 163) entschieden, dass ein Gläubiger, der geltend macht, der Gerichtsvollzieher habe ein unvollständiges oder ungenaues Vermögensverzeichnis aufgenommen, zunächst gehalten ist, beim Gerichtsvollzieher eine Nachbesserung des Vermögensverzeichnisses zu beantragen, und erst gegen eine Ablehnung eines solchen Antrags Erinnerung einlegen kann. Der Senat hat dies damit begründet, dass der Gläubiger ein Rechtsschutzinteresse an der Durchführung eines Erinnerungsverfahrens erst dann habe, wenn der Gerichtsvollzieher die Nachbesserung ablehne. Beim Erinnerungsverfahren handele es sich im Vergleich zum Antrag auf Nachbesserung des Vermögensverzeichnisses jedenfalls um den kostenintensiveren Weg. Während bei Durchführung der Erinnerung nach § 766 ZPO zumindest die 0,3-fache Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3309 RVG VV auf eine 0,5-fache Verfahrensgebühr nach Nr. 3500 RVG VV erhöht werde, löse die vom Gerichtsvollzieher durchgeführte Nachbesserung keine neuen Kosten aus, weil damit nur das alte Verfahren fortgesetzt werde.
Dem Argument, beim Erinnerungsverfahren handele es sich im Vergleich zum Nachbesserungsantrag um den teureren Weg, ist allerdings dadurch die Grundlage entzogen, dass der Gesetzgeber durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 22. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3416) in § 19 Abs. 2 Nr. 2 RVG ausdrücklich geregelt hat, dass die Vollstreckungserinnerung nach § 766 ZPO gebührenrechtlich zur Vollstreckungsangelegenheit gehört (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drucks. 16/3038, S. 55 zu Artikel 20 Nummer 2 [§ 19 RVG]). Die Tätigkeit des Rechtsanwalts im Verfahren über die Erinnerung nach § 766 ZPO löst daher keine besondere Gebühr aus, sondern ist gemäß § 15 RVG mit den in der Vollstreckungsangelegenheit bereits verdienten Gebühren abgegolten (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drucks. 16/3038, S. 55 zu Artikel 20 Nummer 1 [§ 15 RVG]). Der bereits mit der Zwangsvollstreckung beauftragte Rechtsanwalt, der für seinen Mandanten das Erinnerungsverfahren betreibt, erhält daher keine zusätzliche Gebühr, sondern nur die 0,3-fache Verfahrensgebühr nach Nr. 3309 RVG VV (Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 766 Rdn. 39; Mayer/Kroiß/Ebert, RVG, 3. Aufl., § 19 Rdn. 110; Schneider/Wolf/Mock, AnwaltKommentar RVG, 4. Aufl., § 19 Rdn. 154; Bischof in Bischof/Jungbauer/Bräuer/Curkovic/Mathias/Uher, RVG, 3. Aufl., § 19 Rdn. 70a; Hegenröder in Baumgärtel/Hegenröder/Houben, RENOKommentar RVG, § 19 Rdn. 29; N. Schneider, RVGreport 2007, 87, 90 f.; Enders, JurBüro 2008, 328).
Dies ändert aber im Ergebnis nichts daran, dass der Gläubiger ein Rechtsschutzinteresse an der Durchführung einer Erinnerung erst dann hat, wenn der Gerichtsvollzieher die Nachbesserung ablehnt. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit, wenn ein anderer prozessualer Weg gleich sicher, aber einfacher oder billiger ist, um das Rechtsschutzziel zu erreichen (vgl. BGH, Urt. v. 24.2.1994 - IX ZR 120/93, NJW 1994, 1351, 1352; Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 68. Aufl., Grundz § 253 Rdn. 34). Auch wenn die Durchführung der Erinnerung nach § 766 ZPO ebenso wie die Nachbesserung des Vermögensverzeichnisses durch den Gerichtsvollzieher keine neuen Kosten auslöst, handelt es sich bei der Nachbesserung gegenüber der Erinnerung - jedenfalls dann, wenn der Gerichtsvollzieher zu einer Nachbesserung bereit ist - um den einfacheren und schnelleren Weg, um zu einer Ergänzung des Vermögensverzeichnisses zu gelangen. Denn in diesem Fall muss sich nicht auch noch das Vollstreckungsgericht mit der Angelegenheit befassen. Der Umstand, dass der Gerichtsvollzieher im Erinnerungsverfahren zur Abhilfe der Erinnerung und damit zur Nachbesserung des Vermögensverzeichnisses befugt ist, steht dieser Beurteilung nicht entgegen, weil das Vollstreckungsgericht dann schon mit der Sache - unnötig - befasst worden ist.
Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde kann aus der Tatsache, dass der Gerichtsvollzieher im Streitfall keine Angaben des Schuldners zu Art und Umfang seiner Tätigkeit in das Vermögensverzeichnis aufgenommen und damit nach Ansicht der Gläubigerin ein unvollständiges Vermögensverzeichnis erstellt hat, nicht geschlossen werden, der Gerichtsvollzieher sei nicht dazu bereit, das Vermögensverzeichnis entsprechend zu ergänzen. Die Gläubigerin hat erst nach Aufnahme des Vermögensverzeichnisses durch den Gerichtsvollzieher geltend gemacht, sie benötige die Angaben zu Art und Umfang der Tätigkeit des Schuldners, um überprüfen zu können, ob das angegebene Entgelt im Sinne von § 850h ZPO angemessen sei. Es gibt daher keinen Grund für die Annahme, der Gerichtsvollzieher werde sich weigern, das Vermögensverzeichnis entsprechend zu vervollständigen.
III. Die Rechtsbeschwerde ist danach mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Bornkamm Pokrant Büscher
Schaffert Koch
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057367
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BGH
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3. Strafsenat
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20100128
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3 StR 533/09
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Urteil
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§ 15 StGB, § 212 StGB, § 224 StGB, § 261 StPO
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vorgehend LG Verden, 18. Juni 2009, Az: 1 Ks 11/08 - 241 Js 21844/05, Urteil
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DEU
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Bedingt vorsätzliches Handeln: Nur Körperverletzungsvorsatz trotz äußert gefährlicher Gewalthandlung; Anforderungen an die Beweiswürdigung im freisprechenden Urteil
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Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Verden vom 18. Juni 2009 werden verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt; der Angeklagte trägt die Kosten seiner Revision und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie bestimmt, dass hiervon ein Jahr wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als vollstreckt gilt. Vom Vorwurf, dem Nebenkläger eine Halskette gestohlen zu haben, hat es ihn freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer zum Nachteil des Angeklagten eingelegten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, dass das Landgericht keinen Tötungsvorsatz angenommen hat. Der Angeklagte wendet sich mit einer nicht ausgeführten Formal- und der allgemeinen Sachrüge gegen seine Verurteilung. Beide Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts gerieten der Angeklagte und der Nebenkläger H. in einer Diskothek in Streit. Bei der sich anschließenden tätlichen Auseinandersetzung wurde der Angeklagte im Gesicht verletzt und ging zu Boden. Um sich zu revanchieren, verabredete er mit dem Zeugen I. sowie zwei weiteren männlichen Personen, vor der Diskothek auf den Nebenkläger zu warten und diesen zu verletzen. Als der Nebenkläger die Diskothek verließ, schlugen der Zeuge I. und die zwei weiteren Personen mit den Fäusten auf ihn ein. Er wehrte sich. Während der turbulenten Auseinandersetzung fuchtelte der Angeklagte mit einem Klappmesser vor dem Nebenkläger herum und fügte ihm vier Stichverletzungen zu. Er traf ihn in den oberen Rückenbereich, den linken Oberschenkel, den rechten Oberarm sowie in die linke Halsseite im Bereich des Übergangs von Schulter und Hals. Der Nebenkläger fiel mehrfach zu Boden und blieb schließlich liegen. Der Angeklagte schlug weiter auf ihn ein und sagte zu ihm: "Leg dich niemals mit einem Albaner an, sonst wirst du sehen, was passiert." Sodann wurde er von einer anderen Person weggezogen und flüchtete. Die dem Nebenkläger zugefügten Stiche verursachten keine akut lebensgefährlichen Verletzungen.
I. Revision der Staatsanwaltschaft
Die Beweiswürdigung, auf welche die Überzeugung der Strafkammer gründet, es sei lediglich ein Körperverletzungs-, nicht aber ein - auch nur bedingter - Tötungsvorsatz festzustellen, weist nach den Maßstäben sachlichrechtlicher Überprüfung durch das Revisionsgericht (s. allgemein BGH NJW 2005, 2322, 2326) einen durchgreifenden Rechtsfehler nicht auf. Hierzu gilt:
1. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fern liegend erkennt, ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung zumindest abfindet. Da die Schuldformen des bedingten Vorsatzes und der bewussten Fahrlässigkeit im Grenzbereich eng beieinander liegen, müssen bei der Annahme bedingten Vorsatzes beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissens- als auch das Willenselement, umfassend geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes liegt es bei äußert gefährlichen Gewalthandlungen zwar nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit, das Opfer könne durch diese zu Tode kommen, rechnet und, weil er gleichwohl sein gefährliches Handeln fortsetzt, auch einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Deshalb ist in derartigen Fällen ein Schluss von der objektiven Gefährlichkeit der Handlungen des Täters auf bedingten Tötungsvorsatz grundsätzlich möglich. Angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung ist jedoch immer auch in Betracht zu ziehen, dass der Täter die Gefahr der Tötung nicht erkennt oder jedenfalls darauf vertraut haben könnte, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten. Insbesondere bei spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das - selbstständig neben dem Wissenselement stehende - voluntative Vorsatzelement gegeben ist (st. Rspr.; s. BGH NStZ 2009, 91 m. w. N.).
2. Den sich hieraus ergebenden Anforderungen entspricht das angefochtene Urteil.
a) Das Landgericht hat die gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände vorgenommen und dabei insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Verletzungshandlungen, den Tathergang, die Motivationslage des Angeklagten sowie sein Nachtatverhalten bedacht. Bei seiner Bewertung der Beweistatsachen hat es sich nicht mit allgemeinen, formelhaften Wendungen begnügt; vielmehr hat es seine Überzeugung, es sei lediglich der subjektive Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2, 5 StGB feststellbar, mit auf den konkreten Fall abgestellten Erwägungen begründet.
b) Die von dem Angeklagten gegenüber dem am Boden liegenden Nebenkläger abgegebene Erklärung hat das Landgericht rechtsfehlerfrei dahin interpretiert, der Angeklagte habe einschüchternd, erzieherisch und belehrend auf den Nebenkläger einwirken wollen. Hieraus hat es den - möglichen - Schluss gezogen, die Äußerung spreche für das Vorliegen lediglich des Vorsatzes zur Verletzung, nicht aber zur Tötung des Nebenklägers; denn die Warnfunktion der Erklärung habe nur dann Erfolg haben können, wenn dieser überlebt. Dass eine andere Interpretation ebenfalls in Betracht gekommen wäre, gefährdet den Bestand des Urteils selbst dann nicht, wenn diese näher gelegen hätte. Soweit die Staatsanwaltschaft die Äußerung als "verbalisiertes Tötungsmotiv" qualifiziert, das für die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes spreche, ersetzt sie lediglich die tatrichterliche Bewertung durch eine eigene. Hiermit kann sie im Revisionsverfahren nicht mit Erfolg gehört werden.
c) Es ist weiter nicht zu besorgen, das Landgericht habe bei der Würdigung der Bemerkung verkannt, dass zur Beurteilung der Frage des Vorsatzes der Tatzeitpunkt maßgebend ist; denn die Strafkammer hat im Rahmen der Beweiswürdigung ausdrücklich sowohl den Zeitpunkt, in dem der Angeklagte dem Nebenkläger die Messerstiche beibrachte, als auch denjenigen in den Blick genommen, in dem der Angeklagte den am Boden liegenden Nebenkläger verließ und flüchtete.
d) Das Landgericht war entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft auch nicht gehalten, in die Erwägungen zum Tötungsvorsatz ausdrücklich einzustellen, dass der Angeklagte durch eine weitere Person von dem Nebenkläger weggezogen wurde; denn zu diesem Zeitpunkt hatte er den potentiell tödlichen Angriff mit dem Messer bereits beendet ohne erkannt zu haben, dass er den Nebenkläger tödlich verletzt haben könnte, und schlug "nur noch" mit den Händen auf ihn ein.
e) Die Hinweise der Strafkammer, aus bestimmten Umständen könnten "nicht zwingend" bestimmte Schlüsse auf den Tötungsvorsatz gezogen werden, begründen hier nicht die Besorgnis, das Tatgericht habe zu hohe Anforderungen an seine für eine Verurteilung notwendige Überzeugung gestellt. Zwar müssen die vom Tatrichter gezogenen Schlüsse nicht "zwingend" sein; die Feststellung von Tatsachen verlangt keine absolute, von niemandem anzweifelbare Gewissheit (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urt. vom 21. Dezember 2006 - 3 StR 427/06 m. w. N.). Jedoch hat das Landgericht zu Beginn seiner Beweiswürdigung zum Tötungsvorsatz ausgeführt, die Feststellungen genügten nicht, den "für eine Verurteilung erforderlichen sicheren - vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietenden - Schluss" zu ziehen, der Angeklagte habe mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Damit hat die Strafkammer zunächst deutlich gemacht, dass sie für die Überzeugungsbildung ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit als genügend ansieht, das vernünftige, nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht aufkommen lässt; sodann hat sie die einzelnen relevanten Umstände einer näheren Betrachtung unterzogen. Der Senat schließt vor diesem Hintergrund trotz der - allerdings für sich betrachtet rechtlich bedenklichen - späteren Formulierungen aus, dass der Strafkammer bei der konkreten Bewertung der einzelnen Beweistatsachen der zuvor zutreffend angegebene Maßstab aus dem Blick geraten sein könnte.
II. Revision des Angeklagten
Das Rechtsmittel des Angeklagten ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und deshalb unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Überprüfung des Urteils aufgrund der allgemein erhobenen Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Becker von Lienen Hubert
Schäfer Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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JURE100057368
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BGH
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3. Strafsenat
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20100113
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3 StR 507/09
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Beschluss
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§ 222b StPO, § 338 Nr 1 StPO, § 21e Abs 3 GVG, § 233 StGB, Art 101 Abs 1 S 2 GG
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vorgehend LG Hannover, 4. März 2009, Az: 89 KLs 2/07 - 6413 Js 12278/07, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Übertragung anhängiger Verfahren auf eine nachträglich eingerichtete Hilfsstrafkammer im Wege einer Änderung der Geschäftsverteilung; Voraussetzungen des Menschenhandels
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 4. März 2009, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Menschenhandels (zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft) in acht Fällen und wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in 25 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt; weiter hat es ihm für die Dauer von drei Jahren verboten, "eine selbständige, leitende oder angestellte Tätigkeit von Organisation und Durchführung sowie Vermittlung von Veranstaltungen folkloristischer, kultureller und künstlerischer Art" auszuüben. Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Besetzungsrüge Erfolg; auf die weiteren Verfahrensrügen und auf die Sachrüge kommt es daher nicht an.
I.
Mit Recht beanstandet der Beschwerdeführer die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 338 Nr. 1 StPO). Der Beschluss des Präsidiums des Landgerichts vom 10. Oktober 2007, der die Zuständigkeit für die Verhandlung und Entscheidung der zunächst bei der Strafkammer 3 eingegangenen Sache nachträglich der Hilfsstrafkammer 3 c zugewiesen hat, genügt nicht den Anforderungen, die an eine Übertragung (ausschließlich) bereits anhängiger Verfahren im Wege der Änderung der Geschäftsverteilung zu stellen sind. Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Antragsschrift ausgeführt:
"§ 21e Abs. 3 Satz 1 GVG erlaubt dem Präsidium die Änderung der Geschäftsverteilung während eines laufenden Geschäftsjahres, wenn dies wegen Überlastung eines Spruchkörpers erforderlich wird. Zu diesem Zweck kann auch eine Hilfsstrafkammer eingerichtet werden, der Verfahren nach allgemeinen sachlich-objektiven Kriterien zugewiesen werden. Die Zuweisung bereits anhängiger Verfahren ist grundsätzlich nur möglich, wenn die Neuregelung generell gilt, also auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger gleichartiger Fälle erfasst (vgl. BVerfG NJW 2003, 345; 2005, 2689 f. m.w.N.). Nur in Ausnahmefällen, wenn allein so dem Beschleunigungsgebot Rechnung getragen werden kann, ist eine beschränkte Zuweisung allein bereits eingegangener Verfahren zulässig (vgl. BVerfG NJW 2009, 1734 f.). In Anbetracht des Ausnahmecharakters solcher Fälle und des Gewichts des Grundsatzes des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist dann eine detaillierte Dokumentation der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern, nötig (vgl. BGH Urteil vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08 - Rdnr. 17; Beschluss vom 4. August 2009 - 3 StR 174/09 - Rdnr. 18). Mängel in der Begründung des Beschlusses kann das Präsidium bis zur Entscheidung über einen nach § 222b StPO erhobenen Besetzungseinwand durch einen ergänzenden, die Gründe für die Umverteilung dokumentierenden Beschluss ausräumen (vgl. BGH Urteil vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08 - Rdnr. 20; Beschluss vom 4. August 2009 - 3 StR 174/09 - Rdnr. 22).
Diesen Anforderungen wurde vorliegend nicht Rechnung getragen. Der Präsidiumsbeschluss vom 10. Oktober 2007 beschränkt sich darauf, die 3. Strafkammer als überlastet zu bezeichnen, eine Begründung hierfür enthält er nicht. Diese liegt auch nicht in dem Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. September 2007, denn es wird nicht erläutert, wie sich dieser Beschluss auf die Gesamtbelastung der 3. Großen Strafkammer auswirkte. Eine Heilung durch die dienstliche Äußerung des Präsidenten des Landgerichts ist nicht eingetreten. Dabei kann vorliegend dahinstehen, ob diese Äußerung auf einem - nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erforderlichen - ergänzenden Beschluss des Präsidiums beruht, denn auch in diesem Fall wäre den Begründungsanforderungen nicht genügt. Mit der Äußerung wird nämlich nur dargelegt, dass die Strafkammer 3 nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung in den Monaten Oktober bis Dezember 2007 zusätzliche Verhandlungstage anberaumen musste, um dem Beschleunigungsgebot Genüge zu tun. Wie viele Verfahren welchen Umfangs bei der 3. Strafkammer anhängig waren, ob also insgesamt eine Überlastung eingetreten war, lässt sich dem nicht entnehmen. Zudem erschließt sich der Zusammenhang zwischen einer verstärkten Terminierung bis Dezember 2007 und dem vorliegenden Verfahren, das erst Ende September 2007 bei der 3. Großen Strafkammer eingegangen war und hinsichtlich dessen kaum mit dem Beginn der Hauptverhandlung vor Januar 2008 zu rechnen war, aus der dienstlichen Erklärung nicht. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist somit die Präsidiumsentscheidung bereits auf Grund mangelhafter Begründung nicht als rechtmäßig anzusehen; ob tatsächlich eine Überlastung der 3. Großen Strafkammer bestand, ist für den Erfolg der Besetzungsrüge ohne Belang."
Dem schließt sich der Senat an.
II.
Für die neue Hauptverhandlung geben die Urteilsgründe Anlass zu folgenden Hinweisen:
1. Die bisherigen Feststellungen vermögen den Schuldspruch wegen Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft nach § 233 Abs. 1 Satz 1 StGB, in Kraft getreten am 19. Februar 2005 (Art. 1 Nr. 10, Art. 4 des 37. StrÄndG vom 11. Februar 2005; BGBl I 239), nicht zu tragen.
a) Menschenhandel im Sinne des § 233 Abs. 1 Satz 1 StGB begeht der Täter nicht bereits dann, wenn er eine sich in einer Zwangslage oder in einem Zustand der auslandsspezifischen Hilflosigkeit befindliche Person in ein als ausbeuterisch zu beurteilendes Beschäftigungsverhältnis übernimmt. Die Vorschrift setzt vielmehr voraus, dass der Täter die Person unter Ausnutzung der Zwangslage oder der Hilflosigkeit zur Aufnahme oder Fortsetzung der Beschäftigung bringt.
aa) Allerdings verlangt der Begriff des "dazu Bringens" im Sinne der §§ 232, 233 StGB, zu dessen Auslegung auch die §§ 180 b, 181 StGB in der bis 18. Februar 2005 geltenden Fassung herangezogen werden können (Schroeder NJW 2005, 1393, 1395), weder eine Einflussnahme von gesteigerter Intensität wie das "Einwirken" (§ 180 b aF) noch eine Willensbeeinflussung im Wege der Kommunikation wie das "dazu Bestimmen" (§ 181 aF; vgl. Renzikowski in MünchKomm-StGB § 180 b Rdn. 25; § 181 Rdn. 13). Ist das Merkmal des Ausnutzens erfüllt, genügt jede ursächliche Herbeiführung des Erfolges, gleichgültig auf welche Art und Weise, sei es auch nur durch das Schaffen einer günstigen Gelegenheit oder durch ein schlichtes Angebot (BGH NStZ-RR 2005, 234; Schroeder aaO; Eisele in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 233 Rdn. 12; § 232 Rdn. 18; Fischer, StGB 57. Aufl. § 232 Rdn. 12; Lackner/Kühl, StGB 26. Aufl. § 232 Rdn. 2; enger Renzikowski aaO § 233 Rdn. 18; § 232 Rdn. 24 f.).
bb) Indes schützt § 233 StGB die Freiheit der Person, über den Einsatz und die Verwertung ihrer Arbeitskraft zu verfügen (Fischer aaO § 233 Rdn. 2). Tatbestandsmäßig ist deshalb nur ein Handeln, das gerichtet ist auf das Ziel, den Willen des - bereits in der Freiheit der Willensentschließung beeinträchtigten - Opfers zu beeinflussen und so den in der Aufnahme oder in der Fortsetzung der ausbeuterischen Beschäftigung bestehenden Erfolg herbeizuführen (vgl. Renzikowski aaO § 180 b Rdn. 51 f.; BTDrucks. 15/3045 S. 8). Der Täter muss einen bislang nicht vorhandenen Entschluss des Opfers, ein solches Beschäftigungsverhältnis einzugehen, hervorrufen oder das Opfer von seinem Entschluss, die Beschäftigung aufzugeben, abbringen (vgl. BGH StraFo 2009, 429, 430; NStZ-RR 2004, 233, 234). Hieran fehlt es, wenn für den Erfolg eine vom Opfer unabhängig von seiner Lage getroffene eigenverantwortliche Entscheidung maßgeblich war (Eisele aaO § 232 Rdn. 18; Renzikowski aaO § 233 Rdn. 19; § 232 Rdn. 26).
b) Ob erst die entsprechenden Angebote des Angeklagten den Entschluss der Geschädigten hervorgerufen haben, die ab Sommer 2003 eingegangenen, soweit ersichtlich jeweils auf ein Jahr befristeten Engagements für die von ihm durchgeführten Folkloreveranstaltungen auch in der Zeit nach dem 19. Februar 2005 zu erneuern, lässt sich mangels ausreichender Feststellungen zur Willensrichtung der Geschädigten nicht beurteilen. Festgestellt ist lediglich, dass sie die Verträge weiterhin unterschrieben, weil sie als marokkanische Staatsangehörige eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland anstrebten, sich deshalb fünf Jahre ununterbrochen hier aufhalten mussten und dieses Ziel auf andere Weise nicht erreichen konnten. Diese Interessenlage kann darauf hindeuten, dass die Geschädigten von vornherein entschlossen waren, erwartete Angebote des Angeklagten anzunehmen, ungeachtet dessen, dass wegen des absehbaren Misserfolgs der Veranstaltungen die versprochene Bezahlung auch in Zukunft weithin ausbleiben würde.
2. Das Einschleusen von Ausländern nach § 96 Abs. 1 AufenthG, § 92 a Abs. 1 AuslG aF ist eine zur Täterschaft verselbständigte Beteiligung an einer fremden Tat (Gericke in MünchKomm-StGB § 96 AufenthG Rdn. 2). Unterstützt der Täter mehrere Ausländer bei der Beschaffung von Aufenthaltstiteln, ist materiellrechtlich eine Tat anzunehmen, soweit sich sein Handeln als einheitliches Geschehen darstellt. Hierzu teilen die Urteilsgründe nichts mit. Worauf die Annahme von 25 Fällen des Einschleusens beruht, wird deshalb nicht ersichtlich.
Becker von Lienen Sost-Scheible
Schäfer Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057369
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BGH
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2. Strafsenat
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20100210
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2 StR 391/09
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Urteil
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§ 22 StGB, § 23 StGB, § 46a Nr 2 StGB, § 211 StGB, § 224 Abs 1 Nr 5 StGB
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vorgehend LG Limburg, 5. Mai 2009, Az: 3 Js 15473/08 Kap - 2 Ks, Urteil
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DEU
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Versuchter Mord: Erkennbarkeit der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bei affektiver Erregung; Schadenswiedergutmachung
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Limburg an der Lahn vom 5. Mai 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Die Staatsanwaltschaft verfolgt mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Sachrüge gestützten Revision die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes und beanstandet die ihm gewährte (weitere) Strafrahmenmilderung nach §§ 46 a Nr. 2, 49 Abs. 1 StGB. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Der 71 Jahre alte Angeklagte führte über Jahre zunächst verbale Auseinandersetzungen mit Nachbarn und deren Besuchern, die ihre Autos in Höhe seines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkten. Er fühlte sich dadurch in der Ausfahrt mit seinem eigenen Pkw behindert, wobei er das Parken nicht nur gegenüber seiner Ausfahrt, sondern auf der gesamten Länge der Straße gegenüber seinem Hausgrundstück für verboten hielt. Seine Anzeigen bei verschiedenen Behörden blieben erfolglos, da angesichts der Breite der Straße objektiv selbst dann keine Behinderung bestand, wenn ein Auto genau gegenüber der Grundstücksausfahrt stand. Im Jahr 2002 würgte der Angeklagte einen Nachbarn, der gegenüber seinem Haus geparkt hatte, und verletzte ihn durch Schläge mit einem Pickelstiel. Das Amtsgericht Weilburg verurteilte den Angeklagten deshalb wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer zur Bewährung ausgesetzten und seit dem Jahr 2006 erlassenen Freiheitsstrafe von zehn Monaten.
Der 61 Jahre alte Nebenkläger arbeitete seit dem Juni 2008 bei einem Taxiunternehmen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Angeklagten. Ebenso wie die anderen Fahrer des Unternehmens ließ auch er sich zwar anfangs von dem Angeklagten dazu bewegen, sein gegenüber dessen Haus geparktes Auto umzusetzen, ging aber später auf solche Bitten nicht mehr ein. Auch am Morgen des 1. Oktober 2008 parkte der Nebenkläger seinen Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwa in Höhe der Eingangstür des Hauses des Angeklagten. Der Angeklagte, der dies beobachtet hatte, geriet in Wut und lief dem Nebenkläger in die Räume des Taxiunternehmens nach. Er forderte diesen auf, sein Auto wegzusetzen, und beschimpfte und beleidigte ihn. Der Nebenkläger beendete die Auseinandersetzung mit dem Hinweis, der Angeklagte möge sich an die Polizei wenden. Der in seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht erheblich beeinträchtigte Angeklagte fasste dies als Provokation auf und entschloss sich, den Nebenkläger zu töten. Er lief in sein Haus, holte eine von ihm als Urlaubsandenken aufbewahrte, etwa 70 cm lange Machete, betrat erneut die Räume des Taxiunternehmens, stürmte auf den links neben der Eingangstür stehenden, ihm seitlich zugewandten Nebenkläger zu und schlug diesem in Tötungsabsicht mit beiden Händen die Machete gezielt auf den Kopf. Der Nebenkläger, der sich keines Angriffs versah, wurde ungeschützt am Kopf getroffen. Bei dem Versuch, einen zweiten Schlag abzuwehren, wurde der Zeigefinger seiner rechten Hand abgetrennt und der Mittelfinger erheblich verletzt. Der Angeklagte schlug mindestens noch ein weiteres Mal auf den Kopf des Nebenklägers ein, bevor dessen anwesende Kollegen die Klinge ergreifen und den Angreifer überwältigen konnten. Der Nebenkläger erlitt eine offene Schädelfraktur und drei bis 10 cm lange Schnittwunden am Kopf. Der abgetrennte Zeigefinger musste bis zum Stumpf amputiert werden. In Folge des Verlusts des Zeigefingers und einer aus der Verletzung resultierenden Fehlstellung des Mittelfingers ist der Nebenkläger in der Benutzung der rechten Hand erheblich eingeschränkt.
II.
Die Verneinung der Mordmerkmale "Heimtücke" und "sonstige niedrige Beweggründe" hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand:
1. Das Landgericht hat ein heimtückisches Handeln des Angeklagten mit der Begründung abgelehnt, er habe die objektiv gegebene Arg- und Wehrlosigkeit des Nebenklägers nicht bewusst ausgenutzt. Seine affektive Erregung und das Gefühl der Hilflosigkeit und Demütigung, gepaart mit seinem spontanen Tatentschluss, hätten ihm den Blick dafür versperrt, dass dem Nebenkläger auf Grund der Schnelligkeit des Angriffs jegliche Abwehrmöglichkeit genommen gewesen sei.
Diese Würdigung entbehrt einer tragfähigen Grundlage:
Für das bewusste Ausnutzen der - durch das Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellten - Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers genügt es, wenn der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (BGH BGHR § 211 Abs. 2 Heimtücke 25, 26; NStZ 2005, 688, 689; 2009, 501, 502). Zwar kann die Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlt (BGH NStZ 2006, 503, 504 m.w.N.). Andererseits hindert aber nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen (BGH NStZ 2006, 167, 169; 2009, 571, 572, jew. m.w.N.). Vielmehr ist bei erhaltener Einsichtsfähigkeit auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt (BGH NStZ 2008, 510, 511 f.; Beschl. v. 24. November 2009 - 1 StR 520/09). Kommt der Tatrichter dennoch zu dem Ergebnis, dass der Täter die für die Heimtücke maßgeblichen Umstände auf Grund seiner Erregung nicht in sein Bewusstsein aufgenommen hat, so muss er die Beweisanzeichen dafür darlegen und würdigen.
Eine solche umfassende Beweiswürdigung hat die Schwurgerichtskammer nicht vorgenommen. Sie hat, bezogen auf den Tötungsvorsatz, festgestellt, dass der Angeklagte in vollem Umfang über die kognitiven Fähigkeiten verfügte, sowohl die objektiven Umstände seines Tuns als auch dessen Konsequenzen subjektiv zu erfassen. Dem psychiatrischen Sachverständigen folgend, ist sie davon ausgegangen, dass die Fähigkeit des Angeklagten zur Einsicht in das Unrecht seiner Tat erhalten geblieben war. Demgegenüber hat das Landgericht das Ausnutzungsbewusstsein mit einer unzulänglichen Begründung verneint, die konkrete Umstände nicht aufzeigt, auf Grund derer die Fähigkeit des Angeklagten, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, trotz erhaltener Einsichtsfähigkeit beeinträchtigt war. Das Schwurgericht hat sich insbesondere nicht mit dem Umstand befasst, dass die ablehnende Haltung des Nebenklägers für den Angeklagten nicht überraschend kam, sondern dass es sich um eine ihm aus seinen früheren Auseinandersetzungen mit den Fahrern des Taxiunternehmens hinlänglich bekannte Alltagssituation handelte (UA 8, 23). Den von ihm in dieser Situation gefassten Entschluss, den Nebenkläger zu töten, setzte der Angeklagte entgegen der Einschätzung des Landgerichts gerade nicht spontan in die Tat um. Vielmehr entschied er sich dazu, ein geeignetes Tatwerkzeug herbeizuholen, und verließ zu diesem Zweck den späteren Tatort zunächst für mehrere Minuten, ehe er mit der Machete zurückkehrte. Dass der Angeklagte ungeachtet seiner vom Landgericht festgestellten Gemütsverfassung zu einer derart erfolgsorientierten Vorgehensweise in der Lage war, stellt ein gewichtiges Indiz gegen die Annahme fehlenden Ausnutzungsbewusstseins dar, das der neue Tatrichter in seine Würdigung einzubeziehen haben wird.
2. Das Landgericht hat das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe als objektiv erfüllt angesehen und dabei - insofern rechtsfehlerfrei - auf das eklatante Missverhältnis zwischen Tatanlass und Tat abgestellt. Die subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals hat es mit der Begründung verneint, das Gefühl der Hilflosigkeit habe es dem Angeklagten versperrt, die Niedrigkeit seiner Beweggründe in sein Bewusstsein aufzunehmen und gedanklich zu beherrschen, und ihn zu einer spontanen Tat hingerissen. Auch diese Erwägung hält - ungeachtet des dem Tatrichter bei seiner Würdigung zustehenden Beurteilungsspielraums (vgl. BGH NStZ 2007, 330, 331) - rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Der Tat waren über Jahre vielfache Belehrungen des Angeklagten über die Unrichtigkeit seiner Rechtsauffassung durch Polizei, Ordnungsamt, Staatsanwaltschaft, seinen eigenen Rechtsanwalt, das die Vorstrafe verhängende Gericht und seine Bewährungshelferin vorausgegangen. Insbesondere die Bewährungshelferin hatte sich bemüht, dem Angeklagten, einem unbeholfenen Autofahrer, Fahrmöglichkeiten aufzuzeigen, die ihm das Ausparken erleichtert hätten. Der Angeklagte hatte jedoch darauf bestanden, rückwärts in einem Zug immer in eine bestimmte Fahrtrichtung auszufahren, und dabei gegenüber der Bewährungshelferin angekündigt, auch künftig gegen Personen körperliche Gewalt anzuwenden, die gegenüber seiner Ausfahrt parken würden (UA 7). Die zur neuen Verhandlung berufene Schwurgerichtskammer wird sich deshalb damit auseinander zu setzen haben, dass die Tat, die der Angeklagte selbst unmittelbar nach seiner Festnahme gegenüber der Polizei (UA 10) sowie noch in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht ausdrücklich als gerechtfertigt bewertet hat, einen Akt der Selbstjustiz darstellte.
III.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Der neue Tatrichter wird die Tat auch im Hinblick auf eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB zu würdigen haben, der nicht im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB zurücktritt (BGHSt 53, 23 f.; BGH NStZ-RR 2009, 278).
2. Voraussetzung des § 46 a Nr. 2 StGB ist, ebenso wie bei § 46 a Nr. 1 StGB, dass die Leistung des Täters Ausdruck der Übernahme von Verantwortung gerade gegenüber dem Opfer ist. Daran fehlt es jedoch, wenn der Angeklagte die Tat als Notwehrhandlung gegen einen rechtswidrigen Angriff des Tatopfers hinstellt und somit schon die Opfer-Rolle des Geschädigten bestreitet (BGH BGHR StGB § 46 a Nr. 1 Ausgleich 7).
Rissing-van Saan Roggenbuck Appl
Schmitt Krehl
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057372
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BGH
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4. Strafsenat
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20100107
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4 StR 413/09
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Urteil
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§ 261 StPO, § 340 StGB
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vorgehend LG Dessau-Roßlau, 8. Dezember 2008, Az: 6 Ks 4/05 nachgehend BGH, 4. September 2014, Az: 4 StR 473/13, Urteil
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DEU
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(Körperverletzung mit Todesfolge im Amt: Anforderungen an die Beweiswürdigung bei Freispruch; erforderliche Maßnahmen zur Rettung eines gefesselten Untergebrachten bei Brand in der Gewahrsamszelle)
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1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 8. Dezember 2008, soweit es den Angeklagten betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Magdeburg zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge im Amt zum Nachteil des in Sierra-Leone geborenen O. J. aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit ihren hiergegen gerichteten Revisionen beanstanden die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger die Verletzung sachlichen Rechts. Die Nebenkläger beanstanden ferner das Verfahren. Die Rechtsmittel haben mit der Sachrüge Erfolg; einer Erörterung der Verfahrensrügen bedarf es deshalb nicht.
I.
