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---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
JURE100060020
|
BVerwG
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8. Senat
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20100324
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8 B 95/09
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Beschluss
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§ 5 Abs 1 Buchst b VermG
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vorgehend VG Berlin, 16. Juni 2009, Az: 22 A 190.07, Urteil
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DEU
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Widmung zum Gemeingebrauch als Rückübertragungsausschlussgrund
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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 16. Juni 2009 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg, da die geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO nicht vorliegen.
1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, da die Beschwerde keine bestimmte, höchstrichterlich noch ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts formuliert, der eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukäme und die für die Revisionsentscheidung entscheidungserheblich wäre (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14).
Die für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage,
ob der Ausschlussgrund gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. b VermG auch dann erfüllt ist, wenn der Gemeingebrauch durch förmliche Einziehungsverfügung der Straßenbehörde aufgehoben wurde und ein möglicher neuer Gemeingebrauch überhaupt erst mehr als fünf Jahre nach Aufhebung der Widmung neu begründet wurde,
sowie die daran anschließenden Fragen,
ob und inwieweit nach einer förmlichen Entwidmung einer "faktischen" Widmung nach DDR-Recht das Verfügungsverbot gemäß § 3 VermG einer solchen förmlichen Neu-Widmung nach bundesdeutschem Straßenrecht entgegensteht,
ob der Ausschlussgrund des Gemeingebrauchs gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. b VermG auch dann erfüllt ist, wenn Teile einer (vermeintlich neu gewidmeten) Verkehrsfläche (auf Straßenhöhe und im Luftraum) mit einem Gebäude bzw. Gebäudeteilen bebaut sind und somit der Allgemeinheit nicht zur Verfügung stehen, und ob eine (neue) Teilwidmung eines Grundstücks die Rückgabe des ganzen Grundstücks, also auch der nichtgewidmeten Teile ausschließt,
und ob es gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. b VermG relevante zivilrechtliche Nutzungsbindungen mit widmungsähnlichem Charakter geben kann, die erst nach Inkrafttreten des Vermögensgesetzes begründet wurden,
würden sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen, weil sie nur eine von zwei das angegriffene Urteil jeweils selbstständig tragenden Erwägungen betreffen. Das Verwaltungsgericht begründet die Klageabweisung nicht allein damit, dass kein Wiederaufgreifensgrund nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vorliege, da der Restitutionsausschlussgrund der Widmung zum Gemeingebrauch nach § 5 Abs. 1 Buchst. b VermG entgegen der Auffassung der Klägerin nicht entfallen sei. Es stützt seine Entscheidung außerdem auf die davon unabhängige, selbstständig tragende Erwägung, der Wiederaufgreifensantrag der Klägerin sei nach § 51 Abs. 2 VermG unzulässig, weil diese nicht ohne grobes Verschulden außerstande gewesen sei, sich bereits im früheren vermögensrechtlichen Verfahren auf den geltend gemachten Wegfall der Widmung zum Gemeingebrauch zu berufen. Beruht das angegriffene Urteil auf mehreren selbstständig tragenden Gründen, können Angriffe gegen einen von ihnen der Revision nur zum Erfolg verhelfen, wenn auch alle übrigen, die Entscheidung alternativ tragenden Erwägungen mit wirksamen Rügen angegriffen werden. Das ist hier nicht geschehen.
Die von der Beschwerde als rechtsgrundsätzlich aufgeworfenen Fragen beziehen sich ausschließlich auf den ersten der beiden selbstständig tragenden Entscheidungsgründe. Sie wenden sich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Restitutionsausschlussgrund des § 5 Abs. 1 Buchst. b VermG sei weder mit der Einziehung der über das streitige Grundstück verlaufenden Straße noch durch die investive Veräußerung des Grundstücks entfallen, weil die bereits zum Stichtag des § 5 Abs. 2 VermG bestehende Widmung für den öffentlichen Fußgängerverkehr trotz der Einziehungsverfügung erhalten geblieben oder allenfalls für die Dauer der Bauzeit unterbrochen worden sei. Der Verfügungsberechtigte habe lediglich die straßenrechtliche Sicherung der Zweckbestimmung durch eine privatrechtlich vereinbarte ersetzt. Die davon unabhängige, ebenfalls zum Verneinen des Wiederaufgreifensanspruchs führende Erwägung, die Klägerin habe nicht ohne grobes Verschulden i.S. des § 51 Abs. 2 VwVfG versäumt, sich bereits im früheren Verfahren auf den Wegfall des Restitutionsausschlussgrundes zu berufen, wird mit der Grundsatzrüge nicht angegriffen.
2. Insoweit hat die Beschwerde lediglich eine Divergenzrüge gemäß § 133 Abs. 1 Nr. 2 VwGO erhoben, die jedoch nicht durchgreift.
Die geltend gemachte Abweichung vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juli 1989 - BVerwG 7 C 78.88 - (BVerwGE 82, 272 <277> = Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 22) liegt nicht vor. Dieses Urteil wird nicht von der Erwägung getragen, dem Betroffenen werde "nur ausnahmsweise vorzuhalten sein", von der Behörde nicht ermittelte Unterlagen nicht selbst in das frühere Verfahren eingeführt zu haben. Es formuliert diesen Satz nur als obiter dictum. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht den Ausnahmecharakter groben Verschuldens in einem solchen Fall auch nicht rechtsgrundsätzlich verneint. Vielmehr hat es ein grobes Verschulden der Klägerin im Hinblick darauf bejaht, dass sie die von der Behörde nicht berücksichtigten Umstände bereits vor dem Abschluss des vermögensrechtlichen Verfahrens kannte, es aber trotzdem unterließ, den daraus abgeleiteten Einwand des Wegfalls der Widmung zum Gemeingebrauch rechtzeitig geltend zu machen.
Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts erfuhr die Klägerin bereits im Rahmen der Anhörung zum Erlass des Investitionsvorrangbescheides vom 12. August 1994 und endgültig mit dessen Zustellung am 25. August 1994, dass die investive Veräußerung des bisherigen Straßengrundstücks bevorstand, die bisherige Straßenfläche vom Erwerber aufgrund privatrechtlicher Vereinbarungen als Arkade für den öffentlichen Fußgängerverkehr auszugestalten und daher die Einziehung der Straße absehbar war. Dennoch erhob die Klägerin auch nach Eintreten der Bestandskraft des Investitionsvorrangbescheides, der Einziehung der Straße im November 1994 und der Veräußerung des Grundstücks im März 1995 in den bis zum Abschluss des vermögensrechtlichen Verfahrens verbleibenden Jahren nicht den nahe liegenden Einwand, im Zeitpunkt der investiven Veräußerung habe der Ausschlussgrund der Widmung zum Gemeingebrauch nicht mehr bestanden. Sie unterließ es auch, mit dieser Begründung den das vermögensrechtliche Verfahren abschließenden Bescheid vom 13. Februar 1998 anzufechten. Dieses Versäumnis hat das Verwaltungsgericht als grobes Verschulden der Klägerin gegen sich selbst eingeordnet. Einwände gegen die Subsumtion können keine Divergenz begründen.
Eine Divergenz zum Urteil vom 27. Februar 2002 - BVerwG 8 C 1.01 - (BVerwGE 116, 67 <69> = Buchholz 428 § 5 VermG Nr. 34) besteht ebenfalls nicht. Wie diese Entscheidung geht das angegriffene Urteil davon aus, dass eine die Rückübertragung ausschließende Widmung zum Gemeingebrauch gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 VermG bereits zum Stichtag des 29. September 1990 vorgelegen haben muss. Entgegen dem Beschwerdevorbringen stellt das Verwaltungsgericht auch keinen abstrakten Rechtssatz dahingehend auf, dass § 5 Abs. 1 VermG einen Vorrang bestimmter rechtlicher oder tatsächlicher Veränderungen nach dem Stichtag bezwecke. Es prüft und bejaht lediglich die Kontinuität der Widmung für den Gemeingebrauch nach dem Stichtag des § 5 Abs. 2 VermG. Die dem zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen hat die Beschwerde nicht mit wirksamen Verfahrensrügen angegriffen. Bedenken gegen die Richtigkeit der Rechtsanwendung nicht mit der Divergenzrüge geltend zu machen.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO abgesehen, da sie nicht dazu beitragen kann, die Voraussetzungen der Revisionszulassung weiter zu klären.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060153
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BVerwG
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5. Senat
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20100310
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5 B 4/10, 5 B 4/10 (5 B 64/09, 5 B 65/09)
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Beschluss
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§ 152a Abs 2 S 5 VwGO, § 67 Abs 4 VwGO
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vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 5. Oktober 2009, Az: 12 A 2169/09, Beschluss
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DEU
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Anhörungsrüge: Vertretungserfordernis; Unzulässigkeit einer erneuten Anhörungsrüge
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Der Antrag auf Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten bzw. auf Beiordnung eines Notanwalts wird abgelehnt.
Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den Beschluss vom 18. Dezember 2009 wird verworfen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rügeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
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1. Soweit im Schreiben vom 16. Januar 2010 ein Antrag des Klägers auf Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten im Zusammenhang mit der Bewilligung von Prozesskostenhilfe bzw. auf Beiordnung eines sog. Notanwalts zu erblicken sein sollte, ist dieser Antrag in jedem Fall deshalb abzulehnen, weil das Begehren des Klägers aus den nachfolgend dargelegten Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO, § 114 Satz 1, § 121 Abs. 1 ZPO bzw. § 173 VwGO, § 78b ZPO).
2. Der mit Schreiben vom 16. Januar 2010 ausdrücklich eingelegte "Einspruch" des Klägers ist bei verständiger Würdigung seines Begehrens als Anhörungsrüge nach § 152a VwGO gegen den unter den Aktenzeichen BVerwG 5 B 64.09 und 5 B 65.09 erlassenen Beschluss des Senats vom 18. Dezember 2009 zu werten. Denn allein dieser Rechtsbehelf könnte statthaft sein und zu der vom Kläger offensichtlich erstrebten Überprüfung des angefochtenen Beschlusses führen.
Die Anhörungsrüge ist unzulässig und damit zu verwerfen (§ 152a Abs. 4 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat entgegen § 152a Abs. 2 Satz 6 VwGO nicht dargelegt, dass der Senat seinen Anspruch auf rechtliches Gehör in dem angegriffenen Beschluss vom 18. Dezember 2009 in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Er hat - was erforderlich gewesen wäre - nicht aufgezeigt, dass und welchen konkreten entscheidungserheblichen Vortrag von ihm der Senat bei der Entscheidung über seine "Beschwerden" gegen die Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 2009 - 12 A 2169/09 - und vom 28. Oktober 2009 - 12 A 2374/09 - nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in seine Erwägungen einbezogen hat. Hierfür gibt es auch sonst keine Anhaltspunkte. Aus den Ausführungen des Klägers im Schreiben vom 16. Januar 2010 ergibt sich nur, dass er den Beschluss des Senats in der Sache für unrichtig hält. Damit lässt sich indessen eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht begründen. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gebietet nur, dass das Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung in Erwägung zieht (stRspr, vgl. z.B. BVerfGE 75, 369 <381 f.>). Das Gericht muss jedoch dem zur Kenntnis genommenen und in Erwägung gezogenen Vorbringen nicht auch in der Sache folgen, sondern kann aus Gründen des materiellen Rechts oder des Prozessrechts zu einem anderen Ergebnis gelangen, als die Beteiligten es für richtig halten (vgl. Beschluss vom 8. Juni 2009 - BVerwG 5 PKH 6.09 - juris unter Bezugnahme auf BVerfG, NVwZ 2005, 204). Insbesondere lässt die Nichterwähnung einzelner Argumente des Beteiligtenvortrages für sich nicht auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör schließen, da grundsätzlich davon auszugehen ist, dass ein Gericht - wie auch bei dem in Rede stehenden Beschluss vom 18. Dezember 2009 geschehen - das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Es ist nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Dies ist vor allem dann nicht erforderlich, wenn das Vorbringen nach seinem Rechtsstandpunkt unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfG, NVwZ-RR 2004, 3). Im Übrigen ist es nicht Sinn des Rechtsbehelfs nach § 152a VwGO, den Senat zu einer Ergänzung oder Erläuterung seines Beschlusses zu veranlassen (vgl. BTDrucks 15/3706 S. 16).
Darüber hinaus wäre die Anhörungsrüge auch deshalb unzulässig, weil sie nicht innerhalb der Zweiwochenfrist des § 152a Abs. 2 Satz 1 VwGO durch einen Rechtsanwalt oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule erhoben worden ist. Die gesetzlichen Regelungen über den anwaltlichen Vertretungszwang vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten uneingeschränkt auch für die Anhörungsrüge (§ 152a Abs. 2 Satz 5, § 67 Abs. 4 VwGO; s. Beschluss vom 10. Februar 2006 - BVerwG 5 B 7.06 - juris). Der Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 1. Februar 2010 ist aber erst am 5. Februar 2010 und damit nach Ablauf der Zweiwochenfrist (vgl. § 152a Abs. 2 Satz 3, § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB) beim Bundesverwaltungsgericht eingegangen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Das Absehen von der Erhebung von Gerichtskosten für das Rügeverfahren beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 3 GKG.
4. Die Entscheidung über die Anhörungsrüge ist nach § 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO unanfechtbar. Die Unanfechtbarkeit schließt eine erneute Anhörungsrüge aus (vgl. Beschlüsse vom 19. Juli 2007 - BVerwG 5 B 160.07 und 5 B 161.07 - und vom 16. April 2007 - BVerwG 7 B 3.07 - jeweils juris).
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060245
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BGH
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5. Strafsenat
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20100317
|
2 ARs 45/10
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Beschluss
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§ 138 Abs 1 StGB, § 138 Abs 2 StGB
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vorgehend BGH, 13. Januar 2010, Az: 5 StR 464/09, Beschluss nachgehend BGH, 19. Mai 2010, Az: 5 StR 464/09, Urteil
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DEU
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Strafbarkeit der Nichtanzeige geplanter Straftaten bei Verdacht der Beteiligung an geplanter Straftat
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Der beabsichtigten Entscheidung steht, soweit ersichtlich, Rechtsprechung des Senats nicht entgegen. An möglicherweise entgegenstehender Rechtsprechung würde der Senat nicht festhalten.
Der Senat tritt den Erwägungen des anfragenden Senats in Rdn. 10 ff. des Beschlusses vom 13. Januar 2010 jedenfalls im Ergebnis bei. Ob die Begründung für eine (eindeutige) Verurteilung wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten gemäß § 138 StGB trotz fortbestehenden Tatverdachts einer Beteiligung an der geplanten Katalogtat (allein) auf die Annahme eines normativen Stufenverhältnisses oder (auch) auf konkurrenzrechtliche Überlegungen zu stützen ist, kann hierbei offen bleiben.
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Herr RiBGH Prof. Dr. Schmitt
ist wegen Urlaubs an der
Unterschriftsleistung gehindert.
Cierniak Rissing-van Saan
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060248
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BGH
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2. Strafsenat
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20100310
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2 StR 34/10
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Beschluss
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§ 64 StGB vom 16.07.2007, § 35 BtMG, UnterbrSiG
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vorgehend LG Wiesbaden, 21. Oktober 2009, Az: 3321 Js 30297/08 - 1 KLs, Urteil
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DEU
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Entscheidung über Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Vorrang vor Zurückstellung der Strafvollstreckung für betäubungsmittelabhängige Täter
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 21. Oktober 2009, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit eine Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist,
b) in den Aussprüchen über die Zustimmung zur Zurückstellung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe sowie die Anrechnung der stationären Behandlung des Angeklagten in der E.-W.-K. - Psychosomatische Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen - in H.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "gemeinschaftlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis" unter Einbeziehung anderweit verhängter Strafen und Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es in der Urteilsformel die Zustimmung zur Zurückstellung der Vollstreckung dieser Strafe erteilt sowie die Anrechnung der stationären Behandlung des Angeklagten in einer psychosomatischen Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen angeordnet.
Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge sowie die unausgeführte Rüge der Verletzung formellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweist sich, dass das Landgericht keine Entscheidung über die Unterbringung des betäubungsmittelabhängigen Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB getroffen hat. Die Zustimmung zur Zurückstellung der Vollstreckung der erkannten Strafe gemäß § 35 BtMG ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Denn die Unterbringung nach § 64 StGB geht dieser dem Vollstreckungsverfahren vorbehaltenen Maßnahme vor; von der Anordnung der Unterbringung darf daher nicht abgesehen werden, weil eine Entscheidung nach § 35 BtMG ins Auge gefasst ist (vgl. Senat, Beschl. v. 24. Juni 2009 - 2 StR 170/09; BGH StV 2008, 405, 406). Hieran hat sich durch die Neufassung des § 64 StGB durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I S. 1327) grundsätzlich nichts geändert (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 64 Rdn. 26). Zwar ist die Maßregel nach der Neufassung der Vorschrift nicht mehr zwingend anzuordnen. Auch besteht im vorliegenden Fall die Besonderheit, dass der Angeklagte sich zur Zeit der tatrichterlichen Hauptverhandlung in stationärer Behandlung in einer psychosomatischen Fachklinik für Abhängigkeitserkrankungen befand, nachdem die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung aus der einbezogenen Vorverurteilung zurückgestellt hatte. Das Gericht muss jedoch das ihm nunmehr in § 64 Satz 1 StGB eingeräumte Ermessen auch tatsächlich ausüben und dies in den Urteilsgründen kenntlich machen (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 73 f.; 2009, 235; Beschl. v. 9. September 2008 - 3 StR 337/08). Daran fehlt es hier.
Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; BGHSt 37, 5; BGH NStZ-RR 2008, 107). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGHSt 38, 362 f.). Über die Maßregelanordnung ist daher unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246 a Satz 2 StPO) neu zu entscheiden.
2. Der Senat kann ausschließen, dass der Tatrichter bei Anordnung der Unterbringung auf niedrigere Strafen erkannt hätte. Der Strafausspruch kann deshalb bestehen bleiben.
3. Der Senat hat die in die Urteilsformel aufgenommenen Entscheidungen des Tatrichters über die Zurückstellung der Strafvollstreckung (§ 35 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2 BtMG) und die Anrechnung seines Aufenthaltes in der E.-W.-K. auf die erkannte Gesamtfreiheitsstrafe (§ 36 Abs. 1 BtMG) zur Klarstellung aufgehoben, da diese in sachlogischem Widerspruch zu der vorrangig zu prüfenden Frage einer Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB stehen.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060249
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BGH
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3. Strafsenat
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20100302
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3 StR 496/09
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Beschluss
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§ 55 StGB
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vorgehend LG Düsseldorf, 19. März 2009, Az: 3 KLs 13/08 - 30 Js 2116/08, Urteil
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DEU
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Nachträgliche Gesamtstrafenbildung: Zäsurwirkung durch eine erledigte Strafe; erneute Gesamtstrafenbildung nach vorheriger Aufhebung im Revisionsverfahren
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1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 19. März 2009
a) im Schuldspruch gegen den Angeklagten B. dahin geändert, dass der Angeklagte im Fall II. 1. der Urteilsgründe des besonders schweren Raubes schuldig ist;
b) in den Aussprüchen über die Gesamtfreiheitsstrafen gegen beide Angeklagte mit den zugehörigen Feststellungen und der Maßgabe aufgehoben, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafen sowie auch über die Kosten der Rechtsmittel nach den §§ 460, 462 StPO zu treffen ist.
2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen schweren Raubes unter Einbeziehung der durch Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 17. Dezember 2007 verhängten Einzelstrafen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und drei Monaten sowie wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in drei Fällen zu der weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Gegen die Angeklagte A. hat es wegen schweren Raubes unter Einbeziehung der durch Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 17. Dezember 2007 festgesetzten Einzelstrafen die Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten und ferner wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt.
Hiergegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen, mit denen sie Verletzungen des formellen und des materiellen Rechts rügen. Die Rechtsmittel haben lediglich zu den Gesamtstrafenaussprüchen Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen hat aus den Gründen der Antragsschriften des Generalbundesanwalts zu den Schuldsprüchen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO). Der den Angeklagten B. betreffende Schuldspruch war jedoch dahin abzuändern, dass er im Fall II. 1. der Urteilsgründe des besonders schweren Raubes schuldig ist. Das Landgericht hat in diesem Fall rechtlich zutreffend den Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB durch den Angeklagten und seinen - gesondert verfolgten - Mittäter verwirklicht gesehen (Verwendung eines Küchenmessers als Drohmittel). Die von § 260 Abs. 4 Satz 1 StPO geforderte rechtliche Bezeichnung der Straftat macht die Kennzeichnung der jeweils gegebenen Qualifikation notwendig. Daher ist im Falle der Verurteilung nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB auf "besonders schweren Raub" zu erkennen (vgl. BGH, Beschl. vom 8. Juli 2008 - 3 StR 229/08 - Rdn. 5 - , insoweit in NStZ-RR 2008, 342 nicht abgedruckt; BGHR StPO § 260 Abs. 4 Satz 1 Urteilsformel 4; Schoreit in KK 6. Aufl. § 260 Rdn. 30).
2. Auch die festgesetzten Einzelstrafen sind rechtlich nicht zu beanstanden. Die Aussprüche über die verhängten Gesamtfreiheitsstrafen mussten hingegen aufgehoben werden.
a) Das Landgericht hat mit den für den Fall II. 1. (Tatzeit: 14./15. Dezember 2007) festgesetzten Einzelstrafen (acht Jahre gegen B., fünf Jahre gegen A.) und den gegen beide Angeklagte durch Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 17. oder 18. Dezember 2007 (vgl. Urteilsformel und UA S. 36 einerseits sowie UA S. 6 und 9 andererseits) jeweils ausgesprochenen Einzelstrafen (zweimal 90 Tagessätze zu je 10 oder 20 €; vgl. UA S. 6) nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafen von acht Jahren und drei Monaten bzw. von fünf Jahren und drei Monaten gebildet. Die Einbeziehung der durch die Strafbefehle des Amtsgerichts Mettmann vom 13. März 2008 gegen beide Angeklagte verhängten Strafen (jeweils sechs Monate Freiheitsstrafe mit Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung) in diese Gesamtfreiheitsstrafen hat das Landgericht abgelehnt, weil durch die - wiederum beide Angeklagte betreffende - Verurteilung durch das Amtsgericht Düsseldorf vom 7. November 2006 eine Zäsur eingetreten sei.
b) Dies hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat es versäumt, den Vollstreckungsstand der Verurteilung durch das Amtsgericht Düsseldorf vom 7. November 2006 zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung festzustellen. Gleiches gilt für den Stand der Vollstreckung hinsichtlich des Urteils des Amtsgerichts Düsseldorf vom 17. (oder 18.) Dezember 2007 und aller übrigen Verurteilungen gegen die Angeklagten. Da eine erledigte Strafe keine Zäsurwirkung entfaltet (vgl. Fischer, StGB 57. Aufl. § 55 Rdn. 10), kann der Senat nicht überprüfen, ob das Landgericht die Gesamtstrafen gegen beide Angeklagte rechtlich zutreffend gebildet hat. Mit Blick auf die weiteren Vorverurteilungen der Angeklagten ist hier nicht auszuschließen, dass auch eine andere, den Beschwerdeführern günstigere Entscheidung über die Bildung von Gesamtstrafen in Betracht gekommen wäre, so dass hierüber neu entschieden werden muss.
Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 1 b Satz 1 StPO Gebrauch.
Die Kostenentscheidung war dem Verfahren gemäß §§ 460, 462 StPO vorzubehalten. Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass die neuen Gesamtstrafenbildungen nach Maßgabe der Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen Verhandlung vorzunehmen sind (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 72; Fischer aaO Rdn. 37). Im Übrigen wird für den Fall, dass wiederum mehrere gesonderte Strafen gebildet werden, unter Umständen das gesamte Strafübel zu berücksichtigen sein (vgl. BGH NStZ 2000, 137).
Becker Pfister von Lienen
Hubert Schäfer
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BGH
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3. Strafsenat
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20100218
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3 StR 556/09
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Urteil
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§ 249 StGB, § 250 Abs 1 Nr 1 Buchst a StGB, § 250 Abs 2 Nr 1 StGB
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vorgehend LG Wuppertal, 6. Juli 2009, Az: 30 KLs 721 Js 629/09 - 9/09, Urteil
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DEU
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Schwerer Raub: Schraubendreher als gefährliches Werkzeug und vollendete Verwendung des Werkzeugs zur Drohung; vollendete Wegnahme beim Einstecken erbeuteter Geldscheine in die Kleidung
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 6. Juli 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen.
Jeder Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils des versuchten schweren Raubes gemäß § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, § 25 Abs. 2, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB schuldig gesprochen. Den Angeklagten M. E. hat es zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt, gegen den Angeklagten A. E. hat es eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Die Beschwerdeführerin beanstandet insbesondere, dass das Landgericht die Tat nicht als vollendeten (besonders) schweren Raub gemäß § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB gewürdigt hat. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg. Die Angeklagten wenden sich jeweils mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gegen das Urteil des Landgerichts. Das Rechtsmittel des Angeklagten M. E. hat dessen Verteidiger in der Revisionshauptverhandlung wirksam auf den Strafausspruch beschränkt. Die Revisionen der Angeklagten bleiben ohne Erfolg.
Das Landgericht hat festgestellt:
Die Angeklagten beabsichtigten zunächst in eine Tankstelle einzubrechen, um Tabakwaren zu stehlen. Als Einbruchswerkzeuge führte der Angeklagte M. E. einen Meißel mit eingedrückter Spitze, der Angeklagte A. E. einen Schraubendreher mit sich, dessen spitzes Ende abgebrochen war. Da wider Erwarten der Kassierer noch anwesend war, entschlossen sich die Angeklagten, trotz der veränderten Umstände "mit ihrem geplanten Vorhaben fortzufahren". Als der Kassierer sah, dass sich die Angeklagten mit übergezogenen Sturmmasken der Eingangstür der Tankstelle näherten, löste er bei der Polizei einen - stillen - Alarm aus. Die Angeklagten stürmten in den Verkaufsraum und erklärten dem Zeugen, "er solle sich ruhig verhalten, dann werde auch nichts passieren". Auf Geheiß eines der Angeklagten musste sich das Opfer in einen Nebenraum begeben, um dort die Beleuchtung im Verkaufsraum zu löschen. Auf dem Weg dorthin hielt der Angeklagte A. E. den Kassierer mit einer Hand an dessen linken Arm fest und drückte mit seiner anderen Hand den abgebrochenen Schraubendreher gegen den Rücken des Zeugen. Dieser sah das Werkzeug aus den Augenwinkeln und verspürte einen leichten Druck. Den vom Angeklagten M. E. mitgeführten Meißel nahm er hingegen zunächst nicht wahr. Nachdem der Zeuge das Licht gelöscht hatte und sie in den Verkaufsraum zurückgekehrt waren, wiesen die Angeklagten ihn an, sich auf einen Stuhl zu setzen und auf den Boden zu schauen. Sie verlangten zunächst die Herausgabe des Tresorschlüssels und forderten den Zeugen sodann auf - nachdem dieser erklärt hatte, einen solchen Schlüssel nicht zu besitzen - die Kasse zu öffnen, was dieser auch tat. Der Angeklagte M. E. nahm Geld aus der Kasse und steckte selbst 800 € in Scheinen in seine Hosentasche, während er dem Angeklagten A. E. eine Münzrolle im Wert von 50 € übergab, die dieser ebenfalls einsteckte. Sodann füllten die Angeklagten - nachdem sie Schraubendreher und Meißel weggelegt hatten, um mit beiden Händen arbeiten zu können - Zigarettenstangen in so genannte gelbe Säcke, die sie von dem Tatopfer verlangt und erhalten hatten. Sie hatten bereits zwei Säcke gefüllt sowie zum Abtransport bereit gestellt und waren dabei einen dritten Sack zu befüllen, als mehrere Polizeibeamte eintrafen, den Verkaufsraum stürmten und die Angeklagten festnahmen.
I. Revision der Staatsanwaltschaft
Die Annahme des Landgerichts, die Angeklagten hätten in objektiver Hinsicht den Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB, nicht hingegen den des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB verwirklicht, sowie die Wertung, die Tat sei von den Angeklagten nicht vollendet, sondern lediglich versucht worden, hält der rechtlichen Prüfung nicht stand.
1. Zutreffend geht das Landgericht allerdings davon aus, dass es sich bei dem von dem Angeklagten A. E. geführten Schraubendreher um ein gefährliches Werkzeug im Sinne beider Qualifikationsvarianten handelte; denn dieser Schraubendreher war ein Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit geeignet war, einem Opfer erhebliche Körperverletzungen zuzufügen, etwa bei einem Einsatz als Stichwerkzeug.
2. Dieses gefährliche Werkzeug hat der Angeklagte A. E. nicht (nur) im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB bei sich geführt, sondern gemäß § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB auch verwendet. Das Landgericht ist von einem rechtlich unzutreffenden Begriff des Verwendens ausgegangen.
a) Das Tatbestandsmerkmal des Verwendens umfasst jeden zweckgerichteten Gebrauch eines objektiv gefährlichen Tatmittels. Nach der Konzeption der Raubdelikte bezieht sich das Verwenden auf den Einsatz des Nötigungsmittels im Grundtatbestand, so dass es immer dann zu bejahen ist, wenn der Täter zur Wegnahme einer fremden beweglichen Sache eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug gerade als Mittel entweder der Gewalt gegen eine Person oder der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gebraucht (BGHSt 45, 92, 94 f. m. w. N.; BGH NStZ 2008, 687; Sander in MünchKomm-StGB § 250 Rdn. 58). Dabei setzt (vollendetes) Verwenden zur Drohung voraus, dass das Opfer das Nötigungsmittel als solches erkennt und die Androhung seines Einsatzes wahrnimmt. Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels, auf das der Drohende Einfluss hat oder zu haben vorgibt (BGHSt 16, 386) und dessen Verwirklichung er nach dem Inhalt seiner Äußerung für den Fall des Bedingungseintritts will. Die Äußerung der Drohung kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen (Fischer, StGB 57. Aufl. § 240 Rdn. 31 m. w. N.). Kein Verwenden ist das bloße Mitsichführen und zwar grundsätzlich auch dann nicht, wenn es offen erfolgt (BGH NStZ-RR 2004, 169; Fischer aaO § 250 Rdn. 18).
b) Danach hat der Angeklagte A. E., indem er dem Kassierer den Schraubendreher - den dieser gesehen hatte - in den Rücken drückte, entgegen der Auffassung des Landgerichts den Tatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB objektiv verwirklicht. Er drohte durch diese Handlung - im Zusammenwirken mit der vorangegangen Äußerung, wenn sich der Zeuge ruhig verhalte, werde (ihm) nichts geschehen - konkludent damit, bei Widerstand und Nichtbefolgung seiner Forderungen dieses gefährliche Werkzeug als Stichwerkzeug gegen ihn einzusetzen. Entgegen der Auffassung des Landgerichts setzt der Begriff des Verwendens nicht voraus, dass sich aus der Art des Einsatzes des objektiv gefährlichen Tatmittels eine konkrete Gefahr erheblicher Verletzungen ergibt. Vielmehr genügt jedes Benutzen solcher Tatmittel bei der Anwendung von Gewalt oder - wie hier - als Drohmittel (BGHSt 45, 92, 94 f.).
3. Die Auffassung des Landgerichts, die Angeklagten hätten hinsichtlich der aus der Kasse entnommenen 800 € in Banknoten und der Münzrolle im Wert von 50 €, die sich die Angeklagten schon in ihre Hosentaschen gesteckt hatten, bevor die Polizei eintraf und sie festnahm, "noch keinen hinreichenden neuen Gewahrsam begründet" und somit die Tat nur versucht, begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Die vollendete Wegnahme setzt voraus, dass fremder Gewahrsam gebrochen und neuer Gewahrsam begründet ist. Letzteres beurteilt sich danach, ob der Täter die Herrschaft über die Sache derart erlangt hat, dass er sie ohne Behinderung durch den früheren Gewahrsamsinhaber ausüben kann. Für die Frage der Sachherrschaft kommt es entscheidend auf die Anschauungen des täglichen Lebens an. Dabei macht es sowohl für die Sachherrschaft des bisherigen Gewahrsamsinhabers wie für die des Täters einen entscheidenden Unterschied, ob es sich bei dem Diebesgut um umfangreiche, namentlich schwere Sachen handelt, deren Abtransport mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, oder ob es nur um kleine, leicht transportable Gegenstände geht. Bei unauffälligen, leicht beweglichen Sachen, wie etwa bei Geldscheinen sowie Geld- und Schmuckstücken, lässt die Verkehrsauffassung für die vollendete Wegnahme schon ein Ergreifen und Festhalten der Sache genügen. Steckt der Täter einen Gegenstand in Zueignungsabsicht in seine Kleidung, so schließt er allein durch diesen tatsächlichen Vorgang die Sachherrschaft des Bestohlenen aus und begründet eigenen ausschließlichen Gewahrsam.Die Verkehrsauffassung weist daher im Regelfall einer Person, die einen Gegen-stand in der Tasche ihrer Kleidung trägt, die ausschließliche Sachherrschaft zu (vgl. BGHSt 16, 271, 273 f.; 23, 254, 255 m. w. N.).
Der Annahme eines Gewahrsamswechsels steht in diesen Fällen nicht entgegen, dass sich der erbeutete Gegenstand, wie etwa bei Festnahme des Täters am Tatort, noch im Gewahrsamsbereich des Berechtigten befindet. Die Tatvollendung setzt keinen gesicherten Gewahrsam voraus. Die alsbaldige Entdeckung des Täters und seine Festnahme gibt nur die Möglichkeit, ihm die Sache wieder abzunehmen. Auch eine etwaige Beobachtung dieses Tatvorgangs ändert an der Vollziehung des Gewahrsamswechsels nichts, da der Diebstahl keine heimliche Tat ist und die Beobachtung dem Bestohlenen lediglich die Möglichkeit gibt, den ihm bereits entzogenen Gewahrsam wiederzuerlangen. Demgemäß nimmt der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung regelmäßig Vollendung der Wegnahme an, wenn der Täter innerhalb fremder Räume leicht bewegliche Gegenstände in seine Kleidung steckt (vgl. BGHSt 26, 24, 25 f.; Schmitz in MünchKomm-StGB § 242 Rdn. 52, 61, 72).
b) Nach diesen Maßstäben war hier die Wegnahme mit dem Einstecken des Geldes in die Kleidung vollendet. Besondere Umstände, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, liegen nicht vor. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Strafkammer zur Begründung ihrer rechtlichen Würdigung herangezogenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs in StV 1985, 323, die eine andere Fallgestaltung zum Gegenstand hat. Dahinstehen kann deshalb, ob auch die Wegnahme der in die Säcke gepackten Zigarettenstangen bereits vollendet war, zumal die bisherigen Feststellungen offen lassen, wie groß und schwer diese ganz bzw. teilweise befüllten Behältnisse waren (vgl. Ruß in LK 11. Aufl. § 242 Rdn. 42 m. w. N.).
4. Die Sache bedarf insgesamt der neuen Verhandlung und Entscheidung. Die bisherigen Feststellungen belegen die Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes eines besonders schweren Raubes gemäß § 249 Abs. 1, § 250 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. StGB durch die Angeklagten - namentlich durch den Angeklagten M. E. - nicht hinreichend. Daher ist der Senat gehindert, den Schuldspruch selbst abzuändern.
Der Senat weist den neuen Tatrichter darauf hin, dass die von § 260 Abs. 4 Satz 1 StPO geforderte rechtliche Bezeichnung der Straftat die Kennzeichnung der jeweils gegebenen Qualifikation notwendig macht. Daher wird im Falle der Verurteilung nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB auf "besonders schweren Raub" zu erkennen sein (vgl. BGH, Beschl. vom 8. Juli 2008 - 3 StR 229/08 - Rdn. 5, insoweit in NStZ-RR 2008, 342 nicht abgedruckt; BGHR StPO § 260 Abs. 4 Satz 1 Urteilsformel 4; Schoreit in KK 6. Aufl. § 260 Rdn. 30).
5. Die Revision der Staatsanwaltschaft führt nicht zur Abänderung oder Aufhebung des angefochtenen Urteils zu Gunsten der Angeklagten (§ 301 StPO; vgl. unten II.).
II. Revisionen der Angeklagten
Die Revisionen der Angeklagten sind unbegründet; sie zeigen weder zum Schuldspruch noch zum Strafausspruch einen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.
Das Landgericht hat zwar im Rahmen der Strafzumessung zu Lasten beider Angeklagten berücksichtigt, dass sie "ein gefährliches Werkzeug mit sich" führten; diese Erwägung lässt mit Blick auf den vom Landgericht angenommenen schweren Raub gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB einen Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB besorgen. Nicht frei von rechtlichen Bedenken ist ferner, dass die Strafkammer bei dem Angeklagten M. E. ihrer Strafzumessung den Strafrahmen des minder schweren Falles gemäß § 250 Abs. 3 StGB (Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren) zugrunde gelegt hat, ohne zu erörtern, ob statt dessen die Anwendung des nach Versuchsgrundsätzen (§§ 22, 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB) gemilderten Strafrahmens der Raubqualifikation nach § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StGB in Betracht kommt, der zwar nicht im Höchstmaß, aber im Mindestmaß für die Angeklagten günstiger ist, als der des minder schweren Falles. Daher wäre im Hinblick auf die im unteren Strafrahmenbereich angesiedelte Strafe eine Erörterung dieser Milderungsmöglichkeit geboten gewesen (vgl. BGH NStZ-RR 2000, 43). Der Senat kann angesichts der beiden außergewöhnlich milden Strafen hier indes ausschließen, dass das Landgericht ohne die aufgezeigten Rechtsfehler (noch) geringere Strafen festgesetzt hätte.
Die Revision des Angeklagten M. E. dringt auch mit ihrer Beanstandung nicht durch, das Landgericht habe die Möglichkeit einer weiteren Milderung des Sonderstrafrahmens des § 250 Abs. 3 StGB nach §§ 22, 23 Abs. 1, § 49 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB übersehen. Denn aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass das Landgericht einen minder schweren Fall nur unter der Voraussetzung angenommen hat, dass der gesetzliche (fakultative) Milderungsgrund des § 23 Abs. 2 StGB im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung neben den allgemeinen strafmildernden Umständen zu Gunsten des Angeklagten zusätzlich Berücksichtigung findet (UA S. 21). Danach war wegen des sich aus § 50 StGB ergebenden Verbots der Doppelverwertung vertypter Strafmilderungsgründe für eine weitere Milderung des Strafrahmens des minder schweren Falles nach Versuchsgrundsätzen kein Raum.
Soweit der Angeklagte A. E. die den Mitangeklagten betreffende Strafrahmenwahl rügt, könnte sich ein solcher Rechtsfehler nicht zu seinem Nachteil ausgewirkt haben.
Sost-Scheible Pfister von Lienen
Hubert Schäfer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060271
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BGH
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4. Strafsenat
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20100202
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4 StR 514/09
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Beschluss
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§ 46 Abs 1 StGB, § 114 Abs 1 BRAO, Art 6 Abs 1 S 1 MRK
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vorgehend LG Frankenthal, 7. Mai 2009, Az: 5470 Js 5788/03 - II KLs, Urteil
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DEU
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Strafzumessung: Strafmildernde Berücksichtigung beruflicher Nachteile für einen Rechtsanwalt; Bemessung der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal vom 7. Mai 2009
a) aufgehoben und das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte in Fall II. 1. der Urteilsgründe verurteilt worden ist; insoweit werden die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt;
b) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Beihilfe zum Betrug in zehn Fällen und der Beihilfe zum versuchten Betrug schuldig ist; im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die übrigen Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Betrug in elf Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Betrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt; eine im Zwischenverfahren eingetretene Verfahrensverzögerung hat es dadurch kompensiert, dass vier Monate der Strafe als vollstreckt gelten. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verurteilung wegen Beihilfe zum Betrug im Fall II. 1. der Urteilsgründe hat keinen Bestand, weil insoweit Verjährung eingetreten ist. Der Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Ludwigshafen vom 28. Februar 2003 war nicht geeignet, eine Unterbrechung der Verjährungsfrist gemäß § 78 c Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB herbeizuführen, da er nicht die Beteiligung des Angeklagten an Taten des H. A. betraf.
Der Senat stellt das Verfahren daher insoweit ein und ändert den Schuldspruch entsprechend ab.
2. Der mit der Teileinstellung verbundene Wegfall der Einzelstrafe von vier Monaten würde zwar für sich genommen angesichts der Anzahl und Höhe der verbleibenden Einzelstrafen nicht zur Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe führen. Die Strafzumessung begegnet aber aus anderen Gründen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Zumessungserwägungen des Landgerichts lassen nicht erkennen, ob es bei der Festsetzung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe die drohenden anwaltsrechtlichen Sanktionen gemäß § 114 Abs. 1 BRAO berücksichtigt hat. Die Nebenwirkungen einer strafrechtlichen Verurteilung auf das Leben des Täters sind jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn dieser durch sie seine berufliche oder wirtschaftliche Basis verliert (vgl. BGH, Beschl. vom 27. August 1987 - 1 StR 412/87, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 8; vgl. auch Fischer StGB 57. Aufl. § 46 Rdn. 9 m.w.N.). Der Senat kann nicht mit Sicherheit ausschließen, dass das Landgericht niedrigere Freiheitsstrafen verhängt hätte, wenn es dies bedacht hätte.
Einer Aufhebung der den Strafausspruch tragenden rechtsfehlerfreien Feststellungen bedarf es hingegen nicht. Dies schließt ergänzende Feststellungen durch den neuen Tatrichter, die zu den bisher getroffenen nicht in Widerspruch stehen, nicht aus.
3. Auch über die Kompensation wegen der Justiz anzulastender Verfahrensverzögerungen ist neu zu entscheiden, da der Senat den Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufgehoben hat.
Die Revision beanstandet insoweit zu Recht, dass es nicht nur im Zwischenverfahren, sondern auch während des Ermittlungsverfahrens zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gekommen ist, weil das Verfahren nach Fertigung des Abschlussberichts der Polizei bis zur Anklageerhebung nicht erkennbar gefördert wurde. Dagegen hält sich die Zeitspanne zwischen dem Eingang der Revisionsbegründung und der Übersendung der Akten an den Generalbundesanwalt, wie dieser in seiner Antragsschrift im Einzelnen zutreffend dargelegt hat, trotz der zwischenzeitlichen Herbeiführung einer Beschwerdeentscheidung zur Frage einer ordnungsgemäßen Vertretung des Angeklagten durch einen weiteren Verteidiger innerhalb der üblichen Verfahrensdauer.
Der neu entscheidende Tatrichter wird die der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerungen nach den vom Großen Senat für Strafsachen (BGHSt 52, 124 ff.) aufgestellten Maßstäben zu kompensieren haben. Im Hinblick auf die im angefochtenen Urteil vorgenommene Anrechnung von vier Monaten der erkannten Strafe für eine im Zwischenverfahren eingetretene Verzögerung von sechs Monaten bemerkt der Senat, dass er eine derartige Kompensation für überzogen hält. Zwar lassen sich allgemeingültige Kriterien für die Bemessung der Kompensation nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Verfahrensdauer als solche und die damit verbundenen Belastungen des Angeklagten - wie auch vorliegend - bereits strafmildernd in die Strafzumessung eingeflossen sind. Die Anrechnung hat sich aber im Regelfall auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken (vgl. BGHSt 52, 124, 146 f.; BGH, Urt. vom 9. Oktober 2008 - 1 StR 238/08; Beschl. vom 11. März 2008 - 3 StR 54/08; Senatsbeschl. vom 24. November 2009 - 4 StR 245/09). Im Hinblick auf § 358 Abs. 2 StPO darf im vorliegenden Fall der nach Abzug des für vollstreckt zu erklärenden Teils der schuldangemessenen Strafe verbleibende Strafanteil jedenfalls acht Monate nicht übersteigen.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100060274
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BGH
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4. Strafsenat
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20100311
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4 StR 473/09
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Urteil
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§ 66b Abs 1 S 1 StGB, § 66b Abs 3 StGB, § 67d Abs 6 StGB
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vorgehend LG Bochum , 27. Mai 2009, Az: II-29 KLs 36 Js 443/99 - 23/08 - 6 Ss 439/09, Urteil
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DEU
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Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung: Neue Tatsachen nach Erledigung des psychiatrischen Maßregelvollzugs; im Strafvollzug aufgetretene psychische Erkrankung
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1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Bochum bei dem Amtsgericht Recklinghausen vom 27. Mai 2009 wird verworfen.
2. Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat es abgelehnt, gegen den Verurteilten gemäß § 66 b StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen. Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
I.
1. Der heute 51jährige Verurteilte ist bereits vielfach wegen Körperverletzungs-, Eigentums- und Straßenverkehrsdelikten vorgeahndet. Er wurde unter anderem durch Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 19. Februar 1990 wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der Verurteilte nach einer Geburtstagsfeier in alkoholisiertem Zustand einem anderen Gast aus Verärgerung zwei Messerstiche versetzt hatte, weil dieser unbefugt sein Kraftfahrzeug benutzt und dieses dabei beschädigt hatte. Weiterhin wurde er durch (Berufungs-) Urteil des Landgerichts Freiburg vom 9. September 1997 wegen Betäubungsmittelstraftaten zu einer (Gesamt-) Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gegenstand dieser Verurteilung war, dass der Verurteilte bei vier Beschaffungsfahrten zwischen Juli und Oktober 1996 in den Niederlanden insgesamt 246 g Heroin erworben und nach Deutschland eingeführt hatte. Das Heroin überließ er zum Teil seiner damaligen heroinabhängigen Lebensgefährtin, teilweise verkaufte er es weiter.
2. Am 20. Juni 2000 verurteilte das Landgericht Bochum den Verurteilten im Anlassverfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung, Entziehung einer Minderjährigen und versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Gleichzeitig ordnete es seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB an. Nach den Feststellungen fuhr der Verurteilte - nicht ausschließbar unter Wirkung eines nicht ermittelten Stoffes, den ihm unbekannt gebliebene Personen zuvor eingeflößt hatten - am 17. September 1998 mit seinem Kraftfahrzeug von F. nach C. Dort sprach er auf der Straße ein 8jähriges Mädchen an und zog es in sein Fahrzeug. Anschließend fuhr er mit dem Kind in ein Waldgelände und erzwang sexuelle Handlungen, in deren Verlauf er sich von dem Kind oral befriedigen ließ.
Während der Tatausführung war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auf Grund einer psychischen Störung, möglicherweise gesteigert durch den ihm zuvor eingeflößten Stoff, erheblich vermindert. Hierzu hat das Landgericht ausgeführt:
Der Angeklagte hat eine Persönlichkeitsstörung vom sogenannten Borderline-Typ, sie zeigt sich schwerpunktmäßig in dissozialem Verhalten. Ihm gelingt es nicht, soziale Regeln zu internalisieren und nach ihnen zu handeln. Bei ihm besteht daneben, insoweit auch für das Syndrom typisch, eine sexuelle Präferenz für heterosexuell pädophile Betätigung mit entsprechenden Triebinspirationen. Sexuelle und destruktive Impulse können sein Kontrollvermögen im Einzelfall so stark belasten, dass er bei entsprechenden Reizen und einem sexuellen Drang nur vermindert in der Lage ist, nach seiner gewonnenen Einsicht zu handeln.
Zur Unterbringung nach § 63 StGB führte das Landgericht aus, es sei auf Grund des festgestellten psychopathologischen Befundes zu erwarten, dass der Verurteilte bei Hinzutreten weiterer Umstände, wie sexueller Reize, auch in Zukunft erhebliche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begehen werde.
3. Der Verurteilte verbüßte zunächst einen Strafrest aus der Verurteilung des Landgerichts Freiburg vom 9. September 1997. Ab dem 2. Juli 2001 befand er sich im Maßregelvollzug, zuletzt in der Klinik N. in W. Mit Beschluss vom 24. Januar 2007 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Koblenz die durch das Urteil des Landgerichts Bochum vom 20. Juni 2000 angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt. Das Landgericht Koblenz war dem Gutachten des gehörten Sachverständigen folgend zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Verurteilten zwar (weiterhin) eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen, narzisstischen, emotional instabilen und schizoiden Elementen vorliege sowie eine Störung der Sexualpräferenz vom Prägnanztyp der Pädophilie als heterosexuell pädophile Nebenströmung. Zum Tatzeitpunkt sei jedoch weder Schuldunfähigkeit noch eine (erheblich) verminderte Schuldfähigkeit gegeben gewesen, so dass eine Fehleinweisung vorliege. Zudem sei zu beachten, dass es sich um eine erstmalige Straftat des Verurteilten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gehandelt habe, so dass zum Urteilszeitpunkt zwar die Möglichkeit, nicht jedoch die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bestanden habe. Gleichzeitig entschied die Strafvollstreckungskammer, dass die Vollstreckung des Strafrestes nicht gemäß § 57 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Es seien zwar keine Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu erwarten, wohl aber Straftaten gegen das Eigentum, die Gesundheit und das Leben. Vor der Entlassung des Verurteilten in die Freiheit sei zunächst noch ein Aufenthalt in einem strukturierten, gesicherten Lebensbereich wie dem Strafvollzug erforderlich.
Seit dem 1. März 2007 befand sich der Verurteilte zur Verbüßung des Strafrestes aus dem Urteil des Landgerichts Bochum vom 20. Juni 2000 in Strafhaft. Am 19. Juli 2008 hatte er die Strafe voll verbüßt. Im Anschluss befand er sich auf Grund des Unterbringungsbefehls des Landgerichts Bochum vom 27. Juni 2008 in Sicherungshaft.
II.
Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Prüfung stand.
1. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom 7. Oktober 2008 (BGHSt 52, 379 ff.) nicht in Betracht kommt, da der Verurteilte nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war.
2. Die danach allein in Betracht kommende Anordnung der Maßregel nach § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB hat es ebenfalls rechtsfehlerfrei verneint.
a) Nach den vom Landgericht als nachvollziehbar und überzeugend gewerteten Ausführungen der drei angehörten Sachverständigen liegt bei dem Verurteilten (weiterhin) eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen, emotional instabilen borderline-typischen, narzisstischen und schizoiden Anteilen vor, die sich unter anderem in einer Kontrollschwäche von Impulsen und Affekten sowie der Unfähigkeit zu konstanter sozialer Integration manifestiert. Zudem besteht bei ihm eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer pädophilen Nebenströmung. Als zusätzliche (neue) Diagnose wurde eine organische wahnhafte schizoide Störung im Sinne des ICD 10 F 06.2 (so die Sachverständigen Dr. T. und B.) bzw. eine subkortikale vaskuläre Demenz gemäß ICD 10 F 01.2 (so die Sachverständige Dr. L.) festgestellt, die sich im Laufe der Jahre schleichend entwickelt hat und die als Auslöser dafür in Betracht kommt, dass der Verurteilte nunmehr auf Grund wahnhafter Störungen im Sinne eines Größenwahns der Auffassung ist, er habe die mathematische „Weltformel“ erfunden.
Die Sachverständigen sind übereinstimmend zu der Einschätzung gelangt, dass bei dem Verurteilten auf Grund der bisher diagnostizierten Störungen - ungeachtet des zusätzlich festgestellten Befundes - weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit gleiche oder ähnliche Taten wie bisher von ihm begangen zu erwarten seien. Zu der neu diagnostizierten Störung haben die Sachverständigen Dr. T. und B. ausgeführt, dass aus ihr nicht notwendig der Schluss auf eine erhöhte Gefährlichkeit zu ziehen sei. Jedoch sei die Prognose auf Grund des Wahns durch das Hinzutreten einer weiteren Diagnose als ungünstiger einzuschätzen. Die Sachverständige Dr. L. hat hierzu die Auffassung vertreten, die neu hinzugetretene Diagnose berge nicht per se die Gefahr einer erhöhten Bereitschaft zu Gewaltdelikten, vielmehr sei die kriminelle Relevanz eher als insgesamt gering einzuschätzen.
b) Das Landgericht hat jedoch - ungeachtet der danach fortbestehenden Gefährlichkeit des Verurteilten - die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung mangels Vorliegens „neuer“ Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB abgelehnt.
In diesem Zusammenhang hat es ausdrücklich bedacht, dass es nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom 7. Oktober 2008 in den Fällen, in denen eine Anordnung nach § 66 b Abs. 3 StGB wegen eines noch zu vollstreckenden Strafrestes aus der Anlassverurteilung nicht in Betracht kommt, für die Annahme neuer Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB genügt, dass die fortbestehende (qualifizierte) Gefährlichkeit aus anderen Tatsachen hergeleitet werden kann als aus denjenigen, die im Anlassurteil zur Begründung des länger andauernden Zustands herangezogen wurden, der zur positiven Feststellung erheblich verminderter Schuldfähigkeit bei Tatbegehung (§ 21 StGB) und zur Anordnung nach § 63 StGB führte (BGHSt 52, 379, 390 f.). Ebenfalls hat es hervorgehoben, dass es danach ohne Bedeutung ist, ob diese Tatsachen dem damaligen Tatrichter bekannt waren oder bekannt sein mussten.
Derartige prognoserelevante Tatsachen hat das Landgericht indes nicht festzustellen vermocht.
Es ist hierbei - nach Durchführung einer umfangreichen Beweisaufnahme - zu dem Ergebnis gelangt, dass sich aus den dem Verurteilten in einem früheren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Verfahren zur Last gelegten Taten keine Tatsachen ergeben, die den Schluss auf eine Gefährlichkeit des Verurteilten rechtfertigen könnten. Auch dem Verhalten des Verurteilten im Maßregelvollzug hat es nach sorgfältiger Prüfung, insbesondere unter Berücksichtigung der Vollzugssituation (vgl. hierzu Senat, Beschl. vom 12. Januar 2006 - 4 StR 485/05; Urt. vom 19. Januar 2006 - 4 StR 393/05) und des Erfordernisses, dass die „neuen“ Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten müssen (vgl. Senat aaO sowie BGH, Beschl. vom 22. 1. 2009 - 1 StR 618/08), weder für sich gesehen noch im Rahmen einer Gesamtschau das für eine Anordnung nach § 66 b Abs. 1 StGB erforderliche Gewicht zugemessen. Schließlich hat das Landgericht auch geprüft, ob die nunmehr festgestellte, sich seit mehreren Jahren entwickelnde organische wahnhafte Störung bzw. Demenzerkrankung des Verurteilten die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen kann. Es hat dies unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschl. vom 9. Januar 2007 - 1 StR 605/06) mit der Begründung verneint, dass eine im Strafvollzug aufgetretene psychische Erkrankung des Verurteilten für sich genommen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b StGB regelmäßig nicht begründen kann. Die abstrakte Eignung der Diagnose für eine erhöhte Gefährlichkeit genüge nicht. Erforderlich sei vielmehr, dass sich die Erkrankung während der Strafhaft in einer für die Gefährlichkeitsprognose relevanten Weise im Verhalten des Verurteilten ausgedrückt hat (vgl. BGH aaO). Dies sei hier nicht der Fall. Der Verurteilte sei von den als Zeugen vernommenen Vollzugsbediensteten der Justizvollzugsanstalt B., in der er seit mehr als zwei Jahren inhaftiert war, als ruhig, zugänglich, freundlich und offen charakterisiert worden. Während der gesamten Haftzeit sei es nicht zu Gewalttätigkeiten, Aggressionen oder erheblichen Auseinandersetzungen zwischen dem Verurteilten und Mitarbeitern oder Mitgefangenen gekommen. Auch auf Bemerkungen zu der von ihm entwickelten „Urformel“ bzw. „Weltformel“ habe er ruhig und sachlich reagiert.
c) All dies lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Solche deckt auch die Beschwerdeführerin nicht auf.
Entgegen der Auffassung der Revision sind die Urteilsfeststellungen zu der von den Sachverständigen zusätzlich festgestellten organischen wahnhaften Störung bzw. Demenzerkrankung weder lückenhaft noch widersprüchlich. Soweit die Beschwerdeführerin weitergehende Feststellungen zu deren Auswirkungen und Relevanz für die zu treffende Prognoseentscheidung vermisst, kann sie mit der Sachrüge nicht gehört werden. Hierzu hätte es gegebenenfalls der Erhebung einer Verfahrensrüge in Form einer Aufklärungsrüge bedurft.
Die Urteilausführungen lassen auch nicht besorgen, dass das Landgericht bei der Beurteilung der Frage, ob Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB vorliegen, einen von den Grundsätzen der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom 7. Oktober 2008 abweichenden Maßstab angelegt hat. Das Landgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass es bei der hier zu beurteilenden Konstellation ohne Bedeutung ist, ob die in Betracht kommenden Umstände dem ursprünglichen Tatrichter bekannt waren oder bei pflichtgemäßer Beachtung der Aufklärungspflicht hätten bekannt sein müssen. Es hat im Weiteren entsprechend den Vorgaben des Großen Senats für Strafsachen geprüft, ob die Gefährlichkeit des Verurteilten aus anderen Tatsachen herzuleiten ist als denjenigen, die im Ausgangsurteil zur Begründung der erheblich verminderten Schuldfähigkeit und Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB geführt haben. Dies hat es mit rechtsfehlerfreier Begründung verneint. Dass das Landgericht dabei - wie die Revision meint - die zuvor im Rahmen der Feststellungen zur Person im Urteil ausführlich dargestellte bisherige Lebensführung des Verurteilten und seine Straffälligkeit aus dem Blick verloren hat, kann ausgeschlossen werden.
3. Da sich das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft als unbegründet erweist, bestand für den Senat mit Blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 in der Rechtssache M. gegen Bundesrepublik Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04) kein Anlass, von einer Entscheidung solange abzusehen, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Frage des Strafcharakters von Sicherungsverwahrung endgültig im Sinne des Art. 44 MRK entschieden hat (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 11. Februar 2010 - 4 StR 577/09).
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060276
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BGH
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4. Strafsenat
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20100302
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4 StR 619/09
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Beschluss
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§ 55 StPO, § 251 Abs 1 Nr 2 StPO
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vorgehend LG Saarbrücken, 27. Juli 2009, Az: 5 Js 569/08 - 4 KLs 1/09 - 2 AR 52/09, Urteil
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DEU
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Hauptverhandlung in Strafsachen: Verlesung der polizeilichen Aussage eines Auslandszeugen
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 27. Juli 2009 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Zu der zu § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO erhobenen Verfahrensrüge (Verlesung der polizeilichen Aussage des Zeugen A.) bemerkt ergänzend der Senat:
Zwar hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die Vernehmung eines Zeugen, der sich vorab auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO berufen hat, nicht durch die Verlesung einer von ihm stammenden früheren schriftlichen Erklärung nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO ersetzt werden darf (BGHSt 51, 325; offen gelassen in der Senatsentscheidung BGHSt 51, 280; vgl. zum Ganzen Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 251 Rdn. 11). Er hat dies in erster Linie mit dem Wortlaut des § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO begründet, der voraussetzt, dass der Zeuge in absehbarer Zeit „nicht vernommen werden kann“. Die Vernehmung eines Zeugen sei aber möglich, auch wenn er von seinem Recht nach § 55 StPO Gebrauch macht, und zwar selbst dann, wenn die Aussage des Zeugen so eng mit einem möglicherweise strafbaren Verhalten zusammenhängt, dass sein Recht, nach dieser Bestimmung auf einzelne Fragen die Auskunft zu verweigern, zu einem umfassenden Auskunftverweigerungsrecht erstarkt (BGHSt 51, 325, 330). Hier liegt der Fall indes anders. Der sich zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung in Algerien befindende Zeuge A. hatte nicht nur angekündigt, von der Möglichkeit des § 55 StPO Gebrauch machen zu wollen, sondern darüber hinaus erklärt, er habe nicht die Absicht, in absehbarer Zeit nach Deutschland zu kommen. Er habe Angst um sein Leben und werde weder in Deutschland noch in Algerien eine Aussage machen. Seine Vernehmung war daher aus tatsächlichen Gründen - unbeschadet des möglichen rechtlichen Hindernisses aus § 55 StPO - in absehbarer Zeit nicht möglich. Die Niederschriften über seine polizeilichen Vernehmungen durften daher gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesen werden.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060277
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BGH
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4. Strafsenat
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20100309
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4 StR 640/09
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Beschluss
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§ 249 Abs 1 StPO, § 261 StPO, § 27 StGB, § 29 BtMG, §§ 29ff BtMG
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vorgehend LG Bochum, 8. September 2009, Az: II-21 KLs 34 Js 986/08 - 3/09, Urteil
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DEU
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Bindungswirkung der Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils gegen die Täter eines Betäubungsmitteldelikts im Verfahren gegen den Gehilfen
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Bochum bei dem Amtsgericht Recklinghausen vom 8. September 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten der Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge für schuldig befunden und deshalb gegen ihn eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in vollem Umfang Erfolg.
1. Nach den Feststellungen überließ der Angeklagte den anderweitig Verfolgten W. A. und S. Sch. einen ihm gehörenden Pkw VW Golf in Kenntnis davon, dass diese das Fahrzeug zum Transport von zum Weiterverkauf bestimmten Betäubungsmitteln aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland verwenden würden. Am 7. August 2008 führten A. und Sch. 3.657 g Heroingemisch (Wirkstoffmenge: 2.150 g) und 138 g Kokaingemisch (Wirkstoffmenge: 110 g) nebst ca. 4,5 kg Streckmittel, die jeweils in Hohlräumen des vom Angeklagten zur Verfügung gestellten VW Golf versteckt waren, von den Niederlanden nach Deutschland ein. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten - für sich gesehen rechtsfehlerfrei - als Beihilfehandlung gewertet. Zur Haupttat hat es im Rahmen der rechtlichen Würdigung ausgeführt: „Die für eine Beihilfehandlung erforderliche Haupttat liegt in der von den Zeugen A. und Sch. begangenen Tat, festgestellt durch das rechtskräftige Urteil 29 KLs 34 Js 468/08 AK 76/08, welches im Schuldspruch Bindungswirkung entfaltet“. A. und Sch. waren in diesem Urteil auf Grund des Tatgeschehens vom 7. August 2008 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln jeweils in nicht geringer Menge (A.) bzw. wegen Beihilfe hierzu (Sch.) verurteilt worden.
2. Die Annahme einer Bindungswirkung des früheren Urteils hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Feststellungen rechtskräftiger Urteile zu früheren Tatgeschehen einschließlich der Beweistatsachen, die in einem späteren Verfahren von Bedeutung sein können, binden den neu entscheidenden Tatrichter nicht (BGHSt 43, 106, 107 f.; Senat, Beschl.vom 17. Juni 2008 - 4 StR 77/08, NStZ 2008, 685; Meyer-Goßner 52. Aufl. Einl. Rdn. 170 m.w.N.). Das Landgericht hätte sich daher in Bezug auf das Tatgeschehen vom 7. August 2008 - ohne Bindung an das frühere Urteil - eine eigene Überzeugung verschaffen müssen. Feststellungen aus früheren rechtskräftigen Strafurteilen können zwar gegebenenfalls im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 249 Abs. 1 StPO in die neue Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden; der neue Tatrichter darf sie jedoch nicht ungeprüft übernehmen (BGH aaO).
3. Der aufgezeigte Rechtsfehler zwingt zur Aufhebung des Urteils. Die neu erkennende Strafkammer wird auch zu prüfen haben, ob mit der durch Urteil des Amtsgerichts Meschede vom 31. März 2009 gegen den Angeklagten verhängten Geldstrafe nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden ist (§ 55 StGB). Dies wäre der Fall, wenn - wozu sich das Urteil nicht verhält - diese Strafe zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Urteils noch nicht erledigt war. Die zur Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten getroffenen Feststellungen werden zudem Anlass geben, die Frage einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) einer Prüfung zu unterziehen.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060280
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BGH
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5. Strafsenat
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20100325
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5 StR 518/09
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Beschluss
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§ 73 Abs 1 S 2 StGB, § 74 StGB, § 261 Abs 7 StGB
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vorgehend LG Hamburg, 3. Juli 2009, Az: 620 KLs 13/08 - 2 Ss 81/09, Urteil vorgehend AG Düsseldorf, 30. Januar 2008, Az: 11 Ds 408/07, Urteil
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DEU
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Strafverfahren u.a. wegen Geldwäsche: Ausschluss der Einziehung der Tatbeute wegen Ansprüchen des Verletzten
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Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 3. Juli 2009 werden als unbegründet nach § 349 Abs. 2 StPO mit der Maßgabe (§ 349 Abs. 4 StPO) verworfen, dass bei dem Angeklagten T. auch die Geldstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 30. Januar 2008 - 11 Ds 408/07 - in die Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen ist und bei dem Angeklagten H. die angeordnete Einziehung eines Betrags in Höhe von 118.637,81 € in Wegfall gerät.
Die Angeklagten tragen die Kosten des Revisionsverfahrens; hinsichtlich des Angeklagten H. trägt jedoch die Staatskasse die Hälfte der Kosten des Revisionsverfahrens und der dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.
Ergänzend bemerkt der Senat: Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts sind die Verfahrensrügen, mit denen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung geltend gemacht wird, zulässig erhoben. Die Vortragserfordernisse brauchen sich nicht auf sämtliche Ereignisse des bisherigen Verfahrens erstrecken. Die maßgeblichen Verfahrensschritte stellen die Revisionen in dem nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Umfang dar. Die Rügen können aber deshalb keinen Erfolg haben, weil die dargestellten Verzögerungen angesichts des erheblichen Umfangs dieser Wirtschaftsstrafsache noch nicht das Ausmaß eines Verstoßes gegen Art. 6 MRK erreichen. Die verfahrensbedingt länger zurückliegende Tatzeit hat die Strafkammer zudem strafmildernd berücksichtigt.
Hinsichtlich der zu Lasten des Angeklagten H. angeordneten Einziehung, die das Landgericht auf § 261 Abs. 7 StGB gestützt hat, hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:
„Bei der Haupttäterin‚ stellte das Geld als Beziehungsgegenstand der Geldwäsche aber zugleich das Erlangte aus der Betrugstat im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB dar, so dass die Anordnung der Einziehung bei ihr ausgeschlossen war. Damit entfällt auch die Möglichkeit der Einziehung bei dem Angeklagten. Andernfalls würde in derartigen Fällen die Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB, die den Geschädigten einer Straftat zum Ausgleich ihrer gegen den Täter zustehenden Ersatzansprüche zur Seite steht, zu Gunsten des Staats und zu Ungunsten der Verletzten aus der Vortat umgangen werden. Dieses Ergebnis steht mit der Systematik der genannten Vorschriften nicht in Übereinklang.’“
Dem tritt der Senat bei. Diese Erwägungen gelten insbesondere dann, wenn - wie hier - die Einziehung gegen einen Tatbeteiligten wegen der ihm zugeflossenen Tatbeute erfolgen soll. Jedenfalls in diesen Fällen darf die vorrangige Wertentscheidung des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB nicht unterlaufen werden.
Das Urteil lässt bei dem Angeklagten T. das Erfordernis einer Einbeziehung auch der aus der Beschlussformel ersichtlichen Geldstrafe nach § 55 StGB, deren ausdrückliche Erörterung rechtsfehlerhaft unterblieben ist, noch ausreichend erkennen. Der Senat holt sie in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO nach.
Basdorf Raum Schaal
König Bellay
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060283
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BGH
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5. Strafsenat
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20100323
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5 StR 556/09
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Urteil
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§ 17 Abs 2 JGG, § 18 Abs 3 JGG, § 54 JGG
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vorgehend LG Dresden, 15. Dezember 2009, Az: 307 Js 3433/09 - 2 Ks, Urteil
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DEU
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Jugendstrafverfahren: Bemessung der Jugendstrafe bei schwerer Schuld und erheblichem Therapie- und Erziehungsbedarf
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1. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 15. September 2009 wird verworfen.
2. Von der Auferlegung von Kosten und Auslagen wird abgesehen.
- Von Rechts wegen -
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Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung und Aussetzung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt. Der mit der Sachrüge geführten Revision der Angeklagten bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt. Näherer Betrachtung bedarf nur der Ausspruch über die Höhe der verhängten Jugendstrafe.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts liefen die zur Tatzeit 14 Jahre alte, stark alkoholisierte Angeklagte und die Geschädigte zusammen mit mehreren Freunden an einem kalten Abend des Januar 2009 eine Bundesstraße entlang. In der Nähe einer Bushaltestelle führte die Angeklagte die Gruppe auf einen kleinen Feldweg, der an ein großes brach liegendes Feld grenzte.
Die Angeklagte begann die Geschädigte, ihre ehemals beste Freundin J., von den anderen wegzudrängen und machte ihr Vorwürfe, sie habe Lügengeschichten, vor allem, was ihr Verhältnis zu Jungen angeht, verbreitet. J. bestritt dies. Im weiteren Verlauf schubste die Angeklagte die Geschädigte, brachte sie zu Fall, schlug und trat nach ihr und warf ihr schließlich Schnee ins Gesicht. J. wehrte sich zunächst nicht und hielt alles für einen groben Spaß. Als die Geschädigte aufstand, brachte die Angeklagte sie erneut zu Fall und setzte sich rittlings auf sie.
Während die Angeklagte massiv auf J. einschlug, verließen zwei Personen die Gruppe; lediglich die bereits rechtskräftig verurteilten L. und K. blieben etwa 10 Meter entfernt stehen und unterhielten sich. Obwohl die Geschädigte vor Schmerzen schrie und die beiden Jungen um Hilfe bat, schritten sie nicht ein. Vielmehr ging K. mehrmals zur Angeklagten, um ihr während des fortdauernden Schlagens und Tretens eine Flasche Bier zum Trinken zu bringen. Die Angeklagte schüttete einen Teil des Bieres der Geschädigten ins Gesicht und schlug ihr dann mit der leeren Flasche mehrfach auf Kopf und Körper. Nachdem es J. gelungen war, kurzzeitig aufzustehen und in Richtung der beiden Jungen zu laufen, um noch einmal um Hilfe zu bitten, riss die Angeklagte sie an den Haaren zurück, warf sie erneut zu Boden und misshandelte sie weiter.
Nach etwa einer halben Stunde zwang die Angeklagte die Geschädigte sich nackt auszuziehen, um sie in Gegenwart der Jungen weiter zu demütigen. Jedes einzelne Kleidungsstück, das J. ihr gab, warf sie weit von sich auf das Feld. Anschließend trat und schlug, wiederum mit einer Bierflasche, die Angeklagte erneut auf die - bei einer Lufttemperatur von minus zwei Grad Celsius und starkem Wind - nackt auf dem Boden liegende Geschädigte ein. Auf erneute Hilferufe reagierte die Angeklagte mit den Worten: „Hier wird Dir keiner helfen“ (UA S. 16). Als L. gehen wollte, um noch etwas zum Trinken zu kaufen, sagte die Angeklagte, dass sie das hier in Ruhe zu Ende bringen wolle und noch fünf Minuten brauche.
Gegen 21.40 Uhr forderte sie L. auf, mit seinem Handy einen früheren Freund anzurufen, und erkundigte sich sodann bei diesem, ob J. sie bei ihm schlecht gemacht habe, was dieser Freund jedoch verneinte. Während des folgenden zwanzig Minuten dauernden Telefonats wurde das Telefon mehrfach hin- und hergereicht, und L. berichtete dem Angerufenen über die weitere Entwicklung des Geschehens; er sagte unter anderem, dass er eigentlich noch Durst habe, aber die Angeklagte nicht mitkommen wolle und sie deshalb noch dableiben müssten. Die Angeklagte schrie dabei: „Du hast meine Beziehungen alle kaputt gemacht. Dafür musst Du jetzt büßen“ (UA S. 17).
Als die Angeklagte genug hatte und dem Drängen der beiden Jungen nachgab, den Ort zu verlassen, rechneten alle drei mit der nahe liegenden Möglichkeit, dass J. nicht mehr in der Lage sein würde, selbständig Hilfe zu holen. Dennoch entschieden sie sich, die Geschädigte alleine auf dem Feld zurückzulassen und gemeinsam zur Bushaltestelle zu gehen. Kurz vor Erreichen der Haltestelle kehrte die Gruppe auf Veranlassung der Angeklagten um, weil sie noch einmal nach der Geschädigten sehen wollten. Die Angeklagte setzte um 22.38 Uhr einen Notruf ab und kauerte sich hinter J., um sie wieder aufzuwärmen.
Als die Geschädigte gegen 22.50 Uhr aufgefunden wurde, war sie nicht mehr ansprechbar. An ihrem Körper gab es keine Stelle, die nicht verletzt war. Im Krankenhaus wurde um 0.20 Uhr eine Körperkerntemperatur von 23,8 Grad Celsius gemessen. Die Überlebenschance der Geschädigten betrug weniger als zehn Prozent. Sie wurde noch drei Wochen im Krankenhaus behandelt.
2. Die Jugendkammer hat die Grundlagen für die Verhängung von Jugendstrafe - in der Tat zum Ausdruck gekommene schädliche Neigungen und die Schwere der Schuld der Angeklagten (§ 17 Abs. 2 JGG) - rechtsfehlerfrei angenommen. Auch die Bemessung der - freilich hohen (§ 18 Abs. 1 Satz 1 JGG) - Jugendstrafe hält revisionsgerichtlicher Prüfung noch stand.
a) Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Jugendstrafe so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Erziehungswirksamkeit als einziger Gesichtspunkt bei der Strafzumessung heranzuziehen ist. Vielmehr sind daneben auch andere Strafzwecke, bei Kapitalverbrechen namentlich das Erfordernis gerechten Schuldausgleichs, zu beachten. Das Gewicht des Tatunrechts muss auch gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Verurteilten abgewogen werden. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich stehen regelmäßig nicht im Widerspruch. Zumeist - und so auch hier - stehen sie miteinander im Einklang, da die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, nicht nur für das Erziehungsbedürfnis, sondern auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind (vgl. BGH NStZ-RR 1996, 120; BGH, Urteil vom 23. Oktober 1997 - 5 StR 486/97).
Das Landgericht hat hiernach rechtlich zutreffend erzieherischen Gesichtspunkten den Vorrang vor dem Schuldausgleich eingeräumt (vgl. BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 4 und Schwere der Schuld 1; § 18 Abs. 2 Tatumstände 2; Eisenberg, JGG 13. Aufl. § 18 Rdn. 13, 22).
b) Nach der Urteilsbegründung ist die Angeklagte schon im strafunmündigen Alter mehrfach wegen Verdachts des Diebstahls und der Körperverletzung polizeilich in Erscheinung getreten. In den letzten fünf Monaten vor der Tat kam es zu einer vollständigen Schulverweigerung. Sie verbrachte „die Werktage meist zu Hause, schlief bis 10 oder 11 Uhr und beschäftigte sich dann etwa vier bis fünf Stunden täglich mit Computerspielen oder Internetaktivitäten. In den frühen Abendstunden traf sie sich dann mit Bekannten … Ebenso verliefen die Wochenenden, wobei es hier verstärkt zum Alkoholkonsum kam.“ In den letzten beiden Monaten vor der Tat wurde sie viermal in alkoholisiertem Zustand (Atemalkoholkonzentration zwischen 1,0 und 1,56 ‰) von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht. Bemühungen des Jugendamtes, sie in verschiedene Präventionsprojekte zu integrieren, blieben ebenso erfolglos wie der Einsatz einer Familienhelferin. Nach der Tat befand sie sich zunächst für rund fünf Wochen in Untersuchungshaft. Anschließend wurde sie nach § 71 Abs. 2 JGG in einer Einrichtung zur Untersuchungshaftvermeidung untergebracht, musste aber nach zwei Monaten, weil sie sich der pädagogischen Einzelbetreuung entzog und zunehmend die Regel- und Rahmenbedingungen verletzte, in einem Kinder- und Jugendheim untergebracht werden. Nachdem sie dort dreimal entwichen war, wurde sie erneut in Untersuchungshaft genommen.
Die Jugendkammer ist dem psychiatrischen Sachverständigen darin gefolgt, dass bei der Angeklagten zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar kein krankhafter psychischer Zustand vorliege. Allerdings gebe es deutliche Merkmale in der Persönlichkeit der Angeklagten, die, wenn nicht entsprechend konsequent und nachhaltig erzieherisch entgegengewirkt werde, die Entwicklung zu einer dissozialen Persönlichkeit befürchten ließen. Grenzen sowie die Notwendigkeit der Einhaltung gewisser Regeln und Normen seien ihr bislang ebenso wenig vermittelt worden wie das Bestehen von Pflichten. Diese Erziehungsversäumnisse seien letztlich mitursächlich für die Tat. Die Aggressionsschwelle sei bei der Angeklagten sehr niedrig. Prognostisch erschwerend seien auch die kaum wahrnehmbare Reue der Angeklagten und ihre emotionale Unberührtheit.
Bei der Strafzumessung sind zugunsten der Angeklagten gewertet worden ihr umfassendes Geständnis, ihr Versuch, sich bei der Geschädigten zu entschuldigen, dass sie den Notruf abgesetzt und versucht hat, die Geschädigte warm zu halten, erst 14 Jahre alt war und durch Alkohol ihre Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war. Straferschwerend wurden die erheblichen Verletzungen und die Demütigung der Geschädigten gewertet.
Entscheidendes Gewicht hat die Jugendkammer dem erheblichen Erziehungsbedarf beigemessen. Das Landgericht folgt der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen, dass die Angeklagte in ein System von hoher Strukturierung und strikten Regeln überführt werden müsse. Sie benötige daneben unbedingt psychotherapeutische Behandlung, um eine „Mentalisierung und ein Interesse an anderen Mitmenschen bei ihr zu initialisieren“ (UA S. 51). Dies alles könne auch mittelfristig nicht unter ambulanten oder Heimbedingungen erreicht werden. Nach Überzeugung der Jugendkammer bestehe - auch belegt durch die fehlende Bereitschaft der Angeklagten, sich den Bedingungen von zwei Einrichtungen zur Vermeidung von Untersuchungshaft zu unterwerfen - ein erheblicher langjähriger Erziehungsbedarf unter Jugendhaftbedingungen. Es werde bereits geraume Zeit in Anspruch nehmen, bis die Angeklagte begreife, dass sie an sich arbeiten müsse und Regeln einzuhalten habe. Erst wenn sie dazu bereit sei, könne mit der eigentlichen Aufarbeitung ihrer Defizite begonnen werden. Auch müsse ein langfristiger Schulbesuch gewährleistet werden.
c) Der Senat entnimmt diesen Darlegungen eine noch ausreichende, den Anforderungen des § 54 JGG entsprechende Gesamtwürdigung der Angeklagten (vgl. BGH StV 1993, 531 [3 StR 591/92]; Schoreit in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG 5. Aufl. § 54 Rdn. 25; Brunner/Dölling, JGG 11. Aufl. § 18 Rdn. 7a).
Der Senat besorgt ferner nicht, dass in dem hier vorliegenden Fall der sogar zunächst nicht gegebenen Erziehungsfähigkeit der Angeklagten die festgesetzte hohe Jugendstrafe den Zeitraum sinnvoll anzuwendender pädagogischer Mittel des Jugendstrafvollzugs überschreiten könnte (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 258, 259).
d) Die in der Tat deutlich gewordene Fehlentwicklung der Persönlichkeit der Angeklagten begründet offensichtlich hohen Therapie- und damit einhergehend hohen Erziehungsbedarf. Der Jugendstrafvollzug wird gefordert sein, wirksame therapeutische Maßnahmen zur Beeinflussung der Persönlichkeit der Angeklagten zu finden und anzuwenden, um möglichst zeitnah die Voraussetzungen für eine Aussetzung nach § 88 Abs. 1 JGG zu schaffen.
Brause Raum Schaal
Schneider Bellay
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BMJV
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JURE100060289
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BGH
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5. Strafsenat
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20100325
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5 StR 83/10
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Beschluss
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§ 174 StGB, § 176 StGB, § 267 StPO
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vorgehend LG Braunschweig, 18. November 2009, Az: 2 KLs 16/09, Urteil
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DEU
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Sexueller Kindesmissbrauch: Anforderungen an die Beweiswürdigung und die Urteilsfeststellungen bei Serienstraftaten
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 18. November 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO
a) mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 156 Fällen verurteilt ist;
b) dahin ergänzt, dass der Angeklagte im Übrigen (Fall 159 der Anklage) auf Kosten der Staatskasse, die auch seine etwa insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen hat, freigesprochen wird.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 158 Fällen, davon in 156 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel mit der Sachrüge Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte in den Fällen II.1 und II.2 des angefochtenen Urteils im Jahr 2001 die ihm bekannten Kinder der Familie Jo., J. (damals elf Jahre) und A. (damals acht Jahre), missbraucht, indem er jedes Kind anlässlich einer jeweils gemeinsamen Übernachtung in seinem Bett an das unbedeckte Geschlechtsteil fasste. Als die Kinder sich wegdrehten, ließ der Angeklagte von ihnen ab. Insoweit sind die Schuldsprüche wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und die Einzelstrafaussprüche von jeweils sechs Monaten Freiheitsstrafe rechtsfehlerfrei.
2. In weiteren 156 Fällen (II.3 des Urteils) hat er von März 2007 bis März 2008 seinen bei Beginn der Taten neunjährigen Stiefsohn P. missbraucht, indem er ihn am nackten Penis berührte und sich von ihm mit der Hand bis zum Samenerguss stimulieren ließ. Dies geschah im elterlichen Ehebett im Rahmen des regelmäßig drei bis vier Mal in der Woche stattgefundenen gemeinsamen abendlichen Vorleserituals jedes Mal und in immer gleich bleibender Weise unter dem vom Angeklagten benutzten Vorwand, das Vor- und Zurückziehen der Vorhaut üben zu müssen. Während P. die Handlungen anfangs für „normal“ hielt und sie sogar als interessant und angenehm empfand, schämte er sich im Laufe der Zeit zunehmend. Schließlich sagte er dem Angeklagten im März 2008, dass er alles nicht mehr wolle. Daraufhin nahm der Angeklagte von weiteren sexuellen Berührungen Abstand.
In der Folgezeit verschlechterte sich indes das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten deutlich. Zur Aufdeckung der Taten kam es gegen Ende der Sommerferien 2008 anlässlich eines Streits. Der Geschädigte zog daraufhin zu seinem leiblichen Vater und dessen Ehefrau. Zu diesem Zeitpunkt wirkte er extrem traurig und litt unter verschiedenen Zwangshandlungen. Im September 2008 wurde er deshalb von seinen Eltern in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Die Mutter, die die sexuellen Übergriffe des Angeklagten zunächst nicht hatte wahrhaben wollen, entschloss sich im November 2008 zu einer Anzeige, nachdem der Angeklagte in seinem Ferienhaus der elfjährigen Zwillingsschwester des Geschädigten und deren Freundin bewusst Alkohol besorgt und dessen Genuss ermöglicht hatte.
Nach seiner polizeilichen Vernehmung Mitte November 2008 verschlechterte sich P.'s psychischer Zustand zunehmend, so dass er Anfang April 2009 notfallmäßig in einem Kinderkrankenhaus aufgenommen werden musste. Er war zu diesem Zeitpunkt in einem „desolaten Zustand“ (UA S. 9), der eine Beschulung unmöglich machte. Nach einer dreimonatigen stationären Behandlung mit traumazentrierten therapeutischen Methoden konnte er Anfang Juli 2009 in deutlich stabilisiertem Zustand in die Familie seines leiblichen Vaters entlassen werden. Im Zeitpunkt der Hauptverhandlung (November 2009) befand er sich noch in ambulanter therapeutischer Behandlung und erhielt ein Medikament gegen anhaltende Zwänge; zwischenzeitlich war ihm der Wechsel auf das Gymnasium gelungen.
3. Seine Überzeugung vom festgestellten Tatgeschehen zu 2. hat das Landgericht auf die Aussage des Geschädigten gestützt, die hinsichtlich der Rahmenbedingungen (insbesondere drei- bis viermaliges Vorlesen pro Woche im elterlichen Schlafzimmer) von seiner Mutter und dem Angeklagten bestätigt wird. Der Angeklagte selbst hat angegeben, während des Vorlesens über einen längeren Zeitraum an acht bis neun Tagen die Vorhaut von P. zurückgeschoben zu haben, um dies angesichts einer - von der Mutter bestrittenen - Vorhautverengung des Jungen zu üben. Er habe sich hierdurch jedoch nicht sexuell erregt und sei von P. auch zu keiner Zeit am Penis berührt worden.
4. Das Urteil leidet an einem auf die Sachrüge zu beachtenden Erörterungsmangel, der insbesondere die Anzahl und den Ablauf der zum Nachteil von P. festgestellten Missbrauchsfälle betrifft. Der Senat verkennt nicht, dass die im Rahmen der Beweiswürdigung behandelten Umstände insgesamt dafür sprechen, dass über einen längeren Zeitraum ein wiederholter sexueller Missbrauch des Jungen durch den Angeklagten stattgefunden hat. Durchgreifenden Bedenken unterliegt jedoch die Feststellung zu Art und Anzahl der ausgeurteilten 156 Fälle, die sich ohne insoweit ausreichend kritische Befassung mit der Glaubhaftigkeit und Zuverlässigkeit der belastenden Angaben des Geschädigten alleine aus einer „Hochrechnung“ von drei- bis viermaligem Vorlesen wöchentlich, verknüpft mit dabei jedes Mal stattgefundenen und - mit wenigen Variationen - auch immer gleichförmig verlaufenden Missbrauchshandlungen ergibt.
Auch bei Serienstraftaten, wie sie bei länger andauerndem sexuellem Kindesmissbrauch vorkommen, muss das Tatgericht von jeder einzelnen individuellen Straftat überzeugt sein (BGHSt 42, 107, 109). Zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken dürfen aufgrund der Feststellungsschwierigkeiten solcher oft gleichförmig verlaufenden Taten über einen langen Zeitraum zum Nachteil von Kindern und/oder Schutzbefohlenen, die in der Regel allein als Beweismittel zur Verfügung stehen, zwar keine überzogenen Anforderungen an die Individualisierbarkeit der einzelnen Taten im Urteil gestellt werden (BGH NStZ 1994, 502). Das Tatgericht muss sich aber in objektiv nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist (BGH StV 2002, 523). Dabei steht nicht in erster Linie die Ermittlung einer Tatfrequenz, sondern die des konkreten Lebenssachverhalts im Vordergrund; dieser ist ausgehend vom Beginn der Tatserie mit den unterschiedlichen Details etwa zu Tatausführung und Tatort der einzelnen Straftaten in dem gegebenen Tatzeitraum nach dem Zweifelssatz festzustellen und abzuurteilen (vgl. BGHR StGB vor § 1/Serienstraftaten Kindesmissbrauch 2; BGH NStZ 2009, 444). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
Das Landgericht hat zum einen den Beginn der Missbrauchshandlungen nicht hinreichend geklärt. Nach der Einlassung des Angeklagten knüpfte das „Üben“ des Vor- und Zurückschiebens der Vorhaut des Jungen an ein „Aufklärungsgespräch“ an, das auch von der Mutter bestätigt wird. Wann dieses Aufklärungsgespräch stattfand, wird vom angefochtenen Urteil nicht dargelegt; ebenso wenig werden etwaige Bekundungen des Geschädigten zu diesem Gespräch und seiner zeitlichen Einordnung im Rahmen der Missbrauchsserie wiedergegeben.
Zum anderen wird den Feststellungen ohne nähere kritische Erörterung die Angabe des Geschädigten zugrunde gelegt, dass es bei dem Vorlesen jedes Mal und zwar in immer gleichförmiger Weise zu Missbrauchshandlungen und einem Orgasmus des Angeklagten gekommen sei. Die von dem Geschädigten bekundeten - eher spärlichen - Details werden nicht in die äußeren Rahmenbedingungen des Geschehens eingebunden. So wird nicht erörtert, wo das Händewaschen des Geschädigten im Anschluss an die Taten stattfand und inwiefern dieses und etwaige Spermaspuren die Aufmerksamkeit seiner Mutter erregt haben oder erregen konnten. Schließlich werden mögliche Unterbrechungen des Missbrauchsgeschehens, etwa durch Urlaube oder Erkrankungen der Beteiligten, nicht geprüft.
Das neue Tatgericht wird diese Fragen - angesichts der auffälligen psychischen Reaktion des Geschädigten auf die Taten und ihre Aufdeckung nahe liegend mit Hilfe eines Sachverständigen - zu klären haben.
5. Der Senat ergänzt den notwendigen Teilfreispruch, da die zur Hauptverhandlung ohne Änderungen zugelassene Anklage aufgrund eines offensichtlichen Rechenfehlers von 159 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern ausgeht.
Basdorf Raum Brause
Schneider Bellay
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100060291
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BGH
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5. Strafsenat
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20100323
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5 StR 7/10
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Beschluss
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§ 22 StGB, § 23 StGB, § 267 StGB
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vorgehend LG Braunschweig, 4. September 2009, Az: 8 KLs 20/09, Urteil
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DEU
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Urkundenfälschung: Abgrenzung zwischen einer falschen Urkunde und einer schriftlichen Lüge
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 4. September 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO
a) aufgehoben im Fall II.7 der Urteilsgründe; insoweit wird der Angeklagte auf Kosten der Staatskasse freigesprochen; dieser werden die ihm hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen auferlegt;
b) im Übrigen dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte wegen Betruges in sechs Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung, zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wird.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer trägt die weiteren Kosten des Rechtsmittels.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in sechs Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung (Fälle II.1 bis II.6 der Urteilsgründe), sowie wegen Urkundenfälschung (Fall II.7 der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Seine weitergehende Revision ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen lieh sich der vielfach einschlägig vorbestrafte, einkommens- und vermögenslose Angeklagte in den Fällen II.1 bis II.6 der Urteilsgründe von mehreren ihm bekannten Personen teilweise wiederholt erhebliche Geldbeträge, zu deren Rückzahlung er weder bereit noch fähig war. Er spiegelte den Geschädigten dabei vor, vermögend und nur derzeit nicht in der Lage zu sein, an Bargeld zu gelangen. In zwei Fällen legte er ihnen gefälschte Urkunden vor, um diese unwahre Behauptung zu belegen. Im Fall II.7 „unterschrieb der Angeklagte einen aus Kopien von verschiedenen echten Urkunden hergestellten“ (UA S. 11) vermeintlich notariell beurkundeten Grundstückskaufvertrag, der ihn selbst als Verkäufer, zwei Käufer und einen Kaufpreis von 1.580.000 € auswiesen. Dieser tatsächlich nicht geschlossene Vertrag sollte zur Täuschung möglicher Darlehensgeber über die angebliche Zahlungsfähigkeit des Angeklagten verwendet werden, wurde tatsächlich aber nicht benutzt.
2. Zu Unrecht hat das Landgericht auch im Fall II.7 den Tatbestand der Urkundenfälschung bejaht.
a) Der Angeklagte hat keine unechte Urkunde hergestellt. Urkunden im Sinne des Strafrechts sind verkörperte Erklärungen, die ihrem gedanklichen Inhalt nach geeignet und bestimmt sind, für ein Rechtsverhältnis Beweis zu erbringen, und die ihren Aussteller erkennen lassen (st. Rspr.; vgl. etwa BGHSt 4, 60, 61; 24, 140, 141; Fischer, StGB 57. Aufl. § 267 Rdn. 2 m.w.N.). Soweit der Angeklagte den vermeintlich zustande gekommenen Grundstückskaufvertrag lediglich mit dem eigenen Namenszug unterschrieben hat, liegt eine Täuschung über den Aussteller der Gedankenerklärung nicht vor. Insofern handelt es sich um eine schriftliche Lüge (vgl. Fischer aaO Rdn. 18a), weil aus dem so geschaffenen Schriftstück der Angeklagte als Aussteller zu ersehen ist und lediglich der (fotokopierte) Bezugstext falsch ist. Mitaussteller sind hier auch nicht etwa die anderen Vertragsbeteiligten; deren Namenszüge sind lediglich einkopiert, ihnen fehlt die Authentizität einer Originalunterschrift. Durch das Zufügen von Kopien der Unterschriften der angeblichen Vertragspartner erfüllt der „Grundstückskaufvertrag“ nicht die Merkmale einer Urkunde, da das Schriftstück insoweit nach außen als Reproduktion erscheint (Fischer aaO Rdn. 12b m.w.N.).
b) Der Angeklagte hat auch keine echte Urkunde verfälscht, da er für die Herstellung der Kopie des vermeintlichen Grundstückskaufvertrages lediglich Kopien von echten Urkunden verwendete.
c) Die vom Landgericht festgestellte Täuschungsabsicht legt es zwar nahe, dass der Angeklagte von der hergestellten Vorlage eine weitere Kopie zumindest fertigen wollte, um das Werk insgesamt als Kopie eines unterschriebenen Originals erscheinen zu lassen. Dies begründet indes auch keine Strafbarkeit wegen eines Versuchs des Gebrauchens einer gefälschten Urkunde (vgl. Fischer aaO), weil zu keinem Zeitpunkt eine (falsche) Urkunde vorgelegen hat.
2. Die Verurteilung wegen Urkundenfälschung im Fall II.7 der Urteilsgründe kann daher keinen Bestand haben. Dies bedingt den Wegfall der davon betroffenen Einzelstrafe von neun Monaten und eine Änderung der Gesamtstrafe.
Der Senat hat in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO zur Straffrage selbst entschieden. Eine Aufhebung und Zurückverweisung lediglich zur Festsetzung einer neuen Gesamtstrafe würde zu einer hier - die abgeurteilten Taten datieren aus den Jahren 2005 bis 2007 - unvertretbaren Verfahrensverzögerung führen.
Auf der Grundlage der rechtsfehlerfreien Strafzumessungserwägungen des Landgerichts schließt es der Senat aus, dass für die verbleibenden sechs Taten, eine geringere Gesamtfreiheitsstrafe als eine solche von vier Jahren hätte verhängt werden können.
Brause Raum Schaal
Schneider Bellay
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060295
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100310
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IV ZR 207/08
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Urteil
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§ 21 Abs 2 Nr 2 InsO, § 398 BGB, § 399 BGB, § 808 Abs 1 BGB, § 4 VVG
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vorgehend OLG Stuttgart, 7. August 2008, Az: 7 U 17/08, Urteil vorgehend LG Stuttgart, 11. Dezember 2007, Az: 16 O 46/07
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DEU
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Legitimationswirkung des Versicherungsscheins: Befreiende Leistung an den Inhaber des Versicherungsscheins einer Lebensversicherung trotz unwirksamer Abtretung der Versicherungsansprüche infolge insolvenzbedingter Verfügungsbeschränkung des Versicherungsnehmers
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Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 7. August 2008 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der Kosten der Streithelferin.
Von Rechts wegen
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Der Kläger verlangt als Insolvenzverwalter von der Beklagten die Auszahlung der Rückkaufswerte von fünf Kapitallebensversicherungen, die der Schuldner bei der Beklagten abgeschlossen hatte.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 der den Versicherungsverträgen zugrunde liegenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Großlebens-Versicherung mit Kapitalleistung im Todes- und Erlebensfall (AVB) kann der Versicherer den Inhaber des Versicherungsscheines als verfügungs-, insbesondere empfangsberechtigt ansehen. Die Abtretung der Versicherungsansprüche ist gemäß § 13 Abs. 3 AVB "dem Versicherer gegenüber nur und erst dann wirksam, wenn sie der bisherige Verfügungsberechtigte schriftlich angezeigt hat."
In dem Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen des Schuldners wurde durch Beschluss vom 21. August 2006, der am selben Tag im Internet veröffentlicht wurde, der Kläger zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt und angeordnet, dass Verfügungen des Schuldners über Gegenstände seines Vermögens nur noch mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam seien. Die Streithelferin der Beklagten teilte dieser mit Schreiben vom 22. August 2006 mit, dass ihr der Schuldner die Lebensversicherungen abgetreten habe, und bat um Angabe der Rückkaufswerte zum schnellstmöglichen Zeitpunkt. Diesem Schreiben war eine Erklärung des Schuldners beigefügt, mit der er bestätigte, der Streithelferin die Lebensversicherungen abgetreten zu haben. Auf Anforderung der Beklagten übersandte die Streithelferin unter dem 9. September 2006 die schriftliche Abtretungserklärung vom 16. September 2003, wonach der Schuldner seine Ansprüche und Rechte aus den Versicherungsverträgen an die Streithelferin abgetreten hatte. Mit Schreiben vom 22. September 2006 kündigte die Streithelferin die fünf Lebensversicherungsverträge zum 30. September 2006 und legte der Beklagten die Versicherungsscheine im Original vor. Das Insolvenzgericht eröffnete am 1. Oktober 2006 das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter. Am 26. Oktober 2006 zahlte die Beklagte an die Streithelferin insgesamt 52.995,04 € aus.
Das Landgericht hat die Beklagte zur nochmaligen Zahlung dieses Betrages an den Kläger verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit der Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
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Die Revision ist nicht begründet.
I. Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf nochmalige Auszahlung der Rückkaufswerte verneint. Diese habe die Beklagte bereits mit befreiender Wirkung an die Streithelferin gezahlt, die allerdings nicht Gläubigerin der Versicherungsansprüche geworden sei. Die Abtretung sei absolut unwirksam, weil die gemäß § 13 Abs. 3 AVB für die Wirksamkeit erforderliche Abtretungsanzeige, die in dem Schreiben der Streithelferin vom 22. August 2006 nebst Anlage gesehen werden könne, erst bei der Beklagten eingegangen sei, als der Versicherungsnehmer wegen der insolvenzrechtlichen Verfügungsbeschränkung nicht mehr (allein) verfügungsbefugt gewesen sei. Die Beklagte werde auch nicht durch § 409 Abs. 1 BGB geschützt, weil die Streithelferin im maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Abtretungsurkunde nicht verfügungsbefugte Gläubigerin gewesen sei.
Die Beklagte habe jedoch nach § 808 Abs. 1 Satz 1 BGB deshalb befreiend an die Streithelferin geleistet, weil diese Inhaberin der Versicherungsscheine gewesen sei und sie der Beklagten vorgelegt habe. Die Inhaberklausel des § 11 Abs. 1 Satz 1 AVB mache den Versicherungsschein zum so genannten "hinkenden" Inhaberpapier im Sinne von § 808 Abs. 1 BGB. Es sei kein Grund ersichtlich, die Liberationswirkung im Falle der Insolvenz des Berechtigten nicht eingreifen zu lassen. Eine Ausnahme gelte dann, wenn der Versicherer die mangelnde Verfügungsbefugnis des Inhabers positiv gekannt oder sonst gegen Treu und Glauben die Leistung bewirkt habe. Die Kenntnis der Beklagten von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens werde nicht gemäß § 82 InsO vermutet. Diese Vorschrift, die dem Leistenden die Beweislast für seine Unkenntnis von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auferlege, sei auf den Fall der Leistung an den Inhaber eines "hinkenden" Inhaberpapiers nicht anwendbar. Im Übrigen habe die Beklagte nachgewiesen, dass alle in den Auszahlungsvorgang eingebundenen Personen im Zeitpunkt der Auszahlung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Versicherungsnehmers nicht gekannt hätten. Der Beklagten sei auch keine grob fahrlässige Unkenntnis anzulasten. Grundsätzlich träfen den Schuldner aus einem Inhaberpapier keine Sorgfalts- oder Schutzpflichten gegenüber dem Gläubiger. Insbesondere brauche er die Berechtigung des Urkundeninhabers nicht nachzuprüfen. Nur wenn ihm die Urkunde unter Begleitumständen vorgelegt werde, die den Verdacht auf die fehlende Berechtigung des Inhabers nahe legten, müsse er Nachforschungen anstellen. Solche verdächtigen Begleitumstände hätten hier nicht vorgelegen. Auf ein Insolvenzverfahren hindeutende konkrete Hinweise seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Es sei daher nicht zu beanstanden, wenn die Sachbearbeiterinnen der Beklagten eine nach deren Hausanweisung in Verdachtsfällen vorgesehene Überprüfung auf ein Insolvenzverfahren unterlassen hätten.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.
Das Berufungsgericht hat zu Recht die Legitimationswirkung der von der Streithelferin vorgelegten Versicherungsscheine der Beklagten zu Gute gehalten und daraus ihre Leistungsfreiheit abgeleitet.
1. Zutreffend hat das Berufungsgericht die Versicherungsscheine als so genannte hinkende Inhaberpapiere bzw. qualifizierte Legitimationspapiere i.S. von § 808 Abs. 1 BGB eingeordnet. Das ergibt sich aus § 11 Abs. 1 Satz 1 AVB, wonach der Versicherer den Inhaber des Versicherungsscheines als verfügungs-, insbesondere empfangsberechtigt ansehen kann. Eine solche dem Versicherer vertraglich eingeräumte Berechtigung, an den Inhaber des Versicherungsscheins mit befreiender Wirkung zu leisten, ohne aber diesem gegenüber zur Leistung verpflichtet zu sein, macht den Versicherungsschein gemäß § 4 Abs. 1 VVG zu einem qualifizierten Legitimationspapier im Sinne des § 808 Abs. 1 BGB. Die Legitimationswirkung umfasst die vertraglich versprochenen Leistungen, zu denen auch die Leistung des Rückkaufswerts nach Kündigung des Vertrages gehört. Demgemäß erstreckt sich die Legitimationswirkung des Versicherungsscheins auch auf das Kündigungsrecht zur Erlangung des Rückkaufswerts. Der Versicherer kann den Inhaber des Versicherungsscheins, der die Auszahlung des Rückkaufswerts erstrebt, als zur Kündigung berechtigt ansehen (Senatsurteile vom 18. November 2009 - IV ZR 134/08 - juris Tz. 17; vom 20. Mai 2009 - IV ZR 16/08 - VersR 2009, 1061 Tz. 9; vom 22. März 2000 - IV ZR 23/99 - VersR 2000, 709 unter II 1 c, 3 a m.w.N.). Eine derartige Inhaberklausel hält der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB stand (vgl. Senatsurteil vom 22. März 2000 aaO unter II 2 b und c, 3, 4).
2. Die Liberationswirkung des § 808 Abs. 1 Satz 1 BGB scheitert hier nicht daran, dass die Streithelferin aufgrund des insolvenzrechtlichen Verfügungsverbots materiell-rechtlich nicht Inhaberin der Rechte aus dem Versicherungsvertrag wurde.
a) Durch die mit dem Schuldner vereinbarte Abtretung konnte die Streithelferin die Versicherungsansprüche nicht erwerben, weil der Schuldner die Abtretung nicht wirksam gemäß § 13 Abs. 3 AVB angezeigt hatte.
aa) Diese Bestimmung macht die Wirksamkeit der Abtretung davon abhängig, dass sie der bisherige Verfügungsberechtigte dem Versicherer schriftlich angezeigt hat. Damit will der Versicherer als Schuldner der Forderungen nicht nur sicherstellen, dass seine Leistung für den vertraglich vorgesehenen Zweck verwendet wird. Er will insbesondere die Abrechnung übersichtlich gestalten und verhindern, dass ihm eine im Voraus nicht übersehbare Vielzahl von Gläubigern gegenübertritt. So will er weitergehend als durch den Schuldnerschutz der §§ 406 bis 410 BGB vor mehrfacher Inanspruchnahme geschützt sein (BGHZ 112, 387, 388; BGH, Urteil vom 23. April 1997 - XII ZR 20/95 - NJW 1997, 2747 unter 2 b). Angesichts dieser erkennbaren Zielsetzung ist eine derartige Klausel nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers so auszulegen, dass sie als Ausnahme vom Regelfall der Abtretbarkeit gemäß § 398 BGB vereinbarungsgemäß von vornherein für die zu begründende Forderung den (eingeschränkten) Abtretungsausschluss des § 399, 2. Alt. BGB festlegt. Die Wirkung dieses Abtretungsausschlusses besteht darin, dass eine abredewidrig nicht angezeigte Abtretung absolut unwirksam ist (BGHZ 112 aaO 389 ff.; Senatsurteil vom 19. Februar 1992 - IV ZR 111/91 - VersR 1992, 561 unter II 1 a und 2; BGH, Urteil vom 23. April 1997 aaO, jeweils m.w.N.).
bb) Das gilt auch dann, wenn die Abtretungsanzeige bei dem Versicherer zu einem Zeitpunkt eingeht, in dem der Versicherungsnehmer nicht mehr verfügungsbefugt ist. Die Verfügungsbefugnis muss grundsätzlich in dem Augenblick vorhanden sein, in dem die Verfügung wirksam werden soll. Auf den Zeitpunkt der Verfügungserklärung kommt es hingegen nicht an. Hat das Verfügungsgeschäft außer der Willenserklärung noch weitere Wirksamkeitserfordernisse, die erst später eintreten, so muss die Verfügungsbefugnis noch zur Zeit des Eintritts des letzten Tatbestandsmerkmals gegeben sein (BGHZ 27, 360, 366 m.w.N.; vgl. BGHZ 135, 140, 144; BGH, Urteil vom 10. Dezember 2009 - IX ZR 1/09 - DB 2010, 156 Tz. 25 m.w.N.). Da die Abtretung von Ansprüchen aus Lebensversicherungsverträgen erst mit der schriftlichen Anzeige dem Versicherer gegenüber wirksam wird, muss die Verfügungsbefugnis des bisherigen Verfügungsberechtigten noch im Zeitpunkt der Abtretungsanzeige gegeben sein. Dies war hier nicht der Fall. Selbst wenn man die Bestätigung des Schuldners in der Anlage zu dem Schreiben der Streithelferin vom 22. August 2006 als Abtretungsanzeige genügen lässt, konnte sie die Wirksamkeit der Abtretung nicht herbeiführen. Als dieses Schreiben bei der Beklagten einging, war der Schuldner nicht mehr (allein) verfügungsbefugt, sondern konnte Verfügungen nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO nur noch mit Zustimmung des Klägers als vorläufigen Insolvenzverwalters treffen. Da der Kläger seine Zustimmung verweigert hat, ist die Abtretung nicht wirksam geworden (§ 24 Abs. 1 i.V. mit § 81 Abs. 1 Satz 1 InsO).
b) Die fehlgeschlagene Abtretung der Versicherungsansprüche steht indessen der Liberationswirkung der Versicherungsscheine nicht entgegen. Eine befreiende Leistung an den Inhaber des qualifizierten Legitimationspapiers ist auch dann möglich, wenn dieser die verbriefte Forderung nicht wirksam erworben hat. Gerade für den Ausnahmefall, in dem der Urkundeninhaber nicht zugleich Inhaber der Forderung ist, kommt der Erweiterung der Leistungsberechtigung Bedeutung zu. Nur für diesen Fall bezweckt und bewirkt die Ausgestaltung des Versicherungsscheins zu einem qualifizierten Legitimationspapier den Schutz des Schuldners, wenn er an den Urkundeninhaber leistet; denn ihm wird das Risiko der Doppelzahlung und der Uneinbringlichkeit seiner Kondiktion gegen den vermeintlichen Gläubiger abgenommen (Senatsurteil vom 22. März 2000 aaO unter 2 c). Für die Wirkung des § 808 Abs. 1 Satz 1 BGB kommt es daher nicht darauf an, ob der Inhaber materiell-rechtlich verfügungsbefugt oder berechtigt ist oder war. Vielmehr fingiert das qualifizierte Legitimationspapier zugunsten des Schuldners, dass der Inhaber einziehungsberechtigt ist, und verlangt keine Nachprüfung der tatsächlichen Berechtigung (vgl. Staudinger/Marburger, BGB [2009] § 808 Rdn. 23). Dies gilt auch dann, wenn der ursprüngliche Gläubiger - wie hier der Versicherungsnehmer - in seiner Verfügungsbefugnis durch ein insolvenzrechtliches Verfügungsverbot eingeschränkt war und daher die verbriefte Forderung nicht wirksam auf den Inhaber übertragen konnte. Der Rechtsschein der Einzugsberechtigung erwächst allein aus der Inhaberschaft des qualifizierten Legitimationspapiers. Wie es in den Besitz des Anspruchstellers gekommen ist und ob dieser materiell-rechtlich forderungsberechtigt, etwa selbst durch Abtretung Forderungsinhaber geworden ist, soll für den Schuldner keine Rolle spielen. Da der Aussteller der Urkunde grundsätzlich jeder weiteren Prüfung der Berechtigung des Inhabers enthoben sein soll, braucht er auch nicht zu prüfen, ob die Verfügungsberechtigung des ursprünglichen Forderungsinhabers noch fortbesteht. Vielmehr kann er an den Inhaber, wenn dieser das Papier vorlegt, leisten, ohne prüfen zu müssen, wer materiell-rechtlich verfügungsbefugt ist.
3. Die schuldbefreiende Wirkung der an die Streithelferin erbrachten Zahlung ist auch nicht wegen Bösgläubigkeit oder Treuwidrigkeit der Beklagten ausgeschlossen.
a) Die Legitimationswirkung der Urkunde greift nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann nicht ein, wenn der Schuldner die mangelnde Verfügungsberechtigung des Inhabers positiv kennt oder sonst gegen Treu und Glauben die Leistung bewirkt hat (Senatsurteile vom 20. Mai 2009 aaO Tz. 14; vom 22. März 2000 aaO unter II 2 c, 4 b; vom 24. Februar 1999 - IV ZR 122/98 - VersR 1999, 700 unter 2 a). Diese Voraussetzungen sind nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht erfüllt. Es ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass die zuständigen Sachbearbeiterinnen der Beklagten im Zeitpunkt der Auszahlung keine positive Kenntnis von der Einleitung des Insolvenzeröffnungsverfahrens und der angeordneten Verfügungsbeschränkung hatten. Anhaltspunkte dafür, dass andere in den Auszahlungsvorgang eingebundene Mitarbeiter der Beklagten von dem Insolvenzverfahren wussten, hat das Berufungsgericht nicht gesehen. Da nach Auffassung des Berufungsgerichts die Beklagte den Nachweis geführt hat, dass sie keine positive Kenntnis von der Verfügungsbeschränkung des Versicherungsnehmers und der daraus resultierenden Unwirksamkeit der Abtretung hatte, kann offen bleiben, ob die Kenntnis der Beklagten von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 82 InsO vermutet wird und sie daher ihren guten Glauben an die fortdauernde Verfügungsbefugnis des Schuldners beweisen musste.
b) Ebenfalls kann dahinstehen, ob die befreiende Wirkung auch dann entfällt, wenn der Aussteller des Legitimationspapiers grob fahrlässig keine Kenntnis von der Nichtberechtigung des Inhabers hatte (dafür: AnwK-BGB/Siller § 808 Rdn. 5; MünchKomm-BGB/Habersack 5. Aufl. § 808 Rdn. 15; Staudinger/Marburger aaO Rdn. 24, jeweils m.w.N.; offen geblieben auch in den Senatsurteilen vom 20. Mai 2009 aaO m.w.N.; vom 24. Februar 1999 aaO unter 2 b). Auch eine grob fahrlässige Unkenntnis der Beklagten hat das Berufungsgericht nicht feststellen können. Dabei hat es weder den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit verkannt noch bei der Bewertung wesentliche Umstände außer Acht gelassen. Es hat insbesondere die Hausanweisung der Beklagten in Erwägung gezogen und keinen ausreichenden Hinweis auf ein eingeleitetes Insolvenzverfahren gesehen. Im Übrigen kann eine derartige Hausanweisung nicht die Maßstäbe der groben Fahrlässigkeit zu Lasten der Beklagten verschieben. Diese tatrichterliche Würdigung lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
Terno Seiffert Dr. Kessal-Wulf
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
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4. Zivilsenat
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20100310
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IV ZR 255/08
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Beschluss
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§ 3 ZPO, § 22 JVEG
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vorgehend KG Berlin, 22. Oktober 2008, Az: 11 U 15/08, Urteil vorgehend LG Berlin, 12. März 2008, Az: 23 O 97/07
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DEU
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Stufenklage des Erben gegen den Bevollmächtigten des Erblassers: Wert der Beschwer einer Verurteilung zur Auskunftserteilung; Bewertung des Zeitaufwands
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Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 11. Zivilsenats des Kammergerichts vom 22. Oktober 2008 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Streitwert: 2.000 €
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I. Die von dem Nachlasspfleger vertretenen Kläger sind die unbekannten Erben der am 17. Januar 1920 geborenen und am 10. Februar 2001 verstorbenen Erblasserin R. W. Sie fordern von der Beklagten im Rahmen einer Stufenklage Auskunft und Rechnungslegung über die von der Beklagten seit dem Tod der Erblasserin geführten Geschäfte. Die Erblasserin ist die zweite Ehefrau des am 26. Dezember 1972 verstorbenen H. H. W. Dieser wurde von der Beklagten - seiner Tochter -, einer weiteren Tochter sowie der Erblasserin zu je 1/3 beerbt, wobei die Erblasserin mit ihrem Erbteil als befreite Vorerbin sowie die beiden Töchter als Nacherbinnen eingesetzt wurden.
Die Beklagte nahm bereits zu Lebzeiten der Erblasserin auf der Grundlage einer ihr 1980 erteilten Vollmacht deren Angelegenheiten wahr. Mittels dieser Vollmacht nahm sie auch nach dem Tod der Erblasserin Verfügungen über ein auf den Namen der Erblasserin lautendes Girokonto bei der D. Bank vor. Ferner löste sie nach dem Tod der Erblasserin deren Wohnung auf und verwaltete eine im Eigentum der Erblasserin stehende Eigentumswohnung. Die Erblasserin war ferner u.a. Inhaberin eines Wertpapierdepots, welches zur Absicherung der Finanzierung der Wohnung diente.
Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, Auskunft zu erteilen und Rechnung zu legen lediglich über das bei der D. Bank geführte Girokonto und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die beiderseitigen Berufungen der Parteien hat das Berufungsgericht die Beklagte verurteilt, den Klägern über die von ihr seit dem Todestag geführten Geschäfte betreffend den Nachlass der R. W. Auskunft zu erteilen und über die von ihr dabei getätigten Einnahmen und Ausgaben Rechnung zu legen und zwar mit Ausnahme eines Postgirokontos der Erblasserin.
Nach Anhörung der Parteien hat das Berufungsgericht entsprechend deren Vortrag den Streitwert auf 2.000 € festgesetzt.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 € nicht übersteigt (§ 26 Nr. 8 EGZPO).
1. Wird bei einer Stufenklage eine Verurteilung zur Auskunft (gegebenenfalls zusätzlich verbunden mit Rechnungslegung) ausgesprochen, so ist für die Bemessung des Wertes des Beschwerdegegenstandes das Interesse des Rechtsmittelsführers maßgebend, die Auskunft nicht erteilen zu müssen. Abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall eines besonderen Geheimhaltungsinteresses kommt es auf den Aufwand an Zeit und Kosten an, den die Erteilung der geschuldeten Auskunft (und Rechnungslegung) erfordert (BGHZ 164, 63, 65 f.; 128, 85, 87 f.; Senatsbeschlüsse vom 1. Oktober 2008 - IV ZB 27/07 - ZEV 2009, 38 Tz. 4; vom 30. April 2008 - IV ZR 287/07 - FamRZ 2008, 1346 Tz. 5 f.; vom 20. Februar 2008 - IV ZB 14/07 - NJW-RR 2008, 889 Tz. 13 f.). Der eigene Zeitaufwand des Auskunftspflichtigen kann hierbei entsprechend den Regelungen für Zeugen im JVEG bewertet werden, woraus sich maximal 17 Euro/Stunde ergeben (§ 22 JVEG; zur entsprechenden Heranziehung des JVEG vgl. Senatsbeschluss vom 20. Februar 2008 aaO Tz. 14). Kosten für die Hinzuziehung von sachkundigen Hilfspersonen können nur berücksichtigt werden, wenn sie zwangsläufig entstehen, weil der Auskunftspflichtige zu einer sachgerechten Auskunftserteilung allein nicht in der Lage ist (Senatsbeschluss vom 1. Oktober 2008 aaO Tz. 9; BGH, Beschluss vom 31. Januar 2007 - XII ZB 133/06 - FamRZ 2007, 714 Tz. 4). Das kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, etwa bei Angaben zu größeren Unternehmensbeteiligungen für länger zurück liegende Zeiträume (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. April 2009 - XII ZB 49/07 - NJW 2009, 2218 Tz. 14; vom 14. Januar 2009 - XII ZB 146/08 - FamRZ 2009, 594 Tz. 12).
2. Auf dieser Grundlage hat die Beklagte nicht glaubhaft gemacht, dass der Wert der Beschwer 20.000 € übersteigt. Das Berufungsgericht hat zunächst mit Beschluss vom 21. Oktober 2008 den Streitwert einheitlich auf 2.500 € festgesetzt, ohne dass sich hiergegen eine der Parteien gerichtet hat. Mit weiterem Schreiben vom 17. November 2008 hat es die Parteien dann aufgefordert, ergänzend zum Gebührenstreitwert Stellung zu nehmen. Insoweit haben die Kläger mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2008 ausgeführt, die von ihnen eingelegte Berufung sei mit 2.000 € zu beziffern. Die Berufung der Beklagten beziehe sich auf die Auskunft insgesamt. Der Kostenaufwand zur Erfüllung der Auskunft werde auf 2.000 € geschätzt. Entsprechend hat die Beklagte dann selbst mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2008 ausgeführt, aus ihrer Sicht bestünden keine Bedenken, den Streitwert mit 2.000 € festzusetzen. Ihre Berufung beziehe sich nur auf den Auskunftsanspruch und könne daher auch nicht mit mehr als 2.000 € bewertet werden.
Auf der Grundlage dieser einvernehmlichen Festsetzung des Streitwerts auf 2.000 € ist es nicht nachvollziehbar und auch nicht glaubhaft gemacht, wenn die Beklagte mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerdebegründung geltend macht, ihre voraussichtliche Kostenbelastung für die Erteilung der erforderlichen Informationen betrage 25.000 €. Hierzu verweist sie auf ein Schreiben ihrer zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten vom 18. Februar 2009 an sie, in dem derartige Kosten für die Auskunftserteilung genannt werden. Insoweit ist indessen nicht nachvollziehbar, warum die Beklagte einerseits durch ihre zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2008 an das Berufungsgericht noch selbst einen Streitwert von 2.000 € angibt, dann aber nur kurze Zeit später in einem Schreiben der Prozessbevollmächtigten vom 18. Februar 2009 ein Kostenaufwand von 25.000 € genannt wird. Auch die dort angeführten Gründe für den Kostenaufwand bezüglich Auskunft und Rechnungslegung sind nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Selbst wenn die Beklagte ausweislich des vorgelegten ärztlichen Attestes komplexe und juristische Sachverhalte ohne Beistand nicht vollständig erfassen kann, folgt hieraus nicht das Erfordernis, für die Auskunftserteilung und Rechnungslegung vollständig auf anwaltlichen Rat zurückzugreifen und hierfür ein gefordertes Stundenhonorar zwischen 200 € und 300 € zu zahlen. Im Wesentlichen hat die Beklagte die Auskunft selbst aus eigenem Wissen zu erteilen, insbesondere sich dazu zu erklären, welche Verfügungen den Kontobewegungen zugrunde liegen, insbesondere denen, die von den Klägern in einem Handelsbuchauszug der D. Bank für den Zeitraum vom 16. Februar 2001 bis zum 30. September 2002 im Einzelnen aufgelistet wurden. Wieso die Beklagte hier nicht in der Lage sein will, sich jedenfalls an Verfügungen größeren Umfangs zu erinnern, z.B. am 28. März 2001 über 70.000 DM und am 13. Juli 2001 über 50.000 DM, ist nicht dargetan. Im Übrigen muss sie gegebenenfalls mit Hilfe von Unterlagen, die bei ihren früheren Bevollmächtigten sowie bei dem Steuerberater vorhanden sind, die einzelnen von ihr vorgenommenen Verfügungen aufklären. Warum hier allein für den Steuerberater ein Kostenaufwand von 5.000 € netto erforderlich sein soll, erschließt sich nicht.
Bezüglich der Auflösung der Wohnung der Erblasserin hat die Beklagte vorgetragen, dort vorgefundene Gegenstände seien, soweit sie nicht innerhalb der Familie Abnehmer gefunden hätten, entsorgt worden. Hier wird die Beklagte im Kreis ihrer Familienangehörigen sowie der Angehörigen der Erblasserin nachzufragen haben, wer welche Gegenstände nach dem Tod der Erblasserin aus der Wohnung erhalten hat. Warum hier ein besonderer Kostenaufwand oder gar eine Reise des Bevollmächtigten zu den Verwandten nach Österreich erforderlich sein soll, ist nicht ersichtlich. Bezüglich der im Eigentum der Erblasserin stehenden Eigentumswohnung hat die Beklagte anzugeben, welche Einnahmen in der Zeit nach dem Erbfall erzielt und wie diese verbucht wurden. Weiter hat die Erblasserin noch mitzuteilen, ob und in welcher Form sie an der Auszahlung einer Steuererstattung an ihre Nichte K. mitgewirkt hat, wobei diese Steuererstattung nach dem Vortrag der Kläger der Erblasserin zugestanden haben soll. Schließlich sind noch Auskünfte zum Depotkonto der Erblasserin bei der D. Bank zu erteilen.
Mag diese Auskunftserteilung und Rechnungslegung auch mit einem gewissen Aufwand verbunden sein, so ist jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, warum hierfür ein Aufwand für anwaltliche Betreuung von pauschal 15.000 € zuzüglich Mehrwertsteuer, Steuerberaterkosten von 5.000 € netto sowie - nicht näher begründete und aufgeschlüsselte - Detekteikosten von 2.500 € anfallen sollen.
Terno Seiffert Kessal-Wulf
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060316
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100318
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IX ZR 105/08
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Beschluss
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§ 675 BGB
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vorgehend OLG Köln, 15. Mai 2008, Az: 8 U 32/07, Urteil vorgehend LG Köln, 9. August 2007, Az: 2 O 509/06, Urteil
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DEU
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Steuerberatervertrag: Umfang der Beratungspflicht im Zusammenhang mit einer Betriebsprüfung
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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 15. Mai 2008 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 28.562,16 € festgesetzt.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft (§ 544 Abs. 1 Satz 1 ZPO) und zulässig (§ 544 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 ZPO). Sie hat jedoch keinen Erfolg, weil sie keinen Zulassungsgrund aufdeckt (§ 543 Abs. 2 ZPO).
1. Das Berufungsgericht hat den Umfang der Aufklärungspflicht des Steuerberaters unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Senats zutreffend beurteilt (vgl. BGH, Urt. v. 15. Juli 2004 - IX ZR 472/00, ZIP 2004, 2058, 2059). Durch die Entscheidung des Senats vom 1. März 2007 wurde klargestellt, dass dem Mandanten keine vollständige rechtliche Analyse, sondern die Hinweise zu vermitteln sind, deren er in seiner konkreten Situation als notwendige Entscheidungsgrundlage bedarf (BGHZ 171, 261, 264 Rn. 10). Weitergehende Anforderungen hat das Berufungsgericht nicht gestellt.
2. Der konkrete Umfang der Pflichten des rechtlichen Beraters richtet sich nach dem erteilten Mandat. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war es Aufgabe des Beklagten, die Mandanten in die Betriebsprüfung zu begleiten und ergangene Steuerbescheide zu prüfen.
Von der dann erforderlichen umfassenden Beratung zur Möglichkeit des Einspruchs durfte der Beklagte nur absehen, soweit der Mandant eindeutig zu erkennen gegeben hatte, dass er des Rates nicht bedarf. Dies wäre nach ständiger Rechtsprechung vom Beklagten zu beweisen gewesen (BGH, Urt. v. 26. Oktober 2000 - IX ZR 289/99, ZIP 2001, 33, 34 m.w.N.). Eine mögliche Weisung des Mandanten, gegen die Steuerbescheide nicht vorzugehen, hätte nur nach ordnungsgemäßer Belehrung Bedeutung erlangen können. Hieran fehlt es.
3. Die Grundsätze des Anscheinsbeweises bei beratungsgerechtem Verhalten hat das Berufungsgericht zutreffend zugrunde gelegt. Sollte es sich bei der Anwendung geirrt haben, läge allenfalls ein Subsumtionsfehler vor, der nicht zulassungsrelevant wäre. Er wäre zudem nicht entscheidungserheblich, weil sich das Berufungsgericht gemäß § 287 ZPO unabhängig vom Anscheinsbeweis die erforderliche Überzeugung von der Kausalität verschafft hat.
Kayser Gehrlein Vill
Fischer Grupp
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100060317
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100217
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IV ZR 349/07
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Beschluss
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§ 23 VVG
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vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 3. April 2007, Az: 9 U 233/05, Urteil vorgehend LG Hamburg, 23. November 2005, Az: 418 O 18/05
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DEU
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Warenkreditversicherung für Kraftstofflieferungen an Tankstellenpächter: Objektive Gefahrerhöhung durch eine Pool-Vereinbarung zur Durchführung von Streckengeschäften
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird die Revision gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 3. April 2007 zugelassen.
Das vorgenannte Urteil wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 20.451,68 €
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I. Das Oberlandesgericht hat der Klägerin einen auf Rückzahlung ihrer Versicherungsleistung in Höhe von 20.451,68 € gerichteten Bereicherungsanspruch versagt und dabei angenommen, die von verschiedenen Tankstellenpächtern, darunter dem Zeugen P., und der Firma O. (im Folgenden: Firma O.) getroffene Vereinbarung zur Nutzung freier Warenkredit-Versicherungskontingente der Tankstellenpächter habe mit Blick auf den Warenkreditversicherungsvertrag der Beklagten betreffend Kraftstofflieferungen an den Tankstellenpächter P. keine Gefahrerhöhung dargestellt und sei auch nicht sittenwidrig gewesen. Dabei hat es entscheidend darauf abgestellt, diesem Versicherungsvertrag sei keine Einschränkung dahingehend zu entnehmen, dass die Verbindlichkeiten des Tankstellenpächters nur bei Kauf von Treibstoff für den eigenen Bedarf seiner Tankstelle versichert gewesen seien. Vielmehr seien ihm auch so genannte Streckengeschäfte erlaubt gewesen.
II. Das Berufungsurteil verletzt dabei in entscheidungserheblicher Weise das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Der Senat hat deshalb ihre Revision zugelassen und die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils gemäß § 544 Abs. 7 ZPO im Beschlusswege zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
1. Die Feststellung einer Gefahrerhöhung erfordert einen Vergleich des versicherten Risikos mit der nach einer Änderung möglicherweise risikorelevanter Umstände neuen Gefahrenlage. Das kann immer nur anhand der Umstände des Einzelfalles geschehen, denn die Vorschriften des Versicherungsvertragsgesetzes über Gefahrerhöhungen dienen dem Zweck, die im Versicherungsvertrag ausgehandelte Balance zwischen versichertem Risiko und Prämie zu wahren, oder den Vertrag anzupassen - und notfalls auch zu beenden - wenn dieses Gleichgewicht gestört ist.
Ausgangspunkt ist - wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat - die Auslegung des Vertrages zur Ermittlung des versicherten Risikos (vgl. dazu auch HK-VVG/Karczewski § 23 Rdn. 9, 10). Sodann muss dieses versicherte Risiko mit der Risikolage verglichen werden, wie sie sich nach Veränderung der Umstände darstellt. Dabei kommt es - wie in der Senatsrechtsprechung geklärt ist - nicht auf einzelne Gefahrumstände an; stattdessen ist zu fragen, wie sich die Gefahrenlage seit der Stellung des Antrags auf Abschluss des Versicherungsvertrages im Ganzen entwickelt hat. Hierfür sind alle ersichtlichen gefahrerheblichen Tatsachen in Betracht zu ziehen. (Senatsurteil vom 23. Juni 2004 - IV ZR 219/03 - VersR 2005, 218 unter II 1 b (1); BGHZ 79, 156 [158] = VersR 1981, 245 [246]; Senatsurteil vom 5. Mai 2004 - IV ZR 183/03 - VersR 2004, 895 = juris unter II 2 a aa).
2. Dem hat das Berufungsgericht nicht genügt. Es hat die besonderen Umstände des Einzelfalles weitgehend unberücksichtigt gelassen und insbesondere aus dem Blick verloren, dass die Klägerin vorgetragen und unter Beweis gestellt hatte, die Beklagte habe sich an der so genannten Pool-Vereinbarung zwischen mehreren Tankstellenpächtern und der Firma O. beteiligt. Diesem Vortrag wäre nachzugehen gewesen.
a) Schon die Auslegung des Warenkredit-Versicherungsvertrages betreffend Kraftstofflieferungen an den Pächter P. bleibt zur Frage, welches Risiko die Klägerin übernommen hatte, insoweit unvollständig, als sich das Berufungsgericht mit der allgemeinen Feststellung begnügt, der Versicherungsschutz habe sich auch auf so genannte "Streckengeschäfte" erstreckt. Es wäre weiter zu prüfen gewesen, ob sich das Leistungsversprechen auf jegliches Streckengeschäft bezog oder der Einschränkung unterlag, dass bei Abschluss solcher Streckengeschäfte keine besonderen Hinweise auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit des Zweitabnehmers vorliegen durften, die ihrerseits die Bonität des Bestellers gefährdete.
b) Im Weiteren wären die von der Klägerin vorgetragenen veränderten Umstände mit dem vertraglichen Soll-Zustand vergleichend zu würdigen gewesen. Das hat das Berufungsgericht weitgehend versäumt.
aa) Zwar mag sein Hinweis darauf, dass dem versicherten Besteller nach dem Warenkreditversicherungsvertrag auch Streckengeschäfte erlaubt waren, noch denjenigen Bedenken begegnen, die die Klägerin ganz allgemein gegen solche Streckengeschäfte erhebt. Das betrifft das Argument, dass ein Tankstellenpächter beim Kraftstoffkauf für die von ihm betriebene Tankstelle mit den nachfolgenden Barverkäufen an Endabnehmer das Risiko ausbleibender Bezahlung breit streue und deshalb größere Zahlungsausfälle in der Regel nicht zu besorgen seien, während man sich mit einem Streckengeschäft für einen einzelnen Lieferungsempfänger allein von dessen Zahlungsfähigkeit und -willigkeit abhängig mache und dadurch grundsätzlich das Risiko eines Totalausfalls erhöhe.
bb) Im Weiteren hat sich das Berufungsgericht aber nicht ausreichend mit der von der Klägerin vorgetragenen, teilweise auch unstreitigen besonderen Vorgeschichte der so genannten Pool-Vereinbarung und den konkreten Hinweisen auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit der Firma O. befasst.
Danach waren zu Ende des Jahres 2000 weder die Beklagte als Verkäuferin von Kraftstoffen noch die Klägerin als Warenkreditversicherer mit Blick auf Zweifel an der Liquidität der Firma O. weiterhin bereit, das Zahlungsausfallrisiko künftiger Lieferungen an letztere zu tragen. Die Klägerin hatte eine von der Beklagten beantragte Erhöhung der Versicherungssumme in dem Kreditversicherungsvertrag betreffend Lieferungen an die Firma O. ausdrücklich abgelehnt, und die Beklagte hatte daraufhin der Firma O. mit einem Lieferstopp gedroht, weil deren versichertes Lieferkontingent längst überschritten war.
Die so genannte Pool-Vereinbarung mehrerer Tankstellenpächter mit der Firma O. zielte vor diesem Hintergrund darauf ab, die freien Versicherungskontingente dieser Pächter in der Weise für künftige Kraftstofflieferungen der Beklagten an die Firma O. nutzbar zu machen, dass fortan die Pächter in entsprechendem Umfang als Zwischenhändler auftraten. Die Gestaltung der neuen Lieferverträge lief darauf hinaus, dass in den - die Tankstellenpächter betreffenden - Versicherungsverträgen das Risiko eines Forderungsausfalls nicht mehr in erster Linie von der Zahlungsfähigkeit der Tankstellenpächter, sondern letztlich vorwiegend von der Zahlungsfähigkeit der Firma O. abhing, also einem Risiko, das die Klägerin ersichtlich nicht zu tragen bereit war.
Spricht damit bereits vieles dafür, dass die genannten Umstände zumindest objektiv eine Gefahrerhöhung bedeuteten, so durfte das Berufungsgericht den Klägervortrag, die Beklagte habe sich an der so genannten Pool-Vereinbarung beteiligt, nicht übergehen. Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, den dazu angebotenen Beweis zu erheben. Denn hiervon hängt es ab, ob eine subjektive Gefahrerhöhung vorlag, auf die die Klägerin ihre Leistungsfreiheit stützt.
Terno Wendt Felsch
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060320
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100113
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IV ZR 28/09
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Beschluss
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§ 21 Nr 1 Buchst c VHB 1992, § 242 BGB
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vorgehend OLG Celle, 29. Januar 2009, Az: 8 U 187/08, Urteil vorgehend LG Hannover, 5. September 2008, Az: 13 O 216/07 nachgehend BGH, 17. März 2010, Az: IV ZR 28/09, Revision verworfen / zurückgewiesen
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DEU
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Hausratversicherung: Treuwidrige Berufung auf eine Leistungsfreiheit wegen verspäteter Vorlage einer Stehlgutliste bei der Polizei
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Der Senat beabsichtigt, die Revision gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 29. Januar 2009 auf Kosten des Klägers
-zu verwerfen, soweit die Revision sich gegen die Abweisung der Klage auf Erstattung von Kosten in Höhe von 3.898,95 € für die Reparatur von Gebäudeschäden und die Auswechslung von Schlössern wendet,
-im Übrigen nach § 552a ZPO zurückzuweisen.
Streitwert: bis 80.000 €
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Der Kläger begehrt nach einem behaupteten Einbruch in sein Haus Versicherungsleistungen aus einer bei der Beklagten gehaltenen Hausratversicherung, der die Allgemeinen Hausratversicherungsbedingungen (VHB 92) zugrunde liegen. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.
1. Soweit sich die Revision des Klägers gegen die Versagung des mit der Klage erhobenen Anspruchs auf Erstattung von Reparaturkosten in Höhe von 3.898,95 € für einbruchbedingte Gebäudeschäden und die Auswechslung von Schlössern wendet, ist sie unzulässig.
Das Berufungsgericht hat die Revision nur beschränkt - auf die Frage, ob sich der beklagte Versicherer auf die verspätete Vorlage einer Stehlgutliste bei der Polizei berufen darf - zugelassen. Das ergibt sich zwar nicht aus dem Tenor des Berufungsurteils, wohl aber, was nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ausreicht (BGHZ 153, 358, 360 f. m.w.N.; BGH, Urteil vom 16. September 2009 - VIII ZR 243/08 - ZIP 2009, 2158 Tz. 11), aus den Urteilsgründen. Sie machen deutlich, dass das Berufungsgericht mit der Revisionszulassung lediglich die Prüfung ermöglichen wollte, ob die Grundsätze der Senatsentscheidung vom 17. September 2008 (IV ZR 317/05 - VersR 2008, 1491) seiner Entscheidung entgegenstehen. Das betrifft allein die Frage der Berufung des Versicherers auf die Verletzung der Obliegenheit aus § 21 Nr. 1 Buchst. c VHB 92 (Obliegenheit zur unverzüglichen Vorlage eines Verzeichnisses der abhanden gekommenen Sachen bei der zuständigen Polizeidienststelle), nicht aber die Erstattung "notwendiger Kosten" i.S. von § 2 Nr. 1 Buchst. e und f VHB 92 für die Reparatur von Gebäudeschäden, die durch den Einbruchdiebstahl verursacht worden sind, und die Auswechslung von Schlössern. Denn für diese Kostenerstattung ist ein Normzweckzusammenhang zur Obliegenheit aus § 21 Nr. 1 Buchst. c VHB 92 nicht erkennbar. Es handelt sich insoweit auch um einen selbständigen Teil des Streitstoffes, über den durch Teilurteil hätte entschieden werden können.
Soweit der Kläger dennoch auch den Kostenerstattungsanspruch weiterverfolgen möchte, scheidet eine (teilweise) Umdeutung seiner Revision in eine Nichtzulassungsbeschwerde (vgl. allgemein zur Umdeutung von Rechtsmittelerklärungen Zöller/Heßler, ZPO 28. Aufl. vor § 511 Rdn. 37) deshalb aus, weil auch dieses Rechtsmittel keinen Erfolg verspricht. Denn der Kläger hat innerhalb der Frist des § 544 Abs. 2 ZPO Gründe für die Zulassung der Revision nicht in einer den Anforderungen der Rechtsprechung genügenden Art und Weise dargelegt (vgl. dazu BGHZ 154, 288, 291 ff.).
2. Die nur im Übrigen vom Berufungsgericht zugelassene Revision ist gemäß § 552a ZPO zurückzuweisen, weil Gründe für ihre Zulassung nicht vorliegen und sie keine Aussicht auf Erfolg hat.
a) Mit seinem Urteil vom 17. September 2008 (aaO Tz. 8-11) hat der Senat grundsätzlich geklärt, dass es dem Hausratversicherer nach Treu und Glauben verwehrt sein kann, sich auf Leistungsfreiheit wegen Verletzung der Obliegenheit zur Vorlage eines Verzeichnisses der abhanden gekommenen Sachen bei der zuständigen Polizeidienststelle (§ 21 Nr. 1 Buchst. c VHB 92) zu berufen, wenn einerseits sein Verhalten nach der Schadenmeldung geeignet ist, den Versicherungsnehmer hinsichtlich dieser Obliegenheit und ihrer Rechtsfolgen irrezuführen und er es andererseits unterlässt, den Versicherungsnehmer darauf hinzuweisen, dass er auf der Erfüllung der Obliegenheit bestehe und er anderenfalls leistungsfrei werden könne.
Erst im Rahmen der dann nach § 242 BGB eröffneten Abwägung der beiderseitigen Interessen ist es von Bedeutung, dass einerseits die Unkenntnis von Versicherungsnehmern über die Obliegenheit zur Stehlgutlistenvorlage weit verbreitet ist, der Versicherer demgegenüber einen Wissensvorsprung hat und ihm ein Hinweis auf die Obliegenheit und ihre Rechtsfolgen im Schadenmeldungsformular ohne Weiteres möglich ist. Anders als die Revision meint, reichen diese Umstände für sich genommen aber noch nicht aus, um eine generelle Hinweis- oder Belehrungspflicht des Versicherers in jedem Falle zu begründen.
Ob die vorgenannten Voraussetzungen im konkreten Einzelfall erfüllt sind, ob insbesondere der Versicherungsnehmer durch das Verhalten des Versicherers irritiert worden ist, ist einer weiteren grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich, sondern muss vom Tatrichter anhand der konkreten Fallumstände beantwortet werden.
b) Die Revision hat auch keine Aussicht auf Erfolg.
Das Berufungsgericht hat hier eine Irreführung des Klägers durch die Beklagte über die Obliegenheit, der Polizei unverzüglich eine Stehlgutliste vorzulegen, verneint. Diese Bewertung der festgestellten Tatsachen ist revisionsrechtlich hinzunehmen. Rechtsfehler deckt die Revision insoweit nicht auf. Ungeachtet der dem Senatsurteil vom 17. September 2008 (aaO) zugrunde liegenden Besonderheiten hat sich - solange der Versicherer bei ihm keinen Irrtum über die Bedingungslage erweckt oder sich anderweitig widersprüchlich verhält - grundsätzlich der Versicherungsnehmer selbst im Schadenfalle anhand der Versicherungsbedingungen darüber zu informieren, was er unternehmen muss, um Versicherungsschutz zu erlangen.
Eine dem Sachverhalt der Senatsentscheidung vom 17. September 2008 ähnliche Irreführung des Klägers durch die Beklagte hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Die Beklagte hat sich im Anschluss an die Schadenmeldung zunächst darauf beschränkt, dem Kläger - bereits am 10. August 2006 - ein Schadenmeldungsformular zu übersenden, in welchem auch danach gefragt wurde, ob und wann eine "komplette Liste der entwendeten Teile bei der Polizei eingereicht" wurde. Dem konnte der Kläger nicht entnehmen, dass es auf eine solche Schadenaufstellung fortan nicht mehr ankäme.
Unerheblich ist es danach, ob auch die Polizei dem Kläger ausreichende Kenntnis von der versicherungsrechtlichen Obliegenheit zur Stehlgutlistenvorlage und den Konsequenzen einer Obliegenheitsverletzung für die Versicherungsleistung verschafft hat. Entscheidend ist allein, dass das Verhalten der Polizei nach den Feststellungen des Berufungsgerichts vom Kläger nicht dahin gedeutet werden konnte, man sei an der unverzüglichen Vorlage einer Schadenaufstellung nicht mehr interessiert.
3. Beide Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme binnen
4 Wochen .
Seiffert Wendt Felsch
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Hinweis: Das Revisionsverfahren ist durch Verwerfungs-/Zurückweisungsbeschluss mit ergänzender Begründung erledigt worden.
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100060324
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100309
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IX ZA 7/10
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Beschluss
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§ 290 Abs 1 InsO
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vorgehend LG Duisburg, 14. Januar 2010, Az: 7 T 176/09, Beschluss vorgehend AG Duisburg, 23. Juni 2009, Az: 60 IK 89/09
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DEU
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Restschuldbefreiung: Versagung der Verfahrenskostenstundung im Eröffnungsverfahren bei erneuter Antragstellung innerhalb der 3jährigen Sperrfrist nach vorheriger Versagung der Restschuldbefreiung
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Der Antrag der Schuldnerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Rechtsbeschwerdeverfahrens gegen den Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg vom 14. Januar 2010 wird abgelehnt.
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I.
Auf einen Eröffnungsantrag der Schuldnerin vom August 2007 lehnte das Insolvenzgericht mit Beschluss vom 15. Februar 2008 die Stundung der Verfahrenskosten ab, weil ein zweifelsfreier Grund für die Versagung der Restschuldbefreiung vorlag. Der Antrag auf Verfahrenseröffnung wurde mangels Masse abgewiesen. Der Versagungsgrund des § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO lag vor, weil die Schuldnerin nach Stellung des Insolvenzantrags im Eröffnungsverfahren nicht weiter mitgewirkt und keine Auskünfte über ihre Einkommens- und Vermögenslage gegeben hatte.
Am 17. April 2009 hat die Schuldnerin erneut Stundung der Verfahrenskosten, Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen und Erteilung der Restschuldbefreiung beantragt. Diese Anträge hat das Insolvenzgericht mit Beschluss vom 23. Juni 2009 zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde ist erfolglos geblieben. Die Schuldnerin beabsichtigt, sich gegen den Beschluss des Beschwerdegerichts vom 14. Januar 2010 mit der Rechtsbeschwerde zu wenden, für die sie um Prozesskostenhilfe nachsucht.
II.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen; die Rechtsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (§ 4 InsO, § 114 ZPO).
Die beabsichtigte Rechtsbeschwerde (§§ 6, 7 Abs. 1, § 4d Abs. 1, § 34 Abs. 1 InsO, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) wäre unzulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO).
1. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass einem Antrag des Schuldners auf Restschuldbefreiung das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn er innerhalb von drei Jahren nach rechtskräftiger Versagung der Restschuldbefreiung in einem früheren Verfahren wegen einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verletzung seiner Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten einen erneuten Antrag auf Restschuldbefreiung stellt (BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 - IX ZB 219/08, ZInsO 2009, 1777, 1778 Rn. 8 z.V.b. in BGHZ). Nach einer weiteren Entscheidung vom 21. Januar 2010 (IX ZB 174/09, ZInsO 2010, 344, 345 Rn. 8) gilt die dreijährige Sperrfrist, die ab Erlass der Entscheidung über den Eröffnungsantrag zu laufen beginnt, auch dann, wenn der Schuldner es im Eröffnungsverfahren versäumt hat, auf einen Hinweis des Gerichts rechtzeitig einen eigenen Insolvenzantrag verbunden mit einem Antrag auf Restschuldbefreiung zu stellen. Eine dreijährige Sperre für die Erteilung der Restschuldbefreiung greift nach zwei weiteren Entscheidungen vom 4. Februar 2010 (IX ZA 40/09) und vom 18. Februar 2010 (IX ZA 39/09) auch dann ein, wenn der Schuldner in einem vorausgehenden Insolvenzantragsverfahren zweifelsfrei einen Versagungsgrund des § 290 Abs. 1 Nr. 5 oder 6 InsO verwirklicht hat, so dass ihm keine Verfahrenskostenstundung gewährt werden konnte.
2. Nach diesen Grundsätzen ist der erneut gestellte Eigenantrag nebst Antrag auf Verfahrenskostenstundung und Restschuldbefreiung unzulässig. Steht schon im Eröffnungsverfahren oder im eröffneten Verfahren zweifelsfrei fest, dass dem Schuldner die Restschuldbefreiung zu versagen ist, so kann nach ständiger Rechtsprechung (BGH, Beschl. v. 16. Dezember 2004 - IX ZB 72/03, ZInsO 2005, 207, 208; v. 27. Januar 2005 - IX ZB 270/03, ZInsO 2005, 265; v. 15. November 2007 - IX ZB 74/07, ZInsO 2008, 111, 112 Rn. 18) die Stundung der Verfahrenskosten versagt oder aufgehoben werden, ohne dass es auf die vorhergehende Versagung der Restschuldbefreiung ankommt. Diese Aufhebung beruht auf der Unredlichkeit des Schuldners. Die planwidrige Regelungslücke, von der der Senat für das eröffnete Verfahren ausgegangen ist, wenn dem Schuldner die Restschuldbefreiung in einem früheren Verfahren im Schlusstermin versagt werden musste (BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 aaO S. 1779 f Rn. 14 ff), besteht auch hier. Um zu verhindern, dass der im Erstverfahren festgestellte Versagungsgrund sanktionslos bleibt, darf der Schuldner nicht die Möglichkeit haben, sofort wieder einen Antrag auf Restschuldbefreiung zu stellen. Entsprechend dem Grundgedanken des Vorschlags in dem "Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen, zur Stärkung der Gläubigerrechte sowie zur Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen" vom 22. August 2007 (abgedruckt als Beilage 2 zu ZVI Heft 8/2007), mit dem der Versagungstatbestand des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO erweitert werden sollte (vgl. BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 aaO S. 1779 f Rn. 16), soll der Schuldner das aufwändige und kostenträchtige Verfahren auch dann nicht sofort wieder in Anspruch nehmen können, wenn es aufgrund seines Fehlverhaltens schon in einem vorausgegangenen Verfahren zur Stundungsversagung gekommen ist. Auch hier besteht eine dreijährige Sperrfrist für einen erneuten Antrag, deren Lauf mit Rechtskraft der Entscheidung über die Ablehnung der Verfahrenskostenstundung und Abweisung des Eröffnungsantrags mangels Masse in dem früheren Verfahren beginnt.
3. Dem steht nicht entgegen, dass es hierfür einer doppelten Analogie, nämlich der Anwendung aller Versagungsgründe des § 290 Abs. 1 Nr. 1-6 InsO im Eröffnungsverfahren auf die Entscheidung über die Verfahrenskostenstundung und der entsprechenden Anwendung des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO nach Maßgabe der Vorschläge des Regierungsentwurfs eines Entschuldungsgesetzes bedarf. Die entsprechende Anwendung aller Versagungsgründe im Eröffnungsverfahren ist - wie oben bereits ausgeführt - im Fall ihres zweifelsfreien Vorliegens schon seit langem anerkannt. Anlass, von dieser Rechtsprechung abzugehen oder sie einzuschränken, besteht nicht. Vielmehr ist es zur Sicherung einer maßvollen Inanspruchnahme des zeit- und kostenaufwändigen Restschuldbefreiungsverfahrens geboten, auch bei schon vor Verfahrenseröffnung zweifelsfrei festgestellten Verstößen die übermäßige Inanspruchnahme des Verfahrens zu verhindern. Andere Abgrenzungskriterien haben sich als nicht tragfähig erwiesen (vgl. BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 aaO S. 1780 Rn. 18). In Betracht kommt nur eine zeitlich begrenzte Sperrfrist. Insoweit hält der Senat außerhalb des Anwendungsbereichs des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO einen Zeitabstand von drei Jahren für angemessen (vgl. § 290 Abs. 1 Nr. 2 InsO, hierzu BGH, Beschl. v. 16. Juli 2009 aaO S. 1779 f Rn. 16). Eine übermäßige Beeinträchtigung des Schuldners ist damit nicht verbunden. Auch dies ergibt sich aus der Rechtsprechung des Senats.
Ganter Raebel Vill
Lohmann Pape
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060347
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BGH
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5. Zivilsenat
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20100305
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V ZR 60/09
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Urteil
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§ 138 Abs 1 BGB, § 311 Abs 3 BGB, § 311b BGB, § 346 BGB, § 812 Abs 1 S 2 BGB
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vorgehend OLG München, 25. Februar 2009, Az: 20 U 4052/08, Urteil vorgehend LG München I, 3. Juli 2008, Az: 25 O 3086/07 nachgehend OLG München, 28. Juli 2010, Az: 20 U 4052/08, Urteil
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DEU
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Grundstückskaufvertrag: Grobes Missverhältnis von Grundstückswert und Kaufpreis
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Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 25. Februar 2009 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als über den Antrag auf Rückübertragung des Grundstücks zum Nachteil der Kläger entschieden worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Kläger waren Eigentümer des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks F. Weg 1 in M. Das Grundstück war für die B. bank mit einer Grundschuld über 2.400.000 DM zuzüglich Zinsen belastet. Auf Antrag der Bank wurde am 4. Januar 2005 die Zwangsversteigerung des Grundstücks angeordnet. Die Bank war jedoch bereit, gegen Zahlung von 1.200.000 € bis zum 31. August 2005 von der Versteigerung Abstand zu nehmen.
Mit Notarvertrag vom 25. August 2008 verkauften die Kläger das Grundstück für 1.200.000 € an die Beklagten. Die Auflassung erfolgte in der Notarverhandlung. Mit privatschriftlich am selben Tag geschlossener "Vereinbarung über die Modalitäten zur Vermietung und zum Verkauf F. Weg 1" (im folgenden "Vereinbarung") verpflichteten sich die Beklagten gegenüber den Klägern unter anderem, das Haus für den Zeitraum vom 1. September 2005 bis zum 31. August 2007 der Klägerin zu 2 zu vermieten und das Grundstück bis zum 1. September 2007 zum "maximal erzielbaren Preis“ weiter zu verkaufen. Von dem einvernehmlich festzulegenden Weiterverkaufspreis sollten 1.515.000 € zuzüglich der Steuerbelastung der Beklagten aus dem Weiterverkauf den Beklagten zustehen, im Übrigen sollte der Erlös den Klägern zustehen. An dem Weiterverkauf, "insbesondere bei der Erzielung eines möglichst hohen Verkaufserlöses“ hatten beide Vertragsparteien mitzuwirken.
Mit weiterem privatschriftlich am 25. August 2005 geschlossenen Vertrag verkauften die Kläger den Beklagten für 80.000 € einen Teil der Einrichtung des Hauses, mit einem vierten am selben Tag privatschriftlich geschlossenen Vertrag mietete die Klägerin zu 2 das Haus für den Zeitraum vom 1. September 2005 bis zum 31. August 2007 für monatlich 6.000 €. Der Kaufpreis für das Grundstück wurde von den Beklagten bezahlt. Das Versteigerungsverfahren wurde aufgehoben. Im April 2006 wurden die Beklagten als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen.
In der Folgezeit kam es zu Spannungen zwischen den Parteien. Mit Schreiben vom 22. Dezember 2006 forderten die Kläger die Beklagten schließlich unter Fristsetzung auf, dem gemeinsamen Weiterverkauf des Grundstücks zuzustimmen und einer aus der "Vereinbarung" abgeleiteten Verpflichtung nachzukommen, das Haus mit einem Aufwand von 160.000 € zu renovieren. Die Beklagten unterließen beides. Daraufhin erklärten die Kläger den Rücktritt von den Verträgen vom 25. August 2005.
Sie machen geltend, die Verträge vom 25. August 2005 bildeten eine Einheit, durch die insbesondere gewährleistet werden sollte, dass ihnen der Erlös aus dem letztlich erstrebten Verkauf des Grundstücks an einen Dritten zukomme, soweit er den Aufwand der Beklagten für deren Zwischenerwerbübersteige. Die Formnichtigkeit der außerhalb des Notarvertrags am 25. August 2005 privatschriftlich vereinbarten Verträge sei durch die Eintragung der Beklagten in das Grundbuch geheilt. Ohne deren Wirksamkeit sei der Kaufpreis in sittenwidriger Weise zu niedrig vereinbart.
Die Kläger haben beantragt, die Beklagten zur Zahlung von 160.000 € zuzüglich Zinsen und zur Zurückübertragung des Grundstücks nach näherer Maßgabe zu verurteilen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Der Senat hat die Revision zugelassen, soweit sich die Beklagten gegen die Abweisung des Antrags auf Zurückübertragung des Grundstücks wenden. Den hierher gehenden Antrag verfolgen sie mit der Revision weiter.
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I.
Das Berufungsgericht verneint einen Anspruch der Kläger auf Rückübertragung des Grundstücks. Es meint, ein Recht der Kläger zum Rücktritt vom Vertrag bestehe nicht, weil die Beklagten ihre Pflichten aus dem Kaufvertrag erfüllt hätten und durch den Abschluss der "Vereinbarung“ keine weiteren Pflichten der Beklagten begründet worden seien. Die "Vereinbarung“ habe zu ihrer Wirksamkeit notarieller Beurkundung bedurft. Der Formmangel sei nicht durch die Eintragung der Beklagten in das Grundbuch geheilt, weil das Zustandekommen des Kaufvertrags nicht von dem Abschluss der "Vereinbarung“ abhängig gewesen sei. Ein Recht der Kläger zum Rücktritt vom Kaufvertrag folge auch nicht aus § 313 Abs. 3 BGB. Unterstelle man, die Kläger hätten den Kaufvertrag im Hinblick auf die Begründung einer wirksamen Verpflichtung der Beklagten zum Weiterverkauf und zur Auskehrung des Gewinns hieraus abgeschlossen, seien die Pflichten der Beklagten aus den getroffenen Vereinbarungen vertraglich begründet, so dass für einen Wegfall der Geschäftsgrundlage kein Raum bleibe. Ein Anspruch auf Rückübertragung des Grundstücks folge auch nicht aus § 812 Abs. 1 Satz 2 zweite Alt. BGB. Der Weiterverkauf des Grundstücks sei nicht Zweck des Kaufvertrags gewesen. Der Kaufvertrag sei auch nicht wegen Wuchers nichtig. Der Kläger zu 1 habe den behaupteten Wert des Grundstücks gekannt; die bevorstehende Zwangsversteigerung habe nicht zu einer Notlage der Kläger geführt, weil sie das Grundstück auch anderweit hätten verkaufen können. Daher könne dahingestellt bleiben, ob das Grundstück den von den Klägern behaupteten Wert habe.
II.
Das hält revisionsrechtlicher Nachprüfung teilweise nicht stand.
1. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler einen Anspruch der Kläger auf Rückübertragung des Grundstücks nach § 346 Abs. 1 BGB verneint. Der am 25. August 2005 zwischen den Parteien geschlossene Kaufvertrag verpflichtete die Beklagten zur Bezahlung des vereinbarten Kaufpreises. Die Zahlung ist erfolgt. Die von den Klägern als Grund für den Rücktritt vom Vertrag geltend gemachten Pflichtverletzungen haben allein Pflichten der Beklagten aus der "Vereinbarung“ zum Gegenstand. Die "Vereinbarung" ist jedoch schon deshalb nichtig, weil sich die Beklagten in dieser zum Weiterverkauf des Grundstücks verpflichtet haben und es zur Wirksamkeit der "Vereinbarung" daher gemäß § 311 b Abs. 1 Satz 1 BGB der notariellen Beurkundung bedurfte.
Der Formmangel ist nicht durch den Vollzug der Auflassung vom 25. August 2005 im Grundbuch gemäß § 311 b Abs. 1 Satz 2 BGB geheilt worden. Anders würde es sich nur verhalten, wenn der Kaufvertrag und die "Vereinbarung" eine Einheit bildeten, ohne die der Kaufvertrag nicht geschlossen worden wäre (st. Rspr., vgl. Senat BGHZ 63, 359, 362; 74, 48 f.; 78, 346, 349). Ohne Bedeutung ist insoweit, dass die "Vereinbarung" den Abschluss des Kaufvertrags voraussetzt. Entscheidend ist vielmehr, ob der Kaufvertrag nicht ohne den Abschluss der "Vereinbarung“ zustande gekommen wäre (st. Rspr., vgl. Senat Urt. v. 26. November 1999, V ZR 251/98, NJW 2000, 951; BGH, Urt. v. 11. Oktober 2000, VIII ZR 321/99, NJW 2001, 226; v. 13. Juni 2002, VII ZR 321/00, NJW 2002, 2559). Insoweit bedarf es zwar keines übereinstimmenden Willens der Vertragsparteien. Es reicht vielmehr aus, wenn nur eine der Vertragsparteien das Grundstück ohne den Abschluss des weiteren Vertrages nicht geschlossen hätte und die andere Vertragspartei dies erkannt oder hingenommen hat (Senat, Urt. v. 10. Oktober 1986, V ZR 247/85, NJW 1987, 1069).
Dass es sich so verhält, hat das Berufungsgericht nicht festzustellen vermocht. Die hiergegen von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft. Sie haben keinen Erfolg, von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen. Entgegen der Auffassung der Revision ist die Bewertung des Berufungsgerichts auch materiell-rechtlich nicht fehlerhaft. Insbesondere konnte das Berufungsgericht aus dem Umstand, dass die Parteien in dem notariell beurkundeten Kaufvertrag angegeben haben, keine weiteren Vereinbarungen getroffen zu haben, schließen, dass dennoch vereinbarte Regelungen nach dem Willen der Parteien jedenfalls nicht mit dem Kaufvertrag eine rechtliche Einheit bilden sollten.
2. Entgegen der Meinung der Revision hat das Berufungsgericht auch das Bestehen eines Rücktrittsrechts nach § 313 Abs. 3 BGB im Ergebnis ohne Rechtsfehler verneint. Die formnichtige "Vereinbarung“ konnte weder zu den Umständen noch zu den Vorstellungen des Parteien gehören, die Grundlage ihres formgerechten Kaufvertrags geworden sind. Ist sie, wie die Kläger behaupten vor der Beurkundung des Kaufvertrags geschlossen worden und beruht der Kaufvertrag auf der Erwartung, die "Vereinbarung" werde erfüllt werden, dann war sie nicht Grundlage, sondern Inhalt des Kaufvertrags. Dass es sich so verhielt, hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint. Ist die Vereinbarung, wie die Beklagten behaupten, nach der Beurkundung des Kaufvertrags abgeschlossen worden, kann sie schon deshalb nicht Grundlage des Kaufvertrags sein, weil dieser abgeschlossen war, bevor die "Vereinbarung" zustande gekommen ist.
3. Entgegen der Meinung der Revision ist auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht einen Anspruch der Kläger auf Rückübertragung des Grundstücks nach § 812 Abs. 1 Satz 2 zweite Alt. BGB verneint hat. Unmittelbarer Zweck des Verkaufs des Grundstücks an die Beklagten war es, die drohende Zwangsversteigerung des Grundstücks zu verhindern. Dieser Zweck ist erreicht worden.
Die Beklagten haben sich in der "Vereinbarung" zum Weiterverkauf des Grundstücks und zur Auskehrung des hieraus erwarteten Gewinns an die Kläger verpflichtet. Die Formnichtigkeit der "Vereinbarung" führt zur Unwirksamkeit der darin getroffenen Regelungen. Das hätte nur dann zur Folge, dass die unwirksam "vereinbarten" Pflichten der Beklagten einen weiteren - nicht erreichten - Zweck des Verkaufs des Grundstücks gebildet hätten, wenn festgestellt werden könnte, dass der Weiterverkauf bei Abschluss des Kaufvertrags vereinbart war oder die Kläger zu diesem Zeitpunkt den Weiterverkauf und die Auskehrung des Gewinns für die Beklagten erkennbar erwartet hatten. Mit den insoweit notwendigen Feststellungen verhält es sich nicht anders als mit der Behauptung der Kläger, der Abschluss des Kaufvertrags sei von der "Vereinbarung" abhängig gewesen.
4. Mit Erfolg macht die Revision jedoch geltend, dass das Berufungsurteil insoweit fehl geht, als es eine Nichtigkeit des Kaufvertrags nach § 138 BGB verneint.
Die Kläger haben den Wert des Grundstücks im Zeitpunkt des Verkaufs an die Beklagten im Berufungsverfahren mit 2.300.000 € behauptet. Durch ihre weiteren Ausführungen zur Ermittlung dieses Betrags ist diese Behauptung entgegen der Meinung der Revisionserwiderung nicht eingeschränkt worden. Auf der Grundlage des Vortrags der Kläger besteht zwischen dem Wert des Grundstücks und dem mit den Beklagten vereinbarten Kaufpreis ein krasses Missverhältnis. Trifft die Behauptung der Kläger zu, kann der Kaufvertrag vom 25. August 2005 als wucherähnliches Rechtsgeschäft nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig sein. Das Bestehen eines groben Missverhältnisses zwischen den in einem gegenseitigen Vertrag vereinbarten Leistungspflichten begründet nach der Rechtsprechung des Senats die tatsächliche Vermutung einer verwerflichen Gesinnung des Begünstigen, die nach § 138 Abs. 1 BGB zur Nichtigkeit des vereinbarten Vertrags führt (Senat, BGHZ 146, 298, 301). Die Vermutung beruht auf dem Erfahrungssatz, dass in der Regel außergewöhnliche Leistungen nicht ohne Not oder nicht ohne einen anderen den Benachteiligten hemmenden Umstand zugestanden werden und dass der Begünstigte diese Erfahrung teilt. Die Vermutung erstreckt sich auf zwei Momente, nämlich einerseits darauf, dass Umstände vorliegen, die die freie Entschließung des Benachteiligten beeinträchtigt haben, und andererseits darauf, dass der Begünstigte sich diese Situation zunutze gemacht hat (Senat, BGHZ 146, 298, 302 m.w.N.). Die bedrängte Situation der Kläger bei Abschluss des Kaufvertrags folgte hier schon aus der Anordnung der Zwangsversteigerung des Grundstücks. Sie wurde durch die bei Abschluss des Kaufvertrags unmittelbar bevorstehende Beendigung der zur Vermeidung der Versteigerung von der Gläubigerin gesetzten Frist noch gesteigert (vgl. MünchKomm-BGB/Armbrüster, 5. Aufl., § 138 Rdn. 149; Soergel/Hefermehl, BGB, 13. Aufl., § 138 Rdn. 78; Staudinger/Sack, BGB [2003], § 138 Rdn. 78).
Dass der Kläger zu 1 den Wert des Grundstücks kannte, erschüttert die aus dem Missverhältnis des Wertes der beiderseits geschuldeten Leistungen folgende Vermutung entgegen der Meinung des Berufungsgerichts nicht, weil nichts für die Annahme spricht, die Kläger hätten das Grundstück unabhängig von dessen Wert den Beklagten zu dem vereinbarten Preis verkauft (Senat, Urt. v. 29. Juni 2007, V ZR 1/06, NJW 2007). Dass die Kläger das Grundstück noch vor Ablauf der von der Gläubigerin gesetzten Frist - zu einem dem behaupteten Verkehrswert von 2.500.000 € entsprechenden oder nahe kommenden Preis - anderweit hätten verkaufen können, ist eine Unterstellung, die durch den Vortrag der Parteien nicht gedeckt ist.
III.
Zu einer abschließenden Entscheidung ist der Senat nicht in der Lage, weil die Beklagten den von den Klägern behaupteten Wert des Grundstücks bestritten haben und es an Feststellungen hierzu fehlt. Diese sind nachzuholen.
Krüger Klein Lemke
Schmidt-Räntsch Roth
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060350
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BGH
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7. Zivilsenat
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20100408
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VII ZR 61/09
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Beschluss
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§ 631 BGB, § 4 Abs 1 AIHonO, § 4 Abs 4 AIHonO, § 15 AIHonO, § 16 AIHonO, § 17 AIHonO
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vorgehend OLG Rostock, 25. Februar 2009, Az: 2 U 21/07, Urteil vorgehend LG Stralsund, 22. Februar 2007, Az: 7 O 22/04
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DEU
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Architektenhonoraranspruch: Honorarvereinbarung außerhalb der Sätze der HOAI
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 25. Februar 2009 wird zurückgewiesen.
Bedenken gegen die rechtlichen Ausführungen des Berufungsgerichts zu den vertraglichen Grundlagen für die Ermittlung der der Abrechnung zugrunde zu legenden Kosten veranlassen die Zulassung der Revision nicht, weil insoweit ein Zulassungsgrund nicht vorliegt.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 544 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz ZPO).
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Gegenstandswert: 45.932,87 €
Kniffka Kuffer Bauner
Safari Chabestari Leupertz
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BMJV
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public
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JURE100060856
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BGH
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2. Strafsenat
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20100324
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2 StR 10/10
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Urteil
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§ 66 Abs 1 Nr 3 StGB, § 176 StGB, § 176a StGB
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vorgehend LG Kassel, 15. Juli 2009, Az: 4653 Js 21862/08 - 10 KLs, Urteil
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DEU
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Anordnung von Sicherungsverwahrung: Erheblichkeitsschwelle bei sexuellem Missbrauch von Kindern
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 15. Juli 2009 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten (Einzelstrafen: ein Jahr neun Monate, ein Jahr neun Monate, ein Jahr sechs Monate sowie zwei Jahre) verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die Revision der Staatsanwaltschaft wendet sich mit der Sachrüge allein dagegen, dass die Strafkammer von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision wirksam auf die Frage der Sicherungsverwahrung beschränkt; denn zwischen der Strafe und der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht grundsätzlich keine der Rechtsmittelbeschränkung entgegenstehende Wechselwirkung (vgl. BGH NStZ 1994, 280, 281; 2007, 212, 213; Senatsurteil vom 24. Februar 2010 - 2 StR 509/09). Auch hier schließt der Senat aus, dass die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe niedriger ausgefallen wäre, wenn der Tatrichter die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet hätte.
2. Das Landgericht hat von der Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB gegen den Angeklagten mit der Begründung abgesehen, die von diesem begangenen und auch künftig zu erwartenden schweren sexuellen Missbrauchshandlungen an Kindern seien nicht so erheblich, dass sie eine Sicherungsverwahrung rechtfertigen würden (UA 52 f.); dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Nach den Feststellungen ist der 1968 geborene Angeklagte seit Beginn seiner Volljährigkeit mit Vorwürfen sexueller Annäherungen gegenüber kleinen Jungen konfrontiert. 1992 wurde er erstmals wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit homosexuellen Handlungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Angeklagte bei sich bietenden Gelegenheiten zwei elf und zwölf Jahre alten Jungen in die Hose gegriffen und an deren Geschlechtsteilen manipuliert hatte. Die dem Angeklagten gewährte Bewährung wurde widerrufen, weil er eine angeordnete therapeutische Behandlung verweigerte. Auch ein während des Vollzugs unternommener Therapieversuch scheiterte an seiner fehlenden Mitarbeit.
Eine weitere Verurteilung wegen gleichgelagertem sexuellen Missbrauch eines neunjährigen Jungen in zwei Fällen zu einer vollstreckten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr erfolgte im Jahr 1997.
Letztmalig wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen wurde der Angeklagte im Jahr 2000 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die er bis zum 6. Juni 2003 verbüßte; die sich anschließende Führungsaufsicht endete im Juni 2006. Opfer war ein 13jähriger Junge, an dessen entblößtem Glied der Angeklagte manipuliert hatte.
Im Anschluss an seine Haftentlassung engagierte sich der Angeklagte in Fußballvereinen als Betreuer von Kindermannschaften. Gleichzeitig suchte er mit Erfolg die Nähe von allein erziehenden Frauen mit Kindern vornehmlich männlichen Geschlechts. Die dadurch bewusst geschaffenen Gelegenheiten nutzte er aus, um im Zeitraum Januar bis April 2008 in vier Fällen zwei elf- bzw. zwölfjährigen Jungen sowie einem elfjährigen Mädchen in die Hose zu greifen und an deren Geschlechtsteilen zu manipulieren.
b) Das Landgericht hat - sachverständig beraten - zur Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtsfehlerfrei ausgeführt, dass die formellen Voraussetzungen für eine Anordnung gemäß § 66 Abs. 2 StGB vorliegen und dass bei dem Angeklagten gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB ein Hang zur Begehung von Straftaten besteht. Dem Angeklagten sind sexuelle Beziehungen zu Erwachsenen nicht möglich. Bei ihm liegt eine narzisstische dissoziale Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit einer ausgeprägten und chronifizierten homosexuellen Pädophilie vor. Er hat schon in der Vergangenheit und auch bei den vorliegenden Taten gezeigt, dass er auch nach Haftverbüßung wegen einschlägiger Vorverurteilungen immer wieder in sein altes Verhaltensmuster zurückfällt, indem er Lebenssituationen sucht oder selber schafft, um die direkte Nähe zu Kindern zu erreichen. Hinzu kommt, dass er - nach geständigen Einlassungen in den früheren Verfahren - nunmehr die Begehung nicht nur der hier abgeurteilten, sondern auch der vergangenen Taten leugnet und ankündigt, auch künftig Kontakt zu Kindern haben zu wollen, da er sich diesbezüglich nichts vorzuwerfen habe.
c) Soweit die Strafkammer jedoch meint, dass es sich bei den durch den Angeklagten in der Zukunft zu befürchtenden Hangtaten um solche handelt, welche die Erheblichkeitsschwelle nicht überschreiten (UA 52 f.) und deshalb eine Sicherungsverwahrung nicht rechtfertigen würden, begegnet dies - auch in Anbetracht des dem Tatrichter insoweit zustehenden Beurteilungsspielraums (BGH NJW 2000, 3015) - durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Selbst wenn - wie der Sachverständige meint - nicht zu vermuten wäre, dass der Angeklagte seine pädophilen Neigungen künftig mit gesteigerter Intensität in aggressiverer Art und Weise als bisher ausleben werde, ist der daraus gezogene Schluss, eine schwere körperliche und seelische Schädigung künftiger Opfer sei nicht zu befürchten, nicht haltbar. So ist es bereits mit den sonstigen Urteilsgründen unvereinbar, wenn die Strafkammer darauf abstellt, sie habe in der Hauptverhandlung von den betroffenen Kindern den Eindruck gewonnen, die Missbrauchshandlungen des Angeklagten hätten keine nachhaltigen erheblichen Auswirkungen verursacht (UA 53). An anderer Stelle des Urteils (UA 29 f.) heißt es nämlich:
"Bei L. wurde bei ihrer Aussage deutlich, dass sie zuerst keine Angaben zu den konkreten Vorfällen machen wollte, da sie das vergangene Geschehen nachhaltig negativ beeindruckt hatte. Als sie vom Gericht auf die konkrete Situation und die im Raum stehenden Tathandlungen des Angeklagten angesprochen wurde, blockte sie vollkommen ab, wurde nahezu apathisch und war für zwei bis drei Minuten zu keiner weiteren Angabe mehr bereit. Die Sitzung musste kurz unterbrochen werden, damit sich die Zeugin wieder sammeln konnte … die Zeugin antwortete weiterhin stockend und sichtlich bedrückt."
Weiter berücksichtigt das Landgericht nicht hinreichend den Schutzzweck der §§ 176, 176 a StGB, nämlich die ungestörte Entwicklung von Kindern (BGHSt 45, 131, 132). Mit sexuellem Missbrauch ist typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden. Hinsichtlich künftiger Taten konkrete seelische Schäden bei kindlichen Opfern zu prognostizieren, ist nahezu ausgeschlossen, weshalb auch die allgemeine und abstrakte Gefährlichkeit von Delikten Grundlage von Sicherungsverwahrung sein kann (BGH NJW 2000, 3015). So lagen auch hier in der Hauptverhandlung und damit nur kurze Zeit nach dem Missbrauch - wie die Strafkammer selbst einräumt - noch überhaupt keine gesicherten Erkenntnisse über traumatische Störungen in der weiteren Entwicklung der betroffenen sehr jungen Kinder vor (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2007 - 1 StR 201/07). Die hier zu beurteilenden Missbrauchsfälle sind daher grundsätzlich als erheblich i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB einzustufen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2007 - 1 StR 201/07; BGH NStZ-RR 2003, 73; Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 66 Rdn. 149), was nicht zuletzt die Einordnung des schweren sexuellen Missbrauchs als Verbrechen mit einem Strafrahmen von Freiheitsstrafe von ein bis fünfzehn Jahren verdeutlicht. Dass der Angeklagte darüber hinaus keine körperliche Gewalt gegen seine Opfer angewandt hat, beseitigt nicht die Erheblichkeit seines Tuns, sondern führt lediglich dazu, dass er nicht auch noch der sexuellen Nötigung (§ 177 StGB) schuldig ist, kommt ihm aber nicht bei der Prüfung von § 66 StGB zugute (BGH NStZ 2007, 464, 465).