1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, es als für den Gewahrsamsbereich des Polizeireviers D. verantwortlicher Dienstgruppenleiter unterlassen zu haben, sofort nach dem Ertönen des Alarmsignals des in der Gewahrsamszelle Nr. 5 installierten Rauchmelders Rettungsmaßnahmen zugunsten des dort untergebrachten O. J. einzuleiten. Obwohl ihm bewusst gewesen sei, dass beim Ansprechen eines Rauchmelders stets vom Ausbruch eines Feuers auszugehen sei, habe er das Alarmsignal mehrfach abgestellt. Dabei habe er mögliche Verletzungen des in der Zelle mit Hand- und Fußfesseln auf einer Liege fixierten O. J. durch Rauch- und Feuereinwirkung billigend in Kauf genommen. Zwei Minuten und 21 Sekunden nach Ausbruch des Feuers habe auch der Rauchmelder der Lüfteranlage des Gewahrsamszellentraktes Alarm ausgelöst. Der Angeklagte habe erst, nachdem er von seiner Kollegin H. energisch aufgefordert worden sei, nach dem Rechten zu sehen, die Schlüssel ergriffen und sich auf den Weg zum Gewahrsamstrakt gemacht. Nach dem Öffnen der Zellentür sei es dem Angeklagten und anderen hinzugekommenen Polizeibeamten nicht mehr gelungen, das Leben O. J.'s zu retten, der spätestens sechs Minuten nach Ausbruch des Feuers an den Folgen eines Hitzeschocks verstorben sei. Bei pflichtgemäßer, sofortiger Reaktion auf den ersten akustischen Alarm hätte der Angeklagte die Gewahrsamszelle Nr. 5 deutlich vor Ablauf von zwei Minuten nach Ausbruch des Feuers erreichen können, das Feuer mit Hilfe eines auf dem Weg zum Gewahrsamstrakt angebrachten Feuerlöschers löschen und das Leben O. J.'s retten können.
2. Das Landgericht hat hierzu im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Am frühen Morgen des 7. Januar 2005 wurde O. J., der in stark angetrunkenem Zustand Frauen belästigt hatte, auf das Polizeirevier D. gebracht. Im Arztraum des Gewahrsamstrakts wurden ihm Fußfesseln angelegt, nachdem er mit Füßen nach den Polizeibeamten getreten und mehrfach versucht hatte, sich Verletzungen am Kopf zuzufügen. Ihm wurde von einem herbeigerufenen Arzt um 9.15 Uhr eine Blutprobe entnommen, deren spätere Untersuchung eine Blutalkoholkonzentration von 2,98 ‰ ergab. Der Arzt erklärte O. J. für gewahrsamstauglich und empfahl dessen Fixierung, um zu verhindern, dass er sich selbst schädigt. Gegen 9.30 Uhr wurde O. J. in der Gewahrsamszelle Nr. 5 auf einer gefliesten und beheizten Liegefläche, auf der eine Matratze lag, an den hierfür vorgesehenen vier Halterungen fixiert. Trotz der Fixierung blieb eine gewisse Beweglichkeit seiner Extremitäten, seines Kopfes und des Körpers erhalten. In der Folgezeit wurde die Gewahrsamszelle viermal kontrolliert. Die letzte Kontrolle führten um 11.45 Uhr die Zeugin H. und ein weiterer Polizeibeamter durch.
Danach gelang es O. J., den Kunstlederbezug der Matratze zu öffnen und den als Füllung dienenden Schaumstoff, einen PUR-Weichschaum vom Typ Polyetherschaum, mit einem Einwegfeuerzeug, das entweder bei der vorangegangenen Durchsuchung übersehen worden war oder von ihm auf dem Weg in die Gewahrsamszelle an sich gebracht worden war, zu entzünden. Es entstand eine brennende Schmelze. Die Temperatur im Nahbereich der Flammen betrug etwa 800 Grad Celsius. Gegen 12.00 Uhr sprang im Dienstgruppenleiterbereich das Warnsignal des in der Zelle Nr. 5 installierten Ionisationsrauchmelders an. Dieser Rauchmelder löst, wie später durchgeführte Versuche ergeben haben, den Alarm spätestens 90 Sekunden nach der „Zündung“ aus. Der Angeklagte lief zu der nur wenige Schritte entfernten Bedienungsvorrichtung des Rauchmelders, wobei er mit den Gedanken an eine Fehlfunktion der Anlage, die es in der Vergangenheit gegeben hatte, äußerte: "Nicht schon wieder das Ding!". Er drückte die Resettaste und der Warnton verstummte. Anschließend meldete der Angeklagte den ausgelösten Alarm telefonisch seinem Vorgesetzten, dem Zeugen K., und bat ihn, mit in den Gewahrsamstrakt zu gehen. Als der Angeklagte den nur wenige Schritte entfernt bereitliegenden Gewahrsamschlüsselbund ergriff, sprang der Warnton des Rauchmelders erneut an. Der Angeklagte schaltete den Alarm mit der dafür vorgesehenen Taste endgültig aus und rannte mit dem Gedanken an eine Fehlfunktion der Anlage oder auch an einen Feuchtigkeitsschaden in der Anlage in Richtung der Gewahrsamszellen. Nach wenigen Schritten kehrte er um und entnahm dem neben dem Eingang zum Dienstgruppenbereich hängenden Blechkasten den Fußfesselschlüssel. Anschließend rannte er erneut los und forderte auf dem Weg zu den Gewahrsamszellen einen Kollegen auf, ihm in den Gewahrsamsbereich zu folgen. Dieser beendete das von ihm geführte Telefongespräch und folgte dem Angeklagten, der sogleich weitergelaufen war. Als der Angeklagte die Tür der Gewahrsamszelle Nr. 5 erreichte, trat an deren seitlichen Spalten, bereits Qualm aus. Nach dem Öffnen der Tür schlug dem Angeklagten und seinem Kollegen beißender schwarzer Qualm entgegen. Der Angeklagte rief seinem Kollegen zu, dass er Hilfe hole, und benachrichtigte weitere Kollegen. Der Versuch des zurückgebliebenen Kollegen, das Feuer mittels einer herbeigeholten Decke zu ersticken, und die Rettungsversuche der hinzugekommenen Kollegen scheiterten. O. J. war zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt innerhalb der ersten zwei Minuten nach Ausbruch des Brandes nach dem Einatmen der etwa 800 Grad Celsius heißen Gase an einem Inhalationshitzeschock gestorben.
3. Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Soweit ihm eine Körperverletzung mit Todesfolge im Amt zur Last gelegt worden sei, sei nicht erwiesen, dass er mit - zumindest bedingtem - Körperverletzungsvorsatz gehandelt habe. Der Angeklagte habe nicht damit gerechnet, dass O. J. körperlichen Schaden erleiden würde. Zudem habe er dies weder gewollt noch billigend in Kauf genommen. Aus den getroffenen Feststellungen ergebe sich vielmehr, dass sich der Angeklagte bemüht habe, schnell in den Gewahrsamsbereich zu gelangen.
Eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung sei ebenfalls nicht gegeben. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der eingetretene Todeserfolg objektiv vermeidbar gewesen wäre. Nach den zutreffenden Ausführungen der gerichtsmedizinischen Sachverständigen spreche eine größere Wahrscheinlichkeit dafür, dass O. J. bereits innerhalb von zwei Minuten nach Ausbruch des Feuers verstorben sei. Der Angeklagte hätte die Zelle aber auch dann erst nach mehr als zwei Minuten erreichen können, wenn er sogleich nach dem Ertönen des Signals des Rauchmelders zu der Gewahrsamszelle gelaufen wäre. Der Angeklagte habe im Übrigen nach dem Anspringen des Alarms nicht pflichtwidrig gehandelt.
II.
Der Freispruch des Angeklagten hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Dieses hat insoweit nur zu beurteilen, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238 f.; Senat, Urteil vom 24. Juni 2004 - 4 StR 15/04, wistra 2004, 432, jew. m. w. N.). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 1996 - 3 StR 183/96, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 11). Diesen Grundsätzen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.
1. Im Ansatz zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass ein (pflichtwidriges) Unterlassen des Angeklagten für den konkreten Todeseintritt nur dann ursächlich geworden wäre, wenn der Tod O. J.'s, so wie er konkret eingetreten ist, durch ein sofortiges und sachgerechtes Eingreifen des Angeklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Juni 2002 - 4 StR 51/02, NStZ-RR 2002, 303 m. N.). Das Landgericht hat dies aber nicht rechtsfehlerfrei verneint. Vielmehr erweist sich die der Annahme, der Angeklagte habe auch bei sofortiger Reaktion die Gewahrsamszelle nicht rechtzeitig erreichen können, zugrunde liegende Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht als lückenhaft:
a) Durchgreifenden Bedenken begegnet insbesondere die Annahme des Landgerichts, dass der Angeklagte erstmals durch das Alarmsignal auf die Notlage O. J.'s aufmerksam werden und mit Rettungsbemühungen beginnen konnte. Nach den Feststellungen war die Wechselsprechanlage, durch die der Dienstgruppenleiterbereich mit der Gewahrsamszelle verbunden war, bereits vor der letzten Kontrolle der Zelle auf Empfang geschaltet worden. Zwar hatte der Angeklagte, der sich durch „das laute Rufen“ O. J.'s bei einem Telefonat gestört fühlte, die Anlage leiser gestellt, aber nur für kurze Zeit. Dass der Angeklagte, nach dessen Einlassung ein „Rumschreien“ zu hören war, gleichwohl nicht schon vor dem Alarmsignal aufgrund der ihm möglichen akustischen Wahrnehmungen, insbesondere durch Schmerzensschreie, früher auf das Geschehen in der Zelle hätte aufmerksam werden können und die sich anbahnende Gefahr hätte erkennen müssen, ist nach den bisherigen Urteilsausführungen für den Senat aus folgenden Gründen nicht nachvollziehbar:
Nach den insoweit revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen hat O. J. den bei seiner Einlieferung unversehrten und, wie sich dem Gesamtzusammenhang entnehmen lässt, schwer entflammbaren Kunstlederbezug geöffnet und die Matratzenfüllung mit einem Einweggasfeuerzeug angezündet. Dieses Feuerzeug kann von dem früheren Mitangeklagten M. bei der Durchsuchung O. J.'s übersehen worden oder diesem Beamten von O. J. beim Transport in die Zelle entwendet worden sein. Das Landgericht hat sich aufgrund der Bekundungen des Zeugen F. und durch Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnung, die bei der von diesem Zeugen durchgeführten Rekonstruktion gefertigt wurde, davon überzeugt, dass O. J. mit der Hand, die mittels einer Handschelle an der Halterung an der Wand fixiert war, das Feuerzeug aus seiner Hose oder Unterhose herausholen und mit dieser Hand an den Rand der Matratze und die dort befindliche Naht fassen konnte.
Dieser im Ermittlungsverfahren durchgeführten Rekonstruktion lag ersichtlich die Annahme zugrunde, dass die Naht der Matratze geöffnet werden musste, um den Schaumstoff anzünden zu können. Hiervon ging zunächst auch das Landgericht aus. Aufgrund der Bekundungen des Zeugen F. zu einem während des Laufs der Hauptverhandlung durchgeführten weiteren Versuch und der Inaugenscheinnahme des hierbei aufgenommenen Films hat sich das Landgericht aber davon überzeugt, dass der Kunststofflederbezug von O. J. aufgerissen wurde, nachdem dieser ihn mittels des Feuerzeugs erhitzt hatte. Bei einer so geschaffenen Öffnung wäre der zu entzündende Schaumstoff, im Unterschied zu einer Zündung durch die geöffnete Naht hindurch, vor der Zündung regelrecht freigelegt worden, so dass schnell ein Vollbrand entstehen konnte.
Insoweit ist das Urteil jedoch lückenhaft. Es enthält weder eine hinreichende Darstellung dieses Versuchs, noch verweist es auf Lichtbilder. Ihm lässt sich schon nicht entnehmen, ob die Situation nachgestellt worden ist, in der sich O. J. bei der Brandlegung befand. So bleibt offen, ob der Bewegungspielraum seiner an der Wand fixierten Hand ausreichte, um den Matratzenbezug "anzuschmoren" und in dem zum Anzünden des Schaumstoffs erforderlichen Umfang zu öffnen. Insbesondere fehlen Angaben dazu, ob es möglich war, den Matratzenbezug ohne erhebliche schmerzhafte Verletzungen an der Hand mit dem Einwegfeuerzeug zu erhitzen. Hiermit hätte sich das Landgericht schon deshalb auseinandersetzen müssen, weil es nahe liegt, dass ein Mensch, der in einer Zelle einen Brand legt, um die Lösung seiner Fesseln zu erreichen, sich frühzeitig durch Rufen bemerkbar macht und Schmerzenslaute von sich gibt, wenn er beim Legen eines Brandes Verbrennungen erleidet. Hat aber O. J. bereits vor dem Anzünden des freigelegten Schaumstoffs durch Rufe und/oder Schmerzenslaute auf seine Situation aufmerksam gemacht, stellt sich die Frage nach einer Rettungsmöglichkeit neu. Denn dann hätte der Angeklagte bereits vor dem Alarmsignal des Rauchmelders erkennen können und müssen, dass ein sofortiges Eingreifen zur Abwendung einer möglichen Gefahr für Leib und Leben O. J.'s geboten war.
b) Aber auch wenn man mit dem Landgericht davon ausgeht, dass über die Wechselsprechanlage weder Schmerzenslaute noch sonstige Hinweise auf eine Gefahrensituation zu vernehmen waren, bleiben Unklarheiten hinsichtlich der nach dem Ansprechen des Ionisationsmelders für eine Rettung verbleibenden Zeit.
Das Landgericht ist, was für sich genommen nicht zu beanstanden ist, den Gutachten der rechtsmedizinischen Sachverständigen folgend davon ausgegangen, dass der Tod mit hoher Wahrscheinlichkeit schon innerhalb von zwei Minuten „nach Ausbruch des Brandes“ infolge eines Inhalationshitzeschocks eingetreten ist. Die rechtsmedizinischen Sachverständigen stellten dabei ersichtlich auf einen „Vollbrand“ von Teilen der Schaumstofffüllung der Matratze ab, bei dem Temperaturen von 800 Grad Celsius herrschen, so dass schon zwei Atemzüge zu einem tödlichen Inhalationshitzeschock führen können. Das Landgericht ist ferner auf der Grundlage der von dem Brandsachverständigen durch drei im Mai 2006 durchgeführte Versuche ermittelten Ansprechzeiten des in der Zelle installierten Ionisationsrauchmelders davon ausgegangen, dass dieser spätestens 90 Sekunden nach der „Zündung“ ausgelöst worden ist. Danach könnte der Tod nach dem Zweifelsgrundsatz bereits vor der Auslösung des Alarmsignals eingetreten sein. Dies setzt jedoch voraus, dass der Brandsachverständige, der von „Zündung“ gesprochen hat, bei der Messung der Ansprechzeiten auf dieselbe Situation abgestellt hat, wie die rechtsmedizinischen Sachverständigen. Ob dies der Fall war, lässt sich aber den auch insoweit lückenhaften Urteilsausführungen nicht entnehmen, weil die Bedingungen nicht mitgeteilt werden, unter denen diese Versuche, insbesondere aber der Versuch im Januar 2005, bei dem die Ansprechzeit des Rauchmelders in der Lüftungsanlage ermittelt wurde, durchgeführt wurden.
Danach bleibt offen, ob mit der Messung der Ansprechzeiten der Rauchmelder begonnen wurde, als eine Gasflamme an den bereits freiliegenden Schaumstoff gehalten wurde, oder erst, als dies zu einem Vollbrand des Schaumstoffs geführt hatte. Nach den Urteilsausführungen basierte „auch“ der am 23. Juni 2008 ausgeführte Versuch, bei dem im Bereich der Flammen eine Temperatur von 800 Grad Celsius herrschte, „nur“ auf einer Zündung an der geöffneten Naht. Erforderlich wäre gewesen, bei der Ermittlung der Ansprechzeiten der Rauchmelder die Situation, in der O. J. den Brand gelegt hat, unter Berücksichtigung auch der Möglichkeit, dass er den Matratzenbezug zunächst "angeschmort" hat, insgesamt nachzustellen. Dass dies geschehen wäre, teilt das Urteil nicht mit. Auch fehlen Ausführungen dazu, ob der Ionisationsrauchmelder schon durch beim Anschmoren des Kunststofflederbezuges freigesetzte Rußpartikel ausgelöst worden sein kann.
c) Nicht nachvollziehbar ist die Beweiswürdigung auch, soweit das Landgericht festgestellt hat, dass der Angeklagte sich sogleich nach dem endgültigen Abschalten des Alarmsignals, das zehn Sekunden nach dem Drücken der Resettaste erneut ertönt war, auf den Weg zur Gewahrsamszelle gemacht hat. Es widerspricht schon der Lebenserfahrung, dass der Angeklagte die von ihm und der Zeugin H. beschriebenen vielfältigen Aktivitäten, einschließlich des Telefonats mit seinem Dienstvorgesetzten, innerhalb dieser kurzen Zeitspanne bewältigt haben kann. Vor diesem Hintergrund wird sich der neue Tatrichter bei der Zeugin H., die den Angeklagten in ihrer ersten polizeilichen Vernehmung deutlich stärker belastet hatte, mit der Aussageentwicklung befassen müssen. Dabei wird nicht nur ein möglicher Gruppendruck im Kollegenkreis, sondern auch ein im Verlauf der Ermittlungen entstandenes Interesse, sich selbst zu entlasten, in den Blick zu nehmen sein. Die Frage der Kausalität zwischen dem Verhalten des Angeklagten und dem Tod O. J.'s wird daher erneut zu überprüfen sei.
2. Bedenken begegnen auch die Ausführungen zum pflichtgemäßen Verhalten.
Löst der in einer Gewahrsamszelle installierte Brandmelder Alarm aus, weist das auf eine unmittelbar drohende Gefahr für Leib und Leben einer in einer verschlossenen und verriegelten Zelle (vgl. Nr. 29. 1 Polizeigewahrsamsordnung - RdErl. des MI vom 28. Februar 2006 - 21.11-12340/110, MBl. LSA 2006, 137) verwahrten Person hin. In einem solchen Fall sind unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Dies gilt umso mehr, wenn - wie hier - zur Verhinderung einer drohenden Selbstschädigung die Fesselung (vgl. § 64 Nr. 3 SOG LSA) angeordnet und eine berauschte Person an Händen und Füßen angekettet in Rückenlage fixiert worden ist. Hieran ändert auch die Möglichkeit eines Fehlalarms nichts. Nur wenn die im Fall eines Brandes erforderlichen Maßnahmen unverzüglich ergriffen werden, ist sichergestellt, dass sofort mit der Rettung der verwahrten Person begonnen werden kann.
Dem Angeklagten waren die Umstände bekannt, unter denen es zur Ingewahrsamnahme O. J.'s gekommen war. Insbesondere wusste er auch, auf welche Weise dieser in der Gewahrsamszelle fixiert worden war. Der Angeklagte hätte erkennen können und müssen, dass O. J. im Falle eines Brandes in besonderem Maße gefährdet war. Unbeschadet der Frage, ob O. J. wegen seines Zustands nicht ohnehin nach Nr. 12. 7 Polizeigewahrsamsordnung nur unter ständiger Aufsicht zweier Beamter hätte untergebracht werden dürfen, hätte er deshalb unter Mitnahme des Gewahrsamsschlüsselbundes und der Fußfesselschlüssel sofort zur Gewahrsamszelle eilen müssen. Alles weitere, insbesondere die telefonische Benachrichtigung des Dienststellenleiters und - was sinnvoll gewesen wäre - weiterer der sich in der Dienststelle aufhaltenden Kollegen, sowie das Abschalten des Alarmsignals, hätte seine Kollegin übernehmen können.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057375
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100211
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III ZR 128/09
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Urteil
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§ 276 BGB, § 280 BGB, § 309 Nr 7b BGB, § 311 Abs 2 BGB, § 328 BGB
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vorgehend OLG München, 16. März 2009, Az: 21 U 5166/08, Urteil vorgehend LG München I, 23. September 2008, Az: 29 O 5866/08
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DEU
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Kapitalanlagegeschäft: Haftung des als Mittelverwendungskontrolleur eingesetzten Wirtschaftsprüfers wegen unterlassener Prüfung der Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Verwendungskontrolle
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Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 21. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. März 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Kläger machen gegen den beklagten Wirtschaftsprüfer Ersatzansprüche im Zusammenhang mit einer Beteiligung an der F. Z. GbR geltend, die sie am 21. September 2004 zeichneten.
Die Anlage wurde anhand eines von der Fondsgesellschaft herausgegebenen Emissionsprospekts vertrieben. Unter anderem nach Nummer 10 der darin enthaltenen Erläuterungen der rechtlichen Grundlagen des Fonds hatte zur Absicherung der Kapitalanleger ein Wirtschaftsprüfer die Kontrolle über die zweckgerechte Verwendung der Gesellschaftereinlage übernommen. Dem lag ein im Prospekt hinter dem Gesellschaftsvertrag als Anlage 2 abgedruckter Mittelverwendungskontrollvertrag zwischen der F. Z. GbR und dem dort noch nicht benannten Wirtschaftsprüfer zugrunde. Dieser Vertrag enthielt insbesondere folgende Regelungen:
"§ 1 Sonderkonto
(1) Die Fonds-Gesellschaft richtet ein Sonderkonto bei einem Kreditinstitut ein, über das sie nur gemeinsam mit dem Beauftragten verfügen kann ("Sonderkonto"). Auf das Sonderkonto sind die Gesellschaftereinlagen einzuzahlen und die von der Fonds-Gesellschaft ausgereichten Darlehen zu tilgen.
…
§ 4 Haftung
(1) Dieser Vertrag wird als Vertrag zu Gunsten Dritter, und zwar zu Gunsten aller Gesellschafter abgeschlossen. Die Gesellschafter können aus diesem Vertrag eigene Rechte herleiten.
(2) Schadensersatzansprüche gegen den Beauftragten können nur geltend gemacht werden, wenn die Fonds-Gesellschaft oder die Gesellschafter nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermögen."
Weiter enthielt der Vertrag in § 1 Abs. 3 die Bedingungen, unter denen Zahlungen von dem Sonderkonto geleistet werden durften und deren Einhaltung der Mittelverwendungskontrolleur zu überwachen hatte.
Der Beklagte war Mitte März 2003 als Mittelverwendungskontrolleur gewonnen worden und hatte mit der Fondsgesellschaft den im Prospekt wiedergegebenen Vertrag abgeschlossen.
Nachdem Mitte Dezember 2004 wirtschaftliche Schwierigkeiten der Fondsgesellschaft offen gelegt wurden, befindet sich diese seit Ende des Jahres 2005 in Liquidation. Die Kläger begehren von dem Beklagten im Wege des Schadensersatzes die Rückzahlung der von ihnen geleisteten Einlage abzüglich der aus der Liquidation erhaltenen Beträge Zug um Zug gegen Abtretung des Anspruchs auf Auszahlung weiteren Liquidationserlöses. Ferner beantragen sie, festzustellen, dass der Beklagte sich mit der Annahme der angebotenen Abtretung in Verzug befinde und sie von möglichen noch bestehenden Verpflichtungen aus der Beteiligung freizustellen habe. Sie werfen dem Beklagten unter anderem vor, er habe die ihm nach dem Vertrag übertragene Mittelverwendungskontrolle nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Insbesondere habe die Fondsgesellschaft entgegen § 1 Abs. 1 des Mittelverwendungskontrollvertrags (im Folgenden: MVKV) und den Angaben im Prospekt ohne Mitwirkung des Beklagten über die angelegten Gelder verfügen können.
Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Ansprüche weiter.
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Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Nach dessen Auffassung scheiden Forderungen gegen den Beklagten wegen Verletzung seiner aus dem Mittelverwendungskontrollvertrag folgenden Pflichten aufgrund der Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV aus. Diese Klausel unterliege keiner AGB-Kontrolle, da sie zwischen der F. Z. GbR und dem Beklagten individuell ausgehandelt worden sei.
Deliktische Ansprüche scheiterten an nicht ausreichendem Sachvortrag.
II.
Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann sich der Beklagte gegenüber den Anlegern - und damit auch gegenüber den Klägern - nicht auf die Subsidiarität seiner Haftung gemäß § 4 Abs. 2 MVKV berufen. Die Klausel ist insoweit nach § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam, wie der Senat mit Urteil vom 19. November 2009 (III ZR 108/08 - ZIP 2009, 2446, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen) entschieden hat, das ein Urteil desselben Berufungssenats zu demselben Beklagten, demselben Fonds, demselben Mittelverwendungskontrollvertrag und zu einem auch ansonsten im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt betraf. Danach gilt zusammengefasst Folgendes:
1. Bei § 4 Abs. 2 MVKV handelt es sich um eine der Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff BGB unterliegende Klausel. Zwar ist sie vordergründig eine einzeln ausgehandelte Vertragsbestimmung, da sie - nach dem im Revisionsverfahren zugrunde zu legenden Sach- und Streitstand - individuell zwischen dem Beklagten und der Fondsgesellschaft vereinbart worden ist. Allerdings handelt es sich um eine Bestimmung, die für eine Vielzahl von vertraglichen Verhältnissen vorformuliert ist und die der Beklagte über die zwischen der Fondsgesellschaft und den Anlegern geschlossenen Verträge gegenüber diesen verwendete. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass es für die Anwendbarkeit des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht darauf ankommt, ob derartige Klauseln Bestandteil eines zweiseitigen Vertrags sind. Vielmehr können nach dem Schutzzweck des AGB-Rechts auch vorformulierte Klauseln der Inhaltskontrolle unterliegen, die nicht im engen Sinne Vertragsbedingungen sind, sofern sie im Zusammenhang mit einer vertraglichen Beziehung stehen (Senat aaO S. 2446 Rn. 12 m.w.N.).
Der Schutzzweck der §§ 305 ff BGB gebietet es, auch § 4 Abs. 2 MVKV der Inhaltskontrolle zu unterwerfen (Senat aaO S. 2447 f Rn. 13 ff). Bei dem Mittelverwendungskontrollvertrag handelt es sich um vorformulierte Bedingungen, die Ausdruck einer die Vertragsfreiheit einschränkenden überlegenen Verhandlungsmacht des Beklagten und der Fondsgesellschaft gegenüber den Anlegern sind. Die Bedingungen des zwischen dem Beklagten und der Fondsgesellschaft geschlossenen Vertrags sollten nach den übereinstimmenden Vorstellungen der Beteiligten von vornherein gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Anlegern Verwendung finden, ohne dass eine Bereitschaft des Beklagten oder der Fondsgesellschaft erkennbar war, über ihren Inhalt zu verhandeln. Der Anleger sah sich damit in zumindest gleicher Weise den vorformulierten Bedingungen des Drittschutzes ausgeliefert wie bei einem unmittelbaren Vertragsschluss mit dem Beklagten. Er hatte - wie bei Vertragsverhandlungen mit ungleicher Gestaltungsmacht sonst auch - nur die Wahl, den Beitrittsvertrag abzuschließen und den damit vermittelten Schutz durch die Mittelverwendungskontrolle zu den vorformulierten Bedingungen in Anspruch zu nehmen oder auf beides zu verzichten. Die inhaltliche Gestaltungsmacht lag insoweit einseitig bei dem Beklagten sowie der Fondsgesellschaft (Senat aaO Rn. 14). Die Interessenlage des Anlegers ist in Bezug auf den Mittelverwendungskontrollvertrag auch sonst mit der eines Vertragsschließenden vergleichbar, der im Hinblick auf die Leistungen der Gegenseite eigene Dispositionen - hier den Beitritt zur Fondsgesellschaft - vornimmt (Senat aaO S. 2448 Rn. 15).
2. Die Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV ist, soweit die Ansprüche der Anleger beschränkt werden, gemäß § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam. Eine nach § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unzulässige Haftungsbegrenzung liegt unter anderem vor, wenn der Gläubiger auch wegen Ersatzansprüchen aufgrund grob fahrlässiger Pflichtverletzungen darauf verwiesen wird, seine Schadensersatzforderungen zunächst bei anderen, eventuell mithaftenden Personen geltend zu machen (Senat aaO Rn. 16 m.w.N.). So liegt es hier. § 4 Abs. 2 MVKV nimmt Ansprüche aufgrund grob fahrlässiger Pflichtverletzungen nicht von der Haftungseinschränkung aus.
3. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist die Anwendung von § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB auf § 4 Abs. 2 MVKV auch nicht aufgrund der Erwägung ausgeschlossen, der durch den Vertrag begünstigte Anleger erwerbe nur ein abgespaltenes Recht, das von vornherein nur in begrenztem Umfang bestehe, so dass er durch die fragliche Klausel nicht in ihm an sich zustehenden Rechten beschränkt werde (siehe zu den Einzelheiten Senat aaO Rn. 17 ff).
III.
Das angefochtene Urteil kann damit keinen Bestand haben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine Feststellungen zu den dem Beklagten vorgeworfenen Verletzungen seiner aus dem Mittelverwendungskontrollvertrag folgenden Pflichten getroffen hat, kann der Senat eine eigene Sachentscheidung nicht treffen. Die Sache war daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird hinsichtlich der Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Haftung des Beklagten auch die in dem in der Parallelsache III ZR 109/08 ergangenen Senatsurteil vom 19. November 2009 (ZIP 2009, 2448) aufgestellten Grundsätze zu beachten haben. Gegebenenfalls wird es sich auch mit den weiteren Rügen der Revision zu befassen haben, auf die näher einzugehen der Senat im derzeitigen Verfahrensstadium keine Veranlassung sieht.
Schlick Dörr Herrmann
Hucke Tombrink
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057376
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100211
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III ZR 120/09
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Urteil
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§ 276 BGB, § 280 BGB, § 309 Nr 7b BGB, § 311 Abs 2 BGB, § 328 BGB
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vorgehend OLG München, 2. März 2009, Az: 21 U 4670/08, Urteil vorgehend LG München I, 7. August 2008, Az: 32 O 24902/07
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DEU
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Kapitalanlagegeschäft: Haftung des als Mittelverwendungskontrolleur eingesetzten Wirtschaftsprüfers wegen unterlassener Prüfung der Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Verwendungskontrolle
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Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 21. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 2. März 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Kläger machen gegen den beklagten Wirtschaftsprüfer Ersatzansprüche im Zusammenhang mit einer Beteiligung an der F. Z. GbR geltend, die sie am 20. August 2003 zeichneten.
Die Anlage wurde anhand eines von der Fondsgesellschaft herausgegebenen Emissionsprospekts vertrieben. Unter anderem nach Nummer 10 der darin enthaltenen Erläuterungen der rechtlichen Grundlagen des Fonds hatte zur Absicherung der Kapitalanleger ein Wirtschaftsprüfer die Kontrolle über die zweckgerechte Verwendung der Gesellschaftereinlage übernommen. Dem lag ein im Prospekt hinter dem Gesellschaftsvertrag als Anlage 2 abgedruckter Mittelverwendungskontrollvertrag zwischen der F. Z. GbR und dem dort noch nicht benannten Wirtschaftsprüfer zugrunde. Dieser Vertrag enthielt insbesondere folgende Regelungen:
"§ 1 Sonderkonto
(1) Die Fonds-Gesellschaft richtet ein Sonderkonto bei einem Kreditinstitut ein, über das sie nur gemeinsam mit dem Beauftragten verfügen kann ("Sonderkonto"). Auf das Sonderkonto sind die Gesellschaftereinlagen einzuzahlen und die von der Fonds-Gesellschaft ausgereichten Darlehen zu tilgen.
…
§ 4 Haftung
(1) Dieser Vertrag wird als Vertrag zu Gunsten Dritter, und zwar zu Gunsten aller Gesellschafter abgeschlossen. Die Gesellschafter können aus diesem Vertrag eigene Rechte herleiten.
(2) Schadensersatzansprüche gegen den Beauftragten können nur geltend gemacht werden, wenn die Fonds-Gesellschaft oder die Gesellschafter nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermögen."
Weiter enthielt der Vertrag in § 1 Abs. 3 die Bedingungen, unter denen Zahlungen von dem Sonderkonto geleistet werden durften und deren Einhaltung der Mittelverwendungskontrolleur zu überwachen hatte.
Der Beklagte war Mitte März 2003 als Mittelverwendungskontrolleur gewonnen worden und hatte mit der Fondsgesellschaft den im Prospekt wiedergegebenen Vertrag abgeschlossen.
Nachdem Mitte Dezember 2004 wirtschaftliche Schwierigkeiten der Fondsgesellschaft offen gelegt wurden, befindet sich diese seit Ende des Jahres 2005 in Liquidation. Die Kläger begehren von dem Beklagten im Wege des Schadensersatzes die Rückzahlung der von ihnen geleisteten Einlage abzüglich der aus der Liquidation erhaltenen Beträge Zug um Zug gegen Abtretung des Anspruchs auf Auszahlung weiteren Liquidationserlöses. Ferner beantragen sie, festzustellen, dass der Beklagte sich mit der Annahme der angebotenen Abtretung in Verzug befinde und sie von möglichen noch bestehenden Verpflichtungen aus der Beteiligung freizustellen habe. Sie werfen dem Beklagten unter anderem vor, er habe die ihm nach dem Vertrag übertragene Mittelverwendungskontrolle nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Insbesondere habe die Fondsgesellschaft entgegen § 1 Abs. 1 des Mittelverwendungskontrollvertrags (im Folgenden: MVKV) und den Angaben im Prospekt ohne Mitwirkung des Beklagten über die angelegten Gelder verfügen können.
Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Ansprüche weiter.
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Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Nach dessen Auffassung scheiden Forderungen gegen den Beklagten wegen Verletzung seiner aus dem Mittelverwendungskontrollvertrag folgenden Pflichten aufgrund der Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV aus. Diese Klausel unterliege keiner AGB-Kontrolle, da sie zwischen der F. Z. GbR und dem Beklagten individuell ausgehandelt worden sei.
Deliktische Ansprüche scheiterten an nicht ausreichendem Sachvortrag.
II.
Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann sich der Beklagte gegenüber den Anlegern - und damit auch gegenüber den Klägern - nicht auf die Subsidiarität seiner Haftung gemäß § 4 Abs. 2 MVKV berufen. Die Klausel ist insoweit nach § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam, wie der Senat mit Urteil vom 19. November 2009 (III ZR 108/08 - ZIP 2009, 2446, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen) entschieden hat, das ein Urteil desselben Berufungssenats zu demselben Beklagten, demselben Fonds, demselben Mittelverwendungskontrollvertrag und zu einem auch ansonsten im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt betraf. Danach gilt zusammengefasst Folgendes:
1. Bei § 4 Abs. 2 MVKV handelt es sich um eine der Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff BGB unterliegende Klausel. Zwar ist sie vordergründig eine einzeln ausgehandelte Vertragsbestimmung, da sie - nach dem im Revisionsverfahren zugrunde zu legenden Sach- und Streitstand - individuell zwischen dem Beklagten und der Fondsgesellschaft vereinbart worden ist. Allerdings handelt es sich um eine Bestimmung, die für eine Vielzahl von vertraglichen Verhältnissen vorformuliert ist und die der Beklagte über die zwischen der Fondsgesellschaft und den Anlegern geschlossenen Verträge gegenüber diesen verwendete. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass es für die Anwendbarkeit des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht darauf ankommt, ob derartige Klauseln Bestandteil eines zweiseitigen Vertrags sind. Vielmehr können nach dem Schutzzweck des AGB-Rechts auch vorformulierte Klauseln der Inhaltskontrolle unterliegen, die nicht im engen Sinne Vertragsbedingungen sind, sofern sie im Zusammenhang mit einer vertraglichen Beziehung stehen (Senat aaO S. 2446 Rn. 12 m.w.N.).