3. Nach alledem muss über die Sicherungsverwahrung neu entschieden werden. Zwar kann der Tatrichter nach seinem vom Revisionsgericht nur begrenzt überprüfbaren Ermessen von Sicherungsverwahrung auch absehen, wenn alle Voraussetzungen von § 66 Abs. 2 StGB vorliegen (BGH NStZ 2007, 464 m.w.N.). Hier hat die Strafkammer jedoch schon die Erheblichkeit der vom Angeklagten begangenen und künftig zu erwartenden Straftaten verkannt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie bei Zugrundelegung zutreffender Maßstäbe und bei Abwägung aller Erkenntnisse Sicherungsverwahrung angeordnet hätte.
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Cierniak
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060857
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BGH
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2. Strafsenat
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20100317
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2 StR 27/10
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Beschluss
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§ 44 StPO
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vorgehend LG Köln, 20. August 2009, Az: 90 Js 160/07 - 111 - 9/09, Urteil
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DEU
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Strafverfahren: Anwaltsverschulden bei Vorlage einer Fristsache ohne Briefumschlag
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Der Antrag der Nebenkläger auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 20. August 2009 wird verworfen.
Ihre Revision gegen dieses Urteil wird als unzulässig verworfen. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
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Zu dem Wiedereinsetzungsantrag hat der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt:
"1. Das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten ist dem Nebenkläger nach dem allgemeinen Verfahrensgrundsatz des § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Für die Frage, inwieweit der prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt für Verschulden seines Kanzleipersonals haftet, kommt es darauf an, ob dieses sorgfältig ausgewählt und überwacht wird und ob eine zur Verhinderung von Fristüberschreitungen taugliche Büroorganisation vorhanden ist (Meyer-Goßner StPO 52. Auflage § 44 Rn 19f., KK-Maul StPO 6. Auflage § 44 Rn 34f. jeweils m.w.N.).
2. Die Begründung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfordert grundsätzlich eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung aller zwischen dem Beginn und Ende der versäumten Frist liegenden Umstände, die für die Frage bedeutsam sind, wie und gegebenenfalls durch wessen Verschulden es zur Versäumung gekommen ist (BGHR StPO § 45 Abs. 2 Tatsachenvortrag 1; KK-Maul a.a.O. § 45 Rn 6). Daran fehlt es vorliegend.
a) Dabei kann dahingestellt bleiben, ob in der Büroorganisation des Prozessbevollmächtigten, wonach die am Wochenende eingehende Post zusammen mit der am Montag eingehenden Post bearbeitet wird, überhaupt eine zur Verhinderung von Fristüberschreitungen taugliche Büroorganisation zu sehen ist. Denn insofern wäre eine Handhabung dergestalt, dass die Wochenendpost dem Briefkasten entnommen und bearbeitet wird, bevor die Montagspost eingeht, geeignet, derartige Fehler beim Posteingang und damit der Fristberechnung von vornherein zu vermeiden.
b) Jedenfalls fehlt es an einem Vortrag von Tatsachen, die eine unverschuldete Fristversäumnis des Prozessbevollmächtigten selbst begründen könnten. So wird zwar eine klare Anweisung, dass Fristsachen einschließlich der Briefumschläge dem Anwalt vorzulegen sind, vorgetragen. Es ist aber weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, weshalb im vorliegenden Fall, in dem der Briefumschlag dem Rechtsanwalt nicht vorgelegt wurde, dieser sich nicht nach diesem erkundigt hat. Dass das Urteil bereits mit dem Eingangsstempel vom 2. November 2009 versehen war, vermag insofern ein fehlendes Verschulden nicht zu begründen, da - aus guten Gründen - die klare Anweisung bestand, die Fristsachen einschließlich der Briefumschläge dem Anwalt vorzulegen. Zu dem erforderlichen Tatsachenvortrag gehört jedoch, dass der Antragsteller einen Sachverhalt vorträgt, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden ausschließt (BGHR a.a.O. Tatsachenvortrag 5). …"
Nach alledem waren der Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet und die Revision der Nebenkläger mangels fristgerechter Begründung als unzulässig zu verwerfen.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060858
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BGH
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2. Strafsenat
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20100317
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2 StR 67/10
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Beschluss
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§ 73a StGB, § 73d StGB, § 74c Abs 1 StGB, § 33 Abs 2 BtMG
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vorgehend LG Gera, 28. Oktober 2009, Az: 221 Js 16105/09 - 1 KLs (38) / 33, Urteil
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DEU
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Besitz von Betäubungsmitteln: Wertersatzverfall oder Einziehung des Wertersatzes
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 28. Oktober 2009
a) im Schuld- und Strafausspruch dahin geändert, dass die Verurteilung des Angeklagten wegen "unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge" im Fall II.5. und die für diesen Fall verhängte Einzelstrafe entfallen,
b) im Ausspruch über den Verfall von Wertersatz mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben; insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie den Verfall von Wertersatz in Höhe von 4.200 Euro angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Keinen Bestand hat die Verurteilung im Fall II.5. wegen eines weiteren Falles des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Die Strafkammer hat dem Schuldspruch insoweit den Besitz des Angeklagten an einer Restmenge von 112,4 Gramm Haschisch und 156 Gramm Marihuana zugrunde gelegt (UA 13), dabei aber verkannt, dass diese zum Eigenverbrauch bestimmten Betäubungsmittel mit bereits im Fall II.4. zum Eigenverbrauch erlangten Marihuana zu einem einheitlichen Vorrat zusammengeflossen waren. Der gleichzeitige Besitz zum Eigenverbrauch bestimmter - auch verschiedenartiger - Betäubungsmittel verletzt das Gesetz aber nur einmal (BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 3 Konkurrenzen 2; BGH NStZ 2005, 228). Der Schuldspruch und die Einzelstrafe im Fall II.5. entfallen daher. Im Hinblick auf den Unrechts- und Schuldgehalt der verbleibenden Taten und die Höhe der hierfür verhängten Einzelstrafen schließt der Senat aus, dass sich der nur durch eine andere Bewertung des Konkurrenzverhältnisses bedingte Wegfall der im Fall II.5. verhängten Einzelstrafe auf den Ausspruch über die Gesamtstrafe ausgewirkt hätte.
2. Auch soweit die Strafkammer 4.200 Euro als Ersatz für den Wert des in den Fällen II.2. und 3. erlangten Marihuanas für verfallen erklärt hat, hält dies rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Denn insoweit hatte der Angeklagte aus den Taten nicht einen Erlös, sondern lediglich den Besitz an den Betäubungsmitteln selbst erlangt. Diese unterlagen als Beziehungsgegenstände nur der Einziehung nach § 33 Abs. 2 BtMG, nicht aber dem Verfall. Damit scheidet auch die ersatzweise Anordnung des Wertersatzverfalls nach § 73 a StGB aus, die nur an Stelle des Verfalls in Betracht kommt (BGH NStZ-RR 2002, 118 f.; Senatsbeschluss vom 13. Januar 2010 - 2 StR 519/09). Die Voraussetzungen für eine Einziehung des Wertersatzes nach § 74 c Abs. 1 StGB liegen ebenfalls nicht vor, da die Betäubungsmittel dem Angeklagten nicht gehörten oder zustanden (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 320). Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird aber zu prüfen haben, ob die Anordnung des erweiterten Verfalls nach § 73 d StGB hinsichtlich des bei dem Angeklagten sichergestellten Bargeldes in Höhe von 4.200 Euro in Betracht kommt; insoweit erhält der Angeklagte durch die neue Hauptverhandlung das rechtliche Gehör.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060859
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BGH
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1. Strafsenat
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20100309
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1 StR 554/09
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Urteil
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Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 2 GG, Art 103 Abs 3 GG, Art 104 Abs 1 GG, § 7 Abs 2 Nr 1 JGG, Art 5 Abs 1 MRK, Art 7 Abs 1 MRK
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vorgehend LG Regensburg, 22. Juni 2009, Az: NSV 121 Js 17270/98 jug, Urteil nachgehend BVerfG, 19. Juli 2011, Az: 2 BvR 1152/10, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren nachgehend Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 2. Februar 2017, Az: 10211/12, Urteil nachgehend Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 4. Dezember 2018, Az: 10211/12, Urteil
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DEU
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Nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung für einen nach Jugendstrafrecht verurteilten Straftäter: Vereinbarkeit der Maßregelanordnung mit höherrangigem Recht; Anordnungsvoraussetzungen
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Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 22. Juni 2009 wird verworfen.
Er hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat gegen den inzwischen 32-jährigen Verurteilten nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG angeordnet. Dagegen wendet sich der Verurteilte mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Dem Rechtsmittel bleibt der Erfolg versagt.
A.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
I.
Der Verurteilte wurde am 29. Oktober 1999 durch das Landgericht Regensburg - Jugendkammer - wegen Mordes, begangen zur Befriedigung des Geschlechtstriebs und um eine andere Straftat zu verdecken, zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren verurteilt.
1. Dieser Verurteilung lag folgendes Geschehen zu Grunde:
Im Alter von 19 Jahren überfiel der Verurteilte am Abend des 9. Juni 1997 auf einem Waldweg eine 31-jährige Joggerin in der Absicht, sie zu vergewaltigen und anschließend zu töten. Dem Angriff war ein kurzes Streitgespräch vorangegangen, in dem die Frau mit einer Strafanzeige gedroht hatte. Sie beanstandete möglicherweise die Fahrweise des Verurteilten (dieser hatte mit seinem Pkw „Reifen-Burnouts“ durchgeführt) oder die Tatsache, dass der Verurteilte überhaupt den Waldweg befuhr. Der Verurteilte würgte danach sein Opfer mehrfach mit einem mitgeführten Bremsseil, zerrte es etwa 30 Meter in den Wald, würgte es dann mit bloßen Händen und drückte ihm schließlich, als es auf dem Rücken am Boden lag, einen Ast mit beiden Händen so lange gegen den Hals, bis es sich nicht mehr bewegte. Der bereits toten oder im Sterben liegenden Frau riss der Verurteilte die Hose auf, legte ihren Genitalbereich frei und onanierte bis zum Samenerguss auf sie. Den Geschlechtsverkehr wollte er in dieser Situation nicht mehr.
2. Die damals mit der Sache befasste Jugendkammer ging davon aus, dass der Verurteilte bei der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, so dass gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG Jugendstrafrecht anzuwenden war. Nach ihrer Auffassung war der Verurteilte bei Begehung der Tat weder schuldunfähig (§ 20 StGB) noch vermindert schuldfähig (§ 21 StGB). Allerdings stellte sie, sachverständig beraten, „gewisse Anhaltspunkte für den Beginn einer sexuellen Deviation“ bei „noch bestehenden Nachreifungsmöglichkeiten“ fest. Sie gelangte zu der Überzeugung, dass „durch längerfristige und therapeutische Einwirkung auf den (Verurteilten) dessen potentieller Gefährlichkeit für die Zukunft entgegengewirkt werden“ müsse, und verhängte deshalb das Höchstmaß der Jugendstrafe von zehn Jahren.
II.
Die nunmehr mit der Sache befasste Kammer hat weiterhin folgende Feststellungen getroffen:
1. Der Verurteilte verbüßte die verhängte Jugendstrafe vollständig und ist seit 18. Juli 2008 einstweilig in der Sicherungsverwahrung untergebracht. Während seiner Haftzeit ist er lediglich wegen Arbeitsverweigerung dreimal disziplinarisch auffällig geworden. Im Stationsalltag wurde er als rasch erregbar und zu aggressiven Ausbrüchen neigend erlebt. Gewalttätige oder tätliche Auseinandersetzungen wurden jedoch nicht bekannt. Abgesehen von der Anlassverurteilung ist der Verurteilte nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten.
2. Während des Jugendstrafvollzugs erfuhr der Verurteilte eine mehrjährige sozialtherapeutische Behandlung. Dabei stand er im Spannungsfeld zwischen dem behandelnden Therapeuten einerseits und dem Einfluss nehmenden Verteidiger sowie seiner Adoptivmutter andererseits. Letztere verhinderten beim Verurteilten immer wieder eine Unrechtseinsicht und eine Aufarbeitung der begangenen Tat durch Leugnen des Vorliegens einer Sexualstraftat und durch Beschönigungen (insbesondere durch die Darstellung der Tat als „Ausrutscher“).
Nachdem deshalb keine Basis mehr für eine weitere sinnvolle Zusammenarbeit mit dem bisherigen Therapeuten bestand, erfolgte ein Therapeutenwechsel. Dafür wurde der Verurteilte in die JVA ... verlegt. In Erwartung einer besseren Erreichbarkeit des psychisch erkrankten Verurteilten durch eine Therapeutin wurde ein Behandlungsversuch mit Gruppen- und Einzelpsychotherapie in der sozialtherapeutischen Abteilung für Sexualstraftäter in der JVA ... unternommen. Dieser Versuch wurde abgebrochen, nachdem der Verurteilte mit den dort zur Verfügung stehenden integrativen sozialtherapeutischen Mitteln nicht zu erreichen war.
3. Schon im Alter von etwa 15 Jahren traten beim Verurteilten erstmals Gewaltfantasien auf, die er seit seinem 17. oder 18. Lebensjahr mit Selbstbefriedigung verband. Dabei stellte sich der Verurteilte vor, sein weibliches Opfer durch einen Angriff gegen dessen Hals wehr- bzw. leblos zu machen, um anschließend darauf zu onanieren. Dadurch wollte er das Opfer einerseits seine Macht und Dominanz spüren lassen, andererseits wollte er es demütigen und erniedrigen. Diese Fantasien steigerten sich in den letzten drei bis vier Wochen vor der Tat besonders intensiv, nachdem sich bei ihm infolge beruflicher und sozialer Probleme „maximaler Druck“ aufgebaut hatte. Bei der Tat wollte der Verurteilte seine Fantasien abladen und setzte sie entsprechend um.
Die sexuellen Gewaltfantasien bestanden auch nach der Inhaftierung des Verurteilten im August 1998 fort und verstärkten sich in der Untersuchungshaft sowie zu Beginn der Strafhaft. In zeitlichem Zusammenhang mit der ersten Ausführung des Verurteilten im September 2004 wurden sie erneut besonders stark ausgeprägt. Dies wurde erstmals bekannt im November 2005 im Rahmen von Explorationen zur Erstellung von Sachverständigengutachten zur Risikoprognose bei Ausgängen und Urlauben. Die Ausführungen wurden daher im Februar 2006 gestoppt. Die sexuellen Gewaltfantasien sind nach wie vor nicht überwunden.
4. Nach den Feststellungen der von zwei Sachverständigen beratenen Kammer besteht bei dem Verurteilten - was bei der Entscheidung über die Anlasstat noch anders beurteilt worden war - eine multiple Störung der Sexualpräferenz (ICD-10 F65.6) mit einer sadistischen Komponente und eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10 F60.30). Der Verurteilte hat Schwierigkeiten, Wut zu kontrollieren. Auf Kränkungen und Zurückweisungen reagiert er mit impulsiven Handlungen, indem er sich beispielsweise durch zielloses Herumfahren oder „Reifen-Burnouts“ abreagiert. Er ist deshalb psychisch krank. Dieser psychische Zustand steht tatauslösend in unmittelbarem Zusammenhang mit der Anlasstat.
III.
Das Landgericht hat die Voraussetzungen für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG bejaht. Insbesondere hat es eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit festgestellt und ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der Person des Verurteilten, seiner Tat und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Jugendstrafe zu der Überzeugung gelangt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten i.S.v. § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG begehen wird. Indes erachtete die Kammer - im Einklang mit dem Wortlaut der Vorschrift - weder das Vorliegen eines Hanges noch das Vorhandensein neuer Tatsachen („Nova“) für erforderlich. Sie hat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach § 62 StGB, die Möglichkeit milderer Maßnahmen sowie das verfassungsmäßige Übermaßverbot geprüft, aber auch unter diesen Gesichtspunkten die Anordnung der Sicherungsverwahrung für zwingend geboten erachtet.
B.
Der Revision des Verurteilten bleibt der Erfolg versagt. Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG hält revisionsrechtlicher Prüfung stand. Das Landgericht hat die formellen (Ziffer I.) und materiellen (Ziffer II. und III.) Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG zutreffend bejaht. Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht (Ziffer IV.) ist nicht gegeben. Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) ist nicht verletzt (Ziffer V.).
I.
Die formellen Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG liegen vor. Denn der Verurteilte ist wegen Mordes (§ 211 StGB) und damit wegen eines Verbrechens gegen das Leben, durch welches das Opfer körperlich schwer geschädigt wurde, verurteilt worden. Da für diese Katalogtat gegen den Verurteilten eine Jugendstrafe von zehn Jahren verhängt wurde, liegt auch die weitere formelle Voraussetzung des § 7 Abs. 2 Halbs. 1 JGG vor, wonach es sich um eine Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren handeln muss.
II.
Die Annahme des Landgerichts, vor Ende des Vollzugs seien Tatsachen erkennbar gewesen, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Zutreffend geht das Landgericht davon aus, dass es sich dabei nicht um neue Tatsachen („Nova“) handeln muss.
1. Der Verzicht auf die Anordnungsvoraussetzung „neue Tatsachen“ ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift „ sind nach einer Verurteilung (…) Tatsachen erkennbar“ - im Gegensatz zu § 66b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB, der fordert, dass Tatsachen nach der Anlassverurteilung erkennbar „ werden “. Darin hat der eindeutige Wille des Gesetzgebers seinen Niederschlag gefunden, wonach für die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach Jugendstrafrecht nicht ausnahmslos und stets erhebliche „neue“ Tatsachen erforderlich sein sollen (BTDrucks. 16/6562 S. 9). Vielmehr soll die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG auch dann anwendbar sein, wenn die wesentlichen die Gefährlichkeit begründenden Tatsachen bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung erkennbar waren und im Vollzug der Jugendstrafe keine erheblichen „neuen“ Tatsachen hervorgetreten sind (BTDrucks. 16/6562 S. 7).
2. Dieser Verzicht ist auch im System der Anordnung von Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht angelegt. Hier besteht keine gesetzliche Grundlage, die ursprüngliche oder vorbehaltene Sicherungsverwahrung anzuordnen (vgl. § 2 JGG i.V.m. § 7 JGG). Die noch nicht abgeschlossene Entwicklung jugendlicher Straftäter zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bietet besondere Chancen und Aussichten für eine positive Einwirkung sowie für entsprechende positive Veränderungen der Betroffenen während des Vollzugs der Jugendstrafe, der vorrangig dem Erziehungsgedanken dient. Deshalb ist in diesen Fällen die Verlagerung des Entscheidungszeitpunkts über die Sicherungsverwahrung an das Ende des Jugendstrafvollzugs zur Erhöhung der Prognosesicherheit geboten (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 7). Dies gilt auch dann, wenn sich bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung erhebliche Hinweise auf eine hohe künftige Gefährlichkeit eines jugendlichen Straftäters zeigen, weil gleichwohl auch bei ihm grundsätzlich besondere Chancen für eine positive Veränderung (auch) durch die Einwirkung des Jugendstrafvollzugs vorhanden sind (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 9).
Damit können an sich beachtliche Umstände für eine Anordnung von Sicherungsverwahrung bei der jeweiligen Anlassverurteilung nach Jugendstrafrecht aus rechtlichen Gründen keine Berücksichtigung finden. Der Gesetzgeber hat in § 7 Abs. 2 JGG - ebenso wie in §66b Abs. 1 Satz 2 StGB - gezielt eine Möglichkeit zur Neubewertung dieser Umstände geschaffen. Damit hat er dem staatlichen Schutzauftrag Rechnung getragen, potentielle Opfer schwerster Verbrechen auch vor höchstgefährlichen jungen Straftätern zu schützen, denen auf andere Weise nicht mehr mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet werden kann (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 7).
3. Das Landgericht durfte deshalb die beim Verurteilten nunmehr festgestellte multiple Störung der Sexualpräferenz mit sadistischer Komponente und die emotional instabile Persönlichkeitsstörung als Tatsachen i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG werten, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Darauf, ob dieser Zustand bereits bei der Anlassverurteilung vorlag, bei der „gewisse Anhaltspunkte für den Beginn einer sexuellen Deviation“ festgestellt wurden, kommt es mithin nicht an.
III.
1. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 JGG die Feststellung eines Hanges nicht für erforderlich hält.
a) § 7 Abs. 2 JGG setzt nach seinem Wortlaut das Merkmal „Hang“ nicht voraus.
Dies ist vom Gesetzgeber so gewollt (vgl. BTDrucks. 16/9643 S. 6). Er hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht durch Gesetz vom 8. Juli 2008 (BGBl I 1212), in Kraft seit 12. Juli 2008, geregelt. Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass der Bundesgerichtshof für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen Erwachsene nach § 66b Abs. 2 StGB die Feststellung eines Hanges i.S.v. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verlangt (vgl. dazu BGHSt 50, 373, 381; 51, 191, 199; BGH StV 2008, 636, 637; am Hangerfordernis zweifelnd, aber nicht tragend: BGH NJW 2006, 1446, 1447), obwohl der Wortlaut der Vorschrift dies nicht vorsieht. Dazu sah sich der Bundesgerichtshof durch die Vorschriften über die Erledigung der Maßregel (§ 463 Abs. 3 Satz 4 StPO, § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB) veranlasst, die einheitlich für das System der Sicherungsverwahrung gelten und vom Vorliegen eines Hanges des Verurteilten zum Zeitpunkt der Anordnung der Unterbringung ausgehen. In Kenntnis dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber - offensichtlich in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht - Kammer -, Beschl. vom 23. August 2006 - 2 BvR 226/06 (NJW 2006, 3483, 3484) - bei § 7 Abs. 2 JGG erneut auf das Erfordernis eines Hanges verzichtet wie in § 66b Abs. 2 StGB und in § 106 Abs. 5 JGG bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung für nach allgemeinem Strafrecht verurteilte erwachsene und heranwachsende Ersttäter (vgl. BTDrucks. 15/2887 S. 13, 18 f.). Er hat § 7 Abs. 2 JGG ausdrücklich an diese Vorschriften angelehnt (BTDrucks. 16/6562 S. 8).
Der Gesetzgeber hat die Gefährlichkeit nicht von einem Hang zu den genannten Anlasstaten abhängig gemacht. Die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG stellt gezielt auf den davon betroffenen jungen Straftäter ab. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich von der ursprünglichen oder vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wegen der bei jungen Straftätern regelmäßig vorhandenen Entwicklungsdefizite sowie der damit einhergehenden Prognoseunsicherheiten, wie oben ausgeführt, Abstand genommen. Auch für die Beurteilung zum Ende des Jugendstrafvollzugs, zu dem der Verurteilte jedenfalls das 21. Lebensjahr vollendet hat, da er nach Eintritt der Strafmündigkeit mit 14 Jahren mindestens eine siebenjährige Jugendstrafe verbüßen muss, wurde bewusst auf das Merkmal „Hang“ verzichtet.
Vorliegend ist zudem die zeitliche Nähe des Erlasses dieses Gesetzes zum Ende des Strafvollzugs des Verurteilten in dieser Sache zu berücksichtigen. Der Verurteilte verbüßte die Strafe aus der Anlassverurteilung bis 17. Juli 2008. Das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht (BGBl I 1212) vom 8. Juli 2008 trat unmittelbar vorher am 12. Juli 2008 in Kraft. Diese zeitliche Nähe lässt den Schluss zu, dass der Gesetzgeber Fallgestaltungen der vorliegenden Art bei Erlass des Gesetzes im Blick gehabt hat und auch diese erfassen wollte. Unter den dargelegten Umständen ist für eine Auslegung der Vorschrift durch die Rechtsprechung über den Wortlaut hinaus kein Raum, zumal der Katalog der Anlasstaten hier auf schwerste Verbrechen gegen Personen beschränkt wurde. Die Gefährlichkeit i.S.v. § 7 Abs. 2 JGG kann danach auch durch andere Tatsachen als durch einen Hang zur Begehung der Anlasstaten festgestellt werden.
b) Gleichwohl muss die spezifische Gefährlichkeit des Verurteilten im Hinblick auf die Begehung von Anlasstaten in seiner Persönlichkeit angelegt sein. Nur dadurch ist die dem gesetzgeberischen Willen entsprechende Begrenzung der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung bei jungen Straftätern nach § 7 Abs. 2 JGG auf einzelne höchstgefährliche Straftäter (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 1, 7, 9) gewährleistet.
Die spezifische Gefährlichkeit zu Anlasstaten i.S.v. § 7 Abs. 2 JGG ist weitergehend als der in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB beschriebene Hang zu erheblichen Straftaten. Denn der Katalog der Taten wurde in § 7 Abs. 2 JGG auf schwerste Verbrechen gegen Personen beschränkt, während der Hang nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB auch schweren wirtschaftlichen Schaden umfasst. Allerdings kann ein Hang zu erheblichen Straftaten eine Indiztatsache für das Vorliegen der spezifischen Gefährlichkeit zu Anlasstaten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG darstellen (vgl. BVerfG NJW 2006, 3483, 3484; Beschl. vom 5. August 2009 - 2 BvR 2098/08 und 2 BvR 2633/08 [jew. zu § 66b StGB]).
c) Soweit die Vollstreckungsregelungen des § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO i.V.m. § 67d Abs. 3 und 2 StGB, die gemäß § 82 Abs. 3 JGG auf die nach Jugendstrafrecht verhängte Sicherungsverwahrung anzuwenden sind, ausdrücklich die Feststellung eines Hanges voraussetzen, sind sie gegebenenfalls dahingehend auszulegen, dass die dann mit der Sache befasste Strafvollstreckungskammer und der Sachverständige nicht das weitere Vorliegen eines Hanges zu prüfen haben, sondern die weiterhin gegebene spezifische Gefährlichkeit des Verurteilten zu Anlasstaten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG.
2. Daran gemessen hat das Landgericht rechtsfehlerfrei die erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG festgestellt. Seine Prognoseentscheidung, die sich ohnehin einer generell abstrakten Beurteilung entzieht und deshalb für das Revisionsgericht nur in begrenztem Umfang nachprüfbar ist (vgl. BGHR StGB § 66b Abs. 1 Satz 2 Voraussetzungen 2; BGH NStZ-RR 2008, 40, 41; Ullenbruch in MüKo-StGB § 66 Rdn. 137, § 66b Rdn. 89), weist entgegen dem Vorbringen der Revision keinen Rechtsfehler auf.
a) Die äußerst belastende Maßregel der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung bei nach Jugendstrafrecht Verurteilten ist - worauf der Gesetzgeber ausdrücklich hinweist (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 9) - nur in außergewöhnlichen, seltenen Ausnahmefällen gegen Straftäter berechtigt, bei denen die konkrete Gefahr besteht, dass sie in absehbarer Zeit nach ihrer Entlassung aus dem Vollzug der Jugendstrafe besonders schwere Straftaten der in § 7 Abs. 2 JGG bezeichneten Art begehen werden. An Inhalt und Qualität der Prognose sind in jedem Fall strengste Anforderungen zu stellen (BTDrucks. 16/6562 S. 9). Eine hohe Wahrscheinlichkeit kann nicht bereits dann angenommen werden, wenn (nur) überwiegende Umstände auf eine künftige Delinquenz des Verurteilten hindeuten. Es bedarf vielmehr unter Ausschöpfung der Prognosemöglichkeiten einer positiven Entscheidung über die Gefährlichkeit des Verurteilten (vgl. BVerfG NJW 2009, 980, 982 [zu § 66b StGB]; BGHR StGB § 66b Abs. 1 Satz 2 Voraussetzungen 2). Den damit einhergehenden hohen Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose werden die Ausführungen der Kammer gerecht.
b) Auf der Grundlage der beiden Sachverständigengutachten (einem psychiatrischen und einem kriminologischen) hat das Landgericht nachvollziehbar dargelegt, dass bei dem Verurteilten eine multiple Störung der Sexualpräferenz mit sadistischer Komponente und eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ bestehen. Insbesondere erstere lässt sich kontinuierlich über Jahre hinweg nachweisen. Diese in der Persönlichkeit des Verurteilten angelegte psychische Störung äußerte sich zunächst in sexuellen Gewaltfantasien. Diese entwickelte der Verurteilte aus sexueller Frustration (er ist sexuell unerfahren und hatte noch keine engere Beziehung zu einer Frau) und unter dem Einfluss zahlreicher persönlicher, beruflicher und sozialer Stressfaktoren. In seinen Fantasien war ihm besonders wichtig, ein weibliches Opfer durch einen Angriff gegen dessen Hals wehr- bzw. leblos zu machen, um anschließend darauf zu onanieren. Ihm ging es dabei um Macht und Dominanz gegenüber seinem Opfer, aber auch um dessen Demütigung und Erniedrigung. Diese Fantasien verband er schließlich mit Selbstbefriedigung.
In der Zeit unmittelbar vor Begehung der Anlasstat hatte sich beim Verurteilten infolge beruflicher Probleme, Einmischungen seitens seiner als dominant empfundenen Mutter und Hänseleien in seiner Clique „maximaler Druck“ aufgebaut. Diese Anhäufung alltäglicher Stressfaktoren ist beim Verurteilten auf seine emotional instabile Persönlichkeit zurückzuführen. Aufgrund dessen erfuhren seine Gewaltfantasien als Ausprägung seines psychischen Zustandes eine intensive Steigerung und bezogen sich nunmehr auch auf ihm bekannte Frauen, von denen er sich gedemütigt fühlte. Seine Fantasien lud er schließlich bei der Anlasstat bei seinem Opfer ab. Seine in der Person angelegten Schwierigkeiten, Wut zu kontrollieren sowie auf Kränkungen und Zurückweisungen adäquat zu reagieren, traten dabei zu Tage.
Die in der Persönlichkeit des Verurteilten angelegten Gewaltfantasien sind nach wie vor nicht überwunden. Wie die Vergangenheit zeigt, kommt es auch immer wieder zu Steigerungen. Dies war insbesondere im zeitlichen Zusammenhang mit den begleiteten Haftausführungen des Verurteilten der Fall.
Nach Auffassung des Landgerichts geben die Auslöser der Anlasstat dieser Symptomcharakter für künftige Taten. Dabei hat es sich an den individuell bedeutsamen Bedingungsfaktoren für diese Delinquenz, deren Fortbestand, der weiterhin fehlenden Kompensation durch protektive Umstände, der nach wie vor erforderlichen Behandlungsbedürftigkeit des Verurteilten sowie dem Gewicht dieser Gesichtspunkte in zukünftigen Risikosituationen orientiert. Auf dieser Basis hat es die spezifische Gefährlichkeit i.S.v. § 7 Abs. 2 JGG bejaht. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern.
c) Aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung kommt das Landgericht mit tragfähiger Begründung zu dem Ergebnis, dass der Verurteilte mit hoher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit nach seiner Entlassung aus dem Vollzug weitere schwere Straftaten i.S.d. § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG begehen wird.
aa) Es durfte bei seiner Prognoseentscheidung von der Einordnung der Wahrscheinlichkeit als „deutlich erhöht“ bzw. als „mittelhoch bis hoch“ durch die beiden Sachverständigen abweichen. Bei der von ihnen vorgenommenen Einteilung der Rückfallgeschwindigkeit und der Gefährlichkeit in die Stufen „niedrig - mittelhoch - hoch“ handelt es sich - worauf das Landgericht und auch der psychiatrische Sachverständige Dr. B. zutreffend hinweisen - um „psychiatrisch-forensische Konstrukte“. Demgegenüber ist die rechtliche Bewertung, ob eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung weiterer schwerer Straftaten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG vorliegt, eine Rechtsfrage, die das Tatgericht ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten hat (vgl. Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 66 Rdn. 202). Dies hat das Landgericht tragfähig getan.
bb) Die psychischen, in der Persönlichkeit des Verurteilten angelegten Störungen, die tatauslösend in unmittelbarem symptomatischen Zusammenhang mit der Anlasstat stehen, sind nicht ausreichend therapiert. Der Verurteilte ist nach wie vor nicht in der Lage, seine eigene Gefährlichkeit realistisch einzuschätzen. Er verfügt weder über eine ausreichende Fähigkeit, Frühwarnsymptome zu erkennen, noch über adäquate Bewältigungsstrategien, um einer erneuten Eskalation entgegenzuwirken. Der im Falle einer Entlassung erforderliche gesicherte soziale Empfangsraum - insbesondere die weitere therapeutische Anbindung des Verurteilten - ist nicht gegeben. Bei einer Entlassung zum jetzigen Zeitpunkt ist daher mit hinreichender Gewissheit davon auszugehen, dass es beim Verurteilten, der bis zu seiner Inhaftierung in dem behüteten Elternhaus lebte und sich nunmehr seit August 1998 in dem gesicherten Rahmen des Jugendstrafvollzugs befindet, bei der Bewerkstelligung des alltäglichen Lebens in absehbarer Zeit zu einer Kumulation von Stressfaktoren kommt. Ebenso wie bei der Anlasstat besteht dann die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es erneut zu einer intensiven Steigerung der noch nicht überwundenen Gewaltfantasien kommt, bis hin zu deren tatsächlichem Abladen in Form der Begehung schwerster Sexualdelikte, bis hin zum Sexualmord (zur Befriedigung des Geschlechtstriebs). Unter diesen Umständen war die Anordnung verhältnismäßig i.S.v. § 62 StGB. Mildere Maßnahmen kommen nicht in Betracht.
IV.
Die Vorschrift des § 7 Abs. 2 JGG steht im Einklang mit der Verfassung. Daher sind die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG, anders als die Revision meint, nicht gegeben.
1. § 7 Abs. 2 JGG verstößt weder gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG noch gegen das Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem) des Art. 103 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass die Anwendungsbereiche des Art. 103 Abs. 2 und 3 GG auf staatliche Maßnahmen beschränkt sind, die eine repressive, dem Schuldausgleich dienende Strafe darstellen. Demgegenüber fällt die Maßregel der Sicherungsverwahrung als präventive, der Verhinderung zukünftiger Straftaten dienende Maßnahme - ungeachtet ihrer strafähnlichen Ausge-staltung - nicht in den Anwendungsbereich dieser Verbote. Denn ihr Zweck besteht nicht darin, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen (vgl. BVerfG NJW 2009, 980, 981; BVerfG, Beschl. vom 5. August 2009 - 2 BvR 2098/08 und 2 BvR 2633/08; ebenso BGHSt 52, 205, 209 f.; 50, 284, 295 jew. m.w.N.; aA - jedoch nicht tragend und ohne weitere Begründung - BGH, Beschl. vom 19. Oktober 2007 - 3 StR 378/07 - Rdn. 13).
2. Auch ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche und grundrechtliche Gebot des Vertrauensschutzes, Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG liegt nicht vor. Der Umstand, dass § 7 Abs. 2 JGG auf das Erfordernis neuer Tatsachen für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht verzichtet, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
a) In der Rechtsprechung ist bereits grundsätzlich entschieden, dass die gesetzliche Möglichkeit, gemäß § 66b StGB nachträglich die Unterbringung eines Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen, als Fall tatbestandlicher Rückanknüpfung oder unechter Rückwirkung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist (BVerfG NJW 2009, 980, 981; NJW 2006, 3483, 3484; BGHSt 52, 205, 210 f.). Dies gilt auch dann, wenn - wie bei § 66b Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 StGB - auf das Erfordernis neuer Tatsachen für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in den Fällen verzichtet wird, in denen die ursprüngliche Anordnung der Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen nicht möglich war (BVerfG NJW 2009, 980, 981; BGHSt 52, 205, 210 ff.; BGH, Beschl. vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09). Auch insofern ist eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen oder eine „echte“ Rückwirkung im Sinne eines nachträglich ändernden Eingriffs in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände nicht gegeben (dazu ausführlich BVerfG NJW 2009, 980, 981 f. m.w.N.).
b) Gleiches gilt für die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG. Auch sie knüpft zwar gegebenenfalls an eine vor ihrer Verkündung begangene Anlasstat und deren Aburteilung an, sie ändert jedoch nicht nachträglich eine an die Anlasstat anknüpfende Rechtsfolge (vgl. BVerfG NJW 2006, 3483, 3484 [zu § 66b Abs. 2 StGB]).
In den Fällen des § 7 Abs. 2 JGG reichen sowohl der Prozessgegen-stand als auch die rechtlichen Möglichkeiten des Gerichts im Verfahren über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung über diejenigen im Erkenntnisverfahren der Anlassverurteilung hinaus (BVerfG NJW 2009, 980, 981 [zu § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB]). Dem im Erkenntnisverfahren entscheidenden Gericht stand (und steht auch weiterhin) die rechtliche Möglichkeit der Anordnung einer ursprünglichen oder vorbehaltenen Sicherungsverwahrung bei nach Jugendstrafrecht verurteilten Straftätern nicht zur Verfügung. Seine Entscheidung konnte (und kann) sich damit von Rechts wegen nicht auf die Frage der Sicherungsverwahrung beziehen. Dies ist wegen der regelmäßig noch nicht abgeschlossenen Entwicklung der Täter und der Prognoseunsicherheiten auch sachgerecht. Für die Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen ist demnach insbesondere das Verhalten des Verurteilten nach Eintritt der Rechtskraft der Anlassverurteilung von Bedeutung. Damit unterscheidet sich die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 JGG - anders als die Revision meint - maßgeblich von einem Wiederaufnahmeverfahren zum Nachteil des Verurteilten (vgl. BVerfG NJW 2009, 980, 981). Dementsprechend wird durch sie auch keine frühere Entscheidung über die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung nachträglich zu Lasten des Verurteilten korrigiert.
c) In einem solchen Fall ist das gesetzgeberische Anliegen, das der Maßregel zugrunde liegt, namentlich der Schutz der Allgemeinheit, gegen die Belange des Vertrauensschutzes abzuwägen (BVerfG NJW 2006, 3483, 3484; BGHSt 52, 205, 211 m.w.N.). Diese Güterabwägung ergibt, dass der vom Gesetzgeber mit der Vorschrift des § 7 Abs. 2 JGG verfolgte Schutz der Allgemeinheit vor einzelnen extrem gefährlichen jungen Straftätern, von denen weitere schwerwiegende Verbrechen i.S. dieser Vorschrift zu erwarten sind, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder gefährdet werden (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 1, 7), im Gemeinwohlinteresse überwiegt. Dahinter müssen der Vertrauensschutz und das Freiheitsgrundrecht des Verurteilten zurücktreten (so für § 66b Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 StGB bereits: BGHSt 52, 205, 211; BGH, Urt. vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09; BVerfG NJW 2009, 980, 982; für § 66b Abs. 2 StGB: BVerfG NJW 2006, 3483, 3484).
aa) Zwar wurde mit Inkrafttreten des Gesetzes vom 8. Juli 2008 (BGBl I 1212) der bis dahin bestehende Vertrauenstatbestand auf den Ausschluss der Sicherungsverwahrung bei nach Jugendstrafrecht Verurteilten beseitigt. Dies führt im Rahmen der gebotenen Abwägung zu einer stärkeren Gewichtung der Vertrauensschutzbelange. Allerdings wird die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bereits durch § 2 Abs. 6 StGB eingeschränkt. Nach dieser Vorschrift ist über Maßregeln der Besserung und Sicherung, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zum Zeitpunkt der Entscheidung gilt. Mithin steht die Anordnung der Sicherungsverwahrung stets unter dem Vorbehalt einer Änderung der Gesetzeslage (vgl. BVerfGE 109, 133, 185 [zu § 67d Abs. 3 StGB]; BGHSt 52, 205, 212 [zu § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB]). Der Stellenwert des gesetzgeberischen Anliegens, Schutz der Allgemeinheit vor hochgefährlichen jungen Straftätern, überwiegt das Vertrauen der von der Neuregelung betroffenen Verurteilten auf die fehlende Möglichkeit der Anordnung ihrer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Das Freiheitsgrundrecht der von der tatbestandlichen Rückanknüpfung betroffenen Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG tritt trotz seines hohen Wertes, der ihm vorliegend insbesondere aufgrund des zum Tatzeitpunkt jugendlichen Alters der betroffenen Straftäter zukommt, hinter das überragende öffentliche Interesse zurück. Da die Anwendung des § 7 Abs. 2 JGG - entsprechend dem gesetzgeberischen Willen (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 1, 7) - auf einzelne extrem gefährliche Verurteilte - wie im gegenständlichen Fall - beschränkt ist, bewegt sich der Gesetzgeber demnach in seinem Gestaltungsspielraum für Maßnahmen zur Gewährung der Sicherheit der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 109, 133, 187 [zu § 67d Abs. 3 StGB]).
bb) Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG nicht das Vorliegen neuer Tatsachen verlangt. Durch den Verzicht auf die Anordnungsvoraussetzung neuer Tatsachen („Nova“) wurde die Möglichkeit einer Neubewertung von Umständen geschaffen, die zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung aus rechtlichen Gründen nicht beachtlich waren (vgl. zu § 66b Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 StGB: BGHSt 52, 205, 212). Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn diese mit solchen gleichgestellt werden, die zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nicht erkennbar waren (vgl. BVerfG NJW 2009, 980, 982; BVerfGE 109, 190, 236).
cc) Die Revision macht in diesem Zusammenhang geltend, jugendliche Straftäter müssten, auch wenn sie sich in der Haft noch so unauffällig verhielten, in der „unerträglichen Ungewissheit“ leben, dass es nach Verbüßung der Jugendstrafe zu einer negativen Beurteilung von Umständen vor der Verurteilung komme. Im Gegensatz dazu hätten nach allgemeinem Strafrecht Verurteilte das Entstehen der erforderlichen neuen Tatsachen selbst in der Hand.
Diesem Argument der Schlechterstellung kann der Senat nicht folgen. Wegen der noch nicht abgeschlossenen Entwicklung und der Prognoseunsicherheit bei jugendlichen Straftätern wurde die Beurteilung der Gefährlichkeit auf den Zeitpunkt der Entlassung aus dem Vollzug der Jugendstrafe verlagert (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 7). Bis dahin hat es der nach Jugendstrafrecht verurteilte Straftäter aber gerade selbst in der Hand, unter dem Einfluss des Jugendstrafvollzugs, der vorrangig dem Erziehungsgedanken Rechnung trägt, etwa vorhandene Anhaltspunkte für seine Gefährlichkeit zu beseitigen, indem er das von ihm begangene schwerwiegende Delikt aufarbeitet. Zudem ist in diesen Fällen regelmäßig eine Nachreifung des jungen Verurteilten zu erwarten, die bei der Gefährlichkeitsbeurteilung zu diesem späten Zeitpunkt Berücksichtigung findet. All dies stellt ein „Mehr“ an Möglichkeiten der Abwendung der Sicherungsverwahrung dar, als dies bei nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Heranwachsenden und Erwachsenen der Fall ist.
3. Die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG wahrt trotz des mit ihr verbundenen Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat für § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB bereits ausgesprochen, dass - trotz des Verzichts auf das Erfordernis neuer Tatsachen („Nova“) - die gesetzliche Möglichkeit der Maßregelanordnung den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit genügt (BVerfG NJW 2009, 980, 982). Da die enge Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 66b Abs. 1 StGB gewährleistet, dass die Maßnahme der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung - entsprechend dem gesetzgeberischen Willen - auch in den Fällen des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommt und auf einige wenige Verurteilte beschränkt bleibt, ist die Vorschrift als verhältnismäßige Regelung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG NJW 2009, 980, 982; vgl. auch - jew. zu § 66b Abs. 2 StGB - BVerfG NJW 2006, 3483, 3484; BGH, Beschl. vom 19. Oktober 2007 - 3 StR 378/07 - Rdn. 13; BGHSt 50, 275, 278).
b) Gleiches gilt für die Norm des § 7 Abs. 2 JGG. Der Gesetzgeber hat dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch hier dadurch Rechnung getragen, dass er die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht auf gravierendste Einzelfälle beschränkt hat (vgl. BTDrucks. 16/6562 S. 1, 7 und 9). Dazu hat er die Voraussetzungen einer solchen deutlich strenger gefasst als bei nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten (BTDrucks. 16/6562 S. 7):
- Zum einen ist der Katalog der Anlasstaten noch enger als bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht auf schwerste Verbrechen gegen andere Personen beschränkt. Dabei müssen (ebenso wie bei § 106 Abs. 3, 5 und 6 JGG) bereits diese und nicht erst die zu erwartenden künftigen Straftaten mit einer schweren seelischen oder körperlichen Schädigung oder Gefährdung des Opfers verbunden gewesen sein (BTDrucks. 16/6562 S. 7, 8). Der schwere Raub nach § 250 StGB, der unter Umständen lediglich zu wirtschaftlichen Schäden führen kann, stellt in § 66b StGB eine Katalogtat dar, wurde aber in § 7 Abs. 2 JGG ausgenommen.
- Zum anderen wird - gegenüber einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren in den entsprechenden Bestimmungen des § 66b Abs. 2 StGB und § 106 Abs. 5 JGG bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht - hier eine Verurteilung wegen einer Katalogtat zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren verlangt.
- Außerdem kommt hinzu, dass die Frist zur Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 JGG auf ein Jahr verkürzt wurde, während sie bei nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten zwei Jahre beträgt (§ 67e Abs. 2 StGB).
c) Zwar hat der Gesetzgeber bei der Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG bewusst auf die gesonderte Feststellung eines Hanges des Verurteilten zu den Anlasstaten verzichtet. Diese gesetzgeberische Entscheidung für einen grundsätzlichen Verzicht auf die Feststellung eines Hanges ist vorliegend mit Blick auf die dargestellten zusätzlichen, limitierenden Anordnungsvoraussetzungen (vorgehend lit. b) unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten jedoch nicht zu beanstanden (in diesem Sinne für § 66b Abs. 2 StGB bereits BVerfG NJW 2006, 3483, 3484). Dies gilt umso mehr, als die erforderliche in der Persönlichkeit des Verurteilten angelegte spezifische Gefährlichkeit zu Anlasstaten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG weitergehend ist als der in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB umschriebene Hang.
4. Soweit der Revisionsführer einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG wegen fehlender Berechenbarkeit der Freiheitsentziehung rügt, dringt er nicht durch.
a) Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Fälle, in denen eine Freiheitsentziehung zulässig sein soll, hinreichend klar zu bestimmen. Freiheitsentziehungen sind dabei in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Dies gilt auch für präventive Freiheitsentziehungen, da diese ebenso stark in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eingreifen wie Freiheitsstrafen (BVerfGE 109, 133, 188). Im Hinblick auf die Intensität des Grundrechtseingriffs bei der Freiheitsentziehung muss der Gesetzgeber nicht nur bestimmen, unter welchen tatbestandlichen Voraussetzungen überhaupt die freiheitsentziehende Maßregel der Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, sondern darüber hinaus auch sicherstellen, dass Entscheidungen über die Freiheitsentziehung auf Grund einer Prognose keine von vornherein unbegrenzte Wirkung zukommen darf. Die Unsicherheit, die jeder Prognose innewohnt, erfordert bei einer präventiven Freiheitsbeschränkung eine angemessene Entscheidung des Gesetzgebers darüber, welche zeitliche Wirkung der Prognoseentscheidung zukommt und wann diese zu überprüfen ist (BVerfGE 109, 133, 188).
b) Diesen Anforderungen genügt die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG. Sie sieht sowohl die - strengen - tatbestandlichen Anordnungsvoraussetzungen vor, so dass für nach Jugendstrafrecht verurteilte Straftäter klar erkennbar ist, ob die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für sie grundsätzlich in Betracht kommt. Zudem hat der Gesetzgeber für die rechtzeitige Feststellung nachlassender Gefährlichkeit Vorsorge getroffen, indem er eine regelmäßige Überprüfung der Prognoseentscheidung in angemessener Zeit sicherstellt. Gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 JGG hat das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung spätestens nach einem Jahr zu überprüfen. Damit ist gewährleistet, dass die einzelne Prognoseentscheidung die Freiheitsentziehung nur für einen bestimmten Zeitraum trägt. Zugleich ist für den Betroffenen vorhersehbar, wann er mit einer neuen Überprüfung rechnen kann (vgl. BVerfGE 109, 133, 189).
V.
Ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention liegt nicht vor. Auch das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde Nr. 19359/04) steht der vorliegenden Entscheidung nicht entgegen. Abgesehen davon, dass dieses Urteil noch nicht endgültig ist (Art. 43 Abs. 1, Art. 44 Abs. 2b EMRK), liegt hier jedenfalls eine - unter den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für maßgeblich erachteten Kriterien - abweichende Fallgestaltung und Rechtslage vor.
1. Während es bei dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu entscheidenden Fall um den Wegfall und damit um die nachträgliche Verlängerung der nach § 67d Abs. 1 StGB aF geltenden zehnjährigen Höchstfrist für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung geht, betrifft der gegenständliche Sachverhalt die erstmalige nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung bei nach Jugendstrafrecht Verurteilten. In diesen Fällen ist eine ursprüngliche oder vorbehaltene Sicherungsverwahrung nicht möglich.
2. Auch die jeweiligen Verfahren sind grundsätzlich verschieden. Während die Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von der Strafvollstreckungskammer nach Aktenlage ohne mündliche Verhandlung lediglich nach Anhörung des Betroffenen und nach Einholung nur eines Sachverständigengutachtens im schriftlichen Verfahren getroffen wird, ergeht das Urteil über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 JGG im Erkenntnisverfahren auf Grundlage einer neuen Hauptverhandlung und nach Einholung von zwei Sachverständigengutachten (§ 275a Abs. 4 Satz 2 StPO).
3. Soweit die Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dem ihr vorliegenden Fall einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK sieht, verhält es sich hier deshalb anders, weil der betroffene Verurteilte - im Gegensatz zu demjenigen in dem Fall, den die Kammer zu entscheiden hatte - psychisch krank ist. Damit ergibt sich gegenständlich eine Eingriffsermächtigung in das Freiheitsrecht des Betroffenen zum Schutze der Allgemeinheit jedenfalls aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e EMRK.
4. Im Hinblick auf die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 17. Dezember 2009 festgestellte Verletzung von Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK ist zudem das im gegenständlichen Fall maßgebliche, vom allgemeinen Strafrecht abweichende System des Jugendstrafrechts zu berücksichtigen (vgl. beispielsweise § 5 Abs. 3 JGG, § 106 Abs. 4 JGG). Dieses ist geprägt vom Erziehungsgedanken, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 JGG. Daran orientiert sich auch der in den Jugendstrafvollzugsgesetzen der Länder der Bundesrepublik Deutschland geregelte Vollzug der Jugendstrafe, vgl. Art. 121 Satz 2, Art. 124 BayStVollzG. In dessen Umsetzung erfuhr der Verurteilte vorliegend insbesondere auch eine Vielzahl an sozialtherapeutischen Behandlungsversuchen.
5. Der Senat ist unter diesen Umständen nicht davon überzeugt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - anders als in seiner Kammerentscheidung vom 17. Dezember 2009 - auch in der gegenständlichen Fallgestaltung einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention sehen würde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt bei seinen Entscheidungen jeweils auf den konkreten Einzelfall ab. Daher kann jede neue Entscheidung - je nach der zugrunde liegenden Fallgestaltung - von ihm zu einer neuen, abweichenden Bewertung staatlichen Handelns führen (vgl. Schädler in KK 6. Aufl. Vorb MRK Rdn. 5).
6. Abgesehen davon ist Folgendes zu berücksichtigen:
Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht die Europäische Menschenrechtskonvention im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl. BVerfG, Beschl. vom 4. Februar 2010 - 2 BvR 2307/06 m.w.N.). Demnach beeinflussen die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Ihr Text und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen, sofern dies nicht zu einer - von der Europäischen Menschenrechtskonvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) - Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfG, Beschl. vom 4. Februar 2010 - 2 BvR 2307/06 m.w.N.).
Daraus ergibt sich vorliegend aber, dass die Europäische Menschenrechtskonvention nicht nur in Bezug auf die Grundrechte des Verurteilten und die ihn betreffenden rechtsstaatlichen Grundsätze als Auslegungshilfe heranzuziehen ist, sondern auch bei der Auslegung der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG resultierenden, für den Staat bestehenden Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben potentieller Opfer zu stellen und deren Leben insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren (BVerfG, Beschl. vom 4. Februar 2010 - 2 BvR 2307/06; vgl. auch Art. 2 EMRK i.V.m. Art. 1 EMRK). Daran gemessen hat vorliegend das Freiheitsrecht des Verurteilten hinter dem Opferschutz zurückzutreten (siehe oben Ziffer B.IV.2.c).
C.
Der Senat bemerkt, dass es in Fällen wie dem vorliegenden, in dem sich die besondere Gefährlichkeit des Verurteilten in einem psychischen Zustand im Zusammenspiel mit äußeren Stressfaktoren gründet, geboten ist, rechtzeitig dafür Sorge zu tragen, dass dem Verurteilten im Falle seiner Entlassung ein gesicherter sozialer Empfangsraum zur Verfügung steht, um das Rückfallrisiko des in Freiheit entlassenen Verurteilten zu mindern. Zudem sollte frühzeitig mit einer geeigneten Therapie begonnen werden.
In Fällen wie dem gegenständlichen, in dem der Erfolg einer Therapie immer wieder dadurch negativ beeinflusst wird, dass sich der Verurteilte im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen befindet, sollte dem Verurteilten zudem eine neutrale Person beratend zur Seite gestellt werden. Die über § 82 Abs. 3 JGG anzuwendende Vorschrift des § 463 Abs. 3 Satz 5 StPO hilft dann nicht weiter, wenn der Verurteilte bereits einen Wahlverteidiger hat. Dem Senat ist es verwehrt, insofern eine Entscheidung zu treffen. Er könnte sich jedoch vorstellen, dass der Gesetzgeber diesbezüglich eine gesetzliche Grundlage für flankierende Maßnahme schafft.
Nack Rothfuß Hebenstreit
Elf Sander
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100060859&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060877
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BGH
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4. Strafsenat
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20100323
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4 ARs 3/10
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Beschluss
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§ 138 Abs 1 StGB, § 138 Abs 2 StGB
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vorgehend BGH, 13. Januar 2010, Az: 5 StR 464/09, Beschluss nachgehend BGH, 19. Mai 2010, Az: 5 StR 464/09, Urteil
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DEU
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Strafbarkeit der Nichtanzeige geplanter Straftaten bei Verdacht der Beteiligung an geplanter Straftat
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Der Senat stimmt der Rechtsansicht des anfragenden 5. Strafsenats zu. Er gibt möglicherweise entgegenstehende eigene Rechtsprechung auf.
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Der 5. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:
Auch bei fortbestehendem Verdacht einer Beteiligung an einer in § 138 Abs. 1 oder 2 StGB bezeichneten Katalogtat hindert der Zweifelssatz eine Verurteilung wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten nicht.
Er hat daher bei den anderen Strafsenaten angefragt, ob diese an entgegenstehender Rechtsprechung festhalten.
Der 4. Strafsenat schließt sich der Rechtsauffassung des anfragenden Senats an und gibt eigene, möglicherweise entgegenstehende Rechtsprechung auf.
Er gibt jedoch zu bedenken, ob es zur Vermeidung von Missverständnissen nicht angezeigt sein könnte, die entscheidungserhebliche Rechtsfrage wie folgt zu fassen:
Eine Verurteilung wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten hat nicht schon deshalb zu unterbleiben, weil der Verdacht der Beteiligung an einer in § 138 Abs. 1 und 2 StGB bezeichneten Katalogtat fortbesteht.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100060879
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BGH
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4. Strafsenat
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20100318
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4 StR 555/09
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Beschluss
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§ 202a Abs 1 StGB, § 132 Abs 3 S 1 GVG
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vorgehend LG Münster, 24. Juli 2009, Az: 3 KLs 210 Js 201/08 - 35/08, Urteil nachgehend BGH, 19. Mai 2010, Az: 1 ARs 6/10, Beschluss nachgehend BGH, 18. März 2010, Az: 5 ARs 26/10, Beschluss
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DEU
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Senatsanfrage: Auslesen des Magnetstreifens einer Zahlungskarte mit Garantiefunktion als Ausspähen von Daten
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Der Senat beabsichtigt zu entscheiden:
Das bloße Auslesen der auf dem Magnetstreifen einer Zahlungskarte mit Garantiefunktion gespeicherten Daten, um mit diesen Daten Kartendubletten herzustellen, erfüllt nicht den Tatbestand des Ausspähens von Daten (§ 202 a Abs. 1 StGB n.F.).
Der Senat fragt daher beim 3. Strafsenat an, ob an dem Urteil vom 10. Mai 2005 - 3 StR 425/04 (NStZ 2005, 566) festgehalten wird. Ferner fragt er bei dem 1., 2. und 5. Strafsenat an, ob dortige Rechtsprechung entgegensteht.
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1. Das Landgericht hat den Angeklagten u.a. der gewerbs- und bandenmäßigen Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßigem Computerbetrug und mit dem Ausspähen von Daten in drei Fällen schuldig gesprochen. Diesen Schuldsprüchen liegt im Wesentlichen Folgendes zu Grunde:
Der Angeklagte und die gesondert verfolgten, aus Rumänien nach Deutschland eingereisten V., N. und C. sowie der seit Jahren in Deutschland lebende P. schlossen sich Anfang Februar 2007 als Bande zusammen, um gewerbsmäßig zur Täuschung im Rechtsverkehr in einer Vielzahl von Fällen falsche Zahlungskarten mit Garantiefunktion herzustellen und mit diesen Karten im Ausland an Geldautomaten Geld abzuheben. Um sich die zum Nachmachen echter Zahlungskarten mit Garantiefunktion benötigten Daten zu verschaffen, die auf den Magnetstreifen solcher Karten gespeichert sind, setzten der Angeklagte und seine Mittäter ein mit einem Speichermedium versehenes Kartenlesegerät ein, das unauffällig vor den in die Geldautomaten eines bestimmten Typs eingebauten Einzugslesegeräten angebracht werden konnte. Die bei der Benutzung des Geldautomaten vom Inhaber der Zahlungskarte eingegebene PIN erlangten sie mittels eines über der Tastatur des Geldautomaten angebrachten, ebenfalls mit einem Speichermedium versehenen Tastaturaufsatzes. Auf diese Weise verschafften sich der Angeklagte und seine Mittäter am 17. Februar 2007 durch Anbringen solcher Geräte an einem Geldautomaten in einer Bank in M. 21 Datensätze von Zahlungskarten und die jeweils zugehörige PIN, am 24. Februar 2007 durch Anbringen der Geräte an einem Geldautomaten einer Bank in D. 21 Datensätze und am 7. Juli 2007 in O. weitere 35 Datensätze von Zahlungskarten. Nach dem Entfernen der Aufsatzgeräte von den Geldautomaten wurden die Speichermedien der Geräte jeweils vom Angeklagten allein oder mit Hilfe eines weiteren Mittäters ausgelesen. Mit den Datensätzen der echten Zahlungskarten wurden dann die Magnetstreifen von Payback-Karten, die Bandenmitglieder zuvor beschafft hatten, beschrieben. In der Folgezeit hoben Mitglieder der Bande unter Verwendung der nachgemachten Karten und der zu diesen Datensätzen jeweils zugehörigen PIN an Geldautomaten im Ausland Bargeld ab.
2. Der Senat beabsichtigt, das Urteil dahin zu ändern, dass in den vorgenannten Fällen jeweils der Schuldspruch wegen tateinheitlichen Ausspähens von Daten entfällt. Nach Auffassung des Senats erfüllt das bloße Auslesen der auf dem Magnetstreifen einer Zahlungskarte mit Garantiefunktion gespeicherten Daten, um mit diesen Daten Kartendubletten herzustellen, nicht den Tatbestand des Ausspähens von Daten (vgl. Senatsbeschl. vom 14. Januar 2010 - 4 StR 93/09).
Zwar haben sich der Angeklagte und seine Mittäter mittels des an dem jeweiligen Geldautomaten angebrachten Lesegeräts unberechtigt den Zugang zu Daten verschafft, die nicht für sie bestimmt waren. § 202 a Abs. 1 StGB n.F. setzt aber darüber hinaus voraus, dass sich der Täter Daten, "die gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind, unter Überwindung der Zugangssicherung verschafft". Das ist jedoch nicht der Fall, wenn sich der Täter - wie hier - den Zugang zu den auf dem Magnetstreifen der Zahlungskarte gespeicherten Daten mittels eines vor dem Einzugslesegerät eines Geldautomaten angebrachten weiteren Lesegeräts verschafft (sog. Skimming), um mit diesen Daten in ihrer ursprünglichen Form den Magnetstreifen einer Kartendublette zu beschreiben.
Dass Daten magnetisch und damit nicht unmittelbar wahrnehmbar gespeichert sind, stellt keine besondere Sicherung gegen unberechtigten Zugang dar. Vielmehr handelt es sich gemäß § 202 a Abs. 2 StGB n.F. nur bei Daten, die elektronisch, magnetisch oder sonst nicht unmittelbar wahrnehmbar gespeichert oder übermittelt werden, um Daten im Sinne des Abs. 1 dieser Vorschrift. Demgemäß schützt § 202 a Abs. 1 StGB n.F. nur diejenigen nicht unmittelbar wahrnehmbar gespeicherten Daten im Sinne des Abs. 2 dieser Vorschrift, die darüber hinaus besonders gesichert sind. Das sind nur solche Daten, bei denen der Verfügungsberechtigte durch seine Sicherung sein Interesse an der Geheimhaltung der Daten dokumentiert hat (vgl. BTDrucks. 10/5058, S. 29 zu § 202 a StGB a.F.; BTDrucks. 16/3656, S. 10). Erforderlich ist, dass der Verfügungsberechtigte - hier das Unternehmen, das die Zahlungskarte mit Garantiefunktion ausgegeben hat (vgl. BGH, Urt. vom 10. Mai 2005 - 3 StR 425/04, NStZ 2005, 566) - Vorkehrungen getroffen hat, den Zugriff auf die auf dem Magnetstreifen der Zahlungskarte gespeicherten Daten auszuschließen oder wenigstens nicht unerheblich zu erschweren (vgl. BTDrucks. 16/3656, S. 10; Fischer StGB 57. Aufl. § 202 a Rdn. 8, jew. m.w.N.). Eine Schutzvorkehrung ist jedoch nur dann eine Zugangssicherung im Sinne des § 202 a Abs. 1 StGB n.F., wenn sie jeden Täter zu einer Zugangsart zwingt, die der Verfügungsberechtigte erkennbar verhindern wollte (BTDrucks. 16/3656 aaO; Fischer aaO). Der Überwindung einer solchen Zugangssicherung bedarf es jedoch nicht, wenn die auf dem Magnetstreifen einer Zahlungskarte gespeicherten Daten lediglich ausgelesen werden. Dies ist ohne Weiteres mittels eines handelsüblichen Lesegeräts und der ebenfalls im Handel erhältlichen Software möglich.
Dass sich der Angeklagte und seine Mittäter mittels des an den jeweiligen Geldautomaten angebrachten Lesegeräts den Zugang auch zu jenen Daten verschafft haben, die in Verbindung mit der über eine Tastatur gesondert einzugebenden persönlichen Geheimzahl (PIN) vor der unbefugten Verwendung einer Zahlungskarte schützen sollen, führt entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts zu keinem anderen Ergebnis. Zwar erfolgt die Autorisierung bei der Verwendung einer Zahlungskarte mit Garantiefunktion ausschließlich über die Eingabe der PIN (vgl. Gößmann in Schimansky/Bunte/Lwowski Bankrechts-Handbuch § 54 Rdn. 14 b). Diese wird aber nicht durch Lesen der Daten aus dem Magnetstreifen ermittelt, sondern mit dem Triple-DES-Algorithmus, einem 128-Bit-Schlüssel, aus der auf dem Magnetstreifen gespeicherten Konto-Nummer, der Kartenfolge-Nummer und der jeweiligen Bankleitzahl des Karten ausgebenden Instituts - nunmehr ausschließlich online (vgl. Gößmann aaO) - errechnet und mit der vom Benutzer des Geldautomaten eingegebenen PIN verglichen (vgl. BGH, Urt. vom 5. Oktober 2004 - XI ZR 210/03, BGHZ 160, 308, 311; Gößmann aaO; Koch/Vogel in Langenbucher/ Gößmann/Werner Zahlungsverkehr § 5 Rdn. 10). Die Sicherung der der Berechnung der PIN zu Grunde liegenden Daten mittels eines kryptografischen Schlüssels (vgl. Koch/Vogel aaO) schützt die auf dem Magnetstreifen einer Zahlungskarte gespeicherten Daten zwar vor unbefugter Verwendung der Daten, nicht aber vor dem unberechtigten Zugang zu diesen Daten durch Auslesen mittels eines Lesegeräts.
Es kann dahinstehen, ob auf den Magnetstreifen der von dem Angeklagten und seinen Mittätern ausgelesenen Magnetstreifen Daten auch in verschlüsselter Form gespeichert waren. Eine Verschlüsselung von Daten schützt nur vor der Erfassung des Bedeutungsgehalts (kryptierter) Daten (vgl. MünchKomm StGB/Graf § 202 a Rdn. 40 zu § 202 a StGB a.F.), nicht aber vor dem bloßen Auslesen und Abspeichern der verschlüsselten Daten auf einem Datenträger des Täters und erfüllt demgemäß nicht den Tatbestand des § 202 a StGB n.F., weil es hierzu nicht der Überwindung einer Zugangssicherung bedarf (vgl. Gröseling/Höfinger MMR 2007, 549, 551).
3. Der Senat sieht sich durch das Urteil des 3. Strafsenats vom 10. Mai 2005 - 3 StR 425/04 (NStZ 2005, 566) gehindert, wie beabsichtigt zu entscheiden. In jener Entscheidung hat der 3. Strafsenat - ohne nähere Begründung - bei identischem Sachverhalt die Verurteilung wegen Ausspähens von Daten (§ 202 a StGB a.F.) durch das Landgericht nicht beanstandet. Der Senat fragt daher gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bei dem 3. Strafsenat an, ob an der genannten Rechtsauffassung festgehalten wird.
Vorsorglich fragt der Senat auch bei dem 1., 2. und 5. Strafsenat an, ob dortige Rechtsprechung der beabsichtigten Entscheidung entgegensteht.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060881
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BGH
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4. Strafsenat
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20100316
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4 StR 48/10
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Beschluss
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§ 200 StPO, § 352 StPO, § 52 StGB, § 53 StGB, § 29 Abs 1 S 1 Nr 1 BtMG
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vorgehend LG Dessau-Roßlau, 28. Oktober 2009, Az: 2 KLs 6/09 - 631 Js 24055/08, Urteil
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DEU
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Tatmehrheitliche unerlaubte Abgabe von Betäubungsmitteln: Umfang der Urteilsprüfung durch das Revisionsgericht bei nicht erschöpfter Anklage
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1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 28. Oktober 2009 aufgehoben,
a) soweit die Angeklagten im Fall II. 16. der Urteilsgründe verurteilt worden sind,
b) in den Aussprüchen über die Gesamtstrafen.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten H. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, [gewerbsmäßigen] unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre an eine Person unter 18 Jahren in 14 Fällen sowie unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, den Angeklagten R. wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren. Gegen dieses Urteil wenden sich die Angeklagten mit ihren auf Sachrügen gestützten Revisionen, der Angeklagte H. erhebt darüber hinaus auch eine Verfahrensrüge.
Die Rechtsmittel haben mit den Sachrügen in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verurteilungen der Angeklagten im Fall II. 16. der Urteilsgründe wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (H.) bzw. Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (R.) halten revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand, weil die Feststellungen insoweit lückenhaft sind. Das angefochtene Urteil enthält keine Angaben zur Art und Menge der Betäubungsmittel, die der Angeklagte H. zum Zweck gewinnbringenden Weiterverkaufs erworben und der - eingeweihte - Angeklagte R. für ihn aufbewahrt hat. In den Urteilsgründen wird lediglich mitgeteilt, dass es in diesem Fall "um eine nicht bekannte Menge von Betäubungsmitteln" (UA 9) ging. Hierzu wird der neue Tatrichter nähere Feststellungen zu treffen haben.
2. Die Aufhebung der Schuldsprüche in diesem Fall zieht auch die Aufhebung der Gesamtstrafen nach sich.
3. Soweit das Landgericht gegen den Angeklagten H. in den Fällen II. 1. bis 15. der Urteilsgründe Geldstrafen verhängt hat, enthält das Urteil keine Angabe der Tagessatzhöhe. Der Festsetzung der Tagessatzhöhe bedarf es auch dann, wenn - wie hier - aus Einzelgeldstrafen und Freiheitsstrafen eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet wird (vgl. BGHSt 30, 93, 96 f.; BGH, Urt. vom 28. Oktober 1987 - 3 StR 381/87, BGHR StGB § 54 Abs. 3 Tagessatzhöhe 1; vgl. auch Fischer StGB 57. Aufl. § 40 Rdn. 6 m.w.N.). Der Senat holt dies - in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO - nach und setzt die Tagessatzhöhe auf den Mindestsatz von einem Euro (§ 40 Abs. 2 Satz 3 StPO) fest.
4. Soweit der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift beanstandet, das Urteil erschöpfe den Eröffnungsbeschluss nicht, weil dem Angeklagten H. in der zugelassenen Anklageschrift 120 Fälle der unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln an die Zeugin S. zur Last gelegt waren, er aber nur in 13 Fällen (Fälle II. 1. bis 13. der Urteilsgründe) deswegen verurteilt worden ist, ist dem Senat eine Entscheidung dazu verwehrt, weil das Verfahren insoweit nicht hier, sondern noch beim Landgericht anhängig ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. November 1993 - 4 StR 629/93, BGHR StPO § 352 Abs. 1 Prüfungsumfang 4, und vom 18. April 2007 - 2 StR 144/07, NStZ 2007, 476; vgl. auch Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 352 Rdn. 1).
Tepperwien Solin-Stojanović Ernemann
Franke Mutzbauer
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100060883
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BGH
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Senat für Anwaltssachen
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20100317
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AnwSt (R) 15/09
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Beschluss
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§ 353 StPO
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vorgehend Anwaltsgerichtshof Stuttgart, 4. Juli 2009, Az: AGH 22/09 (III), Urteil vorgehend Anwaltsgericht Stuttgart, 3. März 2009, Az: 14 EV 17/08
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DEU
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Anwaltsgerichtliches Verfahren: Umfang der Bindungswirkung bei einer wirksamen Berufungsbeschränkung
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1. Auf die Revision des Rechtsanwalts wird das Urteil des III. Senats des Anwaltsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 4. Juli 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an einen anderen Senat des Anwaltsgerichtshofs zurückverwiesen.
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I.
Das Anwaltsgericht hat den Rechtsanwalt mit Urteil vom 4. März 2009 der Verletzung anwaltlicher Berufspflichten für schuldig befunden und gegen ihn ein auf das Gebiet des Zivilrechts einschließlich des Familienrechts mit Ausnahme des Arbeitsrechts beschränktes Vertretungsverbot von drei Jahren Dauer verhängt. Hiergegen hat der Rechtsanwalt Berufung eingelegt und diese auf den Maßnahmeausspruch beschränkt. Der Anwaltsgerichtshof hat das Rechtsmittel als unbegründet verworfen. Hiergegen richtet sich die Revision des Rechtsanwalts, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
II.
Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, weil der Anwaltsgerichtshof die durch die wirksame Beschränkung der Berufung auf den Maßnahmeausspruch eingetretene Bindungswirkung an die nicht angefochtenen Feststellungen in einem für den Rechtsfolgenausspruch wesentlichen Punkt nicht beachtet hat (vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 327 Rdn. 5 u. § 353 Rdn. 20).
Das Anwaltsgericht ist bei der Bewertung der durch den Rechtsanwalt begangenen Pflichtverletzung (nicht rechtzeitige Weiterleitung von Fremdgeldern) davon ausgegangen, dass dieser insoweit “zumindest mit bedingtem Vorsatz“ gehandelt hat. Demgegenüber hat der Anwaltsgerichtshof ein “bewusst vorsätzliches“ Handeln angenommen und somit seiner Entscheidung direkten Vorsatz des Rechtsanwalts zugrunde gelegt. Damit hat der Anwaltsgerichtshof sich durch die Annahme einer anderen Vorsatzform in einem für den Schuldspruch wesentlichen Punkt in Widerspruch zu den durch die Berufungsbeschränkung bindend gewordenen Feststellungen des Anwaltsgerichts gesetzt (vgl. BGHSt 10, 71; 30, 340, 343; BGH NStZ 1999, 259, 260). Hieran ändert auch nichts, dass nach den Feststellungen des Anwaltsgerichts der Rechtsanwalt “zumindest“ bedingt vorsätzlich gehandelt hat. Die Bindungswirkung besteht auch dann, wenn das Erstgericht ein Geschehen nicht vollständig aufgeklärt hat oder nicht aufklären konnte und deshalb allein wegen des Grundsatzes “in dubio pro reo“ (zur Geltung im anwaltsgerichtlichen Verfahren vgl. Feuerich/Weyland, BRAO, 7. Aufl., § 116 Rdn. 50) von bestimmten - dem Betroffenen günstigen - Tatsachen ausgegangen war (vgl. BGH NStZ 1988, 88; 1999, 259, 260).
Der aufgezeigte Rechtsfehler führt bereits mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils. Der Senat kann auch in Anbetracht des erheblichen Gewichts der Pflichtverletzung des Beschwerdeführers nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen, dass der Anwaltsgerichtshof bei der Annahme (nur) bedingt vorsätzlichen Handelns auf eine mildere Maßnahme erkannt hätte.
Ganter Ernemann Roggenbuck
Wüllrich Braeuer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060891
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100211
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I ZR 154/08
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Beschluss
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§ 91a ZPO
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vorgehend OLG München, 19. Juni 2008, Az: 29 U 5133/03, Urteil vorgehend LG München I, 17. September 2003, Az: 1 HKO 13061/03, Urteil
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DEU
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Kostenentscheidung: Erledigung der Hauptsache im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde
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Die Kosten des Rechtsstreits werden den Beklagten auferlegt.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 100.000 € festgesetzt.
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I. Die Klägerin befasst sich unter anderem mit der Herstellung und dem Vertrieb von sicherheitsrelevanten Plaketten. Das Unternehmen der Beklagten zu 2 gehörte früher zum Bundesvermögen und war Bestandteil der Bundesverwaltung. Im Jahr 2000 wurde das Unternehmen privatisiert, die Geschäftsanteile wurden an die A. FONDS übertragen. Seitdem tritt die Beklagte zu 2 auch an Kunden außerhalb der Bundesverwaltung heran. Sie befasst sich unter anderem mit der Herstellung von Banknoten, Wertpapieren, Steuerzeichen, Dienstausweisen und Fahrzeugbriefen, nicht hingegen mit der Herstellung von Plaketten für Kraftfahrzeuge und Dokumentenklebesiegeln. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Beklagte zu 2 exklusiv mit der Herstellung von Personalausweisen, Reisepässen und Führerscheinen beauftragt. Die Beklagte zu 1 ist eine Tochtergesellschaft der Beklagten zu 2, die deren Vertrieb im Ausland unterstützt.
Die Klägerin hat den jeweiligen Bestandteil "Bundesdruckerei" in den Firmenbezeichnungen der beiden Beklagten als irreführend beanstandet. Die Bezeichnung Bundesdruckerei erwecke bei den angesprochenen Verkehrskreisen (öffentliche Verwaltung und Wirtschaftsunternehmen) den Eindruck, dass die Bundesrepublik Deutschland zumindest Mehrheitsgesellschafterin sei. Hieraus folgere der Verkehr, die Beklagten verfügten über eine unbeschränkte Bonität und Insolvenzfestigkeit.
Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten und haben insbesondere geltend gemacht, die Vorschriften der §§ 22, 24 HGB enthielten eine Ausnahme vom Grundsatz der Firmenwahrheit und -klarheit. Unabhängig davon sei die Bezeichnung "Bundesdruckerei" nicht irreführend.
Das Landgericht hat dem von der Klägerin geltend gemachten Unterlassungsbegehren stattgegeben. Darüber hinaus hat es die Beklagten verurteilt, durch Erklärung gegenüber dem Amtsgericht Berlin-Charlottenburg ihre Firmen "BIS Bundesdruckerei International Service GmbH" (Beklagte zu 1) und "Bundesdruckerei GmbH" (Beklagte zu 2) zu löschen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen.
Auf die dagegen gerichtete Revision der Klägerin hat der Senat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen (BGH, Urt. v. 29.3.2007 - I ZR 122/04, GRUR 2007, 1079 = WRP 2007, 1346 - Bundesdruckerei).
Nach Zurückverweisung der Sache hat das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass sie jeweils nur verpflichtet sind, den Bestandteil "Bundes" in ihren Firmenbezeichnungen zu löschen. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Berufungsgerichts haben die Beklagten fristgemäß am 2. Oktober 2008 Beschwerde eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 5. Januar 2009 begründet. Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2010 hat die Klägerin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, weil sämtliche Geschäftsanteile der Alleingesellschafterin der Beklagten zu 2, die wiederum Alleingesellschafterin der Beklagten zu 1 ist, während des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen worden sind. Die Beklagten haben sich der Erledigungserklärung angeschlossen.
II. 1. Die Erledigung der Hauptsache kann noch in der Rechtsmittelinstanz, auch noch während des Verfahrens über eine Nichtzulassungsbeschwerde, erklärt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 13.2.2003 - VII ZR 121/02, BauR 2003, 1075, 1076; Beschl. v. 30.9.2004 - I ZR 30/04, WRP 2005, 126; Beschl. v. 1.3.2007 - I ZR 249/02, GRUR 2007, 448 Tz. 12). Da durch die übereinstimmenden Erklärungen der Parteien der Rechtsstreit insgesamt erledigt ist, ist über alle bisher entstandenen Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten der Vorinstanzen gemäß der auch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde geltenden Vorschrift des § 91a ZPO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands durch Beschluss zu entscheiden. Dabei ist der mutmaßliche Ausgang des Beschwerde- und gegebenenfalls des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen (BGH WRP 2005, 126).
2. Danach sind die Kosten in vollem Umfang den Beklagten aufzuerlegen. Eine für die Beklagten günstige Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits könnte nur erfolgen, wenn nach dem Sach- und Streitstand ohne Eintritt des erledigenden Ereignisses die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision Erfolg gehabt und die Durchführung der Revision zu einer Abweisung der Klage geführt hätte. Dies ist hier nicht der Fall. Die Nichtzulassungsbeschwerde hätte keinen Erfolg gehabt, weil die Beklagten keinen die Zulassung der Revision erfordernden Grund dargetan haben. Insbesondere liegen keine Verstöße des Berufungsgerichts gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) vor.
a) Auch wenn mit der Nichtzulassungsbeschwerde davon auszugehen ist, dass der Gesamtanteil der Irregeführten in den Verkehrskreisen, mit denen die Beklagte zu 2 in geschäftlichen Kontakt tritt, wesentlich geringer ist als die vom Berufungsgericht angesetzte Quote von 66%, rechtfertigt dies nicht die Annahme eines Verstoßes gegen das Willkürverbot.
Wie eine Angabe verstanden wird, hängt von der Auffassung des Personenkreises ab, an den sie sich richtet. Gehören die Adressaten der Werbeaussage verschiedenen Kreisen an, so reicht die Irreführung in einem dieser Kreise aus (BGHZ 156, 250, 256 - Marktführerschaft; vgl. auch BGH, Urt. v. 29.3.2007 - I ZR 122/04, GRUR 2007, 1079 Tz. 38 = WRP 2007, 1346 - Bundesdruckerei; Bornkamm in Köhler/Bornkamm, UWG, 28. Aufl., § 5 Rdn. 2.75; Sosnitza in Piper/Ohly/Sosnitza, UWG, 5. Aufl., § 5 Rdn. 125). Das Berufungsgericht hat mit Recht auf den Verkehrskreis der nicht spezialisierten Personen abgestellt, die möglicherweise ohne Kenntnis über die tatsächlichen Verhältnisse mit den Beklagten in geschäftlichem Kontakt stehen oder treten können. Der Senat hat in seinem Urteil vom 29. März 2007 als möglichen Verkehrskreis ausdrücklich auch die Lieferanten der Beklagten zu 2 genannt (BGH GRUR 2007, 1079 Tz. 38 - Bundesdruckerei). Dieser Verkehrskreis der nicht spezialisierten Personen ist im Rahmen des Meinungsforschungsgutachtens um die Bezieher der DEPAROM erweitert worden, was nicht zu beanstanden ist, da es sich insoweit ebenfalls um nicht spezialisierte Personen handelt.
b) Zutreffend hat das Berufungsgericht auch die wettbewerbliche Relevanz der Irreführung bejaht. Bei einer Quote von 66% ist diese Voraussetzung für einen Unterlassungsanspruch jedenfalls erfüllt (vgl. Bornkamm in Köhler/Bornkamm aaO § 5 Rdn. 2.106). Dass nach dem von den Beklagten vorgelegten Meinungsforschungsgutachten der TNS Infratest (Anlage BK 8) lediglich 12% der Befragten die besondere Krisenfestigkeit gerade auf die staatliche Beteiligung oder den Namen der Beklagten zurückführten, rechtfertigt entgegen der Ansicht der Beschwerde keine andere Beurteilung. Das Berufungsgericht hat dem Ergebnis der Befragung zur Frage 4 A mit Recht keine maßgebliche Bedeutung beigemessen. Angesichts der Wortwahl der Fragestellung ist das gewonnene Ergebnis nicht geeignet, die wettbewerbliche Relevanz der Irreführung entscheidend in Zweifel zu ziehen. In seinem Urteil vom 29. März 2007 hat der Senat ausgeführt, dass es für potentielle Kunden von erheblicher Bedeutung ist, ob sie ein Unternehmen mit verlässlicher Bonität beauftragen, da eine Zusammenarbeit im Falle von Zahlungsschwierigkeiten oder gar einer Insolvenz erheblich erschwert wird (BGH GRUR 2007, 1079 Tz. 28 - Bundesdruckerei). Gemäß dem Gutachten ist hingegen nach einer "besonderen Krisenfestigkeit" gefragt worden. Es liegt nicht fern, dass ein Befragter mit "Krisenfestigkeit" eine ausreichende Bonität eines Unternehmens verbindet. Durch den Zusatz "besondere" in der Fragestellung kann sich ein Befragter veranlasst sehen, nach weiteren Umständen wie beispielsweise eine Vielzahl hoheitlicher Aufträge zu suchen.
c) Die von der Nichtzulassungsbeschwerde gerügte Fehlerhaftigkeit der Kostenentscheidung des Berufungsgerichts rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Revision. Dabei kann offenbleiben, ob die Anfechtung der Kostenentscheidung - wie die Beschwerdeerwiderung geltend macht - bereits unzulässig ist. Denn es fehlt jedenfalls an der Darlegung eines durchgreifenden Zulassungsgrundes.
Bornkamm Pokrant Büscher
Bergmann Kirchhoff
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20100406
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II ZR 130/08
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§ 39 Abs 2 GKG, § 45 Abs 1 S 1 GKG
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vorgehend OLG Karlsruhe, 13. März 2008, Az: 8 U 60/07 vorgehend LG Karlsruhe, 16. Februar 2007, Az: 13 O 17/06 KfH I
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DEU
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Streitwertbemessung: Höchstgrenze bei Zusammenrechnung der Werte von Klage und Widerklage
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Der Antrag des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdegegner, den Streitwert für Klage und Widerklage jeweils auf 30 Mio. € festzusetzen, wird zurückgewiesen.
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Der Streitwert beträgt - wie festgesetzt - 30 Millionen Euro (§ 39 Abs. 2 GKG). Auch wenn die Werte von in einer Klage und in einer Widerklage geltend gemachten Ansprüchen, die in einem Prozess verhandelt werden und nicht denselben Gegenstand betreffen, zusammengerechnet werden (§ 45 Abs. 1 Satz 1 GKG), bleibt es bei diesem Höchstwert. Wenn in einem Verfahren die Werte mehrerer Streitgegenstände zusammenzurechnen sind (§ 39 Abs. 1 GKG), beträgt der Streitwert insgesamt höchstens 30 Millionen Euro (§ 39 Abs. 2 GKG).
Strohn Caliebe Reichart
Drescher Bender
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100060892&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060893
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BGH
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2. Zivilsenat
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20100222
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II ZR 287/07
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Urteil
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Art 33 Abs 2 BGBEG, Art 43 Abs 2 BGBEG, Art 46 BGBEG, § 870 BGB, § 929 BGB, § 931 BGB, § 1205 Abs 1 BGB, § 1205 Abs 2 BGB
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vorgehend OLG Oldenburg (Oldenburg), 13. Juni 2007, Az: 4 U 64/00, Urteil vorgehend LG Osnabrück, 17. März 2000, Az: 3 HO 127/96 nachgehend BGH, 20. Juli 2012, Az: V ZR 135/11, Urteil
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DEU
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Anwendbares Recht auf sachenrechtliche Tatbestände beim nachträglichen Ortswechsel der im Inland gelagerten Sachen; Eigentumsübertragung im Besitzmittlungsverhältnis und gutgläubiger Erwerb eines vertraglichen Pfandrechts bei Abtretung des Herausgabeanspruchs gegen den unmittelbaren Besitzer
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Auf die Revision der zugleich als Streithelferin der Beklagten zu 2 auftretenden Beklagten zu 1 wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 13. Juni 2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Beklagte zu 1, ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen brasilianischen Rechts, hat die Aufgabe, Kernbrennstoffe für Kernreaktoren in Brasilien zu beschaffen. Die Klägerin, eine Schweizer Bank, und die Beklagte zu 1 streiten im Rahmen einer Hauptintervention der Klägerin um die Rechte an 14 Zylindern mit angereichertem Uran 235, an denen die Klägerin ein vertragliches Pfandrecht für sich in Anspruch nimmt. Das Uran war in den achtziger Jahren im Auftrag der Beklagten zu 1 von der U. Ltd. (künftig: U. ) in Großbritannien angereichert worden. Anschließend lagerte die Beklagte zu 1 die Zylinder in dem von der Beklagten zu 2 in H. unterhaltenen Lager für Kernbrennstoffe ein.
Am 7. März 1994 schloss die Beklagte zu 1 mit der N. E. AG (künftig: NEAG), einer Aktiengesellschaft Schweizer Rechts, u.a. über die bei der Beklagten zu 2 gelagerten Zylinder einen Sachdarlehensvertrag, den die Vertragsparteien brasilianischem Recht unterstellten. Nach Art. 2 des Vertrags waren die Zylinder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen ab Unterzeichnung vom Darlehensgeber, der Beklagten zu 1, in der Verarbeitungsanlage der Beklagten zu 2 an den Darlehensnehmer, die NEAG, zu liefern; das Eigentum sollte bei Lieferung entsprechend Art. 2 des Vertrages vom Darlehensgeber auf den Darlehensnehmer übergehen.
Mit Schreiben vom 18. April 1994 erteilte das Vorstandsmitglied der Beklagten zu 1 Si. der Beklagten zu 2 folgende die 14 Zylinder betreffende Anweisung:
"bitte übertragen Sie das oben genannte Material zum 25.4.1994 auf das Materialkonto der S. P. C. (SPC) [einer Tochter der Beklagten zu 2] bei … [der Beklagten zu 2]. …
Wir bitten Sie, der SPC zu bestätigen, dass die … Zylinder mit angereichertem UF 6 für die SPC gehalten werden und jederzeit an einen anderen Ort verlagert werden können. Die SPC ist darüber informiert, dass die … Zylinder Eigentum der … [Beklagten zu 1] sind. … "
Die Beklagte zu 2 schrieb der SPC - nachrichtlich der Beklagten zu 1 - am 20. April 1994:
"… gemäß Anweisung unseres Geschäftspartners … [der Beklagten zu 1] übertragen wir zum 29. April 1994 das folgende angereicherte Kernmaterial auf das Materialkonto der S. P. C. :
… Die … Zylinder sind Eigentum der … [Beklagten zu 1]."
Herr Si. schrieb der SPC am 29. April 1994:
"Die … [Beklagte zu 1] hat die … [Beklagte zu 2] angewiesen, zum 25.4.1994 … [u.a. das in den 14 Zylindern befindliche Material] auf das Konto der SPC zu übertragen. Wir bitten Sie, nachdem SPC die Bestätigung dieser Übertragung durch … [die Beklagte zu 2] erhalten hat, das betreffende Material dem Materialkonto der N. T. C. bei der SPC gutzuschreiben."
Bei der in diesem Schreiben erwähnten N. T. C. (künftig: NTC) handelte es sich um eine Gesellschaft mit Sitz in C. /USA, die als rechtsgeschäftliche Vertreterin der NEAG auftrat.
Die SPC teilte der NTC mit Schreiben vom 3. Mai 1994 mit:
"… am 29.4.1994 erhielt die SPC die Bestätigung …, dass … [u.a. das in den 14 Zylindern enthaltene Material] auf das Materialkonto der SPC übertragen wurde, sowie die Anweisungen der … [Beklagten zu 1], [das Kernmaterial] auf dem Materialkonto der NTC bei der SPC gutzuschreiben."
Am 12. September 1994 sah sich Herr Si. zu folgender Mitteilung an die Beklagte zu 2 veranlasst:
"… im April 1994 übertrug die … [Beklagte zu 1] das im Betreff genannte Material auf das Materialkonto der SPC. Wir sind darüber informiert, dass Unklarheit bezüglich des Status des Materials besteht, das bis heute noch nichtübertragen oder bewegt wurde. Um die Position der … [Beklagten zu 1] klarzustellen, ist festzustellen, dass die N. AG Eigentümerin des auf Materialkonto der SPC geführten angereicherten Urans ist, so dass wir Sie auffordern, voll mit der SPC und/oder N. oder ihrem Vertreter … zusammenzuarbeiten. …"
Die Klägerin stand mit der NEAG in Geschäftsverbindung. In einem am 12. Juli 1989 geschlossenen und nach dem Willen der Parteien Schweizer Recht unterstellten Vertrag über die "Verpfändung und Abtretung von Waren" einigte sich die Klägerin mit der NEAG dahin, der Klägerin solle ein Pfandrecht an allen künftig in gesonderter Korrespondenz bezeichneten Waren zustehen. Die Klägerin gewährte der NEAG ein Darlehen über 18,5 Mio. US-$, das sie im April 1995 kündigte. Im März 1995 nahm sie gegenüber der Beklagten zu 2 ein Pfandrecht an Kernbrennelementen in Anspruch. Mit Schreiben vom 25. September 1995 übersandte die NTC der Klägerin auf deren Aufforderung, die Zylinder zu bezeichnen, an denen ihr ein Pfandrecht zukomme, eine Liste über die in Streit stehenden 14 Zylinder mit dem Zusatz "Held for [Klägerin]".
Die NTC fiel im Februar 1995 in Konkurs; über das Vermögen der NEAG wurde im April 1996 das Konkursverfahren eröffnet. In beiden Konkursverfahren werden die Zylinder nicht zur Konkursmasse beansprucht. Die Beklagte zu 1 erklärte im März 1995 die Anfechtung der Erklärungen von Herrn Si.
Die Parteien streiten im Rahmen einer von der Klägerin angestrengten Hauptintervention darum, ob die Klägerin ein Pfandrecht an den Zylindern erworben hat; sie sind auch unterschiedlicher Auffassung darüber, ob die geschilderten Transaktionen dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (künftig: EAG-Vertrag) widersprechen. Ferner streiten die Parteien darüber, ob die Übereignung der Zylinder von der Beklagten zu 1 an die NEAG wirksam war, obwohl die Übergabe an die NEAG abweichend vom Darlehensvertrag gestaltet wurde, ob sich die Beklagte zu 1 die entsprechenden Anweisungen von Herrn Si. nach brasilianischen Rechtsscheingrundsätzen zurechnen lassen muss und ob diese Anweisungen ohne vorherige schriftliche Änderung des Vertrags gültig waren, ob die Beklagte zu 1 ihr zuzurechnende Willenserklärungen wirksam angefochten hat und ob die Übereignung der Zylinder von der Beklagten zu 1 an die NEAG wegen einer Fernwirkung US-amerikanischer Importregelungen für Kernbrennstoffe nichtig war.
Das Landgericht hat dem Antrag der Klägerin entsprechend festgestellt, der Beklagten zu 1 stehe gegen die Beklagte zu 2 kein Anspruch auf Herausgabe der Zylinder zu, und hat die Beklagte zu 2 zur Herausgabe der Zylinder an die Klägerin verurteilt, die während des Berufungsverfahrens von der Beklagten zu 2 in Frankreich eingelagert wurden. Die Beklagte zu 1 hat für sich und als Streithelferin für die Beklagte zu 2 Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat dem Gerichtshof der Europäischen Union verschiedene, die Auslegung des EAG-Vertrages betreffende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die der Gerichtshof mit Urteil vom 12. September 2006 unter der bis dahin unstreitigen Prämisse, der Austausch von Uran zwischen der Beklagten zu 1 und der U. sei für die Gemeinschaft versorgungsbilanzneutral gewesen, dahin entschieden hat, die Kapitel 6 und 8 des Titels II des EAG-Vertrages seien nicht anwendbar. Die Beklagte zu 1 hat nunmehr die neue Behauptung aufgestellt, Teile des von der U. angereicherten Materials stammten aus P. Die Lieferung dieses Materials an sie sei nach dem EAG-Vertrag nicht versorgungsbilanzneutral gewesen, weil sie der U. vorab nicht in ausreichender Menge Anreicherungsmaterial zur Verfügung gestellt habe. Das Berufungsgericht hat die Richtigkeit dieses Vortrags als für die Anwendung des EAG-Vertrages unerheblich dahinstehen lassen und - nach dem Tenor des Berufungsurteils - die "Berufung der Beklagten zu 1" zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Beklagte zu 1 - zugleich als Streithelferin der Beklagten zu 2 - mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision.
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Die Revision der Beklagten zu 1, auch in ihrer Eigenschaft als Streithelferin der Beklagten zu 2, hat Erfolg und führt unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
I. Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt:
Die Hauptintervention, deren Zulässigkeit aufgrund des rechtskräftigen landgerichtlichen Zwischenurteils feststehe, sei begründet. Die Klägerin habe nach deutschem Sachrecht, das nach dem Grundsatz der lex rei sitae auf die in der Bundesrepublik Deutschland gelagerten Zylinder Anwendung finde, ein Pfandrecht an den Zylindern erworben. Die Beklagte zu 1, der das Eigentum nach dem Anreicherungsvertrag mit der U. zunächst zugestanden habe, habe sich in dem Sachdarlehensvertrag vom 7. März 1994 mit der NEAG über den Übergang des Eigentums geeinigt. Die Übergabe sei dadurch geschehen, dass die Beklagte zu 1 ihren mittelbaren Besitz aufgegeben habe, indem sie die Beklagte zu 2 angewiesen habe, künftig nur noch für die SPC zu besitzen, und die SPC angewiesen habe, nicht mehr ihr, sondern der NTC und über diese vermittelt der NEAG Besitz zu mitteln, und indem beide die ihnen erteilten Weisungen befolgt hätten. Die darauf zielenden Erklärungen des Herrn Si. müsse sich die Beklagte zu 1 gegenüber der NEAG nach den Grundsätzen der brasilianischen Rechtsscheinlehre zurechnen lassen. Eine Anfechtung dieser Erklärung sei ins Leere gegangen, weil die Beklagte zu 1 über die wirtschaftliche Lage der NEAG nicht arglistig getäuscht worden sei. Die Klägerin habe nach der lex rei sitae ein Pfandrecht an den Zylindern erworben. Die NTC habe als Vertreterin der NEAG mit Schreiben vom 25. September 1995 ein ausreichend bestimmtes Angebot auf dingliche Einräumung eines Pfandrechts gegenüber der Klägerin abgegeben. Einer ausdrücklichen Annahme durch die Klägerin habe es nicht bedurft. Die Übergabe der Pfandsachen sei dadurch bewirkt worden, dass die NTC auf der Grundlage ihres Schreibens vom 25. September 1995 nicht mehr der NEAG, sondern nunmehr der Klägerin den Besitz gemittelt habe. Aus dem Schreiben der NTC vom 25. September 1995 ergebe sich zugleich, dass sie zuvor von der NEAG über die Verpfändung unterrichtet worden sei. Die Verpfändung der Zylinder an die Klägerin sei nicht wegen eines Verstoßes gegen - den Import von Uran regelnde - Rechtsvorschriften des US-amerikanischen Rechts sittenwidrig und nichtig. Bestimmungen des EAG-Vertrages spielten für die Beziehungen der Parteien zueinander keine Rolle, weil die Geschäfte auch nach Maßgabe des nachträglichen Vortrags der Beklagten zu 1 für die Gemeinschaft versorgungsbilanzneutral gewesen seien. Im Übrigen begründe der EAG-Vertrag kein zivilrechtliches Eigentum der Gemeinschaft.
II. Diese Beurteilung hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
A. In der Revisionsinstanz sind - auf die Revision der Beklagten zu 1 für sie selbst und als Streithelferin für die Beklagte zu 2 - sowohl der gegen die Beklagte zu 1 gerichtete Feststellungsantrag als auch der gegen die Beklagte zu 2 gerichtete Leistungsantrag angefallen. Das Berufungsgericht hat sowohl über die eigene Berufung der Beklagten zu 1 als auch über ihre Berufung als Streithelferin der Beklagten zu 2 entschieden. Dies ergeben Tatbestand und Entscheidungsgründe des Berufungsurteils, die zur Auslegung des Tenors heranzuziehen sind (BGHZ 159, 66, 69; 142, 388, 391), und in denen sich das Berufungsgericht mit beiden Anträgen befasst hat. Die Rechtshängigkeit des Leistungsantrags ist daher nicht, wie dies im Falle eines Übergehens des für die Beklagte zu 2 gestellten Berufungsantrags der Fall gewesen wäre, nach Ablauf der Frist des § 321 Abs. 2 ZPO entfallen (dazu BGH, Beschl. v. 9. November 2006 - VII ZR 176/05, BauR 2007, 431, 432; Urt. v. 16. Februar 2005 - VIII ZR 133/04, BGH-Report 2005, 872, 873 f.).
B. Das Berufungsurteil kann aber keinen Bestand haben, weil sich mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung weder ein Herausgabeanspruch der Beklagten zu 1 gegen die Beklagte zu 2 verneinen noch die Annahme rechtfertigen lässt, der Klägerin stehe gegen die Beklagte zu 2 ein Anspruch auf Herausgabe der Zylinder zu.
1. Das Berufungsgericht hat auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen zu Unrecht angenommen, die Klägerin habe von der NEAG als Eigentümerin ein Pfandrecht an den Zylindern erworben und könne deshalb von der Beklagten zu 2 Herausgabe der Zylinder verlangen.
a) Noch zutreffend hat das Berufungsgericht eine Übereignung von der Beklagten zu 1 an die NEAG und die Bestellung eines Pfandrechts zugunsten der Klägerin an den damals in der Bundesrepublik Deutschland gelagerten Zylinder nach deutschem Sachrecht beurteilt. Die Frage, welches Recht auf einen Sachverhalt mit Auslandsbezug anwendbar ist, entscheiden die deutschen Gerichte nach deutschem internationalem Privatrecht. Danach galt auch schon vor Einführung des Artikels 43 EGBGB für alle sachenrechtlichen Tatbestände nach gewohnheitsrechtlichen Grundsätzen zwingend die lex rei sitae, also das Recht des Lageortes der Sache (BGHZ 100, 321, 324; 39, 173, 174; BGH, Urt. v. 25. September 1996 - VIII ZR 76/95, ZIP 1997, 275, 277; v. 9. Mai 1996 - IX ZR 244/95, ZIP 1996, 1181, 1182; v. 28. September 1994 - IV ZR 95/93, WM 1994, 2124, 2126; v. 30. Januar 1980 - VIII ZR 197/78, WM 1980, 410, 411).
Der Anwendung deutschen Sachrechts steht nicht entgegen, dass sich die Zylinder zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung in zweiter Instanz nicht mehr in der Bundesrepublik Deutschland befanden. Zwar hat die Anknüpfung des Sachstatuts an den Lageort der Sache grundsätzlich zur Konsequenz, dass durch das bloße Verbringen der Sache in ein anderes Staatsgebiet für das Rechts wirkungs statut (nicht für das Rechts bestands statut) ein Statutenwechsel eintritt, ohne dass es grundsätzlich darauf ankommt, aufgrund welcher Umstände der Lageort verändert wurde, Artikel 43 Abs. 2 EGBGB (MünchKommBGB/Wendehorst 4. Aufl. Artikel 43 EGBGB Rdn. 125 f.). Anderes gilt aber, wenn trotz des Ortswechsels von einer fortbestehenden wesentlich engeren Verbindung zum Recht des ursprünglichen Lageorts auszugehen ist, Artikel 46 EGBGB. Das ist hier mit der Folge der Anwendung deutschen Rechts der Fall.
b) Rechtsfehlerhaft ist jedoch die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte zu 1 habe der NEAG im April 1994 Eigentum an den streitgegenständlichen Zylindern verschafft. Ungeachtet der Frage, ob die Beklagte zu 1 zu diesem Zeitpunkt selbst Eigentümerin war und ungeachtet der Einwände der Revision gegen das Zustandekommen und die Rechtsbeständigkeit der dinglichen Einigung mangelt es auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts jedenfalls an der erforderlichen Übergabe als zweitem Element einer Eigentumsübertragung an die NEAG.
aa) Die Beklagte zu 1 war im April 1994 mittelbare Besitzerin der Zylinder. Für sie übte die Beklagte zu 2 den unmittelbaren Besitz aus. Da nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ein Übergabesurrogat in Form der Abtretung des Herausgabeanspruchs (§ 931 BGB) ausscheidet, die Beklagte zu 2 aber weiterhin unmittelbare Besitzerin der Zylinder blieb, konnte es zu einer Übergabe des Besitzes an die NEAG nach § 929 Satz 1, § 868 BGB nur kommen, wenn die Beklagte zu 1 jeden mittelbaren Besitz verlor (BGHZ 92, 280, 288; BGH, Urt. v. 8. Juni 1989 - IX ZR 234/87, WM 1989, 1393, 1395; v. 17. Mai 1971 - VIII ZR 15/70, WM 1971, 742, 743; v. 14. Juli 1960 - VIII ZR 174/59, WM 1960, 1035, 1038; v. 21. April 1959 - VIII ZR 148/58, WM 1959, 813, 815; RGZ 137, 23, 25; Soergel/Henssler, BGB 13. Aufl. § 929 Rdn. 55 und 59;Tiedtke, WM 1978, 446, 447 ff.).
Einen Verlust des mittelbaren Besitzes durch einverständliche Aufhebung des Lagervertrages hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Seine Annahme, die Beklagte zu 1 habe ihren mittelbaren Besitz vollständig dadurch verloren, dass die Beklagte zu 2 ihren Besitzmittlungswillen änderte und ab dem 29. April 1994 nicht mehr für die Beklagte zu 1, sondern für die SPC besitzen wollte, hält den Angriffen der Revision nicht stand.
Das Berufungsgericht hat seine Auffassung, die Beklagte zu 2 habe nach April 1994 nicht mehr für die Beklagte zu 1 besitzen wollen, auf das Schreiben vom 20. April 1994 gestützt. Es ist bereits zweifelhaft, ob der Wortlaut dieses Schreibens den Schluss auf eine Änderung des Besitzmittlungswillens der Beklagten zu 2 zulässt. Denn die Beklagte zu 2 bestätigt in diesem Schreiben zwar die Verbuchung der Zylinder auf dem Materialkonto der SPC, also die Begründung eines Besitzmittlungsverhältnisses zu dieser Tochtergesellschaft. Das Besitzmittlungsverhältnis zur Beklagten zu 1 war damit aber nicht ohne Weiteres beendet, weil die Beklagte zu 2, ohne eine Änderung ihres Vertragsverhältnisses zur Beklagten zu 1 zu erwähnen, gleichzeitig darauf hingewiesen hat, die Beklagte zu 1 sei Eigentümerin der Zylinder.
Jedenfalls aber hätte das Berufungsgericht bei der Ermittlung der Besitzverhältnisse ab dem 29. April 1994 den Vortrag der Beklagten zu 1 nicht unberücksichtigt lassen dürfen, das Fortbestehen des Besitzmittlungswillens der Beklagten zu 2 zugunsten der Beklagten zu 1 sei daraus ersichtlich, dass die Beklagte zu 2 die Zylinder auch nach April 1994 für die Beklagte zu 1 verbucht und ihr die Kosten der Verwahrung in Rechnung gestellt habe. Diesen Vortrag hat das Berufungsgericht ebenso wenig sachgerecht gewürdigt wie das Schreiben von Herrn Si. vom 12. September 1994 an die Beklagte zu 2, in dem die fehlende Übertragung des Materials ausdrücklich beanstandet und deutlich gemacht wird, dass es Unklarheiten über die Eigentumsverhältnisse gebe.
Diese von der Beklagten zu 1 gegen eine Änderung des Besitzmittlungswillens der Beklagten zu 2 vorgetragenen Indizien konnte das Berufungsgericht nicht deshalb unbeachtet lassen, weil sie sich im Wesentlichen auf Umstände nach Abgabe der Erklärung am 20. April 1994 bezogen. Zwar sind bei der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen nur solche Umstände zu berücksichtigen, die dem Empfänger bei Zugang der Willenserklärung erkennbar sind (BGH, Urt. v. 24. Juni 1988 - V ZR 49/87, WM 1988, 1599, 1600 f.). Das schließt es aber, überträgt man diese Grundsätze auf die nach außen verlautbarte Änderung des Besitzmittlungswillens, nicht aus, aus späteren Vorgängen Rückschlüsse auf den tatsächlichen Willen und das tatsächliche Verständnis der Beteiligten zu ziehen (Sen.Urt. v. 16. März 2009 - II ZR 68/08, ZIP 2009, 880 Tz. 16; BGH, Urt. v. 26. November 1997 - XII ZR 308/95, NJW-RR 1998, 801, 803;v. 16. Oktober 1997 - IX ZR 164/96, ZIP 1998, 106, 107; v. 24. Juni 1988 aaO).
bb) Die Rüge der Beklagten zu 1 als Streithelferin der Beklagten zu 2, das Berufungsgericht habe im Zusammenhang mit der von ihm angenommenen Übereignung an die NEAG unzureichend aufgeklärt, für wen die Beklagte zu 2 nach April 1994 Besitz gemittelt habe, ist in dem - den Herausgabeanspruch betreffenden - Prozessrechtsverhältnis der Klägerin zu der Beklagten zu 2 trotz des von dem nicht postulationsfähigen Rechtsanwalt der Beklagten zu 2 vor Schluss der mündlichen Verhandlung beim Senat eingereichten Schriftsatzes beachtlich. Ein Widerspruch der Beklagten zu 2 im Sinne des § 67 letzter Halbs. ZPO liegt nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob der Widerspruch als einseitige Erklärung gegenüber dem Gericht (BAG, ZIP 1987, 308; Wieczorek/Schütze/Mansel, ZPO 3. Aufl. § 67 Rdn. 16) im Anwaltsprozess ohnehin nur von einem postulationsfähigen Prozessvertreter geltend gemacht werden kann (dagegen OLG Hamm, OLGR 1998, 44; 1996, 143, 144; wohl auch OLG Celle, OLGR 2002, 88, 89). Jedenfalls ergibt der schriftsätzliche Vortrag der Beklagten zu 2 in der Sache keinen Widerspruch. Die Äußerung der Beklagten zu 2, sie habe - über eine Abtretung des ursprünglich zugunsten der Beklagten zu 1 begründeten Herausgabeanspruchs im Ungewissen - für den wahren Berechtigten besitzen wollen, bestätigt im Gegenteil indirekt die Behauptung der Beklagten zu 1, die Beklagte zu 2 habe 1994 ihren Besitzmittlungswillen nicht geändert. Denn damit gab die Beklagte zu 2 zu erkennen, weiterhin aufgrund des ursprünglich mit der Beklagten zu 1 bestehenden Besitzmittlungsverhältnisses Besitz gemittelt zu haben.
cc) Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Übergabe deshalb als fehlgeschlagen anzusehen. Das Berufungsgericht wird den revisionsrechtlich als richtig zu unterstellenden Vortrag der Beklagten zu 1 prüfen und die gebotenen Feststellungen treffen müssen. In diesem Zusammenhang wird es sich außerdem damit befassen müssen, welcher Art die - für die Vollendung einer Übergabe nach § 929 Satz 1 BGB durch Übertragung des mittelbaren Besitzes konstitutiven - Besitzmittlungsverhältnisse (§ 868 BGB) in einer Besitzkette von der Beklagten zu 2 über die SPC zur NEAG waren und welcher Rechtsordnung sie unterliegen. Dabei wird es auch zu berücksichtigen haben, dass sich dem Schreiben der SPC vom 3. Mai 1994 nicht entnehmen lässt, ob die SPC auf die Weisung des Herrn Si. vom 29. April 1994 tatsächlich ein - weiteres - Besitzmittlungsverhältnis zur NTC/NEAG begründete.
c) Von Rechtsirrtum beeinflusst ist schließlich die Auffassung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe von der NEAG ein Pfandrecht an den 14 Zylindern erworben.
aa) War die NEAG - wovon revisionsrechtlich auszugehen ist - nicht Eigentümerin, konnte sie der Klägerin kein Pfandrecht nach § 1205 Abs. 2 BGB bestellen. Die Voraussetzungen eines - dann allein in Betracht kommenden - gutgläubigen Erwerbs eines Pfandrechts von einem Nichtberechtigten nach § 1207 BGB hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft.
bb) Abgesehen davon wird auch die Annahme des Berufungsgerichts, die für die Bestellung eines Pfandrechts notwendige Übergabe der Zylinder sei nach § 1205 Abs. 2 BGB dadurch ersetzt worden, dass die NEAG, vertreten durch die NTC, der Klägerin mittelbaren Besitz an den Zylindern übertragen habe, von seinen Feststellungen nicht getragen.
Das Berufungsgericht hat seine Auffassung, die NEAG habe der Klägerin mittelbaren Besitz an den Zylindern eingeräumt, auf das Schreiben der NTC an die Klägerin vom 25. September 1995 gestützt. Zu einer - für die Übertragung des mittelbaren Besitzes nach § 1205 Abs. 2 BGB, § 870 BGB erforderlichen - Abtretung des Herausgabeanspruchs der NEAG gegen NTC an die Klägerin, die auch bei Anwendung der lex rei sitae auf das dingliche Geschäft an das Forderungsstatut anzuknüpfen ist - Artikel 33 Abs. 2 EGBGB in der bis zum 17. Dezember 2009 geltenden Fassung -, fehlen jedoch jegliche Feststellungen. Sollte es in dem wieder eröffneten Berufungsverfahren darauf ankommen, wird sich das Berufungsgericht mit Bestehen und Rechtsnatur eines schuldrechtlichen Herausgabeanspruchs der NEAG gegen die NTC ebenso befassen müssen wie mit der Frage, welches Recht auf den Herausgabeanspruch anzuwenden ist und ob er an die Klägerin abgetreten worden ist. Der Herausgabeanspruch unterlag nicht zwingend deutschem Recht, da das Besitzkonstitut im Sinne der §§ 868 ff. BGB auch bei der Anwendung des deutschen Sachrechts gesondert angeknüpft wird.
Ob das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner Feststellungen mit Recht davon ausgegangen ist, die NEAG habe der NTC die Verpfändung im Sinne des § 1205 Abs. 2 BGB angezeigt, kann deshalb dahin stehen (vgl. RG HRR 1929 Nr. 497; WarnRspr. 1930 Nr. 69 S. 134, 135; Staudinger/Wiegand, BGB Neubearb. 2009 § 1205 Rdn. 30 a.E.). Ebenso wenig kommt es auf die Angriffe der Revision gegen die Annahme des Berufungsgerichts an, der Klägerin stehe gegen die NEAG eine - durch das Pfandrecht gesicherte - Forderung in entsprechender Höhe zu.
d) Im Übrigen hat das Berufungsgericht den der Klägerin zuerkannten Herausgabeanspruch gegen die Beklagte zu 2 auf eine unzutreffende Anspruchsgrundlage gestützt. § 1231 Satz 1 BGB greift nicht, weil er an eine hier nicht gegebene Begründung eines Pfandrechts durch Übertragung des Mitbesitzes (§ 1206 BGB) anknüpft und dem Pfandgläubiger lediglich für diesen Fall einen besonderen Herausgabeanspruch gegen den mitbesitzenden Verpfänder oder dessen Rechtsnachfolger einräumt. Ob hingegen der Pfandgläubiger bei einer Verpfändung nach § 1205 Abs. 2 BGB vom unmittelbaren Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen kann, bestimmt sich nach dem zwischen dem Pfandgläubiger und seinem Besitzmittler bestehenden Rechtsverhältnis(Achilles/Gebhard/Spahn, Protokolle zum BGB III S. 463 mit den Motiven zum BGB III S. 818, 3. Absatz; E. Schultz, Die Pfandansprüche nach § 1227 des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, 1903, S. 7; Meikel, Recht 1908, 197, 198; Staudinger/Wiegand, BGB Neubearb. 2009 § 1231 Rdn. 1 f.; MünchKommBGB/Damrau 5. Aufl. § 1231 Rdn. 4; BGB-RGRK/Kregel, 12. Aufl. § 1231 Rdn. 2; Erman/Michalski, BGB 12. Aufl. § 1231 Rdn. 1;Soergel/Habersack, BGB 13. Aufl. § 1231 Rdn. 3; Bamberger/Roth/Sosnitza, BGB 2. Aufl. § 1231 Rdn. 3). Das Berufungsgericht wird deshalb gegebenenfalls zu prüfen haben, ob ein an die Klägerin abgetretener schuldrechtlicher Herausgabeanspruch der NEAG gegen die NTC in einer Besitzkette von der Klägerin über die NTC und die SPC zur Beklagten zu 2 nach dem auf die Besitzmittlungsverhältnisse anzuwendenden Recht auch die Beklagte zu 2 zur Herausgabe verpflichtet.
2. Das Berufungsgericht hat sich im Zusammenhang mit dem Feststellungsantrag nicht damit befasst, ob die Beklagte zu 1 aufgrund ihrer schuldrechtlichen Beziehungen zur Beklagten zu 2 Herausgabe der Zylinder verlangen kann. Es hat - stillschweigend - angenommen, wegen der von ihm bejahten Übertragung des Eigentums auf die NEAG sei ein aus den schuldrechtlichen Beziehungen der Beklagten folgender Herausgabeanspruch der Beklagten zu 1 ohne weiteres entfallen. Davon hätte das Berufungsgericht aber nur ausgehen dürfen, wenn es eine Abtretung des Herausgabeanspruchs im Zuge einer Übereignung nach §§ 929, 931 BGB oder eine einverständliche Aufhebung des Lagervertrages rechtsfehlerfrei festgestellt hätte. Beides ist nicht der Fall.
Sollte das Berufungsgericht bei seiner erneuten Prüfung zu einer Übergabe aufgrund einer Änderung des Besitzmittlungswillens der Beklagten zu 2 kommen, müsste es sich nach Maßgabe des jeweils anzuwendenden Rechts mit dem Rangverhältnis eines vertraglichen Herausgabeanspruchs der Beklagten zu 1 zu einem Herausgabeanspruch der Klägerin auseinandersetzen.
3. Für eine erneute Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union besteht derzeit kein Anlass. Dabei kann der Senat offen lassen, ob die Verwertung des nachgeschobenen Vortrags der Beklagten zu 1 zur Herkunft des von der U. verarbeiteten Materials im Prozessrechtsverhältnis der Klägerin zur Beklagten zu 2 an einem in zweiter Instanz von der Beklagten zu 2 erklärten Widerspruch (§ 67 letzter Halbs. ZPO) scheitert. Selbst wenn es an einem Widerspruch fehlt und die Bestimmungen des EAG-Vertrages für die Eigentumslage von Bedeutung sein können, kommt eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union vor einer Zurückverweisung nach § 563 Abs. 1 ZPO nicht in Betracht. Da die tatsächlichen Voraussetzungen eines Eigentumserwerbs der Klägerin ebenso wenig geklärt sind wie die Herkunft des von der U. verarbeiteten Materials, könnte der Gerichtshof der Europäischen Union über eine ihm nicht obliegende gutachtliche Beantwortung abstrakter Rechtsfragen hinaus nicht sinnvoll zur Auslegung des EAG-Vertrages Stellung nehmen (so auch EuGH, Urt. v. 21. Februar 2006 - Rs. C-152/03, H.J. Ritter-Coulais u.a. gegen Finanzamt Germersheim, Slg. 2006, I-1711 Tz. 15; v. 30. September 2003 - Rs. C-167/01, Inspire Art Ltd, Slg. 2003, I-10155 Tz. 45; vgl. auch BGH, Urt. v. 3. Februar 1994 - I ZR 282/91, GRUR 1994, 519, 520 f.). Deshalb sind vor einer Befassung des Gerichtshofes der Europäischen Union zunächst die offenen Vorfragen von dem nationalen Gericht zu klären.
III. Aufgrund der aufgezeigten Rechtsfehler unterliegt das Berufungsurteil der Aufhebung. Mangels Endentscheidungsreife ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 562, 563 Abs. 1 ZPO), damit es - ggf. nach ergänzendem Sachvortrag der Parteien und Beweiserhebung - die noch erforderlichen Feststellungen treffen kann.
Goette Strohn Caliebe
Reichart Löffler
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100060893&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060914
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BGH
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Senat für Notarsachen
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20100322
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NotZ 10/09
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Beschluss
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§ 6 Abs 1 S 1 BNotO, § 14 BNotO
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vorgehend Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, 25. Juni 2009, Az: Not 16/08, Beschluss
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DEU
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Bestellung zum Notar: Anforderungen an die persönliche Eignung des Bewerbers
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Die sofortige Beschwerde des weiteren Beteiligten gegen den Beschluss des Senats für Notarsachen des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 25. Juni 2009 - Not 16/08 - wird zurückgewiesen.
Der weitere Beteiligte hat die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen und dem Antragsteller und der Antragsgegnerin die in dem Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Wert des Beschwerdegegenstandes: 50.000 Euro
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I.
Der weitere Beteiligte, der Antragsteller sowie vier weitere Bewerber konkurrieren um eine am 30. April 2007 von der Antragsgegnerin ausgeschriebene Notarstelle im Amtsgerichtsbezirk Plön.
Der 1957 geborene weitere Beteiligte wurde erstmals im September 1994 als Rechtsanwalt bei dem Amtsgericht P. zugelassen. Als seinen Kanzleisitz hatte er zunächst die D. straße in S. angegeben - zugleich und bis heute seine Privatadresse. Bereits zwei Monate später zeigte er die Verlegung seiner Kanzlei nach K. an, woraufhin er beim dortigen Amtsgericht zugelassen wurde. Im April 1998 gab er an, in der H. Straße ... in K. eine Sozietät mit dem dort seinerzeit ebenfalls ansässigen Rechtsanwalt E. M. zu betreiben. Im Dezember 1999 wurde er antragsgemäß wieder bei dem Amtsgericht P. zugelassen, nachdem er angezeigt hatte, seine Kanzlei nunmehr wieder an seinem privaten Wohnsitz in S. eingerichtet und sich mit dem Rechtsanwalt M. in K. zu einer überörtlichen Sozietät zusammen geschlossen zu haben. Im April 2000 gab der Rechtsanwalt und Notar Ma. an, sich mit Rechtsanwalt M. und dem weiteren Beteiligten zu einer Sozietät zusammen geschlossen zu haben und Praxis sowie Notariat in der H. Straße ... in K. zu unterhalten.
Der 1966 geborene Antragsteller betreibt seit 1995 seine Kanzlei in L. im Amtsgerichtsbezirk Plön.
Nach Eingang der Bewerbungen ermittelte die Antragsgegnerin gemäß der Allgemeinen Verfügung über die Angelegenheiten der Notarinnen und der Notare für Schleswig-Holstein (AVNot) beim Erstellen der Rangfolge für den weiteren Beteiligten 200,20 Punkte, für den Antragsteller 147,80 Punkte und für die weiteren Bewerber 124,25 / 124,20 / 87,65 und 79,85 Punkte. Mit Bescheiden vom 11. März und vom 22. Juli 2008 gab die Antragsgegnerin dem Antragsteller bekannt, sie beabsichtige nicht ihn, sondern den weiteren Beteiligten zum Notar im Amtsgerichtsbezirk Plön zu bestellen.
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller gerichtliche Entscheidung beantragt mit der Begründung, der weitere Beteiligte erfülle die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Nr. 2 BNotO nicht. Dieser übe seine hauptberufliche Tätigkeit als Rechtsanwalt in der K. Sozietät aus, nicht hingegen an seinem Wohnsitz in S. Dem Hauptantrag des Antragstellers, die Bescheide vom 11. März und 22. Juli 2008 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn anstelle des weiteren Beteiligten auf der für den Amtsgerichtsbezirk Plön ausgeschriebenen Notarstelle zum Notar zu bestellen, hat das Oberlandesgericht nicht entsprochen. Auf seinen Hilfsantrag hin hat es jedoch diese Bescheide aufgehoben und die Antragsgegnerin verpflichtet, über den Antrag des Antragstellers auf Bestellung zum Notar nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu befinden.
Dagegen wendet sich der weitere Beteiligte mit der sofortigen Beschwerde.
II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 111 Abs. 4 BNotO i.V.m. § 42 Abs. 4 BRAO zulässig. Insbesondere ist auch bei dem weiteren Beteiligten die gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 BNotO, § 46 Abs. 6 Satz 2 BRAO, § 20 Abs. 1 FGG erforderliche materielle Beschwer gegeben. Durch den mit dem Hilfsantrag auf Neubescheidung erzielten Teilerfolg des Antrags auf gerichtliche Entscheidung wird eine Besetzung der Notarstelle mit dem weiteren Beteiligten unmöglich, weil dieser aufgrund der die Antragsgegnerin bindenden Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts von dem weiteren Bewerbungsverfahren ausgeschlossen ist. Er kann daher diese Entscheidung des Oberlandesgerichts überprüfen lassen, ohne zunächst einen ihn belastenden neuen Bescheid des Antragsgegners abwarten zu müssen (Senatsbeschlüsse vom 23. Juli 2007 - NotZ 35/07 - juris Rn. 5 und vom 26. Oktober 2009 - NotZ 1/09 - juris Rn. 5 jeweils m.w.N.).
Das Rechtsmittel hat indessen in der Sache keinen Erfolg. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die den Antragsgegner zur Neubescheidung unter Ausschluss des weiteren Beteiligten verpflichtet, erweist sich als richtig; soweit dieser die Erwägungen aus dem angefochtenen Beschluss angreift, sind die von ihm dazu vorgebrachten Argumente nicht stichhaltig.
1. Der weitere Beteiligte erfüllt nicht die örtliche Wartezeit nach § 6 Abs. 2 Nr. 2 BNotO.
a) Nach § 6 Abs. 2 Nr. 2 BNotO soll in der Regel als Anwaltsnotar nur bestellt werden, wer bei Ablauf der Bewerbungsfrist seit mindestens drei Jahren ohne Unterbrechung in dem in Aussicht genommenen Amtsbereich hauptberuflich als Anwalt tätig ist. Diese örtliche Wartezeit tritt neben die allgemeine Wartezeit des § 6 Abs. 2 Nr. 1 BNotO. Sie setzt voraus, dass der Rechtsanwalt während einer bestimmten, der angestrebten Notarbestellung unmittelbar vorangehenden Zeit durchgängig bei dem Amtsgericht tätig war, das für den künftigen Amtsbereich zuständig ist. Der Amtsbereich entspricht dabei dem Bezirk des Amtsgerichts, in dem der Notar seinen Amtssitz hat (§ 10 a BNotO). Zum einen soll der zukünftige Notar mit den Besonderheiten der örtlichen Verhältnisse vertraut sein, wozu es nicht ausreicht, dass er dort in seinem privaten und außerberuflichen Umfeld fest verwurzelt ist. Zum anderen muss ein Bewerber auch die erforderlichen wirtschaftlichen Grundlagen für die angestrebte Notariatspraxis gelegt haben. Wenn diese wirtschaftlichen Grundlagen des aufzubauenden Notariats in der Anwaltstätigkeit des Bewerbers liegen, ist es nicht zulässig, die laufenden Mittel, die den künftigen Notariatsbetrieb sicherstellen sollen, aus dem Gebührenaufkommen zu entnehmen, das außerhalb des Amtsbereichs erwirtschaftet wird. Darüber hinaus soll die örtliche Wartezeit eine gleichmäßige Behandlung aller Bewerber gewährleisten und verhindern, dass Bewerber, die die allgemeine Wartezeit zurückgelegt haben, sich für die Bestellung zum Notar den ihnen hierfür am günstigsten erscheinenden Ort ohne Rücksicht auf dort bereits ansässige Rechtsanwälte aussuchen können (Senatsbeschluss vom 24. Juli 2006 - NotZ 13/06 - juris und - teilweise - abgedruckt in DNotZ 2007, 75, 76).
b) Der weitere Beteiligte war zwar seit Dezember 1999 beim Amtsgericht P. zugelassen, seine Kanzleigeschäfte führte er jedoch nach den Ermittlungen des Oberlandesgerichts nicht von seinem angegebenen Kanzleisitz in S. aus, sondern vielmehr von seinem tatsächlichen Kanzleisitz in K., wo sich die wirtschaftlichen Grundlagen seiner Tätigkeit befinden.
aa) So hat allein der weitere Beteiligte, nicht hingegen sein derzeitiger einziger Sozius, der Zeuge Rechtsanwalt R., die organisatorische Hoheit über das Büro in K. Der Mietvertrag für die Räumlichkeiten, Telekommunikationsverträge und die Arbeitsverträge mit den beiden Mitarbeitern, dem Bürovorsteher J. und der Steuerfachangestellten A., sind von dem weiteren Beteiligten geschlossen. Auch ist er alleiniger Kontoinhaber für die Sozietät, der Zeuge R. ist von ihm nur bevollmächtigt. Nach Aussage des Zeugen J. steht dem weiteren Beteiligten in der Kanzlei in K. ein eigenes, voll eingerichtetes Büro zur Verfügung, in dem er sich werktäglich aufhält, regelmäßig Mandanten- und Mitarbeiterbesprechungen abhält, Diktate fertigt und die Datensicherung der Computer erledigt. Sowohl sein Sozius wie auch seine beiden Mitarbeiter sind und waren ausschließlich in K. tätig und haben die angeblich in seinem Privathaus in S. eingerichteten Kanzleiräume noch niemals betreten. Sämtliche Schreibarbeiten werden ausschließlich in K. erledigt, wo auch die Aktenführung und Buchhaltung erfolgt. Lediglich um Akten ungestört bearbeiten zu können, nimmt der weitere Beteiligte diese nach Aussage des Zeugen J. "mit nach Hause nach S.". Ein Gerichtsfach unterhält der weitere Beteiligte nur beim Amtsgericht K., nicht hingegen beim Amtsgericht P. In S. eingehende Post wird von ihm mit in die Kanzlei nach K. genommen, wo sie den Eingangsstempel erhält und den Akten zugeordnet wird. Auch in S. auflaufende Telefonanrufe werden automatisch nach K. weitergeleitet, wo sie von dem Bürovorsteher J. entgegengenommen und bei Abwesenheit des weiteren Beteiligten in einer Telefonliste festgehalten werden. Im Übrigen führt der Zeuge J. den Termin- und Fristenkalender des weiteren Beteiligten in K. und vereinbart von dort Besprechungs- und Gerichtstermine.
bb) Auch nach außen hin dokumentierte der weitere Beteiligte, seiner anwaltlichen Tätigkeit von K. aus nachzugehen. Jedenfalls in den Jahren 2006 bis Anfang 2008 wurden von ihm verfasste Schriftsätze unter der Ortsbezeichnung K. unterschrieben, ein Verhalten übrigens, das auch schon im Jahr 2001 zu einem berufsrechtlichen Beschwerdeverfahren vor der Rechtsanwaltskammer geführt hat. Von ihm in den Jahren 2007 und 2008 verwandte Vollmachten weisen ihn ebenso als Rechtsanwalt C. Sch., H. Straße ..., K. aus wie eine von ihm im Jahre 2007 beim Amtsgericht P. eingereichte Klageschrift. Soweit er Termine beim Amtsgericht P. wahrgenommen hat, hat er zumindest in den Jahren 2007 und 2008 mehrfach in seinen Kostenrechnungen Reisekosten für die Strecke K.- P.- K. geltend gemacht.
cc) Schließlich fungiert der weitere Beteiligte seit Februar 2005 als Notariatsverwalter für den ausgeschiedenen Notar Ma. mit Amtssitz in K., was nach § 57 Abs. 1 i.V.m. § 10 BNotO seine Residenzpflicht in K. bedingt. Seine Bestallungsurkunde als Notariatsverwalter weist ihn folglich als K. Rechtsanwalt aus; auf seine formale Zulassung für den Amtsgerichtsbezirk Plön hat er in diesem Zusammenhang nicht hingewiesen.
c) Eine Gesamtbetrachtung dieser von dem weiteren Beteiligten auch mit dem Beschwerdevorbringen im Kern nicht in Zweifel gezogenen Feststellungen führt zu der Bewertung, dass die Kanzlei in K., die allein das erforderliche Mindestmaß an Kanzleiorganisation aufweist, die seinen Betrieb tragende Kanzlei ist, während der - weiteren - Kanzlei in S. nur eine völlig untergeordnete Bedeutung zukommt. Daran ändern auch moderne Kommunikationsmittel nichts, die den weiteren Beteiligten unter Umständen in S. erreichbar machen, wenn er dort ungestört arbeiten will. Ebenso ohne Belang im Hinblick auf seine hauptberufliche Tätigkeit in K. ist, dass er nach seiner Einlassung häufig bundesweit Mandanten zu Hause aufsucht, gelegentlich aber auch Mandanten an seinem Wohnort in S. empfängt und - wenn auch weniger häufig als in K. - vor dem örtlichen Amtsgericht P. auftritt.
Dass ein mehrjähriges Verwenden eines falschen Briefkopfes auf unüberwindbare technische Probleme zurückzuführen sein soll und für die (falschen) Reisekostenabrechnungen K.- P.- K. nur seine Mitarbeiter verantwortlich sein sollen, hält der Senat für ausgeschlossen, zumal unerklärt bleibt, warum der weitere Beteiligte in von ihm verwandten Vollmachten und von ihm verfassten Klageschriften als K. Rechtsanwalt auftritt. Ebenso wenig glaubhaft ist seine Behauptung, als Notaranwärter und Notariatsverwalter habe er den Bedeutungsinhalt der Bestallungsurkunde, die ihn als "Rechtsanwalt C. Sch. in K." ausweist, nicht erkannt.
d) Von der Beschwerde geäußerte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 6 Abs. 2 Satz 2 BNotO und der dazu ergangenen AVNot teilt der Senat nicht (vgl. BVerfG NJW 2004, 1935, 1937; Senatsbeschluss vom 17. November 2008 - NotZ 10/08 - NJW-RR 2009, 350, 352; Görk in Schippel/Bracker, BNotO 8. Aufl. § 6 Rn. 23).
Anders als der weitere Beteiligte meint, ist für die Erfüllung der örtlichen Wartezeit nicht ausschlaggebend, wo ein Bewerber formal zugelassen ist, sondern wo er tatsächlich seine hauptberufliche Tätigkeit ausübt. Dies ergibt sich aus dem eingangs geschilderten Sinn und Zweck der Regelung (so auch Schmitz-Valckenberg in Eylmann/Vaasen, BNotO 2. Aufl. § 6 Rn. 18; Görk aaO).
Ob in Zweifelsfällen des § 6 Abs. 2 Satz 2 BNotO - wie die Beschwerde geltend macht - stets zugunsten des Bewerbers zu entscheiden ist, kann dahinstehen, weil der Senat keine Zweifel daran hat, dass der weitere Beteiligte seinen maßgeblichen Kanzleisitz in K. und nicht in S. hat.
2. Da der weitere Beteiligte nach alledem die örtliche Wartzeit des § 6 Abs. 2 Satz 2 BNotO nicht erfüllt und eine Ausnahme von diesem Regelerfordernis erkennbar nicht in Betracht kommt (dazu vgl. Senatsbeschlüsse vom 24. Juli 2006 aaO, 77 und vom 17. November 2008 aaO, 352), hat die Antragsgegnerin die Bewerbung des weiteren Beteiligten zu Recht nicht in das Auswahlverfahren gemäß § 6 Abs. 3 BNotO einbezogen.
3. Darüber hinaus bestehen - was das Oberlandesgericht dahinstehen lässt, weil es darauf nicht mehr entscheidend ankommt - erhebliche Zweifel gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BNotO an der persönlichen Eignung des weiteren Beteiligten für das Amt des Notars.
a) Die persönliche Eignung ist nur dann zu bejahen, wenn die inneren und äußeren Eigenschaften des Bewerbers, wie sie sich insbesondere in seinem äußeren Verhalten offenbaren, keinen begründeten Zweifel daran aufkommen lassen, dass er die Aufgaben und Pflichten eines Notars gewissenhaft erfüllen werde. Mit Rücksicht auf die Bedeutung und Schwierigkeit der Aufgaben, die der Notar als unabhängiger Träger eines öffentlichen Amtes auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege zu erfüllen hat (§ 1 BNotO), darf der an die persönlichen Eigenschaften des Bewerbers anzulegende Maßstab nicht zu milde sein (vgl. Senatsbeschlüsse vom 31. Juli 2000 - NotZ 5/00 - DNotZ 2000, 943 und vom 17. November 2008 aaO, 351).
Als Träger eines öffentlichen Amtes, der auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege hoheitliche Funktionen wahrnimmt, ist der Notar in besonderem Maße zur Integrität verpflichtet. Die erhöhten Anforderungen rechtfertigen sich daraus, dass die Leistungsfähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege wesentlich von dem Vertrauen der Rechtsuchenden in die Rechtspflegeorgane abhängt und dafür unbedingte Integrität der Amtspersonen gefordert ist. Dementsprechend ist durch § 14 Abs. 3 Satz 1 BNotO festgelegt, dass sich der Notar durch sein Verhalten innerhalb und außerhalb seines Berufs der Achtung und des Vertrauens, die seinem Beruf entgegengebracht werden, würdig zu zeigen hat. Wesentliche Voraussetzung dafür, dass der rechtsuchende Bürger dem Notar Achtung und Vertrauen entgegenbringen kann, sind nicht nur Fähigkeiten wie Urteilsvermögen, Entschlusskraft, Standfestigkeit, Verhandlungsgeschick und wirtschaftliches Verständnis, sondern vor allem uneingeschränkte Wahrhaftigkeit und Redlichkeit. Auch im Verhältnis zu den Aufsichtsbehörden kommt es auf die letztgenannten Eigenschaften entscheidend an. Denn zur Wahrnehmung ihrer für die Gewährleistung einer funktionstüchtigen vorsorgenden Rechtspflege wesentlichen Aufsichtsbefugnisse müssen sich die Aufsichtsbehörden darauf verlassen können, dass der Notar ihnen vollständige und wahrheitsgemäße Auskünfte erteilt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. März 1997 - NotZ 22/96 - DNotZ 1997, 894, 895 und vom 17. November 2008 aaO, 351). Dabei ist für die Beurteilung der persönlichen Eignung grundsätzlich der Zeitpunkt des Ablaufs der Bewerbungsfrist maßgeblich (vgl. Senatsbeschlüsse vom 31. Juli 2000 aaO und vom 17. November 2008 aaO, 351).
b) Derzeit sind Zweifel an der persönlichen Eignung des weiteren Beteiligten gerechtfertigt; sie stehen nach den vorbeschriebenen Grundsätzen einer Bestellung des weiteren Beteiligten zum Notar entgegen.
aa) Der weitere Beteiligte hat versucht, die Antragsgegnerin im Bewerbungsverfahren über den maßgeblichen Ort seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt zu täuschen, um seine Bewerbungschancen zu verbessern.
Sein Bewerbungsschreiben um das Notaramt vom 11. Juli 2007 hat er unter einem besonderen Briefkopf gefertigt, der allein die Adresse D. straße in S. aufweist, während er bei seinem sonstigen Schriftverkehr im beruflichen Bereich fast ausschließlich einen Briefkopf verwendete, der das "Büro K." fettgedruckt hervorhob. Sämtliche unter II.1. festgestellten und von der Antragsgegnerin und dem Oberlandesgericht Celle ermittelten, seine Tätigkeit in K. betreffenden Umstände, hat er bei seiner Bewerbung verschwiegen und auch noch im gerichtlichen Verfahren den falschen Eindruck zu erwecken versucht, hauptberuflich überwiegend in S. tätig zu sein. Die Angaben eines Notarbewerbers müssen aber richtig und vollständig sein, insbesondere dann, wenn sie - wie hier die Erfüllung der örtlichen Wartezeit - für die Entscheidung der Landesjustizverwaltung bedeutsam sind und - was für den Senat nach den Umständen des Falles außer Zweifel steht - der Notarbewerber dies erkennt.
bb) Selbst wenn die Darstellung des weiteren Beteiligten zutreffend wäre, er unterhalte nur seine Kanzlei in S., bestünden Zweifel an seiner persönlichen Eignung. Diese würde sich darauf gründen, dass er dann über einen langen Zeitraum einen unzutreffenden Briefkopf verwandt, bei seiner Bestellung zum Notariatsverwalter in K. nicht auf seinen "tatsächlichen" Kanzleisitz und seine Zulassung bei dem Amtsgericht P. hingewiesen und als Rechtsanwalt mehrfach zu Unrecht Reisekosten für Fahrten aus K. nach P. und zurück berechnet hätte.
Galke Kessal-Wulf Appl
Bauer Brose-Preuß
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100060914&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060915
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BGH
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Senat für Notarsachen
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20100322
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NotZ 11/09
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Beschluss
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§ 4 BNotO
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vorgehend OLG Stuttgart, 3. Juli 2009, Az: 1 Not 1/09, Beschluss
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DEU
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Organisationsermessen der Landesjustizverwaltung bei der Bestellung von Notaren: Subjektives Recht des Bewerbers auf fehlerfreie Ermessensausübung
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Auf die sofortige Beschwerde des weiteren Beteiligten wird der Beschluss des Notarsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 3. Juli 2009 - 1 Not 1/09 - aufgehoben.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat die Gerichtskosten beider Rechtszüge zu tragen sowie dem Antragsgegner und dem weiteren Beteiligten entstandene außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf
50.000 €
festgesetzt.
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I. Der Antragsteller, ein Bezirksnotar in U., bewarb sich auf die im Dezember 2007 vom Antragsgegner auf seiner Internetseite www.justiz-bw.de ausgeschriebene Stelle einer Notarin/eines Notars zur hauptberuflichen Amtsausübung in U. Die Stellenausschreibung enthielt den Zusatz: "Das Justizministerium Baden-Württemberg behält sich im Rahmen der ihm zustehenden Organisationsgewalt und Personalhoheit vor, die Notarstelle im Interesse einer geordneten Rechtspflege nicht durch die (Neu-)Bestellung eines Notars zur hauptberuflichen Amtsausübung, sondern durch Verlegung des Amtssitzes eines im württembergischen Rechtsgebiet bereits bestellten Notars im Hauptberuf zu besetzen."
Mit Bescheid vom 20. Januar 2009, zugestellt am 30. Januar 2009, teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, dass er beabsichtige, die ausgeschriebene Stelle mit dem weiteren Beteiligten zu besetzen. Der weitere Beteiligte, zuvor ebenfalls Bezirksnotar, war am 1. November 2006 zum Notar im Hauptberuf mit Amtssitz in S. bestellt worden. Die von ihm eingegangene Sozietät mit zwei weiteren Notaren im Hauptberuf endete am 30. September 2007. Seine - von einem Mitglied des Landtages gegenüber dem Antragsgegner unterstützten - Bemühungen, wieder in den Landesdienst als Bezirksnotar übernommen zu werden, hatten keinen Erfolg. Jedoch zog der Antragsgegner eine Verlegung des Amtssitzes in Betracht und forderte den weiteren Beteiligten zu einer entsprechenden Stellungnahme auf. Der weitere Beteiligte ersuchte daraufhin am 10. Oktober 2007 um die Verlegung seines Amtssitzes nach U. Ein bei dem Antragsgegner behördenintern gefertigter Vermerksentwurf vom 30. Oktober 2007 ging noch dahin, dieses Gesuch abzulehnen; in dem endgültigen, am 29. November 2007 auf Leitungsebene gebilligten Vermerk vom 8. November 2007 wurde die Ausschreibung einer zweiten Stelle für einen Notar im Hauptberuf in U. aber befürwortet. Ende November 2007 wandte sich der weitere Beteiligte an einen ihm bekannten Staatssekretär, der sich mit Schreiben vom 29. November 2007, beim Antragsgegner eingegangen am 3. Dezember 2007, gegenüber dem Antragsgegner für eine Verlegung des Amtssitzes nach U. einsetzte. Der Antragsgegner antwortete mit Schreiben vom 18. Dezember 2007, er habe die Ausschreibung einer Notarstelle zur hauptberuflichen Amtsausübung in U. veranlasst. Es stehe dem weiteren Beteiligten frei, sich auf diese Stelle zu bewerben, wobei es sich nach den von Art. 33 Abs. 2 GG und der Bundesnotarordnung vorgegebenen Leistungskriterien richte, welchem der Bewerber der Vorzug zu geben sein werde.
In dem seinem Bescheid vom 20. Januar 2009 beigefügten Auszug aus der Auswahlentscheidung verwies der Antragsgegner unter anderem darauf, ein erheblicher Teil des sich für U. ergebenden Beurkundungsbedarfs werde durch acht im Amtsgerichtsbezirk N-U. (Bayern) bestellte Notare im Hauptberuf abgedeckt. Durch die Verlegung des Amtssitzes des weiteren Beteiligten solle das Beurkundungsvolumen der in U. bereits tätigen Notare - vier Anwaltsnotare, ein Notar im Hauptberuf, fünf Bezirksnotare - gestärkt und die Anzahl der in N-U. getätigten Beurkundungen verringert werden. Auffällige, erhebliche Leistungsunterschiede der Bewerber aus den Reihen der Bezirksnotare gegenüber dem weiteren Beteiligten seien nicht festzustellen.
Das Oberlandesgericht hat dem Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung stattgegeben, den Bescheid vom 20. Januar 2009 nebst der Entscheidung des Antragsgegners über die Amtssitzverlegung des weiteren Beteiligten aufzuheben, und über seine Bewerbung auf die ausgeschriebene Notarstelle neu zu entscheiden. Zur Begründung hat es ausgeführt, eine bedarfsbezogene Einrichtung der zweiten Notarstelle zur hauptberuflichen Amtsausübung in U. sei nicht erkennbar, vielmehr sei die Ausschreibung unter Überschreitung des dem Antragsgegner zustehenden Organisationsermessens unter sachwidriger Begünstigung eines einzelnen Bewerbers erfolgt. Hiergegen wendet sich der weitere Beteiligte mit seiner sofortigen Beschwerde.
II. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 111 Abs. 4 BNotO i.V. mit § 42 Abs. 4 BRAO zulässig. Sie ist darüber hinaus begründet.
1. Sie hat allerdings nicht bereits deshalb Erfolg, weil der Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig anzusehen wäre. Der Antragsgegner hat mit dem angegriffenen Bescheid vom 20. Januar 2009 seine Absicht erklärt, die für U. ausgeschriebene Notarstelle mit dem weiteren Beteiligten zu besetzen; damit war für den Antragsteller die rechtliche Möglichkeit zur Anfechtung der Auswahlentscheidung mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung in Gestalt einer Verpflichtungsklage eröffnet (vgl. BGHZ 69, 224, 226; Senatsbeschluss vom 5. Februar 1996 - NotZ 25/95 - juris Tz. 10).
Jedoch ist das Begehren des Antragstellers in der Sache nicht gerechtfertigt.
2. Im rechtlichen Ausgangspunkt geht das Oberlandesgericht richtig davon aus, dass nach § 4 BNotO so viele Notare zu bestellen sind, wie es den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege entspricht. Die der Landesjustizverwaltung damit eingeräumte Bedürfnisprüfung ist eine Ermessensentscheidung im Rahmen der staatlichen Bedarfsplanung, die von den Gerichten lediglich daraufhin nachgeprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des (Organisations-)Ermessens überschritten oder von diesem in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 111 Abs. 1 Satz 3 BNotO). Das Abstellen auf "die Erfordernisse der geordneten Rechtspflege" ist dabei eine sachliche Begrenzung des Ermessens mit der Folge, dass der Antragsgegner seine Entscheidung ausschließlich an diesem Erfordernis auszurichten hat (BGHZ 67, 348, 350; 73, 54, 56 f.; vgl. auch Senatsbeschluss vom 20. Juli 1998 - NotZ 31/97 - DNotZ 1999, 251, 252).
Das ist hier geschehen. Der Antragsgegner hat dafür zu sorgen, dass die den Notaren gestellten Aufgaben (vgl. §§ 1, 20 ff. BNotO) von diesen angemessen und effizient erfüllt werden können. Dazu gehört die Sicherung einer zügigen und ortsnahen notariellen Betreuung der Bevölkerung durch landeseigene Notare. Das vom Antragsteller in diesem Zusammenhang hervorgehobene - im Vergleich zu S. - geringere Urkundsaufkommen der in U. tätigen Notare ist zu einem wesentlichen Teil darauf zurückzuführen, dass die rechtsuchende Bevölkerung für Beurkundungen zu acht Notaren im Hauptberuf "abwandert", die ihren Amtssitz im benachbarten N-U. (Bayern) haben. Dem durfte der Antragsgegner durch die Schaffung einer zweiten Notarstelle zur hauptberuflichen Amtsausübung entgegenwirken. Es handelt sich um einen sachlichen, den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege entsprechenden Grund, der sich ersichtlich in den Grenzen des dem Antragsgegner zustehenden Organisationsermessens hält. Es ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Landesjustizverwaltung eine umfassende Versorgung der Bevölkerung mit notariellen Dienstleistungen durch landeseigene Notare anstrebt.
3. Die Belange der in U. eingesetzten Bezirksnotare - so auch des Antragstellers - werden dadurch nicht berührt; insbesondere ist keine Verletzung von verfassungsmäßigen Rechten aus den Artt. 33 Abs. 2, 12 Abs. 1 GG zu erkennen.
a) Abgesehen davon, dass der Antragsteller die Besetzung der neu eingerichteten Stelle mit seiner Person anstrebt und sich dazu in Widerspruch setzt, wenn er die Schaffung der ausgeschriebenen Stelle als sachwidrig und nicht dem tatsächlichen Bedarf an notariellen Dienstleistungen entsprechend rügt, kann die Ausübung des Organisationsermessens nach § 4 BNotO einen Bewerber grundsätzlich nicht in seinen subjektiven Rechten verletzen, weil sie keine Schutznorm zu seinen Gunsten darstellt. Die in § 4 BNotO statuierte Pflicht, Notare nach den Bedürfnissen einer geordneten Rechtspflege zu bestellen, besteht ausschließlich gegenüber der Allgemeinheit und deren Interesse an einer funktionierenden vorsorgenden Rechtspflege. Der Verpflichtung der Landesjustizverwaltung, ihr durch § 4 BNotO eröffnetes Ermessen fehlerfrei auszuüben, steht insoweit kein subjektives Recht von Notarbewerbern gegenüber; die Ermessensbindung der Verwaltung dient nicht dazu, Berufsaussichten der Interessenten - hier insbesondere der Bezirksnotare - rechtlich abzusichern (Senatsbeschlüsse vom 18. September 1995 - NotZ 46/94 - DNotZ 1996, 902, 903 f.; vom 24. November 1997 - NotZ 10/97 - DNotZ 1999, 239, 240; vom 14. April 2008 - NotZ 118/07 - DNotZ 2008, 865). Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass im württembergischen Rechtsgebiet die Bestellung zum öffentlichen Notar eine weitere (höchste) Beförderungsstufe in der beamtenrechtlichen Laufbahn für Bezirksnotare darstellt (vgl. Senatsbeschluss vom 1. August 2005 - NotZ 11/05 - ZNotP 2006, 37, 38).
b) Durch die Einrichtung einer neuen Notarstelle wird auch deshalb nicht in verfassungsmäßige Rechte der bereits amtierenden Notare eingegriffen, weil Art. 12 Abs. 1 GG ebenso wie Art. 14 Abs. 1 GG nicht gewährleistet, dass einem Notar als dem Träger eines öffentlichen Amtes Konkurrenten ferngehalten werden (BGHZ 67, 348, 351). Dies gilt erst recht für im Landesdienst stehende beamtete Bezirksnotare. Zwar ist die Einrichtung neuer Notarstellen mit der Einschränkung zu versehen, nur so viele Stellen zu schaffen, dass dem jeweiligen Amtsinhaber ein solches Maß an finanzieller Unabhängigkeit gewährleist ist, dass er sich nötigenfalls wirtschaftlichem Druck widersetzen kann (BGHZ 67 aaO 353; 73 aaO 57; Senatsbeschlüsse vom 11. Juli 2005 - NotZ 1/05 - DNotZ 2005, 947, 949; vom 20. November 2006 - NotZ 23/06 - juris Tz. 12). Bezirksnotare sind indes Beamte im statusrechtlichen Sinne, für deren Dienstverhältnis das allgemeine Beamtenrecht gilt. Im Rahmen dieser statusrechtlichen Beamtenstellung üben sie die ihnen von § 3 Abs. 1 LFGG zugewiesenen Aufgaben der vorsorgenden Rechtspflege aus. Der dadurch eröffnete sachliche Schutzbereich des Art. 33 Abs. 5 GG wird durch die vom Antragsteller durch die Schaffung einer weiteren Notarstelle zur hauptberuflichen Amtsausübung befürchteten nachteiligen Veränderungen in Bezug auf Einkommen und Berufsbild nicht berührt, denn eine Bestandsgarantie für die dem Antragsteller neben seiner Besoldung zufließenden Gebührenanteile enthält Art. 33 Abs. 5 GG nicht. Dass aus anderen Gründen eine verfassungsrechtlich relevante Unteralimentierung drohen könnte, hat der Antragsteller nicht geltend gemacht; es ist dafür auch sonst nichts ersichtlich (vgl. BGHZ 173, 297, 301 f.). Vielmehr ist die Grundversorgung des Antragstellers als Beamter mit festen Bezügen gesichert. Das allein gewährleistet schon die für das Amt des beamteten Notars notwendige wirtschaftliche Unabhängigkeit (Senatsbeschluss vom 15. April 1991 - NotZ 1/91 - BGHR BNotO § 116 Abs. 1 Anwaltsnotar 1).
4. Nicht nur bei der Errichtung, sondern auch bei der Besetzung einer Notarstelle durch Verlegung des Amtssitzes eines bereits bestellten Notars ist der Landesjustizverwaltung unter Beachtung der Belange einer geordneten Rechtspflege (§ 10 Abs. 1 Satz 3 BNotO) ein weitgehender, nur beschränkt einer gerichtlichen Überprüfung unterliegender Entscheidungsspielraum gegeben (Senatsbeschlüsse vom 5. Februar 1996 - NotZ 25/95 - DNotZ 1996, 906, 908; vom 26. März 2001 - NotZ 28/00 - DNotZ 2001, 730; vom 20. November 2006 aaO Tz. 6). Eine Rechtsverletzung des Antragstellers auch in diesem Bereich scheidet grundsätzlich aus, weil der erhebliche Ermessensspielraum, wie er der Landesjustizverwaltung eingeräumt ist, sich allein organisationsrechtlich und personalwirtschaftlich bestimmt (Senatsbeschluss vom 24. Juli 2006 - NotZ 1/06 - DNotZ 2007, 63).
a) Insbesondere können es im Interesse einer geordneten Rechtspflege Gründe der übergreifenden Personalplanung nahe legen, eine Amtssitzverlegung vorzunehmen oder sich dagegen zu entscheiden. Desgleichen kann sich für die Landesjustizverwaltung das Erfordernis einer Amtssitzverlegung aus Umständen ergeben, die am bisherigen Amtssitz des Notars entstanden sind und die den Einsatz des Notars an anderer Stelle als geboten erscheinen lassen; auch das fällt unter die organisationsrechtliche Personalhoheit der Landesjustizverwaltung. Dabei können in die Ausübung des Ermessens Umstände einfließen, wie sie vom Antragsteller selbst vorgetragen werden, insbesondere eine mangelnde "Sozietätsfähigkeit" des betreffenden Notars mit dadurch bedingten fehlenden Sozietätsaussichten oder ein von ihm verursachtes "schlechtes Klima" unter den ortsansässigen Notaren, um den Wechsel an einen anderen Amtssitz als notwendig erscheinen zu lassen. Sie sind ebenso berücksichtigungsfähig wie der vom Antragsgegner vorgebrachte Gesichtspunkt, durch den Amtssitzwechsel eines bereits amtierenden Notars die angestrebte zügige und ortsnahe notarielle Betreuung der Bevölkerung in U. sicherzustellen (Senatsbeschlüsse vom 19. Januar 1981 - NotZ 14/80 - DNotZ 1981, 521, 522; vom 24. Juli 2006 aaO 64).
b) Wenn der Antragsteller in diesem Zusammenhang geltend macht, der weitere Beteiligte erhalte in U. einen Standortvorteil im Hinblick auf die für das Jahr 2018 angestrebte Notariatsreform mit einer Umstellung auf das freiberufliche Notariat, so übersieht er zum einen, dass der weitere Beteiligte bereits seit dem 1. November 2006 Notar im Hauptberuf ist und in dieser Eigenschaft lediglich die Verlegung seines Amtssitzes erstrebt. Zum anderen hat der als Bezirksnotar derzeit in U. eingesetzte Antragsteller keinen Anspruch darauf, nach der Notariatsreform als Notar im Hauptberuf ebenfalls in U. tätig zu sein. Die Anzahl der für Bezirksnotare zur Verfügung stehenden Stellen für Notare im Hauptberuf, auf die sie sich nach der Notariatsreform oder bereits zuvor als Beförderungsstufe in ihrer beamtenrechtlichen Laufbahn bewerben können, verringert sich durch die Amtssitzverlegung des weiteren Beteiligten zudem nicht, da seine Stelle in S. zur Wiederbesetzung vorgesehen ist.
c) Die Entscheidung des Antragsgegners leidet auch nicht deshalb an einem Rechtsfehler, weil ein Mitglied des Landtages und ein Staatssekretär sich darum bemühten, den weiteren Beteiligten bei seiner von ihm in Aussicht genommenen beruflichen Veränderung zu unterstützen. Denn es lässt sich schon nicht feststellen, dass sie sich auf die angegriffene Entscheidung des Antragsgegners ausgewirkt haben. Den Antrag des weiteren Beteiligten, als Bezirksnotar in den Landesdienst zurückzukehren, hat der Antragsgegner abschlägig beschieden. Zum Zeitpunkt, als sich der Staatssekretär im Interesse des weiteren Beteiligten an den Antragsgegner wandte, stand dessen Entscheidung, eine weitere Notarstelle zur hauptberuflichen Amtsausübung in U. zu schaffen und dafür den Amtssitzwechsel eines in Württemberg bereits bestellten Notars in Aussicht zu nehmen, bereits fest. Eine sachwidrige Einflussnahme in dem Zeitraum zwischen dem 30. Oktober 2007 (Vermerksentwurf auf Arbeitsebene) und dem 29. November 2007 (Billigung des mit Vermerk vom 8. November 2007 unterbreiteten Entscheidungsvorschlags durch den Minister) ist nicht ersichtlich und wird vom Antragsteller auch nicht geltend gemacht. Im Übrigen ist das an den Staatssekretär seitens des Antragsgegners gerichtete Schreiben vom 18. Dezember 2007 seinem Inhalt nach nicht zu beanstanden, da dort ausdrücklich darauf verwiesen wird, die Besetzungsentscheidung habe sich an den von Art. 33 Abs. 2 GG und der Bundesnotarordnung vorgegebenen Leistungskriterien zu orientieren.
5. Allerdings ist dem Oberlandesgericht darin zuzustimmen, dass zumindest Anhaltspunkte für eine bereits auf einen bestimmten Bewerber - den weiteren Beteiligten - bezogene Ausschreibung gegeben sind, wie sie nicht zuletzt die zeitlichen Zusammenhänge und der Zusatz offenbaren, den der Antragsgegner seiner Ausschreibung beigefügt hat.
a) Der Senat hat bereits entschieden, dass § 4 BNotO (ausnahmsweise) Schutzfunktionen entfalten kann, wenn die Landesjustizverwaltung die Grenzen ihres Organisationsermessens dergestalt überschreitet, dass sie sich vom öffentlichen Interesse durch eine nicht bedarfs-, sondern rein bewerberbezogene Stellenermittlung löst unter sachfremder Begünstigung oder Benachteiligung einzelner Bewerber (BGHZ 173, 297, 306; Senatsbeschluss vom 12. Juli 2004 - NotZ 8/04 - ZNotP 2004, 410). Dafür ist hier indes - wie ausgeführt - nichts ersichtlich, weil der Antragsgegner sich bei Schaffung einer zweiten Notarstelle zur hauptberuflichen Ausübung in U. an dem Bedürfnis nach einer angemessenen und ausreichenden Versorgung der rechtsuchenden Bevölkerung mit notariellen Leistungen orientiert hat.
b) Die genannten Grundsätze haben gleichermaßen zu gelten, wenn die Landesjustizverwaltung sich innerhalb des Besetzungsverfahrens bei ihrer der eigentlichen Auswahlentscheidung vorgelagerten Entscheidung, ob die frei gewordene oder neu geschaffene Stelle durch Verlegung des Amtssitzes eines bereits amtierenden Notars besetzt werden soll, von Erwägungen leiten lässt, die nicht allein personalwirtschaftlich oder organisationsrechtlich bestimmt sind. Wenn sie bei ihrer der Auswahlentscheidung vorausgehenden Organisationsentscheidung schon einen bestimmten Bewerber im Blick hat, ist ihr Beurteilungsmaßstab in diesem Fall dahingehend modifiziert, dass bei auffälligen, erheblichen Eignungsunterschieden zu konkurrierenden Bewerbern die Artt. 3, 12, 33 Abs. 2 GG zu berücksichtigen sind und damit das Prinzip der Bestenauslese Beachtung zu finden hat, um dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Rechtspflege angemessen Rechnung zu tragen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. Juli 2003 - NotZ 47/02 - ZNotP 2003, 470, 471; vom 7. Dezember 2006 - NotZ 24/06 - DNotZ 2007, 154, 155; vom 14. April 2008 - NotZ 114/07 - bei juris Tz. 4 [in DNotZ 2008, 862 nicht vollständig abgedruckt]).
c) Das hat der Antragsgegner indes erkannt und ausweislich der Begründung seiner Auswahlentscheidung einen Leistungsvergleich vorgenommen, der zugunsten des weiteren Beteiligten ausgefallen ist und ausfallen durfte. Der - lebensältere - weitere Beteiligte wurde bereits am 1. Juli 1999 und damit vor dem Antragsteller (1. August 2004) zum Bezirksnotar bestellt. Das Ergebnis seiner württembergischen Notarprüfung lag mit 8,76 Punkten über dem des Antragstellers, der 6,86 Punkte erzielt hat. Seine letzte Anlassbeurteilung fiel mit 7,5 Punkten ebenfalls besser aus als die des Antragstellers (6,5 Punkte).
Nach alledem ist die Entscheidung des Antragsgegners, die ausgeschriebene Stelle im Wege eines Amtssitzwechsels und nicht aus den Reihen der sich bewerbenden Bezirksnotare zu besetzen, nicht zu beanstanden.
Galke Kessal-Wulf Appl
Bauer Brose-Preuß
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060933
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BGH
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11. Zivilsenat
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20100330
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XI ZR 184/09
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Beschluss
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§ 172 BGB, §§ 172ff BGB, § 174 BGB, § 1896 Abs 1 BGB, § 1902 BGB, § 26 Nr 8 ZPOEG, § 3 ZPO, § 6 ZPO, § 69b Abs 2 FGG, § 290 FamFG
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vorgehend LG Oldenburg (Oldenburg), 15. Mai 2009, Az: 13 S 62/09, Urteil vorgehend AG Oldenburg (Oldenburg), 17. Dezember 2008, Az: 5 C 5206/08 (XXIII)
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DEU
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Beschwer einer Bank durch ein Urteil auf Feststellung der fehlenden Verpflichtung eines Betreuers zur Vorlage der Betreuerausweises bei jeder Verfügung über ein Girokonto
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Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten gegen das Urteil der 13. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg vom 15. Mai 2009 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 1.000 €.
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I.
Die Parteien streiten, ob die beklagte Bank, bei der der Kläger ein Girokonto unterhält, von dessen Betreuer bei jedem Rechtsgeschäft, das dieses Konto betrifft, die Vorlage des Betreuerausweises verlangen darf.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers wurde für den Bereich der Vermögenssorge als dessen Betreuer bestellt. Die Beklagte verlangte von ihm, bei jeder Weisung im Rahmen des zwischen der Beklagten und dem Kläger bestehenden Girovertrags den Betreuerausweis im Original vorzulegen.
Die von dem Kläger dagegen erhobene Feststellungsklage ist von dem Amtsgericht abgewiesen worden. Auf die Berufung des Klägers, mit der dieser seinen Feststellungsantrag teilweise weiterverfolgt hat, ist der Klage stattgegeben worden. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die Beklagte nicht berechtigt sei, die Entgegennahme und vertragsgerechte Umsetzung rechtsgeschäftlicher Erklärungen des Betreuers von der Vorlage eines Betreuerausweises abhängig zu machen, wenn der Beklagten dieser Ausweis einmal vorgelegt worden sei. Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde begehrt die Beklagte die Zulassung der Revision, mit der sie die vollständige Abweisung der Klage erreichen will.
II.
Die Beschwerde ist unzulässig, da die gemäß § 26 Nr. 8 EGZPO erforderliche Mindestbeschwer von mehr als 20.000 € nicht erreicht ist.
1. Das mit der Beschwerde verfolgte Interesse an der Vorlage der Bestellungsurkunde ist nach § 3 ZPO zu schätzen, da nicht gemäß § 6 ZPO um den Besitz einer Urkunde gestritten wird und die Urkunde als solche keinen eigenen wirtschaftlichen Wert verkörpert (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 1997 - XII ZR 233/96, NJW-RR 1997, 648; PG/Gehle, ZPO, § 3 Rn. 219, § 6 Rn. 4; Schneider, Streitwert-Kommentar für den Zivilprozess, 12. Aufl., Rn. 2696 f.). Die Beschwer der Beklagten richtet sich nach den Nachteilen, die sie durch die angegriffene Entscheidung erleiden würde, wenn diese in Rechtskraft erwächst (vgl. PG/Gehle, ZPO, § 2 Rn. 5; Zöller/Heßler, ZPO, 28. Aufl., vor § 511 Rn. 19b).
2. Maßgebend ist damit das Interesse der beklagten Bank, im Giroverhältnis zum Kläger auch nach einmaliger Prüfung des Betreuerausweises dessen erneute Vorlage bei jeder nachfolgenden Verfügung des Betreuers verlangen zu dürfen. Es liegen keine tatsächlichen Anhaltspunkte vor, die es nach § 3 ZPO rechtfertigen könnten, den die Beklagte durch die Entscheidung des Landgerichts insoweit treffenden wirtschaftlichen Nachteil mit mehr als 20.000 € anzusetzen.
Mit der Abweisung der Klage würde die Beklagte zusätzlichen Geschäftsaufwand vermeiden, der für die laufende Prüfung der Vollmacht des Betreuers entsteht. Dazu hat die Beklagte jedoch nichts vorgetragen, insbesondere nicht dargetan, dass für die Überprüfung, ob die Bestellung des Betreuers nach einmaliger Vorlage der Bestellungsurkunde aufgehoben oder der Wirkungskreis der Betreuung geändert worden ist, konkrete Kosten anfallen, die den Betrag von 20.000 € übersteigen. Es besteht auch ansonsten kein Anhaltspunkt, dass diese denkbare Erschwernis bei der laufenden Prüfung der Betreuervollmacht zusätzliche Verwaltungskosten in dieser Höhe auslösen könnte.
3. Die Beschwer der Beklagten ist - entgegen der Ansicht der Beschwerde - nicht nach deren Interesse zu bestimmen, vor Anweisungen eines nicht mehr bevollmächtigten Betreuers im Giroverhältnis geschützt zu sein. Dies kann nämlich die Beklagte durch die streitige Prüfungspraxis, vor jeder einzelnen Verfügung den Betreuerausweis im Original einzusehen, nicht erreichen, da die Bestellungsurkunde eines Betreuers nach § 69b Abs. 2 FGG aF bzw. § 290 FamFG keine Vollmachtsurkunde im Sinne der §§ 172 ff. BGB ist (vgl. Bumiller/Harders, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 9. Aufl., § 290 FamFG Rn. 1; MünchKommZPO/Schmidt-Recla, 3. Aufl., § 290 FamFG Rn. 1; Prütting/ Helms/Fröschle, FamFG, § 290 Rn. 13; Schulte-Bunert/Weinreich/Rausch, FamFG, 2. Aufl., § 290 Rn. 1).
a) Beruht die Vertretungsmacht nicht auf der Erteilung einer Vollmacht durch den Vertretenen, sondern - wie hier - auf gesetzlicher Grundlage, so scheidet eine Zurückweisung der Vollmacht nach § 174 BGB aus; die mit der Inanspruchnahme gesetzlicher Vertretung verbundene Unsicherheit, ob die Vertretungsmacht wirksam besteht, wird dem Empfänger der Erklärung zugemutet (siehe BGH, Urteil vom 9. November 2001 - LwZR 4/01, WM 2001, 2442, 2443; für Vormundschaft und Pflegschaft bereits RGZ 74, 263, 265 ff.; MünchKommZPO/Schmidt-Recla, 3. Aufl., § 290 FamFG Rn. 1; Palandt/Ellenberger, BGB, 69. Aufl., § 174 Rn. 4; Staudinger/Schilken, BGB (2009), § 174 Rn. 6, jeweils m.w.N.).
b) Zudem könnte sich die Beklagte selbst im Falle einer Vorlage des Betreuerausweises nicht nach § 172 BGB auf eine mit der Bestellungsurkunde verknüpfte Rechtsscheinwirkung berufen, da diese einer rechtsgeschäftlichen Vollmachtsurkunde nicht gleichsteht (vgl. BayObLG, FamRZ 1994, 1059, 1060; RGZ 74, 263, 265 ff.; MünchKommBGB/Schramm, 5. Aufl., § 172 Rn. 3; MünchKommZPO/Schmidt-Recla, 3. Aufl., § 290 FamFG Rn. 1; Palandt/Ellenberger, BGB, 69. Aufl., § 172 Rn. 2; Staudinger/Schilken, BGB (2009), § 172 Rn. 1).
4. Die Ansicht der Beklagten, ihre Beschwer müsse sich nach dem Gesamtwert aller bei ihr geführter Konten richten, über die gegenwärtig ein Betreuer verfügen könne, verkennt, dass nach § 2 ZPO auch für die Bemessung der Beschwer der beklagten Partei auf die aus der Entscheidung zum unmittelbaren Gegenstand des Verfahrens entstandenen Nachteile abzustellen ist (vgl. Stein/Jonas/Roth, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl., § 2 ZPO Rn. 14). Tatsächliche oder rechtliche Auswirkungen der Entscheidung auf andere Rechtsverhältnisse bleiben dabei außer Betracht (BGHZ 128, 85, 88 f.; Stein/Jonas/Roth, aaO § 2 ZPO Rn. 14; PG/Gehle, ZPO, § 3 Rn. 5; MünchKommZPO/Wöstmann, 3. Aufl., § 3 Rn. 7). Ein wirtschaftliches Interesse der Beklagten an einer Klärung, ob sie in ihrem gesamten Geschäftsfeld die Vorlage der Bestellungsurkunde bei jeder Verfügung eines Betreuers verlangen kann, beeinflusst damit die Beschwer der Beklagten im vorliegenden Rechtsstreit nicht, da das Berufungsurteil ausschließlich Ansprüche aus dem zwischen den Parteien geschlossenen konkreten Girovertrag betrifft.
Wiechers Joeres Mayen
Grüneberg Maihold
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060935
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BGH
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Senat für Notarsachen
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20100322
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NotZ 21/09
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Beschluss
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§ 6 Abs 1 BNotO
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vorgehend OLG Celle, 17. August 2009, Az: Not 6/09, Beschluss
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DEU
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Persönliche Eignung des Notarbewerbers: Begehung von Straftaten während seiner Tätigkeit als Notarvertreter
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Die sofortige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Senats für Notarsachen bei dem Oberlandesgericht Celle vom 17. August 2009 - Not 6/09 - wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen und dem Antragsgegner und den weiteren Beteiligten die in dem Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Wert des Beschwerdegegenstands: 50.000 Euro
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I.
Der Antragsgegner schrieb im Jahr 2008 vier Anwaltsnotarstellen im Amtsgerichtsbezirk Osnabrück aus, auf die sich insgesamt zehn Rechtsanwälte bewarben, darunter auch der 1961 geborene, seit 1993 bei dem Amts- und Landgericht Osnabrück zugelassene Antragsteller.
Mit Schreiben vom 3. April 2009 wies der Antragsgegner den Antragsteller auf seine Absicht hin, ihm als zweitplazierten der zunächst erstellten Rangfolge eine der ausgeschriebenen Notarstellen zu übertragen. Am 23. April 2009 nahm der Antragsgegner diesen Bescheid zurück mit der Begründung, es bestehe der Verdacht, der Antragsteller habe am 23. April 2008 wissentlich einen Grundstückskaufvertrag mit einem niedrigeren als dem tatsächlich vereinbarten Kaufpreis beurkundet, um dem Käufer die Zahlung von Grunderwerbsteuern zu ersparen. Nach weiteren Ermittlungen und Zeugeneinvernahmen teilte der Antragsgegner dem Antragsteller am 28. Mai 2009 mit, seiner Bewerbung könne nicht entsprochen werden, weil er für das Amt des Notars aufgrund seiner Persönlichkeit nicht geeignet sei.
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller gerichtliche Entscheidung beantragt mit dem Begehren, den Antragsgegner unter Aufhebung seiner Entscheidung vom 28. Mai 2009 zu verpflichten, ihn zum Notar zu bestellen, hilfsweise unter Aufhebung vorgenannter Entscheidung den Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden. Das Oberlandesgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Mit der sofortigen Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter.
II.
Die sofortige Beschwerde bleibt erfolglos. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist unbegründet, weil der angefochtene Bescheid des Antragsgegners nicht rechtswidrig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. § 111 Abs. 1 Satz 2 BNotO).
Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BNotO sind nur solche Bewerber zu Notaren zu bestellen, die unter anderem nach ihrer Persönlichkeit für das Amt des Notars geeignet sind.
1. Die persönliche Eignung ist zu bejahen, wenn die inneren und äußeren Eigenschaften des Bewerbers, wie sie sich insbesondere in seinem äußeren Verhalten offenbaren, keinen begründeten Zweifel daran aufkommen lassen, dass er die Aufgaben und Pflichten eines Notars gewissenhaft erfüllen werde. Mit Rücksicht auf die Bedeutung und Schwierigkeit der Aufgaben, die der Notar als unabhängiger Träger eines öffentlichen Amtes auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege zu erfüllen hat (§ 1 BNotO), darf der an die persönlichen Eigenschaften des Bewerbers anzulegende Maßstab nicht zu milde sein (vgl. Senatsbeschlüsse vom 31. Juli 2000 - NotZ 5/00 - DNotZ 2000, 943 und vom 17. November 2008 - NotZ 10/08 - NJW-RR 2009, 350, 351).
Als Träger eines öffentlichen Amtes, der auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege hoheitliche Funktionen wahrnimmt, ist der Notar in besonderem Maße zur Integrität verpflichtet. Die erhöhten Anforderungen rechtfertigen sich daraus, dass die Leistungsfähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege wesentlich von dem Vertrauen der Rechtsuchenden in die Rechtspflegeorgane abhängt und dafür unbedingte Integrität der Amtspersonen gefordert ist. Dementsprechend ist durch § 14 Abs. 3 Satz 1 BNotO festgelegt, dass sich der Notar durch sein Verhalten innerhalb und außerhalb seines Berufs der Achtung und des Vertrauens, die seinem Beruf entgegengebracht werden, würdig zu zeigen hat. Wesentliche Voraussetzung dafür, dass der rechtsuchende Bürger dem Notar Achtung und Vertrauen entgegenbringen kann, sind nicht nur Fähigkeiten wie Urteilsvermögen, Entschlusskraft, Standfestigkeit, Verhandlungsgeschick und wirtschaftliches Verständnis, sondern vor allem uneingeschränkte Wahrhaftigkeit und Redlichkeit.