Der Schutzzweck der §§ 305 ff BGB gebietet es, auch § 4 Abs. 2 MVKV der Inhaltskontrolle zu unterwerfen (Senat aaO S. 2447 f Rn. 13 ff). Bei dem Mittelverwendungskontrollvertrag handelt es sich um vorformulierte Bedingungen, die Ausdruck einer die Vertragsfreiheit einschränkenden überlegenen Verhandlungsmacht des Beklagten und der Fondsgesellschaft gegenüber den Anlegern sind. Die Bedingungen des zwischen dem Beklagten und der Fondsgesellschaft geschlossenen Vertrags sollten nach den übereinstimmenden Vorstellungen der Beteiligten von vornherein gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Anlegern Verwendung finden, ohne dass eine Bereitschaft des Beklagten oder der Fondsgesellschaft erkennbar war, über ihren Inhalt zu verhandeln. Der Anleger sah sich damit in zumindest gleicher Weise den vorformulierten Bedingungen des Drittschutzes ausgeliefert wie bei einem unmittelbaren Vertragsschluss mit dem Beklagten. Er hatte - wie bei Vertragsverhandlungen mit ungleicher Gestaltungsmacht sonst auch - nur die Wahl, den Beitrittsvertrag abzuschließen und den damit vermittelten Schutz durch die Mittelverwendungskontrolle zu den vorformulierten Bedingungen in Anspruch zu nehmen oder auf beides zu verzichten. Die inhaltliche Gestaltungsmacht lag insoweit einseitig bei dem Beklagten sowie der Fondsgesellschaft (Senat aaO Rn. 14). Die Interessenlage des Anlegers ist in Bezug auf den Mittelverwendungskontrollvertrag auch sonst mit der eines Vertragsschließenden vergleichbar, der im Hinblick auf die Leistungen der Gegenseite eigene Dispositionen - hier den Beitritt zur Fondsgesellschaft - vornimmt (Senat aaO S. 2448 Rn. 15).
2. Die Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV ist, soweit die Ansprüche der Anleger beschränkt werden, gemäß § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam. Eine nach § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unzulässige Haftungsbegrenzung liegt unter anderem vor, wenn der Gläubiger auch wegen Ersatzansprüchen aufgrund grob fahrlässiger Pflichtverletzungen darauf verwiesen wird, seine Schadensersatzforderungen zunächst bei anderen, eventuell mithaftenden Personen geltend zu machen (Senat aaO Rn. 16 m.w.N.). So liegt es hier. § 4 Abs. 2 MVKV nimmt Ansprüche aufgrund grob fahrlässiger Pflichtverletzungen nicht von der Haftungseinschränkung aus.
3. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist die Anwendung von § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB auf § 4 Abs. 2 MVKV auch nicht aufgrund der Erwägung ausgeschlossen, der durch den Vertrag begünstigte Anleger erwerbe nur ein abgespaltenes Recht, das von vornherein nur in begrenztem Umfang bestehe, so dass er durch die fragliche Klausel nicht in ihm an sich zustehenden Rechten beschränkt werde (siehe zu den Einzelheiten Senat aaO Rn. 17 ff).
III.
Das angefochtene Urteil kann damit keinen Bestand haben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine Feststellungen zu den dem Beklagten vorgeworfenen Verletzungen seiner aus dem Mittelverwendungskontrollvertrag folgenden Pflichten getroffen hat, kann der Senat eine eigene Sachentscheidung nicht treffen. Die Sache war daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird hinsichtlich der Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Haftung des Beklagten auch die in dem in der Parallelsache III ZR 109/08 ergangenen Senatsurteil vom 19. November 2009 (ZIP 2009, 2448) aufgestellten Grundsätze zu beachten haben. Gegebenenfalls wird es sich auch mit den weiteren Rügen der Revision zu befassen haben, auf die näher einzugehen der Senat im derzeitigen Verfahrensstadium keine Veranlassung sieht.
Schlick Dörr Herrmann
Hucke Tombrink
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public
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JURE100057377
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100120
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IV ZR 24/09
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Urteil
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§ 5 Nr 5 AVBSchauLK 2001
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vorgehend OLG Celle, 15. Januar 2009, Az: 8 U 148/08, Urteil vorgehend LG Hannover, 12. Juni 2008, Az: 8 O 58/07, Urteil
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DEU
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Schaustellerkaskoversicherung: Verletzung der Obliegenheit zur ständigen Beaufsichtigung von Fahrgeschäften nach einer Aufenthaltsdauer zwischen den Veranstaltungen von über 24 Stunden
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 15. Januar 2009 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 12. Juni 2008 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten beider Rechtsmittelverfahren.
Von Rechts wegen
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Der Kläger unterhielt bei der Beklagten eine Schaustellerkaskoversicherung unter anderem für ein Kinderfahrgeschäft (Freifallturm), das ausweislich eines Nachtrags zum Versicherungsschein vom 26. Juni 2006 gegen "Diebstahl ganzes Fahrzeug mit 20% Selbstbeteiligung" versichert war. Dem Versicherungsvertrag lagen Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB Schausteller 2001) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:
"§ 5 Obliegenheiten vor dem Schadenfall
…
5. Aufenthalte bis zu 30 Tagen (§ 2 Nr. 2)
Dauert ein Aufenthalt zwischen den Veranstaltungen länger als 10 Tage, so muß vom 11. Tage des Aufenthaltes an eine erhöhte Sicherheit der versicherten Gegenstände gegen unbefugten Zugang gewährleistet sein. Dies kann entweder durch ständige Beaufsichtigung oder durch Abstellen auf rundum hoch (mindestens 1,5 m) eingezäunten und mit verschlossenen Zugängen versehenen Grundstücken oder in verschlossenen festen Gebäuden geschehen. Als Beaufsichtigung gilt die ständige Anwesenheit des Versicherungsnehmers oder einer von ihm beauftragten Vertrauensperson beim Geschäft, verbunden mit Kontrollen.
…
7. Verletzt der Versicherungsnehmer oder sein Repräsentant eine der Obliegenheiten gemäß Nr. 1 bis 6, so ist der Versicherer nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 und Abs. 2 VVG leistungsfrei. Abweichend von § 6 Abs. 1 S. 3 VVG bleibt der Versicherer wegen Verletzung einer vor Eintritt des Versicherungsfalles zu erfüllenden Obliegenheit auch dann leistungsfrei, wenn er von seinem Kündigungsrecht keinen Gebrauch macht. …
§ 13 Kündigung nach dem Versicherungsfall
1. Nach dem Eintritt eines Versicherungsfalles können sowohl der Versicherungsnehmer als auch der Versicherer den Versicherungsvertrag kündigen. …"
Im Nachtrag zum Versicherungsschein war unter "Klausel 4 - Diebstahl und Raub" unter Nr. 3c folgende Regelung enthalten:
"Erhöhte Sicherheit (§ 5 Nr. 5 AVB Schausteller) muß bereits bei Aufenthalten von über 24 Stunden gewährleistet sein."
Der Kläger beschickte mit dem Freifallturm im Juli 2006 das Schützenfest in G. Nach dessen Beendigung ließ er bei seiner Abreise am Abend des 9. Juli 2006 das Fahrgeschäft zurück. Mit seiner Beaufsichtigung beauftragte er den Zeugen K., der diese Aufgabe am Abend des 11. Juli 2006 auf den Zeugen Kö. übertrug. Bei seiner Rückkehr am 12. Juli 2006 um die Mittagszeit stellte der Kläger fest, dass das Fahrgeschäft von unbekannten Tätern entwendet worden war.
Die Beklagte lehnte am 4. Oktober 2006 wegen der Verletzung vereinbarter Sicherheitsvorschriften Versicherungsleistungen ab. Bereits am 28. Juli 2006 hatte sie anlässlich der Regulierung eines weiteren Versicherungsfalles - des Sturmschadens an einem ebenfalls versicherten Wohnwagen - die Kündigung gemäß § 13 AVB Schausteller 2001 erklärt.
Das Landgericht hat die auf Zahlung des Zeitwertes des Freifallturms abzüglich des Selbstbehalts gerichtete Klage in Höhe von 75.640 € nebst Zinsen abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Dagegen wendet sie sich mit ihrer Revision.
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Das zulässige Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Es sei unstreitig ein Versicherungsfall eingetreten. Auf Leistungsfreiheit könne sich die Beklagte nicht berufen. Es fehle schon am objektiven Tatbestand einer Obliegenheitsverletzung. Der Nachtrag zum Versicherungsschein vom 26. Juni 2006 enthalte nicht nur in Klausel 4 Nr. 3c, sondern auch in Klausel 2 Nr. 4 eine Ergänzung zu § 5 Nr. 5 AVB Schausteller 2001. Danach dürfe der Versicherungsnehmer abgestellte Fahrzeuge und/oder abgestellte oder aufgebaute Geschäfte nicht länger als 24 Stunden unbeaufsichtigt lassen. Der genaue Zusammenhang zwischen den beiden Regelungen erschließe sich dem Versicherungsnehmer nicht. Diese Unklarheit sei der Beklagten als Versicherer anzulasten. Zugunsten des Versicherungsnehmers sei daher davon auszugehen, dass bei einem Zeitraum von bis zu 24 Stunden eine Beaufsichtigung des Fahrgeschäftes nicht notwendig sei.
Das Landgericht habe zutreffend festgestellt, dass ab Dienstagabend nach Abfahrt des Zeugen K. das Fahrgeschäft nicht mehr im Sinne der Versicherungsbedingungen hinreichend beaufsichtigt worden sei. Denn der Zeuge Kö., der mit seinem Wohnwagen 300 m Luftlinie entfernt vom Freifallturm gestanden habe, sei weder ständig am Fahrgeschäft anwesend gewesen, noch habe er dieses ständig beobachtet oder Kontrollen vor Ort vorgenommen. Der Zeuge Kö. sei aber nur von Dienstagabend gegen 19.00 Uhr bis zum Eintreffen des Klägers am Mittwochmittag für die Beaufsichtigung des Fahrgeschäftes zuständig gewesen, mithin über einen Zeitraum von weniger als 24 Stunden. Der Zeuge K. hingegen habe bis Dienstagabend den Sicherheitsvorschriften genügt. Er habe das Fahrgeschäft aus etwa 200 m Entfernung frei im Blick gehabt und zweimal täglich Kontrollgänge vorgenommen. Das reiche aus, weil eine "ständige Anwesenheit" vom durchschnittlichen Versicherungsnehmer nicht so verstanden werden müsse, dass eine Aufsichtsperson die gesamte Zeit über gleichsam "auf einem Stuhl neben dem Fahrgeschäft sitzen" und dieses beaufsichtigen müsse.
Unabhängig davon sei die Beklagte ihrer Kündigungsobliegenheit aus § 6 Abs. 1 Satz 3 VVG a.F. nicht nachgekommen. Diese gesetzliche Regelung sei in § 5 Nr. 7 AVB Schausteller 2001 nicht wirksam abbedungen, da die Klausel zum Nachteil des Klägers als Versicherungsnehmer von ihr abweiche (§ 15a VVG a.F). Die Kündigung vom 28. Juli 2006 habe die Beklagte im Zuge der Abwicklung eines anderen Versicherungsfalles ausgesprochen. Dadurch sei keine Kündigung des gesamten Versicherungsverhältnisses erfolgt unter Einbeziehung auch des streitbefangenen Freifallturms. Nach § 30 Abs. 1 VVG a.F. stehe dem Versicherer dann, wenn die Voraussetzungen für eine Kündigung nur wegen eines Teils der versicherten Gegenstände vorlägen, das Recht zur Kündigung für die übrigen Teile nur zu, wenn anzunehmen sei, dass er für diese allein den Vertrag unter den gleichen Bedingungen nicht geschlossen haben würde. Davon sei hier - bei insgesamt 15 versicherten Schaustellergeschäften - nicht auszugehen; anderes habe die Beklagte nicht dargelegt. Von der Kündigungspflicht sei die Beklagte schließlich nicht deshalb entbunden, weil mit dem Diebstahl des Freifallturms zugleich das versicherte Interesse entfallen sei. Bei dem entsprechenden Fahrgeschäft handele es sich um keine "Massenware", die ohne weiteres etwa ins Ausland verschoben werden könne. Überdies bestehe das versicherte Interesse für die übrigen Fahrgeschäfte - als Sachgesamtheit - fort.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung aus mehreren Gründen nicht stand. Die Beklagte ist gegenüber dem Kläger von ihrer Leistungspflicht frei geworden.
1. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ergibt sich der Inhalt der Sicherheitsobliegenheit ausschließlich aus § 5 Nr. 5 AVB Schausteller 2001 i.V. mit der zwischen den Parteien vereinbarten Klausel 4 Nr. 3c. Diese ist im Nachtrag zum Versicherungsschein vom 26. Juni 2006 enthalten, der nach den vom Berufungsgericht auf Grundlage des unstreitigen Parteivorbringens getroffenen Feststellungen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen ergänzt.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats sind Allgemeine Versicherungsbedingungen so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit - auch - auf seine Interessen an (Senat in BGHZ 123, 83, 85).
b) Ein verständiger Versicherungsnehmer wird bei der gebotenen aufmerksamen Durchsicht der Versicherungsbedingungen schon den einleitenden Formulierungen der betreffenden Klauseln 2 und 4 entnehmen, welchen - klar voneinander abgegrenzten - Anwendungsbereich diese haben sollen. Die Klausel 4 ist mit "Diebstahl und Raub" überschrieben und bezieht sich gemäß Nr. 1 auf die versicherten Fahrgeschäfte nebst den darin enthaltenen versicherten Sachen, wenn diese zusammen mit dem Fahrzeug entwendet werden. Die Klausel 2 trägt hingegen die Überschrift "Einbruchdiebstahl und Raub" und erfasst nach Nr. 1 alle Waren und sonstigen zum Geschäft gehörenden beweglichen Gegenstände, soweit diese sich in einem allseitig fest umschlossenen Fahrzeug befinden. Darum geht es hier ersichtlich nicht, weil das Fahrgeschäft in seiner Gesamtheit abhanden gekommen ist. Der Unterschied zwischen einem Diebstahl - der Entwendung des gesamten Fahrgeschäfts - und einem Einbruchdiebstahl - des Eindringens in ein Fahrgeschäft unter Entwendung nur des Inhalts - ist auch einem juristischen Laien geläufig und kann von einem verständigen Versicherungsnehmer entsprechend eingeordnet werden. Die vom Berufungsgericht hervorgehobene Unklarheit der Versicherungsbedingungen, weil dem Versicherungsnehmer nicht deutlich werde, welche der Verhaltensanforderungen - Klausel 4 Nr. 3c oder Klausel 2 Nr. 4 des Nachtrags - für ihn im gegebenen Fall maßgeblich sein solle, besteht somit nicht.
(2) Der Versicherungsnehmer wird weiter der - allein maßgeblichen - Klausel 4 Nr. 3c entnehmen, dass gegenüber § 5 Nr. 5, 7 AVB Schausteller 2001 veränderte Verhaltensanforderungen vereinbart sein sollen. Eine erhöhte Sicherheit nach Maßgabe des § 5 Nr. 5 AVB Schausteller 2001 muss bereits bei einem Aufenthalt von über 24 Stunden gewährleistet sein. Die von ihm zu erfüllende Sicherheitsobliegenheit wird der Versicherungsnehmer nach alledem so verstehen, dass er für den Fall, dass der (gesamte) Aufenthalt zwischen den Veranstaltungen länger als 24 Stunden dauert, für eine erhöhte Sicherheit Sorge tragen muss, nämlich durch das Abstellen des Fahrgeschäfts auf einem besonders gesicherten Gelände bzw. in einem verschlossenen festen Gebäude oder ständige Beaufsichtigung.
c) In dieser Lesart ist die Klausel 4 Nr. 3c hinreichend transparent (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB); sie ist auch nicht nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam, weil sie mit dem durch die Rechtsprechung geprägten Leitbild des Rechts der Obliegenheiten vor und nach Eintritt des Versicherungsfalles (§ 6 VVG a.F.) zu vereinbaren ist.
(1) Die Klausel führt dem Versicherungsnehmer seine Rechte und Pflichten klar und durchschaubar vor Augen. Sie ist für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer nicht nur verständlich, sondern lässt auch die damit für ihn verbundenen wirtschaftlichen Nachteile und Belastungen soweit erkennen, wie dies nach den Umständen vom Versicherer gefordert werden kann (vgl. BGHZ 136, 394, 401 f.; 141, 137, 143; 147, 354, 361 f.; Senatsurteile vom 30. April 2008 - IV ZR 241/04 - VersR 2008, 816 Tz. 14 f. und vom 26. September 2007 - IV ZR 252/06 - VersR 2007, 1690 Tz. 16). Sie verweist ausdrücklich auf § 5 Nr. 5 AVB Schausteller 2001 und bringt zum Ausdruck, dass die dort näher umschriebenen Sicherheitsanforderungen bereits bei Aufenthalten von über 24 Stunden gewährleistet sein müssen. Den Bezug zwischen der ursprünglichen und der abgeänderten Fassung der Sicherheitsvorschrift kann der Versicherungsnehmer ohne weiteres herstellen. Die Klausel lässt somit mit der erforderlichen Eindeutigkeit - und ohne die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Versicherungsnehmers zu überfordern - erkennen, was im Einzelnen von ihm verlangt wird, um sich den Versicherungsschutz durch bestimmte Handlungen zu erhalten (vgl. Senatsbeschluss vom 30. April 2008 - IV ZR 53/05 - VersR 2008, 961 Tz. 5; Senatsurteile vom 9. Dezember 1987 - IVa ZR 155/86 - VersR 1988, 267 unter II; vom 17. Dezember 2008 - IV ZR 9/08 - VersR 2009, 341 Tz. 18).
(2) Durch die in Klausel 4 Nr. 3c formulierte Verhaltensanforderung wird der Versicherungsnehmer nicht unzumutbar belastet, insbesondere sein von der Beklagten versprochener Versicherungsschutz nicht unangemessen ausgehöhlt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die in § 5 Nr. 5 AVB Schausteller 2001 aufgenommenen und in Klausel 4 Nr. 3c modifizierten Sicherheitsvorkehrungen schon bei nur kurzfristigen Aufenthalten zwischen zwei Veranstaltungen - etwa von einigen wenigen Stunden - zu treffen wären. Davon ist indes hier nicht auszugehen. Ein Aufenthalt für einen Zeitraum von mehr als einem Tag erhöht objektiv nachvollziehbar das Diebstahlsrisiko, so dass vom Versicherungsnehmer verlangt werden kann, für entsprechende Maßnahmen Sorge zu tragen. Dies umso mehr, als der Versicherungsnehmer die freie Wahl hat, eine Person seines Vertrauens mit der Beaufsichtigung zu beauftragen oder das versicherte Fahrgeschäft auf ein eingezäuntes und mit verschlossenen Zugängen versehenes Grundstück oder in ein verschlossenes festes Gebäude zu verbringen.
2. Der vereinbarten Sicherheitsobliegenheit ist der Kläger nicht hinreichend nachgekommen.
a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass der Zeuge Kö. das ihm anvertraute Fahrgeschäft in der Zeit ab Dienstagabend bis Mittwochmittag nicht genügend beaufsichtigt hat. Dieser hat sich überwiegend in seinem etwa 300 m Luftlinie entfernten Wohnwagen aufgehalten, nur gelegentlich einen Blick auf den Freifallturm geworfen und insbesondere keine Kontrollgänge unternommen. Darin ist keine ständige, mit Kontrollen verbundene Beaufsichtigung i.S. von § 5 Nr. 5 AVB Schausteller 2001 zu sehen.
b) Hingegen kommt es - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - nicht darauf an, dass der Zeuge Kö. die Aufsicht über das Fahrgeschäft nur weniger als 24 Stunden wahrgenommen hat. So ist der Inhalt der Klausel 4 Nr. 3c ersichtlich nicht aufzufassen, auch die - hier nicht einschlägige - Klausel 2 Nr. 4 wäre nicht in diesem Sinne zu verstehen. Vielmehr ist bei einem Aufenthalt zwischen den Veranstaltungen, der länger als 24 Stunden dauert, danach durchgängig eine erhöhte Sicherheit des versicherten Gegenstandes zu gewährleisten, die in einer ständigen Anwesenheit des Versicherungsnehmers oder einer von ihm beauftragten Vertrauensperson beim Geschäft, verbunden mit entsprechenden Kontrollen, besteht. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass ein über längere Zeit unbeaufsichtigtes Fahrgeschäft den Diebstahlsanreiz für Dritte erhöht. Jede andere Interpretation setzt sich mit dem Wortlaut, aber auch mit dem Sinn und Zweck der Klausel in Widerspruch. Wenn sich die beauftragte Person lediglich alle 24 Stunden vergewissert, dass mit dem versicherten Fahrzeug alles in Ordnung ist, um danach das Geschäft wieder für 24 Stunden sich selbst zu überlassen, liefe das Erfordernis einer - auf Dauer angelegten - "ständigen Anwesenheit" inhaltlich leer; von den Anforderungen der Sicherheitsvorschrift wären der Versicherungsnehmer oder die von ihm beauftragte Person nahezu völlig entbunden.
c) Somit ist der objektive Tatbestand einer Obliegenheitsverletzung gegeben. Die Verschuldensvermutung des § 6 Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. hat der Kläger nicht widerlegt; auch der Kausalitätsgegenbeweis des § 6 Abs. 2 VVG a.F. ist durch ihn nicht geführt.
3. Das Berufungsgericht hat allerdings richtig gesehen, dass die Beklagte die Kündigungsobliegenheit aus § 6 Abs. 1 Satz 3 VVG a.F. in § 5 Nr. 7 AVB Schausteller 2001 nicht wirksam abbedingen konnte (vgl. dazu Senatsurteil vom 29. Juni 1983 - IVa ZR 220/81 - VersR 1983, 949 unter II). Jedoch erweist sich dies als nicht entscheidungserheblich.
a) Zwar trifft es zu, dass die Beklagte keine Kündigung erklärt hat, die sich auf den streitbefangenen Versicherungsfall und die damit verbundene Obliegenheitsverletzung bezieht. Eine solche Kündigung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3 VVG a.F. ist aber dann entbehrlich, wenn der Vertrag noch vor Ablauf der Kündigungsfrist aus anderen Gründen seine Beendigung gefunden hat; eine weitere Kündigung wäre eine überflüssige Formalität. Auch könnte dem Zweck der Kündigungsobliegenheit nicht mehr Rechnung getragen werden, der darin liegt, dem Versicherer die Möglichkeit zu nehmen, mit dem Einwand der Leistungsfreiheit bis zum nächsten Versicherungsfall zu warten, gleichwohl aber inzwischen in den Genuss der Prämie zu kommen, bzw. dem Versicherungsnehmer gegenüber klarzustellen, dass er den Verstoß gegen die Obliegenheit für so schwerwiegend ansieht, dass er sich zu einer Kündigung veranlasst sieht (vgl. Senat in BGHZ 118, 275, 280 f.; Urteile vom 5. März 1986 - IVa ZR 63/84 - VersR 1986, 380 unter 3; vom 22. Juni 1988 - IVa ZR 25/87 - VersR 1988, 1013 unter II 2; vgl. ferner BGH, Urteil vom 28. Februar 1963 - II ZR 8/60 - VersR 1963, 426 unter II).
b) Ob eine Kündigung nach § 6 Abs. 1 Satz 3 VVG a.F. bereits deshalb nicht mehr erfolgen musste, weil mit dem Diebstahl zugleich das versicherte Interesse entfallen war (vgl. Senatsurteil vom 15. Januar 1997 - IV ZR 335/95 - VersR 1997, 443 unter 2 b), kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls war das Versicherungsverhältnis bereits durch die Kündigung vom 28. Juli 2006 einen Monat nach deren Zugang insgesamt beendet worden. Das Berufungsgericht wird mit seiner Ansicht, auf diese Kündigung komme es nicht an, dem Umstand nicht gerecht, dass die Beklagte ausweislich ihres Schreibens von ihrem Kündigungsrecht nach § 13 AVB Schausteller 2001 Gebrauch gemacht hatte. Gegen die Wirksamkeit einer solchen, in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vereinbarten, ausschließlich objektiven Voraussetzungen folgenden Kündigungsmöglichkeit bestehen keine Bedenken, sofern sie - wie hier - unter denselben Voraussetzungen für beide Vertragsparteien gilt (vgl. Senatsurteil vom 27. März 1991 - IV ZR 130/90 - VersR 1991, 580 unter II 3). Sie ist vor dem Hintergrund der §§ 96, 113, 158 VVG a.F. zu sehen, wobei es gleich ist, ob diese Bestimmungen als allgemeiner Grundgedanke des Versicherungsrechts für die Sachversicherung schlechthin (vgl. Senatsurteil vom 27. März 1991 aaO; bejahend Langheid in Römer/Langheid, VVG 2. Aufl. § 96 Rdn. 4 f.; Martin, Sachversicherungsrecht 3. Aufl. L II Rdn. 4 f.) oder nur für ihre ausdrücklich im Versicherungsvertragsgesetz geregelten Arten - der Feuer- und der Hagelversicherung - gelten. Die vertragliche Vereinbarung eines Kündigungsrechts, das der in den §§ 96, 113, 158 VVG a.F. enthaltenen gesetzlichen Kündigungsbefugnis entspricht, ist in jedem Falle unbedenklich (vgl. auch Kollhosser in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. § 96 Rdn. 2).
c) Der Sinn eines solchen Kündigungsrechts besteht darin, "das Versicherungsverhältnis" zu kündigen, mithin dem Kündigenden die Berechtigung zu geben, sich aus der gesamten Vertragsbeziehung zu lösen (Langheid aaO Rdn. 18). Auf die Bestimmung des § 30 VVG a.F. und seine entsprechende Anwendbarkeit für § 6 Abs. 1 Satz 3 VVG a.F. kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
d) Das Berufungsgericht hat dies bei seiner Auslegung des Schreibens vom 28. Juli 2006 nicht ausreichend bedacht; es entfernt sich zudem vom eindeutigen Wortlaut der Kündigung. Diese hatte nicht allein den versicherten Wohnwagen anlässlich des seitens der Beklagten regulierten Sturmschadens zum Gegenstand. Bereits im Briefkopf ihres Schreibens hat die Beklagte die "Schaustellerkaskoversicherung" mit der dazu gehörigen Versicherungsnummer … angeführt, mithin das Vertragsverhältnis in seiner Gesamtheit bezeichnet. Ferner wird das Kündigungsrecht gemäß § 13 AVB Schausteller 2001 gegen Ende des Schreibens ausdrücklich in Bezug genommen, und zwar ohne jede Einschränkung dahin, dass es sich nur um eine Teilkündigung handeln sollte.
4. Mithin war die Beklagte von der Kündigungsobliegenheit jedenfalls deshalb befreit, weil das Versicherungsverhältnis insgesamt durch die Kündigung vom 28. Juli 2006 und damit noch vor Beginn der Kündigungsfrist nach § 6 Abs. 1 Satz 3 VVG a.F. beendet worden ist. Sie hat dem Kläger daher zu Recht die begehrte Versicherungsleistung versagt.
Terno Seiffert Dr. Kessal-Wulf
Felsch Harsdorf-Gebhardt
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057391
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BGH
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11. Zivilsenat
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20100209
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XI ZR 140/09
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Beschluss
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Art 103 Abs 1 GG, § 398 Abs 1 ZPO, § 529 Abs 1 Nr 1 ZPO
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vorgehend OLG München, 23. März 2009, Az: 17 U 4337/08, Urteil vorgehend LG München I, 22. Juli 2008, Az: 28 O 19706/07
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DEU
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Berufungsverfahren: Pflicht des Berufungsgerichts zur erneuten Zeugenvernehmung
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Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 23. März 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens und die außergerichtlichen Kosten der Streithelferin, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 60.151,77 €
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I.
Der Kläger verlangt von der Beklagten zu 2), einer Bank (im Folgenden: Beklagte), Schadensersatz im Zusammenhang mit einer Kapitalanlage bei der V. KG, (im Folgenden: Filmfonds).
Der Kläger ist langjähriger Kunde der Beklagten. Mit Zeichnungsschein vom 28. November 2000 beteiligte er sich mit einer Kommanditeinlage über 100.000 DM zuzüglich 5.000 DM Agio an dem Filmfonds. Auf diese Kapitalanlage war der Kläger von der Zeugin S., einer Mitarbeiterin der Beklagten, aufmerksam gemacht worden. Bei dem Gespräch war dem Kläger auch der Verkaufsprospekt des Filmfonds ausgehändigt worden. In der Folgezeit erhielt der Kläger Ausschüttungen des Fonds in Höhe von 1.533,88 €. Im Jahr 2002 geriet der Filmfonds in eine wirtschaftliche Schieflage.
Der Kläger hält den Verkaufsprospekt hinsichtlich der Belehrung über die Risiken der Anlage, insbesondere das Risiko eines Totalverlustes, für fehlerhaft. Die Zeugin S. habe diesen Fehler nicht richtig gestellt. Vielmehr habe sie erläutert, der Fonds sei besonders gesichert und eine - unstreitig nicht abgeschlossene - Erlösausfallversicherung werde eintreten, falls ein Film nicht erfolgreich sein werde. Die Beklagte behauptet, den Kläger auf das Totalausfallrisiko hingewiesen zu haben.
Mit der Klage verlangt der Kläger von der Beklagten - unter Abzug der Ausschüttungen - die Rückzahlung der Beteiligungssumme von 52.151,77 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Abtretung sämtlicher Ansprüche aus seiner Beteiligung an dem Filmfonds und die Feststellung, dass die Beklagte den Kläger von etwaigen Nachteilen freizustellen hat, die dieser dadurch erleidet, dass er die Schadensersatzleistung im Jahre des Zuflusses zu einem höheren Steuersatz als im Jahr 2000 zu versteuern hat.
Das Landgericht hat der Klage gegen die Beklagte bis auf einen Teil der Zinsen stattgegeben, weil es aufgrund der Anhörung des Klägers und der Aussage der Zeugin S. ein Aufklärungsdefizit über das im Prospekt zu positiv gezeichnete Bild von der Sicherheit der Anlage angenommen hat. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil des Landgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Dies hat es im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Kläger habe gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadensersatz wegen Verletzung des zwischen den Parteien im November 2000 zustande gekommenen Anlagevermittlungsvertrages. Zwar sei der Fondsprospekt im Hinblick auf die Risikodarstellung fehlerhaft, weil dieser das Gesamtbild eines nur begrenzten wirtschaftlichen Risikos vermittle, obwohl ein Totalverlustrisiko bestehe. Nach dem Ergebnis der vor dem Landgericht erfolgten Beweisaufnahme sei aber erwiesen, dass die Zeugin S. den Kläger bei dem Vermittlungsgespräch auf das Risiko eines Totalverlustes hingewiesen habe. Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
Die Revision ist nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, weil das angegriffene Urteil den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. Senatsbeschlüsse, BGHZ 159, 135, 139 f. und vom 18. Januar 2005 - XI ZR 340/03, BGH-Report 2005, 939 f.). Aus demselben Grunde ist das angefochtene Urteil gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufzuheben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
1. Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass der Fondsprospekt fehlerhaft ist, weil der Prospekt bei einer Gesamtschau hinsichtlich des Risikos eines Totalverlusts einen unrichtigen Eindruck vermittelt (vgl. BGH, Urteile vom 14. Juni 2007 - III ZR 125/06, WM 2007, 1503, Tz. 15 und vom 6. März 2008 - III ZR 298/05, WM 2008, 725, Tz. 22). Damit steht die Pflichtverletzung des Anlageberaters aufgrund der Übergabe des falschen Prospektes fest (Senatsbeschluss vom 17. September 2009 - XI ZR 264/08, BKR 2009, 471, Tz. 5). Sie entfällt nur dann, wenn er diesen Fehler berichtigt hat. Dafür, dass er dies getan hat, ist der Anlageberater und nicht etwa der Anleger beweispflichtig (Senatsbeschluss aaO). Soweit das Berufungsgericht nicht geprüft hat, ob nach den Grundsätzen des Bond-Urteils (Senat BGHZ 123, 126, 128) von dem Zustandekommen eines Anlageberatungsvertrages statt des von ihm angenommenen Anlagevermittlungsvertrages auszugehen ist, hat sich dies nicht entscheidungserheblich ausgewirkt.
2. Das Berufungsgericht hat indes den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil es zur Beantwortung der Frage, ob die Beklagte den Prospektfehler in dem Beratungsgespräch mit dem Kläger richtig gestellt hat, die erstinstanzlich vernommene Zeugin entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 Abs. 1 ZPO nicht erneut vernommen hat, obwohl es deren Aussage anders gewürdigt hat als das Landgericht.
a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten (vgl. BVerfG, NJW 2005, 1487; BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291, Tz. 5). Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz (BGH, Urteile vom 28. November 1995 - XI ZR 37/95, WM 1996, 196, 198 und vom 8. Dezember 1999 - VIII ZR 340/98, NJW 2000, 1199, 1200). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (BGH, Urteile vom 19. Juni 1991 - VIII ZR 116/90, NJW 1991, 3285, 3286 und vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, 2223). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwiderung nicht vor. Insoweit ist auch unschädlich, dass die Beschwerde nicht ausdrücklich die Verletzung der § 398 Abs. 1, § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gerügt hat; es genügt, dass sie die abweichende Beweiswürdigung des Berufungsgerichts beanstandet und hierin eine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG sieht.
b) Nach diesen Maßgaben ist Art. 103 Abs. 1 GG hier verletzt. Das Landgericht hat den von der Beklagten zu erbringenden Beweis über die Berichtigung des Prospektfehlers als nicht geführt angesehen. Es hat die Aussage der von ihm vernommenen Zeugin S. dahin gewürdigt, dass sie den Kläger anhand des Prospekts beraten und sie damit dem in dem Prospekt zu positiv gezeichneten Bild von der Sicherheit der Anlage nicht entgegengewirkt habe. Aufgrund dessen hat das Landgericht ausdrücklich ein Aufklärungsdefizit festgestellt. Das Berufungsgericht hat demgegenüber gemeint, dass sich der Aussage der Zeugin eine ausreichende Aufklärung über das Totalausfallrisiko entnehmen lasse. Somit hat das Berufungsgericht die Zeugenaussage ebenfalls für ergiebig erachtet, aber abweichend gewürdigt, ohne sich durch erneute Vernehmung der Zeugin einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Zudem hätte es in diesem Fall auch den Kläger, der eine solche Aufklärung bei seiner Anhörung vor dem Landgericht verneint hat, aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit nochmals anhören müssen (vgl. BVerfG, NJW 2001, 2531; 2008, 2170, 2171).
c) Das angefochtene Urteil beruht auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugin erneut vernommen und auch den Kläger nochmals angehört hätte. Sollte danach von einem Beratungsfehler der Beklagten auszugehen sein, könnte sich der Kläger in Bezug auf die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung auf die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens berufen. Es obliegt dann dem Aufklärungspflichtigen, hier also der Beklagten, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass der Anleger die Kapitalanlage auch bei richtiger Aufklärung erworben hätte, er also den unterlassenen Hinweis unbeachtet gelassen hätte (vgl. BGHZ 61, 118, 122; 124, 151, 159 f.; Senatsurteil vom 12. Mai 2009 - XI ZR 586/07, WM 2009, 1274, Tz. 22). Das Verschulden der Beklagten ist gemäß § 282 BGB aF (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB nF) zu vermuten, so dass sich die Beklagte insoweit entlasten muss (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 17. September 2009 - XI ZR 264/08, BKR 2009, 471, Tz. 6 ff.). Die übrigen Anspruchsvoraussetzungen hat der Kläger ebenfalls schlüssig dargelegt.
Wiechers Joeres Mayen
Grüneberg Maihold
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Deutschland
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BMJV
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JURE100057393
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100211
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III ZR 11/09
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Urteil
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§ 276 BGB, § 280 BGB, § 309 Nr 7b BGB, § 311 Abs 2 BGB, § 328 BGB
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vorgehend OLG München, 16. Dezember 2008, Az: 18 U 4694/07, Urteil vorgehend LG München I, 14. August 2007, Az: 23 O 15907/06
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DEU
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Kapitalanlagegeschäft: Haftung des als Mittelverwendungskontrolleur eingesetzten Wirtschaftsprüfers wegen unterlassener Prüfung der Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Verwendungskontrolle
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. Dezember 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Der minderjährige Kläger macht gegen den beklagten Wirtschaftsprüfer Ansprüche im Zusammenhang mit einer Beteiligung an der F. Z. GbR geltend, die er, vertreten durch seine Eltern, am 18. September 2003 zeichnete.