In dem auf die Besetzung einer Notarstelle gerichteten Verwaltungsverfahren besteht nicht zugunsten des Bewerbers eine "Eignungsvermutung", vielmehr ist die persönliche Eignung des Bewerbers für das Notaramt positiv festzustellen. Hat die Justizverwaltung begründete Zweifel an der persönlichen Eignung, darf sie ihn nicht oder noch nicht zum Notar bestellen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. März 1997 - NotZ 19/96 - DNotZ 1997, 891, 893, vom 31. Juli 2000 aaO und vom 17. November 2008 aaO). Die persönliche Eignung für dieses Amt ist als unbestimmter Rechtsbegriff zu qualifizieren, dessen Interpretation durch die Landesjustizverwaltung gerichtlich voll überprüfbar ist. Der Landesjustizverwaltung verbleibt allerdings bei der Prognose, ob der Bewerber aufgrund seiner richtig festgestellten und rechtlich zutreffend bewerteten persönlichen Umstände für das Amt geeignet ist, ein Beurteilungsspielraum (vgl. Senat BGHZ 134, 137, 139 ff.; Senatsbeschluss vom 12. Juli 2004 - NotZ 1/04 - DNotZ 2005, 146, 147). Dabei ist für die Beurteilung grundsätzlich der Zeitpunkt des Ablaufs der Bewerbungsfrist maßgeblich (vgl. Senatsbeschlüsse vom 31. Juli 2000 aaO S. 944 m.w.N. sowie vom 17. November 2008 aaO).
2. Derzeit ist die persönliche Eignung des Antragstellers nicht gegeben, was nach den vorbeschriebenen Grundsätzen einer Bestellung des Antragsstellers zum Notar entgegensteht.
Der Antragsteller hat als amtlich bestellter Notarvertreter gegen die einem Notar obliegende Pflicht verstoßen, die Mitwirkung an Geschäften zu verweigern, mit denen die Parteien erkennbar unredliche oder unerlaubte Zwecke verfolgen (§§ 95, 14 Abs. 2 BNotO). Gleichzeitig hat er sich an der Begehung einer Steuerstraftat beteiligt:
a) Aufgrund der von dem Antragsgegner und dem Senat für Notarsachen des Oberlandesgerichts Celle angestellten Ermittlungen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Antragsteller am 23. April 2008 wissentlich einen zu niedrigen Grundstückskaufpreis beurkundet hat, um dem Käufer, dem ihm bekannten Zeugen M., die Zahlung eines Teils der Grunderwerbsteuer zu ersparen:
Nach Scheitern ihrer Ehe mit dem Zeugen L. H. wollte die Zeugin S. H. ein im Jahr 2002 für 255.000 Euro gemeinsam erworbenes, von ihr mit ihrer Tochter nunmehr allein bewohntes Haus veräußern, da sie die laufenden Verbindlichkeiten auf Dauer nicht mehr bedienen konnte. Käufer sollte der Zeuge M., der neue Lebensgefährte der Zeugin H. sein. Auf dessen Empfehlung suchte die Zeugin H. am 3. April 2008 den Antragsteller auf mit der Vorstellung, das Haus, dessen Wert ein Maklerbüro auf ca. 240.000 Euro taxiert hatte, zum Anschaffungspreis von 255.000 Euro zu veräußern. Dementsprechend fertigte Rechtsanwalt und Notar G., der bei dem Besprechungstermin am 3. April 2008 nicht zugegen gewesen war, auf der Grundlage der vom Antragsteller gemachten Notizen am 9. April 2008 einen der Zeugin H. übersandten Entwurf eines Kaufvertrags; der Kaufpreis von 255.000 Euro sollte in eine Zahlung von 155.000 Euro und eine zinslose, durch Grundschuld abgesicherte Stundung von 100.000 Euro aufgeteilt werden.
Am 15. April 2008 suchten die Zeugen H. und M. den Antragsteller gemeinsam auf, wobei alle Anwesenden übereinkamen, zwecks Grunderwerbsteuerersparnis einen Kaufpreis von nur 150.000 Euro zu beurkunden. Dieser Betrag entsprach den noch auf dem Grundstück lastenden Verbindlichkeiten. Der restliche Kaufpreis von 100.000 Euro sollte - um bei einer eventuellen Notarprüfung nicht aufzufallen - durch eine bei einem anderen Notar zu beurkundende Grundschuld abgesichert werden. Entsprechend beurkundete der Antragsteller als amtlich bestellter Notarvertreter am 23. April 2008 zur UR-Nr. 126/2008 den Grundstückskaufvertrag zu einem Preis in Höhe von 150.000 Euro.
Nachdem sich die Zeugen H. und M. um die Jahreswende 2008/2009 endgültig getrennt hatten, kam es - obwohl schon ein entsprechender Notartermin vereinbart war, den der Zeuge M. nicht einhielt - nicht mehr zur Bestellung der Grundschuld zugunsten der Zeugin H. Gleichwohl zahlte der Zeuge M. auf anwaltliche Anforderung des restlichen "Kaufpreises" von 100.000 Euro am 25. März 2009 einen entsprechenden Betrag an die Zeugin H., wobei er zur Finanzierung eine Grundschuld über 100.000 Euro an dem erworbenen Grundstück bestellen musste. Die Beurkundung erfolgte durch den Antragsteller als amtlich bestellter Notarvertreter.
b) Soweit der Antragsteller abweichend unter Berufung auf den Zeugen M. behauptet, die Parteien hätten am 15. April 2008 übereinstimmend einen Kaufpreis von nur 150.000 Euro angegeben, von einer möglichen Grunderwerbsteuerersparnis sei niemals die Rede gewesen, wird dies durch die Aussage der Zeugin H. widerlegt. Anders als der Zeuge M., den mit dem Antragsteller eine "Duz-Bekanntschaft" verbindet und der dem Verdacht einer Steuerhinterziehung ausgesetzt ist, hatte die Zeugin H. keine Veranlassung zugunsten oder zulasten des ihr zuvor unbekannten Antragstellers falsch auszusagen. Sowohl bei ihrer Vernehmung durch den Antragsgegner als auch bei ihrer Aussage vor dem Oberlandesgericht Celle hat die Zeugin davon berichtet, bereits am 3. April 2008 auf Empfehlung des Zeugen M. den Antragsteller mit einer Kaufpreisvorstellung von 255.000 Euro aufgesucht zu haben. Dies war dem Antragsteller seiner eigenen Einlassung zufolge auch bei dem Besprechungstermin am 15. April 2008 noch aktuell bewusst, unabhängig davon, ob sich zu diesem Zeitpunkt der von dem Notar G. am 9. April 2008 nach seinen Notizen gefertigte Entwurf eines Kaufvertrags über einen Kaufpreis von 255.000 Euro bei den Akten befunden hat oder nicht. Eine (scheinbare) Kaufpreisreduzierung um 105.000 Euro binnen weniger Tage erklärt sich mit dem allseitigen Bestreben, dem Käufer Grunderwerbsteuer zu "sparen". Diese Möglichkeit der "Steuerersparnis" ist bei der Besprechung am 15. April 2008 in Gegenwart des Antragstellers von dem Erwerber M. thematisiert worden, was sich aus den glaubhaften Bekundungen der Zeugin H. ergibt. Auch ihr Ehemann, der Zeuge H., hat - insoweit allerdings nur als Zeuge vom Hörensagen - bei seiner Vernehmung durch den Antragsgegner berichtet, Motiv für eine Beurkundung eines Kaufpreises von nur 150.000 Euro sei die mögliche "Grunderwerbsteuerersparnis" gewesen. Für die Glaubwürdigkeit der Zeugin H. spricht vor allem ihre wiederholte Bekundung, der Antragsteller habe bei dem Gespräch am 15. April 2009 eine Beurkundung der vereinbarten Grundschuld über 100.000 Euro abgelehnt und sie an einen anderen Notar verwiesen mit der Begründung, "wenn er eine Revision ins Haus bekäme, dann wäre er dran". Dass die in Notarangelegenheiten unerfahrene Zeugin H. eine solche Äußerung erfunden haben könnte, liegt fern, zumal auch der Zeuge H. in seiner Vernehmung vor dem Antragsgegner bestätigt hat, die im Kaufvertrag nicht beurkundete Restsumme von 100.000 Euro sollte "woanders beurkundet werden". Die Aussage der Zeugin H. findet eine objektive Bestätigung darin, dass der Zeuge M. zunächst mit der Beurkundung einer Grundschuld einverstanden war, bevor er am 9. Oktober 2008 den vereinbarten Notartermin "platzen" ließ. Ferner vor allem dadurch, dass der Zeuge M. auf anwaltliche Anforderung des "Restkaufpreises" von 100.000 Euro diesen Betrag unter Aufnahme eines Kredits am 25. März 2009 tatsächlich an die Zeugin H. zahlte. Einen auch nur annähernd plausiblen anderen Zweck für diese Zahlung konnte der Zeuge M. nicht darlegen.
3. Nach alledem handelte es sich bei dem beurkundeten Vorgang um ein Scheingeschäft nach § 117 BGB, das - wie dem Antragsteller bewusst war - unredlichen Zwecken diente. Seine persönliche Eignung zum Notar ist damit derzeit nicht gegeben, so dass seine Bewerbung nicht in das Auswahlverfahren gemäß § 6 Abs. 3 BNotO einzubeziehen war.
Galke Kessal-Wulf Appl
Bauer Brose-Preuß
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100060935&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060936
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BGH
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5. Zivilsenat
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20100325
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V ZA 9/10
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Beschluss
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§ 71 AsylVfG, § 50 Abs 1 AufenthG, § 58 Abs 2 S 2 AufenthG, § 62 Abs 2 S 4 AufenthG, § 62 Abs 3 S 1 AufenthG
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vorgehend LG München I, 17. Februar 2010, Az: 13 T 1494/10, Beschluss vorgehend AG München, 13. Januar 2010, Az: 872 XIV B 347/09
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DEU
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Abschiebehaftverfahren: Haftanordnung bei vollziehbarer Ausreisepflicht wegen unerlaubter Einreise trotz Asylfolgeantrags; Verlängerung der Haftdauer über drei Monate infolge verzögerter Passersatzbeschaffung
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Der Antrag des Betroffenen, ihm Verfahrenskostenhilfe für die Einlegung einer Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 13. Zivilkammer des Landgerichts München I vom 17. Februar 2010 zu bewilligen, wird zurückgewiesen.
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I.
Der Betroffene, dessen Asylantrag mit bestandskräftigem Bescheid vom 4. Dezember 2002 abgelehnt worden war, reiste ohne gültigen Reisepass und Aufenthaltstitel am 6. Oktober 2009 aus Italien kommend erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde in M. festgenommen. Zunächst wurde gegen ihn vom 6. bis zum 15. Oktober 2009 eine Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt. Auf den Antrag der Beteiligten zu 2 ordnete das Amtsgericht am 9. Oktober 2009 die Haft zur Sicherung der Abschiebung des Betroffenen längstens für die Dauer von drei Monaten an, zu vollstrecken im Anschluss an die Ersatzfreiheitsstrafe. Das hiergegen eingelegte Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.
Am 20. November 2009 stellte der Betroffene einen Asylfolgeantrag bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Auf Antrag der Beteiligten zu 2 verlängerte das Amtsgericht mit Beschluss vom 13. Januar 2010 die Sicherungshaft über den 16. Januar 2010 hinaus bis zum 16. April 2010 und ordnete die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung an. Mit der dagegen gerichteten sofortige Beschwerde hat der Betroffene die fehlende Beteiligung seines Verfahrensbevollmächtigten gerügt, ferner eingewandt, dass er keine unvollständigen oder unzutreffenden Angaben im Rahmen des Verfahrens zur Beschaffung der Passersatzpapiere gemacht habe, und schließlich die Möglichkeit der Durchführung der Abschiebung innerhalb der vorgesehenen Frist in Zweifel gezogen. Das Beschwerdegericht hat das Rechtsmittel nach mündlicher Anhörung des Betroffenen durch Beschluss vom 17. Februar 2010 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Sicherungshaft nur bis zum 15. April 2010 angeordnet wird. Für die beabsichtigte Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss beantragt der Betroffene die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung eines bei dem Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts.
II.
Das Beschwerdegericht meint, der von dem Betroffenen gestellte Asylfolgeantrag stehe nach § 71 Abs. 8 AsylVfG der Sicherungshaft nicht entgegen. Die Haftverlängerung sei auch zulässig, weil nach den Stellungnahmen der mit der Passersatzpapierbeschaffung befassten Stelle derzeit nicht feststehe, dass die Abschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer nicht durchgeführt werden könne. Der Betroffene habe zudem die Dauer des Verfahrens verschuldet. Eine Übersendung des in den indischen Amtssprachen abgefassten Formulars auf dem Postweg an ihn sei ausreichend gewesen. Dieses Formular habe der Betroffene jedoch erst am 24. November 2009 vervollständigt. Die Angaben zu seiner Herkunft seien nach wie vor widersprüchlich und müssten in Indien überprüft werden. Bei vollständigen und richtigen Angaben könne ein Heimreisedokument nach den Erkenntnissen der Ausländerbehörde innerhalb weniger Wochen ausgestellt werden. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei der Beteiligten zu 2 nicht anzulasten; unmittelbar nach Stellung des Haftantrags sei das Dokumentenbeschaffungsverfahren eingeleitet worden.
III.
Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe ist zurückzuweisen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aussichtslos erscheint (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO). Denn die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG, § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG statthafte Rechtsbeschwerde hätte keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Verlängerung der Sicherungshaft bis zum 15. April 2010 hielte rechtlicher Nachprüfung stand.
1. Das Beschwerdegericht nimmt ohne Rechtsfehler an, dass der Betroffene in Sicherungshaft genommen werden durfte, weil er aufgrund unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet vollziehbar ausreisepflichtig ist (§§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) und die Beteiligte zu 2 beabsichtigt, die Ausreisepflicht zwangsweise durchzusetzen.
a) Die Beteiligte zu 2 ist die für den Haftantrag zuständige Verwaltungsbehörde (§ 417 Abs. 1 FamFG).
b) Zu Recht hat das Beschwerdegericht den in § 62 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG genannten Haftgrund bejaht. Ergibt sich bei einer auf diese Vorschrift gestützten Haftanordnung die Ausreisepflicht weder aus einer bestandskräftigen Abschiebungs- bzw. Zurückschiebungsverfügung noch aus einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, muss der Haftrichter die erforderliche Prüfung der Voraussetzungen des Haftgrundes selbst vornehmen (Senat, Beschl. v. 16. Dezember 2009, V ZB 148/09, FGPrax 2010, 50). Das hat er getan; Rechtsfehler sind ihm dabei nicht unterlaufen.
aa) Im vorliegenden Fall fehlt es an einer Zurückschiebungs- bzw. Abschiebungsverfügung. Die Beteiligte zu 2 ist allerdings entschlossen, die gesetzliche Ausreisepflicht des Betroffenen zwangsweise durchzusetzen. Einer förmlichen Androhung der Durchsetzung oder eines Verwaltungsakts, durch den der Betroffene zum Verlassen des Bundesgebiets aufgefordert wird, bedarf es für die Anordnung der Abschiebungshaft indes nicht (OLG Hamm NVwZ 2003, Beilage Nr. I 4, 27; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 66. Aktual. November 2009, § 62 AufenthG Rdn. 39; Renner, aaO, § 62 AufenthG Rdn. 13).
bb) Rechtsfehlerfrei geht das Beschwerdegericht von einer unerlaubten Einreise des Betroffenen aus. Die Einreise eines Ausländers ist nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG dann unerlaubt, wenn er einen erforderlichen Pass oder Passersatz nach § 3 Abs. 1 AufenthG nicht besitzt. Diese Voraussetzung liegt vor. Der Asylfolgeantrag ändert nichts an der unerlaubten Einreise, weil der Betroffene ihn erst während der Inhaftierung gestellt hat.
cc) Ebenfalls zu Recht nimmt das Beschwerdegericht die - nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbare - Ausreisepflicht des Betroffenen an.
(1) Im Fall der unerlaubten Einreise hängt, wie sich aus § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ergibt, die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nicht von einem Verwaltungsakt ab, durch den der Ausländer ausreisepflichtig wird (vgl. OLG Hamm NVwZ 2003, Beilage Nr. I 4, 27). Nach § 50 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer bereits u.a. dann zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt.
(2) Der Asylfolgeantrag steht nach § 71 Abs. 8 AsylVfG der Haftanordnung nicht entgegen (vgl. BayObLG OLGR 2004, 238, 239; OLG München OLGR 2009, 601 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 66. Aktual. November 2009, § 62 AufenthG Rdn. 28, § 71 AsylVfG Rdn. 122; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 62 AufenthG Rdn. 14; § 71 AsylVfG Rdn. 51). Ob der Asylfolgeantrag eine Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und damit Aufenthaltsrecht zur Folge hat (ablehnend die h.M. VGH Mannheim VBlBW 1995, 327, 328; Hailbronner, aaO, § 71 AsylVfG Rdn. 97 f.; Marx, Asylverfahrensgesetz, 7. Aufl., § 71 Rdn. 425 f.; Bell/Henning, ZAR 1993, 37 f.; a.A. VG Schleswig EZAR 224 Nr. 24, S. 3; wohl auch VGH Mannheim InfAuslR 1993, 200, 201), kann deshalb offenbleiben.
2. Das Beschwerdegericht hat auch den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG aus zutreffenden Gründen bejaht. Einwendungen dagegen sind von dem Betroffenen auch nicht angekündigt.
3. Die Verlängerung der Sicherungshaft bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist (§ 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) hält schließlich auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit rechtlicher Nachprüfung stand.
a) Die Anordnung der Haft ist nicht nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG unzulässig, denn es steht nicht fest, dass aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.
aa) Der Haftrichter hat auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erforderliche Prognose grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können, zu erstrecken (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660). Hierzu sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können, erforderlich. Die Entscheidung ist im Rechtsbeschwerdeverfahren nur darauf zu prüfen, ob das Beschwerdegericht die der Prognose zugrunde liegenden Wertungsmaßstäbe erkannt und alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt und vollständig gewürdigt hat (vgl. BGH, Urt. v. 10. Mai 1994, XI ZR 212/93, NJW 1994, 2093, 2094;OLG München OLGR 2009, 714; Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 16. Aufl., § 72 Rdn. 18).
bb) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung gerecht. Die für die Beurteilung durch den Senat maßgebliche tatrichterliche Würdigung des Beschwerdegerichts (vgl. OLG München OLGR 2009, 714), es stehe nicht fest, dass die Abschiebung nicht binnen drei Monaten erfolgen könne, hält der auf Rechtsfehler beschränkten Prüfung stand. Das Beschwerdegericht hat zu der voraussichtlichen Dauer der Passersatzpapierbeschaffung den Verfahrensablauf dargestellt und die zeitnahen Angaben der mit der Beschaffung der Rückführungsdokumente in Indien befassten Ausländerbehörde berücksichtigt, wonach jedenfalls derzeit die Ausstellung der Heimreisepapiere bei vollständigen und zutreffenden Angaben des Betroffenen innerhalb weniger Wochen erfolgen könne (vgl. hierzu auch OLG Brandenburg, Beschl. v. 15. November 2007, 11 Wx 55/07, juris Rdn. 35), gerechnet ab dem für die Prognose maßgeblichen Zeitpunkt der Haftanordnung (vgl. OLG München OLGR 2005, 439, 440; OLG Düsseldorf InfAuslR 2008, 38, 39). Die Prognose hat auch noch angesichts des im Nachhinein gestellten Asylfolgeantrags Bestand, weil vorläufiger Rechtsschutz in jenem Verfahren nicht beantragt worden ist (vgl. hierzu BVerfG NVwZ 1996, Beilage Nr. 3, S. 17, 18).
b) Die Haft durfte über die Dreimonatsfrist (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG) hinaus verlängert werden. Die Regelung in § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG lässt allerdings erkennen, dass im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine Haftdauer von sechs Monaten (§ 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf. Daraus folgt, dass die Verlängerung einer zunächst in zulässiger Weise auf drei Monate befristeten Haftanordnung unzulässig ist, wenn die Abschiebung aus Gründen unterblieben ist, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind (Senat, BGHZ 133, 235, 237 f., zu § 57 AuslG). Diese Voraussetzung liegt hier jedoch nicht vor.
aa) Zu vertreten hat der Ausländer auch Gründe, die - von ihm zurechenbar veranlasst - dazu geführt haben, dass ein Abschiebungshindernis überhaupt erst entstanden ist (Senat, aaO, S. 238). Der Ausländer, der keine Ausweispapiere besitzt und der auch bei der Passersatzbeschaffung nicht mitwirkt, muss Verzögerungen hinnehmen, die dadurch entstehen, dass die Behörden seines Heimatstaates um die Feststellung seiner Identität und die Erteilung eines Passersatzpapiers ersucht werden müssen (OLG München OLGR 2009, 714, 715). So liegt es hier. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts verfügt der Betroffene über keine Identitätspapiere; er hat das Formular zur Beschaffung der Rückführungspapiere zunächst unvollständig ausgefüllt. Die Vervollständigung im Rahmen der Anhörung am 24. November 2009 hat sich als bedingt tauglich erwiesen, weil die Angaben zu seinem Nationalpass, wie sich erst anlässlich der Vorführung bei dem indischen Generalkonsulat ergeben hat, unzutreffend waren. Zudem hat der Betroffene fortwährend unterschiedliche Angaben zu seiner Herkunft gemacht. Damit ist eine Überprüfung durch die Behörden in Indien erforderlich. Hätte der Betroffene von vornherein vollständige und zutreffende Angaben gemacht, wären die Heimreisedokumente innerhalb weniger Wochen ausgestellt worden.
bb) Gegen diese Feststellungen des Beschwerdegerichts wendet sich der Betroffene nicht, sondern macht zur Begründung seines Verfahrenskostenhilfeantrags lediglich geltend, dass ihm ein Verstoß gegen seine Mitwirkungspflicht nicht anzulasten sei, weil die Ausländerbehörde unter Hinzuziehung eines Dolmetschers für das Ausfüllen des Formulars habe sorgen müssen. Das würde der Rechtsbeschwerde indessen nicht zum Erfolg verhelfen. Der Ausländer hat an der Beschaffung der Passersatzpapiere mitzuwirken. Insbesondere ist es nach § 3 AufenthG eine Obliegenheit des Ausländers, im Besitz eines gültigen Passes zu sein; grundsätzlich muss er sich daher eigenständig um die Beschaffung von Identitätspapieren aus seinem Heimatland bemühen (OVG Münster InfAuslR 2006, 322). Daher ist die bloße Übersendung von Formularen entgegen der Auffassung des Betroffenen nicht verfahrensfehlerhaft, wenn sie - wie hier - in der Sprache des Betroffenen verfasst sind. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Ausländerbehörde zunächst auf eine persönliche Befragung unter Hinzuziehung eines Dolmetschers verzichtet, solange kein Anlass zu Zweifeln an der Fähigkeit des Ausländers besteht, das Formular ordnungsgemäß auszufüllen.
cc) Ein Verstoß der Beteiligten zu 2 gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (vgl. BVerfGE 20, 45, 49 f.; 46, 194, 195) liegt nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht vor. Schon wenn vorhersehbar ist, dass die Abschiebung erforderlich wird, muss die Behörde allerdings alle notwendigen Anstrengungen unternehmen, um die erforderlichen Papiere zu beschaffen, damit der Vollzug der Haft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (Senat, BGHZ 133, 235, 239; OLG Celle InfAuslR 2004, 118; OLG Düsseldorf InfAuslR 2008, 38, 39; OLG Schleswig InfAuslR 2004, 167; Hailbronner, aaO, § 62 AufenthG Rdn. 33). Hier hat die Beteiligte zu 2 unmittelbar nach dem Antrag auf Anordnung der Sicherungshaft, der noch während der Vollstreckung der Ersatzfreiheitstrafe gestellt worden ist, das Passersatzpapierbeschaffungsverfahren eingeleitet und dem Betroffenen das Formular für die Beschaffung der zur Rückführung notwendigen Papiere übermittelt. Da die Ausländerbehörde grundsätzlich keine Möglichkeit hat, auf die Terminplanung der ausländischen Vertretung Einfluss zu nehmen, ist ihr nicht anzulasten, dass der Vorführungstermin dort erst am 15. Dezember 2009 stattgefunden hat (vgl. OLG Schleswig, NVwZ-RR 2005, 858, 859).
4. Dass der Verfahrensbevollmächtigte in dem erstinstanzlichen Verfahren über die Verlängerung der Abschiebungshaft nicht beteiligt worden ist, führte ebenfalls nicht zur Unzulässigkeit der angefochtenen Entscheidung. Denn der Betroffene muss eine - hier erfolgte - im Beschwerdeverfahren herbeigeführte Heilung von Verfahrensmängeln hinnehmen (vgl. Senat, Beschl. v. 8. März 2007, V ZB 149/06, NJW-RR 2007, 1569, 1570; Keidel/Budde, aaO, § 62 Rdn. 22). Das Verfahrensergebnis ist für ihn kein anderes, als wenn bereits das Amtsgericht das Verfahren fehlerfrei durchgeführt hätte (vgl. Keidel/Budde, aaO, § 62 Rdn. 23).
Krüger Klein Lemke
Schmidt-Räntsch Roth
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100060936&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060937
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BGH
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5. Zivilsenat
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20100311
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V ZB 175/09
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Beschluss
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§ 10 Abs 1 Nr 3 ZVG, § 12 Abs 1 Nr 5 Buchst b KAG NW, § 12 Abs 3 KAG NW
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vorgehend LG Bonn, 6. Oktober 2009, Az: 6 T 103/09, Beschluss vorgehend AG Waldbröl, 27. März 2009, Az: 2 K 28/09, Beschluss
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DEU
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Zwangsversteigerung: Vorrangige Befriedigung von Säumniszuschlägen auf Beitragsrückstände der Gemeinde
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Auf die Rechtsmittel der Gläubigerin werden der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bonn vom 6. Oktober 2009 aufgehoben und der Beschluss des Amtsgerichts Waldbröl vom 27. März 2009 abgeändert, soweit zum Nachteil der Gläubigerin entschieden worden ist.
An die Stelle der Anordnung der Zwangsversteigerung des im Rubrum bezeichneten Grundstücks wegen eines persönlichen Anspruchs in Rangklasse 5 tritt die Anordnung der Zwangsversteigerung wegen eines weiteren dinglichen Anspruchs der Gläubigerin auf Säumniszuschläge zu dem Kanalanschlussbeitrag, berechnet bis zum 14.04.2009 in Höhe von 556,00 €, zuzüglich weiterer Säumniszuschläge ab 15.04.2009 i.H.v. 1% von 400,00 € und eines weiteren dinglichen Anspruchs der Gläubigerin auf Säumniszuschläge zu dem Wasseranschlussbeitrag berechnet bis zum 16.04.2009 in Höhe von 88,00 €, zuzüglich weiterer Säumniszuschläge ab 17.04.2009 i.H.v. 1% von 400,00 € (Wasseranschlussbeitrag) in der Rangklasse 3.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 644 €.
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I.
Der Schuldner ist Eigentümer des im Rubrum bezeichneten Grundstücks. Die Gläubigerin, die Gemeinde, in der das Grundstück belegen ist, hat die Zwangsversteigerung des Grundstücks wegen eines dinglichen Anspruchs auf Kanal- und Wasseranschlussbeiträge, Stundungszinsen und Säumniszuschlägen hierauf in der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG beantragt. Das Amtsgericht hat dem Antrag wegen der Beiträge und der Stundungszinsen stattgegeben, wegen der von der Gläubigerin mit demselben Rang geltend gemachten Säumniszuschläge jedoch nur wegen persönlicher Ansprüche in der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 5 ZVG. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Gläubigerin ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde erstrebt die Gläubigerin die Anordnung der Zwangsversteigerung des Grundstücks auch wegen der Säumniszuschläge in der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG.
II.
Das Beschwerdegericht meint, das Vollstreckungsgericht habe die Zwangsversteigerung wegen der von dem Schuldner verlangten Säumniszuschläge zutreffend nur in der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 5 ZVG angeordnet. Zu der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG gehörten nur Geldleistungen, die auf dem Grundstück des Schuldners als dingliche Last ruhten. Daran fehle es bei den Säumniszuschlägen. Durch diese Zuschläge solle Druck auf den Eigentümer ausgeübt werden, seine Beitragsschuld zu erfüllen. Eine Haftung des Grundstücks hierfür sei Art. 1 Nr. 2 NRW-AGZVG, § 240 AO, § 12 Abs. 1 Nr. 5 Buchst b, Abs. 3 NRW-KAG nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit zu entnehmen.
III.
Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Die von der Gläubigerin geltend gemachten Säumniszuschläge sind innerhalb der zeitlichen Grenze von zwei Jahren der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG zuzuordnen. Das hat der Senat, ohne auf die Frage näher einzugehen, im Beschluss vom 24. Januar 2008, V ZB 118/07, NJW 2008, 1445, 1446 Rdn. 9, ausgesprochen. Hieran ist festzuhalten.
Die Frage, ob den wegen ausstehender Beitragsschulden zu zahlenden Säumniszuschlägen in der Zwangsversteigerung das Vorrecht des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG zukommt, wird in der juristischen Literatur unterschiedlich beantwortet (bejahend Stöber, ZVG, 19. Aufl., § 10 Rdn. 6.16; Böttcher, ZVG, 4. Aufl., § 10 Rdn. 37; Hintzen in Hintzen/Wolf, Zwangsvollstreckung, Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung 2006 Rdn. 11.99; Steiner/Hagemann, ZVG, 9. Aufl., § 10 Rdn. 90; verneinend Rellermeyer in Hintzen/Engels/Rellermeyer, ZVG, 13. Aufl., § 10 Rdn. 44; Drischler, Rpfleger 1984, 340, 341; Gaßner, RpflegerJB 1989, 224, 229 f; Sievers, Rpfleger 2006, 522, 523). Erstere Ansicht überzeugt.
1. Die Hauptforderungen, derentwegen die Gläubigerin die Zwangsversteigerung des Grundstücks betreibt, gehören zu der Rangklasse des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG. Nach dieser Vorschrift sind Ansprüche auf die Entrichtung der öffentlichen Lasten eines Grundstücks wegen der aus den letzten vier Jahren rückständigen Beträge vorrangig zu befriedigen. Da § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG den Begriff der öffentlichen Grundstückslast nicht näher definiert, ist für die Beurteilung, ob einer Abgabenverpflichtung diese Eigenschaft innewohnt, auf ihre Rechtsgrundlage abzustellen (BGH, Urt. v. 30. Juni 1988, IX ZR 141/87, NJW 1989, 107, 108). Dabei muss aus Gründen der Klarheit und Rechtssicherheit aus der gesetzlichen Regelung eindeutig hervorgehen, dass die Abgabenverpflichtung auf dem Grundstück lastet und dass mithin nicht nur eine persönliche Haftung des Abgabenschuldners, sondern auch eine dingliche Haftung des Grundstücks besteht (Senat, Urt. v. 22. Mai 1981, V ZR 69/80, WM 1981, 910, 911).
a) So verhält es sich nicht nur mit Beiträgen zur Deckung des Aufwands für die Herstellung, Anschaffung, Erweiterung, Verbesserung und Erneuerung öffentlicher leitungsgebundener Einrichtungen und den Anschluss an diese. Die insoweit verfolgten Beitragsforderungen finden ihre Rechtsgrundlage in den Gebührenbescheiden der Gläubigerin, die auf deren einschlägigen Satzungen beruhen. Diese gehen auf §§ 8, 10 NRW-KAG zurück. Nach § 8 Abs. 9 NRW-KAG ruhen die seitens der Gemeinden in Nordrhein-Westfalen von den Grundstückseigentümern für die Schaffung und den Anschluss von deren Grundstücken an das öffentliche Leitungsnetz geschuldeten Beiträge als öffentliche Last auf dem Grundstück. Der Last kommt das in § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG bestimmte Vorrecht zugute.
b) Das Vorrecht wird durch § 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz ZVG auf wiederkehrende Leistungen, insbesondere Grundsteuern, Zinsen, Zuschläge oder Rentenleistungen erstreckt. Zu diesen gehören die gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b, Abs. 3 NRW-KAG von der Gläubigerin verlangten Säumniszuschläge. Das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
§ 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG sah in seiner ursprünglichen Fassung vom 20. Mai 1898 (RGBl. I S. 713) einen Vorrang nur für Ansprüche auf Entrichtung der öffentlichen Lasten des Grundstücks wegen der laufenden und der aus den letzten zwei Jahren rückständigen Beträge vor. Durch die Verordnung über die Behandlung wiederkehrender Leistungen bei der Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen vom 31. März 1936 (RGBl. I S. 363) wurde der Vorrang auf wiederkehrende Leistungen erstreckt, die zur allmählichen Tilgung der Hauptschuld als Zuschlag zu den Zinsen zu entrichten sind. Das Gesetz über die Zahlung und Sicherung von Anliegerbeiträgen vom 30. September 1936 (RGBl. I S. 854) stellte durch § 2 sodann Rentenleistungen in der Zwangsversteigerung wiederkehrenden Leistungen gleich. Durch die Verordnung über das Rangverhältnis der öffentlichen Grundstückslasten bei der Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung von Grundstücken vom 4. April 1938 (RGBl. I S. 364) wurde schließlich den öffentlichen Grundstückslasten, gleichviel ob sie auf Reichs- oder Landesrecht beruhten, derselbe Rang gewährt.
Diese Bestimmungen wurden durch das Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiet der Zwangsvollstreckung vom 20. August 1953 (BGBl. I S. 952, 959) in § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG eingegliedert (BT-Drucks. 3/3668 S. 13 f). Über die zitierten Regelungen hinaus statuiert der im Rahmen dieses Gesetzesvorhabens weitergehend geänderte § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG das Vorrecht für wiederkehrende Leistungen wie Zinsen und Zuschläge (BGH, Urt. v. 19. November 2009, IX ZR 24/09, BWGZ 2010, 165). Die Bestimmung entspricht durch die Einbeziehung von Zuschlägen inhaltlich § 5 des Steuersäumnisgesetzes vom 24. Dezember 1934 (RGBl. I S. 1271), durch den das einem Steuerbetrag in der Zwangsvollstreckung zukommende Vorrecht auf Säumniszuschläge ausgedehnt wurde.
2. Dem steht nicht entgegen, dass Säumniszuschläge für sich genommen keine Grundstückslast bedeuten, sondern ein Druckmittel eigener Art bilden, das den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll (BFHE 110, 318, 321). Daraus folgt nicht, dass Zuschläge von dem Vorrang des § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG ausgenommen wären. Denn die Vorschrift stattet nach ihrem Wortlaut in Anlehnung an das Steuersäumnisgesetz vom 24. Dezember 1934 neben der auf dem Grundstück lastenden Hauptforderung Nebenleistungen in Gestalt eines Zuschlags ausdrücklich mit dem Vorrang aus (BGH, Urt. v. 19. November 2009, IX ZR 24/09, aaO; ferner LG Ansbach Rpfleger 1999, 141).
Dem Bundesgesetzgeber steht es frei zu bestimmen, welche öffentlichen Forderungen Vorzug genießen sollen und in diesem Rahmen Nebenleistungen in der Zwangsversteigerung denselben Rang wie die Hauptleistung zuzuweisen (vgl. Gaßner, aaO, S. 227). Von dieser Befugnis hat er bei der Ausgestaltung von § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG hinsichtlich Zuschlägen Gebrauch gemacht und diese generalisierend der Hauptforderung gleich gesetzt. Im Unterschied zu der früheren, das Konkursvorrecht auf die Abgabenforderung ohne Zuschläge beschränkenden Regelung von § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO (vgl. BFH ZIP 1983, 840, 841) erstreckt § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG den Vorrang der Hauptforderung nach seinem ausdrücklichen Wortlaut auf Zuschläge aller Art. Das ermöglicht es wiederum, davon abzusehen, in den jeweils einschlägigen Bundes- und Landesgesetzen Nebenleistungen wie Zuschläge ausdrücklich als öffentliche Last zu qualifizieren (BGH, Urt. v. 19. November 2009, IX ZR 24/09, aaO).
IV.
Für eine Kostenentscheidung besteht in Zwangsversteigerungssachen grundsätzlich kein Anlass (st. Rechtspr., vgl. Senat, Beschl. v. 21. September 2006, V ZB 76/06, WM 2006, 2266, 2267; Beschl. v. 21. Februar 2008, V ZB 123/07, NJW 2008, 1383, 1384).
Krüger Klein Schmidt-Räntsch
Stresemann Czub
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100060939
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BGH
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8. Zivilsenat
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20100223
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VIII ZR 199/09
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Beschluss
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§ 535 BGB, § 522a ZPO, § 543 ZPO, § 20 Abs 1 S 3 NMV 1970 vom 05.04.1984, § 27 Abs 1 S 2 Anl 3 BVO 2
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vorgehend LG Itzehoe, 2. Juli 2009, Az: 9 S 112/08 vorgehend AG Pinneberg, 25. September 2008, Az: 69 C 55/08
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DEU
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Wohnraummiete: Stillschweigende Änderung der Mietstruktur; Anforderungen des Transparenzgebots
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Der Senat beabsichtigt, die Revision, soweit sie zulässig ist, durch einstimmigen Beschluss nach § 552a ZPO zurückzuweisen und sie im Übrigen zu verwerfen.
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1. Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor. Das Berufungsgericht hat die Revision zur Klärung der von ihm als grundsätzlich angesehenen Frage zugelassen, welche Indizien die Annahme einer konkludenten Änderung der Mietstruktur gestatten. Diese Erwägung trägt indessen weder den vom Berufungsgericht genannten Zulassungsgrund noch liegt einer der weiteren im Gesetz genannten Zulassungsgründe vor. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine stillschweigende Änderung der Mietstruktur anzunehmen ist, entzieht sich allgemeiner Betrachtung und ist vom Tatrichter unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.
2. Die Revision hat auch keine Aussicht auf Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Klägerin ein Anspruch auf Nachzahlung von Betriebskosten für das Jahr 2006 gemäß der Abrechnung vom 24. September 2007 zusteht.
a) Der Beklagte schuldet nicht lediglich eine Teilinklusivmiete, sondern ist zur Zahlung von Betriebskosten nach der Anlage 3 zu § 27 II. BV neben der Miete verpflichtet. Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Parteien in § 4 des Mietvertrags vereinbart haben, dass die - zunächst in der Miete enthaltenen - Betriebskosten nach § 27 II. BV bis spätestens zum Ende des Jahres 1986 von der Klägerin aus der Miete ausgegliedert und durch Umlage erhoben werden; eine Ausgliederung hat die Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts auch in dem dafür vorgesehenen Zeitraum vorgenommen.
Der Einwand der Revision, die Vertragsbestimmung enthalte keine Regelung, sondern nur eine unverbindliche Information, ist nicht berechtigt. Entgegen der Auffassung der Revision lässt sich aus dem Umstand, dass die Klägerin auch zu einer einseitigen Umstellung der Mietstruktur befugt gewesen wäre, nicht entnehmen, dass es sich bei § 4 des Mietvertrags nur um eine unverbindliche Information handelte; im Gegenteil ergibt sich aus der Überschrift zu § 4 des Mietvertrags ("Zusätzliche Vereinbarungen"), dass es sich um eine vertragliche Regelung handelt. Die Auslegung der Formularklausel durch das Berufungsgericht ist daher auch für den Fall, dass sie unbeschränkter Nachprüfung durch den Senat unterliegen sollte, nicht zu beanstanden.
Auch der weitere Einwand der Revision, die vertraglich vereinbarte Umstellung der Mietstruktur sei deshalb unwirksam, weil dem Transparenzgebot des § 20 Abs. 1 Satz 3 NMV in der ab 1. Mai 1984 geltenden Fassung nicht genügt sei, ist nicht begründet. Zwar muss der Mieter ersehen können, welche Betriebskosten auf ihn zukommen und welche Belastungen damit ungefähr für ihn verbunden sind. Nach der Rechtsprechung des Senats genügt es aber, dass der Umfang der umzulegenden Betriebskosten durch die Bezugnahme auf die Anlage 3 zu § 27 II. BV umschrieben und die Höhe der ungefähr zu erwartenden Kosten durch den Gesamtbetrag der geforderten Vorauszahlungen mitgeteilt wird (Senatsurteil vom 13. Januar 2010 - VIII ZR 137/09, juris, Tz. 19). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die vom Beklagten zu tragenden Betriebskosten sind durch die Bezugnahme auf § 27 II. BV im Mietvertrag bestimmt. Die Höhe der Vorauszahlungen hat die Klägerin mit der noch im Jahr 1986 vorgenommenen Umstellung mitgeteilt. Einer Aufschlüsselung der Vorauszahlungen auf die einzelnen Betriebskosten bedurfte es nicht (vgl. Senatsurteil vom 13. Januar 2010, aaO).
b) Soweit sich die Revision gegen die in der Betriebskostenabrechnung der Klägerin enthaltene Kostenposition "Wasserkosten" richtet, ist das Rechtsmittel unzulässig. Das Berufungsgericht hat die Revision nur beschränkt - auf den Grund des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs auf Zahlung von Betriebskosten - zugelassen. Das ergibt sich zwar nicht aus dem Tenor, wohl aber, was nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ausreicht (BGHZ 153, 358, 360 f.; Senatsurteile vom 15. Juli 2009 - VIII ZR 340/08, WuM 2009, 516, Tz. 13, sowie vom 16. September 2009 - VIII ZR 243/08, NJW 2010, 148, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, Tz. 11), aus den Gründen des Urteils.
Das Berufungsgericht hat die Revision wegen der von ihm als klärungsbedürftig angesehen Frage der Voraussetzungen einer stillschweigenden Änderung der Mietstruktur zugelassen. Dies betrifft nur den Anspruchsgrund. Eine Beschränkung der Revisionszulassung auf den Anspruchsgrund ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs möglich (Senatsurteile vom 30. Juni 1982 - VIII ZR 259/81, NJW 1982, 2380, unter II 2, sowie vom 16. September 2009, aaO, Tz. 11; BGH, Urteil vom 13. Juli 2004 - VI ZR 273/03, NJW 2004, 3176, unter II 1) und daher wirksam.
Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses.
Ball Dr. Frellesen Dr. Milger
Dr. Fetzer Dr. Bünger
Hinweis:
Das Revisionsverfahren ist durch Rücknahme erledigt worden.
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100061265
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BGH
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1. Strafsenat
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20100414
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1 StR 105/10
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Beschluss
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§ 370 Abs 1 Nr 2 AO, § 1 Abs 1 Nr 1 UStG, § 16 Abs 1 UStG, § 18 Abs 1 UStG, § 18 Abs 2 UStG
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vorgehend LG Frankfurt, 6. Oktober 2009, Az: 5/29 KLs 5/09 - 7810 Js 221980/08, Urteil
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DEU
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Steuerhinterziehung durch pflichtwidriges Unterlassen: Verantwortlichkeit des formellen Geschäftsführers der GmbH
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 6. Oktober 2009 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
Entgegen der Auffassung der Revision hat das Landgericht den Angeklagten rechtsfehlerfrei wegen täterschaftlicher Steuerhinterziehung und nicht nur wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung des faktischen Geschäftsführers verurteilt. Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 4. März 2010 zutreffend ausgeführt:
„Eine Steuerhinterziehung im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, wie sie dem Angeklagten zur Last gelegt wird, setzt ein pflichtwidriges Unterlassen voraus. Täter einer solchen Tat kann nur sein, wer zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen besonders verpflichtet ist. Dem Angeklagten oblagen als formellem Geschäftsführer der GmbH nach den geltenden Steuergesetzen die Steuererklärungspflichten, wie aus § 34 AO zu entnehmen ist. Der Geschäftsführer hat als gesetzlicher Vertreter für die Erfüllung aller Pflichten Sorge zu tragen, welche die von ihm vertretene juristische Person treffen, also auch die zur Entrichtung der angefallenen Steuern und zur Abgabe der Erklärung gegenüber den Steuerbehörden (hier § 18 Abs. 1 und 2 UStG).“ Auch wenn er nach seiner „Stellung in dem Unternehmen eher eine Randfigur war und er lediglich als Strohmann fungierte (UA S. 5 und 6), war der Beschwerdeführer als formeller Geschäftsführer für die Erfüllung der steuerlichen Erklärungspflichten verantwortlich und hat damit in eigener Person die Tatbestände der Umsatzsteuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in Verbindung mit §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 16 Abs. 1, 18 Abs. 1 und 2 UStG) verwirklicht.“
Den Umstand, dass der Angeklagte weder Drahtzieher noch wirtschaftlicher Nutznießer der Umsatzsteuerhinterziehungen war, sondern nur eine untergeordnete Rolle spielte, hat das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung ausreichend berücksichtigt.
Nack Hebenstreit Graf
Jäger Sander
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100061267
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BGH
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2. Strafsenat
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20100407
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2 StR 51/10
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Beschluss
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§ 24 Abs 1 S 1 StGB, § 46 Abs 1 S 1 StGB, § 211 StGB, § 212 StGB, § 224 StGB
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vorgehend LG Köln, 2. Oktober 2009, Az: 105a Ks 1/09 - 91 Js 41/09, Urteil
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DEU
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Strafzumessung bei strafbefreiendem Rücktritt vom Tötungsversuch bei Verurteilung wegen vollendeter Körperverletzung
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1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 2. Oktober 2009 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Die Kosten der Wiedereinsetzung hat der Angeklagte zu tragen.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil im gesamten Rechtsfolgenausspruch aufgehoben; die Einziehungsanordnung entfällt. Im Übrigen wird die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und das zur Tat verwandte Küchenmesser eingezogen. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel erweist sich - nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist - zum Schuldspruch als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Rechtsfolgenausspruch hat jedoch keinen Bestand.
1. Die Strafkammer hat angenommen, dass der Angeklagte, der seinem Opfer mehrere Messerstiche in den Oberkörper versetzt hatte, vom Tötungsversuch strafbefreiend zurückgetreten ist. Gleichwohl hat sie sowohl im Rahmen der Verneinung eines minder schweren Falles des § 224 StGB als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinne für den Angeklagten nachteilig berücksichtigt, dass dieser mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt habe.
2. Diese Erwägung ist rechtsfehlerhaft. Das Rücktrittsprivileg bewirkt, dass der auf die versuchte Straftat gerichtete Vorsatz sowie ausschließlich darauf bezogene Tatbestandsverwirklichungen nicht strafschärfend berücksichtigt werden dürfen (vgl. BGHSt 42, 43; BGH StV 2003, 218 m.w.N.). Es ist nicht auszuschließen, dass sich der darin liegende Rechtsfehler auf die Höhe der verhängten Strafe ausgewirkt hat. Der Aufhebung von Feststellungen zur Strafe bedarf es nicht. Der neue Tatrichter hat lediglich eine neue Bewertung vorzunehmen. Ergänzende, nicht widersprechende Feststellungen zum Strafausspruch sind möglich.
3. Die Einziehungsanordnung war aufzuheben. Die Voraussetzungen gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 1 StGB sind nicht erfüllt. Bei dem Tatmesser handelt es sich um ein aus dem Haushalt des Bruders und der Schwägerin des Angeklagten stammendes - diesem also nicht gehörendes - gewöhnliches Küchenmesser.
4. Nach Wegfall des die Zuständigkeit des Schwurgerichts begründenden Tatvorwurfs des versuchten Totschlags verweist der Senat die Sache entsprechend § 354 Abs. 3 StPO an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück.
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Schmitt
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061268
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BGH
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2. Strafsenat
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20100331
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2 StR 31/10
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Beschluss
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§ 257c StPO, § 273 Abs 1a S 3 StPO, § 274 S 1 StPO, § 274 S 2 StPO
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vorgehend LG Hanau, 19. November 2009, Az: 3800 Js 4663/09, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Vermerk im Sitzungsprotokoll über das Fehlen einer Verständigung
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1. Der Beschluss des Landgerichts Hanau vom 7. Dezember 2009, mit dem die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hanau vom 19. November 2009 als unzulässig verworfen worden ist, wird aufgehoben.
2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil und sein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist werden als unzulässig verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Eine Verständigung gemäß § 257 c StPO hat ausweislich des Protokolls nicht stattgefunden; der Angeklagte hat im Anschluss an die Urteilsverkündung nach Rücksprache mit seinem Verteidiger auf Rechtsmittel verzichtet. Seine verspätet eingelegte Revision hat das Landgericht - unabhängig von dem erklärten Rechtsmittelverzicht - gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen. Mit der Behauptung, eine Verständigung habe stattgefunden, weshalb ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen sei und eine Belehrung nach § 35 a Satz 3 StPO hätte erfolgen müssen, beantragt der Angeklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist. Dieser Antrag und seine Revision bleiben ohne Erfolg.
Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift vom 26. Januar 2010 zutreffend ausgeführt:
"1. Die Revision ist unzulässig, weil der in der Sitzung vom 19. November 2009 erklärte Rechtsmittelverzicht ungeachtet der Regelung in § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO wirksam ist. Soweit der Verteidiger behauptet, dem Urteil liege eine Verständigung zu Grunde, ist nämlich durch die Sitzungsniederschrift vom 19. November 2009 das Gegenteil bewiesen (GA II Bl. 439). Der nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO zwingend vorgeschriebene Vermerk, dass eine Verständigung (nach § 257c StPO) nicht stattgefunden hat, gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO (zur revisionsrechtlichen Bedeutung des 'Negativattests' gemäß § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO siehe den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD für ein Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren - BT-Drs. 16/11736; S. 13); gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig (§ 274 Satz 2 StPO), der hier nicht angetreten, geschweige denn geführt ist. Mangels Verständigung war eine Belehrung nach § 35a Satz 3 StPO nicht veranlasst.
2. Aus der Unzulässigkeit der Revision folgt die Unzulässigkeit des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zu ihrer Einlegung.
3. Auf den gemäß § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO zulässigen Antrag des Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts unterliegt der Beschluss des Landgerichts vom 7. Dezember 2009 der Aufhebung, da die Kammer zur Verwerfung der Revision als unzulässig nicht befugt war. Ist die Revision bereits wegen eines Rechtsmittelverzichts unzulässig, ist kein Raum für eine Entscheidung des Tatrichters, denn dessen Verwerfungskompetenz ist gemäß § 346 Abs. 1 StPO auf Fälle beschränkt, in denen die Unzulässigkeit ausschließlich daraus folgt, dass die Revision verspätet eingelegt ist oder die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht in der in § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form angebracht worden sind; dies gilt wegen der vorrangig zu prüfenden Frage, ob der Rechtsmittelverzicht wirksam ist, auch dann, wenn der Verzicht mit einem solchen Form- oder Fristmangel zusammentrifft (Kuckein in KK-StPO 6. Aufl. § 346 Rn. 3 mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung)."
Dem schließt sich der Senat an.
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JURE100061269
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BGH
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3. Strafsenat
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20100112
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3 StR 519/09
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Beschluss
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§ 244 Abs 3 S 2 StPO
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vorgehend LG Flensburg, 26. Juni 2009, Az: II KLs 11/08 - 109 Js 2451/08, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Ablehnung von Beweisanträgen wegen Ungeeignetheit bzw. Bedeutungslosigkeit; Prüfung des Beruhens des Urteils auf der fehlerhaft begründeten Ablehnung im Revisionsverfahren
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Flensburg vom 26. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gemäß § 232 Abs. 1 Satz 2 StGB in Tateinheit mit Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gemäß § 232 Abs. 4 Ziffer 1 StGB und in Tateinheit mit Zuhälterei sowie wegen gefährlicher Körperverletzung und Vergewaltigung" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und eine Entscheidung im Adhäsionsverfahren getroffen. Die hiergegen gerichtete Revision rügt mit Erfolg die fehlerhafte Behandlung von Beweisanträgen.
Nach den Feststellungen des Landgerichts brachte der Angeklagte die damals 20jährige Nebenklägerin mit Schlägen und der Drohung, sie ansonsten den Hells Angels zu übergeben, zur Aufnahme der Prostitution. Er bestimmte sodann Zeit, Ort und Ausmaß der Tätigkeit. In einem Fall erzwang er den Analverkehr mit dem Opfer, bei anderer Gelegenheit schlug und trat er die Nebenklägerin und würgte sie bis zur einsetzenden Bewusstlosigkeit.
Der Angeklagte hat die Vorwürfe lediglich in seinem letzten Wort pauschal bestritten, im Übrigen hat er zu ihnen geschwiegen. Das Landgericht hat sich seine Überzeugung "insbesondere" aufgrund "der glaubhaften Aussage der Nebenklägerin" verschafft.
Das Urteil muss aufgehoben werden, weil das Landgericht mehrere Beweisanträge mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt hat und der Senat nicht ausschließen kann, dass das Urteil auf diesen Fehlern beruht.
1. Die Verteidigung hatte die Vernehmung eines Arztes und seiner Ehefrau als Zeugen zu der Tatsache beantragt, dass die Nebenklägerin zumindest im Sommer/Frühherbst 2007 keinerlei sichtbare Verletzungen an den Armen, Schultern oder im Gesichtsbereich hatte. Sie hatte dazu ausgeführt, die Nebenklägerin und der Angeklagte hätten in diesem Zeitraum im Haus der Zeugen in deren Anwesenheit gearbeitet und bei Tätigkeiten im Garten auch nur spärliche Kleidung getragen. Hintergrund des Antrags war die Behauptung der Nebenklägerin, vom Angeklagten im Jahr 2007 häufig geschlagen worden zu sein und am ganzen Körper Hämatome davongetragen zu haben. Das Landgericht hat den Antrag abgelehnt, "da die Vernehmung der Zeugen völlig ungeeignet" sei, "die Angaben der Nebenklägerin zu durch Einwirkung des Angeklagten erlittenen Hämatomen zu widerlegen. Selbst wenn die Zeugen bei der Nebenklägerin keine Hämatome bemerkt haben sollten, wäre das nicht einmal ein Indiz dafür, dass tatsächlich keine vorhanden waren."
Dies findet in § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO keine Stütze. Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit der Beweiserhebung ist dort nicht vorgesehen. Sollte das Landgericht gemeint haben, die benannten Beweismittel seien ungeeignet, wäre auch dies hier rechtsfehlerhaft.Zwar kann ein Beweisbegehren, das sich auf ein völlig ungeeignetes Beweismittel stützt, nach § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt werden. Dabei muss es sich aber um ein Beweismittel handeln, dessen Inanspruchnahme von vornherein gänzlich aussichtslos wäre, so dass sich die Erhebung des Beweises in einer reinen Förmlichkeit erschöpfen müsste (vgl. BGH StV 1997, 338, 339). Der ablehnende Beschluss bedarf einer Begründung, die ohne jede Verkürzung oder sinnverfehlende Interpretation der Beweisthematik alle tatsächlichen Umstände dartun muss, aus denen das Gericht auf die völlige Wertlosigkeit des angebotenen Beweismittels schließt. Hieran fehlt es. Für die völlige Ungeeignetheit der benannten Zeugen ist auch sonst nichts erkennbar.
Sofern das Landgericht zuletzt den Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache vor Augen gehabt haben sollte, hielte die Entscheidung ebenfalls rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Tatrichter darf eine Tatsache nur dann als (aus tatsächlichen Gründen) bedeutungslos ansehen, wenn zwischen ihr und dem Gegenstand der Urteilsfindung keinerlei Sachzusammenhang besteht oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen kann, weil sie nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse zulässt, und das Gericht den möglichen Schluss nicht ziehen will. Dies ist vom Tatrichter in freier Beweiswürdigung auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses zu beurteilen. Allerdings darf das Gericht dabei die unter Beweis gestellte Tatsache nicht in Zweifel ziehen oder Abstriche an ihr vornehmen; es hat diese vielmehr so, als sei sie voll erwiesen, seiner antizipierenden Würdigung zu Grunde zu legen (BGH StV 2008, 288 m. w. N.). Danach hätte das Landgericht der in das Wissen der Zeugen gestellten Tatsache den Charakter eines den Angeklagten entlastenden Indizes nicht schlechthin absprechen dürfen, sondern darlegen müssen, aus welchen Gründen es in Ansehung des bisherigen Beweisergebnisses der Tatsache keine Bedeutung für die Erschütterung seiner bisherigen Überzeugung (von der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin) beizumessen vermochte. Auch hieran fehlt es.
2. Mit demselben Ziel hatte die Verteidigung die zeugenschaftliche Vernehmung eines Polizeibeamten beantragt zum Beweis der Tatsache, dass die Nebenklägerin auch in dessen Haushalt im Sommer 2007 zusammen mit dem Angeklagten gearbeitet hatte und dem Zeugen trotz luftiger Kleidung keine Verletzungsspuren an der Nebenklägerin aufgefallen waren. Diesen Antrag hat das Landgericht abgelehnt, "da das Beweismittel völlig ungeeignet ist, die Angaben der Nebenklägerin zu widerlegen" und sich im Übrigen auf die Ablehnung des vorigen Beweisantrags (vorstehend 1.) bezogen. Auch diese Entscheidung ist aus den vorgenannten Gründen rechtfehlerhaft.
3. Auf der fehlerhaften Ablehnung der Beweisanträge beruht das angefochtene Urteil. Hierzu im Einzelnen:
Ein Urteil beruht schon dann auf einem Rechtsfehler, wenn es als möglich erscheint oder wenn nicht auszuschließen ist, dass es ohne den Rechtsfehler anders ausgefallen wäre. An dem Beruhen fehlt es nur, wenn die Möglichkeit, dass der Verstoß das Urteil beeinflusst hat, ausgeschlossen oder rein theoretisch ist (Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 337 Rdn. 255). Die Entscheidung über das Beruhen hängt - insbesondere bei Verstößen gegen das Verfahrensrecht - stark von den Umständen des Einzelfalls ab (Hanack aaO Rdn. 257).
Bei mit fehlerhafter Begründung abgelehnten Beweisanträgen kann ein Beruhen des Urteils in Ausnahmefällen ausgeschlossen werden, wenn die Anträge mit anderer Begründung zu Recht hätten abgelehnt werden können und die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten hierdurch nicht berührt wurden (Kuckein in KK 6. Aufl. § 337 Rdn. 38 m. w. N.). Insbesondere im Zusammenhang mit Hilfstatsachen des Beweises, also mit Tatsachen, die einen zwingenden oder möglichen Schluss auf den Beweiswert eines Beweismittels zulassen, kann sich für das Revisionsgericht die Überzeugung ergeben, dass der Tatrichter den Beweisantrag auch mit der Begründung der tatsächlichen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache hätte zurückweisen und der Angeklagte sich in Kenntnis einer solchen Ablehnung nicht weitergehend hätte verteidigen können. Hierfür ist die gesamte Beweissituation, wie sie sich aus dem Urteil darstellt, ebenso von Bedeutung wie die Art und Anzahl der gestellten Beweisanträge.
Vorliegend hat sich der Angeklagte mit einer Vielzahl von Beweisanträgen verteidigt. Soweit dabei Tatsachen unter Beweis gestellt wurden, handelte es sich überwiegend um solche, die der Widerlegung einzelner, mit dem Tatgeschehen nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehender Bekundungen der Nebenklägerin oder allgemein der Weckung von Zweifeln an deren Glaubwürdigkeit dienen sollten. Die Revision rügt über die beiden vorgenannten Fälle hinaus die Ablehnung weiterer Beweisanträge als rechtsfehlerhaft. Auch insoweit weisen die Entscheidungen des Landgerichts Mängel auf, die den Generalbundesanwalt veranlasst haben, in seinem Antrag, die Revision nach § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen, jeweils umfangreich darzulegen, dass ein Beruhen des Urteils auf dem einzelnen Rechtsfehler ausgeschlossen werden könne. Was bei isolierter Betrachtung der Beweisanträge und ihrer Behandlung durch die Strafkammer möglicherweise zu einer solchen Überzeugung des Revisionsgerichts hätte führen können, ist dem Senat vorliegend aufgrund einer Gesamtschau aller Umstände nicht möglich.
Die Sache muss deshalb erneut verhandelt werden.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061270
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BGH
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3. Strafsenat
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20100311
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3 StR 538/09
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Urteil
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§ 64 S 2 StGB, § 67d Abs 1 S 1 StGB
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vorgehend LG Mönchengladbach, 25. August 2009, Az: 25 Ks 2/09 - 501 Js 2117/07, Urteil
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DEU
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Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Hinreichende Erfolgsaussicht bei erforderlicher Behandlungsdauer von 3 Jahren
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 25. August 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen schweren Raubes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Auf die allein gegen den Maßregelausspruch gerichtete, mit dem Ziel der Verhängung von Sicherungsverwahrung durchgeführte Revision der Staatsanwaltschaft hatte der Senat das Urteil im Maßregelausspruch aufgehoben, weil das Landgericht die notwendige Erfolgsaussicht der Suchtbehandlung nach § 64 StGB nur widersprüchlich und damit rechtsfehlerhaft begründet hatte. Zugleich hatte er darauf hingewiesen, dass der neue Tatrichter angesichts der Vielzahl von Straftaten, Verurteilungen und Strafverbüßungen des Angeklagten auch zu prüfen habe, ob bei dem Angeklagten die Sicherungsverwahrung anzuordnen sei (BGH, Urt. vom 12. Februar 2009 - 3 StR 569/08 = NStZ 2009, 442). Auf der Grundlage des rechtskräftigen Schuld- und Strafausspruchs hat das Landgericht nunmehr erneut die Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt angeordnet; die Sicherungsverwahrung hat es abgelehnt, weil der hierzu erforderliche Hang beim Angeklagten nicht festzustellen sei. Die auf sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat erneut Erfolg.
1. Das Rechtsmittel richtet sich gegen den gesamten Maßregelausspruch. Zwar bekämpft die Beschwerdeführerin mit Einzelausführungen allein die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung, indes geht sie, wie auch aus dem uneingeschränkten Aufhebungsantrag zu ersehen ist, zutreffend davon aus, dass eine Beschränkung der Revision hier wegen des Zusammenhangs der Maßregeln nach §§ 64 und 66 StGB unzulässig wäre, was der Senat schon in seiner ersten Entscheidung in dieser Sache ausgesprochen hat.
2. Die Ablehnung der Sicherungsverwahrung hält erneut rechtlicher Prüfung nicht stand. Das Landgericht hat einen Hang des Angeklagten im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verneint. Hierzu hat es unter Bezugnahme auf den gehörten Sachverständigen ausgeführt, die langjährige strafrechtliche Delinquenz des Angeklagten sei ausschließlich auf dessen Suchterkrankung zurückzuführen; der Angeklagte habe keine antisoziale Persönlichkeit und keinen dissozial-delinquenten Lebensstil, er stehe seiner Delinquenz nicht zustimmend gegenüber, bei ihm seien Reue und Empathie festzustellen; es bestehe keine persönlichkeitsgebundene Bereitschaft zur Begehung von Straftaten, die Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit sei nicht in Umständen jenseits seiner Sucht begründet.
Gegen diese Begründung bestehen in zweifacher Hinsicht durchgreifende Rechtsbedenken:
a) Zum einen werden die Urteilsgründe ihrer Aufgabe nicht gerecht, dem Revisionsgericht die sachlichrechtliche Nachprüfung der Entscheidung zu ermöglichen. Sie geben lediglich die Schlussfolgerungen des Sachverständigen wieder, teilen aber nicht die diesen zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen mit. Sie enthalten - nahezu wortgleich mit dem ersten Urteil - erneut keine Angaben zu Art und Umfang der Straftaten, die dazu führten, dass der Angeklagte seit 1978 - als er wohl schon als 16jähriger - eine Jugendstrafe von einem Jahr verbüßen musste, mehrfach zu - auch langjährigen - Jugend- und Freiheitsstrafen verurteilt wurde. Die Behauptung, die Delinquenz sei "ausschließlich auf die Suchterkrankung des Angeklagten zurückzuführen", hätte der Begründung bedurft, zumal eine solche monokausale Betrachtung im Schrifttum auf Kritik stößt (vgl. Schöch in LK 12. Aufl. § 64 Rdn. 127; Rasch R&P 1991, 109, 113; Schalast FPPN 2009, 294, 295).
b) Zum anderen ist zu besorgen, dass das Landgericht seiner Entscheidung ein unzutreffendes Verständnis des Hanges im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB zugrunde gelegt hat dahingehend, dass der für die Sicherungsverwahrung erforderliche Hang zur Begehung erheblicher Straftaten ausscheide, wenn die wiederholte Delinquenz eines Täters allein auf dessen Hang zum übermäßigen Konsum berauschender Mittel beruht. Eine solche Überlegung mag für den psychowissenschaftlichen Sachverständigen hilfreich sein, um sich der Frage nach den Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung im Ausschlussverfahren zu nähern (vgl. Leygraf in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 5. Auflage S. 483, 486 f.). Für die richterliche Entscheidung über die Verhängung der Maßregel ist dies nicht zutreffend.
Das Merkmal "Hang" im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Nach der ständigen Rechtsprechung kommt es auf die Ursache für die fest eingewurzelte Neigung zu Straftaten nicht an (BGH NJW 1980, 1055; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 1, 3). Deshalb scheidet, selbst wenn sich eine Monokausalität der Suchterkrankung eines Täters für dessen Kriminalität ausnahmsweise feststellen ließe, die Annahme eines Hanges im Sinne von § 66 StGB (neben der eines Hanges im Sinne von § 64 StGB) nicht aus. Der für die Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderliche Hang hätte seine Ursache in einem solchen Fall ausschließlich in der Suchterkrankung. Ob sodann die Unterbringung des Täters in beiden Maßregelformen oder nur in einer von ihnen anzuordnen ist, beurteilt sich nach der Regelung in § 72 StGB. Ist der Zweck der Maßregel bereits durch eine von ihnen zu erreichen, was ein hohes Maß an prognostischer Sicherheit voraussetzt (BGH NStZ 2009, 442), so wird nur die weniger beschwerende Maßregel, hier die Unterbringung in der Entziehungsanstalt, verhängt. Andernfalls sind beide anzuordnen und deren Vollstreckungsreihenfolge zu bestimmen. Vor dem Ende des Vollzugs der ersten Maßregel ist sodann zu entscheiden, ob der Zweck der zweiten Maßregel deren Vollstreckung noch erfordert.
Diese Regelung ermöglicht zweierlei: Sofern die Gefährlichkeit eines Täters nach der Behandlung in der Entziehungsanstalt entfallen ist, kommt der Vollzug der angeordneten Sicherungsverwahrung nicht mehr in Betracht (vgl. § 72 Abs. 3 Satz 2 StGB). Andererseits kann ein gefährlicher Täter, dessen Behandlung im Vollzug der Maßregel nach § 64 StGB ohne Erfolg bleibt oder gar wegen Aussichtslosigkeit abgebrochen werden muss (§ 67 d Abs. 5 StGB), auf diese Weise zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren erheblichen Straftaten - nach Verbüßung des durch Anrechnung (§ 67 Abs. 4 StGB) nicht erledigten Teil der Strafe - in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden.
3. Die Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) ist schon wegen ihres hier bestehenden untrennbaren Zusammenhangs mit der erneut notwendigen Prüfung der Sicherungsverwahrung aufzuheben.
Unabhängig davon hätte der Senat im Hinblick auf die von § 64 Abs. 2 StGB geforderte hinreichend konkrete Erfolgsaussicht Rechtsbedenken gegen die Anordnung dieser Maßregel, da das Landgericht in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen "von einer voraussichtlichen Dauer der Suchtbehandlung bis zur Erzielung eines Behandlungserfolges von drei Jahren" ausgegangen ist. Er ist der Auffassung, dass in einem solchen Fall die notwendige Erfolgsaussicht zu verneinen ist.
a) Hierfür spricht die Gesetzeslage. Nach § 67 d Abs. 1 Satz 1 StGB darf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zwei Jahre nicht übersteigen. Dieser Begrenzung liegt die Überzeugung des Gesetzgebers zugrunde, dass eine Unterbringungsdauer von mehr als einem Jahr äußerst selten und eine Behandlung über den Zweijahres-Zeitraum hinaus nicht erforderlich, vielmehr eher schädlich sei (vgl. Horstkotte in LK 10. Aufl. § 67 d Rdn. 4 unter Hinweis auf die Beratungen des Sonderausschusses; Schöch in LK 12. Aufl. § 64 Rdn. 167; Sinn in SK-StGB § 67 d Rdn. 2; Veh in MünchKomm-StGB § 67 d Rdn. 5; SSW-StGB/Schöch § 67 d Rdn. 9). Auch die Änderung der Vorschriften über die teilweise Vorwegvollstreckung der Strafe in § 67 Abs. 2 StGB durch das Gesetz vom 16. Juli 2007 (BGBl I 1327) zeigt, dass der Gesetzgeber eher von kürzeren Unterbringungszeiten ausgeht (vgl. BTDrucks. 16/1110 S. 14: " … sinnvolle Entziehungstherapie [ist] spätestens nach zwei Jahren beendet"; … voraussichtliche Dauer der Therapie bis zur Erzielung eines Behandlungserfolgs zu orientieren, die nach den Erfahrungen der Praxis gegenwärtig im Durchschnitt bei etwa einem Jahr liegt"), da er bei Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren einen teilweisen Vorwegvollzug der Strafe nicht für angezeigt hält. Suchttherapien von mehr als zweijähriger Dauer werden durchweg nicht für sinnvoll gehalten (vgl. Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug 6. Aufl. S. 254).
b) Die Verlängerung der Höchstfrist in den Fällen, in denen vor einer Freiheitsstrafe eine daneben angeordnete freiheitsentziehende Maßregel vollzogen wird (§ 67 d Abs. 1 Satz 3 StGB), spricht nicht dagegen, Therapien als aussichtslos anzusehen, sofern sie länger als zwei Jahre andauern müssten. Der gegenteiligen Ansicht des 5. Strafsenats, dass die Vorschrift gerade für Fälle längerer Therapienotwendigkeit geschaffen worden sei (Beschl. vom 6. Februar 1996 - 5 StR 16/96), könnte sich der Senat nicht anschließen. Die Verlängerungsvorschrift steht nicht in einem Zusammenhang mit der für eine Suchtbehandlung für notwendig erachteten Zeit, sondern mit den sich aus der Länge der neben der Maßregel verhängten Freiheitsstrafe ergebenden Problemen. Sie soll die sich durch die Anrechnung der Maßregel auf die Freiheitsstrafe ergebende Besserstellung gegenüber dem Untergebrachten, bei dem die Strafe vor der Maßregel vollstreckt wird, ausgleichen. Sie ermöglicht zugleich, dass die neben einer Strafe angeordnete Unterbringung nach § 64 StGB nicht nach Ablauf von zwei Jahren erledigt ist, sondern zur Bewährung ausgesetzt oder zur Vermeidung einer Rückverlegung in den Strafvollzug weitervollstreckt werden kann (SSW-StGB/Jehle § 67 d Rdn. 12; Sinn in SK-StGB § 67 d Rdn. 4; Veh in MünchKomm-StGB § 67 d Rdn. 8).
c) Auch die in verschiedenen Untersuchungen festgestellten durchschnittlichen Unterbringungszeiten (vgl. hierzu im Einzelnen Metrikat, Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB S. 251 ff., insbesondere Fn. 577 und 586) zeigen, dass Entwöhnungstherapien weniger als zwei Jahre benötigen. Sie liegen weitgehend unterhalb dieser Grenze. Soweit sie diese in Einzelfällen überschreiten, beruht dies gerade auf der durch § 67 d Abs. 1 Satz 3 StGB eingeräumten Möglichkeit, die Höchstfrist im Hinblick auf die Dauer der daneben erkannten Freiheitsstrafe aus vollzugspraktischen und nicht unmittelbar therapeutischen Gründen zu verlängern. Zwischen der Höhe der Freiheitsstrafe und der im Maßregelvollzug verbrachten Zeit besteht ein signifikanter Zusammenhang (vgl. Metrikat aaO S. 257). Hinzu kommt, dass in die festgestellten Durchschnittszeiten auch jene Suchttherapien einbezogen worden sind, die zuletzt doch wegen Erfolglosigkeit abgebrochen worden waren, was die ermittelten Werte erhöht hat.
4. Über den Maßregelausspruch muss deshalb erneut entschieden werden. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StPO).
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061271
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BGH
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3. Strafsenat
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20100401
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3 StR 30/10
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Beschluss
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§ 275 Abs 1 S 2 StPO, § 275 Abs 2 S 1 StPO, § 338 Nr 7 StPO
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vorgehend LG Düsseldorf, 21. Oktober 2009, Az: 12 KLs 40/09 - 60 Js 2020/09, Urteil
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DEU
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Revision in Strafsachen: Absoluter Revisionsgrund fehlender richterlicher Unterzeichnung des Ersturteils
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 21. Oktober 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die mit einer Verfahrensrüge Erfolg haben muss.
Hierzu hat der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt:
"Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO ist gegeben, weil das Urteil innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO bezeichneten Frist nicht vollständig zu den Akten gebracht worden ist. Ein vollständiges schriftliches Urteil liegt erst dann vor, wenn sämtliche an ihm beteiligten Berufsrichter seinen Inhalt gebilligt und dies mit ihrer Unterschrift bestätigt haben (BGHSt 26, 247, 248; BGHR StPO § 275 Abs. 2 Satz 1 Unterschrift 5; vgl. Gollwitzer in LR 25. Aufl. § 275 Rdn. 36). Die Vorsitzende der Strafkammer hat das Urteil nicht unterschrieben, es trägt lediglich die Unterschrift der beisitzenden Richterin (UA S. 14). Da die fehlende Unterschrift auch nicht innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nachgeholt wurde, ist das Urteil nicht fristgerecht zur Akte gebracht worden.
Daran ändert auch nichts, dass die Vorsitzende noch innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO auf der Rückseite des Urteils (Bl. 258 R d. A.) die Ausfertigung des Urteils und dessen Zustellung an die Verfahrensbeteiligten angeordnet und diese Verfügung unterschrieben hat. Das in § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO formulierte Gebot, dass das Urteil von den mitwirkenden Berufsrichtern zu unterschreiben ist, lässt es nicht zu, dass die den Urteilstext abschließende Unterschrift durch eine an anderer Stelle der Akte befindliche Unterschrift des mitwirkenden Richters ersetzt wird (vgl. OLG Düsseldorf NStE Nr. 1 zu § 275 StPO; vgl. für den nicht unterschriebenen Eröffnungsbeschluss OLG Hamm StV 2001, 331; OLG Frankfurt StV 1992, 58 f.). Durch die unter die Zustellverfügung gesetzte Unterschrift übernimmt die Richterin nicht zweifelsfrei die Verantwortung für den Inhalt des in der Akte befindlichen, an der vorgesehenen Stelle aber nicht von ihr unterschriebenen Urteils."
Sost-Scheible Pfister Hubert
Schäfer Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061273
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BGH
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3. Strafsenat
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20100330
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3 StR 88/10
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Beschluss
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§ 64 StGB, § 35 BtMG
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vorgehend LG Hannover, 1. Dezember 2009, Az: 33 a 17/09 - 6031 Js 85768/08, Urteil
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DEU
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Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Annahme eines Hangs wegen psychischer Betäubungsmittelabhängigkeit auf Grund langjährigen Drogenkonsums
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 1. Dezember 2009 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht
- von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat,
- den Verfall von Wertersatz angeordnet hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und zu seinen Lasten einen Geldbetrag von 3.500 Euro für verfallen erklärt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Urteil begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, soweit das Landgericht von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abgesehen hat. Das Landgericht hat dies damit begründet, der Angeklagte habe keinen Hang, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Diese rechtliche Bewertung wird indes von den insoweit widersprüchlichen Feststellungen nicht getragen. Zwar hat das sachverständig beratene Landgericht festgestellt, der Angeklagte habe seinen Kokain- und Cannabiskonsum stets steuern können. Er habe aus freiem Willen und nur in geselliger Runde zu Drogen gegriffen; ebenso habe er den Konsum über einen längeren Zeitraum ganz eingestellt und auch in der Haft nur anfangs unter leichteren Entzugserscheinungen gelitten. Andererseits hat es aber "aufgrund des jahrelangen Drogenkonsums" des Angeklagten eine "Drogenentwöhnungstherapie im Rahmen des § 35 BtMG für sinnvoll" erachtet. Dies wiederum legt die Annahme einer zumindest psychischen Abhängigkeit im Sinne einer auf Disposition beruhenden oder durch Übung erworbenen intensiven Neigung des Angeklagten zum Betäubungsmittelkonsum und damit eines Hangs im Sinne von § 64 StGB nahe; das Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz stünden dem nicht entgegen (vgl. hierzu Fischer, StGB 57. Aufl. § 64 Rdn. 9 m. w. N.).
Auf dem Rechtsfehler beruht das Urteil, denn da das Landgericht weiter festgestellt hat, dass der Angeklagte den aus den Taten erzielten Gewinn zumindest teilweise zur Finanzierung seines Drogenkonsums benötigte und im Übrigen therapiebereit ist, lassen sich auch die weiteren Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB nicht ausschließen. Die Maßregel ginge einer Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG vor (BGH StV 2008, 405 und 2009, 353).
Über die Anordnung der Maßregel muss deshalb (wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen) neu verhandelt und entschieden werden; es werden hierzu insgesamt neue Feststellungen zu treffen sein. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, stünde der Anordnung der Maßregel nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Landgericht nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGHSt 38, 362 f.).
2. Auch die Verfallsanordnung hat keinen Bestand. Das Landgericht hat sie als zwingende Rechtsfolge angesehen, ohne zu prüfen, ob der Wert der insgesamt 3.500 Euro, die der Angeklagte nach den - von der Aufhebung unberührten - Feststellungen zum Tatgeschehen in den Fällen II. 1. bis 3. der Urteilsgründe als Provisionen erlangt hat, in dessen Vermögen noch vorhanden sind (§ 73 c Abs. 1 Satz 2 StGB). Ein Wegfall der Bereicherung liegt nach den Umständen nicht fern; in diesem Falle wäre der Wertersatzverfall nicht zwingend anzuordnen, sondern läge im tatrichterlichen Ermessen.
Ergänzend bemerkt der Senat, dass eine Verfallsanordnung unmittelbar auf §§ 73 Abs. 1, 73 a Satz 1 StGB zu stützen wäre. Die Frage des erweiterten Verfalls gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 73 d StGB stellt sich hier nicht, denn als Anknüpfungstaten kommen (nur) die abgeurteilten Fälle II. 1. bis 3. der Urteilsgründe in Betracht.
Sost-Scheible Pfister Hubert
Schäfer Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061287
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BGH
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4. Strafsenat
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20100202
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4 StR 345/09
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Beschluss
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§ 15 AIHonO 1996, § 263 Abs 1 StGB, § 266 StGB
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vorgehend LG Rostock, 28. November 2008, Az: 13 KLs 6/06 - 472 Js 4431/06, Urteil vorgehend LG Rostock, 28. November 2008, Az: 13 KLs 5/05 - 372 Js 21557/98, Urteil
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DEU
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Betrug und Untreue: Konkludente Täuschungshandlungen eines Architekten durch Vorlage nicht den jeweiligen Leistungsständen entsprechender Abschlags- und Teilschlussrechnungen; Schadensermittlung bei Vereinbarung eines Pauschalfestpreises; Provisionszahlung als Untreuehandlung
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 28. November 2008 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) soweit er in den Fällen II. 1 und II. 2 der Urteilsgründe verurteilt worden ist,
b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Wirtschaftsstrafkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Beihilfe zur Untreue, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt und bestimmt, dass von der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe ein Jahr und sechs Monate als vollstreckt gelten. Das Verfahren hinsichtlich der Fälle 1 und 257 der Anklage hat das Landgericht eingestellt.
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
A.
Zu den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 21. Dezember 2009 erörterten Verfahrensrügen bemerkt der Senat ergänzend:
Auf die Rüge der Verletzung von § 244 Abs. 3 StPO durch Zurückweisung des Beweisantrags vom 1. Juli 2008 („Vertragsstrafe“; RB Bd. III 111 ff.) sowie die im Zusammenhang mit einer möglichen Architekteneigenschaft des Angeklagten erhobene Aufklärungsrüge (RB Bd. III 358 ff.) kommt es – unabhängig von der Frage der Zulässigkeit dieser Rügen – für den allein verbleibenden Fall II. 3 der Urteilsgründe nicht an. Das Landgericht hat seine Feststellungen in Fall II. 3 der Gründe auf die Bekundungen des Zeugen J., der erneut vernommen werden sollte, nicht maßgeblich gestützt. Es ist ferner nicht erkennbar, inwieweit eine mögliche Architekteneigenschaft des Angeklagten, die das Landgericht nach Ansicht der Revision weiter hätte aufklären müssen, für die Verurteilung wegen Betruges in diesem Fall von Bedeutung hätte sein können. Entsprechendes gilt, soweit die Revision einen Aufklärungsmangel darin sieht, dass das Landgericht näher bezeichnete Bauamtsakten der Stadt- und Kreisverwaltung B. nicht beigezogen hat (RB III 362 ff.).
Auch auf die Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 5 StPO (RB III 2 ff.) kommt es für Fall II. 3 der Urteilsgründe nicht an. Der Angeklagte hatte am 14. Februar 2008 zu Beginn der Hauptverhandlung ohne Erfolg Verhandlungsunfähigkeit geltend gemacht. Die im Anschluss fortgesetzte Vernehmung des Sachverständigen Dr. F. betraf indessen lediglich den Komplex „Grandhotel“ und damit Fall II. 1 der Urteilsgründe. Ein Urteil unterliegt aber auch bei einem absoluten Revisionsgrund der Aufhebung lediglich in dem Umfang, in dem sich der zugrunde liegende Verfahrensfehler auswirken konnte (BGH, Urteil vom 23. Oktober 2002 – 1 StR 234/02, NJW 2003, 597 f.).
Ob die Rüge der Verletzung von § 244 Abs. 3 StPO durch Zurückweisung des Antrags auf Vernehmung des sachverständigen Zeugen Fr. (RB III 236 ff.) unzulässig ist, kann dahinstehen; sie ist jedenfalls unbegründet. Das Landgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache zu Recht aus tatsächlichen Gründen als bedeutungslos angesehen und darauf abgehoben, für die Frage, ob der Angeklagte und der gesondert verfolgte W. durch eine Täuschung eine Zahlung von E. auf ein dem Architekten St. nicht zugängliches Konto veranlasst haben, komme es auf den in dem Zivilrechtsstreit des Architekten St. gegen K. mit Hilfe des Sachverständigen festgestellten Leistungsumfang nicht an.
B.
Jedoch haben die Schuldsprüche wegen Betruges in Tateinheit mit Beihilfe zur Untreue in den Fällen II. 1 und II. 2 der Urteilsgründe keinen Bestand, da das Landgericht insoweit den Schaden nicht rechtsfehlerfrei festgestellt hat.
I.
Das Landgericht hat zu diesen Taten Folgendes festgestellt:
1. Der Zeuge J. beabsichtigte, ein aus dem 19. Jahrhundert stammendes Gebäudeensemble im Seebad H., bekannt unter der Bezeichnung "We.", in Anknüpfung an dessen glanzvolle Historie zu einem exklusiven Ferienobjekt zu entwickeln. Zu diesem Zweck gründete er am 4. Juni 1996 die E. E. GmbH (fortan E.), deren Gesellschafter und Geschäftsführer er war; weitere Geschäftsführer waren der Zeuge Do. sowie der anderweitig verfolgte W. Der Angeklagte betrieb zum Tatzeitpunkt ein von ihm gegründetes Architekturbüro (im Folgenden K.) in D. in der Rechtsform einer GbR gemeinsam mit dem gesondert verfolgten Ho., der an dem Büro eine Minderheitsbeteiligung hielt. Im Geschäftsverkehr trat der Angeklagte als Diplomingenieur und Architekt auf, obwohl er lediglich den Beruf des Maurers erlernt hatte. Es gelang ihm auch in der Folgezeit, diesen Umstand vor den anderen Beteiligten zu verheimlichen. Dem Angeklagten war ebenso wie dem anderweitig verfolgten W. bekannt, dass der Zeuge J. besonderen Wert auf die Übernahme der architektonischen Gestaltung des Gesamtkomplexes in H. durch das international renommierte Büro des New Yorker Architekten St. legte. Beide wussten ferner von der Anweisung des Zeugen J., alle Planungsleistungen direkt durch die E. zu vergeben und die Auswahl und Kontrolle nicht einem Generalunternehmer, z.B. einem Architekten, im Wege eines Generalplanervertrages zu überlassen. Gleichwohl beabsichtigten der Angeklagte und der gesondert verfolgte W., die architektonische Umsetzung der Rekonstruktion der historischen Gebäude allein von dem Architekturbüro K. durchführen zu lassen, weil sie erkannt hatten, dass es sich hierbei um einen äußerst lukrativen Auftrag mit einem Honorar in Millionenhöhe handeln würde. Unter Ausnutzung der dem gesondert verfolgten W. vom Zeugen J. eingeräumten Entscheidungsfreiheit gelang es diesem gemeinsam mit dem Angeklagten, entsprechende rechtsgeschäftliche Vereinbarungen zwischen der E. und der K. abzuschließen. Spätestens am 17. September 1996 trafen der Angeklagte und der anderweitig verfolgte W. außerdem die Vereinbarung, dass W. von jedem Auftrag, der im Rahmen des Projekts H. an K. vergeben werden würde, einen Anteil von 5 % als "Provision" erhalten sollte.