Die Anlage wurde anhand eines von der Fondsgesellschaft herausgegebenen Emissionsprospekts vertrieben. Unter anderem nach Nummer 10 der darin enthaltenen Erläuterungen der rechtlichen Grundlagen des Fonds hatte zur Absicherung der Kapitalanleger ein Wirtschaftsprüfer die Kontrolle über die zweckgerechte Verwendung der Gesellschaftereinlage übernommen. Dem lag ein im Prospekt abgedruckter Mittelverwendungskontrollvertrag zwischen der F. Z. GbR und dem Wirtschaftsprüfer zugrunde. Dieser Vertrag enthielt insbesondere folgende Regelungen:
"§ 1 Sonderkonto
(1) Die Fonds-Gesellschaft richtet ein Sonderkonto bei einem Kreditinstitut ein, über das sie nur gemeinsam mit dem Beauftragten verfügen kann ("Sonderkonto"). Auf das Sonderkonto sind die Gesellschaftereinlagen einzuzahlen und die von der Fonds-Gesellschaft ausgereichten Darlehen zu tilgen.
…
(3) Zahlungen aus dem Sonderkonto dürfen nur entweder zur Begleichung von Kosten der Fonds-Gesellschaft oder zur Ausreichung von Darlehen geleistet werden.
Zahlungen zur Ausreichung eines Darlehens dürfen nur geleistet werden, wenn…
…
§ 4 Haftung
(1) Dieser Vertrag wird als Vertrag zu Gunsten Dritter, und zwar zu Gunsten aller Gesellschafter abgeschlossen. Die Gesellschafter können aus diesem Vertrag eigene Rechte herleiten.
(2) Schadensersatzansprüche gegen den Beauftragten können nur geltend gemacht werden, wenn die Fonds-Gesellschaft oder die Gesellschafter nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermögen.
…"
Die Mittelverwendungskontrolle sollte nach dem Prospekt von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer durchgeführt werden, der "aus standesrechtlichen Gründen" nicht genannt wurde.
Der Beklagte wurde im März 2003 als Mittelverwendungskontrolleur gewonnen. Er erstellte zudem ein Prospektprüfungsgutachten. Für das Sonderkonto, auf das die Anleger ihre Gesellschaftereinlagen einzahlten, war er gesamtvertretungsberechtigt. Drei der geschäftsführenden Gesellschafter waren demgegenüber einzeln zeichnungsbefugt. Erst nach dem 1. Dezember 2004 wurden deren Zeichnungsrechte dahingehend geändert, dass sie nur gemeinsam mit dem Beklagten über das Konto verfügen konnten.
Nachdem Mitte Dezember 2004 wirtschaftliche Schwierigkeiten der Fondsgesellschaft offen gelegt wurden, befindet sich diese seit Ende des Jahres 2005 in Liquidation. Der Kläger hat von dem Beklagten unter anderem die Rückzahlung der von ihm geleisteten Einlage abzüglich der aus der Liquidation erhaltenen Beträge Zug um Zug gegen Abtretung der Ansprüche auf Auszahlung weiteren Liquidationserlöses verlangt. Wegen des Zahlungsanspruchs hat er mittlerweile die Erledigung der Hauptsache erklärt, deren Feststellung er begehrt. Weiterhin fordert er die Feststellung des Annahmeverzugs des Beklagten wegen der angebotenen Abtretung und dessen Verpflichtung, ihn von sämtlichen Verpflichtungen aus der Beteiligung freizustellen.
Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche weiter.
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Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts scheiden Ansprüche des Klägers aus Prospekthaftung aus. Der Beklagte sei nicht prospektverantwortlich gewesen und habe auch kein persönliches Vertrauen in Anspruch genommen.
Der Kläger habe gegen den Beklagten auch keinen Schadensersatzanspruch gemäß § 311 Abs. 2, 3 BGB wegen Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten. Der Beklagte sei lediglich verpflichtet gewesen, künftige Anleger über ihm bekannte oder sich ihm aufdrängende Auffälligkeiten zu informieren. Eine Aufklärungspflicht habe insbesondere nicht bezüglich der Zeichnungsbefugnisse für das Sonderkonto bestanden. Zwar sei dieses mangels einer Vereinbarung mit der Bank, dass Verfügungen nur unter Mitwirkung des Beklagten zulässig sein sollten, nicht vertragsgerecht eingerichtet worden. Jedoch habe der Kläger nicht den Nachweis erbracht, dass dem Beklagten dies zum Zeitpunkt seines Beitritts zum Fonds bekannt gewesen sei oder es sich ihm hätte aufdrängen müssen. Der Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, künftige Anleger darauf hinzuweisen, dass er nicht überprüft habe, ob ein dem Mittelverwendungskontrollvertrag entsprechendes Sonderkonto eingerichtet worden sei. Dem Vertrag sei eine diesbezügliche Kontrollpflicht nicht zu entnehmen. Ansprüche aus einer Pflichtverletzung im Zusammenhang mit der Abwicklung des Mittelverwendungskontrollvertrags schieden aus, da sie nicht auf den von dem Kläger begehrten Ersatz des Zeichnungsschadens gerichtet seien. Schließlich kämen auch Ansprüche auf deliktsrechtlicher Grundlage nicht in Betracht.
II.
Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Der Senat hat mit seinem Urteil vom 19. November 2009 (III ZR 109/08 - ZIP 2009, 2449), das denselben Beklagten, denselben Fonds, denselben Mittelverwendungskontrollvertrag und einen auch ansonsten im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt betraf, die Pflichten des Beklagten in entscheidenden Punkten abweichend beurteilt. Danach gilt zusammengefasst Folgendes:
1. a) Den Beklagten traf nach dem Vertrag über die Mittelverwendungskontrolle (MVKV) gegenüber den Anlegern unter anderem die Verpflichtung zu überprüfen, ob die Konditionen des Sonderkontos mit den in § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV genannten Kriterien übereinstimmten. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hatte sich der Beklagte zu vergewissern, dass sämtliche Verfügungsberechtigten nur gemeinsam mit ihm zeichnungsbefugt waren (Senat aaO S. 2450 Rn. 17 ff). Dies folgt aus dem Zweck des Mittelverwendungskontrollvertrags.
Die vom Beklagten übernommene Funktion bestand darin, die Anleger davor zu schützen, dass die geschäftsführenden Gesellschafter Zahlungen von dem Sonderkonto vornehmen, ohne dass die in § 1 Abs. 3 MVKV genannten Voraussetzungen vorliegen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, musste er sicherstellen, dass er die ihm obliegende Kontrolle über den Mittelabfluss auch tatsächlich ausüben konnte. Da ein Konto, über das nur unter Mitwirkung des Beklagten verfügt werden konnte, eine zentrale Bedingung des Mittelverwendungskontrollvertrags darstellte und Voraussetzung für die effektive Verwirklichung seines Schutzzwecks war, durfte er nicht ohne eigene Vergewisserung darauf vertrauen, dass die für das Sonderkonto bestehenden Zeichnungsbefugnisse den Anforderungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV entsprachen. Der Beklagte musste, wenn nicht schon Manipulationen der Fondsgesellschaft, so doch aber jedenfalls gewärtigen, dass es bei der Einrichtung des Sonderkontos infolge von Unachtsamkeiten oder Irrtümern auf Seiten der Bank oder der Fondsgesellschaft zu Fehlern bei der Einräumung der Zeichnungsrechte kommen konnte.
Hiernach oblag dem Beklagten die Überprüfung, ob die geschäftsführenden Gesellschafter nur mit ihm gemeinschaftlich für das Sonderkonto verfügungsberechtigt waren. Diese Prüfungspflicht bestand zu dem Zeitpunkt, ab dem die Anlage "einsatzbereit" war (Senat aaO S. 2451 Rn. 26). Die Mittelverwendungskontrolle musste naturgemäß sichergestellt sein, bevor die Anleger Beteiligungen zeichneten und Zahlungen auf ihre Einlagen leisteten.
b) Allerdings beschränkten sich die Pflichten des Beklagten nicht auf diese Überprüfung und darauf, der Fondsgesellschaft gegenüber auf die Beseitigung der Mängel hinzuwirken. Gegenüber Anlegern, die dem Fonds nach Aufnahme seiner Tätigkeit beitraten, war der Beklagte darüber hinaus verpflichtet, in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte (vgl. Senat aaO S. 2451 f Rn. 29 f). Er konnte nicht ausschließen, dass es bereits vor dem Beitritt § 1 Abs. 3 MVKV widersprechende Auszahlungen von dem Sonderkonto gegeben hatte, durch die das Gesellschaftsvermögen - auch zum Nachteil der künftig beitretenden Gesellschafter - fortwirkend vermindert worden war. In dieser Situation hätte der Beklagte seinen vorvertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Beitrittsinteressenten nicht allein dadurch genügt, für eine ordnungsgemäße Mittelverwendungskontrolle in der Zukunft Sorge zu tragen. Da eine zweckwidrige Minderung des Gesellschaftsvermögens bereits eingetreten sein konnte, hätte er nach Aufnahme der Tätigkeit des Fonds vielmehr unverzüglich zusätzlich darauf hinweisen müssen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte. Er hätte deshalb auf eine Änderung des Prospekts drängen müssen und Anleger, die vor einer derartigen Prospektänderung ihr Interesse an einer Beteiligung bekundeten, in geeigneter anderer Weise unterrichten müssen.
Der Senat verkennt nicht, dass es für den Beklagten - anders als in den Fällen, in denen ein Treuhandkommanditist zum Mittelverwendungskontrolleur bestimmt ist und daher zwangsläufig in unmittelbaren Kontakt zu den beitrittswilligen Anlegern tritt - durchaus mit Mühen verbunden gewesen wäre, die Anlageinteressenten rechtzeitig vor Tätigung der Anlage zu informieren. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ist jedoch davon auszugehen, dass dem Beklagten zumutbare und hinreichend erfolgversprechende Mittel zur Verfügung standen. So hätte er insbesondere den Vertrieb und notfalls die Fachpresse über die unterbliebene Mittelverwendungskontrolle informieren können. Es wird Sache des Beklagten sein, darzutun und gegebenenfalls zu beweisen, dass ihm die Erfüllung dieser Informationspflichten nicht möglich war.
c) Ein sich aus der Verletzung dieser Pflicht ergebender Anspruch der Anleger gegen den Beklagten ist auf Ersatz des so genannten Zeichnungsschadens gerichtet (Senat aaO S. 2452 Rn. 33 ff).
d) Seine Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz scheitert nicht an der Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV. Diese Regelung ist wegen Verstoßes gegen § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam (Senatsurteil vom 19. November 2009 - III ZR 108/08 - ZIP 2009, 2446, 2447 f Rn. 11 ff).
2. Da noch ergänzende Feststellungen erforderlich sind, ist der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 563 Abs. 1, 3 ZPO).
Schlick Dörr Herrmann
Hucke Tombrink
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JURE100057394
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100211
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III ZR 9/09
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Urteil
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§ 276 BGB, § 280 BGB, § 309 Nr 7b BGB, § 311 Abs 2 BGB, § 328 BGB
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vorgehend OLG München, 16. Dezember 2008, Az: 18 U 4376/07, Urteil vorgehend LG München I, 24. Juli 2007, Az: 22 O 16439/06
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DEU
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Kapitalanlagegeschäft: Haftung des als Mittelverwendungskontrolleur eingesetzten Wirtschaftsprüfers wegen unterlassener Prüfung der Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Verwendungskontrolle
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Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. Dezember 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Kläger machen gegen den beklagten Wirtschaftsprüfer Ersatzansprüche im Zusammenhang mit einer Beteiligung an der F. Z. GbR geltend, die sie am 29. September 2004 zeichneten.
Die Anlage wurde anhand eines von der Fondsgesellschaft herausgegebenen Emissionsprospekts vertrieben. Unter anderem nach Nummer 10 der darin enthaltenen Erläuterungen der rechtlichen Grundlagen des Fonds hatte zur Absicherung der Kapitalanleger ein Wirtschaftsprüfer die Kontrolle über die zweckgerechte Verwendung der Gesellschaftereinlage übernommen. Dem lag ein im Prospekt abgedruckter Mittelverwendungskontrollvertrag zwischen der F. Z. GbR und dem Wirtschaftsprüfer zugrunde. Dieser Vertrag enthielt insbesondere folgende Regelungen:
"§ 1 Sonderkonto
(1) Die Fonds-Gesellschaft richtet ein Sonderkonto bei einem Kreditinstitut ein, über das sie nur gemeinsam mit dem Beauftragten verfügen kann ("Sonderkonto"). Auf das Sonderkonto sind die Gesellschaftereinlagen einzuzahlen und die von der Fonds-Gesellschaft ausgereichten Darlehen zu tilgen.
…
(3) Zahlungen aus dem Sonderkonto dürfen nur entweder zur Begleichung von Kosten der Fonds-Gesellschaft oder zur Ausreichung von Darlehen geleistet werden.
Zahlungen zur Ausreichung eines Darlehens dürfen nur geleistet werden, wenn…
…
§ 4 Haftung
(1) Dieser Vertrag wird als Vertrag zu Gunsten Dritter, und zwar zu Gunsten aller Gesellschafter abgeschlossen. Die Gesellschafter können aus diesem Vertrag eigene Rechte herleiten.
(2) Schadensersatzansprüche gegen den Beauftragten können nur geltend gemacht werden, wenn die Fonds-Gesellschaft oder die Gesellschafter nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermögen.
…"
Die Mittelverwendungskontrolle sollte nach dem Prospekt von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer durchgeführt werden, der "aus standesrechtlichen Gründen" nicht genannt wurde.
Der Beklagte wurde im März 2003 als Mittelverwendungskontrolleur gewonnen. Er erstellte zudem ein Prospektprüfungsgutachten. Für das Sonderkonto, auf das die Anleger ihre Gesellschaftereinlagen einzahlten, war er gesamtvertretungsberechtigt. Drei der geschäftsführenden Gesellschafter waren demgegenüber einzeln zeichnungsbefugt. Erst nach dem 1. Dezember 2004 wurden deren Zeichnungsrechte dahingehend geändert, dass sie nur gemeinsam mit dem Beklagten über das Konto verfügen konnten.
Nachdem Mitte Dezember 2004 wirtschaftliche Schwierigkeiten der Fondsgesellschaft offen gelegt wurden, befindet sich diese seit Ende des Jahres 2005 in Liquidation. Die Kläger begehren von dem Beklagten im Wege des Schadensersatzes unter anderem die Rückzahlung der von ihnen geleisteten Einlage abzüglich der aus der Liquidation erhaltenen Beträge Zug um Zug gegen Abtretung des Anspruchs auf Auszahlung weiteren Liquidationserlöses sowie die Feststellung, dass der Beklagte sie von sämtlichen Verpflichtungen aus der Beteiligung freizustellen habe.
Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Ansprüche weiter.
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Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts scheiden Ansprüche der Kläger aus Prospekthaftung aus. Der Beklagte sei nicht prospektverantwortlich gewesen und habe auch kein persönliches Vertrauen in Anspruch genommen.
Die Kläger hätten gegen den Beklagten auch keinen Schadensersatzanspruch gemäß § 311 Abs. 2, 3 BGB wegen Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten. Der Beklagte sei lediglich verpflichtet gewesen, künftige Anleger über ihm bekannte oder sich ihm aufdrängende Auffälligkeiten zu informieren. Eine Aufklärungspflicht habe insbesondere nicht bezüglich der Zeichnungsbefugnisse für das Sonderkonto bestanden. Zwar sei dieses mangels einer Vereinbarung mit der Bank, dass Verfügungen nur unter Mitwirkung des Beklagten zulässig sein sollten, nicht vertragsgerecht eingerichtet worden. Jedoch hätten die Kläger nicht den Nachweis erbracht, dass dem Beklagten dies zum Zeitpunkt ihres Beitritts zum Fonds bekannt gewesen sei oder es sich ihm hätte aufdrängen müssen. Der Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, künftige Anleger darauf hinzuweisen, dass er nicht überprüft habe, ob ein dem Mittelverwendungskontrollvertrag entsprechendes Sonderkonto eingerichtet worden sei. Dem Vertrag sei eine diesbezügliche Kontrollpflicht nicht zu entnehmen. Ansprüche aus einer Pflichtverletzung im Zusammenhang mit der Abwicklung des Mittelverwendungskontrollvertrags schieden aus, da sie nicht auf den von den Klägern begehrten Ersatz des Zeichnungsschadens gerichtet seien. Schließlich kämen auch Ansprüche auf deliktsrechtlicher Grundlage nicht in Betracht.
II.
Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Der Senat hat mit seinem Urteil vom 19. November 2009 (III ZR 109/08 - ZIP 2009, 2449), das denselben Beklagten, denselben Fonds, denselben Mittelverwendungskontrollvertrag und einen auch ansonsten im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt betraf, die Pflichten des Beklagten in entscheidenden Punkten abweichend beurteilt. Danach gilt zusammengefasst Folgendes:
1. a) Den Beklagten traf nach dem Vertrag über die Mittelverwendungskontrolle (MVKV) gegenüber den Anlegern unter anderem die Verpflichtung zu überprüfen, ob die Konditionen des Sonderkontos mit den in § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV genannten Kriterien übereinstimmten. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hatte sich der Beklagte zu vergewissern, dass sämtliche Verfügungsberechtigten nur gemeinsam mit ihm zeichnungsbefugt waren (Senat aaO S. 2450 Rn. 17 ff). Dies folgt aus dem Zweck des Mittelverwendungskontrollvertrags.
Die vom Beklagten übernommene Funktion bestand darin, die Anleger davor zu schützen, dass die geschäftsführenden Gesellschafter Zahlungen von dem Sonderkonto vornehmen, ohne dass die in § 1 Abs. 3 MVKV genannten Voraussetzungen vorliegen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, musste er sicherstellen, dass er die ihm obliegende Kontrolle über den Mittelabfluss auch tatsächlich ausüben konnte. Da ein Konto, über das nur unter Mitwirkung des Beklagten verfügt werden konnte, eine zentrale Bedingung des Mittelverwendungskontrollvertrags darstellte und Voraussetzung für die effektive Verwirklichung seines Schutzzwecks war, durfte er nicht ohne eigene Vergewisserung darauf vertrauen, dass die für das Sonderkonto bestehenden Zeichnungsbefugnisse den Anforderungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV entsprachen. Der Beklagte musste, wenn nicht schon Manipulationen der Fondsgesellschaft, so doch aber jedenfalls gewärtigen, dass es bei der Einrichtung des Sonderkontos infolge von Unachtsamkeiten oder Irrtümern auf Seiten der Bank oder der Fondsgesellschaft zu Fehlern bei der Einräumung der Zeichnungsrechte kommen konnte.
Hiernach oblag dem Beklagten die Überprüfung, ob die geschäftsführenden Gesellschafter nur mit ihm gemeinschaftlich für das Sonderkonto verfügungsberechtigt waren. Diese Prüfungspflicht bestand zu dem Zeitpunkt, ab dem die Anlage "einsatzbereit" war (Senat aaO S. 2451 Rn. 26). Die Mittelverwendungskontrolle musste naturgemäß sichergestellt sein, bevor die Anleger Beteiligungen zeichneten und Zahlungen auf ihre Einlagen leisteten.
b) Allerdings beschränkten sich die Pflichten des Beklagten nicht auf diese Überprüfung und darauf, der Fondsgesellschaft gegenüber auf die Beseitigung der Mängel hinzuwirken. Gegenüber Anlegern, die dem Fonds nach Aufnahme seiner Tätigkeit beitraten, war der Beklagte darüber hinaus verpflichtet, in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte (vgl. Senat aaO S. 2451 f Rn. 29 f). Er konnte nicht ausschließen, dass es bereits vor dem Beitritt § 1 Abs. 3 MVKV widersprechende Auszahlungen von dem Sonderkonto gegeben hatte, durch die das Gesellschaftsvermögen - auch zum Nachteil der künftig beitretenden Gesellschafter - fortwirkend vermindert worden war. In dieser Situation hätte der Beklagte seinen vorvertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Beitrittsinteressenten nicht allein dadurch genügt, für eine ordnungsgemäße Mittelverwendungskontrolle in der Zukunft Sorge zu tragen. Da eine zweckwidrige Minderung des Gesellschaftsvermögens bereits eingetreten sein konnte, hätte er nach Aufnahme der Tätigkeit des Fonds vielmehr unverzüglich zusätzlich darauf hinweisen müssen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte. Er hätte deshalb auf eine Änderung des Prospekts drängen müssen und Anleger, die vor einer derartigen Prospektänderung ihr Interesse an einer Beteiligung bekundeten, in geeigneter anderer Weise unterrichten müssen.
Der Senat verkennt nicht, dass es für den Beklagten - anders als in den Fällen, in denen ein Treuhandkommanditist zum Mittelverwendungskontrolleur bestimmt ist und daher zwangsläufig in unmittelbaren Kontakt zu den beitrittswilligen Anlegern tritt - durchaus mit Mühen verbunden gewesen wäre, die Anlageinteressenten rechtzeitig vor Tätigung der Anlage zu informieren. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ist jedoch davon auszugehen, dass dem Beklagten zumutbare und hinreichend erfolgversprechende Mittel zur Verfügung standen. So hätte er insbesondere den Vertrieb und notfalls die Fachpresse über die unterbliebene Mittelverwendungskontrolle informieren können. Es wird Sache des Beklagten sein, darzutun und gegebenenfalls zu beweisen, dass ihm die Erfüllung dieser Informationspflichten nicht möglich war.
c) Ein sich aus der Verletzung dieser Pflicht ergebender Anspruch der Anleger gegen den Beklagten ist auf Ersatz des so genannten Zeichnungsschadens gerichtet (Senat aaO S. 2452 Rn. 33 ff).
d) Seine Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz scheitert nicht an der Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV. Diese Regelung ist wegen Verstoßes gegen § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam (Senatsurteil vom 19. November 2009 - III ZR 108/08 - ZIP 2009, 2446, 2447 f Rn. 11 ff).
2. Da noch ergänzende Feststellungen erforderlich sind, ist der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 563 Abs. 1, 3 ZPO).
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BMJV
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public
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JURE100057396
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BGH
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3. Strafsenat
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20100121
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3 StR 502/09
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Beschluss
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§ 64 S 2 StGB, § 246a StPO
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vorgehend LG Krefeld, 12. Juni 2009, Az: 21 KLs 53/08 - 2 Js 625/07, Urteil
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DEU
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Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Absehen von der Maßregelanordnung wegen fehlenden Therapiewillens des Betroffenen
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I. 1. Auf die Revision des Angeklagten T. wird das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 12. Juni 2009, soweit es ihn betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
II. 1. Auf die Revision des Angeklagten A. Ö. wird das vorbezeichnete Urteil, soweit es ihn betrifft,
a) in den Einzelstrafen der Fälle B. VI. 14. bis 16. der Urteilsgründe
und
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten T. wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 13 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten verurteilt. Den Angeklagten Ö. hat es wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen, Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 3 Fällen sowie wegen schweren Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung in Tateinheit mit schwerem Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zur Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und acht Monaten verurteilt. Ferner hat das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten Ö. in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass die Freiheitsstrafe für die Dauer von einem Jahr und zehn Monaten vor der Unterbringung zu vollziehen ist.
Die Revision des Angeklagten Ö. rügt allgemein die Verletzung materiellen Rechts. Der Angeklagte T. wendet sich ebenfalls mit der auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision gegen seine Verurteilung und beanstandet im Einzelnen, dass das Landgericht die Anwendung des § 31 Nr. 1 BtMG abgelehnt hat. Die Rechtsmittel haben die aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolge.
I. Revision des Angeklagten T.
Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO). Das Urteil hat indes keinen Bestand, soweit das Landgericht die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abgelehnt hat. Die Begründung der Strafkammer, sie sehe "eine Unterbringung zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls als nicht viel versprechend" an, da bei dem Angeklagten "nicht die notwendige Einsichtsfähigkeit in eine Therapiebedürftigkeit festzustellen" sei, vermag die Ablehnung der Maßregelanordnung nicht zu tragen.
1. Fehlender Therapiewille allein hindert die Unterbringung nach § 64 StGB grundsätzlich nicht. Zwar kann dieser Umstand ein gegen die Erfolgsaussicht der Entwöhnungsbehandlung sprechendes Indiz sein. Ob der Mangel an Therapiebereitschaft den Schluss auf das Fehlen einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Maßregel rechtfertigt, lässt sich aber nur aufgrund einer - vom Landgericht hier nicht vorgenommenen - Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände beurteilen (BGH NJW 2000, 3015, 3016; Beschl. vom 24. März 2005 - 3 StR 71/05). Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hängt nicht vom Therapiewillen des Betroffenen ab (BTDrucks. 16/1110 S. 13). Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug kann es vielmehr gerade sein, die Therapiebereitschaft beim Angeklagten erst zu wecken (BGH NStZ-RR 1997, 34 f.). Das Gericht hat daher gegebenenfalls zu prüfen, ob die konkrete Aussicht besteht, dass die Therapiebereitschaft für eine Erfolg versprechende Behandlung in der Maßregel geweckt werden kann (vgl. Fischer, StGB 57. Aufl. § 64 Rdn. 19 f. m. w. N.).
2.Über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss somit - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246 a StPO) - neu verhandelt und entschieden werden. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte nicht gefährlich im Sinne dieser Vorschrift ist oder keine hinreichend konkrete Aussicht besteht, ihn durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt von seinem Hang zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren (§ 64 Satz 2 StGB), sind - abgesehen von seiner Therapieunwilligkeit - nicht ersichtlich. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; BGHSt 37, 5; BGH NStZ-RR 2009, 48; NStZ 2009, 261). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGHSt 38, 362 f.).
3. Der Senat kann ausschließen, dass der Tatrichter bei Anordnung der Unterbringung auf niedrigere Einzelstrafen erkannt oder eine mildere Gesamtstrafe verhängt hätte. Der Strafausspruch kann deshalb bestehen bleiben.
4. Der neue Tatrichter wird im Falle der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3, Abs. 5 Satz 1 StGB über die Reihenfolge der Vollstreckung von Strafe und Maßregel zu befinden haben (vgl. BGH NStZ 2008, 28; NStZ-RR 2008, 74). Bei Vorwegvollzug eines Teils der verhängten Freiheitsstrafe wird es für dessen Berechnung notwendig sein, die für den Angeklagten voraussichtlich erforderliche Therapiedauer zu bestimmen.
II. Revision des Angeklagten Ö.
Die Überprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch und zum Maßregelausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers erbracht. Dies gilt auch für die Nachprüfung der in den Fällen B. VI. 1. bis 8. und C. der Urteilsgründe zugemessenen Einzelstrafen. Indes können die Einzelstrafen in den Fällen B. VI. 14. bis 16. der Urteilsgründe nicht bestehen bleiben. Das Landgericht hat insoweit rechtfehlerhaft nicht erörtert, ob die Voraussetzungen des § 31 Nr. 1 BtMG vorliegen und deshalb in diesen drei Fällen die angewendeten Strafrahmen zu mildern sind, obwohl die festgestellten Umstände dazu drängten.
1. Danach hat der Angeklagte in den Fällen B. VI. 14. bis 16. der Urteilsgründe gemeinschaftlich mit seinem Bruder K. Ö. jeweils mit Betäubungsmitteln (Kokain) in nicht geringer Menge Handel getrieben. Das Landgericht hat im Rahmen der Strafzumessung festgestellt, dass sich der Angeklagte "im Hinblick auf sämtliche von ihm begangene BtM-Delikte umfassend geständig eingelassen und sämtliche Fragen der Kammer freimütig beantwortet" und "dabei auch seinen Bruder K. Ö. bereits umfassend belastet" hat (UA S. 130) sowie, dass "die geständige Einlassung des A. Ö., mit der er zugleich auch seinen Bruder überführt hat, von besonderer Freimütigkeit getragen" gewesen ist (UA S. 154). Deshalb liegt es nahe, dass der Angeklagte dazu beigetragen hat, die Taten über seinen Tatbeitrag hinaus aufzuklären. Die getroffenen Feststellungen hätten daher für das Landgericht Anlass sein müssen, die Milderungsmöglichkeit des § 31 Nr. 1 BtMG zu erörtern (vgl. BGH NStZ 2009, 394, 395). Dies lässt das Urteil vermissen.
2. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht in den betroffenen Einzelfällen bei rechtsfehlerfreier Prüfung § 31 Nr. 1 BtMG i. V. m. § 49 Abs. 2 StGB angewendet und mildere Einzelstrafen zugemessen hätte. Die festgesetzten Strafen können daher nicht bestehen bleiben. Dies zieht die Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe nach sich. Die zu diesen Einzelstrafen und der Gesamtfreiheitsstrafe rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen werden von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht berührt und können deshalb bestehen bleiben.
3. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die am 1. September 2009 durch das 43. StrÄndG vom 29. Juli 2009 (BGBl I 2288 ff.) in Kraft getretene Änderung des § 31 BtMG gemäß Art. 316 d des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch nicht auf Verfahren anzuwenden ist, in denen vor dem 1. September 2009 die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen wurde (vgl. BGH NStZ-RR 2010, 25).
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Deutschland
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public
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JURE100057703
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BVerwG
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4. Senat
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20100202
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4 BN 4/10
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Beschluss
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§ 7 Abs 2 Nr 7 BauNVO, § 7 Abs 4 BauNVO
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vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 29. Oktober 2009, Az: 3 C 2578/08, Urteil
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DEU
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Kombination von Einzelhandel und Wohnen nach BauNVO
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Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 29. Oktober 2009 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen der gerügten Abweichungen des angefochtenen Normenkontrollurteils von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zuzulassen.
Der Revisionszulassungsgrund der Abweichung liegt vor, wenn die Vorinstanz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem ihre Entscheidung tragenden Rechtssatz einem ebensolchen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts widerspricht (vgl. Beschluss vom 20. Dezember 1995 - BVerwG 6 B 35.95 - NVwZ-RR 1996, 712; stRspr). § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt, dass der Tatbestand der Divergenz nicht nur durch die Angabe der höchstrichterlichen Entscheidung, von der abgewichen sein soll, sondern auch durch Gegenüberstellung der miteinander unvereinbaren Rechtssätze dargelegt wird.
a) Der Antragsteller zitiert das Normenkontrollurteil mit dem Rechtssatz: "Die Kombination von Einzelhandel und Wohnen ist der Baunutzungsverordnung als 'Nutzungsmix' nicht fremd, vielmehr ist diese Kombination in Kerngebieten grundsätzlich vorgesehen, so dass sich deren - abstrakte - Verträglichkeit bereits aus den Regelungen der Baunutzungsverordnung selbst herleiten lässt". Er meint, dieser Rechtssatz kollidiere mit einem Rechtssatz im Beschluss des Senats vom 22. Juli 2004 - BVerwG 4 B 29.04 - (NVwZ-RR 2004, 815), der sinngemäß laute, die BauNVO sehe großflächigen Einzelhandel und Wohnnutzung innerhalb desselben Baugebiets nicht vor.
Der geltend gemachte Widerspruch existiert nicht. Die Formulierung im Senatsbeschluss vom 22. Juli 2004, großflächige Einzelhandelsbetriebe sollten von den in den §§ 2 bis 9 BauNVO bezeichneten Baugebieten ferngehalten werden, rechtfertigt nicht den Schluss, den der Antragsteller aus ihm zieht. Wie sich aus dem Beschluss (a.a.O., 816) ergibt, ist dem Senat nicht entgangen, dass großflächige Einzelhandelsbetriebe nach § 11 Abs. 3 Satz 1 BauNVO außer in eigens für sie festgesetzten Sondergebieten auch in Kerngebieten zugelassen werden können. Wohnungen sind nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans in Kerngebieten ebenfalls zulässig (§ 7 Abs. 2 Nr. 7, Abs. 4 BauNVO). Der Verordnungsgeber der BauNVO hält mithin großflächige Einzelhandelsbetriebe und Wohnungen für miteinander gebietsverträglich. Aus welchen Gründen er den Katalog der im Kerngebiet zulässigen Nutzungen um die Wohnnutzung ergänzt hat, ist entgegen der Ansicht des Antragstellers ohne Belang.
b) Das Normenkontrollurteil weicht ferner nicht vom Urteil des Senats vom 26. März 2009 - BVerwG 4 C 21.07 - (BVerwGE 133, 310) ab. Das Normenkontrollurteil enthält weder ausdrücklich noch konkludent einen Rechtssatz des Inhalts, auch Festsetzungen, die nicht oder nicht vollständig der Realisierung der mit der Planung verfolgten städtebaulichen Zielsetzungen dienten, seien erforderlich im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB. Die These des Verwaltungsgerichtshofs, an der Erforderlichkeit der Bauleitplanung fehle es nur dann, wenn sie von keiner erkennbaren Konzeption getragen werde (UA S. 12), ist erkennbar der Aussage des Senats im Beschluss vom 11. Mai 1999 - BVerwG 4 NB 15.99 - (BRS 62 Nr. 19 S. 97) nachgebildet, nicht erforderlich seien nur solche Bauleitpläne, die einer positiven Planungskonzeption entbehrten. In der Notwendigkeit einer positiven Planungskonzeption hat der Senat freilich nicht die einzige Voraussetzung für die Erforderlichkeit eines Bebauungsplans gesehen. Der Verwaltungsgerichtshof vertritt keine gegenteilige Auffassung.
Bei seinem Vorhalt, der Antragsteller habe nicht substantiiert belegen können, dass die von der Antragsgegnerin planerisch vorgesehenen Angebote von vornherein nicht umsetzbar sein oder unter keinen denkbaren Umständen angenommen werden (UA S. 26), geht der Verwaltungsgerichtshof ersichtlich von dem rechtlichen Ansatz aus, ein Bebauungsplan sei nicht erforderlich, wenn seiner Verwirklichung auf unübersehbare Zeit rechtliche oder tatsächliche Hindernisse im Wege stehen. Dieser Ansatz entspricht der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 18. März 2004 - BVerwG 4 CN 4.03 - BVerwGE 120, 239 <241>), die durch das Urteil vom 26. März 2009 (a.a.O.) nicht berührt wird.
c) Die behauptete Divergenz zum Senatsurteil vom 24. November 2005 - BVerwG 4 C 10.04 - (BVerwGE 124, 364) besteht nicht. Der Antragsteller bemängelt, dass der Verwaltungsgerichtshof seiner Schlussfolgerung, die Größe der Lebensmittelverbrauchermärkte von maximal 1 500 m² (Verkaufsfläche) belege, dass sie nicht der Nahversorgung dienten, nicht gefolgt sei, da sie zumindest auch der Nahversorgung dienten (UA S. 13). Unabhängig davon, ob dem Normenkontrollurteil überhaupt ein Rechtssatz zur Funktion von großflächigen Lebensmittelmärkten für die Nahversorgung zu entnehmen ist, steht die Entscheidung jedenfalls nicht im Widerspruch zum Senatsurteil vom 24. November 2005. Die darin enthaltene Aussage, Einzelhandelsbetriebe mit nicht mehr als 800 m² Verkaufsfläche seien als Betriebe einzustufen, die der Nahversorgung der Bevölkerung dienten, rechtfertigt nicht den vom Antragsteller gezogenen Gegenschluss, Betriebe mit einer Verkaufsfläche von 800 m² und mehr könnten zur wohnungsnahen Versorgung der Bevölkerung nichts beitragen.
d) Der Verwaltungsgerichtshof hat sich schließlich nicht dem Senatsbeschluss vom 20. August 1992 - BVerwG 4 NB 3.92 - (BRS 54 Nr. 21) widersetzt. Den von der Beschwerde unterstellten Rechtssatz, das Interesse am Fortbestand ursprünglich bestehender Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung auf einem Nachbargrundstück könne kein abwägungsbeachtlicher Belang eines Planbetroffenen sein, hat er nicht schon dadurch aufgestellt, dass er die Zulassung einer Bebauung mit einer Länge, für die es kein Vorbild gibt, nur unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit der Planung geprüft hat (UA S. 27).