2. Am 14. Februar 1997 schlossen die E. , vertreten durch den anderweitig verfolgten W. und den Zeugen Do., und K., vertreten durch den Angeklagten, einen "Vertrag zur Beauftragung von Architektenleistungen für Gebäude Grandhotel … zum Umbau und Erweiterungs-Neubau des H.". Vertragsgegenstand war die Erbringung der erforderlichen Grundleistungen der Leistungsphasen I bis VII gemäß § 15 HOAI in der damals geltenden Fassung sowie als eigenständige Leistungsphase VIII gemäß § 15 HOAI die künstlerische Oberbauleitung bezogen auf 17 Gebäude in H. zu einem Pauschalfestpreis von 9.125.000 DM zuzüglich Nebenkosten in Höhe von 8 % sowie Umsatzsteuer. Weiterhin wurde festgelegt, dass die Leistungen der Leistungsphase I gemäß § 15 HOAI als bereits bezahlt angesehen werden sollten. Die zu erbringenden Grundleistungen wurden in dem Vertrag mit insgesamt 73 % des ermittelten Honorars bewertet, wobei auf die Leistungsphasen I bis IV 33 % und auf die Leistungsphase V 34 % des Pauschalhonorars (= 100 %) entfielen. In einer ergänzenden Vereinbarung vom 14. März 1997 wurde der Leistungsumfang der zu erbringenden Architektenleistungen unter Mitwirkung des Angeklagten auf der Seite der E. auf insgesamt 97 % der Grundleistungen der Leistungsphasen I bis IX gemäß § 15 HOAI erhöht. Zudem wurden Fachingenieurleistungen, nämlich die Tragwerksplanung bei Gebäuden gemäß §§ 64, 65 HOAI, die Planung der technischen Ausrüstung gemäß §§ 73, 74 HOAI und die Planung der Freianlagen gemäß §§ 15, 16 HOAI an K. vergeben. Es wurde ein Pauschalfestpreis von 23.954.369 DM zuzüglich 8 % Nebenkosten und Umsatzsteuer, d.h. insgesamt 29.751.326,29 DM brutto vereinbart. In diesen Vertrag wurden zudem zusätzliche Gebäude des sog. "De." als Bauabschnitt V aufgenommen, obwohl es dazu bereits im Vertrag vom 14. Februar 1997 eine Vereinbarung mit einem Honorarvolumen von 7.420.000 DM gab. Am 30. Mai bzw. 3. Juni 1997 vereinbarten E. und K., erneut unter Mitwirkung des Angeklagten sowie des gesondert verfolgten W., einen "2. Nachtrag zum Architektenvertrag Nr. 1 und Nr. 4 vom 14.02.1997 zur Beauftragung von Leistungen im Fachbereich Bauphysik zur Genehmigungs- und Ausführungsplanung Grandhotel Restaltbauten" zu einem Pauschalfestpreis in Höhe von 220.000 DM zuzüglich Nebenkosten und Umsatzsteuer.
Auf die jeweiligen Abschlagsrechnungen von K. , die lediglich pauschal gestellt wurden und keine Leistungsnachweise enthielten, ordnete der anderweitig verfolgte W. mit Wissen des Angeklagten bis Ende Oktober 1997 die Überweisung von insgesamt 4.734.411,40 DM an K. eigenhändig an und veranlasste durch seine wiederholten und nachdrücklichen Versicherungen gegenüber dem Gesellschafter J., die von K. in Rechnung gestellten Leistungen seien vollständig erbracht, die Überweisung weiterer Beträge in Höhe von mindestens 3.500.000 DM an K. bis zum 23. Februar 1998 (Fall II. 1).
3. Am 14. März 1997 schlossen K. , vertreten durch den Angeklagten, sowie E. , vertreten durch den gesondert verfolgten W. sowie den Zeugen Do., den "Generalplanervertrag zur Beauftragung von sämtlichen Architekten- und Ingenieurleistungen Fü. …" zu einem Pauschalfestpreis in Höhe von 1.800.000 DM zuzüglich Nebenkosten und Umsatzsteuer. Für das Projekt "Fü." erhielt der gesondert verfolgte W. von K. bis zum 15. Juni 1998 eine Provisionszahlung in Höhe von 18.027,61 DM netto. Diesen Betrag nahm das Landgericht als Vermögensschaden an. Aus den weiteren Urteilsgründen ergibt sich, dass die Strafkammer - ausgehend von der Prämisse, dass K. das vollständige Honorar für die Leistungsphasen I bis IV gemäß § 15 HOAI verdient hatte -, für das Projekt "Fü." keine sicheren Feststellungen zu einer Überzahlung von K. treffen konnte (Fall II. 2).
II.
Im Fall II. 1 der Urteilsgründe hat das Landgericht angenommen, dass der Angeklagte im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit dem gesondert verfolgten Ho. wissentlich überhöhte Abschlagsrechnungen über einen Gesamtbetrag von 24.768.491,05 DM stellte und beabsichtigte, K. dadurch einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, indem er zusammen mit Ho. die bei E. für die Zahlung verantwortlichen Personen, mit Ausnahme des in den Tatplan eingeweihten W., über die Höhe der fälligen Honoraransprüche täuschte. Der gesondert verfolgte W. habe daraufhin mit den nicht eingeweihten Zeugen Do. bzw. S. die Auszahlung eines K. nicht zustehenden Betrages von insgesamt mindestens 4.196.358,90 DM bewirkt, der als Vermögensschaden anzusehen sei. Der Angeklagte habe durch sein Handeln zugleich Beihilfe zur Untreue des W. geleistet. Diese Ausführungen begegnen in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
1. Soweit das Landgericht in dem Verhalten des Angeklagten eine Beihilfe zur Untreue des gesondert verfolgten W. gesehen hat, ist den Urteilsausführungen nicht hinreichend deutlich zu entnehmen, ob die Strafkammer bei der Ermittlung des Vermögensschadens einen zutreffenden Berechnungsansatz gewählt hat. Zwar ist es im Ansatz zutreffend, bei Honorarzahlungen an einen Architekten zur Schadensermittlung die vom Auftraggeber geleisteten Zahlungen den vom Architekten erbrachten Leistungen und damit den von ihm verdienten Honoraren gegenüberzustellen. Dabei müssen aber die zwingenden Regelungen über die Mindestsätze nach der HOAI beachtet werden. Ein – wie hier – vereinbarter Pauschalfestpreis darf daher bei der Ermittlung des Schadens nur dann zugrunde gelegt werden, wenn er nicht den Betrag unterschreitet, der sich aus einer insgesamt zutreffenden fiktiven Berechnung nach den Mindestsätzen der HOAI ergibt. Wegen der Einzelheiten verweist der Senat auf die Ausführungen in seinem den gesondert verfolgten W. betreffenden Beschluss vom 10. November 2009 (4 StR 194/09). Im Hinblick auf das in § 4 Abs. 1 HOAI a.F. normierte Gleichzeitigkeitserfordernis beim Abschluss von Architekten- bzw. Ingenieurvertrag einerseits und Honorarvereinbarung andererseits wird auch die Wirksamkeit der zugrunde liegenden Pauschalhonorarvereinbarung zu erörtern sein.
2. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe sich in diesem Fall nur wegen einer (einheitlichen) Tathandlung des Betruges im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, steht im Widerspruch zu den insoweit getroffenen Feststellungen.
a) Die Strafkammer hat ausgeführt, der Angeklagte habe gemeinschaftlich mit dem gesondert verfolgten Ho. durch die Erstellung überhöhter Abschlags- und Teilschlussrechnungen in zahlreichen, näher bezeichneten Fällen über die in den Rechnungen „jeweils“ dargestellten Leistungsstände (zum Zeitpunkt) der Rechnungsstellung getäuscht. Die darin der Sache nach zum Ausdruck kommende Bewertung jeder einzelnen Rechnungsstellung als Täuschungshandlung im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Betrugsstraftaten im Zusammenhang mit Abrechnungen auf der Grundlage von verbindlichen Abrechnungssystemen wie beispielsweise einer Gebührenordnung. Wird nach einer solchen Gebührenordnung abgerechnet, enthält die Vorlage jeder einzelnen Liquidation die konkludente Behauptung, die abgerechnete Leistung sei tatsächlich erbracht worden und nach dem jeweiligen Regelwerk abrechenbar (vgl. nur BGH, Urteil vom 10. März 1993 – 3 StR 461/92, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Täuschung 12 für die Abrechnung eines Kassenarztes; SSW-StGB/Satzger § 263 Rdn. 44). Das Landgericht hat jedoch nicht hinreichend in den Blick genommen, dass für die nach dem Prinzip der Gesamtsaldierung vorzunehmende Ermittlung des Vermögensschadens, also für den Vergleich des Vermögensstandes vor und nach der schädigenden Verfügung (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 15, 342, 343; 30, 388, 389; 34, 199, 203), dann auch nur die auf der Grundlage jeder einzelnen Rechnung erfolgte Zahlung maßgebend sein kann. Das Landgericht hätte daher – unter Berücksichtigung der vom Senat in seinem Beschluss vom 10. November 2009 (4 StR 194/09) näher dargelegten Vorgaben des Regelwerks der HOAI – den nach Begleichung jeder Rechnung eingetretenen Vermögensschaden gesondert feststellen müssen. Der allgemeine Hinweis, die einzelnen Rechnungen seien überhöht gewesen, reicht zur Bestimmung eines konkreten Schadens nicht aus.
b) Für die neue Verhandlung und Entscheidung wird insoweit Folgendes zu bedenken sein:
Gelangt der neue Tatrichter bei der – zweckmäßigerweise mit Hilfe eines Sachverständigen durchzuführenden – Schadensermittlung in einzelnen Fällen unter Berücksichtigung der zwingenden Regelungen der HOAI über die Honorar-Mindestsätze dazu, dass der jeweils geleisteten Abschlagszahlung eine von K. erbrachte Leistung gegenüber steht, durch die ein den Verlust aufwiegender Vermögenszuwachs begründet wurde, wird jeweils eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen versuchten Betruges in Betracht zu ziehen sein. Für die gegebenenfalls zu bildenden Gesamtstrafe gilt das Verschlechterungsverbot (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO).
III.
1. Soweit das Landgericht in Fall II. 2 der Urteilsgründe eine Täuschung durch Unterlassen angenommen hat, weil der Angeklagte die mit dem gesondert verfolgten W. getroffene Provisionsabrede E. gegenüber hätte offen legen müssen, hat es nicht bedacht, dass vertragliche Pflichten aus gegenseitigen Rechtsgeschäften nicht ohne weiteres für die Annahme der erforderlichen Aufklärungspflicht ausreichen, die regelmäßig mit einer solchen aus § 13 StGB gleichzusetzen ist (BGHR StGB § 263 Abs. 1 Täuschung 13; MünchKomm StGB-Hefendehl § 263 Rdn. 136). Der Abschluss eines Austauschvertrages begründet in der Regel keine Offenbarungspflicht hinsichtlich solcher Umstände, die in die Risikosphäre des jeweiligen Vertragspartners fallen; das gilt insbesondere für die Preisgestaltung (Fischer StGB 57. Aufl. § 263 Rdn. 49). Dass im vorliegenden Fall ausnahmsweise über das allgemeine Vertragsverhältnis hinaus ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen E. einerseits und K. andererseits bestanden hätte, aus dem eine strafrechtlich relevante Garantenpflicht zur Offenbarung abgeleitet werden könnte (vgl. dazu BGHR aaO), belegen die im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen nicht.
2. Ferner hätte das Landgericht auch in diesem Fall die Mindestsätze der HOAI berücksichtigen müssen. Bezogen auf das Projekt "Fü." kommt ein Nachteil i.S.d. § 266 StGB für den Geschäftsherrn, hier die E., auf Grund der dem gesondert verfolgten W. zugeflossenen Provision nur in Betracht, wenn der Zuwendende bereit gewesen wäre, seine Leistung auch zu einem um die Kick-Back-Zahlung reduzierten Entgelt zu erbringen. Der Schaden liegt dann darin, dass der Treupflichtige die konkrete und sichere Möglichkeit eines günstigeren Abschlusses nicht für seinen Geschäftsherrn realisiert hat (vgl. BGHSt 31, 232; MünchKomm StGB-Dierlamm § 266 Rdn. 231 m.w.N.). Zwar hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Provisions- oder Schmiergeldzahlungen in der Regel einen Nachteil im Sinne des § 266 StGB angenommen. Dieser Rechtsprechung liegt die Erwägung zugrunde, dass jedenfalls mindestens der Betrag, den der Vertragspartner für Schmiergelder aufwendet, auch in Form eines Preisnachlasses dem Geschäftsherrn des Empfängers hätte gewährt werden können (BGHSt 50, 299, 314; BGH, Beschluss vom 11. November 2004 - 5 StR 299/03, jeweils m.w.N.). Dies würde hier aber bereits dann ausscheiden, wenn schon der ausgehandelte Pauschalpreis die Mindestsätze der HOAI unterschritt oder deren Mindestsätzen jedenfalls entsprach.
C.
Die Verurteilung wegen Betruges im Fall II. 3 der Urteilsgründe hält rechtlicher Überprüfung stand. Insoweit wird auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 21. Dezember 2009 sowie auf den Beschluss des Senats vom 10. November 2009 (4 StR 194/09) im Verfahren gegen den gesondert verfolgten W. Bezug genommen.
Tepperwien Maatz Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jb-JURE100061287&psml=bsjrsprod.psml&max=true
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061289
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BGH
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4. Strafsenat
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20100325
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4 StR 594/09
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Urteil
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§ 211 Abs 2 StGB, § 315b StGB
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vorgehend LG Mainz, 2. Juli 2009, Az: 3613 Js 20070/08 jug - 3 KLs - 3 Ss 191/09, Urteil
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DEU
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Annahme eines Tötungsdelikts bei Verursachung eines Verkehrsunfalls in Selbsttötungsabsicht
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Mainz vom 2. Juli 2009 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte im Fall 2 der Urteilsgründe verurteilt worden ist,
b) in den Aussprüchen über die Gesamtstrafe und die Maßregel.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil
a) dahin abgeändert, dass der Angeklagte im Fall 1 der Urteilsgründe der versuchten gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Freiheitsberaubung schuldig ist,
b) in den Aussprüchen über die insoweit verhängte Einzelstrafe und die Gesamtstrafe aufgehoben.
3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung sowie wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten verurteilt und eine Maßregelanordnung nach §§ 69, 69 a StGB getroffen; im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrem zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittel mit der Sachrüge dagegen, dass der Angeklagte im Fall 2 der Urteilsgründe nicht auch wegen tateinheitlich begangenen versuchten Mordes verurteilt worden ist; der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision das Verfahren und rügt die Verletzung materiellen Rechts.
I.
Revision der Staatsanwaltschaft
Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
Sie beanstandet zu Recht, dass der Angeklagte im Fall 2 der Urteilsgründe lediglich wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist.
1. Nach den vom Landgericht insoweit getroffenen Feststellungen befand sich der Angeklagte in den Mittagsstunden des 22. Juli 2008 nach einem missglückten Wiederannäherungsversuch an seine ehemalige Lebensgefährtin, der mit einem körperlichen Übergriff auf diese geendet hatte (Fall 1 der Urteilsgründe), im Zustand einer akuten Belastungsreaktion, die mit Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und "verletztem Narzissmus" gepaart war. Während er mit seinem Pontiac Grand AM die Bundesstraße 9 von Worms in Richtung Ludwigshafen befuhr, kündigte er seinem Vater telefonisch an, sich das Leben nehmen zu wollen. Seine Geschwindigkeit von mehr als 140 km/h verringerte er auch dann nicht, als er sich einer Baustelle näherte, obwohl - kurz bevor die von ihm benutzte linke Fahrspur gesperrt und eine trichterförmige Verengung auf die rechte Fahrspur angeordnet war - eine schrittweise Geschwindigkeitsbegrenzung von 120 km/h auf 50 km/h bestand. Unmittelbar vor der Querabsperrung der linken Fahrspur lenkte er zur Verwirklichung seines Selbsttötungsentschlusses sein Fahrzeug mit unverminderter Geschwindigkeit auf die rechte Fahrspur und rammte den dort mit 50 km/h fahrenden Kleinwagen der Zeugin S., in dem sich noch zwei weitere Insassen befanden. Durch den Zusammenprall wurde dieses Fahrzeug mehrfach um die Hochachse gedreht und rutschte schließlich 187 m weit diagonal über die Fahrbahnen der Bundesstraße 9. Es kam letztlich auf der rechten Fahrspur der Gegenfahrbahn zu liegen. Der diese Spur befahrende Zeuge H. konnte eine Kollision nur dadurch vermeiden, dass er sein Fahrzeug nach rechts auf die Verzögerungsspur lenkte. Die drei Insassinnen des Kleinwagens erlitten verschiedene, nicht lebensgefährliche Verletzungen und konnten das Krankenhaus nach wenigen Tagen verlassen.
Das Fahrzeug des Angeklagten überschlug sich mehrfach und prallte in etwa 107 m Entfernung vom Unfallort gegen eine Baumgruppe.
2. Ausgehend von diesem Sachverhalt hat das Landgericht den Angeklagten nur des vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (in drei tateinheitlichen Fällen, vgl. BGH, Urteil vom 16. August 2005 - 4 StR 168/05; vgl. auch Fischer StGB 57. Aufl. § 223 Rdn. 22) für schuldig befunden, nicht dagegen auch eines versuchten Tötungsdelikts. Das Landgericht hat zwar einer Gesamtschau der objektiven und subjektiven Tatumstände entnommen, dass der Angeklagte bei der Tat als möglich vorausgesehen hat, dass die Insassen des von ihm gerammten Fahrzeugs tödliche Verletzungen erleiden könnten; es ist aber zu der Überzeugung gelangt, dass er ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut hat, der Tötungserfolg werde nicht eintreten.
3. Die dafür vom Landgericht herangezogenen Erwägungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
a) Die Auffassung des Landgerichts, dem Angeklagten sei lediglich ein Körperverletzungsvorsatz bezüglich der drei Insassen des von ihm gerammten Fahrzeugs nachzuweisen, lässt besorgen, dass es zu hohe Anforderungen an das Vorliegen des voluntativen Vorsatzelements gestellt hat. Zwar ist selbst bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung immer auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Täter jedenfalls darauf vertraut hat, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. Juli 1992 - 4 StR 308/92 = BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 30 m.w.N. und vom 29. Juni 1999 - 4 StR 271/99 = NZV 2000, 88).
Hier hätte der Tatrichter aber insbesondere den Umstand in seine Erwägungen einbeziehen müssen, dass der Angeklagte den Unfall zu dem Zweck verursacht hat, seine Selbsttötungsabsicht zu verwirklichen. Von dieser Absicht hat sich das Landgericht rechtsfehlerfrei dadurch überzeugt, dass der Angeklagte kurz vor dem Unfall seinen Vater telefonisch davon unterrichtet und unmittelbar nach dem Unfall dem Zeugen Z. erklärt hat, es habe sich um einen Selbsttötungsversuch gehandelt. Es ging dem Angeklagten demnach darum, einen so heftigen Zusammenstoß beider Fahrzeuge herbeizuführen, dass er diesen nicht überleben würde, obwohl er - wenn auch nicht angeschnallt - in einem kompakten und technisch einwandfreien Fahrzeug der Mittelklasse saß. Deswegen erschließt es sich nicht, warum der Angeklagte ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut haben sollte, die Insassen des betroffenen Kleinwagens würden im Gegensatz zu ihm den heftigen Zusammenstoß überleben.
b) Auch die weiteren Argumente des Landgerichts tragen sein Ergebnis nicht.
aa) Aus der Tatsache, dass der Angeklagte im Rahmen früherer, gegenüber der Zeugin Se geäußerter Selbsttötungsfantasien, bei denen es ebenfalls um die Herbeiführung eines Unfalls mit einem anderen Fahrzeug ging, mehrfach betont hat, keinen anderen mit in den Tod nehmen zu wollen, kann kein tragfähiger Schluss auf die innere Tatseite zum Zeitpunkt der vorliegenden Tat gezogen werden. Wie der psychiatrische Sachverständige - nach Ansicht des Landgerichts überzeugend - ausgeführt hat, hat der Angeklagte damals keine ernsthaften Suizidabsichten gehegt, sondern die Äußerungen lediglich in noch jugendtypischer Manier eingesetzt, um seinen Willen durchzusetzen.
bb) Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass die in dem gerammten Fahrzeug befindlichen Personen aus der Sicht des Angeklagten durch Karosserie, Kopfstützen und Sicherheitsgurte wenigstens rudimentär vor dem Erleiden tödlicher Verletzungen geschützt gewesen seien, entbehrt dies schon angesichts der eingehaltenen Geschwindigkeit und der Beschaffenheit der beteiligten Fahrzeuge jeder Grundlage.
cc) Das Landgericht kann sich für die Ablehnung des bedingten Tötungsvorsatzes auch nicht auf die von ihm zitierten Senatsentscheidungen (Beschlüsse vom 23. Juni 1983 - 4 StR 293/83 = NStZ 1984, 19 und vom 29. Juni 1999 - 4 StR 271/99 = NZV 2000, 88 f.) stützen. Beide Entscheidungen betreffen ersichtlich Fallgestaltungen, die mit dem vorliegenden Tatgeschehen nicht vergleichbar sind.
4. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils im Fall 2. Die teilweise Aufhebung des Urteils zieht die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe nach sich.
Wegen des inneren Zusammenhangs mit der Verurteilung im Fall 2 der Urteilsgründe kann auch die gemäß §§ 69, 69 a StGB angeordnete, für sich genommen nicht zu beanstandende Maßregel nicht bestehen bleiben (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 1999 - 4 StR 271/99 = NZV 2000, 88, 89).
5. Sollte der neu entscheidende Tatrichter zur Bejahung des (bedingten) Tötungsvorsatzes kommen, wird er zu prüfen haben, ob der Angeklagte mit einem gemeingefährlichen Mittel im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB gehandelt hat. Auch wenn sich der unmittelbare Angriff in erster Linie gegen die Insassen des Kleinwagens richtete, schließt das die Annahme, der Angeklagte habe ein gemeingefährliches Mittel eingesetzt, nicht aus. Nach den Feststellungen liegt es vielmehr nahe, dass infolge des durch den Aufprall unmittelbar verursachten Unfalls eine unbestimmte Anzahl weiterer Personen - etwa die Fahrer oder Beifahrer anderer Fahrzeuge oder die auf der Baustelle tätigen Bauarbeiter - tödliche Verletzungen hätten erleiden können (vgl. BGHSt 38, 353, 355; BGH, Urteil vom 14. Januar 2010 - 4 StR 450/09).
II.
Revision des Angeklagten
1. Das Rechtsmittel des Angeklagten hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.
Die Verurteilung wegen tateinheitlich mit versuchter gefährlicher Körperverletzung begangener vollendeter Freiheitsberaubung im Fall 1 der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Nach den insoweit getroffenen Feststellungen verbrachte der Angeklagte die Zeugin Se. nach minutenlangem Gerangel mit Gewalt, unter anderem unter Einsatz eines Cuttermessers, und gegen ihren Willen in seinen Pkw, weil er eine Beendigung ihres Treffens verhindern wollte. Der Zeugin gelang es jedoch, unmittelbar danach - noch während der Angeklagte zur Fahrertür "hastete" - aus dem Fahrzeug zu fliehen.
Diese Feststellungen tragen eine Verurteilung wegen vollendeter Freiheitsberaubung nicht. Allerdings setzt der Tatbestand des § 239 Abs. 1 StGB keine bestimmte Dauer der Entziehung der persönlichen Fortbewegungsfreiheit voraus; es reicht vielmehr grundsätzlich auch eine nur vorübergehende Einschränkung aus (vgl. BGHSt 14, 314, 315). Jedoch erfüllt eine - wie hier - zeitlich nur unerhebliche Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit den Tatbestand nicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Dezember 2002 - 4 StR 432/02 = NStZ 2003, 371 und vom 21. Januar 2003 - 4 StR 414/02 = NStZ-RR 2003, 168). Der Angeklagte hat sich daher nur der versuchten Freiheitsberaubung schuldig gemacht.
Der Senat ändert, da in der erneuten Hauptverhandlung weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind, den Schuldspruch entsprechend ab. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, weil sich der Angeklagte gegen den geänderten Schuldvorwurf nicht anders als geschehen hätte verteidigen können.
Die Schuldspruchänderung führt zur Aufhebung der im Fall 1 erkannten Einzelstrafe, da das Landgericht bei deren Bemessung ausdrücklich zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt hat, dass dieser tateinheitlich zu der versuchten gefährlichen Körperverletzung eine vollendete Freiheitsberaubung begangen habe. Die Aufhebung dieser Einzelstrafe entzieht auch der Gesamtstrafe die Grundlage.
2. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund des Revisionsvorbringens keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben; insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts verwiesen.
Soweit der Angeklagte in der Hauptverhandlung unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 - 1 BvR 256/08 - beanstandet, das Landgericht habe zu Unrecht Telefonverbindungsdaten aus einer auf § 100 g Abs. 1 Satz 1 StPO beruhenden Vorratsdatenspeicherung verwendet, fehlt es bereits an einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge.
III.
Da sich das Verfahren nunmehr ausschließlich auf Straftaten bezieht, die der Angeklagte als Erwachsener begangen hat, verweist der Senat die Sache im Umfang der Aufhebung an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurück.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061309
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BGH
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8. Zivilsenat
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20100324
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VIII ZR 235/09
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Urteil
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§ 313 Abs 2 BGB, § 558 BGB, § 8a WoBindG, § 10 WoBindG, § 17 Abs 1 S 2 WoBauG 2
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vorgehend LG Berlin, 11. August 2009, Az: 65 S 158/08, Urteil vorgehend AG Charlottenburg, 15. April 2008, Az: 224 C 222/07 nachgehend BGH, 12. Mai 2010, Az: VIII ZR 235/09, Beschluss
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DEU
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Wohnraummiete: Vertragsanpassung wegen Fehlens der Geschäftsgrundlage bei Unwirksamkeit langjähriger Mieterhöhungen wegen Nichtvorliegens der Mietpreisbindung
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Auf die Revision der Kläger wird das Urteil der Zivilkammer 65 des Landgerichts Berlin vom 11. August 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Die Kläger haben im Jahr 1977 von der Rechtsvorgängerin der Beklagten eine Wohnung in B. gemietet. Die ursprüngliche Vermieterin hatte das Gebäude, in dem sich die Wohnung der Kläger befindet, in den 1970er Jahren unter Inanspruchnahme öffentlicher Mittel saniert.
In § 1 (2) des Mietvertrags vom 3. August 1977 heißt es:
"Die Wohnung ist zweckbestimmt für Zusatzdarlehen Land B. ."
Die Grundmiete - ursprünglich 306,78 DM (156,85 €) monatlich - wurde von der Vermieterin wiederholt einseitig nach §§ 10, 8a WoBindG erhöht, unter anderem von der Beklagten für die Zeit ab Januar 2004 auf 463,89 €, ab April 2004 auf 494,24 €, ab Januar 2005 auf 529,46 € und ab Juni 2006 auf 541,73 €. Ab Dezember 2006 wurde die Grundmiete auf 539,16 € reduziert und zuletzt auf 552,23 € erhöht. Die Kläger zahlten die jeweils geforderten Beträge.
Die Kläger machen geltend, dass sie nur die ursprünglich vereinbarte Ausgangsmiete schuldeten. Die von der Beklagten einseitig vorgenommenen Mieterhöhungen seien unwirksam, weil die in den siebziger Jahren von ihrer Rechtsvorgängerin durchgeführten Sanierungsmaßnahmen nicht den in § 17 Abs. 1 Satz 2 II. WoBauG beschriebenen Umfang gehabt hätten und die Wohnung aus diesem Grund während der gesamten Mietdauer nicht der Mietpreisbindung unterlegen habe. Die Beklagte sei deshalb zur Rückzahlung verpflichtet, soweit sie für den Zeitraum von Januar 2004 bis Dezember 2006 eine die Ausgangsmiete von 156,85 € übersteigende Grundmiete erhalten habe. Eine vorangegangene Klage, mit der die Kläger für frühere Zeiträume Rückerstattung überzahlter Miete verlangt hatten, ist rechtskräftig abgewiesen worden.
Die Kläger haben Zahlung von 11.880,40 € nebst Zinsen sowie die Feststellung begehrt, dass die von ihnen ab März 2008 zu zahlende Nettokaltmiete den Betrag von monatlich 156,85 € nicht übersteige. Das Amtsgericht hat dem Feststellungsbegehren stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das Landgericht hat die gegen die Abweisung des Zahlungsantrags gerichtete Berufung der Kläger zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Amtsgerichts abgeändert und die Klage auch bezüglich des Feststellungsantrags abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiter.
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Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Den Klägern stehe ein Anspruch auf Rückzahlung vermeintlich zu viel gezahlter Mieten nicht zu. An der Geltendmachung eines dahingehenden Bereicherungsanspruchs seien die Kläger nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gehindert. Die Rückforderung der Mieterhöhungsbeträge stelle ebenso wie das Verlangen nach einer rückwirkenden Herabsetzung der Miete eine unzulässige Rechtsausübung dar, nachdem die Kläger bis zur ersten Klage im Jahr 2003 über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren vorbehaltlos jede Mieterhöhung akzeptiert und die entsprechenden Zahlungen geleistet hätten. Denn die Beklagte habe im Hinblick auf die Preisgebundenheit der Miete auf Mieterhöhungen nach §§ 558 ff. BGB verzichtet und könne diese auch nicht mehr nachholen.
Die Kläger hätten den Mietvertrag mit der Maßgabe geschlossen, dass es sich um einen preisgebundenen Neubau handele, weil umfangreiche bauliche Änderungen in dem Gebäude und in Bezug auf ihre Wohnung vorgenommen worden seien. Auch wenn sie sich keine Gedanken über die rechtliche Gestaltung des Mietverhältnisses gemacht hätten, sei für sie jedoch erkennbar gewesen, dass und wie sich die Miete zukünftig erhöhen würde. Darauf, dass die Miete in diesem langen Zeitraum unverändert bleiben würde, hätten sie offensichtlich nicht vertraut und auch nicht vertrauen dürfen. In der Vergangenheit sei die Behandlung der Wohnung als preisgebunden für die Kläger insoweit wirtschaftlich vorteilhaft gewesen, als die Mieterhöhungen infolge der öffentlich-rechtlichen Vorgaben maßvoll gewesen seien und jedenfalls längerfristig nach den Erfahrungen der Kammer unterhalb der im preisfreien Wohnungsmietbereich zu erzielenden Mieten gelegen hätten.
Auch aus dem Rechtsgedanken des § 313 BGB ergebe sich, dass die Beklagte sich nicht mit der ursprünglich vereinbarten Grundmiete zufrieden geben müsse, so dass die auf Fortgeltung dieser Grundmiete gerichtete Feststellungsklage unbegründet sei. Die Mietpreisbindung der Wohnung und damit die Möglichkeit einseitiger Mieterhöhungen nach §§ 10, 8a WoBindG habe nicht allein die Risikosphäre der Beklagten betroffen, sondern sei Grundlage des Mietvertrages gewesen.
Da der Beklagten ein Festhalten an der Ausgangsmiete nicht zumutbar sei, stehe ihr ein Anpassungsanspruch zu, den sie auch einredeweise geltend machen könne. Denn die Ausgangsmiete betrage nur 30 % der ortsüblichen Vergleichsmiete, die sich nach dem B. Mietspiegel 2007 auf 518,66 € belaufe. Diese ganz erhebliche Differenz könne die Beklagte mittels Mieterhöhung nach § 558 ff. wegen der dortigen Kappungs- und Zeitgrenzen auf absehbare Zeit nicht erreichen.
Soweit die Kläger geltend machten, dass die Beklagte in einem Schreiben im Jahre 1995 selbst Zweifel an der Einordnung der Wohnung als preisgebunden geäußert habe, rechtfertige diese immerhin erst 18 Jahre nach Vertragsschluss vorgenommene Äußerung es nicht, der Beklagten den Vertrauensschutz auf das Bestehen des Vertrages zu den vorgesehenen Bedingungen zu versagen.
II.
Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht in allen Punkten stand. Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Beklagte nicht an der im Jahr 1977 vereinbarten Ausgangsmiete festhalten lassen muss, weil die Voraussetzungen einer Vertragsanpassung nach den Grundsätzen des Fehlens der Geschäftsgrundlage vorliegen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann die Anpassung aber nicht in der Weise erfolgen, dass die Klägerin die an sich unwirksamen Mieterhöhungen in vollem Umfang gegen sich gelten lassen muss. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt, dass die von der Beklagten begehrte Kostenmiete die ortsübliche Vergleichsmiete in dem hier entscheidenden Zeitraum ab dem Jahr 2004 zumindest teilweise übersteigt.
1. Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob es sich bei der von den Klägern gemieteten Wohnung mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 Satz 2 II. WoBauG um nicht preisgebundenen Wohnraum handelt und die nach den Vorschriften für preisgebundenen Wohnraum von der Beklagten einseitig vorgenommenen Mieterhöhungen deshalb unwirksam sind. Nach dem revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Sachvortrag der Kläger ist dies jedoch der Fall und ist deshalb - wie auch das Berufungsgericht unterstellt hat - von einem grundsätzlichen Rückforderungsanspruch der Klägerin aus ungerechtfertigter Bereicherung (§ 812 Abs. 1 BGB) auszugehen, soweit sie Zahlungen auf unwirksame Mieterhöhungen geleistet haben.
2. Dem Berufungsgericht ist auch darin beizupflichten, dass die Beklagte dem Rückforderungsanspruch der Kläger entgegenhalten kann, dass eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen des Fehlens der Geschäftsgrundlage geboten ist und sie sich deshalb nicht an der im Jahr 1977 vereinbarten Ausgangsmiete festhalten lassen muss. Wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat, kann das Fehlen der Geschäftsgrundlage vom Verpflichteten auch einredeweise geltend gemacht werden (MünchKommBGB/Roth, 5. Aufl., § 313 Rdnr. 91). Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht ferner zu Recht angenommen, dass die Preisgebundenheit der Wohnung Geschäftsgrundlage des Mietvertrags war und dass eine Vertragsanpassung erforderlich ist, weil der Beklagten ein unverändertes Festhalten am Vertrag nicht zumutbar ist. Rechtsfehlerhaft ist jedoch die Auffassung des Berufungsgerichts, die Vertragsanpassung sei in der Weise vorzunehmen, dass - ohne Rücksicht auf die ortsübliche Vergleichsmiete - jeweils die Miete geschuldet sei, die sich aus den bis zum Jahr 2007 vorgenommenen Kostenmieterhöhungen ergebe.
a) Die Geschäftsgrundlage eines Vertrages wird nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gebildet durch die bei Vertragsschluss bestehenden gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei vom Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf dieser Vorstellung aufbaut (BGHZ 120, 10, 23; Senatsurteile vom 15. November 2000 - VIII ZR 324/99, WM 2001, 523, unter II 1 a, sowie vom 8. Februar 2006 - VIII ZR 304/04, WM 2006, 828, Tz. 8). Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der Preisgebundenheit der Wohnung der Kläger erfüllt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts entsprach es den Vorstellungen der Mietvertragsparteien bei Abschluss des Mietvertrages im Jahre 1977, dass die Wohnung der Kläger der Mietpreisbindung unterliegt und die Miete deshalb nach den für die Kostenmiete geltenden Vorschriften erhöht werden kann.
Ob ein bestimmter Umstand Geschäftsgrundlage ist, unterliegt der tatrichterlichen Beurteilung, die für das Revisionsgericht nur dann nicht bindend ist, wenn gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt sind (Senatsurteil vom 15. November 2000 aaO, unter II 1 b). Einen derartigen Rechtsfehler zeigt die Revision nicht auf. Die Preisgebundenheit einer Wohnung ist auch kein Umstand, der nach der gesetzlichen Regelung der Risikosphäre des Vermieters zugeordnet ist. Die Einordnung einer Wohnung als preisfreier oder preisgebundener Wohnraum steht nicht im Belieben des Vermieters, sondern richtet sich nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen (hier § 17 Abs. 1 II. WoBauG). Entgegen der Auffassung der Revision steht der Annahme, dass die Preisgebundenheit der Wohnung Geschäftsgrundlage war, nicht entgegen, dass dieser Umstand in § 1 des Mietvertrags Niederschlag gefunden hat. Insoweit hat das Berufungsgericht zu Recht darauf abgestellt, dass die Preisgebundenheit der Wohnung der Parteidisposition nicht unterliegt (Senatsurteil vom 7. Februar 2007 - VIII ZR 122/05, NZM 2007, 283, Tz. 15) und deshalb nicht Vertragsgegenstand geworden sein kann.
Entgegen der Auffassung der Revision lässt sich auch der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 8. Mai 2002 (XII ZR 8/00, NJW 2002, 2384), wonach bei der Staffelmiete jede Partei das Risiko trägt, dass sich die Marktmiete aus ihrer Sicht ungünstiger entwickelt als die jeweilige Mietstaffel, mangels Vergleichbarkeit nichts dafür entnehmen, dass die Einordnung einer Wohnung als preisgebunden oder preisfrei allein der Risikosphäre des Vermieters zuzuordnen wäre und deshalb nicht Geschäftsgrundlage eines Mietvertrags sein könnte.
b) Die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, dass der Beklagten ein unverändertes Festhalten am Mietvertrag angesichts des erst nach langjähriger Vertragsdauer zu Tage getretenen Fehlens der Geschäftsgrundlage nicht zumutbar ist, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht hat darauf abgestellt, dass die vor mehr als 25 Jahren vereinbarte Ausgangsmiete nur etwa 29 % des nach der Abwicklung des Mietverhältnisses zuletzt erreichten Mietniveaus und nur etwa 30 % der ortsüblichen Vergleichsmiete des Jahres 2007 beträgt, die Beklagte Mieterhöhungen nach §§ 558 ff. BGB für die Vergangenheit nicht mehr nachholen und den Stand der ortsüblichen Vergleichsmiete auch für die Zukunft mit Rücksicht auf die Kappungsgrenze und die Sperrfrist des § 558 BGB nicht in absehbarer Zeit erreichen kann. Ohne eine Vertragsanpassung würde ein erhebliches Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung bestehen, weil die Kläger dann über einen längeren Zeitraum - eine Kündigung ist der Beklagten wegen des sozialen Kündigungsschutzes verwehrt - nur eine Miete zahlen müssten, die weniger als die Hälfte sowohl der Kostenmiete als auch der ortsüblichen Vergleichsmiete beträgt.
Ohne Erfolg wendet die Revision ein, dass der Beklagten während des Mietverhältnisses Zweifel an der Preisgebundenheit der Wohnung gekommen sein müssten und sie aus diesem Grund nicht schutzwürdig sei. Diesen Gesichtspunkt hat das Berufungsgericht bei der gebotenen umfassenden Interessenabwägung berücksichtigt, aber nicht für durchgreifend erachtet. Einen Rechtsfehler dieser tatrichterlichen Würdigung zeigt die Revision nicht auf.
c) Zu weit geht allerdings die Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, die Vertragsanpassung sei in der Weise vorzunehmen, dass - ohne Rücksicht auf die ortsübliche Vergleichsmiete - jeweils die Miete geschuldet sei, die sich aus den bis zum Jahr 2006 vorgenommenen Kostenmieterhöhungen ergebe. Das Berufungsgericht hat hierbei nicht berücksichtigt, dass bei nicht preisgebundenem Wohnraum Mieterhöhungen - abgesehen von der Modernisierungsmieterhöhung nach § 559 BGB - nur bis zur Grenze der ortsüblichen Vergleichsmiete verlangt werden können (§ 558 Abs. 1 Satz 1 BGB). Eine Vertragsanpassung im Interesse der Beklagten ist hier nicht schon deshalb erforderlich, weil sie die Miete angesichts der fehlenden Preisbindung der Wohnung nicht nach §§ 10, 8a WoBindG erhöhen kann, denn auch bei preisfreiem Wohnraum hat der Vermieter grundsätzlich die Möglichkeit, die Miete zu erhöhen, nämlich nach § 558 BGB bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete. Die Notwendigkeit einer Vertragsanpassung ergibt sich vielmehr erst aus dem Zeitablauf seit dem Beginn des Mietverhältnisses und dem Umstand, dass die Beklagte nach § 558 BGB mögliche Mieterhöhungen im Vertrauen auf das Bestehen der Preisbindung über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren nicht geltend gemacht hat und sie jetzt nicht mehr nachholen kann. Hinzu kommt, wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat, dass die Beklagte ohne eine Vertragsanpassung auch durch künftige Mieterhöhungen die ortsübliche Vergleichsmiete in absehbarer Zeit nicht annähernd erreichen dürfte.
Es liegt zwar nahe, dass die Beklagte als gewerbliche Vermieterin, falls die Parteien nicht von preisgebundenem Wohnraum ausgegangen wären, seit Beginn des Mietverhältnisses Mieterhöhungsverfahren nach § 558 BGB durchgeführt und in den Grenzen dieser Vorschrift auch die Anhebung der Miete bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete erreicht hätte. Obergrenze für eine Anpassung des Vertrages ist damit aber die ortsübliche Vergleichmiete; auch aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung oder der unzulässigen Rechtsausübung kann den Klägern die Rückforderung der in den Jahren 2004 bis 2006 gezahlten Miete insoweit nicht verwehrt werden, als sie Zahlungen über die ortsübliche Miete hinaus erbracht haben. Dies hat das Berufungsgericht nicht berücksichtigt, indem es sämtliche Rückzahlungsansprüche der Kläger verneint hat, obwohl die ortsübliche Vergleichsmiete im Jahr 2007 sich nach seinen Feststellungen auf monatlich 518,66 € belief und die Kläger schon seit Januar 2005 eine diesen Betrag übersteigende Miete gezahlt haben. Dass die Kläger nicht geltend gemacht hatten, dass die Miete überhöht sei, geht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu ihren Lasten. Da die Beklagte Vertragsanpassung verlangt, ist es ihre Sache darzulegen, welche Mieterhöhungen sie nach §§ 558 ff. BGB hätte durchsetzen können.
3. Für die Feststellungsklage gelten die vorstehenden Ausführungen entsprechend. Auch insoweit hat das Berufungsgericht die Klage zu Unrecht vollständig abgewiesen. Zwar können die Kläger nach den vorstehenden Ausführungen nicht verlangen, dass für den Zeitraum ab März 2008 noch die Ausgangsmiete von 156,85 € gilt. Der Antrag der Kläger enthält jedoch als Minus, dass jedenfalls ein geringerer Betrag als die von der Beklagten zuletzt geforderte Miete von 552,23 € maßgeblich sein soll. Da die ortsübliche Vergleichsmiete des Jahres 2007 deutlich niedriger lag, dürfte die der Beklagten im Wege der Vertragsanpassung insoweit zustehende Miete den Betrag der letzten Kostenmieterhöhung nicht erreichen.
III.
Nach alledem kann das Urteil des Berufungsgerichts keinen Bestand haben; es ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Senat kann in der Sache selbst nicht abschließend entscheiden, weil das Berufungsgericht keine Feststellungen zu § 17 Abs. 1 Satz 2 II. WoBauG getroffen hat und der Beklagten im Übrigen Gelegenheit zu geben ist, zur Entwicklung der ortsüblichen Vergleichsmiete in den Jahren 2004 bis 2006 und 2008 näher vorzutragen, zu denen das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen hat (§ 563 Abs. 1 ZPO).
Ball Dr. Milger Dr. Hessel
Dr. Fetzer Dr. Bünger
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061310
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BGH
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8. Zivilsenat
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20100324
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VIII ZR 270/09
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Beschluss
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§ 529 Abs 1 Nr 1 ZPO, § 398 Abs 1 ZPO, § 402 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
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vorgehend OLG Bamberg, 28. September 2009, Az: 4 U 9/09, Urteil vorgehend LG Würzburg, 11. Dezember 2008, Az: 14 O 2209/05, Urteil
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DEU
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Berufungsverfahren: Erneute Anhörung des Sachverständigen bei Abweichung von der erstinstanzlichen Beweiswürdigung
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Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 28. September 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens wird auf 244.231,16 € festgesetzt.
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I.
Die Parteien streiten um die Kaufpreiszahlung aus der Lieferung von Fischen (Klage) und um Schadensersatz wegen eines behaupteten Koi-Herpesvirusbefalls in der Anlage des Beklagten durch die gelieferten Fische (Widerklage).
Der Kläger betreibt eine Fischzucht. Er züchtet unter anderem Koi-Karpfen und verkauft diese an andere Händler, so auch an die Beklagte. Im Rahmen dieses Geschäftsbetriebs veräußerte und lieferte der Kläger an die Beklagte am 5. April 2005, am 13. April 2005 und am 21. April 2005 Koi-Karpfen. Die Lieferungen vom 5. April und 13. April 2005 wurden von der Beklagten bezahlt. Die Rechnung für die Lieferung vom 21. April 2005 über 11.766,46 € brutto, die Gegenstand der Klageforderung ist, bezahlte die Beklagte nicht. Sie beruft sich darauf, dass die vom Kläger am 5. April gelieferten Koi-Karpfen mit dem Koi-Herpesvirus befallen gewesen seien und ihre Fische infiziert hätten. Hierdurch sei ihr ein Schaden von bislang 227.646,70 € entstanden. Mit dieser Schadensersatzforderung rechnet die Beklagte teilweise gegen die Klageforderung auf und macht den überschießenden Betrag im Wege der Widerklage geltend. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Lieferung des Klägers die Infektion der Koi-Karpfen der Beklagten verursacht hat.
Das Landgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens sowie mündlicher Anhörung der Sachverständigen der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil des Landgerichts aufgehoben und in einem Grundurteil einen Anspruch der Beklagten gegen den Kläger auf Ersatz des durch die Lieferung von mit dem Herpesvirus befallenen Koi-Karpfen im April 2005 entstandenen Schadens bejaht. Zur Verhandlung und Entscheidung über die Höhe des Anspruchs unter Berücksichtigung eines eventuellen Mitverschuldens der Beklagten wegen mangelnder Quarantänehaltung hat es die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2, § 544 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO). Sie ist auch begründet und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Das Berufungsgericht hat die Sachverständige entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 Abs. 1, § 402 ZPO nicht erneut angehört, obwohl es deren Ausführungen anders gewürdigt hat als das Landgericht, und dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291, Tz. 4 im Anschluss an BVerfG, NJW 2005, 1487; BGH, Beschluss vom 5. April 2006 - IV ZR 253/05, FamRZ 2006, 946, Tz. 1; jeweils zur unterbliebenen Neuvernehmung eines Zeugen in der Berufungsinstanz). Eine Entscheidung des Revisionsgerichts ist daher zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 544 ZPO).
1. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht - wie vorliegend - das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz (BGHZ 162, 313, 317; Senatsurteil vom 25. April 2007 - VIII ZR 234/06, NJW 2007, 2919, Tz. 34). Wenn sich das Berufungsgericht von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht zu überzeugen vermag, so ist es an die erstinstanzliche Beweiswürdigung, die es aufgrund konkreter Anhaltspunkte nicht für richtig hält, nicht gebunden, sondern zu einer erneuten Tatsachenfeststellung nicht nur berechtigt, sondern, was das Berufungsgericht verkannt hat, sogar verpflichtet (BGHZ 162, 313, 317).
a) Hierzu bedarf es beim Zeugenbeweis nicht in jedem Fall einer erneuten Vernehmung des bereits erstinstanzlich vernommenen Zeugen. Anerkannt ist jedoch, dass das Berufungsgericht einen Zeugen nochmals vernehmen muss, wenn es dessen Glaubwürdigkeit anders beurteilen oder den Beurkundungen des Zeugen eine andere Tragweite oder ein anderes Gewicht geben, sie also anders verstehen oder würdigen will als die Vorinstanz (vgl. BGH, Urteile vom 20. November 1984 - VI ZR 74/83, NJW 1985, 3078, unter II 2; vom 12. November 1991 - VI ZR 369/90, NJW 1992, 741, unter II 2 b bb; Urteil vom 19. Februar 1998 - I ZR 20/96, NJW-RR 1998, 1601, unter II 2 a; Urteil vom 15. September 2005 - I ZR 58/03, NJW-RR 2006, 267, Tz. 23; Senatsurteil vom 8. Dezember 1999 - VIII ZR 340/98, NJW 2000, 1199, unter II 2 a). Die erneute Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (Senatsbeschluss vom 14. Juli 2009, aaO, Tz. 5; BGH, Urteil vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, unter II 1 b; Senatsurteil vom 19. Juni 1991 - VIII ZR 116/90, NJW 1991, 3285, unter II 2 b aa). Dieser Grundsatz ist Ausprägung der pflichtgebundenen Ausübung des dem Berufungsgericht nach § 398 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessens (BGH, Urteil vom 15. September 2005, aaO; Senatsurteil vom 8. Dezember 1999, aaO).
b) Beim Sachverständigenbeweis gilt im Grundsatz nichts anderes (§ 402 ZPO). Auch dort bedarf es einer erneuten Anhörung des Sachverständigen durch das Berufungsgericht dann, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als der Erstrichter (BGH, Urteile vom 3. Dezember 1985 - VI ZR 106/04, NJW 1986, 1540, unter II 2; vom 8. Juni 1993 - VI ZR 192/92, NJW 1993, 2380, unter II 2 a; vom 12. Oktober 1993 - VI ZR 235/92, NJW 1994, 803 unter II).
c) Eine abweichende Würdigung im vorgenannten Sinne ist jedenfalls dann gegeben, wenn - wie hier - das Berufungsgericht die von der Sachverständigen vorgenommene zusammenfassende Würdigung ihrer komplexen Ausführungen, die das erstinstanzliche Gericht aus dem unmittelbaren Eindruck einer persönlichen Anhörung heraus als Einschränkung der vorherigen Angaben angesehen hat, anders verstehen will als das Erstgericht.
Die Sachverständige hat sich in zwei schriftlichen Gutachten unter Verwendung eines abgestuften Systems von Wahrscheinlichkeitsgraden zu Einzelaspekten der Kausalität der klägerischen Lieferung für die Erkrankung der Fische bei der Beklagten geäußert. Im Rahmen der mündlichen Anhörung vor dem Landgericht hat die Sachverständige eine zusammenfassende Beurteilung der Ursächlichkeit vorgenommen und hierzu ausgeführt, dass eine Wahrscheinlichkeit für die Ursächlichkeit der klägerischen Lieferung für den Ausbruch des Virus in der Fischteichanlage der Beklagten spreche. Die Beurteilung des Ansteckungswegs sei jedoch schwierig, da es sich um ein erst vor kurzer Zeit identifiziertes Virus handele.
Das Landgericht hat diese zusammenfassende Bewertung durch die Sachverständige als Relativierung ihrer vorherigen Angaben gewürdigt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Kausalität der klägerischen Lieferung für die Erkrankung der Fische bei der Beklagten nicht mit der für die richterliche Überzeugungsbildung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden könne.
Das Berufungsgericht hat demgegenüber der zusammenfassenden Bewertung der Sachverständigen keine relativierende Bedeutung beigemessen. Insofern hat das Berufungsgericht einen zentralen Punkt der Ausführungen der Sachverständigen anders gewichtet als das Landgericht. Diese abweichende Würdigung durfte das Berufungsgericht nicht ohne Anhörung der Sachverständigen vornehmen.
2. Bei dem aufgezeigten Fehler des Berufungsgerichts handelt es sich nicht nur um einen einfachen Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften, der für sich genommen noch nicht zum Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde führen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2005 - V ZR 271/04, NJW 2005, 2624, unter II 2 b). Mit der vorstehend genannten, von der Vorinstanz abweichenden Würdigung des Sachverständigengutachtens hat das Berufungsgericht vielmehr das Verfahrensgrundrecht des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Juli 2009, aaO, Tz. 4).
3. Das angefochtene Urteil beruht auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Sachverständige erneut angehört hätte.
Ball Dr. Frellesen Dr. Milger
Dr. Fetzer Dr. Bünger
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061315
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BGH
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12. Zivilsenat
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20100324
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XII ZB 227/09
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Beschluss
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§ 15a RVG vom 30.07.2009
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vorgehend Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, 6. November 2009, Az: 9 W 126/09, Beschluss vorgehend LG Itzehoe, 21. Juli 2009, Az: 3 O 359/08, Beschluss vorgehend LG Itzehoe, 29. Mai 2009, Az: 3 O 359/08, Urteil
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DEU
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Rechtsanwaltsgebühr: Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr in Altfällen
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1. Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des 9. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 6. November 2009 aufgehoben.
Auf die sofortige Beschwerde des Beklagten wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Rechtspflegers des Landgerichts Itzehoe vom 21. Juli 2009 teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die auf Grund des Urteils des Landgerichts Itzehoe vom 29. Mai 2009 - 3 O 359/08 - von der Klägerin an den Beklagten zu erstattenden Kosten werden festgesetzt auf 1.179,34 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB seit dem 4. Juni 2009.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Rechtsmittelverfahren zu tragen.
3. Beschwerdewert: bis 600 €
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I.
Der Beklagte begehrt im Kostenfestsetzungsverfahren gegen die Klägerin den Ansatz der ungeminderten Verfahrensgebühr.
Rechtspfleger und Oberlandesgericht haben die von dem Beklagten für seine erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten geltend gemachte 1,3-Verfah-rensgebühr (Nr. 3100 VV RVG) nicht in voller Höhe berücksichtigt. Denn gemäß Anlage 1, Teil 3, Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG sei hier auf die Verfahrensgebühr die halbe vorgerichtlich entstandene 1,3-Geschäftsgebühr (Nr. 2300 VV RVG) anzurechnen. Mangels Anwendbarkeit auf Altfälle habe an dieser Rechtslage auch die zwischenzeitlich erfolgte Einführung des § 15 a RVG nichts geändert.
Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaft und auch sonst zulässig. Das Oberlandesgericht hat sie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechungzugelassen. Daran ist der Senat gebunden (§ 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO).
III.
Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet, denn das Oberlandesgericht hat die geltend gemachte 1,3-Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV RVG) zu Unrecht nicht in voller Höhe berücksichtigt.
1. Der erkennende Senat hat nach Erlass der angefochtenen Entscheidung in Übereinstimmung mit dem II. Zivilsenat (vgl. BGH Beschluss vom 2. September 2009 - II ZB 35/07 - ZIP 2009, 1927, 1928) wiederholt entschieden, dass die Vorschrift des § 15a RVG eine bloße Klarstellung der bestehenden Gesetzeslage darstellt. Folglich findet diese - gemäß Art. 10 des am 4. August 2009 verkündeten Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) am Tag nach der Verkündung in Kraft getretene - Bestimmung auch Anwendung, wenn die Auftragserteilung des Erstattungsberechtigten an seinen Prozess- bzw. Verfahrensbevollmächtigten vor dem 5. August 2009 erfolgt war (vgl. Senatsbeschlüsse vom9. Dezember 2009 - XII ZB 175/07 - FamRZ 2010, 456 Tz. 15 ff. m.w.N. und vom 3. Februar 2010 - XII ZB 177/09 - zur Veröffentlichung bestimmt) .
2. Der vorliegende Sachverhalt gibt dem Senat keine Veranlassung, hiervon abzuweichen. Mit den vom Oberlandesgericht für seine gegenteilige Rechtsauffassung angeführten Argumenten hat sich der Senat bereits in seinen vorstehend genannten Beschlüssen ausführlich befasst.
Da weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind, hat der Senat gemäß § 577 Abs. 5 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden.Nachdem keiner der Ausnahmefälle des § 15a Abs. 2 RVG ersichtlich ist, ist die Verfahrensgebühr antragsgemäß in voller Höhe zu berücksichtigen. Die von der Klägerin dem Beklagten zu erstattenden Kosten sind daher im Wege des Kostenausgleichs nach § 106 ZPO auf insgesamt 1.179,34 € nebst Zinsen festzusetzen.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061316
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BGH
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12. Zivilsenat
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20100331
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XII ZB 230/09
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Beschluss
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§ 15a RVG vom 30.07.2009, Teil 3 Vorbem 3 Abs 4 RVG-VV, Nr 2300 RVG-VV
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vorgehend OLG Hamm, 6. November 2009, Az: I-25 W 486/09, Beschluss vorgehend LG Münster, 6. Mai 2009, Az: 2 O 528/06, Kostenfestsetzungsbeschluss vorgehend OLG Hamm, 25. Juli 2008, Az: 30 U 32/08, Urteil
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DEU
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Kostenfestsetzungsverfahren: Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr in Altfällen
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I. Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 25. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 6. November 2009 teilweise aufgehoben und wie folgt neu gefasst:
1. Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Rechtspflegers des Landgerichts Münster vom 6. Mai 2009 teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die auf Grund des Urteils des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. Juli 2008 - 30 U 32/08 - von den Beklagten gesamtschuldnerisch an die Klägerin zu erstattenden Kosten werden festgesetzt auf 8.307,30 € - darin enthalten sind Gerichtskosten in Höhe von 2.839,00 € - nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB seit dem 1. August 2008.
2. Die weitergehende sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Klägerin zu 2/3 und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 1/3 zu tragen.
II. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens haben die Beklagten als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Beschwerdewert: 633 €.
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I.
Die Klägerin begehrt im Kostenfestsetzungsverfahren gegen die Beklagten noch den Ansatz der ungeminderten Verfahrensgebühr.
Rechtspfleger und Oberlandesgericht haben die von der Klägerin für ihre erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten geltend gemachte 1,3-Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV RVG) nicht in voller Höhe berücksichtigt. Denn gemäß Anlage 1, Teil 3, Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG sei hier auf die Verfahrensgebühr die halbe vorgerichtlich entstandene 1,3-Geschäftsgebühr (Nr. 2300 VV RVG) anzurechnen. Daran habe die zwischenzeitlich erfolgte Einführung des § 15 a RVG nichts geändert, denn diese Vorschrift stelle eine Gesetzesänderung dar und finde aufgrund der zumindest entsprechend heranzuziehenden Überleitungsvorschrift des § 60 Abs. 1 RVG auf Altfälle keine Anwendung.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaft und auch sonst zulässig. Das Oberlandesgericht hat sie wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechungzugelassen. Daran ist der Senat gebunden (§ 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO).
III.
Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet, denn das Oberlandesgericht hat die geltend gemachte 1,3-Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV RVG) zu Unrecht nicht in voller Höhe berücksichtigt.
1. Der erkennende Senat hat nach Erlass der angefochtenen Entscheidung in Übereinstimmung mit dem II. Zivilsenat (vgl. BGH Beschluss vom 2. September 2009 - II ZB 35/07 - ZIP 2009, 1927, 1928) wiederholt entschieden, dass die Vorschrift des § 15 a RVG eine bloße Klarstellung der bestehenden Gesetzeslage darstellt. Folglich findet diese - gemäß Art. 10 des am 4. August 2009 verkündeten Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) am Tag nach der Verkündung in Kraft getretene - Bestimmung auch Anwendung, wenn die Auftragserteilung des Erstattungsberechtigten an seinen Prozess- bzw. Verfahrensbevollmächtigten vor dem 5. August 2009 erfolgt war (vgl. Senatsbeschlüsse vom9. Dezember 2009 - XII ZB 175/07 - FamRZ 2010, 456 Tz. 15 ff. m.w.N. und vom 3. Februar 2010 - XII ZB 177/09 - zur Veröffentlichung bestimmt m.w.N.).
2. Der vorliegende Sachverhalt gibt dem Senat keine Veranlassung, hiervon abzuweichen. Mit den vom Oberlandesgericht für seine gegenteilige Rechtsauffassung angeführten Argumenten, namentlich der Frage der Anwendbarkeit des § 60 Abs. 1 RVG und der aufgeworfenen Rückwirkungsproblematik, hat sich der Senat bereits in seinen vorstehend genannten Beschlüssen ausführlich befasst.
Da weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind, hat der Senat gemäß § 577 Abs. 5 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden. Nachdem keiner der Ausnahmefälle des § 15 a Abs. 2 RVG ersichtlich ist, ist die Verfahrensgebühr antragsgemäß in voller Höhe zu berücksichtigen. Die von den Beklagten der Klägerin zu erstattenden Kosten sind somit auf insgesamt 8.307,30 € nebst Zinsen festzusetzen.
Die Kostenentscheidungen folgen aus § 97 Abs. 1 ZPO. Danach sind der Klägerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens vor dem Oberlandesgericht insoweit aufzuerlegen, als sie ihre Beschwerde bezüglich der geltend gemachten Umsatzsteuer zurückgenommen hatte und das Rechtsmittel darüber hinaus hinsichtlich des Ansatzes weiterer Gerichtskosten zurückgewiesen worden ist.
Dose Vézina Klinkhammer
Schilling Günter
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061319
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BGH
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12. Zivilsenat
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20100331
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XII ZB 166/09
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Beschluss
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§ 85 Abs 2 ZPO, § 139 ZPO, § 233 ZPO, § 234 Abs 1 ZPO, § 236 Abs 2 ZPO
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vorgehend OLG Hamm, 12. August 2009, Az: I-30 U 41/09, Beschluss vorgehend LG Siegen, 22. Januar 2009, Az: 5 O 187/08
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DEU
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Ausgangskontrolle bei Übermittlung fristgebundener Schriftsätze per Telefax; Begründung des Wiedereinsetzungsantrags nach Fristablauf
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Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 30. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 12. August 2009 wird auf Kosten des Beklagten verworfen.
Beschwerdewert: 11.535 Euro
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I.
Mit Telefaxschreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 12. März 2009 legte der Beklagte Berufung gegen das ihm am 12. Februar 2009 zugestellte Urteil des Landgerichts ein, mit dem er zur Zahlung von 11.534,61 € nebst Zinsen verurteilt wurde. Als Empfänger wies der Schriftsatz das Oberlandesgericht aus. Die Berufungsschrift ging am 12. März 2009 zwischen 14.54 Uhr und 15.15 Uhr auf dem Telefaxgerät der Generalstaatsanwaltschaft ein und wurde am 13. März 2009 an die Posteingangsstelle des Oberlandesgerichts weitergeleitet. Mit einem am 14. April 2009 (Dienstag nach Ostern) eingegangenen Schriftsatz begründete der Beklagte seine Berufung.
Mit einem dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten am 23. Juni 2009 zugestellten Schreiben wies das Oberlandesgericht auf die versäumte Berufungsfrist hin und räumte dem Prozessbevollmächtigten eine Stellungnahmefrist hierzu von zwei Wochen ein. Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2009 beantragte der Prozessbevollmächtigte eine Verlängerung dieser Frist bis zum 17. Juli 2009. Auf den Hinweis des Oberlandesgerichts vom 26. Juni 2009, dass die Frist für die Wiedereinsetzung nicht verlängert werden könne, stellte ein Vertreter des Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 30. Juni 2009, eingegangen beim Oberlandesgericht am 1. Juli 2009, Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass die von der Kanzleimitarbeiterin verwendete Telefaxnummer im Telefonverzeichnis der Anwaltskanzlei als die Nummer des Oberlandesgerichts eingetragen sei. Eine Ausgangskontrolle durch den Prozessbevollmächtigten des Beklagten habe nicht erfolgen können, weil dieser aufgrund einer an diesem Tag bei ihm durchgeführten Darmspiegelung gesundheitliche Beschwerden gehabt habe. Mit Schriftsatz vom 13. Juli 2009 legte der Prozessbevollmächtigte des Beklagten erneut Berufung gegen das Endurteil des Landgerichts ein und wiederholte seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung wurde nunmehr vorgetragen, dass eine bislang zuverlässige Kanzleiangestellte bei der Übermittlung des Schriftsatzes versehentlich die Telefaxnummer der im gleichen Haus befindlichen Generalstaatsanwaltschaft in das Gerät eingegeben habe, weil sie in dem in der Kanzlei vorgehaltenen Telefon- und Faxnummernverzeichnis sowohl bei der Eingabe als auch bei der Kontrolle der Nummer in die falsche Zeile gerutscht sei. Die Eingangsbestätigung des Berufungsgerichts sei dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten erst am 10. Juli 2009 anlässlich einer Besprechung mit seinen Mitarbeitern vorlegt worden. Aufgrund eines Kanzleiversehens sei das Schreiben falsch abgeheftet worden.
Das Berufungsgericht hat den Antrag des Beklagten vom 30. Juni 2009 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und den Antrag des Beklagten vom 13. Juli 2009 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten, mit der er Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und der Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begehrt und die Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung erreichen will.
II.
Die nach §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde des Beklagten ist nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Eine Entscheidung des Senats ist entgegen der Ansicht des Beklagten nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Es liegt weder eine Divergenz zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor noch beruht die Entscheidung des Berufungsgerichts auf einem Verstoß gegen den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG i.V.m. § 139 ZPO), noch verletzt sie den Anspruch des Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip; vgl. BVerfGE 77, 275, 284; BVerfG NJW 2003, 281).
1. Das Berufungsgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewiesen und die Berufung verworfen, weil die Versäumung der Berufungsfrist auf einem Organisationsverschulden seines Prozessbevollmächtigten beruhe, welches sich der Beklagte gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse. Die Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft seien nicht verpflichtet gewesen, die am 12. März 2009 per Telefax eingegangene Berufungsschrift noch an diesem Tag an das Oberlandesgericht weiterzuleiten. Dem Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in die ebenfalls versäumte Wiedereinsetzungsfrist könne ebenfalls nicht entsprochen werden, weil der Prozessbevollmächtigte des Beklagten jedenfalls nach Eingang der Verfügung des Vorsitzenden des Berufungsgerichts am 23. Juni 2009 Anlass zur Überprüfung gehabt hätte, wie es zu dem fehlerhaften Faxversand gekommen sei. Deshalb könne das weitere Vorbringen, wonach eine Kanzleimitarbeiterin sowohl bei der Eingabe als auch bei der Kontrolle der Telefaxnummer versehentlich in eine falsche Zeile des Telefonverzeichnisses gerutscht sei, nicht berücksichtigt werden.
2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.
Zutreffend ist das Berufungsgericht zunächst davon ausgegangen, dass die Berufungsschrift nicht innerhalb der am 12. März 2009 abgelaufenen Frist beim Oberlandesgericht eingegangen ist. Der Umstand, dass bei der Generalstaatsanwaltschaft ein Eingangsfach für an das Oberlandesgericht gerichtete Schriftstücke vorhanden war, ändert nichts daran, dass die an das Telefaxgerät der Generalstaatsanwaltschaft gesendete Berufungsschrift erst am 13. März 2009 und somit nach Ablauf der Berufungsfrist in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Oberlandesgerichts gelangte (BGH Beschluss vom 4. April 2007 - III ZB 109/06 - NJW-RR 2007, 1429, 1430).
3. Dem Beklagten ist die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht versagt worden, weil nach seinem Vortrag ein ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Anwaltsverschulden nicht ausgeräumt ist.
a) Die Rechtsbeschwerde geht zwar zutreffend davon aus, dass eine Partei sich das einmalige Versehen einer als zuverlässig bekannten, hinreichend unterrichteten und bewährten Kanzleimitarbeiterin ihres Prozessbevollmächtigten grundsätzlich nicht zurechnen lassen muss (Senatsbeschluss vom 28. März 2001 - XII ZR 32/01 - NJW-RR 2001, 1071 für den vergleichbaren Fall einer zweimaligen Falscheingabe einer Faxnummer durch eine bislang zuverlässige Kanzleikraft; BGH Beschluss vom 27. März 2001 - VI ZB 7/01 - NJW-RR 2001, 779, 780). Denn die Vorschrift des § 85 Abs. 2 ZPO führt lediglich zur Zurechnung eines Verschuldens des Prozessbevollmächtigten selbst. Ein Eigenverschulden des Prozessbevollmächtigten liegt jedoch dann vor, wenn für die Fristversäumnis eine mangelhafte Büroorganisation ursächlich war. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsanwalt, der unter Einschaltung seines Büropersonals fristgebundene Schriftsätze per Telefax einreicht, verpflichtet, durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Telefaxnummer des angeschriebenen Gerichts verwendet wird (Senatsbeschlüsse vom 10. Mai 2006 - XII ZB 267/04 - NJW 2006, 2412, 2413; vom 14. Mai 2008 - XII ZB 34/07 - NJW 2008, 2508, 2509 und vom 11. November 2009 - XII ZB 117/09 - juris, Tz. 6; BGH Beschlüsse vom 26. September 2006 - VIII ZB 101/05 - NJW 2007, 996, 997; vom 13. Februar 2007 - VI ZB 70/06 - NJW 2007, 1690, 1691; vom 20. November 2007 - XI ZB 30/06 - juris, Tz. 5 und vom 11. März 2004 - IX ZR 20/03 - BGH-Report 2004, 978). Hierzu gehört, dass bei der erforderlichen Ausgangskontrolle der Sendebericht ausgedruckt und dieser auf die Richtigkeit der verwendeten Empfängernummer überprüft wird, um Fehler bei der Eingabe, der Ermittlung der Faxnummer oder deren Übertragung in den Schriftsatz feststellen zu können (Senatsbeschluss vom 10. Mai 2006 - XII ZB 267/04 - NJW 2006, 2412, 2413; BGH Beschluss vom 4. April 2007 - III ZB 109/06 - NJW-RR 2007, 1429, Tz. 8). Erst nach der Überprüfung, ob die Übermittlung vollständig und an den richtigen Adressaten erfolgt ist, darf die Frist im Fristenkalender gestrichen werden (Senatsbeschluss vom 14. Mai 2008 - XII ZB 34/07 - NJW 2008, 2508, Tz. 11 m.w.N.).
b) Eine diesen Anforderungen genügende Ausgangskontrolle im Büro des Beklagtenvertreters ist nicht dargetan worden. Im Schriftsatz vom 30. Juni 2009 wurde das Wiedereinsetzungsgesuch zunächst nur damit begründet, dass die von der Kanzleimitarbeiterin benutzte Telefaxnummer im Telefonverzeichnis der Kanzlei als Nummer des Oberlandesgerichts eingetragen sei. Weiteren Vortrag, insbesondere zur Organisation der Ausgangskontrolle bei der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen per Telefax, enthält dieser Schriftsatz nicht. Die fehlerhafte Zuordnung der Telefaxnummer im Telefonverzeichnis der Anwaltskanzlei würde ein Organisationsverschulden seines Prozessbevollmächtigten darstellen, das sich der Beklagte nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsste.
c) Die Behauptung, eine Kanzleimitarbeiterin sei sowohl bei der Eingabe als auch bei der Kontrolle der verwendeten Telefaxnummer im Telefonverzeichnis versehentlich in die falsche Zeile geraten, hat der Beklagte erstmals im Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 13. Juli 2009 aufgestellt, also nach Ablauf der am 7. Juli 2009 endenden Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Diesen Vortrag hat das Berufungsgericht deshalb zu Recht nicht berücksichtigt.
(1) Grundsätzlich müssen nach §§ 234 Abs. 1, 236 Abs. 2 ZPO alle Tatsachen, die für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Bedeutung sein können, innerhalb der zweiwöchigen Antragsfrist vorgetragen werden (Senatsbeschluss vom 13. Juni 2007 - XII ZB 232/06 - NJW 2007, 3212). Jedoch dürfen nach der Rechtsprechung des Senats (Senatsbeschlüsse vom 10. Mai 2006 - XII ZB 42/05 - BGH-Report 2006, 119 m.w.N. und vom 13. Juni 2007 - XII ZB 232/06 - NJW 2007, 3212) erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, noch nach Fristablauf erläutert oder vervollständigt werden.
(2) Das Vorbringen des Beklagten im Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 13. Juli 2009 zu dem behaupteten zweimaligen Versehen der Kanzleikraft bei der Eingabe der Telefaxnummer stellt jedoch einen völlig neuen Sachvortrag dar, der in dem Wiedereinsetzungsantrag vom 30. Juni 2009 nicht einmal im Ansatz erwähnt wurde. Der Beklagte kann daher mit diesem Vorbringen nur dann gehört werden, wenn ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu gewähren ist (Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 234 Rdn. 4). Das Berufungsgericht hat jedoch zu Recht insoweit eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt.
(3) Dabei kann offen bleiben, ob dem Schriftsatz vom 13. Juli 2009 überhaupt ein Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO entnommen werden kann. Denn ausdrücklich hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten Wiedereinsetzung in die abgelaufene Frist gemäß § 234 Abs. 1 ZPO dort nicht beantragt. Aber selbst wenn der gestellte Antrag unter Einbeziehung der Antragsbegründung, des Zeitpunkts der Antragstellung und des Rechtsschutzzieles dahingehend auszulegen wäre, dass hiermit auch die grundsätzlich mögliche Wiedereinsetzung in die Versäumung der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO beantragt werden sollte, kommt eine Wiedereinsetzung nicht in Betracht, weil das Versäumnis auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten beruht, das sich der Beklagte nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.
(4) Nach allgemeiner Ansicht muss bei der Prüfung des Verschuldens auf die für eine Prozessführung erforderliche, übliche Sorgfalt eines ordentlichen Rechtsanwalts abgestellt werden (BGH Beschluss vom 22. November 1984 - VII ZR 160/84 - NJW 1985, 1710 m.w.N.; Thomas/Putzo/Hüßtege ZPO 30. Aufl. § 233 Rdn. 13; Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 233 Rdn. 13). Erkennt ein Rechtsanwalt, dass er eine gesetzliche oder richterlich gesetzte Frist nicht einhalten kann, muss er durch einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Fristverlängerung dafür Sorge tragen, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht notwendig wird (Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 233 Rdn. 23 "Fristverlängerung"). Kommt eine Verlängerung der einzuhaltenden Frist etwa aus rechtlichen Gründen nicht in Betracht, gebietet es die anwaltliche Sorgfalt, die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung der Frist zu ergreifen (Zöller/Greger, aaO; in diesem Sinne auch BGH Beschluss vom 24. November 2009 - VI ZB 69/08 - FamRZ 2010, 370).
(5) Diesen Anforderungen ist der Prozessbevollmächtigte des Beklagten im vorliegenden Fall nicht gerecht geworden. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffen werden, erhielt der Prozessbevollmächtigte des Beklagten am 23. Juni 2009 Kenntnis von dem gerichtlichen Hinweis auf die Nichteinhaltung der Berufungsfrist. Obwohl der Prozessbevollmächtigte des Beklagten wusste, dass er am 26. Juni 2009 eine Auslandsreise antreten werde, beschränkte er sich darauf, mit Schriftsatz vom 24. Juni 2009 eine Verlängerung der vom Berufungsgericht gesetzten Frist zur Stellungnahme um zwei Wochen zu beantragen. Bei Anwendung der erforderlichen und ihm zumutbaren anwaltlichen Sorgfalt hätte der Prozessbevollmächtigte des Beklagten bereits am 23. Juni 2009 erkennen können, dass er einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der Berufungsfrist hätte stellen müssen und ihm hierzu nur eine Frist von zwei Wochen zur Verfügung stand, die mit der Kenntnis von dem gerichtlichen Hinweis am 23. Juni 2009 zu laufen begann (§ 234 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ZPO). Der Prozessbevollmächtigte des Beklagten hätte sich daher in dem Zeitraum bis zum Antritt seiner Auslandsreise um Aufklärung bemühen müssen, welche Umstände zu der Versäumung der Berufungsfrist geführt haben. Dies wäre ihm auch zumutbar gewesen. Zwar hat er im Berufungsverfahren dargelegt, in welchem Umfang er in der Zeit vom 23. Juni 2009 bis 26. Juni 2009 terminlich gebunden war. Dadurch kann er sich jedoch nicht entlasten. Aufgrund der Dringlichkeit im vorliegenden Verfahren hätte er organisatorische Maßnahmen ergreifen müssen, um einen fristgerechten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorbereiten und stellen zu können. Dabei ist von einem Rechtsanwalt auch die Kenntnis zu verlangen, dass eine richterliche Verlängerung der Wiedereinsetzungsfrist gem. § 224 Abs. 2 ZPO grundsätzlich ausgeschlossen ist (OLG Zweibrücken MDR 2007, 294 m.w.N.; Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 233, Rdn. 23 "Rechtsanwalt"). Hierzu findet sich jedoch weder in dem Berufungsvorbringen noch in der Rechtsbeschwerde ein ausreichender Sachvortrag. Der Prozessbevollmächtigte des Beklagten hätte sich lediglich die Akten vorlegen lassen und bei seinen Kanzleimitarbeitern nachfragen müssen, weshalb die Berufungsschrift an eine falsche Telefaxnummer übermittelt worden ist. Dies wäre ihm trotz der verschiedenen Auswärtstermine, die er zwischen dem 23. Juni 2009 und 26. Juni 2009 wahrnehmen musste, zumutbar gewesen. Schließlich hatte er auch die Zeit gefunden, sich mit der Sache zu befassen und mit Schriftsatz vom 24. Juni 2009 beim Berufungsgericht eine Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zu beantragen.
Das Berufungsgericht hat daher dem Beklagten zu Recht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO gewährt.
4. Schließlich wird die Versäumung der Berufungsfrist auch nicht dadurch entschuldigt, dass die Generalstaatsanwaltschaft die per Telefax eingegangene Berufungsschrift nicht noch am 12. März 2009 an das Oberlandesgericht weitergeleitet hat.
a) Die Rechtsbeschwerde weist zwar zutreffend darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Rechtsuchender grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass ein einmal mit der Sache befasstes Gericht einen bei ihm eingereichten, aber für das Rechtsmittelgericht bestimmten Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang dorthin weiterleiten wird (BVerfGE 93, 99, 115 f.; BVerfG NJW 2001, 1343). Eine weitergehende Verpflichtung, etwa eine beschleunigte Weiterleitung an das zuständige Gericht oder eine Verpflichtung, die Partei oder deren Prozessbevollmächtigten durch Telefonat oder Telefax von der Einreichung der Berufung bei einem unzuständigen Gericht zu unterrichten, ergibt sich von Verfassungs wegen jedoch nicht (BVerfG NJW 2001, 1343). Denn sonst würde der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Einhaltung der Formalien vollständig abgenommen und dem unzuständigen Gericht übertragen (BVerfG aaO). Offen gelassen hat das Bundesverfassungsgericht bislang die Frage, ob diese Grundsätze auch dann gelten, wenn die Berufung bei einem Gericht eingereicht wurde, das bislang mit der Sache nicht befasst war (BVerfG aaO). Der Bundesgerichtshof wendet die gleichen Grundsätze an und sieht keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen und vorher mit der Sache noch nicht befassten Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern (statt vieler BGH Beschluss vom 15. Juni 2004 - VI ZB 75/03 - NJW-RR 2004, 1655, 1656 m.w.N.).
b) Auf dieser rechtlichen Grundlage ist die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden. Die Berufungsschrift ist am 12. März 2009 bei der Generalstaatsanwaltschaft, mithin einer völlig unzuständigen Behörde eingegangen. Da selbst ein Gericht, das mit dem Verfahren vorbefasst war, nur verpflichtet ist, für eine Weiterleitung der Berufungsschrift im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs zu sorgen, können sich für die Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft keine weitergehenden Pflichten ergeben. Da die Berufung am 12. März 2009 zwischen 14.54 Uhr und 15.15 Uhr bei der Generalstaatsanwaltschaft einging, war eine Weiterleitung des Schriftsatzes an diesem Tag im ordentlichen Geschäftsgang nicht mehr möglich. Aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich, dass nicht als besonders eilig gekennzeichnete Faxeingänge nur einmal täglich nach Eingang der Post (regelmäßig zwischen 09.30 Uhr und 10.00 Uhr) abgetragen werden und daher im Rahmen des ordentlichen Geschäftsverkehrs ein Zutrag an das Berufungsgericht erst am nächsten Tag erfolgen konnte. Das Berufungsgericht hat zudem festgestellt, dass der Schriftsatz vom 12. März 2009 nicht als besonders eilbedürftig gekennzeichnet war. Der baldige Ablauf der Berufungsfrist wäre daher nur durch eine konkrete Fristberechnung anhand des Inhalts des Schriftsatzes möglich gewesen. Dazu waren die Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft jedoch nicht verpflichtet.
Dose Vézina Klinkhammer
Schilling Günter
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061554
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BVerwG
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8. Senat
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20100415
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8 B 2/10
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Beschluss
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§ 37 Abs 2 VermG, § 146 Abs 2 VwGO
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vorgehend VG Gera, 8. Dezember 2009, Az: 2 K 13/09, Beschluss
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DEU
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Rechtsmittel gegen Richterablehnungsentscheidung bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten
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Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gera vom 8. Dezember 2009 wird verworfen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
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Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gera vom 8. Dezember 2009 ist nicht statthaft.
Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 8. Dezember 2009 den Antrag der Klägerin auf Ablehnung des Vorsitzenden Richters am Verwaltungsgericht Amelung und des Richters am Verwaltungsgericht Alexander wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Dies ergibt sich bereits aus § 146 Abs. 2 VwGO, wonach Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nicht mit der Beschwerde angefochten werden können (vgl. Beschluss vom 25. Juli 2008 - BVerwG 3 B 69.08 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 49). Ausnahmen davon sieht das Gesetz nicht vor.
Unabhängig davon ist die Beschwerde auch durch § 37 Abs. 2 Satz 1 VermG ausgeschlossen. Entgegen der Auffassung der Klägerin bezieht sich die Vorschrift auch auf Entscheidungen über die Ablehnung von Richtern wegen Besorgnis der Befangenheit. Denn sie gilt für Beschlüsse aller Art des Verwaltungsgerichts, die im Rahmen einer vermögensrechtlichen Streitigkeit getroffen werden (Beschlüsse vom 31. Januar 2000 - BVerwG 8 B 22.00 - Buchholz 428 § 37 VermG Nr. 25 und vom 17. Februar 2005 - BVerwG 8 B 9.05 - Buchholz 428 § 37 VermG Nr. 36; vgl. auch Beschluss vom 29. Januar 1998 - BVerwG 8 B 2.98 - Buchholz 428 § 37 VermG Nr. 17). Dies ist hier der Fall. Denn die Richterablehnung erfolgte in dem von der Klägerin eingeleiteten Klageverfahren 2 K 13/09, in dem über den von ihr geltend gemachten Rückübertragungsanspruch nach dem Vermögensgesetz zu entscheiden ist. § 37 Abs. 2 Satz 1 VermG normiert für solche Verfahren nicht nur einen Ausschluss des Rechtsmittels der Berufung, sondern einen generellen Ausschluss der Beschwerde auch gegen andere gerichtliche Entscheidungen, soweit nicht die in § 37 Abs. 2 Satz 2 VermG abschließend genannten, vorliegend jedoch nicht in Betracht kommenden Ausnahmen eingreifen (Beschlüsse vom 31. Januar 2000 a.a.O. und vom 17. Februar 2005 a.a.O. m.w.N.).
Eine Beschwerdemöglichkeit gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO besteht daneben nicht. Gemäß § 173 VwGO ist die Zivilprozessordnung nur entsprechend anzuwenden, soweit die Verwaltungsgerichtsordnung keine Bestimmungen über das Verfahren enthält. Das ist vorliegend jedoch mit dem Rechtsmittelausschluss in § 146 Abs. 2 VwGO der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061681
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BGH
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5. Strafsenat
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20100415
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5 StR 96/10
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Beschluss
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§ 406 Abs 1 StPO, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 5 Abs 3 MRK
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vorgehend LG Hamburg, 14. April 2009, Az: 629 KLs 6/08 - 2 Ss 10/10, Urteil
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DEU
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Strafverfahren wegen gewerbsmäßigen Betruges: Absehen von der Entscheidung über eine Vielzahl von Adhäsionsanträgen in einer Haftsache
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 14. April 2009 wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO mit der Maßgabe (§ 349 Abs. 4 StPO) als unbegründet verworfen, dass zwei Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges und unerlaubten Besitzes und Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Munition zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten bleibt im Wesentlichen ohne Erfolg.
1. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
2. Im Übrigen war das Urteil lediglich um die Kompensation eines Konventionsverstoßes zu ergänzen (§ 349 Abs. 4 StPO).
Auf zulässige Revision hat der Senat von Amts wegen eine Verfahrensverzögerung nach Erlass eines angefochtenen tatrichterlichen Urteils zu berücksichtigen (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 8; BGH wistra 2008, 304; BGH, Beschluss vom 11. März 2008 – 3 StR 36/08). Den Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift zum Umfang der Verletzung des Gebots zügiger Verfahrenserledigung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG schließt sich der Senat an. Entgegen der Annahme des Generalbundesanwalts war hier eine ausdrückliche Feststellung der Verfahrensverzögerung zur Kompensation indes ungenügend; ein bezifferter Teil der verhängten Strafe war für vollstreckt zu erklären (BGHSt 52, 124, 135 ff.). Dies hat der Senat in der gebotenen Höhe von zwei Monaten selbst vorgenommen, um weitere Verzögerungen zu vermeiden. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund der unnötigen Verzögerung des Verfahrens im Zwischenverfahren.
Hingegen hat die Strafkammer zu Recht von einer Entscheidung über die Adhäsionsanträge der Geschädigten abgesehen; die Voraussetzungen hierfür lagen ersichtlich nicht vor (§ 406 Abs. 1 Satz 4 StPO). Verfahrensgegenstand waren gewerbsmäßig begangene Betrugshandlungen zum Nachteil von mehr als 800 Geschädigten. Der auch mit einem Grundurteil verbundene zeitliche und organisatorische Aufwand zugunsten dieser Vielzahl an Geschädigten, deren Zahlungsansprüche zudem nicht identisch waren, hätte womöglich die zur Sachaufklärung erforderliche Anzahl zu vernehmender geschädigter Zeugen (vgl. § 404 Abs. 3 StPO; BGH JR 2009, 471, 472) erheblich überschritten und wäre damit vorrangigeren Zielen des Strafverfahrens sowie dem Gebot zügiger Verfahrensführung bei Haftsachen zuwidergelaufen (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 406 Rdn. 12). Schon der – soweit ersichtlich – durch die Staatsanwaltschaft erteilte Hinweis nach § 406h Satz 1 Nr. 2 StPO hätte deshalb bei dieser Fallkonstellation (auch vorhersehbar) gemäß § 406h Satz 2 StPO entfallen müssen (vgl. BT-Drucks. 16/12098 S. 39).
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100061682
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BGH
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4. Strafsenat
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20100407
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4 StR 644/09
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Beschluss
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§ 20 StGB, § 21 StGB, § 267 StPO
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vorgehend LG Halle (Saale), 9. Juli 2009, Az: 13 KLs 8/08 - 271 Js 1048/08, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Anforderungen an die Urteilsfeststellungen bezüglich der sachverständigen Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 9. Juli 2009 im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung in zwei Fällen und wegen Sachbeschädigung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.
Mit seiner hiergegen gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Den Verfahrensrügen bleibt der Erfolg aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 9. Februar 2010 versagt. Hingegen führt das Rechtsmittel auf die Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im gesamten Rechtsfolgenausspruch; im Übrigen ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
1. Die Ausführungen des Landgerichts zur Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Die Urteilsgründe beschränken sich in diesem Zusammenhang darauf, das Ergebnis der Exploration durch den vom Landgericht beauftragten psychiatrischen Sachverständigen Dr. S. wiederzugeben, wonach der Angeklagte weder an einer schizophrenen Psychose noch an einer wahnhaften Störung leide und auch eine Affekttat auszuschließen sei. Vielmehr habe der Angeklagte lediglich eine akzentuierte Persönlichkeit mit Mängeln in der sozialen Kompetenz und benötige daher psychotherapeutische Behandlung; die Eingangsvoraussetzungen von § 20 StGB seien indes nicht erfüllt. Das Landgericht ist dieser Einschätzung des Sachverständigen dann trotz "nicht unerheblicher Bedenken im Ergebnis" gefolgt und hat eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB zum Zeitpunkt der Taten verneint.