Soweit der Antragsteller bemängelt, der Verwaltungsgerichtshof habe sich nicht zu der Frage geäußert, ob die Antragsgegnerin das nachbarliche Interesse am Fortbestand der bisherigen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung rechtsfehlerfrei in ihre Abwägungsentscheidung eingestellt hat, ließe sich seinem Vorbringen eine Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs entnehmen. Sie führt freilich nicht zu einer Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Abgesehen davon, dass aus dem Schweigen der Urteilsgründe zu Einzelheiten des Parteivortrags allein noch nicht der Schluss gezogen werden kann, das Gericht habe diesen nicht zur Kenntnis genommen oder in Erwägung gezogen (vgl. Beschluss vom 5. Februar 1999 - BVerwG 9 B 797.98 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 4), hat der Antragsteller die nunmehr vermisste Prüfung der Abwägung der nachbarschaftlichen Interessen in der Vorinstanz nicht angemahnt. Im Schriftsatz vom 2. Dezember 2008, auf den er in seiner Beschwerdebegründung Bezug nimmt, hat er zwar darauf aufmerksam gemacht (S. 12 Rn. 33), dass eine zulässige Bebauung mit einer Länge von 68 m völlig aus dem Rahmen der nachbarschaftlichen Bebauung fällt, nicht jedoch geltend gemacht, dass die Planungsentscheidung deshalb an einem Abwägungsfehler leidet.
2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zur Klärung der Frage zuzulassen, ob die Nutzung "großflächiger Einzelhandel" mit der Nutzung "Wohnen" in einem am Ortsrand gelegenen Sondergebiet "abstrakt verträglich" ist. Die Frage ist auf der Grundlage der Darlegungen des Senats im Urteil vom 28. Mai 2009 - BVerwG 4 CN 2.08 - (NVwZ 2010, 40) mit dem Verwaltungsgerichtshof (UA S. 18 f.) ohne weiteres zu bejahen. Da im Kerngebiet ein Nebeneinander von großflächigem Einzelhandel und Wohnnutzung zulässig ist, ist die Festsetzung einer solchen Nutzungskombination grundsätzlich auch in einem Sondergebiet möglich. Etwaige Nutzungskonflikte im Einzelfall können auf der Planebene durch eine Gliederung des Sondergebiets (vgl. Beschluss vom 7. September 1984 - BVerwG 4 N 3.84 - BRS 42 Nr. 55), auf der Ebene der Vorhabenzulassung mittels § 15 Abs. 1 BauNVO (Beschluss vom 6. Dezember 2000 - BVerwG 4 B 4.00 - BRS 63 Nr. 77) entschärft werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und die Streitwertfestesetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057704
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BVerwG
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4. Senat
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20100201
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4 BN 50/09
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Beschluss
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§ 47 Abs 2 VwGO, § 195 Abs 7 VwGO, VwGOÄndG 6
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vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 5. August 2009, Az: 7 D 38/09.NE, Beschluss
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DEU
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Abschaffung eines Rechtsmittels; Vertrauensschutz
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Der Antrag, festzustellen, dass der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. August 2009 nur ein Entwurf ist, wird abgelehnt.
Der Antrag, den Kreis H. beizuladen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. August 2009 wird verworfen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
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1. Der Antrag, festzustellen, dass der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen nur ein Entwurf ist, ist abzulehnen. Der Beschluss ist von den mitwirkenden Richtern unterschrieben worden und am 5. August 2009 auf die Geschäftsstelle gelangt. Dies ergibt sich aus dem Inhalt der Akten (AS 37, 40). Es bleibt einem Prozessbevollmächtigten unbenommen, sich durch Akteneinsicht davon zu vergewissern, dass die ausgefertigte und ihm zugestellte Entscheidung im Original unterschrieben ist.
2. Die beantragte Beiladung ist im Revisionsverfahren unzulässig (§ 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es handelt sich nicht um eine notwendige Beiladung (§ 142 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
3. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist unzulässig. Denn sie benennt schon keinen der Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO und genügt damit nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Sie hätte auch in der Sache keinen Erfolg. Insbesondere ergibt das Beschwerdevorbringen nicht, dass die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen wäre. Dies setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr).
Die von der Beschwerde formulierte Frage, "ob die Erhebung einer Normenkontrollklage nachträglich durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz drastisch auf zwei Jahre - verfassungsrechtlich wirksam - beschränkt werden kann", lässt sich ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens in Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsgericht bejahen.
Die Antragstellerin oder ihre Rechtsvorgänger konnten gegen den im Jahre 1966 beschlossenen Bebauungsplan seit dessen Inkrafttreten bis zum Ablauf der damals maßgeblichen Zweijahresfrist, also bis zum 31. Dezember 1999 einen Normenkontrollantrag stellen. Bis 31. Dezember 1996 war die Stellung eines Normenkontrollantrags grundsätzlich nicht an eine Frist gebunden. Mit dem 6. VwGOÄndG wurde § 47 Abs. 2 VwGO dahingehend geändert, dass der Normenkontrollantrag innerhalb von zwei Jahren nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift zu stellen war. Für Rechtsvorschriften i.S.d. § 47 VwGO, die vor dem 1. Januar 1997 bekanntgemacht worden sind, enthielt Art. 10 Abs. 4 des 6. VwGOÄndG eine Übergangsvorschrift: In diesen Fällen begann die Frist von zwei Jahren nach § 47 Abs. 2 VwGO erst mit Inkrafttreten des 6. VwGOÄndG zu laufen. Diese Frist gilt weiterhin auch nach Verkürzung der Frist auf nunmehr ein Jahr. Dies ergibt sich aus der Überleitungsvorschrift des § 195 Abs. 7 VwGO. Der rechtliche Maßstab einer sogenannten echten Rückwirkung (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 - BVerfGE 72, 200 <241 ff.>) ist auf einen derartigen Sachverhalt entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht übertragbar. Dass eine tatbestandliche Rückanknüpfung im Gegensatz zum Fall der Rückbewirkung von Rechtsfolgen grundsätzlich zulässig ist, sieht auch die Antragstellerin.Dem Gesetzgeber ist es nicht verwehrt, ein bisher nach der jeweiligen Verfahrensordnung statthaftes Rechtsmittel abzuschaffen oder den Zugang zu einem an sich eröffneten Rechtsmittel von neuen einschränkenden Voraussetzungen abhängig zu machen (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631/90, 2 BvR 1728/90 - BVerfGE 87, 48 <61> - juris Rn. 36). Weder der Grundsatz des Vertrauensschutzes noch das Verhältnismäßigkeitsprinzip stehen der hier streitigen Gesetzesänderung entgegen. Auch eine Belehrung über die Antragsfrist ist nicht geboten. Dies ergibt sich bereits daraus, dass demjenigen, in dessen Rechte durch eine auf Festsetzungen des Bebauungsplans gestützte behördliche Entscheidung oder durch das Unterlassen einer Entscheidung eingegriffen wird, durch den Ablauf der Zweijahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht die Befugnis abgeschnitten wird, im Rahmen seiner Rechtsverteidigung geltend zu machen, der Bebauungsplan sei nichtig bzw. unwirksam. Das Gericht hat dem im Rahmen der Inzidentkontrolle nachzugehen. Zur Rechtswahrung ist die Einhaltung der Normenkontrollfrist nicht erforderlich (Beschluss vom 28. Dezember 2000 - BVerwG 4 BN 32.00 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 145 = BRS 63 Nr. 56; vgl. auch Beschluss vom 8. April 2003 - BVerwG 4 B 23.03 - juris). Diese Überlegungen sind auch den weiteren verfassungsrechtlichen Hinweisen in der Beschwerde entgegenzuhalten.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO ab, da sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057812
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BGH
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4. Strafsenat
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20100209
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4 StR 492/09
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Beschluss
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§ 46 Abs 2 S 2 StGB, § 224 StGB
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vorgehend LG Bielefeld, 18. Mai 2009, Az: 3 KLs 25 Js 726/08 - 11/09 III, Urteil
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DEU
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Strafzumessung: Zurechenbarkeit der schweren Tatfolgen
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Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 18. Mai 2009 werden als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigungen im Ergebnis keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Es wird davon abgesehen, den Angeklagten D. und H. die Kosten und gerichtlichen Auslagen ihrer Rechtsmittel aufzuerlegen. Jedoch werden ihnen, ebenso wie der Angeklagten B., die ihrerseits die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen hat, die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen auferlegt.
Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
Bei keinem der drei Angeklagten ist das Landgericht von mittäterschaftlichem Zusammenwirken ausgegangen. Aus der - für sich genommen missverständlichen - Formulierung, der Angeklagten B. seien auch die durch die Tritte des Angeklagten H. verursachten Kopfverletzungen als vorsätzlich verursacht zuzurechnen (UA 27 unten), ergibt sich für diese Angeklagte nichts anderes. Dies folgt schon daraus, dass an anderer Stelle im Rahmen der rechtlichen Würdigung ausgeführt wird, eine konkrete, zumindest konkludente Absprache zwischen den Beteiligten und damit ein bewusstes gemeinschaftlich zusammenwirkendes Handeln im strafrechtlichen Sinne habe nicht festgestellt werden können (UA 27 oben, 28 oben sowie 28 unten). Der Senat entnimmt vielmehr dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, dass die Strafkammer der Angeklagten B. die schweren und dauerhaften gesundheitlichen Folgen für das Tatopfer als verschuldete Auswirkungen der Tat im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB zugerechnet hat. Das ist hier aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, denn es genügt insoweit, wenn die Tatfolgen ihrer Art und ihrem Gewicht nach im Wesentlichen erkennbar waren (BGH, Beschl. vom 29. August 2006 - 1 StR 285/06, Tz. 4 m.w.N.). Die vom Generalbundesanwalt in Bezug auf den Angeklagten H. aufgeworfene Frage, ob diesem sämtliche Verletzungen mit allen Folgen für das Opfer (nur) dann hätten zugerechnet werden können, wenn er - was das Landgericht gerade nicht festgestellt hat - als sukzessiver Mittäter gehandelt hat, stellt sich nicht. Denn die Strafkammer führt insoweit rechtsfehlerfrei aus, dass, selbst wenn H. nicht alle Verletzungen selbst verursacht haben sollte, er bewusst und gewollt in brutaler Weise auf ein auch nach seiner Vorstellung durch die vorangegangenen Gewalthandlungen schon erheblich vorgeschädigtes Opfer eingewirkt hat, so dass das gesamte Verletzungsbild auch als Ergebnis seines Handelns anzusehen und ihm deshalb zuzurechnen ist.
Tepperwien Maatz Solin-Stojanović
Franke Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057813
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BGH
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4. Strafsenat
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20100114
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4 StR 450/09
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Urteil
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§ 15 StGB, § 22 StGB, § 23 StGB, § 211 Abs 2 StGB, § 224 Abs 1 Nr 5 StGB, § 224 Abs 2 StGB
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vorgehend LG Leipzig, 19. März 2009, Az: 1 Ks 303 Js 13597/07 - 5 AR 60/09, Urteil
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DEU
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Strafverfahren wegen Steinwürfen von Autobahnbrücken: Prüfung des Vorsatzes der gefährlichen Körperverletzung; Mordmerkmal der Gemeingefährlichkeit
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1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 19. März 2009 aufgehoben,
a) soweit die Angeklagten wegen der Tat vom 7. März 2007 (Fall II. 2. a des Urteils) verurteilt wurden mit den zugehörigen Feststellungen zur inneren Tatseite,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafen.
2. Die weiter gehenden Revisionen der Staatsanwaltschaft werden verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen. Sie haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat die Angeklagten des versuchten Mordes in drei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr, des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr, des versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr und des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr schuldig gesprochen und den Angeklagten K. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten und den Angeklagten T. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft rügt die Verletzung des materiellen Rechts; die Angeklagten beanstanden das Verfahren und erheben die Sachrüge. Die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft haben in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Die Revisionen der Angeklagten sind dagegen unbegründet.
I.
Nach den Feststellungen des Schwurgerichts warfen die Angeklagten entsprechend einem zuvor gemeinsam gefassten Entschluss an drei Tagen im März 2007 von einer Brücke bei Großlehna Steine auf die darunter liegenden Fahrbahnen der Bundesautobahn 9, um Unglücksfälle herbeizuführen (Fälle 1 bis 3); an einem anderen Tag - ebenfalls im März 2007 - setzten sie hierzu unmittelbar an (Fall 4). Dabei nahmen sie in allen Fällen erhebliche Schäden an auf der Autobahn fahrenden und mit den Steinen kollidierenden Fahrzeugen und in drei Fällen (Fälle 2 bis 4) zudem billigend in Kauf, dass die Insassen dieser Fahrzeuge, die sich keines Angriffs versahen und keine Abwehrmöglichkeiten hatten, getötet werden.
(1.) Am 7. März 2007 warfen die Angeklagten gegen oder kurz nach 23.00 Uhr einen oder zwei Steine unbekannter Größe und Gewichts auf die Fahrbahn der in Richtung München führenden Autobahn. Dabei kam ein Stein auf dem linken Fahrstreifen zum Liegen, der zweite Stein oder ein Teil des ersten Steins lag auf dem mittleren Fahrstreifen. Die Steine bzw. Steinteile wurden von drei mit einer Geschwindigkeit von mindestens 130 km/h fahrenden Pkws überfahren, wobei die Fahrzeuge erheblich beschädigt wurden. Insbesondere wurde jeweils mindestens ein Reifen beschädigt oder zerstört. Aufgrund der besonnenen Reaktionen der Pkw-Führer - es handelte sich jeweils um Vielfahrer mit jahrelanger Erfahrung - kam es nicht zu weiteren Unfällen, auch wurde niemand verletzt.
(2.) Am 8. März 2007 warfen die Angeklagten gegen 23.15 Uhr mindestens drei 20 bis 30 kg schwere Steine, die sie - wie schon am 7. März - im Pkw des Angeklagten T. herangeschafft hatten, von derselben Brücke auf den rechten und den mittleren Fahrstreifen der in Richtung Berlin führenden Autobahn. Diese wurden von Kö. (auf der rechten Fahrspur) und B. (auf der mittleren Fahrspur) mit jeweils einer Geschwindigkeit von etwa 130 km/h überfahren, wobei das von Kö. gesteuerte Fahrzeug nach der Kollision nicht mehr lenkbar war, weil unter anderem das linke Vorderrad "herausgerissen" worden war. Auch an dem von B. gesteuerten Pkw wurde die Vorderachse "massiv zerstört", zudem waren durch die Kollision die Airbags ausgelöst worden und das Fahrzeuginnere hatte sich mit weißem Rauch gefüllt, so dass er nichts mehr sehen konnte. Gleichwohl gelang es beiden Fahrzeugführern, die Pkws ohne weitere Kollision zum Stehen zu bringen.
(3.) Am 12. März 2007 brachten die Angeklagten einen 58 kg schweren Granitstein zu der Autobahnbrücke. Gegen 22.25 Uhr warfen entweder beide Angeklagte oder nur einer von ihnen mit Billigung des anderen den Stein auf die mittlere Fahrspur der in Richtung München führenden Autobahn, als der sich dort mit 150 bis 160 km/h nähernde Pkw von H. noch 7,5 bis 17,4 Meter entfernt war. Dieser fuhr - ohne dass ihm eine Reaktion möglich war - auf den Gesteinsblock auf, wobei sofort die Bremsen an seinem Fahrzeug ausfielen. Gleichwohl und trotz erheblicher weiterer Schäden gelang es H., das Fahrzeug ohne weitere Kollision zum Stehen zu bringen; auch er wurde nicht verletzt.
(4.) Ab dem 13. März 2007 überwachte die Polizei das Geschehen auf der Autobahnbrücke. Bereits am 15. März 2007 gegen 22.25 Uhr fuhren die Angeklagten erneut mit dem Pkw des Angeklagten T. zu der Brücke, um von dort aus Steine auf die Fahrbahn der Autobahn zu werfen. Zu diesem Zweck hatten sie in den Kofferraum des Pkws drei Granitsteinblöcke mit einem Gewicht von jeweils 19 bis 33,7 kg geladen. Nachdem der Angeklagte K. von dem an der Brücke abgestellten Pkw den größten der Steine auf die Brücke über die mittlere der in Richtung Berlin führenden Fahrspuren der Autobahn getragen und sich zum Brückengeländer hingewandt hatte, um ihn hinunterzuwerfen, wurde er von einem Polizeibeamten angesprochen; erst nach der Androhung des Schusswaffeneinsatzes ließ er den Stein auf die Brücke fallen.
II.
Die Rechtsmittel der Angeklagten haben keinen Erfolg.
1. Die vom Verteidiger des Angeklagten K. erhobenen Verfahrensrügen sind aus den vom Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 30. September 2009 dargelegten Gründen unzulässig bzw. unbegründet. Zur Rüge eines Verstoßes gegen § 261 StPO wurde der durch die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft widerlegte Tatsachenvortrag vom Verteidiger des Angeklagten nicht aufrechterhalten.
Die von der Verteidigerin des Angeklagten T. erhobene Verfahrensrüge hat ebenfalls keinen Erfolg. Dabei kann dahinstehen, ob diese Alternativrüge zulässig ist. Sie ist jedenfalls unbegründet. Denn das Schwurgericht hat sich in dem angefochtenen Urteil ausführlich mit den Aussagen der Zeugen Ha. und Be. auseinandergesetzt und dabei auch erörtert, dass der Angeklagte T. bei seinen polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Vernehmungen weitere Einzelheiten geschildert hat. Dass das Landgericht den früheren Angaben des Angeklagten T. nicht in allen Einzelheiten gefolgt ist, vermag eine Verletzung des Verfahrensrechts nicht zu begründen.
2. Auch die von den Angeklagten erhobenen Sachrügen greifen nicht durch. Insofern besteht - ergänzend zu den Antragsschriften des Generalbundesanwalts vom 30. September 2009 - lediglich Anlass zu folgenden Ausführungen:
a) Die Strafkammer hat sich ausreichend mit dem Schreiben des Angeklagten T. vom 26. Februar 2009 und den sich daraus ergebenden Widersprüchen zu früheren Angaben dieses Angeklagten sowie den "objektiven Erkenntnissen" auseinandergesetzt. Insbesondere durfte sie bei der Bewertung dieses Schreibens berücksichtigen, dass es in Kenntnis des gesamten Verfahrensstoffes abgefasst wurde und als interessengelenkte Aussage ein Falschbelastungsrisiko bergen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2009 - 5 StR 578/08, NStZ-RR 2009, 145, 146). Das (mögliche) Motiv einer Selbstentlastung des Angeklagten T. auf Kosten des Angeklagten K. hat sie indes gesehen und ist - unter anderem deshalb - davon ausgegangen, dass nicht diese Ausführungen, sondern die Angaben des Angeklagten zum äußeren Tathergang gegenüber der Polizei und dem Ermittlungsrichter im Wesentlichen zutreffend sind. Ein Rechtsfehler liegt hierin nicht, auch wenn damit eine Belastung des Angeklagten K. bezüglich der Taten vom 7. und 8. März 2007, die in dem Schreiben vom 26. Februar 2009 nicht näher erörtert sind, verbunden war. Denn das Schwurgericht durfte auch hinsichtlich dieser Taten - neben den von ihm hervorgehobenen weiteren Umständen - berücksichtigen, dass der Angeklagte K. bezüglich der gleichartigen späteren Taten durch weitere Umstände überführt wird; seine Mitwirkung an der Tat vom 12. März 2007 hatte er stets eingeräumt und am 15. März 2007 wurde er von dem Polizeibeamten mit dem Stein auf der Autobahnbrücke angetroffen.
b) Es ist revisionsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht in den Fällen 2 bis 4 einen Tötungsvorsatz der Angeklagten bejaht hat. Es durfte aus dem jeweiligen Tathergang und den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten den - schon nach dem äußeren Geschehen nahe liegenden - Schluss ziehen, dass sie bei Begehung der Taten den Tod der Fahrzeuginsassen zumindest billigend in Kauf genommen haben (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2002 - 4 StR 103/02 [insoweit in BGHSt 48, 119, 120 nur abgekürzt wiedergegeben]; BGH, Urteile vom 6. Mai 1982 - 4 StR 133/82, VRS 63, 119; vom 15. Mai 1997 - 4 StR 118/97, NStZ-RR 1997, 294, 295; Beschluss vom 10. Oktober 2000 - 4 StR 381/00, NZV 2001, 133). Ausführungen zur Abgrenzung des bedingten Tötungsvorsatzes gegenüber bewusst fahrlässigen Tötungsversuchen vermisst der Senat nicht. Ebenso musste sich das Schwurgericht nicht näher mit der Einschätzung eines Polizeibeamten zum Vorsatz des Angeklagten T. befassen und auch die Frage nicht (noch) ausführlicher erörtern, warum es weitgehend den Angaben dieses Angeklagten zum jeweiligen äußeren Tathergang, aber nicht zur subjektiven Tatseite folgt.
Die Bejahung des Mordmerkmals der Heimtücke (vgl. zu dieser BGHSt 48, 119, 120; BGH, Urteil vom 15. Mai 1997 - 4 StR 118/97, NStZ-RR 1997, 294, 295) sowie die Verurteilung wegen (versuchten) gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr (vgl. BGHSt 48, 119, 120 ff.; BGH, Beschluss vom 12. November 2002 - 4 StR 384/02, NStZ 2003, 206) begegnen ebenfalls keinen Bedenken.
III.
Die Staatsanwaltschaft hat mit ihren Rechtsmitteln dagegen teilweise Erfolg. Sie beanstandet im Ergebnis zu Recht, dass die Angeklagten im Fall 1 lediglich wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verurteilt wurden.
1. Die Verurteilung im Fall 1 (Tat vom 7. März 2007) nur wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr hat keinen Bestand, weil das Schwurgericht die sich aufdrängende Prüfung unterlassen hat, ob diese Tat auch als versuchte gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 StGB zu bewerten ist.
Auch wenn es den Angeklagten auf Personenschäden nicht ankam, schließt dies nicht aus, dass sie im Rahmen ihres Tatplans auch in diesem Fall (zumindest) Verletzungen der Insassen der mit den Steinen kollidierenden Fahrzeuge billigend in Kauf genommen haben. Dies liegt nahe, zumal die Strafkammer im Rahmen ihrer Ausführungen zur „subjektiven Tatseite“ selbst darlegt, dass
jedem normalintelligenten, ungestörten und straßenverkehrserfahrenen Menschen klar [sei], dass das Werfen von Steinen … auf eine unbeleuchtete Bundesautobahn … zu schweren Verkehrsunfällen mit erheblichen Sach- und Personenschäden führt. Dass keine Personen zu Schaden gekommen sind, ist … ´einem Heer von Schutzengeln zu verdanken, die über der Autobahn geschwebt sein müssen´. Hiervon konnten die Angeklagten jedoch bei Begehung ihrer Taten keinesfalls ausgehen. Durch ihre Vorgehensweise haben sie vielmehr sichergestellt, dass es auf jeden Fall zu erheblichen Unfällen kommen würde. So haben sie im Fall II. 2. a) [Tat vom 7. März 2007] Steine in die mittlere und die linke Spur geworfen und so dafür gesorgt, dass insbesondere bei Verkehr auf den anderen Fahrstreifen ein Ausweichen vollkommen ausgeschlossen ist (UA 58).
2. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils im Fall 1 (Tat vom 7. März 2007). Da die Feststellungen insbesondere zum äußeren Hergang dieser Tat rechtsfehlerfrei getroffen wurden, hat dies lediglich die Aufhebung der zur inneren Tatseite getroffenen Feststellungen zur Folge (vgl. Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 353 Rdn. 15), wodurch der neu zur Entscheidung berufenen Tatrichter aber nicht daran gehindert wäre, auch diese Tat nicht nur als versuchte gefährliche Körperverletzung, sondern ebenfalls als versuchten Mord zu würdigen.
Die (teilweise) Aufhebung des Urteils zieht die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe nach sich. Insofern bedarf es einer Aufhebung der Feststellungen indes nicht.
3. Die weiter gehenden Revisionen der Staatsanwaltschaft haben dagegen keinen Erfolg.
a) Ein Rechtsfehler liegt insbesondere nicht darin, dass das Schwurgericht in den Fällen 2 bis 4 Tötungsversuche "mit gemeingefährlichen Mitteln" verneint hat.
Das Mordmerkmal der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln ist erfüllt, wenn der Täter ein Mittel zur Tötung einsetzt, das in der konkreten Tatsituation eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil er die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat. Dabei ist nicht allein auf die abstrakte Gefährlichkeit eines Mittels abzustellen, sondern auf seine Eignung und Wirkung in der konkreten Situation unter Berücksichtigung der persönlichen Fähigkeiten und Absichten des Täters (BGHSt 38, 353, 354; BGH, Urteile vom 16. August 2005 - 4 StR 168/05, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Gemeingefährliche Mittel 2, und vom 16. März 2006 - 4 StR 594/05, NStZ 2006, 503, 504).
Auf dieser Grundlage hängt es vom konkreten Einzelfall ab, ob Steinwürfe von einer Autobahnbrücke bei Vorliegen eines entsprechenden Vorsatzes als Tötung bzw. Tötungsversuche mit gemeingefährlichen Mitteln zu bewerten sind. Trifft der Täter bei einem solchen Steinwurf ein bestimmtes Fahrzeug, so schließt ein solcher Angriff gegen dessen Insassen, also bereits individualisierte Opfer, zwar die Annahme, er habe ein gemeingefährliches Mittel eingesetzt, nicht vor vorneherein aus. Eine tödliche Gefahr für eine Vielzahl von Menschen wird jedoch zumeist nur dann bestehen, wenn dichter Verkehr herrscht und in der Folge des durch den Steinwurf unmittelbar verursachten Unfalls eine unbestimmte Anzahl weiterer Personen - also regelmäßig die Insassen anderer Fahrzeuge - tödliche Verletzungen erleiden können (vgl. BGHSt 38, 353, 355; Schneider in Münchner-Kommentar StGB § 211 Rdn. 104 m.w.N.). Nichts anderes gilt in den Fällen, in denen der Täter bei dem Steinwurf noch kein bestimmtes Fahrzeug im Auge hat, sondern sich die Tat auf ein beliebiges, sich möglicherweise noch außerhalb seines Sichtbereichs befindliches Fahrzeug und dessen Insassen bezieht. Auch hier fehlt es bezogen auf die Kollision zwischen diesem Fahrzeug und dem auf der Fahrbahn liegenden Stein regelmäßig daran, dass allein hierdurch eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährdet werden kann, weil der Täter die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat. Daher wird auch in solchen Fällen eine Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln - von Ausnahmefällen wie etwa einer Kollision eines voll besetzten Omnibusses mit dem Stein abgesehen - nur dann in Betracht kommen, wenn Folgeunfälle mit tödlichen Verletzungen drohen.
Ausgehend hiervon hat das Schwurgericht zu Recht in den Fällen 2 bis 4 einen mit gemeingefährlichen Mitteln begangenen Mordversuch verneint und lediglich eine heimtückische Tatbegehung bejaht. Es hat dabei rechtsfehlerfrei vorrangig darauf abgestellt, dass zu den Tatzeiten am späten Abend jeweils ruhiger Verkehr herrschte. Zudem hat die Strafkammer eine Gefährdung Dritter durch oder infolge der Unfallgeschehen nicht festgestellt. Vielmehr war es - soweit das Urteil dies mitteilt - den jeweiligen Fahrern gelungen, die Pkws auf dem Standstreifen bzw. an der Mittelleitplanke zum Stehen zu bringen und ordnungsgemäß abzusichern; der am 12. März 2007 verwendete Stein befand sich dabei immer noch unter dem Fahrzeug von H., die am 8. März 2007 zur Tat benutzten Steine konnten nicht sichergestellt werden. Feststellungen dazu, dass nach den Kollisionen mit den Steinen weitere Unfälle von oder mit dritten Fahrzeugen drohten, hat das Landgericht nicht getroffen.
b) Auch die Angriffe der Staatsanwaltschaft gegen die vom Schwurgericht vorgenommene Strafrahmenverschiebung nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB in den Fällen des versuchten Mordes haben keinen Erfolg.
Die Strafkammer hat bei der Prüfung dieser Strafrahmenmilderungen die "Nähe zu dem tatbestandlichen Erfolg" erörtert und im Fall 3 zudem ausdrücklich berücksichtigt, dass es sich um einen "sehr großen Stein" und eine "damit einhergehende gesteigerte Gefahr" gehandelt hat. Deshalb und vor dem Hintergrund der weiteren Urteilsausführungen ist nicht zu besorgen, dass sie übersehen hat, dass der Nichteintritt des Erfolges jeweils auf glücklichen, von den Angeklagten nicht beeinflussbaren Umständen beruhte. Der Senat schließt ebenfalls aus, dass das Schwurgericht bei der Strafrahmenbestimmung unbeachtet gelassen hat, dass die Angeklagten die vier Straftaten innerhalb eines kurzen Zeitraumes begangen haben, zumal es die "Rückfallgeschwindigkeit" sowohl bei der Zumessung der Einzelstrafen als auch bei der Bemessung der Gesamtstrafe ausdrücklich berücksichtigt hat.
Tepperwien Maatz Solin-Stojanović
Franke Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057814
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BGH
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1. Strafsenat
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20100114
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1 StR 595/09
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Beschluss
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§ 66b Abs 1 S 1 StGB, § 66b Abs 2 StGB, § 67e Abs 1 StGB
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vorgehend LG Baden-Baden, 18. August 2009, Az: 1 Ks 401 VRs 400/90, Urteil nachgehend BVerfG, 4. Mai 2011, Az: 2 BvR 2333/08, Urteil nachgehend BVerfG, 19. Juli 2011, Az: 2 BvR 571/10, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren nachgehend BVerfG, 30. Juni 2010, Az: 2 BvR 571/10, Ablehnung einstweilige Anordnung
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DEU
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Nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung: Vorliegen neuer Tatsachen bei Therapieunfähigkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Verurteilten
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Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 18. August 2009 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
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Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Verurteilten, mit der er eine Verletzung formellen und sachlichen Rechts geltend macht. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist der Verurteilte mehrfach wegen schwerer Sexualdelikte vorbestraft.
a) Am 14. Dezember 1973 wurde er vom Landgericht Berlin wegen Vergewaltigung in fünf Fällen, in zwei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung in sieben weiteren Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Der Verurteilte hatte in einem Zeitraum von nahezu drei Jahren in insgesamt zwölf Fällen Mädchen im Alter zwischen neun und 18 Jahren, überwiegend Elf- bis Dreizehnjährige, an abgelegenen Orten, zumeist im Wald, in seine Gewalt gebracht. Er versetzte sie durch den Einsatz eines Messers in Todesangst, zwang sie dazu, sich zu entkleiden, und führte anschließend verschiedene massive sexuelle Handlungen an ihnen aus, indem er etwa mit seinen Fingern in ihre Scheide eindrang oder den Geschlechts- bzw. Oralverkehr bis zum Samenerguss ausübte.
b) Am 8. März 1988 wurde er vom Landgericht Hannover wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung, sexuellen Missbrauchs von Kindern und Entführung gegen den Willen der Entführten zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und es wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet. Der Verurteilte war am 20. März 1987, drei Monate nach seiner Haftentlassung, gemeinsam mit einem früheren Mitgefangenen in Hannover unterwegs und suchte wegen seines "inneren, sexuellen Drucks" nach Kindern. Der Verurteilte und sein Begleiter zerrten auf offener Straße zwei achtjährige Mädchen in ihr Auto. Eines dieser Mädchen wurde von dem Verurteilten auf schwerste Weise sexuell missbraucht, indem er es unter anderem dazu zwang, an ihm den Oralverkehr durchzuführen. Außerdem versuchte er, mit seinem Penis in die Scheide des Mädchens einzudringen, was ihm nur bis zum Scheidenvorhof gelang. Deshalb drang er anschließend mit seinem Finger in die Scheide des Mädchens ein, wobei dieses Schmerzenslaute von sich gab. Schließlich fesselte er das Mädchen mit Handschellen und zeigte ihm ein Pornoheft mit kinderpornographischen Abbildungen.
c) Anlassverurteilung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ist vorliegend das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 2. Februar 1990, durch das gegen den Verurteilten wegen versuchter Vergewaltigung und wegen Mordes eine Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verhängt wurde. Außerdem ordnete das Landgericht Baden-Baden in der damaligen Verurteilung erneut die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB an.
aa) Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Verurteilte war am 18. Juni 1988 aus der Unterbringung in dem psychiatrischen Landeskrankenhaus M. in N. entkommen und in den Raum Ettlingen bei Karlsruhe geflüchtet. Am 22. Juni 1988 hielt sich der Angeklagte zunächst in der Fußgängerzone, dann auf einem Kinderspielplatz und später in einem Freibad auf, um junge Mädchen zu betrachten, denen sein sexuelles Interesse galt. Am 23. Juni 1988 folgte er einem Mädchen von einer Wohnsiedlung aus bis in die Innenstadt von Ettlingen. Am Abend desselben Tages überfiel er in einem Waldgebiet, in dem er sein Lager aufgeschlagen hatte, die 28 Jahre alte, von ihrer Erscheinung her noch mädchenhaft wirkende K., die mit ihrem Fahrrad auf dem Heimweg war. Er bedrohte sie mit einem Messer oder einem anderen lebensbedrohlichen Gegenstand und zwang sie, mit zu seinem Lagerplatz zu kommen. Dort versuchte er, gegen ihren Willen den Geschlechtsverkehr durchzuführen. Um die junge Frau zu "infantilisieren", nötigte er sie entweder dazu, sich die Schamhaare bis in den Bereich der Schamlippen zu rasieren, oder er nahm die Rasur des Schambereichs eigenhändig vor. Anschließend verklebte er K. die Augen mit Klebeband und brachte sie tiefer in den Wald. Dort erwürgte er sie, entweder um einen Fluchtversuch zu verhindern oder um ihren Widerstand gegen weitere sexuelle Handlungen des Verurteilten zu brechen.
bb) Hinsichtlich der angeordneten Maßregel hat das sachverständig beratene Landgericht in seinem Urteil vom 2. Februar 1990 ausgeführt, dass die Steuerungsfähigkeit des Verurteilten infolge einer durch eine sadomasochistische sexuelle Perversion verursachte Persönlichkeitsstörung bei der Tatbegehung erheblich beeinträchtigt gewesen sei; aufgrund seines pathologischen Zustandes müsse die Gefahr weiterer schwerer sexueller Straftaten und von Tötungsdelikten ohne eine therapeutische Behandlung als sehr hoch eingestuft werden. Das Landgericht hat damals auch die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB für gegeben angesehen. Von einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hat es aber dennoch gemäß § 72 Abs. 1 StGB abgesehen. Gestützt auf die Ausführungen des Sachverständigen hat es die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angesichts einer vorhandenen Therapierbarkeit des Verurteilten und eines voraussichtlichen Behandlungszeitraumes von deutlich mehr als zehn Jahren, der die damals geltende Höchstdauer der erstmaligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 67d Abs. 1 StGB (in der bis zum 30. Januar 1998 geltenden Fassung) überstiegen hätte, als geeigneter angesehen, um den Maßregelzweck zu erreichen und um die Allgemeinheit vor dem Verurteilten zu schützen.
d) Mit Beschluss vom 1. April 1993 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen die Unterbringung des Verurteilten gemäß § 63 StGB wegen dessen Therapieunfähigkeit für erledigt erklärt und die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafen aus den Urteilen des Landgerichts Hannover vom 8. März 1988 und des Landgerichts Baden-Baden vom 2. Februar 1990 (Anlassverurteilung) angeordnet.
2. Das Landgericht hat in der angefochtenen Entscheidung die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB bejaht. Neue Tatsachen, die auf eine fortbestehende Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, hat es darin gesehen, dass erst während der Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus erkennbar geworden sei, dass dieser entgegen der Prognose des die Maßregel anordnenden Gerichts nicht behandlungsfähig sei. Zudem sei auch das manipulative Verhalten des Verurteilten, der während des Strafvollzugs einige Semester Psychologie an der Fernuniversität in H. studiert hatte, erst nachträglich bekannt geworden. So habe der Verurteilte erstmals im Jahr 2001 zugegeben, dass er in der Vergangenheit mehrfach gegenüber Gutachtern hinsichtlich seiner Biographie und seiner Sexualanamnese bewusst gelogen habe. In Bezug auf die Anlassverurteilung habe er die Unwahrheit gesagt, um einer lebenslangen Freiheitsstrafe sowie der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu entgehen. Im Maßregelvollzug habe er gelogen, um eine Erledigung der Unterbringung herbeizuführen. Auf der Grundlage der Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen Kr. und B. sowie der Anstaltspsychologin L. ist das Landgericht nach einer Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Straftaten und seiner Entwicklung im Straf- und Maßregelvollzug zu der Überzeugung gelangt, dass der Verurteilte auch weiterhin "hochgradig" gefährlich sei und dass er schon kurz nach seiner Entlassung schwerste Sexualstraftaten begehen würde.
II.
Die Revision hat keinen Erfolg.
1. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen sind aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 16. November 2009 dargelegten Gründen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2. Die rechtliche Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge hin hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Verurteilten aufgezeigt.
a) Das Landgericht hat die Eingangsvoraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 StGB zutreffend bejaht. Der Verurteilte ist durch das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 2. Februar 1990 wegen zwei der in § 66b Abs. 2 StGB aufgeführten Katalogtaten, nämlich wegen versuchter Vergewaltigung ("Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung") und wegen Mordes ("Verbrechen gegen das Leben"), zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden, die die nach dem Gesetz erforderliche Mindesthöhe von fünf Jahren übersteigt.
b) Die Annahme des Landgerichts, dass nach der Anlassverurteilung "neue" Tatsachen im Sinne des § 66b Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 StGB erkennbar geworden sind, ist ebenfalls nicht zu beanstanden.
aa) Zutreffend ist das Landgericht bei seiner Beurteilung davon ausgegangen, dass es in der vorliegenden Konstellation, bei der in der Anlassverurteilung nicht nur auf eine Freiheitsstrafe erkannt, sondern - beruhend auf der Prognose, dass von dem Verurteilten aufgrund seines Zustandes auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind - auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet worden ist, nicht darauf abgestellt werden darf, ob nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor dem Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar werden, die erstmals auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Vielmehr kann es nur darauf ankommen, ob die fortbestehende (qualifizierte) Gefährlichkeit aus anderen Tatsachen herzuleiten ist als denjenigen, die im Anlassurteil zur Begründung des länger andauernden Zustands herangezogen wurden, die zur positiven Feststellung mindestens erheblich verminderter Schuldfähigkeit bei der Tatbegehung und zur Anordnung nach § 63 StGB geführt haben (BGHSt 52, 379, 390). Die neuen Tatsachen dürfen sich dabei nicht darin erschöpfen, dass die der Persönlichkeitsstörung bzw. -akzentuierung des Verurteilten zu Grunde liegenden Tatsachen lediglich neu beschrieben oder umbewertet werden. Sie können sich etwa aus dem - bisher nicht näher erörterten - Vollzugsverhalten des Verurteilten ergeben (BGH, Beschl. vom 10. Februar 2009 - 4 StR 314/07; insoweit nicht abgedruckt in NStZ-RR 2009, 201).
bb) Gemessen an diesen Maßstäben begegnet es keinen Bedenken, dass das Landgericht die im Verlauf des Straf- und Maßregelvollzugs zu Tage getretene Therapieunfähigkeit des Verurteilten als "neue" Tatsache im Sinne des § 66b Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 StGB bewertet hat, die auf die fortbestehende Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweist.
Nach den Feststellungen des Landgerichts erwiesen sich sämtliche Bemühungen, die Persönlichkeitsstörung des Verurteilten - zunächst während der Unterbringung gemäß § 63 StGB und später in der Strafhaft - zu behandeln, als erfolglos. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - dem LKH G. - wurde vor dem Erreichen eines Behandlungserfolges für erledigt erklärt, weil bei dem Verurteilten weder ein Leidensdruck, eine Krankheitseinsicht noch eine "echte" Behandlungsmotivation erkennbar waren und eine Fortsetzung der Therapie deshalb als aussichtslos erachtet wurde. Von Juli 2002 bis Dezember 2003 nahm der Verurteilte an einem Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter in der Sozialtherapeutischen Anstalt der Justizvollzugsanstalt T. teil. Auch hier stellte sich ein Behandlungserfolg nicht ein, da eine "wirkliche" Bearbeitung der schweren Sexual- und Persönlichkeitsstörung durch den Verurteilten nicht stattfand. Sein Verhalten wurde vielmehr - zur Erlangung von Vollzugslockerungen - als manipulativ und taktierend beschrieben. Von September 2006 bis März 2009 wurde der Verurteilte erneut in der Sozialtherapeutischen Anstalt der Justizvollzugsanstalt T. behandelt. Auch hier gelang es nicht, einen Therapieerfolg herbeizuführen, da der Verurteilte noch immer nicht in der Lage war, seine Straftaten aufzuarbeiten und sich mit seiner Persönlichkeitsstörung differenziert auseinanderzusetzen.
Die - nunmehr - festgestellte Therapieunfähigkeit des Verurteilten stellt damit eine "neue" Tatsache dar, auf die das Landgericht seine Überzeugung von der fortbestehenden qualifizierten Gefährlichkeit des Verurteilten stützen konnte. Das für die Aburteilung der Anlasstat zuständige Gericht ist in dem Ausgangsverfahren aufgrund der Ausführungen des damaligen psychiatrischen Sachverständigen noch von einer Therapierbarkeit des Verurteilten ausgegangen. Es hat daraufhin von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen und den Verurteilten gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Für das damalige Tatgericht war dabei nicht erkennbar, dass das von einer Therapierbarkeit des Verurteilten ausgehende Sachverständigengutachten auf einer unwahren Tatsachengrundlage beruhte. Der Verurteilte hatte gegenüber dem damaligen Sachverständigen hinsichtlich seiner Biographie und seiner Sexualanamnese gelogen, um eine Anwendung des § 21 StGB zu erreichen. Durch dieses Verhalten gelang es ihm, einer Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu entgehen. Die Täuschung des Sachverständigen - und des damaligen Tatgerichts - gab der Verurteilte erst im Laufe des Strafvollzuges im Jahr 2001 zu. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass das Gericht die Täuschung bei gebotener Sorgfalt schon damals im Ausgangsverfahren hätte erkennen müssen, sind nicht ersichtlich.
c) Das Landgericht hat im angefochtenen Urteil schließlich auch eine umfassende Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Straftaten und seiner Entwicklung im Straf- und Maßregelvollzug vorgenommen. Es ist - gestützt auf die Gutachten von zwei psychiatrischen Sachverständigen und die Angaben einer sachverständigen Zeugin - in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass der Verurteilte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in Freiheit weitere erhebliche Straftaten der in § 66b Abs. 2 StGB genannten Art begehen wird. Seine negative Prognose hat es unter anderem mit der Vielzahl der von dem Verurteilten begangenen Sexualdelikte begründet, der hohen Brutalität bei der Tatausführung, der hohen Rückfallgeschwindigkeit, der zufälligen Auswahl seiner Opfer und der Dauer seiner Delinquenz über einen Zeitraum von 18 Jahren hinweg, der nur durch längere Inhaftierungen durchbrochen wurde. Besonderes Gewicht hat das Landgericht hierbei der erst im Verlauf des Straf- und Maßregelvollzugs erkennbar gewordenen Therapieunfähigkeit des Verurteilten beigemessen, da bei diesem ein tiefgreifender, über die Jahre gefestigter Einstellungswandel nicht festgestellt werden konnte und er in der Haft keine Strategien und Kontrollmechanismen entwickelte, um mit seiner schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung und seiner Rückfallgefährdung umzugehen.
3. Ob der Verurteilte von dem Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde Nummer 19359/04) betroffen sein könnte, braucht der Senat nicht zu entscheiden, da die vorgenannte Entscheidung noch nicht endgültig ist (Art. 43 Abs. 1, Art. 44 Abs. 2b EMRK).
Nack Rothfuß Elf
Graf Sander
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057816
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BGH
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3. Strafsenat
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20100204
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3 StR 555/09
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Beschluss
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§ 259 StGB, § 260 Abs 1 Nr 1 StGB
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vorgehend LG Lübeck, 13. Juli 2009, Az: 3 KLs 12/08 - 704 Js 25653/07, Urteil
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DEU
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Gewerbsmäßige Hehlerei in der Begehungsform des Absetzens: Erfordernis der Aufrechterhaltung oder Vertiefung der rechtswidrigen Vermögenssituation
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1. Der Antrag des Angeklagten, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Anbringung (weiterer) Verfahrensrügen gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 13. Juli 2009 zu gewähren, wird zurückgewiesen.
2. Auf die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird
a) das Verfahren im Fall 9 der Anklage (Tat vom 6. Mai 2007) eingestellt; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,
b) in den Fällen 11 bis 13 der Anklage die Strafverfolgung jeweils auf den Vorwurf der gewerbsmäßigen Hehlerei in Tateinheit mit Handeltreiben mit Schusswaffen beschränkt,
c) der Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte
- der gewerbsmäßigen Hehlerei in sechs Fällen,
- der gewerbsmäßigen Hehlerei in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Schusswaffen in drei Fällen,
- des Diebstahls,
- der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln,
- des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und
- der Urkundenfälschung
schuldig ist.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
4. Der Angeklagte hat die verbleibenden Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Hehlerei in 10 Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb und unerlaubtem Besitz einer halbautomatischen Kurzwaffe sowie unerlaubtem Handeltreiben mit Schusswaffen, wegen Diebstahls, wegen Beihilfe zum unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und wegen Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine (isolierte) Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von einem Jahr angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Zudem beantragt er, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Anbringung weiterer Verfahrensrügen zu gewähren.
1. Das Wiedereinsetzungsgesuch ist unzulässig. Das Gesetz räumt die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur für den Fall ein, dass eine Frist versäumt worden ist (§ 44 Satz 1 StPO). Eine Fristversäumung liegt hier nicht vor, weil die Revision des Angeklagten von seinem Verteidiger mit der Sachrüge und einer Verfahrensrüge fristgerecht begründet worden ist (st. Rspr.; vgl. nur BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 1, 3, 7). Zwar kann trotz formgerecht begründeter Revision eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung einzelner Verfahrensrügen ausnahmsweise dann gewährt werden, wenn dem Verteidiger des Beschwerdeführers trotz angemessener Bemühungen vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist keine Akteneinsicht gewährt wurde und Verfahrensrügen nachgeschoben werden sollen, die ohne Akteneinsicht nicht begründet werden können (vgl. BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 12). Dies setzt jedoch voraus, dass in der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags diejenigen Umstände vorgetragen werden, aus denen sich die Notwendigkeit der Akteneinsicht im Hinblick auf die zu erhebenden Verfahrensrügen ergibt (BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 10; BGH wistra 1993, 228). Hieran fehlt es ebenso wie an der Nachholung der versäumten Handlung (§ 45 Abs. 2 Satz 2 StPO) innerhalb der Antragsfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO. Der Verteidiger hat weitere Verfahrensrügen nicht angebracht.
2. Auf Antrag des Generalbundesanwalts hat der Senat das Verfahren gemäß § 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall 9 der Anklage wegen gewerbsmäßiger Hehlerei gemäß § 260 Abs. 1 Nr. 1 StGB verurteilt worden ist. Zwar setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der die herrschende Meinung in der Literatur allerdings mit beachtlichen Argumenten entgegentritt (vgl. Fischer, StGB 57. Aufl. § 259 Rdn. 21 ff. m. w. N.), eine vollendete (gewerbsmäßige) Hehlerei in der Begehungsform des Absetzens, wie sie hier vorliegt, nicht notwendig voraus, dass ein Förderungserfolg eingetreten ist. Jedoch muss auch nach der Auffassung der Rechtsprechung das Bemühen um Absatz geeignet sein, die rechtswidrige Vermögenssituation aufrecht zu erhalten oder zu vertiefen (BGHSt 43, 110 ff.; BGH NStZ 2008, 152). Letzteres könnte hier zweifelhaft sein, da der Angeklagte nach den getroffen Feststellungen bereits vor der Übernahme des Diebesguts von der Polizei observiert und bei Besteigen des Lkws, mit welchem er die gestohlenen Waren zum Abnehmer bringen wollte, festgenommen wurde, er mithin Handlungen zum Absatz des entwendeten Metalls nicht entfalten konnte.
3. Mit Zustimmung des Generalbundesanwalts hat der Senat ferner gemäß § 154 a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO die Verfolgung in den Fällen 11 bis 13 der Anklage jeweils auf den Vorwurf der gewerbsmäßigen Hehlerei (§ 260 Abs. 1 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit Handeltreiben mit Schusswaffen (§ 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c), § 2 Abs. 2 WaffG i. V. m. Anlage 2 Abschnitt 2 Unterabschnitt 1 Satz 1) beschränkt mit Blick auf die nicht einheitliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Konkurrenzverhältnis, wenn wie hier die Tatmodalitäten des Erwerbs, des Besitzes und des Handeltreibens von Schusswaffen zusammentreffen (BGHR WaffG § 53 Abs. 1 Konkurrenzen 5 und § 52 Konkurrenzen 1).
4. Die teilweise Einstellung und Beschränkung des Verfahrens zieht lediglich die Änderung des Schuldspruchs wie aus der Beschlussformel ersichtlich nach sich.
Die Verfahrensbeschränkung in den Fällen 11 bis 13 der Anklage lässt hingegen die für diese Taten verhängten Einzelstrafen von einem Jahr und sechs Monaten (Fall 11 der Anklage) und jeweils acht Monaten Freiheitsstrafe (Fälle 12 und 13 der Anklage) unberührt. Die Verwirklichung der weiteren Tatmodalitäten des Erwerbs und des Besitzes der halbautomatischen Kurzwaffen hat das Landgericht weder im Rahmen der Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten gewertet, noch ändert sich der Schuldgehalt dieser Taten durch die vorgenommene Verfahrensbeschränkung.
Der Senat kann ferner im Hinblick auf den Unrechts- und Schuldgehalt der verbleibenden Taten und die Höhe der hierfür verhängten Einzelstrafen ausschließen, dass sich der Wegfall der im Fall 9 der Anklage verhängten Einzelstrafe von 11 Monaten Freiheitsstrafe auf den Ausspruch über die - maßvolle - Gesamtstrafe ausgewirkt hätte.
5. Im Übrigen weist das Urteil aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler auf.
Becker Sost-Scheible Hubert
Schäfer Mayer
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Deutschland
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JURE100057817
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BGH
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3. Strafsenat
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20100202
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3 StR 4/10
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Beschluss
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§ 29a Abs 1 Nr 2 BtMG, § 25 Abs 2 StGB, § 27 StGB
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vorgehend LG Duisburg, 29. September 2009, Az: 31 KLs - 153 Js 290/09 - 23/09, Urteil
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DEU
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Betäubungsmittelhandel: Abgrenzung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 29. September 2009
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen sowie der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig ist,
b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er allgemein die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet. Das Urteil hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. a) Nach den Feststellungen überbrachte der Kurier eines niederländischen Drogenlieferanten in vier Fällen jeweils 5 bis 5,5 kg Marihuana nach Duisburg, wo die Betäubungsmittel an die Abnehmer weitergegeben werden sollten. Im Rahmen dieser Betäubungsmittelgeschäfte fiel dem Angeklagten die Aufgabe zu, den Drogenkurier an einem sicheren Ort mit den Abnehmern des Rauschgifts zusammenzuführen, von diesen den Kaufpreis in Höhe von 17.500 Euro entgegenzunehmen und das Geld sodann an den Lieferanten in die Niederlande zu überbringen. Während im Fall II. 1. der Kurier in Anwesenheit des Angeklagten die Betäubungsmittel unmittelbar an die Abnehmer übergab, händigte er das Marihuana in den Fällen II. 2. bis 4. zunächst dem Angeklagten aus, der es für kurze Zeit in einer "Bunkerwohnung" lagerte, bevor er es sodann selbst an die Abnehmer übergab. Das Kaufgeld überbrachte der Angeklagte in den Fällen II. 1. bis 3. dem Drogenlieferanten, von dem er für seine Dienste mit jeweils 150 bzw. einmal mit 500 Euro sowie mit Marihuana zum Eigenkonsum entlohnt wurde. Im Fall II. 4. wurden die Betäubungsmittel in der "Bunkerwohnung" noch vor Übergabe an die Abnehmer sichergestellt.
b) Die auf der Grundlage dieser Feststellungen vorgenommene, allerdings nicht näher begründete Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte sei jeweils als Täter des unerlaubten Handeltreibens mit Marihuana anzusehen, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Generalbundesanwalt weist zu Recht daraufhin, dass auch beim Betäubungsmittelhandel für die Abgrenzung von (Mit-)Täterschaft und Beihilfe die Grundsätze des allgemeinen Strafrechts gelten. Denn die Weite des Begriffs des Handeltreibens darf nicht dazu führen, entgegen den Grundsätzen der §§ 25 ff. StGB jede möglicherweise unter das Merkmal des Handeltreibens zu subsumierende Tätigkeit ohne Rücksicht auf ihr Gewicht für das Gesamtgeschehen und das Interesse des Beteiligten am Gelingen des Umsatzgeschäfts mittäterschaftlichem Handeltreiben gleichzusetzen. Vielmehr deutet auch beim Betäubungsmittelhandel eine ganz untergeordnete Tätigkeit eines Tatbeteiligten im Rahmen eines Gesamtgeschäftes schon objektiv darauf hin, dass der Beteiligte nur Gehilfe ist (BGHSt 51, 219, 221 f.; BGH StraFo 2009, 344).
Nach diesen Maßstäben liegt ein (mit-)täterschaftliches Handeltreiben des Angeklagten mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nicht vor. Der Angeklagte entfaltete keine erheblichen, über die Vermittlung der Übergabe der Drogen und den reinen Transport des Kaufgeldes hinausgehenden Tätigkeiten. Ihm kam im Rahmen des Gesamtgeschäfts vielmehr im Wesentlichen die Rolle eines Kuriers zu. In das eigentliche Umsatzgeschäft war er hingegen nach den Feststellungen nicht eingebunden; täterschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten standen ihm insoweit nicht zu. Die Handlungen des Angeklagten erschöpften sich mithin in untergeordneten Tätigkeiten, die nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Annahme (mit-)täterschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nicht zu begründen vermögen.
Der Angeklagte hat sich daher in allen Fällen lediglich der Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gemacht. In den Fällen II. 2. bis 4. hat er zugleich (tateinheitlich) den Tatbestand des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) verwirklicht, da er während der Lagerung des Rauschgifts in der "Bunkerwohnung" jeweils eigene Verfügungsgewalt an den Betäubungsmitteln hatte. Entsprechendes ist indes - entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts - im Fall II. 1. nicht festgestellt. Vielmehr geschah in diesem Fall die Übergabe des Rauschgifts zwar in Anwesenheit des Angeklagten aber direkt vom Rauschgiftkurier an die Abnehmer, ohne dass der Angeklagte hieran zuvor tatsächliche (Mit-)Verfügungsgewalt erlangt hatte.
2. Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert. Es ist auszuschließen, dass ein neuer Tatrichter Feststellungen treffen kann, welche die Annahme täterschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge tragen kann. § 265 StPO steht der Änderung des Schuldspruchs nicht entgegen, da sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.
3. Die Änderung des Schuldspruchs führt zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs.
Im Fall II. 1. führt die Schuldspruchänderung zur Anwendung des nach §§ 27, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmens des § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG oder des § 29 a Abs. 2 BtMG. Zwar hat die Strafkammer bei Bemessung der Strafe für diese Tat die Tatsache der untergeordneten Stellung des Angeklagten strafmildernd berücksichtigt. Gleichwohl kann der Senat nicht ausschließen, dass sie bei Anwendung eines gemilderten Strafrahmens auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte.
Die Aufhebung der Einsatzstrafe im Fall II. 1. zieht die Aufhebung der Einzelstrafen für die übrigen Taten und der Gesamtstrafe nach sich. Zwar bestimmt sich in den Fällen II. 2. bis 4. der gemäß § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB anzuwendende Strafrahmen auch für den geänderten Schuldspruch nach § 29 a Abs. 1 BtMG. Der Senat hebt dennoch auch die für diese Taten festgesetzten Einzelstrafen auf, um dem neuen Tatrichter Gelegenheit zu geben, die Strafen für sämtliche Taten ausgewogen aufeinander abzustimmen.
Becker von Lienen Sost-Scheible
Schäfer Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057818
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BGH
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4. Strafsenat
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20100204
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4 StR 394/09
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Urteil
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§ 53 Abs 1 Nr 1 StPO, § 211 StGB, § 212 StGB, § 306a Abs 1 Nr 1 StGB, § 306c StGB
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vorgehend LG Essen, 20. März 2009, Az: 22 Ks 31/08 Ss 341/09, Urteil
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DEU
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Brandstiftung mit Todesfolge: Zeugnisverweigerungsrecht für Geistliche; Begriff der Leichtfertigkeit; bedingter Tötungsvorsatz
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1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 20. März 2009 werden verworfen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Die dagegen gerichtete, auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten bleibt ebenso wie das mit der Sachrüge begründete - vom Generalbundesanwalt nicht vertretene - Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ohne Erfolg.
I. Das Landgericht hat im Wesentlichen Folgendes festgestellt:
Am 13. September 2008 entschloss sich der Angeklagte, in der von ihm und seinem Sohn bewohnten Mietwohnung in G. einen Brand zu legen und diese dadurch zu zerstören. Die Wohnung befand sich in einem Reihenhaus mit 2 1/2 Etagen, in denen noch weitere vier Mietparteien wohnten. Zur Ausführung seines Vorhabens verteilte der Angeklagte in den späten Abendstunden größere Mengen Benzin in drei verschiedenen Räumen seiner Wohnung. Als er gegen 22.45 Uhr das von ihm verteilte Benzin entzündete, kam es, für den Angeklagten überraschend, zu einer heftigen Verpuffung des mittlerweile entstandenen Benzin-Luft-Gemisches, die u. a. dazu führte, dass ein Teil der Hausfassade herausgesprengt wurde. Sodann entwickelte sich ein offener Wohnungsbrand, der von der Wohnung des Angeklagten in der 1. Etage auch auf die Dachgeschosswohnung der Eheleute T. übergriff. In dieser Wohnung hielt sich zur Tatzeit K. T. auf, die sich nicht mehr in Sicherheit bringen konnte und an den Folgen einer Brandgasvergiftung verstarb. Der Brand erfasste auch den Dachstuhl und weitere wesentliche Gebäudeteile. Die Mieter der beiden Erdgeschosswohnungen wurden rechtzeitig auf den Brand aufmerksam und konnten das Gebäude unverletzt verlassen.
Das Landgericht, das ein Motiv für die Tat letztlich nicht feststellen konnte, hat angenommen, dass der Angeklagte trotz der objektiven Gefährlichkeit seiner Tathandlung nicht mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte, sondern den Tod von K. T. (lediglich) grob achtlos und unter Außerachtlassung der sich auch nach seinen individuellen Fähigkeiten und Kenntnissen aufdrängenden tödlichen Folgen verursachte.
II. Die Revisionen decken weder zum Nachteil noch zum Vorteil des Angeklagten Rechtsfehler auf.
1. a) Die vom Angeklagten erhobene Verfahrensrüge, das Landgericht habe die aus Kroatien stammenden Zeugen V. und D. nicht über das ihnen als katholische Geistliche zustehende Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO belehrt, hat keinen Erfolg.
aa) Da sich ein mögliches Zeugnisverweigerungsrecht im Sinne des § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO nur auf Tatsachen erstreckt, die dem betreffenden Geistlichen in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut oder bekannt geworden sind und nicht auf das, was er in ausschließlich karitativer oder fürsorgerischer Tätigkeit erfahren hat (BGHSt 51, 140, 141; vgl. auch BVerfG NJW 2007, 1865), kam jedenfalls dem Zeugen D. ein solches Zeugnisverweigerungsrecht nicht zu. Denn der Angeklagte bat den Zeugen zunächst lediglich darum, ihm für einige Tage Unterkunft zu gewähren, was dieser jedoch ablehnte. Weder bei diesem ersten noch bei dem zweiten Zusammentreffen mit dem Angeklagten erfuhr der Zeuge D. den Grund für dieses Hilfeersuchen.
bb) Im Hinblick auf das, was dem Zeugen V. anlässlich seines Zusammentreffens mit dem Angeklagten bekannt wurde, mag die Rechtslage anders zu beurteilen sein, denn der Angeklagte, der sich schon in der Vergangenheit an diesen Zeugen mit der Bitte um seelsorgerischen Beistand gewandt hatte, äußerte bei dieser Gelegenheit sinngemäß, eine schlimme Tat begangen zu haben. Gleichwohl kann die Rüge nicht durchgreifen. Eine Pflicht zur Belehrung in Fällen des § 53 StPO besteht nicht (vgl. BGH, Urteil vom 19. März 1991 - 5 StR 516/90, NJW 1991, 2844, 2846, in BGHSt 37, 340 insoweit nicht abgedruckt; Senatsurteil vom 27. Mai 1971 - 4 StR 81/71, VRS 41 (1971), 93, 94); das Gericht darf regelmäßig davon ausgehen, dass der Zeuge sein Recht zur Zeugnisverweigerung kennt (Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 53 Rdn. 44). Dies gilt für den Geistlichen eines fremden Landes jedenfalls dann, wenn er sich - wie der Zeuge V. - in Deutschland dauerhaft aufhält und hier eine Gemeinde betreut. Im Übrigen wurde der Zeuge aus Anlass seiner polizeilichen Vernehmung am 2. Oktober 2008 über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt und äußerte daraufhin, in „Glaubens- und Gewissensdingen“ werde er keine Angaben machen. Seine Bekundungen zur Begegnung mit dem Angeklagten hat er demnach in Kenntnis seines Rechts zur Verweigerung des Zeugnisses gemacht; Anhaltspunkte für ein dahin gehendes Missverständnis sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
b) Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der erhobenen Sachrüge weist keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte habe den Tod der K. T. jedenfalls leichtfertig verursacht und sei deshalb der Brandstiftung mit Todesfolge im Sinne des § 306 c i.V.m. § 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB schuldig, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Soweit der Gesetzgeber die leichtfertige Todesverursachung unter Strafe gestellt hat, umschreibt das Gesetz nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mit dem Begriff der Leichtfertigkeit ein Verhalten, das - bezogen auf den Todeseintritt - einen hohen Grad von Fahrlässigkeit aufweist. Leichtfertig handelt hiernach, wer die sich ihm aufdrängende Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs aus besonderem Leichtsinn oder aus besonderer Gleichgültigkeit außer Acht lässt (BGHSt 33, 66, 67). Gemessen daran war die Gefährdung von Leib und Leben anderer im Hause anwesender Mitbewohner angesichts der vom Landgericht zum konkreten Tathergang getroffenen Feststellungen auch für den Angeklagten in seiner konkreten, angespannten psychischen Verfassung zum Tatzeitpunkt hochgradig wahrscheinlich. Die dagegen gerichteten Einwände des Beschwerdeführers erschöpfen sich darin, die nachvollziehbare Beweiswürdigung der Strafkammer durch eine eigene zu ersetzen, ohne jedoch Rechtsfehler aufzuzeigen, die den Bestand des Urteils gefährden könnten.
2. Auch die Revision der Staatsanwaltschaft bleibt erfolglos.
a) Die Staatsanwaltschaft beanstandet, dass das Landgericht an das Vorliegen der Voraussetzungen eines bedingten Tötungsvorsatzes zu hohe Anforderungen gestellt habe. Angesichts der vom Landgericht getroffenen Feststellungen, wonach der Angeklagte insgesamt 28 Liter Brandbeschleuniger in seiner im mittleren Stockwerk eines Mehrfamilienhauses gelegenen Wohnung ausgebracht habe, hätte bedingter Tötungsvorsatz allenfalls dann verneint werden können, wenn der Angeklagte aufgrund besonderer und außergewöhnlicher Umstände darauf hätte vertrauen dürfen, dass der Tod von weiteren Hausbewohnern nicht eintreten werde. Solche Umstände habe die Strafkammer indessen nicht festgestellt. Auch die Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte habe gegenüber den anderen Hausbewohnern keine feindliche Gesinnung gehabt, stehe der Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes nicht entgegen. Die den Angeklagten überraschende Verpuffung stelle in diesem Zusammenhang lediglich eine unerhebliche Abweichung vom Kausalverlauf dar.
b) Die Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht einen bedingten Tötungsvorsatz verneint hat, halten indessen revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt bedingt vorsätzliches Handeln voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fern liegend erkennt und dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 36, 1, 9; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 53). In Abgrenzung zu der Schuldform der bewussten Fahrlässigkeit müssen beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Wissenselement als auch das Willenselement in jedem Einzelfall besonders geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden (BGHR aaO). Tritt die Lebensgefährlichkeit einer äußerst gefährlichen Gewalthandlung offen zu Tage, liegt es zwar nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs der von ihm in Gang gesetzten Handlungskette rechnet. Da es jedoch auch Fälle geben kann, in denen der Täter zwar alle Umstände kennt, die sein Tun zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, er sich aber gleichwohl nicht bewusst ist, dass der Tod des Opfers eintreten kann, bedarf es für den Schluss auf die Billigung eines Todeserfolges im Hinblick auf die insoweit bestehende hohe Hemmschwelle einer sorgfältigen Prüfung des Einzelfalles (BGH, Urteil vom 22. November 2001 - 1 StR 369/01, NStZ 2002, 314, 315). Bei Inbrandsetzung eines Gebäudes sind im Rahmen der Gesamtwürdigung insbesondere die Beschaffenheit des Gebäudes (im Hinblick auf Fluchtmöglichkeiten und Brennbarkeit der beim Bau verwendeten Materialien), die Angriffszeit (wegen der erhöhten Schutzlosigkeit der Bewohner zur Nachtzeit), die konkrete Angriffsweise sowie die psychische Verfassung des Täters und seine Motivation bei der Tatbegehung zu berücksichtigen (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 39).
bb) Nach diesem Maßstab hat die Strafkammer sehr wohl in den Blick genommen, dass neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung auch verschiedene weitere Umstände für das Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes sprachen, so die (Nacht-)zeit der Tatbegehung, das - für den Angeklagten erkennbare - Vorhandensein einer leicht brennbaren Holzbohlendecke im Gebäude, das Ausbringen des Brandbeschleunigers an verschiedenen Stellen und die sorgfältige Planung der Tat. Das Landgericht hat jedoch auch - sachverständig beraten - die psychische Verfassung des Angeklagten mit der gedanklichen Einengung auf die Zerstörung des früheren mit seiner Frau gemeinsam bewohnten Lebensraumes sowie das fehlende Motiv des Angeklagten für die Tötung anderer Hausbewohner berücksichtigt und zusätzlich erwogen, dass der Brandbeschleuniger nicht in unmittelbarer Nähe des möglichen Fluchtwegs ausgebracht war. Dass es auf der Grundlage dieser umfassenden Würdigung letztlich zur Verneinung des (bedingten) Tötungsvorsatzes gekommen ist, lässt einen Rechtsfehler nicht erkennen. Rechtsfehlerhaft überspannte Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung (vgl. dazu BGH, Urteile vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NJW 2005, 1727 und vom 4. Dezember 2008 - 4 StR 371/08) lassen diese Erwägungen ebenfalls nicht erkennen. Die Strafkammer hat ihre Zweifel daran nicht überwinden können, dass der Angeklagte die erhebliche Ausweitung des Brandes mit den tödlichen Folgen für das Tatopfer in sein Wissen aufgenommen hatte. Diese Wertung des Tatrichters ist vom Revisionsgericht hinzunehmen.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057819
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BGH
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4. Strafsenat
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20100211
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4 StR 433/09
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Urteil
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§ 2 Abs 3 StGB, § 265b StGB, § 283 Abs 1 Nr 7 Buchst a StGB, § 19 Abs 2 InsO, § 264 StPO, § 267 Abs 5 S 1 StPO
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vorgehend LG Arnsberg, 20. Januar 2009, Az: 7 KLs 6 Js 23/06 (24/06) - W, Urteil
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DEU
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Beihilfe zum Kreditbetrug bei bestehender Überschuldung und Insolvenzverschleppung
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 20. Januar 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Wirtschaftsstrafkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Beihilfe zum Kreditbetrug in Tateinheit mit Bankrott sowie vom Vorwurf der verspäteten Insolvenzantragstellung freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision.
Das - vom Generalbundesanwalt vertretene - Rechtsmittel hat schon mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die Verfahrensbeschwerde der Staatsanwaltschaft nicht ankommt.
I.
1. Die zugelassene Anklage hat dem Angeklagten als Beihilfe zum Kreditbetrug in Tateinheit mit Bankrott zur Last gelegt, an der Verdeckung der tatsächlichen Vermögensverhältnisse der B. GmbH B. (im folgenden: BIV B.), deren Geschäftsführer er im Tatzeitpunkt war, durch Mitunterzeichnung eines Vertrages vom 24. Mai 2000 über den fingierten Verkauf von Aktien der P. AG von der BIV B. an die Si. Vermögensverwaltungsgesellschaft mbH zum Preis von 5,6 Mio. DM mitgewirkt zu haben. Das fiktive Aktiengeschäft sei im testierten Jahresabschluss der BIV B. für das Geschäftsjahr 1999 und damit auch in der Konzernbilanz der S.-Gruppe, die verschiedenen Kreditinstituten im Zusammenhang mit der Gewährung bzw. Verlängerung von Firmenkrediten im Zeitraum von Juni bis Oktober 2000 vorgelegt worden seien, enthalten gewesen. Durch eine weitere Straftat habe sich der Angeklagte der Insolvenzverschleppung schuldig gemacht, indem er trotz der bereits im Mai 2000 bestehenden tatsächlichen Überschuldung der BIV B. erst am 28. März 2001 Insolvenzantrag gestellt habe.
2. Die Strafkammer hat den Angeklagten hinsichtlich des Vorwurfs der Beihilfe zum Kreditbetrug aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Im Hinblick auf die vorgeworfenen Insolvenzdelikte hat sie das Tatbestandsmerkmal der Überschuldung verneint und zudem in Bezug auf den Straftatbestand des Bankrotts ein Aufstellen der Bilanz im Sinne des § 283 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. a) StGB als von dem Angeklagten nicht verwirklicht erachtet.
II.
Das Urteil hat schon deshalb keinen Bestand, weil es nicht den Anforderungen an ein freisprechendes Urteil nach § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO genügt. Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss der Tatrichter zunächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen feststellen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen Feststellungen nicht getroffen werden können (st. Rspr.; vgl. BGH NJW 1980, 2423; NStZ 1985, 184; BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 4, 10; Senat, Urt. vom 20. März 2008 - 4 StR 5/08). Diese gebotene, in sich geschlossene Darstellung der festgestellten Tatsachen enthält das angefochtene Urteil - wie der Generalbundesanwalt bereits in seiner Antragsschrift vom 28. September 2009 ausgeführt hat - nicht.
1. Soweit das Landgericht den Angeklagten vom Vorwurf der Beihilfe zum Kreditbetrug freigesprochen hat, kann dem Urteil schon nicht entnommen werden, in welchen konkreten Umständen die Wirtschaftsstrafkammer überhaupt die Haupttat sieht, zu der der Angeklagte Hilfe geleistet haben soll. Mit Blick auf die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 265 b StGB fehlen insbesondere Feststellungen dazu, wann und von wem gegenüber welchen Banken für welche Kredite unrichtige oder unvollständige Bilanzen und/oder sonstige für die Kreditgewährung bzw. -belassung bedeutsame Unterlagen des Konzerns vorgelegt worden sind. Ebenso hätte es wegen der dem Angeklagten angelasteten Beteiligung an dem Kreditbetrug der Feststellung bedurft, ob Gegenstand der Kreditverhandlungen mit den Banken auch Bilanzen und Unterlagen der BIV B. waren, deren Geschäftsführer der Angeklagte war. Schließlich bleibt auch offen, welche konkrete Unterstützungshandlung des Angeklagten gegenüber dem Haupttäter in Betracht kommt. Das Landgericht konnte die fehlenden Feststellungen auch nicht dadurch ersetzen, dass es in großem Umfang (UA 18 bis 43) Teile aus den schriftlichen Gründen des Urteils gegen den gesondert verfolgten Bö., der zur Tatzeit Wirtschaftsprüfer der BIV B. war, in das angefochtene Urteil übernahm.