2. Diese Erwägung des Landgerichts ist so allgemein gehalten, dass dem Senat die revisionsgerichtliche Prüfung, ob die Strafkammer bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten von einem zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist und die Voraussetzungen einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB rechtsfehlerfrei verneint hat, nicht möglich ist.
Der Tatrichter hat die Schuldfähigkeit des Angeklagten ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beurteilen; es handelt sich insoweit um eine Rechtsfrage, die vor dem Hintergrund einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter zu beantworten ist (BGHSt 43, 66, 77; 49, 45, 53; BGH, Urteil vom 6. Mai 1997 – 1 StR 17/97, BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 31). Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen im angefochtenen Urteil ersichtlich schon deshalb nicht, weil die Strafkammer selbst erhebliche Zweifel am Ergebnis des Sachverständigengutachtens erkennen lässt, ohne diese auch nur ansatzweise näher zu erläutern. Unerörtert bleibt auch der in den Urteilsgründen mitgeteilte Umstand, dass der im Zuge der einstweiligen Unterbringung des Angeklagten tätig gewordene psychiatrische Sachverständige Dr. G. in zwei – vorläufigen – Stellungnahmen eine psychotische Erkrankung nicht ausgeschlossen hat.
II.
Trotz der im Hinblick auf das Tatbild außerordentlich maßvollen Einzelstrafen – vor allem in Fall II. 3 der Urteilsgründe – kann der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen, dass sich der Rechtsfehler bei der Strafbemessung zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat, und hebt den Rechtsfolgenausspruch daher insgesamt auf.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100061683
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BGH
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2. Strafsenat
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20100414
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2 StR 112/10
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Beschluss
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§ 63 StGB, § 64 StGB
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vorgehend LG Frankfurt, 29. Oktober 2009, Az: 5/30 KLs 4871 Js 226162/07 (5/09), Urteil
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DEU
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Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Gefährlichkeit für die Allgemeinheit
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 29. Oktober 2009 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
Die im Hinblick auf die Feststellungen kaum vertretbare Abweichung von der Regelwirkung des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB und Anwendung des Strafrahmens des § 177 Abs. 1 StGB beschwert den Angeklagten nicht.
Das Landgericht hat die Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) u. a. mit der Erwägung abgelehnt, es fehle an der Gefahr erheblicher rechtswidriger Taten, da es sich vorliegend durchweg um Beziehungstaten zum Nachteil der Geschädigten B.-K. gehandelt habe und die Beziehung zu dieser nicht mehr bestehe. Dies ist - worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hinweist - rechtsfehlerhaft. Anders als bei § 63 StGB braucht der Täter für eine Unterbringung nach § 64 StGB nicht für die Allgemeinheit gefährlich zu sein. Dass die bei der erforderlichen Gefahrprognose maßgeblich zu berücksichtigende Schwere der auf den Hang zurückzuführenden Anlasstaten gegeben ist, kann nach den Feststellungen nicht zweifelhaft sein. Jedoch tragen die Ausführungen des Landgerichts zum Fehlen einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht (§ 64 Satz 2 StGB) die Ablehnung der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Schmitt
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100061686
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BGH
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2. Strafsenat
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20100414
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2 StR 42/10
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Beschluss
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§ 344 Abs 2 S 2 StPO
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vorgehend LG Köln, 2. Juli 2009, Az: 43 Js 366/08 - 101 - 10/09, Urteil
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DEU
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Revisionsbegründung im Strafverfahren: Anforderungen an die Begründung der Verfahrensrüge
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 2. Juli 2009 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
Zutreffend hat der Generalbundesanwalt die Verfahrensrügen als unzulässig gewertet, so dass es eines Eingehens auf deren Begründetheit nicht bedarf. Es genügt den Anforderungen an einen ordnungsgemäßen Revisionsvortrag (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) nicht, wenn Aktenbestandteile und Ausschnitte aus dem Hauptverhandlungsprotokoll - wie es in der Revisionsschrift heißt - "der Einfachheit halber in chronologischer Reihenfolge und nicht nach Rügen getrennt überreicht werden". Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus einem Aktenkonvolut denkbare Verfahrensfehler selbst herauszusuchen und den dazu möglicherweise passenden Verfahrenstatsachen zuzuordnen.
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Schmitt
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100061687
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BGH
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2. Strafsenat
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20100414
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2 StR 70/10
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Beschluss
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§ 29a BtMG, § 30a BtMG
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vorgehend LG Trier, 8. Oktober 2009, Az: 8031 Js 18606/08 jug - 2a KLs, Urteil
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DEU
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Betäubungsmittelhandel: Bandenhandel und Betäubungsmitteleinfuhr als Bewertungseinheit; strafschärfendes Verbringen über die Grenze
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Trier vom 8. Oktober 2009
a) dahin geändert, dass die jeweils tateinheitliche Verurteilung wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge entfällt; der Angeklagte ist somit verurteilt wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen,
b) im gesamten Strafausspruch aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen, jeweils tateinheitlich begangen mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Schuldspruch war, wie aus dem Beschlusstenor ersichtlich, zu ändern. Wird - wie hier - neben dem Merkmal des Bandenhandels auch das der Einfuhr verwirklicht, liegt nur eine Tat im Sinne einer Bewertungseinheit vor; der Bandenhandel verbindet die im Rahmen ein und desselben Güterumsatzes aufeinander folgenden Teilakte, insbesondere auch den Teilakt der unerlaubten Einfuhr, zu einer einzigen Tat (st. Rspr., vgl. BGH BtMG § 30 a Konkurrenzen 1; Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2006 - 2 StR 147/06 und vom 24. Oktober 2007 - 2 StR 232/07). Insoweit kommt der Einfuhr neben dem Bandenhandel keine selbständige rechtliche Bedeutung zu.
2. Die Änderung des Schuldspruchs führt auch zur Aufhebung des Strafausspruchs. Aus den Strafzumessungserwägungen des angefochtenen Urteils ergibt sich, dass das Landgericht bei sämtlichen Taten die Verletzung von jeweils zwei Strafgesetzen, damit also die Einfuhr von Betäubungsmitteln, straferschwerend gewertet hat. Zwar kann das Verbringen der Betäubungsmittel über die Grenze zum Zwecke des Handeltreibens strafschärfend berücksichtigt werden (BGH, Beschl. vom 4. April 2006 - 3 StR 47/06). Gleichwohl vermag der Senat hier nicht sicher auszuschließen, dass die Strafkammer bei richtiger Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses niedrigere Freiheitsstrafen verhängt hätte.
Der Aufhebung von Feststellungen zur Strafzumessung bedarf es nicht. Der neue Tatrichter hat lediglich eine neue Bewertung vorzunehmen. Ergänzende, nicht widersprechende Feststellungen zur Strafe sind möglich.
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Schmitt
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061688
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BGH
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3. Strafsenat
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20100330
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3 StR 69/10
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Beschluss
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§ 66 Abs 1 Nr 3 StGB, § 66 Abs 2 StGB, § 66 Abs 3 S 2 StGB, § 67d Abs 3 StGB, § 176 Abs 3 StGB
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vorgehend LG Mönchengladbach, 8. Oktober 2009, Az: 32 KLs 8/09 - 601 Js 2370/08, Urteil
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DEU
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Sicherungsverwahrung: Zur Feststellung der Hangtätereigenschaft, der Allgemeingefährlichkeit und der Verwendung statistischer Prognoseinstrumente bei der Gefährlichkeitsprognose eines Sexualstraftäters
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 8. Oktober 2009 im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn freigesprochen. Zugleich hat es die Sicherungsverwahrung angeordnet. Gegen die Verurteilung richtet sich die Revision des Angeklagten mit der allgemeinen Sachbeschwerde. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg.
Nach den Feststellungen missbrauchte der damals 57 oder 58 Jahre alte Angeklagte zwei Mädchen im Alter von zehn oder elf bzw. von zwölf Jahren, die er im unmittelbaren Wohnumfeld kennengelernt und um die er sich im Einverständnis mit den Eltern als hilfsbereiter Nachbar gekümmert hatte. Er holte die Kinder von der Schule ab, machte Ausflüge mit ihnen und ließ sie in seiner Wohnung das Internet nutzen. In den Sommerferien 2008 waren die Kinder ständig von morgens bis abends bei ihm. Die Taten beging der Angeklagte "in dem Zeitraum von Anfang Juni bis Ende August 2008". Eine nähere Eingrenzung war der Kammer - von zwei Taten abgesehen, die am 15. und 16. August 2008 stattfanden - nicht möglich.
Die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Die Strafzumessung - insbesondere die Annahme eines besonders schweren Falles des sexuellen Kindesmissbrauchs (§ 176 Abs. 3 StGB) im Fall II. 2. der Urteilsgründe sowie die Verhängung von drei Einzelfreiheitsstrafen von einem Jahr, denen jeweils ein Zungenkuss des Angeklagten mit der zehn- oder elfjährigen M. zugrunde liegt - ist angesichts der Gesamtumstände zwar eher streng, verlässt aber den Bereich des Schuldangemessenen noch nicht.
Die Anordnung der Sicherungsverwahrung kann hingegen nicht bestehen bleiben, da das Landgericht weder einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch eine auf ihm beruhende zukünftige Gefährlichkeit des Angeklagten tragfähig begründet hat.
1. Das Merkmal "Hang" im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Der Hang als "eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Seine Feststellung obliegt - nach sachverständiger Beratung - unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände dem Richter in eigener Verantwortung (BGH, Urt. vom 17. Dezember 2009 - 3 StR 399/09 - Rdn. 4).
Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Es führt - unter pauschaler Bezugnahme auf "gutachterliche Feststellungen" des Sachverständigen - lediglich aus, dass "bei dem Angeklagten die aus psychologisch-psychiatrischer Sicht für einen Hangtäter sprechenden Risikofaktoren für die Begehung weiterer sexueller Missbrauchstaten von Kindern nach Anzahl und Gewicht (überwiegen). Dieses ließe erwarten, dass der Angeklagte auch weitere im mittleren bis schweren Bereich anzusiedelnde sexuelle Missbrauchstaten begehen wird." Damit ist nicht nur zu besorgen, das Landgericht habe unter Verkennung der Kompetenz- und Verantwortungsbereiche die Entscheidung über den Hang dem Sachverständigen überlassen, es fehlt auch an der notwendigen Gesamtwürdigung von Taten und Täterpersönlichkeit. Diese ist mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen, wenn - wie hier - bei Vorliegen der formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB in Ermangelung von symptomatischen Vortaten und neuerlicher Delinquenz trotz erfolgter Strafverbüßung die Tatsachengrundlage besonders schmal ist (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 1). In die Würdigung wäre hier u. a. einzustellen gewesen, dass der nicht vorbestrafte Angeklagte bislang ein unauffälliges Leben führte und aus mehreren, zum Teil langjährigen Beziehungen mit Frauen insgesamt vier erwachsene Kinder hatte. Zudem handelte es sich um einen äußerst kurzen Tatzeitraum.
Sollte das Landgericht angenommen haben, eine positive Gefährlichkeitsprognose könne die Feststellung eines Hangs ersetzen, wäre auch dies rechtsfehlerhaft. Hangtätereigenschaft und Gefährlichkeit für die Allgemeinheit sind keine identischen Merkmale. Das Gesetz differenziert zwischen den beiden Begriffen sowohl in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB als auch in § 67 d Abs. 3 StGB. Der Hang ist nur ein wesentliches Kriterium der Prognose. Der Hang als "eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Die Gefährlichkeitsprognose schätzt die Wahrscheinlichkeit dafür ein, ob sich der Täter in Zukunft trotz seines Hanges erheblicher Straftaten enthalten kann oder nicht (BGHSt 50, 188, 196; vgl. auch BGH StV 2008, 301, 320).
2. Auch die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten ist rechtlich zu beanstanden. Hier referiert das Landgericht, der Sachverständige habe "zum einen eine statistische Bewertung des von dem Angeklagten ausgehenden Risikos nach dem Verfahren 'Static 99' durchgeführt. … Auf einer bis 10 reichenden Skala habe der Angeklagte einen Skalenwert von 7 erreicht. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei der Angeklagte damit in den Bereich 'hohes Risiko' einzustufen, der bei dem Skalenwert 6 beginne."
Zutreffend an diesen Ausführungen ist allein, dass es sich bei dem "Static 99" um eines von mehreren Prognoseinstrumenten zur Vorhersage von Rückfällen bei Sexualdelinquenz handelt(vgl. hierzu Dahle, Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose in: Kröber u. a.: Handbuch der Forensischen Psychiatrie Bd. 3 S. 1, 32 ff., 41 ff.; Dahle FPPK 2007, 15, 17), dessen Qualität inzwischen auch durch Studien in Europa getestet worden ist (vgl. Nedopil, Forensische Psychiatrie 3. Aufl. S. 248; Rettenberger/Eher MschrKrim 2006, 352, 358; Noll u. a MschrKrim 2006, 24, 29; Endrass u. a. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 2009, 284; Dahle u. a. FPPK 2009, 210, 216, 219). Es ist aber bereits nicht ersichtlich, wie der Sachverständige bei dem unbestraften, nahezu 60jährigen Angeklagten, der mehrere langjährige Beziehungen zu Frauen hatte, seine durchweg weiblichen Opfer und deren Familien im nachbarschaftlichen Umfeld seit längerem kannte und bei seinen Taten ohne Gewalt vorging, zur Vergabe von sieben Risikopunkten kommen konnte. Die Feststellungen des Landgerichts belegen jedenfalls nur einen Risikopunkt (Item-Nummer 8: Opfer und Täter sind nicht verwandt). Hinzu kommt, dass sich das Landgericht darauf beschränkt, ein "hohes Risiko" festzustellen, ohne darzulegen, welche Straftaten in welchem Zeitraum mit welcher Wahrscheinlichkeit von dem Angeklagten zu erwarten sind. Nur so könnte nachprüfbar belegt werden, ob der Angeklagte gefährlich ist.
Zuletzt lässt das Landgericht außer Acht, dass mit der Feststellung, der Angeklagte weise bei Anwendung irgendeines statistischen Prognoseinstruments eine bestimmte Anzahl von Risikopunkten auf, nichts Entscheidendes gewonnen ist. Solche Instrumente können für die Prognose zwar Anhaltspunkte über die Ausprägung eines strukturellen Grundrisikos liefern, sind indes nicht in der Lage, eine fundierte Einzelbetrachtung zu ersetzen (Dahle FPPK 2007, 15, 24). Zur individuellen Prognose bedarf es über die Anwendung derartiger Instrumente hinaus zusätzlich einer differenzierten Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen. Denn jedes Instrument kann nur ein Hilfsmittel sein, eines von mehreren Werkzeugen, mit denen sich der Gutachter die Prognosebeurteilung erarbeitet (vgl. auch Boetticher u. a. NStZ 2009, 478, 481).
Die weiteren, im Urteil wiedergegebenen Erwägungen des Sachverständigen vermögen diese Mängel nicht auszugleichen.
3. Der Senat vermag nicht völlig auszuschließen, dass eine neuerliche Verhandlung doch noch zur Feststellung von Umständen führt, die die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnten. Über den Maßregelausspruch muss deshalb nochmals entschieden werden. Dabei wird sich die Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen empfehlen.
Sost-Scheible Pfister Hubert
Schäfer Mayer
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Deutschland
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JURE100061689
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BGH
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4. Strafsenat
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20100316
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4 StR 612/09
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Beschluss
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§ 247 StPO
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vorgehend LG Halle (Saale), 3. Juli 2009, Az: 24 KLs 8/08 - 170 Js 37983/07, Urteil
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DEU
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Entfernung des Angeklagten während einer Zeugenvernehmung: Unterrichtungspflicht nach Unterbrechung der Beweisaufnahme
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 3. Juli 2009 mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte im Fall II. 2 der Urteilsgründe verurteilt worden ist,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe und die Adhäsionsentscheidung.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es zu Gunsten einer der Geschädigten eine Adhäsionsentscheidung getroffen.
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Ohne Erfolg wendet sich der Angeklagte gegen seine Verurteilung wegen Vergewaltigung im Fall II. 1 der Urteilsgründe.
1. Die insoweit erhobenen Verfahrensrügen greifen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 21. Januar 2010 nicht durch. Soweit der Angeklagte die Verletzung von § 261 StPO darin sieht, dass sich das Landgericht in den Urteilsgründen nicht mit dem Inhalt des in der Hauptverhandlung verlesenen Schreibens der Vertreterin der früheren Nebenklägerin P. vom 1. September 2008 auseinandergesetzt habe, bemerkt der Senat ergänzend:
Zwar ist der Tatrichter zur erschöpfenden Würdigung der Beweise verpflichtet. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Gericht Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zugunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Erwägungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 29, 18, 20; BGH, Beschluss vom 18. August 1987 – 1 StR 366/87, BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 7). Eine Verletzung von § 261 StPO kommt daher grundsätzlich auch dann in Betracht, wenn der Tatrichter den Inhalt einer Urkunde, die durch Verlesung zum Inbegriff der Hauptverhandlung geworden ist, bei seiner Beweiswürdigung nicht berücksichtigt hat, obwohl deren Bedeutsamkeit auf der Hand lag (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 13. Februar 2008 – 3 StR 481/07, NStZ 2008, 475). Dem bereits mehrere Monate vor Beginn der Hauptverhandlung zu den Sachakten gelangten und allen Verfahrensbeteiligten bekannten Schriftsatz der ehemaligen Nebenklägervertreterin kann jedoch im vorliegenden Fall durch den Gang der Hauptverhandlung, insbesondere durch die Vernehmung der Nebenklägerin selbst, jegliche erörterungsbedürftige Bedeutung genommen worden sein, zumal das Landgericht in deren Aussage "deutliches Entlastungsstreben“ erkannt hat.
2. Auch die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf Grund der Sachrüge hat insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
II.
Soweit der Angeklagte im Fall II. 2 der Urteilsgründe wegen Vergewaltigung zum Nachteil der Geschädigten E. verurteilt wurde, hat seine Revision mit der Rüge der Verletzung von § 247 Satz 4 StPO Erfolg.
1. Der Senat schließt sich dem Generalbundesanwalt an, der in seiner Antragsschrift vom 21. Januar 2010 insoweit u.a. ausgeführt hat:
"Das Landgericht hat - wie die Revision richtig und vollständig vorträgt - am zweiten Verhandlungstag, dem 27. Januar 2009, für die Dauer der Vernehmung der Geschädigten E. gemäß § 247 StPO die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal angeordnet (RB S. 21). Die Vernehmung der Geschädigten E. , die etwa drei Stunden dauerte, wurde an diesem Sitzungstag nicht abgeschlossen (RB S. 23). Am nächsten Verhandlungstag, dem 30. Januar 2009, hat das Landgericht neun andere Zeugen in Anwesenheit des Angeklagten vernommen (RB S. 53-59). Am vierten Verhandlungstag, dem 9. Februar 2009, hat es nach Vernehmung eines weiteren Zeugen - und nunmehr wiederum unter Entfernung des Angeklagten - die Vernehmung der Geschädigten fortgesetzt und beendet (RB S. 79-81). Erst danach unterrichtete der Vorsitzende den Angeklagten über den Inhalt der von der Geschädigten E. in beiden Vernehmungen gemachten Bekundungen (RB S. 81).
Dieses Verfahren verstößt - wie die Revision zu Recht rügt - gegen die Vorschrift des § 247 Satz 4 StPO. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wiederum anwesend ist, vom wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist. Die durch § 247 StPO ermöglichte Verhandlung ohne den Angeklagten und seine dadurch behinderte Verteidigung sind, soweit unvermeidbar, hinzunehmen in Verbindung mit seiner Unterrichtung über das in seiner Abwesenheit Geschehene bevor weitere Verfahrenshandlungen erfolgen. Damit soll er weitgehend so gestellt werden, wie er ohne Zwangsentfernung gestanden hätte (vgl. BGHSt 3, 384, 385; BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 2). Auch wenn die während der Entfernung des Angeklagten durchgeführte Zeugenvernehmung noch nicht abgeschlossen, sondern nur unterbrochen war, muss der Angeklagte von dem in seiner Abwesenheit Ausgesagten unterrichtet werden, bevor in seiner Anwesenheit die Beweisaufnahme fortgesetzt wird. Nur so ist sichergestellt, dass der Informationsstand des Angeklagten im Wesentlichen dem der anderen Prozessbeteiligten entspricht und er seine Verteidigung, etwa durch Fragen an weitere Zeugen, sachgerecht auszuüben vermag (st. Rspr.; vgl. BGHSt 38, 260; Senat NStZ-RR 2005, 259; vgl. auch Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 247 Rdn. 15).
Vor diesem Hintergrund hätte am 3. Verhandlungstag die weitere Beweisaufnahme erst fortgesetzt werden dürfen, nachdem der jetzt wieder zugelassene Angeklagte vom wesentlichen Inhalt der (bisherigen) Aussage der Geschädigten E. unterrichtet worden war. Dass eine solche unterblieben ist, belegt die fehlende Eintragung im Sitzungsprotokoll. Denn die Unterrichtung nach § 247 S. 4 StPO gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten, die nach § 273 Abs. 1 StPO im Hauptverhandlungsprotokoll zu beurkunden sind (vgl. BGHSt 1, 346, 350; Meyer-Goßner a.a.O. Rdn. 17). Für eine etwaige Berichtigung des Protokolls bestand nach der dienstlichen Stellungnahme der Kammervorsitzenden vom 04. November 2009 (Bd. VIII, Bl. 12 d.A.) insoweit keine Veranlassung".
Auf dem gerügten Verfahrensverstoß kann das Urteil hinsichtlich der Tat zum Nachteil der Geschädigten E. auch beruhen.
Da sich für den Angeklagten aus § 240 Abs. 1 StPO kein Anspruch auf Befragung unmittelbar im Anschluss an einen bestimmten Teil einer Zeugenaussage ergibt, verlangt § 247 Satz 4 StPO regelmäßig auch keine abschnittsweise Unterrichtung (BGH, Beschluss vom 11. Juni 2002 – 3 StR 484/01, BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 9). Jedoch wurde dem Angeklagten im vorliegenden Fall die Möglichkeit genommen, den nach der Vernehmung der Geschädigten und vor seiner Unterrichtung über deren (Teil-)Aussage vernommenen weiteren Zeugen Fragen zu stellen oder Vorhalte zu machen, wenn Widersprüche zu den Angaben der Geschädigten aufgetreten waren. Dies betrifft die Angaben der Zeugen W., H. und L., die das Landgericht für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten herangezogen hat, ebenso wie die der Zeugen Ha. , Sch. , S. und B. , auf die es sich zur Widerlegung der bestreitenden Einlassung des Angeklagten gestützt hat.
2. Der Verfahrensfehler führt zur Aufhebung des Urteils in Fall II. 2. Die Teilaufhebung des Urteils zieht die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe nach sich.
Tepperwien Solin-Stojanović Ernemann
Franke Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061690
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BGH
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4. Strafsenat
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20100401
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4 StR 637/09
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Beschluss
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§ 35a S 3 StPO, § 44 S 1 StPO, § 44 S 2 StPO
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vorgehend LG Arnsberg, 14. August 2009, Az: 6 KLs 212 Js 915/07 - 44/08, Urteil
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DEU
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Strafverfahren: Zu späte Kenntnisnahme von einer Gesetzesänderung
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Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 14. August 2009 und die Revision gegen das genannte Urteil werden verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in sechs Fällen - unter Anrechnung von Auslieferungshaft - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Revisionseinlegungsfrist und seine Revision bleiben ohne Erfolg.
1. Dem angefochtenen Urteil ging eine Verständigung voraus. Nach der Verkündung des Urteils am 14. August 2009 wurde der Angeklagte qualifiziert belehrt. Er verzichtete daraufhin auf Rechtsmittel. Mit einem auf den 1. Oktober 2009 datierten, am 7. Oktober 2010 beim Landgericht eingegangenen Schreiben legte der Angeklagte Revision ein und begehrte gleichzeitig unter Hinweis auf die Regelung in § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO n.F. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Mit Schreiben vom 6. Oktober und 9. Oktober 2009 legten auch seine Verteidiger Revision ein und beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Das Wiedereinsetzungsgesuch wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Rechtsmittelverzicht gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO n.F. unwirksam gewesen sei. Hätte der Angeklagte dies gewusst, hätte er fristgerecht Revision eingelegt.
2. Der Wiedereinsetzungsantrag bleibt ohne Erfolg.
a) Bedenken bestehen bereits gegen seine Zulässigkeit, weil die Begründungsschreiben - wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat - nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit den Zeitpunkt des Wegfalles des Hindernisses im Sinne des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO erkennen lassen (vgl. Senat, Beschluss vom 13. September 2005 - 4 StR 399/05, NStZ 2006, 54).
b) Der Antrag ist jedenfalls unbegründet.
Zwar ist es zutreffend, dass nach § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO in der Fassung des am 4. August 2009 in Kraft getretenen Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2353) der in der Hauptverhandlung vom 14. August 2009 nach Urteilsverkündung erklärte Rechtsmittelverzicht nicht zulässig war. Dies hat zur Folge, dass der Rechtsmittelverzicht unwirksam ist, so dass dem Angeklagten die - hier erheblich überschrittene - einwöchige Frist zur Einlegung der Revision (§ 341 Abs. 1 StPO) zur Verfügung gestanden hätte.
Der Angeklagte war jedoch nicht - wie in § 44 Satz 1 StPO gefordert - ohne Verschulden gehindert, die Frist zur Einlegung der Revision zu wahren. Denn die zu späte Kenntnisnahme des Angeklagten oder seines Verteidigers von einer gesetzlichen Bestimmung stellt - ebenso wenig wie die Unkenntnis höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2005 - 5 StR 354/05, wistra 2006, 28 m.w.N.) - keine Verhinderung im Sinne dieser Vorschrift dar.
Auch § 44 Satz 2 StPO vermag dem Wiedereinsetzungsgesuch nicht zum Erfolg zu verhelfen. Das Unterlassen einer Rechtsmittelbelehrung nach § 35 a Satz 1 StPO wird nicht geltend gemacht. Die qualifizierte Belehrung nach einer Verständigung (§ 35 a Satz 3 StPO) wird nicht von dem Vermutungstatbestand des § 44 Satz 2 StPO erfasst; im Übrigen wurde der Angeklagte entsprechend belehrt. Schließlich sieht das Gesetz eine Belehrung darüber, dass bei vorausgegangener Verständigung gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen ist, nicht vor.
3. Danach ist die Revision unzulässig, weil verspätet eingelegt (§ 341 Abs. 1 StPO).
Tepperwien Athing Ernemann
Cierniak Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061708
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BGH
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5. Strafsenat
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20100415
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5 StR 75/10
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Beschluss
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§ 15 StGB, § 306 StGB, § 308 StGB
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vorgehend LG Berlin, 16. Oktober 2009, Az: (537) 1 Bra Js 1871/09 KLs (25/09), Urteil
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DEU
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Brandstiftung und Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion: Vorsatz im Zeitpunkt der Tathandlung
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 16. Oktober 2009 mit den Feststellungen nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit Brandstiftung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die mit der Sachbeschwerde geführte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Der seit 1999 freiberuflich als Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie praktizierende Angeklagte kündigte im November 2007 seine angemieteten Praxisräume. Dabei war er der Hoffnung, über die Räumlichkeiten einen neuen Mietvertrag zu besseren Konditionen abschließen zu können. Hierzu war der Vermieter indes nicht bereit, so dass der Angeklagte gezwungen war, die Praxisräume zum 30. Juni 2009 aufzugeben.
Das Verhalten seines Vermieters nahm der Angeklagte als Zerstörung seines Lebenswerkes wahr. Zwischen 0.30 Uhr und 1.00 Uhr des 27. Juni 2009 fasste er im Zuge (auch) depressiver Verstimmung den Entschluss, seine Praxisräume in Brand zu stecken und auf diese Weise die Praxis und das gesamte Inventar zu zerstören.
Bereits auf der Autofahrt zum Tatort „schwankte der Angeklagte in seinen Überlegungen, ob er seinen Plan letztlich in die Tat umsetzen sollte“ (UA S. 9). Gleichwohl begab er sich in die Praxisräume in der vierten Etage eines Bürohauses, verklebte in nahezu allen Räumen die an der Decke angebrachten Auslasse der Sprinkleranlage mit Aluminiumfolie, um ein vorzeitiges Löschen des Brandes zu verhindern, und vergoss „entsprechend seinem Tatplan, die Praxis zu zerstören“ (UA S. 9), die mitgebrachten 50 Liter Benzin nahezu vollständig. Dabei war ihm bewusst, dass die entstehenden Dämpfe als Benzin-Luft-Gemisch explodieren könnten. „Tatplangemäß“ entnahm er sodann „ein Streichholz aus seiner mitgeführten Streichholzschachtel, um dieses anzuzünden und damit das verschüttete Benzin zu entflammen“ (UA S. 10).
Aufgrund „seiner in Bezug auf die Umsetzung des Tatentschlusses weiterhin ambivalenten Stimmung zögerte der Angeklagte“. Da er „seinen Plan nun zunächst doch nicht in die Tat umsetzen wollte“, versuchte er, „das Streichholz wieder in die Schachtel zurückzustecken“. Hierbei „kam er versehentlich mit der Zündseite des Streichholzes gegen die Reibefläche der Schachtel, so dass dieses sich entzündete“. Der Angeklagte versuchte, „die Flamme sogleich zu ersticken, indem er das Streichholz mit beiden Daumen gegen die von ihm in der linken Hand gehaltene Streichholzschachtel drückte. Da jedoch durch die große Menge des verschütteten Kraftstoffs die Benzindämpfe bereits hochgestiegen waren, genügte das kurzzeitige Aufflammen des Streichholzes, um diese zu entzünden“ (UA S. 10).
Das Feuer breitete sich schnell in den Praxisräumen aus und brannte mindestens eine und höchstens drei Minuten. Unterdessen verließ der Angeklagte fluchtartig die Räumlichkeiten. Vermutlich dadurch entstand eine Verwirbelung von Luft- und Benzindämpfen, die zur Explosion dieses Gemisches führte. Als Folge der Explosion und des anschließenden Weiterbrennens des Gemisches bis zum Löschen durch die – ungeachtet der Manipulation durch den Angeklagten – weiterhin funktionsfähige Sprinkleranlage entstand ein Sachschaden von etwa 1 Mio. €.
2. Die Urteilsfeststellungen halten einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie sind in Teilen widersprüchlich und tragen eine Verurteilung wegen vorsätzlich vollendeten Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion und wegen vorsätzlich vollendeter Brandstiftung nicht. Sie lassen nicht den Schluss auf die innere Tatseite des Angeklagten im Zeitpunkt des – „versehentlichen“ – Entzündens des Benzins und damit auf die Zurechnung einer vorsätzlichen Deliktsvollendung zu.
a) Die Strafkammer begründet ihre Annahme, der Angeklagte habe in Bezug auf das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion mit – bedingtem – Vorsatz gehandelt, im Wesentlichen wie folgt: „Wie sich aus den Feststellungen ergibt, erkannte er die Möglichkeit, dass Benzin auch zu einer Explosion führen kann, und nahm diese zumindest billigend in Kauf. Der Vorsatz entfällt auch nicht dadurch, dass der Angeklagte nach dem Verschütten des Benzins und dem Herausholen eines Streichholzes sein Vorhaben zumindest in dem Moment doch nicht in die Tat umsetzen wollte und sich dann das Streichholz nur versehentlich entzündete, da es sich insoweit um eine lediglich unerhebliche Abweichung des von dem Angeklagten gewollten Kausalverlaufs darstellt. Der Angeklagte hatte vor, Benzin in seinen Praxisräumen zu verschütten und diese dann anzuzünden, um dort einen nicht unbeträchtlichen Schaden anzurichten. Dieser Vorstellung entsprechend verlief dann auch tatsächlich die von ihm begangene Tat. Der Moment des Zögerns, verbunden mit einem zumindest kurzzeitigen Abrücken vom ursprünglichen Tatentschluss, lag zu einem Zeitpunkt, als er bereits zur Tatausführung unmittelbar angesetzt hatte, da er bereits das Streichholz zum Zwecke des Entzündens des zuvor verschütteten Benzins herausgeholt hatte und es zur Vollendung auch nach seiner Vorstellung nur noch des Reibens an der Reibefläche der Streichholzschachtel bedurfte“ (UA S. 45).
b) Die Urteilsfeststellungen belegen für den hier maßgeblichen Zeitpunkt des Entzündens des Benzins bzw. des Benzin-Luft-Gemisches keine über die bloße Tatgeneigtheit hinausgehende Tatentschlossenheit des Angeklagten. Den Vorsatz muss der Täter zum Zeitpunkt der Tathandlung haben (vgl. BGH NStZ 2004, 201, 202; Vogel in LK 12. Aufl. § 15 Rdn. 53; Fischer, StGB 57. Aufl. § 15 Rdn. 4 m.w.N.; Puppe NK-StGB 2. Aufl. § 15 Rdn. 100).
Mag der Angeklagte in den vorangegangenen Ausführungsstadien die ihn immer wieder befallenden Zweifel auch überwunden haben, so gilt dies nach den Feststellungen nicht für den für die Tatbestandsverwirklichung entscheidenden Zeitpunkt des Entzündens. Denn danach „zögerte“ der Angeklagte nicht nur. Er wollte seinen Tatplan in diesem „Moment doch nicht in die Tat umsetzen“. Das Zögern war hier verbunden mit „einem zumindest kurzzeitigen Abrücken“. Dass er statt seines ursprünglichen Vorhabens nunmehr ein neues Tatgeschehen mit demselben Ziel geplant haben könnte, belegen die Feststellungen jedenfalls nicht. Die Einlassung des Angeklagten, dass er das Streichholz wieder zurück in die Schachtel habe legen wollen, er jedoch „nicht wisse, ob er es kurze Zeit später wieder herausgeholt hätte“ (UA S. 18), reicht zur Feststellung eines vorsätzlichen Handelns des Angeklagten nicht aus.
3. Der Senat sieht sich mit Rücksicht auf die ungewöhnlichen Feststellungen und die ihnen zugrunde liegende Beweiswürdigung der Strafkammer veranlasst, darauf hinzuweisen, dass das Tatgericht eine Einlassung des Angeklagten auch dann nicht ohne Weiteres seiner Überzeugungsbildung unterstellen muss, wenn es an weiteren Beweismitteln fehlt. Die Einlassung ist auf ihre Plausibilität zu überprüfen und in die Gesamtschau der ansonsten festgestellten Tatumstände einzustellen. Vor diesem Hintergrund liegt das vom Angeklagten hier geschilderte Geschehen zur Entzündung des Gemisches nicht nur weit außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit. Gerade auch die mitgeteilte Art und Weise, wie der Angeklagte das entflammte Zündholz gelöscht haben will, erscheint im Hinblick auf die motorische Leistung und die damit einhergehende Umständlichkeit – trotz festgestellter Brandwunden an den Fingern des Angeklagten – kaum nachvollziehbar.
Der Senat kann andererseits nicht von sich aus sicher feststellen, dass jedes andere Ergebnis einer fehlerfreien Beweiswürdigung als die Feststellung vorsätzlicher Brandlegung auszuschließen ist. Trotz der Feststellungen zur Fehlerhaftigkeit der tatgerichtlichen Beweiswürdigung überschritte es hier die Kompetenzen des Revisionsgerichts, die getroffenen tatgerichtlichen Feststellungen von sich aus durch andere, dann den Schuldspruch tragende Feststellungen zu ersetzen.
Der Senat kann auch nicht den Schuldspruch in Konsequenz der auf einer durchgreifend bedenklichen Beweiswürdigung getroffenen Urteilsfeststellungen in eine lediglich versuchte Tatbegehung in Tateinheit mit den entsprechenden fahrlässigen Delikten (§§ 306d, 308 Abs. 6 StGB) abändern und auf dieser Grundlage den – freilich maßvollen – Strafausspruch unter Ausschluss möglicher Strafrahmenverschiebung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB aufrechterhalten. Auch dies überschritte – abgesehen von einem fehlenden entsprechenden rechtlichen Hinweis vor dem Tatgericht – hier die revisionsgerichtliche Kompetenz.
Bei dieser Sachlage hebt der Senat das Urteil mit sämtlichen Feststellungen auf.
Basdorf Raum Schneider
König Bellay
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061711
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BGH
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5. Strafsenat
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20100413
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5 StR 113/10
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Beschluss
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§ 22 StGB, § 23 Abs 2 StGB, § 46 Abs 3 StGB, § 49 Abs 1 StGB, § 212 StGB, § 213 StGB
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vorgehend LG Leipzig, 4. November 2009, Az: 305 Js 11579/09 - 1 Ks, Urteil
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DEU
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Versuchter Totschlag: Versagung der Strafmilderung wegen Nähe zur Tatvollendung
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 4. November 2009 im Strafausspruch gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die mit der Sachbeschwerde geführte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
1. Der Strafausspruch hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Zwar mag die Wertung der Strafkammer, unter den gegebenen Voraussetzungen des § 213 Alt. 1 StGB dem Angeklagten eine Versuchsmilderung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB wegen der Nähe zur Tatvollendung zu versagen, rechtlich noch vertretbar sein (vgl. nur BGHR StGB § 23 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 9). Soweit das Tatgericht vor dem Hintergrund dieser getroffenen Strafrahmenwahl allerdings zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass ein „Überleben des Geschädigten nur von dem Zufall des bereits alarmierten Rettungswagens abhängig war“ (UA S. 49), hält diese Bewertung revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.
Das Landgericht lässt dabei unberücksichtigt, dass der Strafzumessung der – hier freilich über § 213 Alt. 1 StGB gemilderte – gesetzliche Normalstrafrahmen für eine vollendete Tatbegehung nach § 212 Abs. 1 StGB zugrunde liegt. Innerhalb dieses Strafrahmens neuerlich die Erfolgsnähe und damit gerade ein bestimmendes Merkmal des Tatbestands zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigen, ist mit § 46 Abs. 3 StGB unvereinbar.
2. Hinsichtlich dieses Wertungsfehlers bedarf es nicht der Aufhebung von Feststellungen. Sollte das neue Tatgericht abermals einer Versagung der Strafrahmenverschiebung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB zuneigen, sollte es hierfür nähere Feststellungen zu den Tatfolgen für den Geschädigten treffen und würdigen.
Basdorf Raum Schneider
König Bellay
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061712
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BGH
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5. Strafsenat
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20100414
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5 StR 122/10
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Beschluss
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§ 29 Abs 1 S 1 Nr 1 BtMG, § 25 Abs 2 StGB
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vorgehend LG Berlin, 23. November 2009, Az: (511) 1 Op Js 352/09 KLs (27/09), Urteil
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DEU
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Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln: Vorliegen der Eigennützigkeit bei täterschaftlichem Handeltreiben
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Auf die Revision des Angeklagten A. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. November 2009, soweit es ihn betrifft, nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben
a) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit der Angeklagte wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt ist,
b) im Gesamtstrafenausspruch.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln „im besonders schweren Fall“ und wegen „Verstoßes gegen das Waffengesetz“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Mit seiner Revision erstrebt der Angeklagte die Aufhebung seiner Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Das mit der Sachrüge geführte Rechtsmittel hat Erfolg.
1. In Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt geht der Senat davon aus, dass das Rechtsmittel auf die Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln beschränkt ist. Ausweislich der von ihm gestellten Anträge will der Beschwerdeführer nur diesen Schuldspruch zu Fall bringen, wobei er in seiner Revisionsbegründung die Beweiswürdigung des Landgerichts lediglich in Bezug auf diesen Tatvorwurf beanstandet. Damit hat er die Verurteilung wegen eines Waffendelikts wirksam von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen. Dem steht nicht entgegen, dass das Landgericht bei der wegen des Waffendelikts verhängten Geldstrafe von 60 Tagessätzen fehlerhaft die Tagessatzhöhe nicht festgesetzt hat. Denn das Urteil ist insoweit auch hinsichtlich des Strafausspruchs in Rechtskraft erwachsen, weswegen eine nachträgliche Abänderung oder Ergänzung der Entscheidung durch das Revisionsgericht nicht mehr möglich ist (BGHR StGB § 40 Abs. 2 Satz 1 Bestimmung, unterlassene 2).
2. Zum angefochtenen Schuldspruch wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:
„Die Überprüfung des Urteils … hat einen durchgreifenden Rechtsfehler insoweit ergeben, als das Landgericht die für täterschaftliches Handeltreiben nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG unerlässliche Eigennützigkeit des Vorgehens des Beschwerdeführers nicht festgestellt hat. Zwar liegt eine solche bei arbeitsteilig abgewickelten Drogengeschäften der vorliegenden Art (vgl. UA S. 5) durchaus nicht fern, sodass nähere Ausführungen hierzu im Urteil wegen Offenkundigkeit dieses subjektiven Moments der Tathandlung zuweilen entbehrlich sein können. In diese Kategorie von Evidenzfällen ist der abgeurteilte Sachverhalt indessen nicht einzuordnen, weil der Beschwerdeführer ausweislich UA S. 5 in die konkrete Veräußerungsabrede nicht einbezogen war und allein seine Tathandlung eine Beteiligung am Verkaufserlös oder sonstige Form eines Vorteils nicht ohne Weiteres erkennen lässt. Nimmt man hinzu, dass das Landgericht dem Beschwerdeführer auf UA S. 10 im Rahmen der Strafzumessung zugutegehalten hat, aus der abgeurteilten Tat keinen persönlichen Gewinn gezogen zu haben, so erweist sich die Notwendigkeit gesonderter Ausführungen zum Eigennutz des Beschwerdeführers als besonders dringend.“
Dem kann sich der Senat nicht verschließen.
3. Der Senat hebt die zugehörigen Feststellungen auf, um dem neu entscheidenden Tatgericht eine stimmige Bewertung des Sachverhalts zu ermöglichen. Zur Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils weist er auf Folgendes hin:
Trotz missverständlicher Ausführungen kann dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe noch entnommen werden, dass die Überzeugung vom arbeitsteiligen Vorgehen der Angeklagten maßgebend auf die Aussage des nicht revidierenden Mitangeklagten K. gestützt ist und die aus dem Zustand des Vereinslokals und dem regelmäßigen Aufenthalt des Angeklagten gezogenen Schlüsse indiziell der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von dessen Bekundungen dienen (UA S. 8). Die Rolle des Angeklagten bleibt jedoch unklar. Er war in die „Anstellung“ des K. als Drogenhändler eingebunden und überwachte dessen Tätigkeit (UA S. 5), wobei er zur „Verteidigung der Drogengeschäfte“ ein abgesägtes Stuhlbein und ein Einhandmesser griffbereit hielt (UA S. 6). Zudem war er Vorsitzender des Vereins, der nach dem „Eindruck“ der Strafkammer sein Vereinslokal ausschließlich als „Umschlagplatz für Drogen“ nutzte (UA S. 8). Andererseits wird dem Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung zugute gehalten, dass „sein Tatbeitrag eher untergeordnet war“ und er aus der Tat „keinen persönlichen Vorteil gezogen hat“ (UA S. 10). Diese Erwägungen sind nur schwer miteinander in Einklang zu bringen.
Basdorf Raum Schaal
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JURE100061713
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5. Strafsenat
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20100414
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5 StR 123/10
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Beschluss
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§ 20 StGB, § 21 StGB, § 63 StGB
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vorgehend LG Berlin, 17. September 2009, Az: 535 Ks 14/09, Urteil
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DEU
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Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anforderungen an die Begründung der Schuldunfähigkeit bei Begehung der Anlasstat und der Gefährlichkeitsprognose
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Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. September 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben. Davon ausgenommen bleiben die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf der rechtswidrigen Tat, die aufrecht erhalten bleiben. Insoweit wird die weitergehende Revision nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und ein Klappmesser eingezogen. Die Revision des Beschuldigten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen weitgehenden Teilerfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Bei dem jetzt 32 Jahre alten, nicht vorbestraften, in der Türkei geborenen und aufgewachsenen, mittlerweile in Deutschland lebenden Beschuldigten zeigten sich im Sommer 1997 psychische Auffälligkeiten. Im Oktober desselben Jahres erfolgte seine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik in Berlin. Dort wurde die Diagnose einer schizophrenen Psychose gestellt; er wurde mit einem Neuroleptikum behandelt und im Februar 1998 aus der stationären Behandlung entlassen. Zu einem zweiten stationären Aufenthalt kam es im Juli/August 1998, bei dem die Exacerbation einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie diagnostiziert und der Beschuldigte hochpotent neuroleptisch behandelt wurde. Er steht unter Betreuung und hatte zeitweise einen Einzelfallhelfer; zum Zeitpunkt der Anlasstat lebte er selbstständig in einer gemieteten Wohnung.
Am Tattag beobachtete eine Zeugin einen gesondert verfolgten Dritten bei der Entwendung einer Kamera aus einem Kraftfahrzeug und sah, wie der Dritte in Begleitung des Beschuldigten dessen Wohnhaus betrat. Die Zeugin machte eine uniformierte Polizeibeamtin, die Zeugin PHM in M., auf das Geschehen aufmerksam, die an der Wohnung des Beschuldigten klingelte. Dieser öffnete die Tür; nachdem die Polizeibeamtin ihn aufgefordert hatte, aus der Wohnung herauszutreten, schlug er indes die Wohnungstür wieder zu. Die Polizeibeamtin forderte daraufhin Unterstützung an. Es erschienen weitere sieben Polizeibeamte, unter ihnen der in Zivil gekleidete spätere Geschädigte. Sie klingelten und klopften an der Wohnungstür des Beschuldigten und riefen mit lauter Stimme: „Aufmachen, Polizei!“. Als die Tür weiterhin geschlossen blieb, forderten die Beamten einen Schlüsseldienst an. Der Beschuldigte machte jedoch die Öffnung der Tür durch den Schlüsseldienst unmöglich, indem er die Tür durch Zuschließen des Schlosses mit einem Schlüssel von innen verriegelte. Daraufhin öffneten die Beamten die Tür mit Hilfe einer Ramme. Beim Betreten der Wohnung gaben sich die Polizeibeamten wiederum laut und deutlich rufend als solche zu erkennen. Der Geschädigte betrat als Erster die Wohnung und ging auf den Beschuldigten zu. Dieser stach daraufhin in Tötungsabsicht mit einem Klappmesser mehrmals gezielt in den Oberkörperbereich des Geschädigten, der durch drei Stiche in den Bauch und den Thorax verletzt wurde und bei dem ein lebensbedrohlicher Pneumothorax entstand. Der Geschädigte konnte nur durch sofortige notärztliche Versorgung mit anschließender Notoperation gerettet werden.
b) Nach der Überzeugung der sachverständig beratenen Strafkammer handelte der Beschuldigte ohne Schuld; er sei „im psychotischen Zustand“ gewaltsam vorgegangen (UA S. 10). Die Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Tat ergebe, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei (§ 63 StGB). Insoweit schließt sich die Strafkammer der Sachverständigen an, die es für sehr wahrscheinlich erachtet hat, dass es bei einem erneuten psychotischen Schub zu ähnlichen Gewalthandlungen kommen könne. Denn die wahnhaften Verfolgungserlebnisse des Beschuldigten würden bei diesem zu Panik führen. Angesichts der dann von ihm empfundenen akuten Bedrohungssituationen sei es ausgesprochen wahrscheinlich, dass es wieder zu Gewalthandlungen gegenüber Dritten komme.
2. Soweit sich die Revision gegen die Maßregelanordnung wendet, greift – entsprechend der Begründung des Teilaufhebungsantrags des Generalbundesanwalts – bereits die Sachrüge durch.
Der Generalbundesanwalt hat hierzu ausgeführt:
„Die Anordnung nach § 63 StGB setzt unter anderem die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Zustands voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet (st. Rspr.; vgl. BGHSt 34, 22, 27). Sie bedarf einer besonders sorgfältigen Begründung, weil sie eine schwerwiegende und gegebenenfalls langfristig in das Leben des Betroffenen eingreifende Maßnahme darstellt. Den danach zu stellenden Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht. Das Landgericht hat bereits nicht hinreichend dargelegt, dass der Beschuldigte bei Begehung der Anlasstat schuldunfähig war. Darüber hinaus begegnet auch die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts rechtlichen Bedenken.
a) Wenn sich der Tatrichter- wie hier - darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungs- und Befundtatsachen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Oktober 2008 - 5 StR 397/08; Senat, Urteil vom 19. Februar 2008 - 5 StR 599/07; BGH NStZ 2003, 307 f.; NStZ-RR 2003, 232 jeweils m. w. N.). Daran mangelt es hier. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung verweist die Strafkammer auf die "insoweit getroffenen Feststellungen", ohne diese indes darzulegen. Auf der Grundlage der Ausführungen der Sachverständigen getroffene Feststellungen lassen sich den Urteilsgründen mit Ausnahme von Darlegungen zum Lebenslauf des Beschuldigten nicht entnehmen. So stellt das Landgericht zum Krankheitsbild des Beschuldigten lediglich fest, dass im Jahr 1997 eine schizophrene Psychose und im Jahr 1998 eine Exacerbation einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie diagnostiziert wurde. Hingegen lassen sich dem Urteil selbst bei wohlwollender Lektüre die Erkenntnisse der Sachverständigen zum Krankheitsbild des Beschuldigten zum Zeitpunkt der Begutachtung und bei Begehung der Anlasstat nicht entnehmen. Die Strafkammer beschränkt sich stattdessen auf die pauschale Feststellung, die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten sei bei Begehung der Tat aufgrund einer krankhaften seelischen Störung aufgehoben (§ 20 StGB; UA S. 9). Dies genügt den Darlegungsanforderungen ebenso wenig wie die Feststellung, der Beschuldigte sei im "psychotischen Schub" (UA S. 10) vorgegangen. Dem Revisionsgericht wird daher bereits aufgrund der fehlenden Ausführungen zum Sachverständigengutachten eine rechtliche Überprüfung der Maßregelanordnung nicht möglich sein.
b) Angesichts des erheblichen Eingriffs, der mit der Unterbringung nach § 63 StGB verbunden ist, bestehen überdies rechtliche Bedenken, ob das Landgericht seine Überzeugung von der zukünftigen Gefährlichkeit des Beschuldigten hinreichend begründet hat. Auch hier ist es der Sachverständigen gefolgt und hat lediglich ausgeführt, dass der Beschuldigte im psychotischen Zustand vorgegangen und es daher sehr wahrscheinlich sei, dass es bei einem erneuten psychotischen Schub zu ähnlichen Gewalthandlungen kommen könne. Zwar teilt die Strafkammer mit, sie habe bedacht, dass es zu dieser Tat nur durch eine Verkettung von Umständen gekommen sei, die der Beschuldigte nicht zu vertreten habe. Gleichwohl lassen die Urteilsgründe vertiefende Erwägungen zu der Frage, weshalb von dem Beschuldigten infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei, vermissen. So ist schon nicht dargetan, inwieweit mit weiteren psychotischen Schüben gerechnet werden müsse, etwa weil der Beschuldigte seine Medikamente eigenmächtig absetzt oder dies zu erwarten wäre. Soweit die Strafkammer für ihre Beurteilung auf aggressive Schübe des Beschuldigten gegenüber nahestehenden, aber auch außenstehenden Personen abstellt, ist nicht erkennbar, inwieweit diese im Urteil nicht näher beschriebenen Vorkommnisse die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts zu untermauern vermögen.“
Dem schließt sich der Senat mit folgenden ergänzenden Hinweisen an: Dem Urteil lässt sich über die Entwicklung der psychischen Erkrankung des Beschuldigten, das Auftreten etwaiger krankheitsbedingter Verhaltensauffälligkeiten sowie die gegebenenfalls erforderliche Behandlung des Beschuldigten und seine Behandlungsbereitschaft seit dem Jahr 1998 nichts entnehmen. Die Anlasstat wurde in einer zumindest vom Beschuldigten subjektiv als bedrohlich empfundenen Situation begangen, die auch bei psychisch gesunden Menschen geeignet ist, Fehlreaktionen hervorzurufen. Dies wird bei der Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten besonders in Betracht zu ziehen sein.
3. Da die genannten Rechtsfehler sich nicht auf die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf der rechtswidrigen Tat auswirken, können diese bestehen bleiben. Sie können durch ihnen nicht widersprechende Feststellungen ergänzt werden. Mitaufgehoben werden indes sämtliche Feststellungen, die sich auf die innere Tatseite beziehen. Sie stehen in engem Zusammenhang mit den allein die Schuldfähigkeit betreffenden Feststellungen. Der Senat kann daher dahinstehen lassen, ob die auf Einholung eines ärztlichen Gutachtens zur behaupteten Hörverminderung des Beschuldigten bezogene Beweisantragsrüge im Blick auf den Widerspruch zwischen der antragsablehnenden Begründung und den Feststellungen im Urteil durchgegriffen hätte.
Basdorf Raum Schneider
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BGH
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5. Strafsenat
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20100408
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5 StR 491/09
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Beschluss
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Art 103 Abs 2 GG, § 356 Abs 2 StGB
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vorgehend LG Potsdam, 3. April 2009, Az: 25 KLs 16/08, Urteil nachgehend BVerfG, 16. Mai 2011, Az: 2 BvR 1230/10, Nichtannahmebeschluss
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DEU
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Strafverfahren wegen schweren Parteiverrates: Rückwirkungsverbot bei Rechtsprechungsänderung
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 3. April 2009 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
Die im Anschluss an die Senatsentscheidung BGHSt 52, 307 erfolgte Verurteilung wegen Parteiverrats nach § 356 Abs. 2 StGB verstößt schon deshalb nicht gegen das durch Art. 103 Abs. 2 GG geforderte Verbot einer rückwirkenden Verschärfung der Strafbarkeit, weil dieses bei einer Änderung der Rechtsprechung bei gleichbleibendem Gesetzeswortlaut nicht eingreift (vgl. BVerfGE 18, 224, 240 f.; 32, 311, 319; BVerfG [Kammer] NStZ 1990, 537; NJW 1995, 125, 126; BGHSt 41, 101, 111 f.; Dannecker in LK 12. Aufl. § 1 Rdn. 432 ff., Fischer, StGB 57. Aufl. § 1 Rdn. 14 ff.). Hier stand zudem die vollzogene Rechtsprechungsänderung schon vor Tatbegehung in der fachlichen Diskussion (vgl. BGHSt aaO S. 310 f.).
Soweit die Revision nochmals darauf abhebt, der Angeklagte habe sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum nach § 17 StGB befunden, berücksichtigen die im angefochtenen Urteil hierzu getroffenen Feststellungen und Wertungen die Ausführungen des Senats in der genannten Entscheidung (BGHSt aaO S. 313) in sachgerechter Weise und sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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BGH
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5. Strafsenat
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20100414
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5 StR 72/10
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Beschluss
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§ 266 StGB
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vorgehend LG Berlin, 8. Mai 2009, Az: (523/514) 5 Wi Js 176/00 KLs (7/04), Urteil
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DEU
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Strafbare Untreue: Vermögensnachteil für die Aktiengesellschaft bei Übertragung einer Lebensversicherung auf ein Vorstandsmitglied
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. Mai 2009 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben
a) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit der Angeklagte im Fall 5 der Urteilsgründe (Untreue hinsichtlich der Versicherung bei der A. L.) verurteilt worden ist, einschließlich – gemäß § 357 StPO – die Anordnung des Verfalls gegenüber der Einziehungsbeteiligten S. T. ,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Subventionsbetrugs und Untreue in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Die Verurteilung wegen Untreue im Fall 5 der Urteilsgründe hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte als Vorstand der T. AG die von deren Rechtsvorgängern zu seinen Gunsten abgeschlossene Lebensversicherung bei der A. L. auf sich übertragen und auf das Konto seiner Ehefrau auszahlen lassen (184.151,94 €). Nach Auffassung des Landgerichts stand ihm diese Versicherungsleistung nicht zu, weil er zwar Bezugsberechtigter, Versicherungsnehmer jedoch die T. AG war. Im Rahmen der Umwandlung der T. in eine Aktiengesellschaft sei die Lebensversicherung laut neuem Anstellungsvertrag zwischen dem Angeklagten und der Aktiengesellschaft nicht weitergeführt worden.
2. Diese Bewertung des Landgerichts erweist sich als lückenhaft. Zwar trifft zu, dass der Angeklagte in seinen eigenen Personalangelegenheiten nicht vertretungsbefugt war, sondern es einer Mitwirkung des insoweit zuständigen Aufsichtsrats bedurft hätte (§ 112 AktG). Das Landgericht hätte jedoch erwägen müssen, ob der zum Zeitpunkt der Umwandlung bereits entstandene Kapitalwert der Versicherung schon dem Vermögen des Angeklagten zuzurechnen war. Bestünde nämlich ein Anspruch des Angeklagten auf Übertragung des Kapitalwerts der Lebensversicherung, wäre bei der T. AG kein Nachteil eingetreten (vgl. BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 55). Hierfür könnte sprechen, dass – was sowohl die sachverständige Zeugin Sch. als auch der Wirtschaftsprüfer B. als Zeuge bestätigten – die Prämien steuerlich und bilanziell zu Lasten des Gehaltskontos des Angeklagten verrechnet wurden und der Angeklagte diese Leistungen (als Vergütungsbestandteil) auch versteuerte. Dies legt nahe, dass der Angeklagte jedenfalls im Innenverhältnis gegenüber der T. als Versicherungsnehmerin den von ihm angesparten Kapitalwert der Versicherung hätte herausverlangen können.
Die genannten Umstände hätten jedenfalls – auch im Blick auf den subjektiven Tatbestand der Untreue nach § 266 StGB – vom Landgericht erörtert werden müssen. Gegen eine Zuordnung dieses Werts zum Vermögen des Angeklagten spricht – entgegen der Auffassung des Landgerichts – nicht zwangsläufig, dass die Versicherungsleistung nicht in der Liste der weitergeführten Versicherungsverhältnisse erscheint, die ausdrücklich als abschließend bezeichnet ist. Denkbar ist vielmehr, dass die Versicherung nicht weitergeführt, aber der bislang angesparte Kapitalwert dem Angeklagten andererseits auch nicht entzogen werden sollte. Für ein solches Verständnis der Rechtslage könnte sprechen, dass weder die T. noch später der Insolvenzverwalter die im Wege der Rückgewinnungshilfe sichergestellte Versicherungsleistung in Anspruch genommen hat.
II.
Dieser Mangel führt zur Aufhebung der Verurteilung und zugleich zur Aufhebung des angeordneten Wertersatzverfalls, der sich ausschließlich auf diese Tat bezieht; insoweit war die Entscheidung nach § 357 StPO auf die Einziehungsbeteiligte zu erstrecken, die hierfür ihre Zustimmung erklärt hat. Die der Gesamtstrafe zugrunde liegenden Feststellungen können ebenso wie die übrigen Strafen aufrechterhalten werden, weil beides ersichtlich von der Verurteilung in dem aufgehobenen Fall unbeeinflusst ist. Aufrechterhalten bleibt auch die dem Angeklagten für bislang erfolgte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zugebilligte Kompensation (Anrechnung von sechs Monaten), die keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten enthält.
Basdorf Raum Schaal
König Bellay
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BGH
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3. Zivilsenat
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20100415
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III ZR 153/09
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Urteil
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§ 652 BGB, § 812 Abs 1 S 1 Alt 1 BGB, § 1 Abs 1 WoVermRG, § 3 Abs 3 S 1 WoVermRG, § 5 Abs 1 S 1 WoVermRG
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vorgehend LG Hamburg, 12. Mai 2009, Az: 309 S 107/08, Urteil vorgehend AG Hamburg, 11. Juli 2008, Az: 4 C 157/08
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DEU
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Provisionsanspruch des Wohnungsmaklers: Anforderungen an eine Nachweistätigkeit; Vereinbarung eines erfolgsunabhängigen Entgelts
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Die Revision der Beklagten gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Hamburg vom 12. Mai 2009 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.
Von Rechts wegen
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Die Kläger schlossen mit der Beklagten jeweils einen eigenen, auf ein Jahr befristeten und mit "Immobilien Publikation für courtagefreie Mietobjekte" überschriebenen Vertrag über die Zusendung von Mietangeboten. Zugleich erstellten sie ein persönliches Profil für den von ihnen gewünschten Wohnraum. In den Vereinbarungen wird zunächst darauf hingewiesen, die Beklagte biete Vermietern eine kostenlose Möglichkeit, ihr Mietobjekt zu inserieren und zu bewerben, um so schnellstmöglich einen Mieter oder Nachmieter zu finden. Ihre Leistung gegenüber den Vertragspartnern wird sodann dahin beschrieben, dass sie lediglich in der Zurverfügungstellung von Mietangeboten (öffentlich und nicht öffentlich zugängliche) gegen Zahlung eines Service-Entgelts in Höhe von 179 € beziehungsweise 189 € (inkl. MWSt.) bestehe. Ferner heißt es in den Verträgen unter anderem:
"… Weitere Zahlungen dürfen von der W. nicht gefordert werden. ... Dem Kunden von W. (…) wird somit die Möglichkeit gegeben, sich selbst mit dem Vermieter -und ohne Einschaltung eines courtagepflichtigen Vermittlers- in Kontakt zu setzen. Die Firma W. handelt ausschließlich als Publikationsmedium von Mietangeboten und beschränkt sich darauf, Mietobjekte nach An- bzw. Vorgaben der Vermieter zu veröffentlichen, bzw. zu bewerben. Zwischenvermietung bleibt dem Vermieter vorbehalten. Die Gebühr wird nur für die Herausgabe der Mietobjektlisten erhoben. Die Firma W. greift unter keinen Umständen in die Verhandlung zwischen dem werbenden Vermieter (…) und dem Mietsuchenden ein. Die Angaben zum Mietobjekt basieren auf den Angaben Dritter, weswegen die Firma W. keine Haftung für die Richtigkeit und Vollständigkeit übernehmen kann. …"
Die Kläger zu 1 bis 4 zahlten jeweils 189 €, die Kläger zu 5 bis 9 179 € an die Beklagte. Dafür erhielten sie verschiedene Mietobjektlisten, die von ihnen telefonisch oder per E-Mail abgerufen werden konnten. Darin waren Angebote zu verschiedenen, näher beschriebenen Mietobjekten, überwiegend mit Adresse, enthalten, wobei auch der jeweilige Vermieter mit Telefonnummer benannt wurde.
Mit der Begründung, die Geschäftspraxis der Beklagten verstoße gegen das Gesetz zur Regelung der Wohnungsvermittlung, wonach für Dienstleistungen der vorliegenden Art keine erfolgsunabhängige und im Voraus zu zahlende Vergütung geltend gemacht werden dürfe, verlangen die Kläger die geleisteten Beträge zurück. Das Amtsgericht hat ihre Klage abgewiesen; auf ihre Berufung hat das Landgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt sie ihren Klageabweisungsantrag weiter.
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Die Revision ist nicht begründet.
I.
Das Berufungsgericht hat sich auf den Standpunkt gestellt, die von der Beklagten vertraglich geschuldete Leistung sei als eine Nachweistätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 WoVermittG anzusehen. Denn sie habe nach dem von den Klägern bei Abschluss der Verträge unstreitig erstellten individuellen Profil nicht nur allgemeine Listen von Wohnungsangeboten aus dem Großraum H., sondern auf dieses Profil abgestimmte Angebote übersenden sollen. Da sich den von den Klägern vorgelegten Listen unter anderem die Person des Vermieters, seine Telefonnummer und neben der konkreten Beschreibung der jeweiligen Wohnung auch überwiegend die Adresse des Mietobjekts hätten entnehmen lassen, seien die Kläger in der Lage gewesen, sich mit den Vermietern, deren Vertragsbereitschaft habe angenommen werden dürfen, zum Zwecke von Vertragsverhandlungen in Verbindung zu setzen. All dies gehe über den Inhalt von Zeitungsannoncen deutlich hinaus und genüge, um die Erbringung des Nachweises einer Vertragsgelegenheit annehmen zu können. Mit dem Verlangen nach Zahlung eines Service-Entgelts habe die Beklagte einen nach § 2 Abs. 4 WoVermittG unzulässigen Vorschuss eingefordert; die geschlossenen Vereinbarungen seien deshalb nach § 2 Abs. 5 dieses Gesetzes unwirksam und die gezahlten Beträge somit zurückzugewähren.
II.
Dies hält den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.
1. Die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, wonach die vertraglich geschuldete Leistung der Beklagten, ihren Kunden, orientiert an deren individuellem Profil, öffentlich und nicht öffentlich zugängliche Mietangebote gegen Zahlung eines einmaligen Service-Entgelts zukommen zu lassen, als Nachweistätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 WoVermittG anzusehen ist, lässt Rechtsfehler nicht erkennen.
a) Nach dieser Vorschrift ist Wohnungsvermittler, wer den Abschluss von Mietverträgen über Wohnräume vermittelt oder die Gelegenheit zum Abschluss von Mietverträgen über Wohnräume nachweist. Diese Begriffsbestimmung ist in bewusster Anlehnung an die Tätigkeitsmerkmale des § 652 BGB erfolgt und entspricht inhaltlich dem sich aus dieser Vorschrift ergebenden gesetzlichen Leitbild des Nachweis- und Vermittlungsmaklers, wenn auch gegenständlich auf Mietverträge über Wohnräume beschränkt (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 1995 - I ZR 85/94 - NJW-RR 1995, 880; Amtl. Begr. BT-Drucks. VI/1549, S. 12; Baader/Gehle, Gesetz zur Regelung der Wohnungsvermittlung, 1993, § 1 Rn. 1; Schulz, WoVermG, 2010, § 1, Rn. 2).
b) Auf der Grundlage der getroffenen und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen hat das Berufungsgericht die fragliche Betätigung der Beklagten rechtsfehlerfrei als für die Annahme eines Nachweises im Sinne des § 652 Abs. 1 Satz 1 BGB ausreichend bewertet.
aa) Der nach dieser Bestimmung für das Entstehen eines Provisionsanspruchs erforderliche "Nachweis der Gelegenheit zum Abschluss eines Vertrags" (des so genannten Hauptvertrags) ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erbracht, wenn aufgrund der Mitteilung des Maklers an seinen Kunden und Auftraggeber dieser in die Lage versetzt wird, in konkrete Verhandlungen mit dem potentiellen Vertragspartner über den von ihm angestrebten Hauptvertrag einzutreten. Unverzichtbare, aber auch ausreichende Voraussetzung für einen Nachweis ist dabei, dass der Makler dem Kunden einen möglichen Vertragspartner, der zum Vertragsschluss bereit ist, grundsätzlich mit vollständigem Namen und Anschrift, zur Kenntnis bringt und damit auf eine konkrete Vertragsgelegenheit hinweist (vgl. zu den Anforderungen an einen Nachweis z.B. die Senatsurteile BGHZ 141, 40, 46; vom 15. Mai 2008 - III ZR 256/07 - NJW-RR 2008, 1281, Rn. 11; vom 23. November 2006 - III ZR 52/06 - NJW-RR 2007, 402, 403, Rn. 13; vom 6. Juli 2006 - III ZR 379/04 - NJW 2006, 3062 f; Rn. 13; vom 28. September 1995 - III ZR 16/95 - NJW-RR 1996, 113, 114; Schwerdtner/Hamm, Maklerrecht, 5. Aufl. 2008, Rn. 235 f; MünchKommBGB/Roth, 5. Aufl. 2009, § 652, Rn. 96; Staudinger/Reuter, BGB, Neubearbeitung 2003, §§ 652, 653, Rn. 35; Palandt/Sprau, BGB, 69. Aufl. 2010, § 652, Rn. 25, 26). Demgegenüber handelt es sich um keinen Nachweis, sondern nur um die Verschaffung einer Ermittlungsmöglichkeit, wenn etwa einem Verkaufsinteressenten eine Namensliste von ca. 500 Personen übersandt wird, die der Auftraggeber anschreiben muss, um zu ermitteln, ob sich unter diesen Personen jemand befindet, der sich konkret für das Objekt interessiert (vgl. Staudinger/Reuter, aaO, Rn. 39; Schwerdtner/Hamm, aaO, Rn. 257).
bb) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht zutreffend auf die vorliegende Fallgestaltung angewandt. Es hat festgestellt, dass die den Klägern an die Hand gegebenen Objektlisten auf das jeweils angegebene individuelle Profil zugeschnitten waren und ins Einzelne gehende, individuelle Informationen, so die Person des Vermieters, seine Telefonnummer und neben der konkreten und detaillierten Beschreibung der Räumlichkeiten auch überwiegend die Adresse des jeweiligen Mietobjekts enthielten. Die darauf beruhende Annahme, die von der Beklagten übersandten Angebotslisten gingen danach über den Inhalt von Zeitungsannoncen weit hinaus und es handele sich deshalb nicht nur um allgemeine Ermittlungsmöglichkeiten, sondern bereits ausreichend konkrete Hinweise auf Vertragsgelegenheiten, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Anders als bei Tageszeitungen und vergleichbaren Publikationsorganen wurde bei der hier zu beurteilenden Tätigkeit eine Auswahl der Mietobjekte ausdrücklich nach den von dem einzelnen Interessenten angegebenen Kriterien geschuldet, um die Wohnungssuchenden durch eine gezielte Adressenauswahl in die Lage zu versetzen, sich selbst mit dem Vermieter in Verbindung zu setzen, und ihnen so zur Miete einer Wohnung zu verhelfen (vgl. BVerwG, NVwZ 1991, 267, 268 zu § 34c Abs. 1 Nr. 1a GewO).
Weiterhin ist aus Rechtsgründen auch nichts gegen die Einschätzung des Berufungsgerichts einzuwenden, die Kunden der Beklagten hätten auch von einer grundsätzlich bestehenden Vertragsbereitschaft der Vermieter ausgehen können. Im Hinblick auf die ausdrückliche Erwähnung des Angebots der Beklagten in den mit den Klägern geschlossenen Verträgen, Vermietern die kostenlose Möglichkeit bieten zu wollen, einen Mieter oder Nachmieter zu finden, ist die Annahme gerechtfertigt, dass sich Wohnungseigentümer mit einer entsprechenden Absicht an die Beklagten gewandt haben und damit regelmäßig deren Bereitschaft zum Abschluss eines Mietvertrags vorausgesetzt werden konnte. Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass die Beklagte im Vertragstext deutlich macht, nicht in die Verhandlungen zwischen den Wohnungssuchenden und den Vermietern einzugreifen. Eine derartige Mitwirkung gehört nicht mehr zur Erbringung eines Nachweises im Sinne des § 652 Abs. 1 Satz 1 BGB und des § 1 Abs. 1 WoVermittG. Auch der Umstand, dass möglicherweise die eine oder andere der in den übersandten Listen enthaltenen Wohnungen schon vermietet gewesen sein mag, führt zu keiner anderen Bewertung. Im Rahmen der Maklertätigkeit ist nicht immer zu vermeiden, dass manche noch im Bestand geführte Vertragsgelegenheit nicht mehr besteht, weil die entsprechende Wohnung bereits vergeben ist, der Makler darüber aber noch nicht informiert wurde. Deshalb lässt letztlich auch der Hinweis der Beklagten in den Verträgen, eine Zwischenvermietung bleibe dem Vermieter vorbehalten und sie übernehme keine Haftung für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben zum Mietobjekt, die Einstufung der Dienstleistung der Beklagten als Nachweistätigkeit und damit die Anwendbarkeit der Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung nicht entfallen.
2. Da die Tätigkeit der Beklagten vom Berufungsgericht rechtsfehlerfrei als Nachweistätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 WoVermittG angesehen wurde, steht den Klägern ein Anspruch auf Rückzahlung der von ihnen jeweils gezahlten 179 € oder 189 € zu.
Allerdings sind die zugrunde liegenden Vereinbarungen zwischen den Parteien nicht, wie das Berufungsgericht gemeint hat, nach § 2 Abs. 5 WoVermittG unwirksam; die geleisteten Zahlungen stellen keinen Vorschuss im Sinne des § 2 Abs. 4 WoVermittG dar. Diese Vorschrift ist nur auf den in ihrem Absatz 1 geregelten und vom Abschluss eines Mietvertrags abhängigen Entgeltanspruch bezogen; um ein solches Entgelt und einen darauf etwa gezahlten Vorschuss geht es hier jedoch ersichtlich nicht.
Der Rückzahlungsanspruch ergibt sich jedoch aus § 5 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 3 Satz 1 WoVermittG i.V.m. § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB. Außer einem stets erfolgsabhängigen Entgelt dürfen nach § 3 Abs. 3 Satz 1 WoVermittG für Tätigkeiten, die mit der Vermittlung oder dem Nachweis der Gelegenheit zum Abschluss von Mietverträgen über Wohnräume zusammenhängen, sowie für etwaige Nebenleistungen keine Vergütungen irgendwelcher Art, insbesondere keine Einschreibgebühren, Schreibgebühren oder Auslagenerstattungen vereinbart oder angenommen werden. Dieser Vorschrift handelt die Beklagte zuwider, wenn sie ein von einem späteren Mietvertragsabschluss unabhängiges "Service-Entgelt" für die Zurverfügungstellung der fraglichen Objektlisten von ihren Vertragspartnern fordert. Dass vorliegend die Ausnahmeregelungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 oder 3 WoVermittG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen der Wohnungsvermittler Erstattung nachgewiesener Auslagen verlangen kann, eingreifen könnten, ist weder von der Beklagten aufgezeigt worden noch sonst ersichtlich.
Schlick Herrmann Wöstmann
Hucke Tombrink
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3. Zivilsenat
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20100422
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III ZR 324/08
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Urteil
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§ 256 ZPO, § 286 ZPO, § 15 EStG, § 2 Abs 3 Nr 3 WiPrO, § 249 BGB
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vorgehend OLG München, 8. Dezember 2008, Az: 21 U 5612/07, Urteil vorgehend LG München I, 16. Oktober 2007, Az: 34 O 351/06, Urteil
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Haftung des Treuhandkommanditisten einer Filmfonds-GmbH & Co. KG: Umfang der Informationspflicht gegenüber einem Kapitalanleger; Feststellungsinteresse des Geschädigten hinsichtlich Steuerschäden wegen möglicher Aberkennung der Verlustzuweisung; Schadensersatzanspruch bei Aberkennung der Verlustzuweisung; Kausalitätsvermutung zugunsten des Anlegers
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 21. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 8. Dezember 2008 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es die im Berufungsurteil (S. 4 f) wiedergegebenen Klageanträge zu I und II gegen die Beklagte zu 1 betrifft.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an den 3. Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Der Kläger erwarb durch auf Abschluss einer "Beitrittsvereinbarung" gerichtete Erklärung vom 22. Dezember 1999 eine Beteiligung an der C. Gesellschaft für internationale Filmproduktion mbH & Co. Dritte Medienbeteiligungs KG (im Folgenden: Fonds III) in Höhe von 100.000 DM zuzüglich 5 % Agio. Der Beitritt sollte - dem von der Komplementärin der Beteiligungsgesellschaft herausgegebenen Prospekt entsprechend - über die Beklagte zu 1, eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, als Treuhandkommanditistin nach einem im Prospekt Teil B abgedruckten Vertragsmuster "Treuhandvertrag und Mittelverwendungskontrolle" vorgenommen werden. Die Beklagte zu 1, die im Prospekt in der Rubrik "Partner" als Gründungsgesellschafter bezeichnet wird, hatte ihre Stellung als Kommanditistin durch Abtretung des Geschäftsanteils des Gründungsgesellschafters K. erworben, der seinerseits Gesellschafter und Geschäftsführer der Komplementärin ist. Zur Begrenzung des wirtschaftlichen Risikos aus der Filmvermarktung war im Emissionsprospekt vorgesehen, dass für einen Anteil von 80 % der Produktionskosten Sicherheiten bestehen sollten, etwa in Form von Ausfallversicherungen. Nachdem Produktionen nicht den erwünschten wirtschaftlichen Erfolg hatten, erwies sich der Versicherer, die N. Inc., nach Eintreten der Versicherungsfälle als zahlungsunfähig. Insgesamt erhielt der Kläger aus der Beteiligung Ausschüttungen von 26,3 %, das sind 13.446,98 €.
Erstinstanzlich hat der Kläger die Treuhandkommanditistin und die Beklagte zu 2, die ein Prospektprüfungsgutachten erstellt hatte, Zug um Zug gegen Abtretung aller Ansprüche aus der Beteiligung auf Rückzahlung des eingezahlten Betrags von - unter Berücksichtigung der genannten Ausschüttung - noch 40.238,66 € nebst Zinsen in Anspruch genommen (Antrag zu I). Darüber hinaus hat er die Feststellung begehrt, dass die Beklagten ihm den Steuerschaden zu ersetzen hätten, der ihm durch eine etwaige nachträgliche Aberkennung von Verlustzuweisungen entstehe (Antrag zu II), und dass sie ihn von Ansprüchen freistellen müssten, die die Beteiligungsgesellschaft, deren Gläubiger oder Dritte gegen ihn wegen seiner Stellung als Kommanditisten richten könnten (Antrag zu III). Er hat - soweit jetzt noch von Interesse - unter anderem einen Prospektmangel und eine Aufklärungspflichtverletzung darin gesehen, dass er nicht über Provisionszahlungen in Höhe von 20 % für die Eigenkapitalvermittlung an die I.- und T. mbH (im Folgenden: IT GmbH) unterrichtet worden sei. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. In der Berufungsinstanz hat der Kläger seine Klage nur noch gegen die Beklagte zu 1 weiterverfolgt. Das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Anträge zu I und II gegen die Beklagte zu 1 (im Folgenden: Beklagte) weiter.
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Die Revision führt im Umfang der Zulassung zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht würdigt die von ihm erhobenen Beweise dahin, dass die IT GmbH - neben der prospektierten Provision von 7 % für die Eigenkapitalvermittlung und dem Agio von in der Regel 5 % - weitere 8 % Provision als Vergütung für pauschale Werbungskosten von der Komplementärin erhalten habe. Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, den Kläger darüber zu informieren, dass die mit dem Vertrieb der Beteiligung befasste IT GmbH auch noch diese Vergütung für pauschale Werbungskosten, also insgesamt 20 % des Beteiligungsbetrags, erhalten sollte. Diese Pflicht beruhe auf dem Umstand, dass die IT GmbH in der Person ihres (früheren) Geschäftsführers und Gesellschafters O., zugleich Gesellschafter der Komplementärin, mit dieser verflochten gewesen sei und der Beklagten die die Verflechtung begründenden Umstände und die Sonderbehandlung der IT GmbH bekannt gewesen seien.
Ungeachtet einer möglichen Aufklärungspflichtverletzung sei die Beklagte nicht schadensersatzpflichtig, weil der Kläger wegen der Zahlung pauschalierter Werbungskosten keine Ansprüche geltend gemacht und nicht behauptet habe, dass dieser Umstand für ihn von entscheidender Bedeutung gewesen sei. Soweit der Kläger geltend gemacht habe, er hätte sich an dem Fonds nicht beteiligt, wenn er Kenntnis von der 20 %igen Provisionszahlung an die IT GmbH gehabt hätte, genüge dies - ungeachtet einer Kausalitätsvermutung - nicht. Der formelhafte Vortrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers in verschiedenen Parallelverfahren habe nicht mit dem Ergebnis der persönlichen Anhörung der jeweiligen Anleger durch den Senat übereingestimmt, weshalb er sich einen persönlichen Eindruck von dem Kläger habe verschaffen wollen. Dieser sei jedoch trotz der Anordnung des persönlichen Erscheinens zum Termin vom 13. Oktober 2008 nicht erschienen. Der am 16. Oktober 2008 zugestellten Ladung zum Termin vom 20. Oktober 2008, in dem er aufgrund des Beschlusses vom 13. Oktober 2008 als Partei habe vernommen werden sollen, habe er keine Folge geleistet. Dabei entschuldige es ihn nicht, dass seine Prozessbevollmächtigte ihm die unrichtige Information gegeben habe, er müsse zum Termin nicht erscheinen, weil dieser wegen eines noch nicht beschiedenen Ablehnungsantrags und eines deshalb gestellten Terminverlegungsantrags nicht stattfinden werde. Aus dem Verhalten des Klägers schließe das Berufungsgericht, dass er seine Einvernahme nach § 454 ZPO verweigere, und würdige dies dahin, dass die Kausalität des fraglichen Umstands zu verneinen sei.
II.
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung in verschiedener Hinsicht nicht stand.
1. Zu Recht prüft das Berufungsgericht allerdings, ob Ansprüche des Klägers wegen eines Verschuldens bei den Vertragsverhandlungen entstanden sind. Hier ist in Betracht zu ziehen, dass die Beklagte als Treuhandkommanditistin die Pflicht treffen konnte, die künftigen Treugeber über alle wesentlichen Punkte aufzuklären, die für die zu übernehmende mittelbare Beteiligung von Bedeutung waren (vgl. BGHZ 84, 141, 144 f; Senatsurteile vom 13. Juli 2006 - III ZR 361/04 - NJW-RR 2007, 406, 407 Rn. 9; vom 22. März 2007 - III ZR 98/06 - NJW-RR 2007, 1041, 1043 Rn. 15; vom 29. Mai 2008 - III ZR 59/07 - NJW-RR 2008, 1129, 1130 Rn. 8; vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - NJW-RR 2009, 613, 614 Rn. 8), insbesondere diese über regelwidrige Auffälligkeiten zu informieren. Einer entsprechenden Pflicht war die Beklagte nicht bereits deshalb enthoben, weil sie mit den Anlegern nicht in einen persönlichen Kontakt trat und ihre Aufgabe als die einer bloßen Abwicklungs- und Beteiligungstreuhänderin verstand. Denn der Beitritt vollzog sich durch Abschluss eines Treuhandvertrags zwischen der Beklagten und dem Treugeber und der Annahme des Beteiligungsangebots durch die Komplementärin (§ 3 Abs. 4, § 4 Abs. 1 Satz 4 des Gesellschaftsvertrags, Präambel des Treuhandvertrags), war also ohne Mitwirkung der Beklagten nicht möglich.
2.Das angefochtene Urteil kann jedoch nicht bestehen bleiben, weil das Berufungsgericht die einer Aufklärungspflicht der Beklagten entgegenstehenden Umstände nicht rechtsfehlerfrei festgestellt und die Ursächlichkeit für die Anlageentscheidung mit einer nicht tragfähigen Begründung verneint hat.
a) Wie der Senat für den Fonds III (Urteile vom 29. Mai 2008 aaO S. 1131 ff Rn. 17-26; vom 6. November 2008 - III ZR 231/07 - NJW-RR 2009, 329 ff Rn. 5-14; vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - aaO S. 614 ff Rn. 9-26) und den Fonds II (Teilurteil vom 12. Februar 2009 - III ZR 119/08 - juris und BeckRS 2009, 7718 Rn. 8-25) entschieden hat, war die Beklagte nach den in den damaligen Verfahren revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Sachverhalten verpflichtet, den Anleger darüber zu informieren, dass die mit dem Vertrieb der Beteiligung befasste IT GmbH hierfür eine Provision von 20 % beanspruchte und erhalten sollte. Er hat dies wie folgt begründet: Der Gesellschaftsvertrag enthalte für die vorgesehene Mittelverwendung einen Investitionsplan, nach dem in die Beschaffung des Eigenkapitals 7 % des Beteiligungskapitals fließen solle. Darüber hinaus ergebe sich aus den Verträgen zur Durchführung der Investition, dass die Komplementärin, die sich zur Vermittlung des Zeichnungskapitals verpflichtet hatte, zusätzlich das Agio von 5 % erhalten sollte (Urteil vom 29. Mai 2008 aaO S. 1131 Rn. 18; Urteil vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - aaO S. 614 Rn. 11). Demgegenüber habe der Anleger vorgetragen und in verschiedener Weise belegt, dass an die IT GmbH für die Vermittlung des Eigenkapitals 20 % geflossen seien (Urteil vom 29. Mai 2008 aaO Rn. 19; Urteil vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - aaO S. 615 f Rn. 16-18). Die Komplementärin sei an die Beachtung des Investitionsplans gebunden und nicht berechtigt gewesen, über die ihr zufließenden Mittel nach ihrem Belieben zu verfügen (Urteil vom 29. Mai 2008 aaO S. 1132 Rn. 24; Urteil vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - aaO S. 614 f Rn. 12). Vor diesem Hintergrund könne nicht unbeantwortet bleiben, wie die Tätigkeitsbereiche der Eigenkapitalvermittlung und der Werbung im Hinblick auf die hierfür zu beanspruchende Vergütung voneinander abzugrenzen seien (Urteil vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - aaO S. 615 Rn. 13 f).
Diesen Grundsätzen wird die Würdigung der Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht, wie die Revision zu Recht rügt, nicht gerecht.
aa) Das Berufungsgericht nimmt auf der Grundlage der Aussage des Zeugen K. an, die IT GmbH habe die weiteren 8 % nicht als Provision (für die Vermittlung), sondern als pauschale Werbungskosten aus den Einnahmen der Komplementärin erhalten. In der Tat hat der Zeuge K. bekundet, es sei eine entsprechende mündliche Vereinbarung geschlossen worden, die den Zweck gehabt habe, "Vertriebsleute und Anleger" für die Beteiligungsgesellschaft zu gewinnen. Er hat hervorgehoben, die Vertriebsprovision und der Werbungskostenzuschuss seien streng voneinander unterschieden worden.
bb) Das Berufungsgericht geht offenkundig davon aus, die Vereinbarung pauschaler Werbungskosten sei für sich betrachtet, also zunächst ohne Berücksichtigung der zwischen der IT GmbH und der Komplementärin bestehenden Verflechtung, prospektgemäß und löse daher eine Aufklärungspflicht der Beklagten nicht aus. Insoweit rügt die Revision mit Recht, dass sich das Berufungsgericht bei seiner Würdigung mit verschiedenen Gesichtspunkten nicht auseinandergesetzt hat, die dafür sprechen, dass es sich bei der zusätzlichen Provision für die IT GmbH um deren Vergütung für ihre Tätigkeit als großes Vertriebsunternehmen gehandelt hat.