Schließlich liegt ein durchgreifender Mangel des Urteils auch darin, dass es jegliche Feststellungen zur Person des Angeklagten vermissen lässt. Namentlich zu seinem beruflichen Werdegang und seiner sonstigen Qualifikation waren Feststellungen geboten, um beurteilen zu können, ob die Kammer zu Recht angenommen hat, dass der Angeklagte dem bestimmenden Einfluss des Wirtschaftsprüfers Bö. unterlag. Das gilt unbeschadet dessen, dass aus der beruflichen Qualifikation und Stellung des Angeklagten allein noch nicht ohne weiteres auf die Wahrnehmung seiner ihm obliegenden Aufgaben geschlossen werden darf (vgl. BGH, Beschl. vom 9. November 2009 - 5 StR 136/09).
Im Übrigen hat die Strafkammer den angeklagten Sachverhalt nur unvollständig gewürdigt, weil sie den Begriff der von der gegen den Angeklagten erhobenen Anklage erfassten Tat im Sinne des § 264 StPO verkannt hat.
Nach der Anklage wird die Beihilfehandlung des Angeklagten darin gesehen, dass er an der Verdeckung der tatsächlichen Vermögensverhältnisse innerhalb der S.-Gruppe, die durch das fingierte Aktiengeschäft bewirkt wurde, mitgewirkt habe. Da es zulässig ist, zur Konkretisierung des Anklagesatzes auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen zurückzugreifen (BGH, Urt. vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09 Rdn. 95; BGHR StPO § 264 Abs. 1 Ausschöpfung 4), werden aber vorliegend von der Anklage auch die zur Verschleierung der tatsächlichen Vermögensverhältnisse notwendigen Nachbuchungen erfasst. Entgegen der Auffassung des Landgerichts schließt dies die vom Angeklagten am 2. November 2000 veranlasste Einbuchung des fingierten Aktiengeschäfts ein.
Eine strafbare Beihilfe durch die im November 2000 erfolgten Buchungen würde auch nicht scheitern, wenn diese erst nach Vorlage des Jahresabschlusses bei möglichen Kreditgebern erfolgt wären. Denn Beihilfe ist nach der ständigen Rechtsprechung auch noch nach Vollendung der Haupttat bis zu deren Beendigung möglich (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 27 Rdn. 6 m.w.N.). Die Teilnahme am Kreditbetrug ist bis zum Erbringen der letzten Leistung möglich (Fischer aaO § 265b Rdn. 40, § 264 Rdn. 38 f.). Wann die Leistung als erbracht anzusehen ist, hängt von der Art des beantragten Kredits ab (Lenckner/Perron in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl. § 265b Rdn. 49). Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass noch für den 26. März 2001 ein Besprechungstermin mit den Banken anberaumt war. Erst nachdem im Hinblick auf das Ergebnis der Prüfung durch die Unternehmensberatung der Bankentermin abgesagt worden sei, hätten die Banken "dicht" gemacht (UA 16). Aufgrund dieser Ausführungen und vor dem Hintergrund, dass es sich auch um Prolongationskredite gehandelt haben kann, erscheint es jedenfalls möglich, dass die Banken auch noch nach dem 2. November 2000 aufgrund der vorgelegten Konzernbilanz Kredit gewährt haben.
2. Der Freispruch vom Vorwurf des tateinheitlich begangenen Bankrotts (§ 283 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. a) StGB) begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Das Landgericht hat den Angeklagten insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil es für die Strafbarkeit am Vorliegen einer Überschuldung der BIV B. (§ 283 Abs. 1 StGB) zum 31. Dezember 1999 im Sinne des hier nach § 2 Abs. 3 StGB anwendbaren § 19 Abs. 2 InsO (in der ab dem 18. Oktober 2008 geltenden Fassung) gefehlt habe (UA 87). Dabei ist es der Auffassung des Sachverständigen gefolgt, dass zwar das Vermögen der BIV B. bereits ab dem 31. Dezember 1999 die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht mehr gedeckt habe, aber auch unter Berücksichtigung der Konzernstruktur und deren Auswirkungen auf die BIV B. von einer positiven Fortbestehensprognose auszugehen sei.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Wirtschaftsstrafkammer dabei die Anforderungen an eine positive Fortbestehensprognose beachtet hat. Jedenfalls hätte es für die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei als Geschäftsführer der BIV B. bis zum Zeitpunkt kurz vor Stellung des Insolvenzantrags nicht verpflichtet gewesen, aufgrund der Mithaftung für Kredite anderer Konzerngesellschaften Rückstellungen zu bilden, näherer Feststellungen zu Art und Umfang der Mithaftung der BIV B. bedurft. Ob und gegebenenfalls welche Mitverpflichtungen bestanden, teilt das Urteil nicht mit. Die Beschwerdeführerin rügt in diesem Zusammenhang auch zu Recht, dass anhand der Urteilsgründe der vom Tatrichter ersichtlich als entscheidend bewertete Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme aus Mitverpflichtungen und der „Ordentlichkeit“ bzw. „Seriosität“ der in der Baugruppe tätigen Geschäftsführer (UA 94) nicht nachvollziehbar dargestellt ist.
Zudem fehlen jegliche Feststellungen zur Zahlungsfähigkeit der BIV B. Deren hätte es aber schon deshalb bedurft, weil § 283 Abs. 1 StGB eine Strafbarkeit wegen Bankrotts außer bei Überschuldung auch bei drohender oder eingetretener Zahlungsunfähigkeit vorsieht.
Schließlich scheitert eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 283 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. a) StGB entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht allein schon daran, dass der Angeklagte die durch den gesondert verfolgten Bö. erstellte und in dem Jahresabschluss enthaltene Bilanz nicht unterschrieben hat (vgl. Beukelmann in Beck'scher Online-Kommentar zum StGB § 283 Rdn. 70 [Stand: 1. Oktober 2009]; Tiedemann in LK-StGB 12. Aufl. § 283 Rdn. 150).
3. Die insoweit knappen Urteilsgründe (UA 96) erlauben dem Revisionsgericht auch nicht die Prüfung, ob das Landgericht den Angeklagten zu Recht vom Vorwurf der verspäteten Insolvenzantragstellung (§ 15a Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 InsO) freigesprochen hat. Der Tatbestand des § 15a Abs. 1 InsO, der mit Wirkung vom 1. November 2008 an die Stelle des inhaltsgleichen § 84 GmbHG getreten ist, knüpft ebenso wie § 283 Abs. 1 StGB an die im angefochtenen Urteil - wie ausgeführt - nur unzureichend geprüften Tatbestandsmerkmale der Überschuldung und der Zahlungsunfähigkeit an.
Die aufgezeigten Mängel führen nach alledem zur Aufhebung des Urteils insgesamt.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Mutzbauer
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4. Strafsenat
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20100211
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4 StR 436/09
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§ 101 Abs 4 S 1 Nr 12 StPO, § 101 Abs 5 StPO, § 101 Abs 6 StPO, § 147 Abs 2 StPO, § 344 Abs 2 StPO
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vorgehend LG Bielefeld, 18. Juni 2009, Az: 3 KLs 36 Js 116/09 - 33/09 III, Urteil
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DEU
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Fair-trial-Grundsatz im Strafverfahren: Darstellung eines unwahren Sachverhalts in der Ermittlungsakte; Täuschung des Beschuldigten im Falle des Verschweigens einer Observierungsmaßnahme
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1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 18. Juni 2009 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Der Erörterung bedarf nur die Verfahrensrüge, mit der die Revision einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens geltend macht.
1. Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
a) Nach den Feststellungen stand der anderweitig verfolgte L. wegen des Verdachts der Begehung von Betäubungsmittelstraftaten unter polizeilicher Observation. In diesem Zusammenhang wurde am 17. Januar 2009 in M. ein Treffen zwischen L. und dem Angeklagten beobachtet. Der Angeklagte, der zuvor bei L. telefonisch zwei Kilogramm Kokaingemisch bestellt hatte, war bis dahin der Polizei nicht als Abnehmer des L. bekannt. Nachdem der Angeklagte von L. ca. 1,7 kg Kokaingemisch übernommen hatte, verbrachte er die Drogen in einen von ihm zuvor in M. am Hauptbahnhof abgestellten Pkw, um anschließend mit diesem zu seinen Eltern nach B. zu fahren. Da sich die weitere Observierung des Angeklagten auf der Autobahn bei schlechter Witterung und wegen der von ihm streckenweise eingehaltenen sehr hohen Geschwindigkeiten schwierig gestaltete und er nach Einschätzung der Polizeibeamten zu entkommen drohte, entschloss sich die polizeiliche Einsatzleitung zum Zugriff, als der Angeklagte die Autobahn verließ, um an einer Gaststätte eine Pause einzulegen. Nachdem der Angeklagte sich in die Gaststätte begeben hatte, ließen Beamte der observierenden Einheit Luft aus dem rechten Vorderreifen des vom Angeklagten geführten Fahrzeugs. Anschließend täuschten zur Unterstützung herbeigerufene örtliche Polizeibeamte eine allgemeine Verkehrskontrolle vor, um nicht zu offenbaren, dass es sich um eine observierende Ermittlung handelte, deren weiterer Erfolg nicht gefährdet werden sollte. Auf Grund „vermeintlich oder tatsächlich nervöser Reaktion“ des Angeklagten wurde der Pkw durchsucht und eine Teilmenge von 700 g Kokain gefunden. Bei einer späteren weiteren Durchsuchung des Fahrzeugs wurde die Restmenge von ca. 1 kg Kokain sichergestellt.
b) Der Angeklagte hat im Ermittlungsverfahren keine Angaben zur Sache gemacht. In der Hauptverhandlung hat er die Tat gestanden und eingeräumt, das Kokain von L. zum Zwecke des Weiterverkaufs erworben zu haben. Weitere Angaben, etwa zu den Hintergründen und der Vorgeschichte der Tat, zu dem Umfang seiner Kontakte zu L. und zu den Namen seiner Abnehmer hat er unter Hinweis auf eine mögliche Gefährdung seiner persönlichen Sicherheit nicht gemacht.
2. Die Revision beanstandet, dass dem Angeklagten weder bei seiner richterlichen Vernehmung anlässlich des Erlasses des Haftbefehls vom 18. Januar 2009 noch bei seiner polizeilichen Vernehmung vom 19. Januar 2009 noch bei seiner Vernehmung anlässlich des Haftprüfungstermins vom 27. Februar 2009 die Tatsache der vorausgegangenen Observation offenbart worden sei. Er sei vielmehr davon ausgegangen, dass das Rauschgift bei einer zufälligen Verkehrskontrolle bei ihm vorgefunden worden sei. Auch in den Ermittlungsakten, in die sein Verteidiger Einsicht genommen habe, sei der Vorgang so beschrieben gewesen, als habe es sich wegen einer Reifenpanne um einen Zufallsfund gehandelt.
3. Der Rüge bleibt bereits deshalb der Erfolg versagt, weil sie nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht.
a) Nach dieser Vorschrift müssen die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau dargelegt werden, dass das Revisionsgericht allein auf Grund dieser Darlegung das Vorhandensein eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden (st. Rspr., vgl. nur Kuckein in KK 6. Aufl. § 344 Rdn. 38 mit zahlr. Nachw.). Dem wird das Revisionsvorbringen in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
b) Bedenken gegen die Zulässigkeit der Rüge bestehen schon deshalb, weil weder der Inhalt des anlässlich der Festnahme des Angeklagten angefertigten polizeilichen Aktenvermerks noch Einzelheiten zu seiner Beschuldigtenvernehmung vom 19. Januar 2009 und zum Haftprüfungstermin vom 27. Februar 2009 mitgeteilt werden. Soweit diesbezüglich auf einzelne Aktenstellen verwiesen wird, vermag dies nicht den erforderlichen eigenen Sachvortrag zu ersetzen (vgl. Kuckein in KK aaO Rdn. 39 m.w.N.). Die Revision verschweigt zudem, dass der Angeklagte spätestens mit der am 25. Juni 2009 erhobenen Anklage über den wahren Hintergrund seiner Festnahme in Kenntnis gesetzt worden ist. Insbesondere aber bleibt der Vermerk des sachbearbeitenden Staatsanwaltes vom 12. Mai 2009 völlig unerwähnt, in welchem dieser den wahren Sachverhalt schildert, die Gründe bezeichnet, die nach seiner Auffassung einer früheren Unterrichtung des Angeklagten entgegenstanden und schließlich seine Bemühungen um eine möglichst frühzeitige Offenlegung des Sachverhalts schildert. Ohne vollständige und genaue Kenntnis der vorgenannten Verfahrenstatsachen ist dem Senat jedoch die revisionsrechtliche Prüfung, ob der gerügte Verfahrensverstoß vorliegt, nicht möglich.
4. Die Rüge wäre aber auch unbegründet.
a) Allerdings ist das Verhalten der Ermittlungsbehörden mit Blick auf den fair trial - Grundsatz rechtlich bedenklich. Zwar hätte bei Gefährdung des Untersuchungszwecks nach § 147 Abs. 2 StPO die Möglichkeit bestanden, dem Verteidiger vor Abschluss der Ermittlungen die Einsicht in die Akten insgesamt oder teilweise zu versagen (zur Problematik bei richterlichen Entscheidungen im Ermittlungsverfahren - namentlich bei Haftentscheidungen - vgl. aber Lüderssen/Jahn in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 147 Rdn. 75 ff.; Meyer-Goßner StPO 52 Aufl. § 147 Rdn. 25 a). Auch die Unterrichtung über die Durchführung der Observation hätte aus diesem Grunde bis zu zwölf Monaten ohne richterliche Zustimmung zurückgestellt werden können (vgl. § 101 Abs. 4 Satz 1 Nr. 12, Abs. 5, Abs. 6 Satz 1 StPO). Die vorgenannten Vorschriften ge-statten jedoch weder die Darstellung eines unwahren Sachverhalts in den Ermittlungsakten noch die aktive Täuschung des Beschuldigten über die wahren Hintergründe seiner Festnahme.
b) Ob ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vorliegt, bedarf hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da auszuschließen ist, dass ein solcher sich zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben kann.
aa) Der Angeklagte hat zu keinem Zeitpunkt im Ermittlungsverfahren Angaben zur Sache gemacht. In Anbetracht der klaren Beweislage - das Rauschgift wurde in dem zur Tatzeit allein von ihm benutzten Fahrzeug vorgefunden - kann ausgeschlossen werden, dass sich das Verschweigen der gegen L. gerichteten Observationsmaßnahme und das Vortäuschen eines „Zufallsfundes“ bei der Haftentscheidung zu Lasten des Angeklagten ausgewirkt hat. Der Angeklagte hat zudem - was die Revision ebenfalls vorzutragen unterlässt - im Haftprüfungstermin vom 27. Februar 2009 durch seinen Verteidiger den Haftprüfungsantrag zurückgenommen.
bb) Der Angeklagte ist mit Anklageerhebung über den wahren Sachverhalt unterrichtet worden. Seine Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung sind daher durch die Falschdarstellung in keiner Weise berührt worden. Die Revision räumt insoweit selbst ein, dass das beanstandete Verhalten für den Angeklagten „keine unmittelbaren Folgen“ gehabt habe.
cc) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts besteht auch kein Anhaltspunkt dafür, dass sich der gerügte Verstoß auf den Strafausspruch ausgewirkt haben kann. Dafür, dass der Angeklagte - hätte er bereits im Ermittlungsverfahren die wahren Umstände seiner Festnahme gekannt - von der Möglichkeit des § 31 BtMG Gebrauch gemacht hätte, ist nichts ersichtlich. Vielmehr spricht dagegen, dass er es auch in der Hauptverhandlung in Kenntnis des wahren Sachverhalts abgelehnt hat, Angaben im Sinne des § 31 BtMG zu machen. Zudem war er bereits bei seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vom 19. Januar 2009 nach § 31 BtMG belehrt worden; dessen ungeachtet hat er weder zu diesem Zeitpunkt noch später, etwa als er erstmals mit Anklageerhebung von den Hintergründen seiner Festnahme erfuhr, von der Möglichkeit der Offenbarung von Wissen im Sinne dieser Vorschrift Gebrauch gemacht.
Schließlich vermag der Senat angesichts der vorgenannten Umstände auch auszuschließen, dass nach der so genannten Vollstreckungslösung (vgl. BGHSt -GS- 52, 124) - ungeachtet der Frage ihrer Anwendbarkeit auf Fälle der Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens - ein Verstoß nicht nur festzustellen, sondern darüber hinaus ein Teil der erkannten Strafe für vollstreckt zu erklären wäre.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Franke
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BMJV
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public
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JURE100057824
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BGH
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4. Strafsenat
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20100119
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4 StR 504/09
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Beschluss
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§ 64 StGB, § 67 Abs 2 S 2 StGB, § 318 StPO, § 344 Abs 2 StPO
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vorgehend LG Bielefeld, 22. Juni 2009, Az: 10 Ks 46 Js 410/08 - 8/09, Urteil
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DEU
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Revision im Strafsachen: Wirksamkeit einer Rechtsmittelbeschränkung bei Herausnahme des Maßregelausspruchs der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt; Dauer des Vorwegvollzug bei Anrechnung von Untersuchungshaft
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1. Auf die Revision des Angeklagten W. wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 22. Juni 2009, soweit es ihn betrifft, im Ausspruch über die Reihenfolge der Vollstreckung dahin geändert, dass die Vollziehung von insgesamt drei Jahren und neun Monaten der verhängten Freiheitsstrafe vor der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet wird.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
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1. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Ferner hat es bestimmt, dass zwei Jahre und neun Monate der verhängten Freiheitsstrafe vor seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu vollziehen sind. Die Revision des Angeklagten, mit der die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt wird, führt zu einer geänderten Festlegung der Dauer des Vorwegvollzugs; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und Strafausspruch sowie zur Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 20. Oktober 2009 verwiesen. Auch der auf § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB in der Fassung des am 20. Juli 2007 in Kraft getretenen Gesetzes zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBI. I S. 1327) gestützte Ausspruch, dass ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe vor der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu vollziehen ist, hält als solcher sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand.
2. Indessen kann die Entscheidung des Landgerichts über die Dauer des Vorwegvollzugs nicht bestehen bleiben.
a) Dass der Maßregelausspruch nach dem Willen des Beschwerdeführers vom Revisionsangriff ausgenommen sein soll, steht dem nicht entgegen. Ob die Beschränkung des Rechtsmittels die Berechnung des vorweg zu vollziehenden Teils der Freiheitsstrafe hier überhaupt erfasst (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 9. Oktober 2007 - 5 StR 374/07 Tz. 4 a.E.), kann letztlich dahinstehen; denn die Beschränkung ist insgesamt unwirksam, weil der Angeklagte mit einer Verfahrensrüge und mit der Sachrüge auch den Schuldspruch angreift. In einem solchen Fall kann mit der erklärten Rechtsmittelbeschränkung nicht wirksam auf die Anfechtung der Unterbringung nach § 64 StGB verzichtet werden, da die Feststellung einer Symptomtat unerlässliche Voraussetzung der Maßregelanordnung ist (BGH, Beschluss vom 26. August 2009 - 2 StR 302/09).
b) Das Landgericht hat bei seiner Entscheidung über die Berechnung des vorweg zu vollziehenden Teils der Freiheitsstrafe zwar ausdrücklich der Gesetzeslage nach Neufassung des § 67 Abs. 2 StGB Rechnung tragen wollen. Aus dieser folgt jedoch, dass im vorliegenden Fall nicht zwei Jahre und neun Monate, sondern drei Jahre und neun Monate der verhängten Freiheitsstrafe vor der Unterbringung zu vollziehen sind. Erst danach ist unter Berücksichtigung der im Fall des Beschwerdeführers für erforderlich gehaltenen Dauer der Therapie im Maßregelvollzug von zwei Jahren mit dann insgesamt fünf Jahren und neun Monaten die Hälfte der verhängten, sich auf elf Jahre sechs Monate belaufenden Freiheitsstrafe erledigt. Eine Kürzung der Dauer des angeordneten Vorwegvollzugs um die Dauer der bisher erlittenen Untersuchungshaft ist nicht zulässig (BGH, Beschluss vom 25. Februar 2009 - 5 StR 22/09).
c) Da die sachverständig beratene Strafkammer rechtsfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt ist, dass im Fall des Angeklagten die Therapie voraussichtlich zwei Jahre dauern werde und es sich bei der Bestimmung der Dauer des Vorwegvollzugs um einen auf klaren gesetzlichen Vorgaben beruhenden Rechenvorgang handelt, kann der Senat die Dauer des Vorwegvollzugs gemäß § 354 Abs. 1 StPO analog selbst festlegen (Senatsbeschluss vom 8. April 2008 - 4 StR 21/08 m.w.N.). Der Angeklagte ist durch diese nachträgliche Entscheidung unter keinen Umständen beschwert (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Dezember 2008 - 4 StR 552/08, NStZ-RR 2009, 105).
3. Eine Kostenermäßigung nach § 473 Abs. 4 StPO war nicht veranlasst, weil das unbeschränkte Rechtsmittel des Angeklagten nur zu einer geringen Änderung des angefochtenen Urteils geführt hat.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100057825
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BGH
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4. Strafsenat
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20100121
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4 StR 518/09
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Urteil
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§ 76 Abs 2 GVG, § 207 StPO
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vorgehend LG Cottbus, 13. Februar 2009, Az: 23 KLs 35/08 - 1830 Js 14590/08, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Vollständige Erschöpfung des durch die Anklage abgegrenzten Prozessstoffs; vorschriftswidrige Besetzung des Jugendschöffengerichts bei Eröffnung des Hauptverfahrens
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 13. Februar 2009 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall II. 6 der Urteilsgründe verurteilt worden ist; insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;
b) das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte im Fall II. 1 der Urteilsgründe freigesprochen worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die weiteren Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Hausfriedensbruchs verwarnt und ihm aufgegeben, binnen sechs Monaten 30 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. Vom Vorwurf der schweren Körperverletzung in Tateinheit mit Diebstahl und Sachbeschädigung hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit ihrer auf die Sachbeschwerde gestützten Revision wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen den freisprechenden Teil des Urteils. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
1. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts, soweit diese für das Revisionsverfahren von Bedeutung sind, befanden sich der Angeklagte sowie die beiden Mitangeklagten H. und S. in den frühen Morgenstunden des 2. März 2008 mit ihren Fahrrädern auf dem Rückweg von einer Party, bei der sie alle in erheblichem Umfang dem Alkohol zugesprochen hatten. Unterwegs beschlossen die drei Angeklagten spontan, den Geschädigten U. zu besuchen, der in einem nahe gelegenen Gartenhaus wohnte, um mit ihm zusammen weiter Alkohol zu trinken. Kurze Zeit, nachdem die Angeklagten von dem Geschädigten in die Gartenlaube eingelassen worden waren, kam es zwischen diesem und dem Mitangeklagten S. zu einem Streit. Beide Mitangeklagten misshandelten sodann den Geschädigten U. und versetzten ihm unter anderem Faustschläge ins Gesicht, wobei U. mehrfach zu Boden ging. Von einem der beiden Täter erhielt er außerdem einen kräftigen Tritt mit dem Fuß gegen die linke Stirnseite. Sodann verwüsteten S. und H. die Gartenlaube des Geschädigten und richteten dabei einen Sachschaden von insgesamt etwa 1.000 Euro an.
Schon als der Mitangeklagte S. dem Geschädigten U. den ersten Faustschlag versetzte und mit H. in der Gartenlaube zu randalieren begann, verließ der Angeklagte die Gartenlaube, weil er mit dem Vorgehen der Mitangeklagten ausdrücklich nichts zu tun haben wollte. Etwa fünf bis zehn Meter von der Laube entfernt rauchte er am Zaun eine Zigarette. Nach etwa fünf bis zehn Minuten kehrte der Angeklagte in die Gartenlaube zurück, fand diese verwüstet und den Geschädigten U. verletzt in einem Sessel sitzend vor. Nachdem beide Mitangeklagten der Aufforderung des Angeklagten, die Gartenlaube nunmehr zu verlassen, nicht gefolgt waren, zog dieser zunächst H. und danach S. mit körperlichem Kraftaufwand von dem Geschädigten weg und aus dessen Gartenlaube heraus, um weitere Tätlichkeiten und Sachbeschädigungen zu verhindern. Alle drei Angeklagten fuhren daraufhin mit ihren Fahrrädern zu einer nahe gelegenen Tankstelle, wo sich der Angeklagte K. von den anderen verabschiedete und nach Hause fuhr.
Auf Grund des konsumierten Alkohols und der erlittenen Verletzungen war der Geschädigte U. erst gegen 6.00 Uhr morgens in der Lage, die Polizei zu alarmieren. Er hat gravierende Dauerschäden und Behinderungen davongetragen, ist auf einem Auge erblindet und wird voraussichtlich ständig der Betreuung und Pflege durch Dritte bedürfen.
b) Das Landgericht hat dem Angeklagten zwar nicht geglaubt, dass er, im Garten eine Zigarette rauchend, von dem Geschehen in der Laube nichts mitbekommen hat. Es hat aber dessen Einlassung, er sei weder an den Körperverletzungshandlungen gegenüber dem Zeugen U. noch an der Verwüstung der Gartenlaube aktiv beteiligt gewesen, nicht zu widerlegen vermocht.
2. Vor dem Hintergrund der im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen beanstanden Revision und Generalbundesanwalt mit Recht, dass die Strafkammer ihre umfassende Kognitionspflicht (vgl. dazu etwa Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 264 Rdn. 10 m.w.N.) verletzt hat. Das Sachurteil muss in jedem Fall den durch die zugelassene Anklage abgegrenzten Prozessstoff erschöpfen; der einheitliche geschichtliche Lebensvorgang, der den Gegen-stand der Untersuchung bildet, muss vollständig abgeurteilt werden (BGHSt 39, 164, 165 f.). Ein Freispruch ist nur gerechtfertigt, wenn der festgestellte Sachverhalt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Schuldspruch trägt. Danach hätte das Landgericht hier - gegebenenfalls nach einem rechtlichen Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO - prüfen und entscheiden müssen, ob sich der Angeklagte der unterlassenen Hilfeleistung im Sinne des § 323 c StGB schuldig gemacht hat. Dass die Voraussetzungen dieser Strafvorschrift erfüllt sind, liegt nach dem festgestellten Sachverhalt jedenfalls nicht ganz fern.
Wegen des aufgezeigten Rechtsfehlers unterliegt das Urteil, soweit der Angeklagte im Fall II. 1 der Urteilsgründe freigesprochen worden ist, insgesamt der Aufhebung. Die für sich genommen rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tathergang können nicht aufrecht erhalten bleiben, da der Angeklagte das Urteil insoweit nicht hätte anfechten können (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2000 - 3 StR 595/99, NStZ-RR 2000, 300 m.w.N.).
II.
Die Verurteilung des Angeklagten wegen Hausfriedensbruchs im Fall II. 6 der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben. Wie der Generalbundesanwalt hierzu in seiner Zuschrift vom 6. November 2009 zutreffend ausgeführt hat, fehlt es insoweit an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss.
Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens und die Zulassung der Anklage vom 19. Oktober 2007 in der Hauptverhandlung beschlossen, in der die Strafkammer mit zwei Berufsrichtern und zwei Jugendschöffen besetzt war. Damit hat es entgegen der gesetzlich vorgesehenen Besetzung - drei Berufsrichter unter Ausschluss der Schöffen - entschieden, was nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu einem von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernis führt (BGHSt 50, 267, 269; Senatsbeschlüsse vom 28. August 2007 - 4 StR 212/07 und vom 31. Juli 2008 - 4 StR 251/08) und die Einstellung des Verfahrens zur Folge hat (§ 260 Abs. 3 StPO).
Tepperwien Maatz Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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JURE100057826
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BGH
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4. Strafsenat
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20100121
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4 StR 518/09
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Beschluss
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§ 203 StPO, § 206a Abs 1 StPO, § 76 Abs 2 S 1 GVG
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vorgehend LG Cottbus, 13. Februar 2009, Az: 23 KLs 35/08 - 1830 Js 14590/08 - 5 AR 57/09, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Fehlerhafter Eröffnungsbeschluss bei vorschriftswidriger Besetzung der Strafkammer
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1. Das Verfahren wird, soweit es den Angeklagten H. betrifft, im Fall II. 5 der Urteilsgründe (Verurteilung wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr) eingestellt.
Insoweit trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.
2. Mit Zustimmung des Generalbundesanwalts wird das Verfahren gemäß § 154 a Abs. 2 StPO beschränkt,
a) soweit es den Angeklagten S. betrifft, im Fall II. 1 der Urteilsgründe auf den Vorwurf der schweren Körperverletzung in Tateinheit mit Diebstahl und Sachbeschädigung, im Fall II. 2 der Urteilsgründe auf den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung sowie im Fall II. 3 der Urteilsgründe auf den Vorwurf des Raubes in Tateinheit mit Körperverletzung und Sachbeschädigung,
b) soweit es den Angeklagten H. betrifft, im Fall II. 1 der Urteilsgründe auf den Vorwurf der schweren Körperverletzung in Tateinheit mit Diebstahl und Sachbeschädigung sowie im Fall II. 3 der Urteilsgründe auf den Vorwurf des Raubes in Tateinheit mit Körperverletzung und Sachbeschädigung.
3. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 13. Februar 2009 mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit es den Angeklagten S. betrifft, im gesamten Strafausspruch,
b) soweit es den Angeklagten H. betrifft, im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen II. 1 und II. 3 der Urteilsgründe sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, soweit es den Angeklagten H. betrifft, über die weiteren Kosten seines Rechtsmittels, an eine ande
5. Die weiter gehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, schwerem Diebstahl und Sachbeschädigung, wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Diebstahl sowie wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Den Angeklagten H. hat es wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, schwerem Diebstahl und Sachbeschädigung, wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Diebstahl, wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung, wegen gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt; ferner hat es gegenüber dem Angeklagten H. Maßregeln nach §§ 69, 69 a StGB angeordnet. Gegen dieses Urteil wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen und rügen die Verletzung formellen und sachlichen Rechts.
I.
Die Verurteilung des Angeklagten H. wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr im Fall II. 5 der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil es insoweit an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss fehlt.
Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens und die Zulassung der Anklage vom 28. Mai 2008 in der Hauptverhandlung beschlossen, in der die Strafkammer mit zwei Berufsrichtern und zwei Jugendschöffen besetzt war. Damit hat es entgegen der gesetzlich vorgesehenen Besetzung - drei Berufsrichter unter Ausschluss der Schöffen - entschieden, was nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu einem von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernis führt (BGHSt 50, 267, 269; Senatsbeschlüsse vom 28. August 2007 - 4 StR 212/07 und vom 31. Juli 2008 - 4 StR 251/08) und die Einstellung des Verfahrens zur Folge hat (§ 206 a Abs. 1 StPO analog).
II.
1. Die von den Angeklagten S. und H. erhobenen Verfahrensrügen bleiben aus den vom Generalbundesanwalt in seinen Antragsschriften vom 6. November 2009 dargelegten Gründen ohne Erfolg.
2. a) In dem nach Verfahrensbeschränkung gemäß § 154 a Abs. 2 StPO verbleibenden Umfang sind die Schuldsprüche rechtsfehlerfrei. Auch insoweit verweist der Senat auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts.
b) Die Rechtsfolgenaussprüche können in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang nicht bestehen bleiben. Die Verfahrensbeschränkung führt beim Angeklagten S. zur Aufhebung sämtlicher Einzelstrafen sowie der Gesamtstrafe. Beim Angeklagten H. haben die Einzelstrafen in den Fällen II. 1 und 3 der Urteilsgründe sowie die Gesamtstrafe keinen Bestand. Es bedarf insoweit der Zumessung der Strafe durch den neuen Tatrichter, da der Senat nicht mit letzter Sicherheit ausschließen kann, dass sich die aus der Beschränkung ergebenden Änderungen der Schuldsprüche Einfluss auf die Bemessung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafen haben.
Tepperwien Maatz Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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JURE100057828
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BGH
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4. Strafsenat
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20100204
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4 StR 585/09
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Beschluss
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§ 354 Abs 1a S 1 StPO, § 46a Nr 1 StGB, § 49 Abs 1 StGB
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vorgehend LG Frankfurt (Oder), 25. Juni 2009, Az: 23 KLs 9/09 - 272 Js 37/09 - 53 Ss 206/09, Urteil
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DEU
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Revision im Strafverfahren: Eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts über die Einzel- und Gesamtstrafe bei Aufhebung der Einzelstrafe wegen unrichtiger Strafrahmenwahl
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 25. Juni 2009 aufgehoben
a) im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall II 2 der Urteilsgründe sowie
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer in Tateinheit mit versuchtem erpresserischem Menschenraub sowie wegen räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub, schwerer räuberischer Erpressung und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und fünf Monaten verurteilt. Gegen diese Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Soweit das Landgericht den Angeklagten wegen der Tat zum Nachteil der Geschädigten N. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt hat, hat es zwar den Umstand, dass der Angeklagte mit der Geschädigten erfolgreich einen Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne des § 46 a Nr. 1 StGB durchgeführt hat, im Rahmen der Erwägungen zum Vorliegen eines minder schweren Falles berücksichtigt (und diesen im Ergebnis verneint), es hat jedoch - insoweit abweichend von Fall II 2 der Urteilsgründe - nicht erörtert, ob eine Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 46 a Nr. 1, 49 Abs. 1 StGB in Betracht kommt. Damit leidet der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils insoweit an einem durchgreifenden Erörterungsmangel.
II.
Die Entscheidung über die neu festzusetzende Einzelstrafe im Fall II 2 der Urteilsgründe sowie über die Gesamtstrafe kann im vorliegenden Fall - entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts - nur der Tatrichter treffen. Für eine Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO ist im Hinblick darauf, dass für die Bemessung der Einzelstrafe ein anderer Strafrahmen in Betracht kommt, hier kein Raum (BGH, Beschl. vom1. Dezember 2006 - 2 StR 495/06, StV 2008, 176). Da die den Strafausspruch zugrunde liegenden Feststellungen rechtsfehlerfrei getroffen sind, hat sie der Senat aufrechterhalten. Der zu neuer Verhandlung und Entscheidung berufene Tatrichter kann ergänzende Feststellungen treffen.
Tepperwien Maatz Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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JURE100057829
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4. Strafsenat
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20100112
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4 StR 589/09
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Beschluss
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§ 301 StPO, § 224 Abs 1 Nr 2 StGB
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vorgehend LG Magdeburg, 17. Juli 2009, Az: 162 Js 26766/07 - 21 Ks 16/07, Urteil
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DEU
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Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung: Wirkung einer Revision des Nebenklägers; Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeuges bei Einsatz eines Tatmittels als "Requisite"
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1. Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 17. Juli 2009 wird verworfen, soweit sie zuungunsten des Angeklagten eingelegt ist.
2. Soweit das Rechtsmittel zugunsten des Angeklagten wirkt (§ 301 StPO), wird das vorbezeichnete Urteil
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der vorsätzlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung schuldig ist,
b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht - Strafrichter - Aschersleben zurückverwiesen.
4. Die Nebenklägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels sowie die durch das Rechtsmittel dem Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Nebenklägerin strebt mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision eine Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags an. Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zugunsten des Angeklagten ergeben, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat. Jedoch ist das Urteil in entsprechender Anwendung des § 301 StPO zugunsten des Angeklagten im Schuldspruch abzuändern und im Strafausspruch aufzuheben, weil es einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, der auf die Revision der Nebenklägerin zu beachten ist, obwohl das Rechtsmittel nur zuungunsten des Angeklagten eingelegt wurde (BGH, Beschl.vom 23. August 1995 - 2 StR 394/95, NStZ-RR 1996, 130).
1. Nach den Feststellungen legte der Angeklagte der vor dem Computer sitzenden Nebenklägerin ein etwa ein Meter langes Elektrokabel locker um den Hals, ohne es allerdings zuzuziehen und ohne dass das Kabel mit ihrem Hals in Berührung kam. Er wollte ihr lediglich einen heftigen Schrecken einjagen. Die Nebenklägerin bemerkte das Kabel, ergriff es von oben mit beiden Händen und zog es mit einem heftigen Ruck dem Angeklagten aus der Hand, so dass es auf den Fußboden fiel. Spätestens jetzt rief der Angeklagte: “Ich bringe dich um.“ Die Nebenklägerin, der es im weiteren Verlauf gelang, den Angeklagten aus dem Zimmer zu drängen und in die Küche zu flüchten, erlebte Todesängste, verspürte eine Beklemmung und litt noch geraume Zeit nach der Tat unter Angstzuständen.
2. Diese Feststellungen belegen zwar noch die Annahme einer vorsätzlichen (einfachen) Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB). Die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung kann jedoch keinen Bestand haben. Denn entgegen der Auffassung des Landgerichts hat der Angeklagte die Körperverletzung nicht mittels eines gefährlichen Werkzeugs im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB begangen.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein gefährliches Werkzeug jeder bewegliche Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im konkreten Einzelfall geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen (vgl. nur Senat, Beschl. vom 5. September 2006 - 4 StR 313/06, NStZ 2007, 95). Bereits diese Eignung erscheint hier zweifelhaft. Zwar kann ein Kabel, wenn es zum Würgen eingesetzt wird, nach seiner Beschaffenheit und der konkreten Verwendung erhebliche Verletzungen herbeiführen. Hier legte der Angeklagte der Nebenklägerin jedoch das Kabel lediglich locker um den Hals, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Wird eine Strangulation aber nur vorgetäuscht, sind erhebliche Verletzungen regelmäßig nicht zu befürchten. Dass es sich hier ausnahmsweise, etwa aufgrund einer besonderen Disposition der Nebenklägerin, anders verhielt, ist nicht festgestellt.
b) Darüber hinaus verlangt § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, dass die Körperverletzung “mittels“ eines solchen Werkzeugs begangen wird. Das Tatmittel muss hierbei unmittelbar auf den Körper des Opfers einwirken (Senat, Urt. vom 22. Dezember 2005 - 4 StR 347/05, NStZ 2006, 572, 573, Beschl. vom 16. Januar 2007 - 4 StR 524/06, NStZ 2007, 405; Fischer StGB 57. Aufl. § 224 Rdn. 7). Jedenfalls daran fehlt es hier. Das Kabel kam zwar mit dem Körper der Nebenklägerin in Berührung. Es entfaltete jedoch als bloße “Requisite“ bei der Inszenierung einer scheinbar lebensbedrohlichen Situation seine Wirkung nicht unmittelbar körperlich, sondern psychisch vermittelt. Dies vermag den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB aber ebenso wenig zu erfüllen wie der Einsatz einer Maske oder die Vorlage einer gefälschten Todesbescheinigung mit dem Ziel, das Opfer in Schrecken zu versetzen. Diese Auffassung liegt auch der bisherigen Rechtsprechung zugrunde (vgl. BGH, Beschl. vom 17. Januar 2001 - 1 StR 480/00; Urt. vom 26. November 1985 - 1 StR 393/85, NStZ 1986, 166; im Ergebnis ebenso Stree in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl. § 224 Rdn. 3; a.A. Hardtung in MK StGB § 224 Rdn. 21; differenzierend Eckstein NStZ 2008, 125, 128). An ihr wird festgehalten.
3. Der Senat stellt den Schuldspruch entsprechend um. Er schließt aus, dass noch Feststellungen getroffen werden können, die das Handeln des Angeklagten als eine das Leben gefährdende Behandlung i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erscheinen lassen könnten. § 265 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen, da sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.
4. Die Änderung des Schuldspruchs zieht angesichts des gegenüber § 224 StGB milderen Strafrahmens des § 223 StGB die Aufhebung des Strafausspruchs nach sich. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 3 StPO Gebrauch und verweist die Sache an das Amtsgericht - Strafrichter - Aschersleben zurück, da dessen Strafgewalt hier ausreicht.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057830
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BGH
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4. Strafsenat
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20100202
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4 StR 620/09
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Beschluss
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§ 24 StPO, § 136a StPO, § 202 StPO, § 212 StPO, § 243 Abs 4 StPO, § 273 Abs 1a StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO
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vorgehend LG Essen, 14. September 2009, Az: 25 KLs 25/09 - 12 Js 811/09, Urteil
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DEU
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Rüge unzulässiger Einwirkung auf den Angeklagten bei einer Verständigung: Anforderungen an die Revisionsbegründung des verteidigten Angeklagten
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Essen vom 14. September 2009 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Zu der auf die Verletzung des § 136 a StPO gestützten Rüge, mit der der Angeklagte hinsichtlich seines in der Hauptverhandlung abgelegten umfassenden Geständnisses ein Verwertungsverbot mit der Behauptung geltend macht, das Gericht habe ihn mit unzulässigem Druck zu dem Geständnis veranlasst, bemerkt der Senat in Ergänzung der Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 5. Januar 2010:
Das Vorbringen der Revision genügt auch deshalb nicht den Anforderungen an eine nach Maßgabe des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässige Verfahrensrüge, weil der Beschwerdeführer die näheren Umstände des Verständigungsgesprächs, das während einer Verhandlungspause stattgefunden haben soll, nicht mitteilt. So fehlt insbesondere bereits die Angabe, wer von den Verfahrensbeteiligten an dem "Verständigungsgespräch" teilgenommen hat und auf wessen konkrete Äußerung(en) sich das Vorbringen des Beschwerdeführers bezieht, "das Gericht" habe ihm über seinen damaligen Verteidiger die - beanstandeten - "in Aussicht gestellten" Rechtsfolgen mit und ohne Geständnis "vortragen" lassen. Ohne diese Angaben ist dem Senat die Prüfung verwehrt, ob von Seiten "des Gerichts" unzulässiger Druck auf den Angeklagten ausgeübt worden ist.
Gegen die Zulässigkeit der Rüge bestehen auch deshalb Bedenken, weil das Protokoll über die Hauptverhandlung zu den von der Revision beanstandeten Verfahrensvorgängen schweigt, obwohl nach § 273 Abs. 1 a i.V.m § 212 i.V.m. § 202 i.V.m. § 243 Abs. 4 StPO i.d.F. des mit Wirkung vom 4. August 2009 in Kraft getretenen Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl I 2353), das mithin im Zeitpunkt der Hauptverhandlung am 4. September 2009 bereits zu beachten war, das Verfahren der Verständigung und deren Inhalt ausdrücklich der Protokollierungspflicht unterworfen wurde. Der Gesetzgeber bezweckte damit sicherzustellen, dass zum einen die vom Gericht im Zusammenhang mit einer Verständigung zu beachtenden Förmlichkeiten auch wirklich beachtet werden, zum anderen aber, dass insbesondere im Revisionsverfahren die erforderliche Kontrolle der Verständigung im Strafverfahren möglich ist und das tatsächliche prozessuale Geschehen "mit höchstmöglicher Gewissheit und auch in der Revision überprüfbar" erfasst wird (Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks. 16/12310 S. 15; dazu ausführlich Niemöller in Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, S. 136 ff.). Zwar kann grundsätzlich auch bei einem der Verständigung entsprechenden Urteil gerügt werden, der Angeklagte sei mit unzulässigem Druck dazu veranlasst worden, der Verständigung zuzustimmen und ein Geständnis abzulegen (vgl. Weider in Niemöller/Schlothauer/Weider aaO S. 164 f.). Doch ist es jedenfalls dem verteidigten Angeklagten im Regelfall zuzumuten, Inhalten der Verständigung, die er für unzulässig hält, sogleich zu widersprechen und gegebenenfalls - schon im Interesse späterer Überprüfbarkeit - auf ihre Protokollierung hinzuwirken oder solche Umstände zum Gegenstand eines Ablehnungsgesuchs zu machen (vgl. BGH, Beschl. vom 28. Oktober 2008 - 3 StR 431/08, StV 2009, 171 (nur LS); Weider aaO S. 165 a.E.).
Tepperwien Maatz Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057832
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100211
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III ZR 7/09
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Urteil
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§ 276 BGB, § 280 BGB, § 309 Nr 7b BGB, § 311 Abs 2 BGB, § 328 BGB
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vorgehend OLG München, 16. Dezember 2008, Az: 18 U 3960/08, Urteil vorgehend LG München I, 20. Juni 2008, Az: 4 O 17150/07
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DEU
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Kapitalanlagegeschäft: Haftung des als Mittelverwendungskontrolleur eingesetzten Wirtschaftsprüfers wegen unterlassener Prüfung der Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Verwendungskontrolle
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Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. Dezember 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Kläger machen gegen den beklagten Wirtschaftsprüfer Ersatzansprüche im Zusammenhang mit einer Beteiligung an der F. Z. GbR geltend, die sie am 17. Juni 2003 zeichneten.
Die Anlage wurde anhand eines von der Fondsgesellschaft herausgegebenen Emissionsprospekts vertrieben. Unter anderem nach Nummer 10 der darin enthaltenen Erläuterungen der rechtlichen Grundlagen des Fonds hatte zur Absicherung der Kapitalanleger ein Wirtschaftsprüfer die Kontrolle über die zweckgerechte Verwendung der Gesellschaftereinlage übernommen. Dem lag ein im Prospekt abgedruckter Mittelverwendungskontrollvertrag zwischen der F. Z. GbR und dem Wirtschaftsprüfer zugrunde. Dieser Vertrag enthielt insbesondere folgende Regelungen:
"§ 1 Sonderkonto
(1) Die Fonds-Gesellschaft richtet ein Sonderkonto bei einem Kreditinstitut ein, über das sie nur gemeinsam mit dem Beauftragten verfügen kann ("Sonderkonto"). Auf das Sonderkonto sind die Gesellschaftereinlagen einzuzahlen und die von der Fonds-Gesellschaft ausgereichten Darlehen zu tilgen.
…
(3) Zahlungen aus dem Sonderkonto dürfen nur entweder zur Begleichung von Kosten der Fonds-Gesellschaft oder zur Ausreichung von Darlehen geleistet werden.
Zahlungen zur Ausreichung eines Darlehens dürfen nur geleistet werden, wenn…
…
§ 4 Haftung
(1) Dieser Vertrag wird als Vertrag zu Gunsten Dritter, und zwar zu Gunsten aller Gesellschafter abgeschlossen. Die Gesellschafter können aus diesem Vertrag eigene Rechte herleiten.
(2) Schadensersatzansprüche gegen den Beauftragten können nur geltend gemacht werden, wenn die Fonds-Gesellschaft oder die Gesellschafter nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermögen.
…"
Die Mittelverwendungskontrolle sollte nach dem Prospekt von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer durchgeführt werden, der "aus standesrechtlichen Gründen" nicht genannt wurde.
Der Beklagte wurde im März 2003 als Mittelverwendungskontrolleur gewonnen. Er erstellte zudem ein Prospektprüfungsgutachten. Für das Sonderkonto, auf das die Anleger ihre Gesellschaftereinlagen einzahlten, war er gesamtvertretungsberechtigt. Drei der geschäftsführenden Gesellschafter waren demgegenüber einzeln zeichnungsbefugt. Erst nach dem 1. Dezember 2004 wurden deren Zeichnungsrechte dahingehend geändert, dass sie nur gemeinsam mit dem Beklagten über das Konto verfügen konnten.
Nachdem Mitte Dezember 2004 wirtschaftliche Schwierigkeiten der Fondsgesellschaft offen gelegt wurden, befindet sich diese seit Ende des Jahres 2005 in Liquidation. Die Kläger begehren von dem Beklagten im Wege des Schadensersatzes unter anderem die Rückzahlung der von ihnen geleisteten Einlage abzüglich der aus der Liquidation erhaltenen Beträge Zug um Zug gegen Abtretung des Anspruchs auf Auszahlung weiteren Liquidationserlöses sowie die Feststellung, dass der Beklagte sie von sämtlichen Verpflichtungen aus der Beteiligung freizustellen habe.
Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Ansprüche weiter.
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Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts scheiden Ansprüche der Kläger aus Prospekthaftung aus. Der Beklagte sei nicht prospektverantwortlich gewesen und habe auch kein persönliches Vertrauen in Anspruch genommen.
Die Kläger hätten gegen den Beklagten auch keinen Schadensersatzanspruch gemäß § 311 Abs. 2, 3 BGB wegen Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten. Der Beklagte sei lediglich verpflichtet gewesen, künftige Anleger über ihm bekannte oder sich ihm aufdrängende Auffälligkeiten zu informieren. Eine Aufklärungspflicht habe insbesondere nicht bezüglich der Zeichnungsbefugnisse für das Sonderkonto bestanden. Zwar sei dieses mangels einer Vereinbarung mit der Bank, dass Verfügungen nur unter Mitwirkung des Beklagten zulässig sein sollten, nicht vertragsgerecht eingerichtet worden. Jedoch hätten die Kläger nicht den Nachweis erbracht, dass dem Beklagten dies zum Zeitpunkt ihres Beitritts zum Fonds bekannt gewesen sei oder es sich ihm hätte aufdrängen müssen. Der Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, künftige Anleger darauf hinzuweisen, dass er nicht überprüft habe, ob ein dem Mittelverwendungskontrollvertrag entsprechendes Sonderkonto eingerichtet worden sei. Dem Vertrag sei eine diesbezügliche Kontrollpflicht nicht zu entnehmen. Ansprüche aus einer Pflichtverletzung im Zusammenhang mit der Abwicklung des Mittelverwendungskontrollvertrags schieden aus, da sie nicht auf den von den Klägern begehrten Ersatz des Zeichnungsschadens gerichtet seien. Schließlich kämen auch Ansprüche auf deliktsrechtlicher Grundlage nicht in Betracht.
II.
Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Der Senat hat mit seinem Urteil vom 19. November 2009 (III ZR 109/08 - ZIP 2009, 2449), das denselben Beklagten, denselben Fonds, denselben Mittelverwendungskontrollvertrag und einen auch ansonsten im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt betraf, die Pflichten des Beklagten in entscheidenden Punkten abweichend beurteilt. Danach gilt zusammengefasst Folgendes:
1. a) Den Beklagten traf nach dem Vertrag über die Mittelverwendungskontrolle (MVKV) gegenüber den Anlegern unter anderem die Verpflichtung zu überprüfen, ob die Konditionen des Sonderkontos mit den in § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV genannten Kriterien übereinstimmten. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hatte sich der Beklagte zu vergewissern, dass sämtliche Verfügungsberechtigten nur gemeinsam mit ihm zeichnungsbefugt waren (Senat aaO S. 2450 Rn. 17 ff). Dies folgt aus dem Zweck des Mittelverwendungskontrollvertrags.
Die vom Beklagten übernommene Funktion bestand darin, die Anleger davor zu schützen, dass die geschäftsführenden Gesellschafter Zahlungen von dem Sonderkonto vornehmen, ohne dass die in § 1 Abs. 3 MVKV genannten Voraussetzungen vorliegen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, musste er sicherstellen, dass er die ihm obliegende Kontrolle über den Mittelabfluss auch tatsächlich ausüben konnte. Da ein Konto, über das nur unter Mitwirkung des Beklagten verfügt werden konnte, eine zentrale Bedingung des Mittelverwendungskontrollvertrags darstellte und Voraussetzung für die effektive Verwirklichung seines Schutzzwecks war, durfte er nicht ohne eigene Vergewisserung darauf vertrauen, dass die für das Sonderkonto bestehenden Zeichnungsbefugnisse den Anforderungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV entsprachen. Der Beklagte musste, wenn nicht schon Manipulationen der Fondsgesellschaft, so doch aber jedenfalls gewärtigen, dass es bei der Einrichtung des Sonderkontos infolge von Unachtsamkeiten oder Irrtümern auf Seiten der Bank oder der Fondsgesellschaft zu Fehlern bei der Einräumung der Zeichnungsrechte kommen konnte.
Hiernach oblag dem Beklagten die Überprüfung, ob die geschäftsführenden Gesellschafter nur mit ihm gemeinschaftlich für das Sonderkonto verfügungsberechtigt waren. Diese Prüfungspflicht bestand zu dem Zeitpunkt, ab dem die Anlage "einsatzbereit" war (Senat aaO S. 2451 Rn. 26). Die Mittelverwendungskontrolle musste naturgemäß sichergestellt sein, bevor die Anleger Beteiligungen zeichneten und Zahlungen auf ihre Einlagen leisteten.
b) Allerdings beschränkten sich die Pflichten des Beklagten nicht auf diese Überprüfung und darauf, der Fondsgesellschaft gegenüber auf die Beseitigung der Mängel hinzuwirken. Gegenüber Anlegern, die dem Fonds nach Aufnahme seiner Tätigkeit beitraten, war der Beklagte darüber hinaus verpflichtet, in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte (vgl. Senat aaO S. 2451 f Rn. 29 f). Er konnte nicht ausschließen, dass es bereits vor dem Beitritt § 1 Abs. 3 MVKV widersprechende Auszahlungen von dem Sonderkonto gegeben hatte, durch die das Gesellschaftsvermögen - auch zum Nachteil der künftig beitretenden Gesellschafter - fortwirkend vermindert worden war. In dieser Situation hätte der Beklagte seinen vorvertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Beitrittsinteressenten nicht allein dadurch genügt, für eine ordnungsgemäße Mittelverwendungskontrolle in der Zukunft Sorge zu tragen. Da eine zweckwidrige Minderung des Gesellschaftsvermögens bereits eingetreten sein konnte, hätte er nach Aufnahme der Tätigkeit des Fonds vielmehr unverzüglich zusätzlich darauf hinweisen müssen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte. Er hätte deshalb auf eine Änderung des Prospekts drängen müssen und Anleger, die vor einer derartigen Prospektänderung ihr Interesse an einer Beteiligung bekundeten, in geeigneter anderer Weise unterrichten müssen.
Der Senat verkennt nicht, dass es für den Beklagten - anders als in den Fällen, in denen ein Treuhandkommanditist zum Mittelverwendungskontrolleur bestimmt ist und daher zwangsläufig in unmittelbaren Kontakt zu den beitrittswilligen Anlegern tritt - durchaus mit Mühen verbunden gewesen wäre, die Anlageinteressenten rechtzeitig vor Tätigung der Anlage zu informieren. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ist jedoch davon auszugehen, dass dem Beklagten zumutbare und hinreichend erfolgversprechende Mittel zur Verfügung standen. So hätte er insbesondere den Vertrieb und notfalls die Fachpresse über die unterbliebene Mittelverwendungskontrolle informieren können. Es wird Sache des Beklagten sein, darzutun und gegebenenfalls zu beweisen, dass ihm die Erfüllung dieser Informationspflichten nicht möglich war.
c) Ein sich aus der Verletzung dieser Pflicht ergebender Anspruch der Anleger gegen den Beklagten ist auf Ersatz des so genannten Zeichnungsschadens gerichtet (Senat aaO S. 2452 Rn. 33 ff).
d) Seine Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz scheitert nicht an der Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV. Diese Regelung ist wegen Verstoßes gegen § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam (Senatsurteil vom 19. November 2009 - III ZR 108/08 - ZIP 2009, 2446, 2447 f Rn. 11 ff).
2. Da noch ergänzende Feststellungen erforderlich sind, ist der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 563 Abs. 1, 3 ZPO).
Schlick Dörr Herrmann
Hucke Tombrink
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057833
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100211
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III ZR 12/09
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Urteil
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§ 276 BGB, § 280 BGB, § 309 Nr 7b BGB, § 311 Abs 2 BGB, § 328 BGB
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vorgehend OLG München, 16. Dezember 2008, Az: 18 U 2062/08, Urteil vorgehend LG München I, 28. Dezember 2007, Az: 4 O 22501/06
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DEU
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Kapitalanlagegeschäft: Haftung des als Mittelverwendungskontrolleur eingesetzten Wirtschaftsprüfers wegen unterlassener Prüfung der Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Verwendungskontrolle
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Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. Dezember 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Klägerin macht gegen den beklagten Wirtschaftsprüfer Ersatzansprüche im Zusammenhang mit einer Beteiligung an der F. Z. GbR geltend, die sie am 26. Januar 2004 zeichnete.
Die Anlage wurde anhand eines von der Fondsgesellschaft herausgegebenen Emissionsprospekts vertrieben. Unter anderem nach Nummer 10 der darin enthaltenen Erläuterungen der rechtlichen Grundlagen des Fonds hatte zur Absicherung der Kapitalanleger ein Wirtschaftsprüfer die Kontrolle über die zweckgerechte Verwendung der Gesellschaftereinlage übernommen. Dem lag ein im Prospekt abgedruckter Mittelverwendungskontrollvertrag zwischen der F. Z. GbR und dem Wirtschaftsprüfer zugrunde. Dieser Vertrag enthielt insbesondere folgende Regelungen:
"§ 1 Sonderkonto
(1) Die Fonds-Gesellschaft richtet ein Sonderkonto bei einem Kreditinstitut ein, über das sie nur gemeinsam mit dem Beauftragten verfügen kann ("Sonderkonto"). Auf das Sonderkonto sind die Gesellschaftereinlagen einzuzahlen und die von der Fonds-Gesellschaft ausgereichten Darlehen zu tilgen.
…
(3) Zahlungen aus dem Sonderkonto dürfen nur entweder zur Begleichung von Kosten der Fonds-Gesellschaft oder zur Ausreichung von Darlehen geleistet werden.
Zahlungen zur Ausreichung eines Darlehens dürfen nur geleistet werden, wenn…
…
§ 4 Haftung
(1) Dieser Vertrag wird als Vertrag zu Gunsten Dritter, und zwar zu Gunsten aller Gesellschafter abgeschlossen. Die Gesellschafter können aus diesem Vertrag eigene Rechte herleiten.
(2) Schadensersatzansprüche gegen den Beauftragten können nur geltend gemacht werden, wenn die Fonds-Gesellschaft oder die Gesellschafter nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermögen.
…"
Die Mittelverwendungskontrolle sollte nach dem Prospekt von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer durchgeführt werden, der "aus standesrechtlichen Gründen" nicht genannt wurde.
Der Beklagte wurde im März 2003 als Mittelverwendungskontrolleur gewonnen. Er erstellte zudem ein Prospektprüfungsgutachten. Für das Sonderkonto, auf das die Anleger ihre Gesellschaftereinlagen einzahlten, war er gesamtvertretungsberechtigt. Drei der geschäftsführenden Gesellschafter waren demgegenüber einzeln zeichnungsbefugt. Erst nach dem 1. Dezember 2004 wurden deren Zeichnungsrechte dahingehend geändert, dass sie nur gemeinsam mit dem Beklagten über das Konto verfügen konnten.
Nachdem Mitte Dezember 2004 wirtschaftliche Schwierigkeiten der Fondsgesellschaft offen gelegt wurden, befindet sich diese seit Ende des Jahres 2005 in Liquidation. Die Klägerin begehrt von dem Beklagten im Wege des Schadensersatzes unter anderem die Rückzahlung der von ihr geleisteten Einlage abzüglich der aus der Liquidation erhaltenen Beträge Zug um Zug gegen Abtretung des Anspruchs auf Auszahlung weiteren Liquidationserlöses sowie die Feststellung, dass der Beklagte sie von sämtlichen Verpflichtungen aus der Beteiligung freizustellen habe.
Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche weiter.
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Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts scheiden Ansprüche der Klägerin aus Prospekthaftung aus. Der Beklagte sei nicht prospektverantwortlich gewesen und habe auch kein persönliches Vertrauen in Anspruch genommen.
Die Klägerin habe gegen den Beklagten auch keinen Schadensersatzanspruch gemäß § 311 Abs. 2, 3 BGB wegen Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten. Der Beklagte sei lediglich verpflichtet gewesen, künftige Anleger über ihm bekannte oder sich ihm aufdrängende Auffälligkeiten zu informieren. Eine Aufklärungspflicht habe insbesondere nicht bezüglich der Zeichnungsbefugnisse für das Sonderkonto bestanden. Zwar sei dieses mangels einer Vereinbarung mit der Bank, dass Verfügungen nur unter Mitwirkung des Beklagten zulässig sein sollten, nicht vertragsgerecht eingerichtet worden. Jedoch habe die Klägerin nicht den Nachweis erbracht, dass dem Beklagten dies zum Zeitpunkt ihres Beitritts zum Fonds bekannt gewesen sei oder es sich ihm hätte aufdrängen müssen. Der Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, künftige Anleger darauf hinzuweisen, dass er nicht überprüft habe, ob ein dem Mittelverwendungskontrollvertrag entsprechendes Sonderkonto eingerichtet worden sei. Dem Vertrag sei eine diesbezügliche Kontrollpflicht nicht zu entnehmen. Ansprüche aus einer Pflichtverletzung im Zusammenhang mit der Abwicklung des Mittelverwendungskontrollvertrags schieden aus, da sie nicht auf den von der Klägerin begehrten Ersatz des Zeichnungsschadens gerichtet seien. Schließlich kämen auch Ansprüche auf deliktsrechtlicher Grundlage nicht in Betracht.
II.
Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Der Senat hat mit seinem Urteil vom 19. November 2009 (III ZR 109/08 - ZIP 2009, 2449), das denselben Beklagten, denselben Fonds, denselben Mittelverwendungskontrollvertrag und einen auch ansonsten im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalt betraf, die Pflichten des Beklagten in entscheidenden Punkten abweichend beurteilt. Danach gilt zusammengefasst Folgendes:
1. a) Den Beklagten traf nach dem Vertrag über die Mittelverwendungskontrolle (MVKV) gegenüber den Anlegern unter anderem die Verpflichtung zu überprüfen, ob die Konditionen des Sonderkontos mit den in § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV genannten Kriterien übereinstimmten. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hatte sich der Beklagte zu vergewissern, dass sämtliche Verfügungsberechtigten nur gemeinsam mit ihm zeichnungsbefugt waren (Senat aaO S. 2450 Rn. 17 ff). Dies folgt aus dem Zweck des Mittelverwendungskontrollvertrags.
Die vom Beklagten übernommene Funktion bestand darin, die Anleger davor zu schützen, dass die geschäftsführenden Gesellschafter Zahlungen von dem Sonderkonto vornehmen, ohne dass die in § 1 Abs. 3 MVKV genannten Voraussetzungen vorliegen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, musste er sicherstellen, dass er die ihm obliegende Kontrolle über den Mittelabfluss auch tatsächlich ausüben konnte. Da ein Konto, über das nur unter Mitwirkung des Beklagten verfügt werden konnte, eine zentrale Bedingung des Mittelverwendungskontrollvertrags darstellte und Voraussetzung für die effektive Verwirklichung seines Schutzzwecks war, durfte er nicht ohne eigene Vergewisserung darauf vertrauen, dass die für das Sonderkonto bestehenden Zeichnungsbefugnisse den Anforderungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 MVKV entsprachen. Der Beklagte musste, wenn nicht schon Manipulationen der Fondsgesellschaft, so doch aber jedenfalls gewärtigen, dass es bei der Einrichtung des Sonderkontos infolge von Unachtsamkeiten oder Irrtümern auf Seiten der Bank oder der Fondsgesellschaft zu Fehlern bei der Einräumung der Zeichnungsrechte kommen konnte.
Hiernach oblag dem Beklagten die Überprüfung, ob die geschäftsführenden Gesellschafter nur mit ihm gemeinschaftlich für das Sonderkonto verfügungsberechtigt waren. Diese Prüfungspflicht bestand zu dem Zeitpunkt, ab dem die Anlage "einsatzbereit" war (Senat aaO S. 2451 Rn. 26). Die Mittelverwendungskontrolle musste naturgemäß sichergestellt sein, bevor die Anleger Beteiligungen zeichneten und Zahlungen auf ihre Einlagen leisteten.
b) Allerdings beschränkten sich die Pflichten des Beklagten nicht auf diese Überprüfung und darauf, der Fondsgesellschaft gegenüber auf die Beseitigung der Mängel hinzuwirken. Gegenüber Anlegern, die dem Fonds nach Aufnahme seiner Tätigkeit beitraten, war der Beklagte darüber hinaus verpflichtet, in geeigneter Weise darauf hinzuweisen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte (vgl. Senat aaO S. 2451f Rn. 29 f). Er konnte nicht ausschließen, dass es bereits vor dem Beitritt § 1 Abs. 3 MVKV widersprechende Auszahlungen von dem Sonderkonto gegeben hatte, durch die das Gesellschaftsvermögen - auch zum Nachteil der künftig beitretenden Gesellschafter - fortwirkend vermindert worden war. In dieser Situation hätte der Beklagte seinen vorvertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Beitrittsinteressenten nicht allein dadurch genügt, für eine ordnungsgemäße Mittelverwendungskontrolle in der Zukunft Sorge zu tragen. Da eine zweckwidrige Minderung des Gesellschaftsvermögens bereits eingetreten sein konnte, hätte er nach Aufnahme der Tätigkeit des Fonds vielmehr unverzüglich zusätzlich darauf hinweisen müssen, dass die im Prospekt werbend herausgestellte Mittelverwendungskontrolle bislang nicht stattgefunden hatte. Er hätte deshalb auf eine Änderung des Prospekts drängen müssen und Anleger, die vor einer derartigen Prospektänderung ihr Interesse an einer Beteiligung bekundeten, in geeigneter anderer Weise unterrichten müssen.
Der Senat verkennt nicht, dass es für den Beklagten - anders als in den Fällen, in denen ein Treuhandkommanditist zum Mittelverwendungskontrolleur bestimmt ist und daher zwangsläufig in unmittelbaren Kontakt zu den beitrittswilligen Anlegern tritt - durchaus mit Mühen verbunden gewesen wäre, die Anlageinteressenten rechtzeitig vor Tätigung der Anlage zu informieren. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ist jedoch davon auszugehen, dass dem Beklagten zumutbare und hinreichend erfolgversprechende Mittel zur Verfügung standen. So hätte er insbesondere den Vertrieb und notfalls die Fachpresse über die unterbliebene Mittelverwendungskontrolle informieren können. Es wird Sache des Beklagten sein, darzutun und gegebenenfalls zu beweisen, dass ihm die Erfüllung dieser Informationspflichten nicht möglich war.
c) Ein sich aus der Verletzung dieser Pflicht ergebender Anspruch der Anleger gegen den Beklagten ist auf Ersatz des so genannten Zeichnungsschadens gerichtet (Senat aaO S. 2452 Rn. 33 ff).
d) Seine Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz scheitert nicht an der Subsidiaritätsklausel des § 4 Abs. 2 MVKV. Diese Regelung ist wegen Verstoßes gegen § 309 Nr. 7 Buchst. b BGB unwirksam (Senatsurteil vom 19. November 2009 - III ZR 108/08 - ZIP 2009, 2446, 2447 f Rn. 11 ff).
2. Da noch ergänzende Feststellungen erforderlich sind, ist der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 563 Abs. 1, 3 ZPO).
Schlick Dörr Herrmann
Hucke Tombrink
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057835
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100210
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IV ZR 36/09
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Beschluss
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§ 29 ZPO, § 29c ZPO, § 543 Abs 2 S 1 Nr 1 ZPO, § 543 Abs 2 S 1 Nr 2 Alt 1 ZPO
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vorgehend BGH, 18. November 2009, Az: IV ZR 36/09, Beschluss vorgehend OLG München, 30. Januar 2009, Az: 25 U 3097/07, Urteil vorgehend LG Landshut, 1. März 2007, Az: 22 O 3636/05, Urteil
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DEU
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Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision: Zulassungsgründe für eine Klärung des Gerichtsstands bei Haustürgeschäften und des Gerichtsstands des Erfüllungsorts
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Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 25. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 30. Januar 2009 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Streitwert: 516.882,35 €
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Die Revision ist gemäß § 552a ZPO durch Beschluss zurückzuweisen, weil die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nicht vorliegen (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) und das Rechtsmittel darüber hinaus keine Aussicht auf Erfolg bietet. Zur Begründung wird auf den Beschluss vom 18. November 2009 Bezug genommen (§ 552a Satz 2, § 522 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO).
Der Schriftsatz des Klägervertreters vom 26. Januar 2010 vermag keine - weiteren - Zulassungsgründe aufzuzeigen. Ergänzend weist der Senat noch auf Folgendes hin:
Die Annahme des Berufungsgerichts, dass der Zessionar sich nicht auf den Gerichtsstand des § 29c ZPO berufen könne, steht im Einklang mit dessen Schutzzweck. Der Unternehmer soll durch § 29c ZPO benachteiligt werden, weil er am Wohnsitz des Verbrauchers die Initiative zum Vertragsschluss ergriffen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Januar 2003 - X ARZ 362/02 - NJW 2003, 1190 unter III 1); dieser Gedanke greift im Verhältnis zum Zessionar gerade nicht. Durch die Abtretung wird - vom Verbraucher veranlasst - eine neue Situation geschaffen.
Auf die Ausführungen zur Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000 (EuGVVO) kommt es hier nicht an, da deren Anwendungsbereich nach den von der Revision nicht hinreichend angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht eröffnet ist.
Eine Zuständigkeit nach § 29 ZPO für Schadensersatzansprüche aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen vermag der Kläger weiterhin nicht aufzuzeigen. Soweit hierbei Bezug auf einen selbstständigen Beratungs- und Auskunftsvertrag oder eine deliktische Haftung genommen wird, hat das Berufungsgericht aus tatsächlichen Gründen zutreffend eine Zuständigkeit nach §§ 29, 32 ZPO verneint.
Terno Seiffert Dr. Kessal-Wulf
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100057837
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100211
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IX ZA 46/09
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Beschluss
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§ 295 Abs 1 Nr 3 InsO, § 295 Abs 2 InsO
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vorgehend LG Landau (Pfalz), 11. November 2009, Az: 4 T 63/09, Beschluss vorgehend AG Landau (Pfalz), 1. Juli 2009, Az: 3 IN 151/02
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DEU
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Restschuldbefreiung: Verzögerte Anzeige eines Wohnsitzwechsels als Versagungsgrund
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Der Antrag des Schuldners auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Durchführung einer Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 11. November 2009 wird abgelehnt.
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Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 114 ZPO). Die von den Vordergerichten der Entscheidung über die Versagung der Restschuldbefreiung zugrunde gelegten beiden Obliegenheitsverletzungen werden durch das Vorbringen des Schuldners nicht berührt.
1. Die Vordergerichte haben die Versagung der Restschuldbefreiung auf den Umstand gestützt, dass der Schuldner seinen nach L. verlegten Wohnsitz monatelang dem Treuhänder nicht angezeigt hat. Zwar mag es sein, dass der Treuhänder frühere Wohnsitzänderungen des Schuldners trotz ordnungsgemäßer Mitteilung nicht beachtet hat. Nach den durch den vorliegenden Antrag nicht in Frage gestellten Feststellungen der Vordergerichte hat es der Schuldner jedoch versäumt, seinen nach L. verlegten Wohnsitz dem Treuhänder und dem Insolvenzgericht mitzuteilen. Da die von § 295 Abs. 1 Nr. 3 InsO verlangte unverzügliche Anzeige etwa binnen zwei Wochen zu erfolgen hat (HmbKomm-InsO/Streck, 3. Aufl. § 295 Rn. 14), konnte die Versagung der Restschuldbefreiung auf diese Obliegenheitsverletzung gestützt werden.
2. Überdies haben die Vordergerichte angenommen, dass der selbständig tätige Schuldner der aus § 295 Abs. 2 InsO folgenden Obliegenheit nicht genügt hat, die Insolvenzgläubiger durch Zahlungen an den Treuhänder so zu stellen, wie wenn er ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre. Mit dieser die Versagung der Restschuldbefreiung selbständig tragenden Erwägung setzt sich der Schuldner nicht auseinander (vgl. BGH, Urt. v. 13. November 1997 - VII ZR 199/96, NJW 1998, 1081, 1082 a.E., Beschl. v. 29. September 2005 - IX ZB 430/02, WM 2006, 59, 60).
Ganter Gehrlein Vill
Lohmann Fischer
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