(1) Das Berufungsgericht geht nicht auf die vom Kläger vorgelegten Rechnungen der IT GmbH vom 30. Oktober 1998 und 26. Oktober 1999 ein, in denen der Komplementärin - mit dem Hinweis, der Rechnungsbetrag enthalte keine Mehrwertsteuer - 20 % für die Vermittlung des Eigenkapitals in Rechnung gestellt werden. Beide Rechnungen betreffen zwar den Fonds II, der Aussage des Zeugen K. ist jedoch zu entnehmen, dass es die nämliche mündliche Provisionsabrede für die Fonds II, III und IV gegeben habe. Das Berufungsgericht beschäftigt sich auch nicht mit den beiden Rechnungen der IT GmbH vom 3. August 2000, in denen - wiederum mit dem Hinweis, der Rechnungsbetrag enthalte keine Mehrwertsteuer - für den Fonds III jeweils für dieselben geworbenen Anleger Eigenkapitalvermittlungsprovision von 12 % und ein Zuschuss zur Eigenkapitalvermittlungsgebühr von 8 % berechnet werden. Schließlich würdigt es das von K. unterzeichnete Schreiben der Komplementärin vom 11. Mai 1998 an die IT GmbH zu Händen von O. nicht, in dem davon gesprochen wird, K. wolle gegenüber dem Geschäftsführer der Beklagten "insistieren, dass die der IT zustehenden 20 %-Vertriebskosten ebenfalls auf das KG-Konto überwiesen werden, von dem ich dann sofort die Mittel an die IT weiterleiten werde". Diese urkundlichen Beweismittel sprechen dafür, dass - entgegen der Aussage des vernommenen Zeugen - in der Rechnungsstellung und Handhabung keine strenge Unterscheidung zwischen der Eigenkapitalvermittlung von Gesellschaftsanteilen, die nach § 4 Nr. 8 Buchst. f UStG nicht der Umsatzsteuerpflicht unterliegt, und Werbemaßnahmen, für die diese Befreiung nicht gilt, vorgenommen wurde (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2009 - III ZR 319/08 - WM 2010, 301 Rn. 2).
(2) Das Berufungsgericht hat sich ferner nicht die nach dem Streitstoff erhebliche Frage vorgelegt, wie im Hinblick auf die Regelungen im Investitionsplan und die ergänzenden Ausführungen zum Inhalt der Leistungsverträge Werbemaßnahmen im Rahmen der Konzeption des Fonds von einer Werbung abzugrenzen sind, die die IT GmbH als großes Vertriebsunternehmen zur Bewerbung der insgesamt von ihr vertriebenen Produkte betrieben hat. Wie der Senat - nach Erlass des hier angefochtenen Urteils - für den Fonds III entschieden hat, kann im Hinblick auf die Regelungen im Investitionsplan nicht jegliche Werbetätigkeit nach der Budgetposition "Konzeption, Werbung, Prospekt, Gründung" abgerechnet werden, sondern es sind übliche Werbemaßnahmen, die der Eigenkapitalvermittlung dienen, hiervon auszunehmen (vgl. eingehend hierzu Senatsurteil vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - aaO S. 614 f Rn. 11-14). Nähere Feststellungen zur Werbetätigkeit der IT GmbH hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Immerhin kann bereits der hier wiedergegebenen Aussage des Zeugen K. entnommen werden, dass es um Anlegerwerbung und um die Information von "Vertriebsleuten" ging, also um Maßnahmen, die mit der Gewinnung von Anlegern in engem Zusammenhang stehen.
cc) Die Beklagte kann der Annahme einer möglichen Pflichtverletzung nicht entgegenhalten, die Komplementärin, die Inhaberin eines eigenen gewerblichen Unternehmens sei, das Handelsgeschäfte auf eigene Rechnung betreibe, habe - nicht als Gesellschafterin, sondern als Dritte - mit der jeweiligen Beteiligungsgesellschaft Leistungsverträge geschlossen, die mit ihrem wesentlichen Inhalt und der versprochenen Vergütung im Emissionsprospekt bekannt gemacht worden seien. Es unterliege nicht dem geringsten rechtlichen Zweifel, dass die Komplementärin als Dritte im Rahmen der Leistungsverträge in anderer Funktion und mit anderen Rechten und Pflichten handele als in ihrer Funktion als Geschäftsführerin der Beteiligungsgesellschaft und dass die Leistungsverträge uneingeschränkt wirksam und verbindlich seien. Für die Auffassung, die Komplementärin sei bei der Verwendung ihrer aufgrund der Leistungsverträge erworbenen Mittel an den in § 6 des Gesellschaftsvertrags enthaltenen Investitionsplan gebunden, gebe es keine rechtliche Begründung. Für das Handeln der Komplementärin als Dritte, wozu der Abschluss und die Ausführung der genannten Leistungsverträge zählten, gelte nur das Recht ihrer eigenen Satzung und nicht der Gesellschaftsvertrag der Beteiligungsgesellschaft.
Diese Überlegungen rechtfertigen eine andere Beurteilung nicht, wie der Senat bereits in seinen Urteilen vom 23. Juli 2009 (III ZR 306/07 - juris und BeckRS 2009, 22376 Rn. 14 f; III ZR 323/07 - juris und BeckRS 2009, 22724 Rn. 14 f; III ZR 2/08 - juris und BeckRS 2009, 22723 Rn. 10 f) und 8. Oktober 2009 (III ZR 207/07 - WM 2009, 2358, 2359 f Rn. 11 ff; III ZR 259/07 - juris und BeckRS 2009, 86780 Rn. 13 ff; III ZR 241/08 - juris und BeckRS 2009, 86437 Rn. 11 ff) näher begründet hat. Dem Senat ist in den bisherigen Entscheidungen durchaus bewusst gewesen, dass die Komplementärin nach den Angaben des Emissionsprospekts verschiedene Leistungsverträge mit der Beteiligungsgesellschaft abgeschlossen hat, auf die der Senat im Einzelnen eingegangen ist. Die Wirksamkeit und Verbindlichkeit dieser Verträge, die die Komplementärin als Geschäftsführerin der Beteiligungsgesellschaft - nach dem Gesellschaftsvertrag von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit - mit sich abgeschlossen hat, ist nicht Gegenstand des anhängigen Verfahrens. Sie ist auch für die Frage, ob der Beklagten eine Aufklärungspflichtverletzung vorzuwerfen ist, nicht vorgreiflich.
Nach dem im Revisionsverfahren zugrunde zu legenden Vorbringen geht es vielmehr um den von den Anlegern erhobenen Vorwurf, die Initiatoren hätten die wahre Provisionshöhe für die Einwerbung des Beteiligungskapitals in den maßgeblichen Prospektangaben verschleiert, um die Beteiligung an den Mann bringen zu können. Unterstellt man dies als richtig, wird ein entsprechendes Verhalten der Initiatoren und Gründungsgesellschafter nicht dadurch pflichtgemäß, dass die an dieser Abrede beteiligte Komplementärin als Dritte mit der Beteiligungsgesellschaft Leistungsverträge abschließt, die diese Verschleierung absichern sollen.
b) Ist danach hier revisionsrechtlich davon auszugehen, dass die Beklagte zu einer Aufklärung des Klägers über die Höhe der von der IT GmbH beanspruchten Provisionen verpflichtet war, wird die angefochtene Entscheidung nicht von der Überlegung getragen, es fehle an der Kausalität dieses Umstands für dessen Anlageentscheidung.
aa) Der Kläger hat vorgetragen, er hätte sich nicht beteiligt, wenn er Kenntnis von Provisionen in Höhe von 20 % an die IT GmbH gehabt hätte. Davon geht auch das Berufungsgericht aus. Das ist - anders als das Berufungsgericht meint - zunächst einmal ein hinreichender Vortrag (vgl. Senatsurteil vom 17. Dezember 2009 - III ZR 31/08 - juris und BeckRS 2010, 01124 Rn. 13). Unterstellt man nämlich eine Pflichtverletzung der Beklagten, ist zu prüfen, wie sich der Kläger bei pflichtgemäßem Vorgehen der Beklagten verhalten hätte. Die Beklagte hätte ihrer Aufklärungspflicht zwar dadurch genügen können, dass sie darauf hingewirkt hätte, den Prospekt um entsprechende Angaben zu ergänzen; da dies aber nicht geschehen ist, konnte die Aufklärung nur in der Weise vorgenommen werden, dass der Kläger bei seinem Beitritt konkret über die entsprechenden Umstände informiert wurde. In diesem Rahmen kommt dem Kläger eine gewisse, auf die Lebenserfahrung gegründete Kausalitätsvermutung zugute (vgl. Senatsurteile vom 6. November 2008 - III ZR 290/07 - juris und BeckRS 2008, 23805 Rn. 19; vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - aaO S. 617 Rn. 27; vom 23. Juli 2009 - III ZR 306/07 - aaO Rn. 17), die letztlich auf dem Umstand beruht, dass es aus der Sicht des Senats für den Vertrieb einer Kapitalanlage einen wesentlichen Unterschied macht, ob hierfür (nur) 12 % oder 20 % des Eigenkapitals aufgebracht werden müssen (vgl. Senatsurteile vom 29. Mai 2008 aaO S. 1132 Rn. 22; vom 12. Februar 2009 - III ZR 90/08 - aaO S. 616 f Rn. 24). Die Kausalitätsvermutung sichert das Recht des Anlegers, in eigener Entscheidung und Abwägung des Für und Wider darüber zu befinden, ob er in ein bestimmtes Projekt investieren will oder nicht. Um sie zu widerlegen, muss der Aufklärungspflichtige jedenfalls darlegen, dass der einzelne Anleger den unterlassenen Hinweis unbeachtet gelassen hätte (vgl. BGH, Urteil vom 7. Dezember 2009 - II ZR 15/08 - NJW 2010, 1077, 1079 Rn. 24). Soweit die Revision in diesem Zusammenhang rügt, mangels entsprechenden Vorbringens der Beklagten habe das Berufungsgericht nicht die Vernehmung des Klägers als Partei nach § 448 ZPO anordnen dürfen, übersieht sie, dass die Beklagte, worauf die Revisionserwiderung zutreffend hinweist, entsprechenden Vortrag gehalten hat.
bb) Das Berufungsgericht war aber nicht nach § 454 Abs. 1, § 446 ZPO berechtigt, die behauptete Tatsache nach freier Überzeugung als unwahr anzusehen; denn der Kläger hat es nicht abgelehnt, sich vernehmen zu lassen. Die Gründe, mit denen der Kläger sein Fernbleiben im Termin vom 20. Oktober 2008 entschuldigte, ließen sich nicht als Weigerung interpretieren, sich zu dem - vom Berufungsgericht im Beweisbeschluss nicht einmal formulierten - Beweisthema vernehmen zu lassen. Denn der Kläger war von seiner Prozessbevollmächtigten dahin informiert worden, der Termin vom 20. Oktober 2008 werde wegen eines Terminverlegungsantrags und eines noch nicht beschiedenen Ablehnungsantrags nicht stattfinden. Diese Information war zwar ungesichert, weil der Verhandlungstermin tatsächlich (noch) nicht verlegt worden war; allerdings durfte die Prozessbevollmächtigte des Klägers erwarten, über die Ablehnung ihres Terminverlegungsantrags rechtzeitig vor dem Termin unterrichtet zu werden, was infolge eines Versehens der Geschäftsstelle unterblieben ist. Es kommt hinzu, dass der Kläger erst am 16. Oktober 2008 und damit unter Verletzung der Frist des § 217 ZPO geladen worden ist, die auch bei einer Ladung zu einer Parteivernehmung zu beachten ist (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 454 Rn. 3; Musielak/Huber, ZPO, 7. Aufl. 2009, § 454 Rn. 2, § 450 Rn. 2; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl. 2006, § 454 Rn. 4; MünchKomm ZPO/Schreiber, 3. Aufl. 2008, § 454 Rn. 2; PG/Müller-Christmann, ZPO, 1. Aufl. 2010, § 454 Rn. 3; Hk-ZPO/Pukall, 3. Aufl. 2009, § 454 Rn. 2). Das Berufungsgericht hat auch nicht, wie es nach § 454 Abs. 2 ZPO geboten war, im Termin vom 20. Oktober 2008 zur Hauptsache verhandelt, nachdem es - wie hier - von der Anberaumung eines erneuten Vernehmungstermins absehen wollte. Gleichwohl hat es "aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. Oktober 2008" entschieden. Die Revisionserwiderung macht zwar darauf aufmerksam, das Berufungsgericht sei im Hinblick auf frühere Termine, in denen mündlich verhandelt worden sei, befugt gewesen, gemäß § 251a ZPO nach Lage der Akten zu entscheiden. Von dieser Möglichkeit hat es jedoch ersichtlich keinen Gebrauch gemacht.
3. Das Berufungsurteil hat auch keinen Bestand, soweit es um die mangelnde Aufklärung über die Verflechtung der IT GmbH mit der Komplementärin in der Person des Gesellschafters O. geht.
a) Zu Recht geht das Berufungsgericht allerdings von einer entsprechenden Aufklärungspflicht der Beklagten aus.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat der Prospekt über ein Beteiligungsangebot, der für einen Beitrittsinteressenten im Allgemeinen die einzige Unterrichtungsmöglichkeit darstellt, den Anleger über alle Umstände, die für seine Entschließung von wesentlicher Bedeutung sind oder sein können, sachlich richtig und vollständig zu unterrichten (vgl. BGHZ 79, 337, 344; 116, 7, 12; 123, 106, 109 f; BGH, Urteile vom 29. Mai 2000 - II ZR 280/98 - NJW 2000, 3346; vom 6. Februar 2006 - II ZR 329/04 - NJW 2006, 2042, 2043 Rn. 7; Senatsurteil vom 14. Juni 2007 - III ZR 125/06 - WM 2007, 1503 f Rn. 9). Dazu gehört auch eine Darstellung der wesentlichen kapitalmäßigen und personellen Verflechtungen zwischen einerseits der Komplementär-GmbH, ihren Geschäftsführern und beherrschenden Gesellschaftern und andererseits den Unternehmen sowie deren Geschäftsführern und beherrschenden Gesellschaftern, in deren Hand die Beteiligungsgesellschaft die nach dem Emissionsprospekt durchzuführenden Vorhaben ganz oder wesentlich gelegt hat (vgl. BGHZ 79, 337, 345; BGH, Urteile vom 10. Oktober 1994 - II ZR 95/93 - NJW 1995, 130; vom 7. April 2003 - II ZR 160/02 - NJW-RR 2003, 1054, 1055; Senatsurteil vom 29. Mai 2008 aaO S. 1132 f Rn. 25; vgl. auch allgemein Urteil vom 4. März 1987 - IVa ZR 122/85 - NJW 1987, 1815, 1817, insoweit ohne Abdruck in BGHZ 100, 117), und der diesem Personenkreis gewährten Sonderzuwendungen oder Sondervorteile (vgl. BGH, Urteil vom 14. Januar 1985 - II ZR 41/84 - WM 1985, 533, 534; vom 10. Oktober 1994 aaO; vom 7. April 2003 aaO).
bb) Wie der Senat bereits in seinen Urteilen vom 29. Mai 2008 (aaO) und 12. Februar 2009 (III ZR 90/08 aaO S. 617 Rn. 25; III ZR 119/08 aaO Rn. 24) entschieden hat, musste in dem Emissionsprospekt herausgestellt werden, welche Rolle der IT GmbH bei der Verwirklichung des Vorhabens zukam. Das beruht auf zwei Gesichtspunkten. Zum einen ging es um die Person ihres Mehrheitsgesellschafters und seinerzeitigen Geschäftsführers O. Er war nach den Angaben im Prospekt zusammen mit K. Gesellschafter der Komplementärin mit Anteilen von mehr als 25 %; nach den Bekundungen des Zeugen K. hielt O. eine Mehrheitsbeteiligung von 60 % (vgl. auch Senatsurteile vom 12. Februar 2009 aaO). Er war daher in der Lage, bestimmenden Einfluss auf die C. GmbH in ihrer Eigenschaft sowohl als Geschäftsführerin der Fondsgesellschaft als auch als mit bestimmten Aufgaben der Fondsgesellschaft betrautes Drittunternehmen auszuüben. Zum anderen beherrschte er als Geschäftsführer und aufgrund seiner Beteiligung, die er nach seiner Erinnerung - als Zeuge am 22. September 2008 im Parallelverfahren III ZR 318/08 vernommen - mit einer Größenordnung von 77 % angegeben hat, die IT GmbH, die als Folge der Gewinnung von Anlegern Provisionen von 20 % erhielt und so stark in die Verwirklichung des Vorhabens eingebunden war, dass sie mit 36,02 % einen erheblichen Teil der Anleger für diesen Fonds einwarb. Dabei spielt es für die Pflicht, über diese personelle und kapitalmäßige Verflechtung und die mit ihr verknüpften Sondervorteile zu informieren, angesichts des Umstands, dass im Prospekt hierzu jegliche Angaben fehlen, keine Rolle, ob die IT GmbH nur mit Aufgaben der Eigenkapitalvermittlung oder zusätzlich mit Werbemaßnahmen beauftragt war und ob die mit der Komplementärin ausbedungene Vergütung üblich oder angemessen war. Handelte es sich, wie der Kläger in erster Linie geltend macht und wofür die bereits angeführten Indizien sprechen, um eine Vergütung für die Eigenkapitalvermittlung, liegt nicht nur ein Verstoß gegen den Gesellschaftsvertrag, sondern im Verhältnis zu anderen mit der Eigenkapitalbeschaffung betrauten Unternehmen auch eine Sonder-(Besser-)Behandlung vor, womit sich die Gefahr einer Interessenkollision zum Nachteil der beitretenden Anleger verwirklicht hätte. Aber auch dann, wenn es einen nach Inhalt und Umfang klaren, schriftlich fixierten Auftrag der IT GmbH gegeben hätte, bestimmte der Komplementärin zugewiesene Aufgaben außerhalb der eigentlichen Kapitalvermittlung vorzunehmen, wäre es für die Anleger von erheblichem Interesse gewesen, hierüber unterrichtet zu werden. Das liegt gerade bei Werbemaßnahmen eines großen Vertriebsunternehmens nahe, weil sich hierbei immer die Frage aufdrängen wird, ob diese Werbemaßnahmen im eigenen Interesse dieses Unternehmens durchgeführt werden oder ob sie in besonderer Weise der Fondsgesellschaft zugute kommen. Gerade weil es schwierig und problematisch ist, eine klare Abgrenzung zwischen Werbemaßnahmen für die Fondsgesellschaft und der "Einwerbung" von Gesellschaftskapital vorzunehmen oder - wie es hier in Streit steht - im Nachhinein eine nähere Klärung hierüber herbeizuführen, muss dem Anleger bei seinem Beitritt die Gelegenheit zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung gegeben werden. Das gilt in besonderem Maße dann, wenn es - wie hier nach der Bekundung des Zeugen K. anzunehmen ist - nur mündliche Abreden gegeben hat. Dass es sich bei allem um Vergütungsansprüche der Komplementärin handelte, über die sie als Drittunternehmen prinzipiell nach ihren Vorstellungen verfügen durfte, ändert nichts an den Erwartungen der Anleger, die sie im Hinblick auf die Darstellung im Investitionsplan über die Verwendung der Mittel haben durften.
cc) Die Pflicht der Prospektverantwortlichen, die Anleger über die Einbindung der IT GmbH zu unterrichten, ist nicht deshalb zu verneinen, weil der Prospekt hinreichend über die der Komplementärin gewährten Sondervorteile Auskunft gibt. Die Beklagte hat zwar dem Sinne nach eingewendet, aus der Information über diese - jetzt von ihr als "extrem hoch", "überhöht" und "exorbitant" bezeichneten - Sondervorteile folge, dass die Gesellschafter der Komplementärin deren Nutznießer seien. Das ist aber zu kurz gegriffen. Denn viele Anleger werden die der Komplementärin übertragenen Aufgaben - ungeachtet des Systems von Leistungsverträgen, die die Fondsgesellschaft mit ihr geschlossen hat - als solche ansehen, für deren Bewältigung diese bereits aufgrund ihrer Geschäftsführerstellung der Fondsgesellschaft verantwortlich ist. Diese im Prospekt enthaltene Information ist daher aus der Sicht des Senats nicht mit der fehlenden Aufklärung über die gesellschaftsrechtliche Verflechtung der IT GmbH und die ihr übertragenen Aufgaben zu vergleichen.
dd) Das Berufungsgericht hat auch rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Beklagte, die nicht selbst prospektverantwortlich ist, zu einer Aufklärung des Klägers verpflichtet war, weil ihr die maßgebenden Umstände bekannt waren. Sie wusste aufgrund ihrer eigenen Berechnungen im Rahmen der Mittelfreigabe, dass die IT GmbH Provisionen von 20 % erhielt, und ihr waren auch die Verflechtungen zwischen diesem Unternehmen und der Komplementärin in der Person O. bekannt, was das Berufungsgericht - unbeanstandet von der Revisionserwiderung - dem Schreiben der Beklagten vom 9. Februar 1998 auf eine Publikation des Direkten Anlegerschutzes vom 16. Januar 1998 entnommen hat, in der auf diese Verflechtung hingewiesen wurde. Als Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, zu deren Berufsbild nach § 2 Abs. 3 Nr. 3 WPO auch die Wahrnehmung von Treuhandaufgaben gehört, musste sie wissen, dass ein Prospekt über wesentliche kapitalmäßige und personelle Verflechtungen zwischen der Komplementär-GmbH, ihren Geschäftsführern und beherrschenden Gesellschaftern einerseits und den Unternehmen sowie deren Geschäftsführern und beherrschenden Gesellschaftern andererseits, in deren Hand die Beteiligungsgesellschaft die durchzuführenden Vorhaben ganz oder wesentlich gelegt hat, informieren muss.
b) Eine Schadensersatzpflicht der Beklagten lässt sich jedoch nicht mit der Begründung verneinen, der Kläger habe seine Ansprüche nicht darauf gestützt, dass an die IT GmbH pauschalierte Werbungskosten gezahlt worden seien. Wie zu 2 a bb ausgeführt, fehlt es bereits an einer fehlerfreien Feststellung, dass es sich bei den zusätzlichen Zahlungen in Höhe von 8 % um eine pauschale Vergütung für Werbeaufwendungen gehandelt hat. Im Übrigen ist es für die Aufklärungspflicht wegen des Verflechtungsgesichtspunkts nicht von Bedeutung, für welche Zwecke diese zusätzlichen Zahlungen geleistet worden sind. Es genügt daher, dass der Kläger, wie die Revision mit Recht rügt, auf die Verflechtung und die Kenntnis der Beklagten sowie darauf hingewiesen hat, dass die IT GmbH eine im Prospekt nicht offengelegte Sondervergütung erhalten habe. Auch unter dem Gesichtspunkt der Kausalität kommt es nicht auf die Bezeichnung der Mehrvergütung an. Wie oben näher dargelegt (siehe oben 2 b), genügen die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht, die dem Anleger zugute kommende Kausalitätsvermutung als widerlegt anzusehen.
4. Das angefochtene Urteil kann auch insoweit nicht bestehen bleiben, als das Berufungsgericht den Feststellungsantrag des Klägers auf Ersatz von Steuerschäden aufgrund einer nachträglichen Aberkennung von Verlustzuweisungen abgewiesen hat.
Wie der Kläger im Revisionsverfahren näher ausgeführt hat, verfolgt er mit diesem Antrag nicht, die Beklagte wegen eines eigenständigen Fehlers auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, etwa auch in dem Fall, dass sein mit einer "Rückgabe" der Beteiligung verbundener Zahlungsantrag unbegründet wäre. Vielmehr will er, wenn sein Zahlungsantrag Erfolg hat und es zu einer entsprechenden Schadensersatzleistung der Beklagten sowie zu einer Übertragung der Rechte aus der Beteiligung kommt, mit diesem Antrag sicherstellen, dass er über die notwendige Versteuerung der Ersatzleistung hinaus nicht auch noch die Verlustzuweisung verliert.
Da das Ziel dieses Antrags damit unmittelbar die Frage betrifft, wie weit - ausschließlich auf der Rechtsfolgenseite - die aus einer Aufklärungspflichtverletzung der Beklagten folgende Schadensersatzverpflichtung reicht, ist das Feststellungsinteresse des Klägers nicht zu verneinen. In der Sache besteht in der vom Kläger gewünschten Nichtanrechnung von Steuervorteilen auf seinen Schadensersatzanspruch und der Versteuerung der Ersatzleistung ein Zusammenhang, der es im Allgemeinen, sofern nicht außerordentliche Steuervorteile vorliegen, entbehrlich macht, eine nähere Berechnung vorzunehmen (vgl. BGHZ 74, 103, 114 ff; BGH, Urteil vom 27. Juni 1984 - IVa ZR 231/82 - NJW 1984, 2524; Senatsurteil vom 17. November 2005 - III ZR 350/04 - NJW 2006, 499 Rn. 8).
Dieser Zusammenhang würde gestört, wenn die Verlustzuweisung nachträglich aberkannt würde. Allerdings führt dies nicht zu einem Schadensersatzanspruch auf Ersatz der Steuervorteile, die bisher auf der Anerkennung der Verlustzuweisung beruhten. Denn im Rahmen des hier verfolgten Schadensersatzanspruchs, der dahin geht, so gestellt zu werden, als hätte sich der Kläger nicht beteiligt, besteht kein (Erfüllungs-)Anspruch auf den Eintritt von Folgen, die sich aus der Beteiligung selbst ergeben. Bei einer Aberkennung von Verlustzuweisungen und einer damit einhergehenden steuerlichen Nachforderung kommt aber wegen der hierauf zu entrichtenden Zinsen ein Schadensersatzanspruch in Betracht, auf den die Vorteile aus der über Jahre währenden Anerkennung von Verlustzuweisungen anzurechnen wären.
Schlick Dörr Hucke
Seiters Tombrink
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061739
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100414
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IV ZR 135/08
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Urteil
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§ 256 ZPO, § 62 Abs 1 Alt 2 ZPO, § 2353 BGB, § 2361 BGB, § 2365 BGB
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vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 3. Juni 2008, Az: 2 U 17/07, Urteil vorgehend LG Hamburg, 25. Mai 2007, Az: 323 O 23/07
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DEU
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Zulässigkeit der Klage eines Erbprätendenten gegen einen anderen Erbprätendenten auf Feststellung seiner Miterbenstellung: Bindungswirkung des Erbscheinsverfahrens; Streitgenossenschaft der beklagten Erben
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 2. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 3. Juni 2008 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Der Kläger begehrt die Feststellung seines Miterbenrechts.
Die Erblasserin hatte mit notariellem Testament vom 27. Oktober 1988 den Beklagten und weitere 12 Personen zu ihren Erben eingesetzt sowie Testamentsvollstreckung angeordnet. In diesem Testament ist der Kläger nicht bedacht. Durch weiteres notarielles Testament vom 17. Januar 1991 hob die Erblasserin frühere letztwillige Verfügungen auf, ordnete erneut Testamentsvollstreckung an und wandte verschiedenen Personen ohne ausdrückliche Erbeinsetzung Vermächtnisse zu. Unter anderem sollten die beiden Parteien sowie zwei andere Personen eine Eigentumswohnung in T. erhalten. In einem notariellen Testament vom 6. Juli 1991 nahm die Erblasserin schließlich Änderungen hinsichtlich der Vermächtnisse vor und setzte bezüglich der Eigentumswohnung in T. statt des Beklagten eine andere Person ein. Außerdem sollten der Kläger sowie seine Ehefrau das Ankaufsrecht für ein Pachtgrundstück und ein Teilgrundstück erhalten. Auch in diesem Testament erfolgte keine ausdrückliche Erbeinsetzung.
Der Testamentsvollstrecker beantragte die Erteilung eines Erbscheins, der 28 in den Testamenten aus dem Jahre 1991 mit Grundstücks- und Geldzuwendungen bedachte Personen als Erben ausweisen sollte. Dagegen wandte sich der Beklagte und beantragte am 12. Juli 1995 seinerseits unter Berufung auf die Unwirksamkeit der beiden Testamente aus 1991, ihm entsprechend dem Testament aus 1988 einen Erbschein zu erteilen, der ihn als Miterben zu 1/13 ausweisen sollte. Nach Beweisaufnahme durch Vernehmung von Zeugen sowie Einholung eines Sachverständigengutachtens wies das Amtsgericht Hamburg mit Beschluss vom 7. April 1998 den Erbscheinsantrag des Testamentsvollstreckers zurück und kündigte an, dem Teilerbscheinsantrag des Beklagten stattzugeben. Zur Begründung führte es aus, dass die Testamente aus dem Jahre 1991 wegen Testierunfähigkeit der Erblasserin nichtig seien. Die dagegen eingelegte Beschwerde wurde vom Landgericht zurückgewiesen. Die weitere Beschwerde des Klägers blieb ausweislich des Beschlusses des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 13. Dezember 2006 ebenfalls ohne Erfolg. Dem Beklagten wurde am 5. September 2007 ein Erbschein ausgestellt, der ihn als Teilerben über 1/12 des Nachlasses ausweist.
Der Kläger begehrt nunmehr die Feststellung, dass er aufgrund der Testamente vom 17. Januar 1991 und 6. Juli 1991 Miterbe der Erblasserin geworden sei. Die Vorinstanzen haben die Klage als unzulässig abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
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Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Dieses hat ausgeführt, dem Kläger fehle das Rechtsschutzbedürfnis, da er seine Klage nur gegen einen der Begünstigten des Testaments von 1988 gerichtet habe. Es sei nicht erkennbar, welche positiven Rechtsfolgen der Kläger im Falle eines Obsiegens aus einem entsprechenden Urteil ableiten wolle. Einer Entscheidung im Feststellungsverfahren komme für das Nachlassgericht keine Bindungswirkung zu, da noch andere Personen als Erben in Betracht kämen. Der Zulässigkeit der Klage stehe ferner das unter Beteiligung der Parteien durchgeführte Erbscheinsverfahren entgegen. Hier komme diesem Bindungswirkung zu, da in dem Verfahren eine Beweisaufnahme durch Vernehmung zahlreicher Zeugen sowie Einholung mehrerer Sachverständigengutachten erfolgt sei, die zum Ergebnis einer Testierunfähigkeit der Erblasserin 1991 geführt habe. Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine erneute Entscheidung über die identische Frage der Testierfähigkeit bestehe nicht. Hierfür spreche auch das Gebot lebensnaher Praktikabilität, da anderenfalls wechselnde einzelne Feststellungsklagen einer Verteilung des Nachlasses durch den Testamentsvollstrecker nahezu dauerhaft entgegenstünden. Hieraus folge zugleich das Vorliegen einer notwendigen Streitgenossenschaft. Eine unterschiedliche Feststellung der Testierunfähigkeit der Erblasserin in mehreren Verfahren verstoße gegen das geltende Recht. Anderenfalls sei undenkbar, wie eine Verteilung des Nachlasses erfolgen solle. Der Kläger wäre zumindest verpflichtet gewesen, Erklärungen derjenigen Beteiligten vorzulegen, die bereit seien, im Falle seines Obsiegens dies auch im Verhältnis zu ihnen zu akzeptieren. Dann hätte er nur noch die widersprechenden oder sich nicht äußernden Beteiligten verklagen müssen. Daran fehle es indessen.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Zu Unrecht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, es handele sich um eine objektiv sinnlose Klage, der das Rechtsschutzbedürfnis bzw. Feststellungsinteresse fehle. Ein rechtliches Interesse an einer alsbaldigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ist gegeben, wenn dem Recht oder der Rechtslage des Klägers eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und das erstrebte Urteil geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen (BGH, Urteile vom 22. März 1995 - XII ZR 20/94 - NJW 1995, 2032 unter 3a; vom 7. Februar 1986 - V ZR 201/84 - NJW 1986, 2507 zu II 1; Zöller/Greger, ZPO 28. Aufl. § 256 Rdn. 7). Bei einer Feststellungsklage liegt eine solche Gefährdung in der Regel schon darin, dass der Beklagte das Recht des Klägers ernstlich bestreitet oder er sich eines eigenen Rechts gegenüber dem Kläger berühmt. Gegenstand einer Feststellungsklage kann hierbei, wie sich auch aus § 27 ZPO ergibt, das Bestehen oder Nichtbestehen eines (Mit-)Erbrechts sein (BGHZ 47, 58, 66; 23, 73, 75 f.; RGZ 95, 97; Brandenburgisches OLG FamRZ 2009, 1610; Palandt/Edenhofer, BGB 69. Aufl. § 2353 Rdn. 23). Im Zivilprozess kann ein Streit zwischen Parteien, die kollidierende Rechte geltend machen, grundsätzlich im Wege der Feststellungsklage nach § 256 ZPO geklärt werden (BGH, Urteil vom 29. Juni 1987 - II ZR 198/86 - NJW-RR 1987, 1439 unter 2). So liegt es hier. Die Parteien streiten als Erbprätendenten darüber, ob der Kläger Miterbe geworden ist, was wiederum von der Wirksamkeit der Testamente aus dem Jahr 1991 abhängt. Der Beklagte wendet sich gegen eine derartige Mitberechtigung des Klägers, weil er von einer Unwirksamkeit der Testamente wegen Geschäftsunfähigkeit der Erblasserin ausgeht und nur das Testament aus 1988 für wirksam hält, welches lediglich ihm eine Miterbenstellung einräumt. Damit macht er ein vom Kläger behauptetes Recht diesem streitig.
Der Zulässigkeit der Feststellungsklage steht es hierbei nicht entgegen, dass ein Urteil im streitigen Verfahren nur zwischen den Parteien wirkt und keine Bindungswirkung für das Erbscheinsverfahren mit seinen weiteren Beteiligten hat. Für das Vorliegen des Feststellungsinteresses und des Rechtsschutzbedürfnisses ist es unerheblich, ob andere Gerichte einschließlich solcher der freiwilligen Gerichtsbarkeit an ein Sachurteil gebunden sind (MünchKomm-ZPO/Becker-Eberhard, 3. Aufl. § 256 Rdn. 44; Musielak/Foerste, ZPO 7. Aufl. § 256 Rdn. 11).
Auch im Übrigen kann von einer objektiv sinnlosen Klage nicht gesprochen werden. Wird zwischen den Parteien rechtskräftig festgestellt, dass der Kläger Miterbe ist, so kann der Beklagte dessen Erbenstellung nicht länger bestreiten, wie er dies bisher im Erbscheinsverfahren getan hatte. Selbst wenn der Kläger aber gezwungen wäre, gegen weitere sein Erbrecht bestreitende Beteiligte eine Feststellungsklage zu erheben, stünde dies seinem Rechtsschutzbedürfnis im Verhältnis zum Beklagten nicht entgegen.
2. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt nicht deshalb, weil bereits ein umfangreiches Erbscheinsverfahren durchgeführt wurde.
a) Im Erbscheinsverfahren werden keine der materiellen Rechtskraft fähige Entscheidungen über das Erbrecht getroffen, die Bindungswirkung für einen späteren streitigen Prozess über die Feststellung des Erbrechts hätten (BGHZ 47, 58, 66; BVerfG ZEV 2006, 74; Brandenburgisches OLG FamRZ 2009, 1610; BayObLG FamRZ 2004, 313; 1986, 1151; Palandt/Edenhofer aaO § 2353 Rdn. 23; MünchKomm-BGB/Mayer, 5. Aufl. § 2353 Rdn. 2, § 2359 Rdn. 45; PWW/Deppenkemper, BGB § 2353 Rdn. 4; Bamberger/Roth/Siegmann/Höger, BGB 2. Aufl. § 2353 Rdn. 25; Erman/Schlüter, BGB 12. Aufl. vor § 2353 Rdn. 3; Staudinger/Schilken, BGB [1997] § 2353 Rdn. 9, § 2360 Rdn. 14, § 2365 Rdn. 21). Diese fehlende Bindungswirkung ergibt sich daraus, dass dem Erbschein keine Rechtskraftwirkung zukommt. Er kann vielmehr jederzeit nach § 2361 BGB eingezogen werden. Das Nachlassgericht kann einen Erbschein hierbei auch dann einziehen, wenn es ihn nach erneuter Überprüfung für unrichtig hält, selbst wenn seit der Erteilung des Erbscheins ein langer Zeitraum verstrichen ist, zwischenzeitlich keine neuen Tatsachen aufgetreten sind und die der Erbscheinerteilung zugrunde liegende Testamentsauslegung von den Betroffenen widerspruchslos hingenommen wurde (BGHZ 47, 58, 62 ff.). Hinzu kommt, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers im Erbschein nur eine provisorische Entscheidung getroffen werden soll, die die Erbprätendenten dagegen nicht an einer abschließenden Streitentscheidung im Zivilprozess hindert (vgl. MünchKomm-BGB/Mayer, aaO § 2353 Rdn. 2).
Unabhängig vom entgegenstehenden Inhalt eines Erbscheins kann der wirkliche Erbe vor dem Prozessgericht mithin jederzeit gegen den Erbscheinserben Klage auf Feststellung seines Erbrechts erheben, wobei das Prozessgericht nicht gehindert ist, von den Feststellungen des Nachlassgerichts abzuweichen (BGHZ 47, 58, 66).
Hieran ändert der Umstand nichts, dass im Erbscheinsverfahren die Testierfähigkeit der Erblasserin durch Vernehmung von Zeugen und Einholung von Sachverständigengutachten geprüft wurde. Selbst in einem solchen Fall fehlt es an einer rechtskräftigen Entscheidung über das Erbrecht. Ob im Erbscheinsverfahren der Sachverhalt vollständig aufgeklärt wurde, ist in der Praxis kaum möglich und lediglich geeignet, die Ursache für einen weiteren Streit der Parteien zu bilden.
Auch das "Gebot einer lebensnahen Praktikabilität" steht dem Rechtsschutzbedürfnis nicht entgegen. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass wechselnde einzelne Feststellungsklagen eine Verteilung des Nachlasses durch den Testamentsvollstrecker nahezu dauerhaft hinderten. Vielmehr kann der Testamentsvollstrecker selbst, um eine Verteilung des Nachlasses nach § 2204 BGB durchführen zu können, gegen einen Erbprätendenten Klage auf Feststellung erheben, dass dieser nicht Erbe geworden ist (BGH, Urteil vom 4. Februar 1987 - IVa ZR 229/85 - NJW-RR 1987, 1090 unter I 3; OLG Karlsruhe FamRZ 2005, 1200; Stein/Jonas/Roth, ZPO 22. Aufl., § 256 Rdn. 36). Ein entsprechender Weg stünde dem Testamentsvollstrecker auch hier offen. Wird hierüber eine rechtskräftige Feststellung getroffen, kann der Testamentsvollstrecker eine Verteilung des Nachlasses vornehmen. Die Gefahr einer Undurchführbarkeit der Verteilung des Nachlasses besteht dann nicht.
3. Die Unzulässigkeit der Klage folgt schließlich auch nicht daraus, dass der Beklagte mit den weiteren Miterben eine notwendige Streitgenossenschaft bildete und der Kläger daher eine Feststellungsklage gegenüber allen Miterben hätte erheben müssen.
a) Im Falle der notwendigen Streitgenossenschaft aus materiell-rechtlichen Gründen nach § 62 Abs. 1 2. Alt. ZPO ist die Klage nur eines oder gegen nur einen Streitgenossen mangels Prozessführungsbefugnis unzulässig (BGHZ 92, 351, 353; 30, 195, 197; Zöller/Vollkommer aaO § 62 Rdn. 11; Musielak/Weth aaO § 62 Rdn. 8.; MünchKomm-ZPO/Schultes aaO § 62 Rdn. 24). Das Erfordernis einer gemeinschaftlichen Klage ergibt sich aus der lediglich gemeinschaftlich vorhandenen materiell-rechtlichen Verfügungsbefugnis. Ein derartiger Fall einer notwendigen Streitgenossenschaft liegt auf Seiten beklagter Miterben, gegen die auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des Erbrechts geklagt wird, nicht vor (BGHZ 23, 73, 75 f.; RGZ 95, 97, 98; Musielak/Weth aaO Rdn. 11; MünchKomm-ZPO/Schultes aaO Rdn. 37; Stein/Jonas/Bork aaO § 62 Rdn. 11, 23). Dies ergibt sich schon daraus, dass in einem derartigen Prozess erst geklärt werden soll, wer Erbe geworden ist und deshalb eine Klage gegen einen einzelnen oder mehrere einzelne Miterben nicht unzulässig sein kann. Durch eine solche Feststellungsklage wird dagegen kein Recht geltend gemacht, das materiell-rechtlich nur gegen alle in Betracht kommenden Miterben gleichzeitig ausgeübt werden könnte. Auch für vergleichbare Fallgestaltungen hat die Rechtsprechung keine notwendige Streitgenossenschaft angenommen, etwa für die Klage eines Gesellschafters auf Feststellung, dass einer seiner Mitgesellschafter aus der Gesellschaft ausgeschieden ist (BGHZ 30, 195, 197 ff.).
Eine notwendige Streitgenossenschaft folgt auch nicht alleine daraus, dass es "unlogisch" wäre, im Verhältnis zu einem Beklagten festzustellen, dass dem klagenden Prätendenten ein Erbrecht zusteht, während im Verhältnis zu anderen Beklagten in weiteren Prozessen möglicherweise das Gegenteil festgestellt würde. Mögen solche unterschiedlichen Feststellungen auch "unlogisch" sein, so sind sie dennoch denkbar und möglich und führen prozessual nicht zu einer notwendigen Streitgenossenschaft (so ausdrücklich BGHZ 30, 195, 199 f.; 23, 73, 75 f.; RGZ 95, 97 f.; anders Wieser NJW 2000, 1163, der aber gleichwohl eine getrennte Klage gegen mehrere Miterben für möglich hält). Auftretende Schwierigkeiten sind auch keineswegs unlösbar. Wenn ein Erbprätendent sich entschließt, lediglich gegen einen Miterben auf Feststellung seines Erbrechts zu klagen und nicht zugleich gegen weitere, die ebenfalls sein Erbrecht in Abrede stellen, so fällt es allein in seinen Risikobereich, wenn es gegebenenfalls zu widersprechenden Entscheidungen kommt. Diese Gefahr kann der Erbprätendent dadurch vermeiden, dass er sämtliche sein Erbrecht bestreitenden Miterben in einem Prozess verklagt. Umgekehrt haben auch diejenigen Miterben, die die Berechtigung eines Erbprätendenten in Abrede stellen, die Möglichkeit, diesen gemeinschaftlich zu verklagen. Auch dem Testamentsvollstrecker wird die Verteilung des Nachlasses durch möglicherweise widersprechende Entscheidungen keineswegs unmöglich gemacht. Er kann vielmehr selbst gegen den Erbprätendenten auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Erbrechts klagen und auf diese Weise verbindlich feststellen lassen, unter welchen Miterben er die Verteilung des Nachlasses nach § 2204 BGB vorzunehmen hat (s.o. unter 2.).
Die Annahme notwendiger Streitgenossenschaft hätte hier demgegenüber zur Folge, dass der Kläger gezwungen wäre, sämtliche Beteiligte, die in dem Testament der Erblasserin von 1988 als Erben genannt werden, zusammen mit dem Beklagten zu verklagen. Dies würde selbst dann gelten, wenn einzelne dieser Beteiligten sein Erbrecht überhaupt nicht in Abrede stellen und es ihnen gegenüber daher am Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage fehlen würde. Die Unzulässigkeit der Klage gegen einen notwendigen Streitgenossen mangels Rechtsschutzbedürfnisses hätte dann aber die Unzulässigkeit der Klage insgesamt zur Folge (vgl. Zöller/Vollkommer aaO Rdn. 23; Musielak/Weth aaO Rdn. 17; MünchKomm-ZPO/Schultes aaO Rdn. 47). Ein derartiges Ergebnis ließe sich nur vermeiden, wenn der Erbprätendent nur diejenigen Miterben verklagen müsste, die sein Erbrecht bestreiten oder sich hierzu zumindest nicht äußern. Dann müsste er zunächst außergerichtlich von sämtlichen in Betracht kommenden Miterben Erklärungen darüber einholen, ob diese sein Erbrecht anerkennen oder dies bestreiten wollen. Zu einer derartigen Vorgehensweise ist der Erbprätendent indessen dann nicht gehalten, wenn er von vornherein berechtigt ist, nur gegen einzelne Miterben zu klagen.
b) Der Zulässigkeit der Klage steht schließlich nicht das Vorliegen einer notwendigen Streitgenossenschaft nach § 62 Abs. 1 1. Alt. ZPO entgegen. In diesen Fällen der notwendigen Streitgenossenschaft aus prozessualen Gründen ist eine Klage einzelner Streitgenossen oder gegen einzelne Streitgenossen zulässig (BGHZ 30, 195, 198; MünchKomm-ZPO/Schultes aaO Rdn. 47; Stein/Jonas/Bork aaO Rdn. 4). Im Übrigen sind auch die Voraussetzungen einer derartigen Streitgenossenschaft nicht gegeben, für die die Rechtskrafterstreckung aufgrund einer besonderen Vorschrift für einen späteren Prozess gegen einen anderen der Beteiligten typisch ist (BGHZ 30, 195, 199; Zöller/Vollkommer aaO Rdn. 3 ff.). Die Rechtskrafterstreckung bei nacheinander geführten Prozessen führt dann zur notwendigen Streitgenossenschaft bei einem Nebeneinander der Prozesse (BGHZ 92, 351, 354). Ein derartiger Fall einer Rechtskrafterstreckung oder der Erstreckung sonstiger Urteilswirkungen liegt aber in dem Fall, in dem ein Erbprätendent lediglich einen der möglichen Miterben auf Feststellung seines Erbrechts in Anspruch nimmt, nicht vor.
Terno Dr. Kessal-Wulf Harsdorf-Gebhardt
Dr. Karczewski Lehmann
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Deutschland
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BMJV
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public
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JURE100061750
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BGH
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4. Zivilsenat
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20100421
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IV ZR 8/08
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Urteil
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§ 2 Abs 1 BUZBB, § 7 Abs 1 S 1 BUZBB
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vorgehend LG Saarbrücken, 18. Dezember 2007, Az: 14 S 10/07, Urteil vorgehend AG Lebach, 28. Februar 2007, Az: 3B C 463/06
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DEU
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Berufsunfähigkeitsversicherung: Verweisung auf eine andere Tätigkeit
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil der 14. Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 18. Dezember 2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Der Kläger verlangt von der Beklagten weitere Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, die er bei ihr seit 1999 in Verbindung mit einer Kapitallebensversicherung hält.
Dem Versicherungsverhältnis liegen die von der Beklagten verwendeten Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (B-BUZ) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:
"§ 2 Was ist Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen?
1. Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mehr als sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.
…
§ 7 Was gilt für die Nachprüfung der Berufsunfähigkeit?
1. Nach Anerkennung oder Feststellung unserer Leistungspflicht sind wir berechtigt, das Fortbestehen der Berufsunfähigkeit und ihren Grad oder den Umfang der Pflegebedürftigkeit nachzuprüfen; dies gilt auch für zeitlich begrenzte Anerkenntnisse nach § 5. Dabei können wir erneut prüfen, ob die versicherte Person eine andere Tätigkeit im Sinne von § 2 ausüben kann, wobei neu erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten zu berücksichtigen sind.
…"
Der Kläger ist gelernter Schreiner mit Gesellenbrief und war zunächst in diesem Beruf tätig. Nachdem er durch die bei seiner Arbeit auftretenden Staubimmissionen an Asthma bronchiale erkrankt war, musste er seinen Beruf als Schreiner im Jahr 2001 aufgeben. Mit Schreiben vom 5. Juli 2002 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie die versicherten Leistungen aus der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung ab dem 1. Oktober 2001 erbringen werde, und behielt sich eine erneute Prüfung zum 1. Juni 2004 vor.
In von der Beklagten angeforderten Erklärungen zur Überprüfung der Berufsunfähigkeit gab der Kläger im Mai 2004 und im September 2005 an, dass er als Außendienstmitarbeiter im Garten- und Technikbereich arbeite. Daraufhin stellte die Beklagte die Leistungen zum 1. Mai 2006 ein.
Im Wege der Teilklage begehrt der Kläger Nachzahlung der Renten für die Monate Mai bis September 2006 in Höhe von insgesamt 3.750 € sowie die Feststellung, dass er von der Beitragszahlungspflicht befreit sei.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Revision verfolgt er sein Klagebegehren weiter.
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Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Es hat ohne genügende Feststellungen die Beklagte für berechtigt gehalten, die Leistungen aus der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung einzustellen.
I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann der Kläger nicht einwenden, wenn er im Schreinerhandwerk weiter hätte arbeiten können, hätte er die Möglichkeit gehabt, den Meisterbrief zu machen und so einen höheren Verdienst erzielen und sich selbständig machen können. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung von Ausbildung und Erfahrung sowie Kenntnissen und Fähigkeiten sei immer der Versicherungsfall. Zu dieser Zeit sei der Kläger Schreiner gewesen und habe keinen Meisterbrief gehabt. Auf die höheren Verdienstmöglichkeiten eines Meisters könne demnach nicht abgestellt werden. Ein Vergleichsberuf, der dem Versicherten im Gegensatz zu dem zuletzt ausgeübten Beruf keine Aufstiegschancen biete, könne zwar schon deswegen trotz vergleichbarer Einkommen ungeeignet sein. Dass der Kläger als angestellter Schreinergeselle bessere Aufstiegschancen als in seinem neuen Beruf als Außendienstmitarbeiter im Garten- und Technikbereich gehabt hätte, sei nicht näher begründet. Soweit sich der Kläger darauf berufe, das Ansehen eines Schreiners sei höher als das eines Außendienstmitarbeiters im Garten- und Technikbereich, weil er jetzt nichts anderes mache als "Klinken putzen", stehe dies einer Verweisung nicht entgegen. Es bestünden keine Bedenken, die soziale Gleichwertigkeit der Berufsbilder Schreiner und Außendienstmitarbeiter im Garten- und Technikbereich zu bejahen. Die von dem Kläger bei seiner neuen Tätigkeit erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten könnten im Nachprüfungsverfahren berücksichtigt werden. Die von dem Kläger abgegebene Tätigkeitsbeschreibung stehe einer Vergleichbarkeit mit seiner früheren Tätigkeit als gelernter Schreinergeselle nur insoweit entgegen, als der Kläger für seinen neuen Beruf keine konkrete Berufsausbildung besitze. Neue Berufsbilder, die noch nicht in einem Anlernberuf festgelegt seien, könnten allerdings nicht allein deshalb als sozial minderwertig angesehen werden.
II. Das hält der rechtlichen Nachprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand. Das Berufungsgericht hat, ohne die frühere Tätigkeit des Klägers als gelernter Schreinergeselle zu ermitteln, deren Vergleichbarkeit mit der neuen Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter im Garten- und Technikbereich bejaht.
1. Eine Verweisung des Versicherten auf eine andere Tätigkeit kommt nach den Bedingungen der Beklagten (§§ 7 Abs. 1 Satz 1, 2 Abs. 1 B-BUZ) nur dann in Betracht, wenn die andere Tätigkeit seiner bisherigen Lebensstellung entspricht. Diese wird vor allem durch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit geprägt. Ihre Berücksichtigung sondert Tätigkeiten aus, deren Ausübung deutlich geringere Fähigkeiten und Erfahrung erfordert als der bisherige Beruf. Die Lebensstellung des Versicherten wird also von der Qualifikation seiner Erwerbstätigkeit bestimmt, die sich wiederum daran orientiert, welche Kenntnisse und Erfahrungen die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung der Tätigkeit voraussetzt. Eine Vergleichstätigkeit ist dann gefunden, wenn die neue Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt (Senatsurteile vom 11. Dezember 2002 - IV ZR 302/01 - NJW-RR 2003, 383 unter II 1; vom 11. Dezember 1996 - IV ZR 238/95 - VersR 1997, 436 unter II 3 b m.w.N.). Da die Berufsausübung vor Eintritt des Versicherungsfalles die Vergleichsmaßstäbe dafür liefert, ob die neue Tätigkeit der bisherigen Lebensstellung entspricht, muss bekannt sein, wie sie konkret ausgestaltet war, welche Anforderungen sie an den Versicherten stellte, welche Fähigkeiten sie voraussetzte, welches Einkommen sie ihm sicherte und wie sich seine beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten real darstellten (Senatsurteil vom 11. Dezember 2002 aaO). Dies gilt auch bei der Nachprüfung des Fortbestehens der Berufsunfähigkeit gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 B-BUZ. Die vom Versicherer zu treffende Entscheidung, ob er die Leistungen wegen Wegfalls der Berufsunfähigkeit einstellen kann, erfordert einen Vergleich des Zustandes, der dem Leistungsanerkenntnis zugrunde liegt, mit dem Zustand zu einem späteren Zeitpunkt (Senatsbeschluss vom 30. Januar 2008 - IV ZR 48/06 - VersR 2008, 521 Tz. 3; Senatsurteile BGHZ 121, 284, 295; vom 28. April 1999 - IV ZR 123/98 - VersR 1999, 958 unter II 1 a m.w.N.). Wenn es um die Leistungseinstellung wegen neu erworbener beruflicher Fähigkeiten geht, kommt es auf einen Vergleich der vor dem Anerkenntnis zuletzt ausgeübten mit der anderen Tätigkeit an, auf die der Versicherungsnehmer verwiesen werden soll (Senatsbeschluss vom 30. Januar 2008 aaO m.w.N.).
2. Diesen Maßstäben genügt die Vergleichsbetrachtung des Berufungsgerichts nicht.
a) Zwar ist es Sache des Versicherers, im Nachprüfungsverfahren zu beweisen, dass die Voraussetzungen seiner Leistungspflicht nicht mehr erfüllt sind (Senatsurteile vom 24. Februar 2010 - IV ZR 119/09 - juris Tz. 10; vom 11. Dezember 2002 aaO unter II 3). Will aber - wie hier - der Versicherungsnehmer geltend machen, die von ihm neu ausgeübte Tätigkeit entspreche nicht seiner bisherigen Lebensstellung, so obliegt es ihm, die konkreten Umstände darzulegen, aus denen sich die fehlende Vergleichbarkeit ergeben soll. Das gilt auch und gerade dann, wenn er sich auf solche Umstände stützen will, die sich aus der Art und Ausgestaltung der früheren Tätigkeit ergeben (Senatsurteil vom 11. Dezember 2002 aaO m.w.N.).
b) Auf Anforderung des Berufungsgerichts hat der Kläger lediglich eine Beschreibung seiner neuen Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter im Garten- und Technikbereich abgegeben. Zu seinem erlernten Beruf als Schreiner hat er dagegen nur den Gesellenbrief vorgelegt und auf die Möglichkeit der Meisterprüfung verwiesen; außerdem hat er das zuletzt erzielte Einkommen angegeben. Nicht vorgetragen hat er indessen, wie seine frühere Tätigkeit im Einzelnen ausgestaltet war, welche Fähigkeiten und körperlichen Kräfte sie erforderte, welche Stellung er im Betrieb innehatte, wie die Arbeitsbedingungen waren und welche konkreten Entwicklungsmöglichkeiten sich ihm boten.
Dass der Kläger seiner Darlegungslast insoweit noch nicht genügt hat, führt nicht zur Abweisung der Klage. Denn er hatte mit Blick darauf, dass das Berufungsgericht nur eine Beschreibung seiner neuen Tätigkeit forderte, keinen Anlass davon auszugehen, er habe bislang nicht ausreichend zu den Vergleichsgrundlagen vorgetragen. Einen der Sache nach gemäß § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO gebotenen Hinweis hat das Berufungsgericht nicht erteilt.
c) Das Verfahren ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit der Kläger Gelegenheit erhält, seinen Vortrag entsprechend zu ergänzen. Auf dieser Grundlage wird das Berufungsgericht sodann erneut zu beurteilen haben, ob die neue Tätigkeit des Klägers als Außendienstmitarbeiter im Garten- und Technikbereich mit seiner früheren Tätigkeit als angestellter Schreinergeselle vergleichbar ist.
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass eine Verweisung nicht bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil der Beruf, auf den der Versicherer den Versicherten verweisen will, kein Ausbildungsberuf ist. Weder muss sich ein in einem bestimmten Beruf ausgebildeter Versicherter uneingeschränkt auf eine Tätigkeit verweisen lassen, die keine Ausbildung erfordert, noch ist dem Versicherer eine solche Verweisung generell verwehrt. Auch in solchen Fällen bedarf es eines konkreten Vergleichs der Anforderungsprofile der einander gegenüberzustellenden Berufe und einer konkreten Betrachtung, welche Kenntnisse und Fähigkeiten die jeweiligen Tätigkeiten erfordern, welche Verdienstmöglichkeiten und welche beruflichen Perspektiven sie bieten und ob danach die neue Tätigkeit die bisherige Lebensstellung des Versicherten zu wahren geeignet ist. Wird ein Gelernter auf eine Tätigkeit in einem Beruf verwiesen, der keine Ausbildung voraussetzt, so ist damit nicht von vornherein ein Abstieg in der sozialen Wertschätzung des Versicherungsnehmers verbunden (so aber OLG Braunschweig VersR 2000, 620, 621). Allerdings stellt das Erfordernis einer abgeschlossenen Berufsausbildung einen bedeutenden Faktor dar, der bei der Vergleichsbetrachtung zu berücksichtigen ist. Berufliche Tätigkeiten erfahren regelmäßig durch eine Ausbildung eine erhebliche Steigerung des sozialen Ansehens (anders Kammergericht VersR 1995, 1473).
Terno Wendt Felsch
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061754
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BGH
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7. Zivilsenat
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20100325
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VII ZB 11/08
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Beschluss
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§ 829 ZPO, § 835 ZPO
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vorgehend LG Darmstadt, 18. Januar 2008, Az: 5 T 695/06, Beschluss vorgehend AG Darmstadt, 24. September 2006, Az: 63 M 31371/06, Beschluss vorgehend AG Darmstadt, 23. März 2006, Az: 63 M 31371/06, Beschluss
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DEU
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Zwangsvollstreckung: Bestimmtheitserfordernis bei Pfändung von Forderungen aus einem anwaltlichen Mandatsverhältnis; Rechtsschutzbedürfnis für die Pfändung des Anspruchs auf Herausgabe des Titels
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Auf die Rechtsmittel der Schuldnerin werden - unter Zurückweisung im Übrigen - die Beschlüsse der 5. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 18. Januar 2008 (5 T 695/06) und des Amtsgerichts Darmstadt vom 24. September 2006 abgeändert.
Unter Zurückweisung der weitergehenden Erinnerung der Schuldnerin wird der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des Amtsgerichts Darmstadt vom 23. März 2006 in der Fassung vom 20. September 2006 insoweit aufgehoben, als die Pfändung der unter den Ziffern 6, 7, 8, 11 und 12 genannten Forderungen angeordnet wurde. In diesem Umfang wird der Antrag des Gläubigers auf Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses zurückgewiesen.
Von den Kosten des Erinnerungsverfahrens und der Rechtsmittelverfahren tragen die Schuldnerin 3/4 und der Gläubiger 1/4.
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I.
Der Gläubiger betreibt gegen die Schuldnerin, die Republik A., die Zwangsvollstreckung aus einem Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main, durch das die Schuldnerin zur Zahlung von 112.995,51 €, zur Zahlung von 10.481,48 € und zur Zahlung von 6.495,96 € (insgesamt 129.972,95 €) an den Gläubiger, der Staatsanleihen der Schuldnerin gezeichnet hat, jeweils nebst Zinsen und Zug um Zug gegen Aushändigung von Inhaberschuldverschreibungen bzw. Zinsscheinen, verurteilt wurde. Das Landgericht berichtigte später den Tenor dieses Urteils hinsichtlich der Zahlung von 6.495,96 € dahingehend, dass statt der Zinsscheine Nummer 6 solche mit der Nummer 7 vom Gläubiger herauszugeben sind.
Der Gläubiger bot durch einen Gerichtsvollzieher die im Urteil aufgeführten Inhaberschuldverschreibungen und Zinsscheine am 23. Mai 2005 dem Prozessbevollmächtigten der Schuldnerin und am 29. Juni 2006 der in den Anleihebedingungen bezeichneten Hauptzahlstelle der Schuldnerin an. Alle Angebotsempfänger erklärten, dass die Forderung nicht bezahlt werden könne. Der Prozessbevollmächtigte der Schuldnerin wies zusätzlich darauf hin, dass für die Entgegennahme nicht die Rechtsanwälte, sondern die jeweiligen Zahlstellen zuständig seien. Der Gerichtsvollzieher stellte den Annahmeverzug der Schuldnerin fest.
Auf Antrag des Gläubigers hat das Amtsgericht - Vollstreckungsgericht - am 23. März 2006 die Pfändung von angeblichen gegenwärtigen und zukünftig entstehenden Forderungen der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin, einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts von Rechtsanwälten, wegen eines Betrages von "mindestens 160.000,- € (genauer Betrag siehe beiliegende Anlage A 1 zur Forderungsaufstellung) sowie den Kosten dieses Beschlusses und seiner Zustellung" angeordnet und die Ansprüche an den Gläubiger zur Einziehung überwiesen. Zu den angeblichen Ansprüchen heißt es u.a.:
"Vorbemerkung:
Die Anwaltskanzlei ist verpflichtet, ein so genanntes Mandantenkonto zu führen, auf dem die Fremdgelder, Honorare und steuerfreie Auslagen etc. getrennt und den gesetzlichen Anforderungen entsprechend verbucht bzw. nachgewiesen werden. In dieser Funktion des Drittschuldners beantragt der Gläubiger den Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses für folgende Einzelpositionen, zu denen sich der Drittschuldner jeweils im Einzelnen zu erklären hat:
Im Einzelnen:
1. Verzinsung von Mandantenguthaben, Vorauszahlungen der Schuldnerin an Honorarforderungen und Nebenleistungen (Reisekosten, Gutachter), Erstattungen von Kostenfestsetzungsbeschlüssen, geleistete Schadensersatzzahlungen und Geldstrafen zu Gunsten der Schuldnerin,
2. Schadensersatzzahlungen und Geldstrafen, die der Republik A. als Ergebnis eines Rechtsstreites zugesprochen und durch die unterlegene Parteien an den Drittschuldner geleistet werden. Insbesondere solche Schadensersatzansprüche in Sachen S. (…) aus Blockierung der Botschaftskonten (wohl bei der D. Bank) in mehrfacher €-Millionen-Höhe (AZ der Verfahren …).
3. Schadensersatzzahlungen aus der Verletzung der Rechte der Schuldnerin durch die in die Öffentlichkeit getragenen Aktionen wie Miniklagen, Taschenpfändungen und sonstige Internet- und anderweitige Veröffentlichungen,
4. Erlöse aus der Verwertung von Rechtsgutachten (z.B. Gutachten P. und B./H.), die zuvor durch die Schuldnerin für Rechtsstreitigkeiten bezahlt wurden,
5. Auflösung des Mandantenkontos mit Beendigung/Entziehung des Auftragsverhältnisses/Vertragsverhältnisses,
6. Kostenerstattungsansprüche aus: Rechtsstreitigkeiten, die einen Rechtsanspruch auf Kostenfestsetzungsbeschluss ergeben; zurückgezogenen Klagen; Teilerledigte Klagen; Klageumstellungen von Globalurkunden auf effektive Stücke und damit verbundene (Teil)-Klagerücknahme; der Drittschuldner seine vertraglichen Anwaltshonorare vom Mandanten gezahlt erhielt, er aber von einem Antrag auf Kostenerstattungsanspruch erkennbar absieht, so dass die Gefahr der Verschleuderung von Forderungen der Schuldnerin besteht. (5 a) Dies betrifft neben der generellen Pfändung dieser Fälle zum Beispiel den Fall … in Sachen E. gegen die Schuldnerin. E. hat nachweislich seine Klage zurückgezogen, ohne dass bislang ein Kostenantrag geltend gemacht wurde,
7. Pfändung und Herausgabe des Anspruches auf Stellung eines Kostenfestsetzungsantrages,
8. Vollstreckung von Transferleistungen, die über das vertragliche Anwaltsverhältnis hinausgehen und zur Zahlung unmittelbar an bzw. über den Drittschuldner oder zu Gunsten des Drittschuldners bei der Firma C. in F. erfolgen sollen,
9. Auszahlung von bei Gericht zuvor hinterlegten (anteiligen) Gerichtskosten zu Gunsten der Schuldnerin über den Drittschuldner,
10. Geldleistungen für Dritte bzw. Sicherheitsleistungen zu Gunsten Dritter wie z.B. C., die zuvor zur Abwendung von Vollstreckungen (um C. von eventuellen Schadensersatzforderungen pfändender Gläubiger freizustellen, falls die abschlägigen Drittschuldnererklärungen C. durch gerichtliche Maßnahmen überurteilt werden) durch die Schuldnerin erbracht worden sind und dem Konto des Drittschuldners (später) gutgeschrieben werden,
11. Titel betreffend Kostenfestsetzungsbeschlüssen - Sofern der Drittschuldner seine Anwaltshonorare vollumfänglich durch die Republik A. erhalten hat, begehrt der Gläubiger die Herausgabe der bei dem Drittschuldner liegenden Titel aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen von Verfahren gegen die Republik A. (mit Ausnahme von Kostenfestsetzungsbeschlüssen den Gläubiger betreffend). Die Kostenfestsetzungsbeschlüsse haben wie die Wertpapiere der Schuldnerin einen gewissen (Inkasso-)Wert und sind handelbar veräußerbar. Gesetzt der Forderungserfüllung des Drittschuldners hat dieser die Kostenfeststellungsbeschlüsse an den Gerichtsvollzieher zur Verwertung zu übergeben. (Pfändung und Herausgabe des Herausgabeanspruches des Schuldners A. gegen den Drittschuldner auf Herausgabe der verbrieften, vollstreckbaren Kostenfestsetzungsbeschlüssen aus denen die Zwangsvollstreckung betrieben werden kann).
12. …
13. Herausgabe von Hinterlegungen aus Vollstreckungen aus vorläufigen Titeln bei den Hinterlegungsstellen der Amtsgerichte (z.B. wegen Überpfändungen, zurückgezogenen Klagen bzw. Vollstreckungshandlungen, außergerichtlichen Vergleichen, nachträgliche Annahme eines Umschuldungsangebotes, nachträglich gerichtlich aufgehobene Titel, etc.) an die Republik A. zu Händen des vertretenden Anwaltsbüros,
14. Herausgabe bzw. Rückerstattung von Sicherheitshinterlegungen bei Gericht zu Verhinderung/Abwehr der Zwangsvollstreckung aus (vorläufigen) Titeln,
15. Entgegennahme von Geldleistungen aus Erbschaften und Schenkungen zugunsten der Schuldnerin durch den Drittschuldner. Bei Sachleistungen hat der Drittschuldner diese an den Gerichtsvollzieher zur Verwertung auszuhändigen,
16. Umsatzsteuererstattungen zugunsten der Schuldnerin auf Grundlage der Umsatzsteuerfreistellung als Ausländer,
17. Geldleistungen aus der Verwertung von Artikeln (wie z.B. Mitteilungen an NJW etc.) und Gutachten sowie von im Auftrage A.'s lancierten, interessengesteuerten "wissenschaftlichen" Beiträgen, sofern diese Leistungen nicht den Autor des Drittschuldners betreffen,
18. Rückzahlungsansprüche an A. bei Vertragsauflösung bzw. Mandatsbeendigung und ferner Ansprüche A.'s aus Schlechterfüllung oder gar Nichterfüllung der anwaltlichen Vertretung der Republik A. durch das Anwaltskanzlei C.,"
Auf Erinnerung der Schuldnerin hat das Amtsgericht am 20. September 2006 den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss dahingehend abgeändert, dass die Überweisung der gepfändeten Geldforderung nur zur Einziehung und nur mit der Wirkung stattfindet, dass der Drittschuldner den Betrag zu hinterlegen hat, es sei denn, die Rechtskraft des zu vollstreckenden Urteils wird nachgewiesen. Im Übrigen hat es der Erinnerung nicht abgeholfen. Mit Beschluss vom 24. September 2006 hat das Amtsgericht die Erinnerung zurückgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde der Schuldnerin hat das Beschwerdegericht den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss dahingehend abgeändert, dass die unter Ziffer 12 aufgeführte Forderung entfalle und nicht dem Pfändungszugriff unterliege; im Übrigen hat es die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Schuldnerin die vollständige Aufhebung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses und die Zurückweisung des Antrags auf dessen Erlass weiter.
II.
Das Beschwerdegericht führt u.a. aus, die angeblichen Forderungen der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin seien hinreichend bestimmt bezeichnet. Der konkrete Rechtsgrund und der jeweilige Gegenstand der gepfändeten Forderungen seien angegeben. Der Gläubiger begehre die Überweisung von Forderungen, die ihre Grundlage in dem Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen der Schuldnerin und der Drittschuldnerin haben können. Der Gläubiger habe den Entstehungsgrund möglicher Forderungen so genau beschrieben, dass festgestellt werden könne, welche konkrete Forderung Gegenstand des Pfändungszugriffs sein solle. Es handele sich unter Ziffer 3 um mögliche Schadensersatzansprüche wegen Schlecht-/Nichterfüllung und unter den übrigen Ziffern um Herausgabeansprüche gemäß §§ 675, 667 BGB. Ob solche Ansprüche tatsächliche bestünden, sei im Vollstreckungsverfahren nicht zu prüfen.
Es könne dahinstehen, ob das Angebot der Inhaberschuldverschreibungen an den Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin zu einem Annahmeverzug geführt habe. Jedenfalls sei dies nachträglich dadurch geheilt worden, dass der Gläubiger die Inhaberschuldverschreibungen über die Hauptzahlstelle der Schuldnerin tatsächlich angeboten habe. Da diese sowohl die Annahme als auch die Zahlung verweigert habe, sei die Schuldnerin in Annahmeverzug geraten. Die Vollstreckungsforderung ergebe sich hinreichend klar aus dem Beschluss. Aus der dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss als Anlage beigefügten Forderungsaufstellung ergebe sich, dass der Gläubiger die Zwangsvollstreckung wegen eines sich aus Hauptforderung und Zinsen bis zum 13. März 2006 zusammensetzenden Teilbetrages in Höhe von 161.314,49 € sowie wegen der Kosten des Beschlusses und seiner Zustellung betreibe. Die Nichtaufnahme des Berichtigungsbeschlusses in den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss sei unschädlich, da sich die Zwangsvollstreckung nur auf den vom Berichtigungsbeschluss nicht betroffenen Teil der Forderung beziehe und im Übrigen keine Zweifel bestünden, aus welchem Titel vollstreckt werde.
III.
Die statthafte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat nur zu einem Teil Erfolg.
1. Die von der Schuldnerin in der Rechtsbeschwerdebegründung erhobenen Rügen des fehlenden Annahmeverzuges, der Unbestimmtheit der Vollstreckungsforderung, der inkorrekten Wiedergabe des (später berichtigten) Titels im Pfändungs- und Überweisungsbeschluss und der fehlenden Übergabe der Inhaberschuldverschreibungen an das Vollstreckungsgericht sind nicht begründet. Hierzu wird auf die Begründung (Gründe III. 2. bis 4.) in dem Beschluss des Senats vom 8. Juli 2008 im Rechtsbeschwerdeverfahren VII ZB 64/07 (BGHZ 177, 178), das zwischen den gleichen Parteien geführt wurde und in dem die identischen Rügen erhoben worden waren, Bezug genommen. Soweit die Vollstreckungsforderung hier abweichend mit "mindestens 160.000,- €" genannt ist, ergibt sich aus der in Bezug genommenen und dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss beigefügten Forderungsaufstellung der genaue, dort im Einzelnen aufgeschlüsselte Gesamtbetrag von 161.314,49 € per 13. März 2006.
2. Teilweise zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde dagegen, dass die gepfändeten Forderungen nicht ausreichend bestimmt seien. Der Pfändungsbeschluss muss die Anordnung und den Umfang der Pfändung klar und bestimmt darstellen (Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 829 Rdn. 8). Er muss insbesondere die zu pfändende Forderung bzw. den zu pfändenden Anspruch des Schuldners gegen den Drittschuldner so bestimmt bezeichnen, dass feststeht, welcher Anspruch Gegenstand der Zwangsvollstreckung ist (BGH, Urteil vom 29. November 1984 - X ZR 39/83, BGHZ 93, 82; Beschluss vom 8. Juli 2008 - VII ZB 64/07 aaO). Diesen Maßstäben genügen nicht alle der in der Anlage zum Pfändungs- und Überweisungsbeschluss unter den einzelnen Ziffern aufgeführten Ansprüche.
a) Ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde allerdings geltend, weil der Begriff "Ansprüche aus Geschäftsbesorgung" dem Beschluss an keiner Stelle zu entnehmen sei, habe das Beschwerdegericht zu Unrecht angenommen, gepfändet seien Forderungen, die ihre Grundlage in dem Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen der Schuldnerin und der Drittschuldnerin haben können. Durch die Vorbemerkung zu den einzelnen Ansprüchen ist hinreichend klargestellt, dass es in den folgenden Einzelpositionen um Ansprüche im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Drittschuldnerin als Rechtsanwaltskanzlei für die Schuldnerin ("in dieser Funktion") und dem in diesem Zusammenhang zu führenden so genannten Mandantenkonto geht. Diese hat das Beschwerdegericht zutreffend rechtlich eingeordnet und beschrieben.
b) Ohne Erfolg rügt die Beschwerde weiter die Bestimmtheit der Ziffer 1 der Forderungsbeschreibung. Es ist nicht notwendig, dass dort als solche ausdrücklich bezeichnete Ansprüche der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin aufgeführt werden, weil sich bereits aus der allgemeinen Einleitung ergibt, dass es nur um Ansprüche der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin geht. Damit folgt aus der Erwähnung etwa von "Vorauszahlungen der Schuldnerin", dass alle Fälle umfasst sind, in denen solche Zahlungen zu Ansprüchen der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin aus dem anwaltlichen Geschäftsbesorgungsvertrag geführt haben oder führen werden. Gleiches gilt für "geleistete Schadensersatzzahlungen und Geldstrafen zu Gunsten der Schuldnerin".
c) Soweit in den Ziffern 2, 3, 10, 11, 13 und 14 Zahlungen zu Gunsten der Schuldnerin an die Drittschuldnerin, die zu entsprechenden Ansprüchen der Schuldnerin an die Drittschuldnerin führen, auch aus nicht näher bezeichneten Prozessen enthalten sind, genügt dies wegen der Beschränkung auf das bestehende Mandatsverhältnis zwischen Schuldnerin und Drittschuldnerin ebenfalls dem Bestimmtheitsgebot.
d) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kommt es nicht darauf an, dass keine Rechtsbeziehungen benannt werden, aus denen die in Ziffer 4 genannten Erlöse stammen könnten. Entscheidend und ausreichend ist, dass für den Fall, dass solche Erlöse eingehen, klar bestimmt ist, dass etwaige aus dem Anwaltsvertrag hieraus folgende Ansprüche der Schuldnerin von der Pfändung erfasst sind.
e) Auch die unter den Ziffern 13 und 14 bezeichneten Ansprüche sind hinreichend bestimmt. Denn die Formulierungen sind vergleichbar der Ziffer 1 dahin auszulegen, dass die Ansprüche der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin gemeint sind, die sich in den dort genannten Fällen von "Herausgaben bzw. Rückerstattungen" an die Drittschuldnerin zu Gunsten der Schuldnerin ergeben.
f) Ohne Erfolg bleiben auch die Angriffe der Rechtsbeschwerde gegen die Ziffern 15 und 17. Es ist nicht notwendig, die Rechtsbeziehungen, aufgrund derer die Drittschuldnerin aus den dort bezeichneten Gründen Geld- oder Sachleistungen für die Schuldnerin erhalten hat oder wird, näher zu konkretisieren, weil sich die ausreichend bestimmte Begrenzung daraus ergibt, dass solche Leistungen im Rahmen des Mandatsverhältnisses der Drittschuldnerin zur Schuldnerin erfolgen (vgl. oben c und d).
g) Ob die in Ziffer 16 genannten Ansprüche tatsächlich bestehen oder entstehen können, ist entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde unerheblich. Ob eine zu pfändende Forderung besteht, wird im Zwangsvollstreckungsverfahren nur in engem Maße überprüft. Eine Pfändung muss immer dann erfolgen, wenn dem Schuldner die Forderung nach irgendeiner vertretbaren Rechtsansicht zustehen kann. Der Pfändungsantrag darf nur ausnahmsweise abgelehnt werden, wenn dem Schuldner der Anspruch aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen offenbar nicht zustehen kann oder ersichtlich unpfändbar ist (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2007 - VII ZB 38/07, NJW-RR 2008, 733 m.w.N.). Dass dieses der Fall wäre, zeigt die Rechtsbeschwerde nicht auf.
h) Mit Recht rügt die Rechtsbeschwerde dagegen die Unbestimmtheit der in Ziffer 6 genannten angeblichen Ansprüche der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin. Es ist nicht verständlich, welche Ansprüche der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin, die über die in Ziffer 18 genannten Ansprüche hinausgehen, in den genannten Fällen zustehen sollten, in denen gerade kein Kostenerstattungsanspruch gegen den Prozessgegner der Schuldnerin geltend gemacht und durchgesetzt wird. Damit ist unklar, welche Ansprüche von der Pfändung umfasst sein sollen. Insoweit ist der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss daher aufzuheben und der hierauf gerichtete Antrag zurückzuweisen.
i) Auch die unter Ziffer 8 genannten Ansprüche sind nicht ausreichend bestimmt bezeichnet. Es ist bereits nicht verständlich, um welche Lebenssachverhalte es sich bei der "Vollstreckung von Transferleistungen" handeln soll. Zudem ist hier das Rechtsverhältnis zwischen der Schuldnerin und der Drittschuldnerin nicht bezeichnet, aus denen sich Ansprüche ergeben sollen, weil es im Gegensatz zur einleitenden Vorbemerkung und den übrigen Ziffern gerade um Vorgänge gehen soll, die über das vertragliche Anwaltsverhältnis hinausgehen. Auch insoweit ist der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss daher aufzuheben und der hierauf gerichtete Antrag zurückzuweisen.
3. Im Ergebnis zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde auch die Pfändung des in Ziffer 11 bezeichneten Herausgabeanspruchs betreffend zu Gunsten der Schuldnerin ergangener Kostenfestsetzungsbeschlüsse. Hierfür fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis des Gläubigers.
Bei Vollstreckungstiteln handelt es sich um Urkunden über die zugrunde liegenden Forderungen im Sinne des § 836 Abs. 3 ZPO (vgl. Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 836 Rdn. 13; Musielak/Becker, ZPO, 7. Aufl., § 836 Rdn. 7), hier also über die prozessualen Kostenerstattungsansprüche der Schuldnerin gegen ihre Prozessgegner. Sofern sich solche Titel im Besitz des Schuldners befinden, ermöglicht § 836 Abs. 3 Satz 3 ZPO dem Gläubiger die Zwangsvollstreckung in diese Urkunden. Befinden sie sich dagegen im Besitz eines nicht zur Herausgabe bereiten Dritten, so kann der Gläubiger den Schuldneranspruch auf Herausgabe gegen den Dritten durch Klage geltend machen, ohne dass er sich diesen Herausgabeanspruch noch überweisen zu lassen braucht (Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., § 836 Rdn. 17; MünchKommZPO/Smid, 3. Aufl., § 836 Rdn. 17; RGZ 21, 360, 364). Für beide Fälle ist (nur) Voraussetzung, dass die zugrunde liegende Forderung wirksam gepfändet und überwiesen worden ist (vgl. Zöller/Stöber, aaO, Rdn. 9).
Für eine isolierte Pfändung von Vollstreckungstiteln beim Schuldner fehlt es damit an einem Rechtschutzbedürfnis (Musielak/Becker, ZPO, 7. Aufl., § 836 Rdn. 7; vgl. auch Zöller/Stöber, aaO, Rdn. 16). Gleiches gilt für eine Pfändung und Überweisung eines hierauf gerichteten Herausgabeanspruchs gegen einen Dritten. Der Gläubiger hat ein schützenswertes Interesse an den Vollstreckungstiteln nur, wenn er die zugrunde liegenden Forderungen gepfändet hat und sie ihm überwiesen worden sind. Ist das der Fall, reicht diese Pfändung und Überweisung aus, um die Titel wie oben beschrieben zu erlangen.
4. Aus den gleichen Erwägungen besteht auch kein Rechtsschutzbedürfnis für die unter Ziffer 7 erwähnte Pfändung des Anspruchs auf Stellung eines Kostenfestsetzungsantrags. Er kann für den Gläubiger nur Bedeutung erlangen, wenn er den prozessualen Kostenerstattungsanspruch der Schuldnerin gegen ihre Prozessgegner gepfändet hat. Dann aber kann er den Antrag auf Kostenfestsetzung selbst stellen (Stöber, Forderungspfändung, 14. Aufl., Rdn. 1732).
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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Halfmeier Leupertz
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061759
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BGH
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9. Zivilsenat
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20100415
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IX ZR 79/09
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Beschluss
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§ 31 BGB, § 276 BGB, § 278 BGB, § 831 BGB, § 246 StGB, § 266 StGB
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vorgehend OLG Hamm, 27. März 2009, Az: 25 U 58/07, Urteil vorgehend LG Arnsberg, 31. Mai 2007, Az: 4 O 28/07
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DEU
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Organhaftung: Schadensersatzanspruch einer juristischen Person wegen Nichtverhinderung von Veruntreuungen durch einen Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen
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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des 25. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 27. März 2009 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.
Der Streitwert wird auf 352.521,16 € festgesetzt.
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Die Beschwerde deckt keinen Zulassungsgrund auf.
I.
Ohne Erfolg wendet sich der Beklagte dagegen, wegen der Nichtverhinderung von Veruntreuungen zur Schadensersatzleistung in Höhe von 167.201,50 € verurteilt worden zu sein.
1. Vergeblich macht der Beklagte unter Berufung auf Art. 103 Abs. 1 GG geltend, der Vorwurf des Berufungsgerichts, bestimmte Buchungen nicht hinterfragt zu haben, gehe ins Leere, weil es sich insoweit um ordnungsgemäße Buchungen gehandelt habe.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Zeugin M. das Buchungskonto durchlaufende Positionen (Nr. 1590) für ihre Unterschlagungen zwischengeschaltet. Gegen diese tatbestandliche Feststellung hat der Beklagten einen Tatbestandsberichtigungsantrag (§ 320 ZPO) nicht geltend gemacht. Mithin ist für das Revisionsverfahren von der Richtigkeit dieser Feststellung auszugehen (vgl. BGH, Urt. v. 5. Februar 2009 - IX ZR 78/07, WM 2009, 662, 663 Rn. 13). Wurde das Konto durchlaufende Positionen im Zuge der Unterschlagungen verwendet, so bewegt sich die Annahme, dass die dort ersichtliche Verbuchung eines ungewöhnlich hohen Betrages Anlass für Nachforschungen geben konnte, innerhalb des revisionsrechtlich nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraumes des Tatgerichts. Im Übrigen hat das Berufungsgericht nicht in der Stornierung eines Betrages von 1.941.512,41 €, sondern in der Erfassung des Stornovorganges über das Konto durchlaufende Positionen eine Nachforschungen aufdrängende Auffälligkeit erblickt. Über diese buchungsmäßigen Besonderheiten und die sich daraus ergebende Veranlassung einer umfassenden Kontrolle der gesamten Buchführung hat der Mitarbeiter D. ausweislich des Beklagtenvorbringens die Klägerin nicht unterrichtet.
2. Soweit die Nichtzulassungsbeschwerde meint, durch das Versäumnis des Beklagten sei der Schaden nicht kausal hervorgerufen worden und das vorsätzliche Handeln der Zeugin M. schließe eine Einstandspflicht des Beklagten aus, wird bereits ein Zulassungsgrund nicht ordnungsgemäß dargelegt (vgl. BGHZ 152, 182, 191).
Das Verschulden des Organs ist gemäß § 31 BGB als unmittelbar eigenes Verschulden der juristischen Person anzusehen. Darum führt ein Vorsatz des Organs des Geschädigten zum Ausschluss von Schadensersatzansprüchen gegen nur fahrlässig handelnde Dritte. Hat der Rechtsträger hingegen - wie im Streitfall- für vorsätzliches Handeln lediglich eines Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen einzustehen, wird im Falle eines fahrlässigen Handelns des Anspruchsgegners der Schaden lediglich gemindert (BGH, Urt. v. 6. Dezember 1983 - VI ZR 60/82, NJW 1984, 921, 922; Urt. v. 8. Oktober 1991 - XI ZR 207/90, NJW 1991, 3208, 3210).
3. Soweit der Beklagte wegen der Abtretung der Klägerin gegen ihren Geschäftsführer zustehender Schadensersatzansprüche ein Zurückbehaltungsrecht geltend macht, fehlt es an einem substantiierten Sachvortrag, dass die haftungsbegründenden Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 43 GmbHG erfüllt sind.
II.
Ein Zulassungsgrund greift auch nicht ein, soweit sich der Beklagte dagegen wendet, wegen der Hinnahme von gegen die Klägerin ergangenen Schätzungsbescheiden des Finanzamts zur Schadensersatzleistung in Höhe von 185.319,66 € verurteilt worden zu sein.
1. Das Berufungsgericht ist ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Feststellung gelangt, dass der Beklagte die Möglichkeit, die Buchführung aus der Warenwirtschaft zu rekonstruieren, nicht substantiiert bestritten hat. Überdies ist die Nichtzulassungsbeschwerde der weiteren - tragenden- Erwägung des Berufungsgerichts nicht entgegengetreten, dass die von der Klägerin eingeschaltete Steuerberatungsgesellschaft nachträglich zu einer Wiederherstellung der Buchführung aus der Warenwirtschaft tatsächlich in der Lage war und Entsprechendes auch für den Beklagten gilt.
2. Soweit der Beklagte die als grundsätzlich eingestufte Rechtsfrage unterbreitet, welche Anforderungen an die Konkretisierung der Hinweispflicht des Steuerberaters vor Einspruch gegen Schätzungsbescheide nach Beanstandung der Buchhaltung im Rahmen einer Betriebsprüfung zu stellen sind, fehlt es bereits an einer ordnungsgemäßen Darlegung des Zulassungsgrundes (BGHZ 152, 182, 191). Die Würdigung des Berufungsgerichts, dass der Beklagte pflichtwidrig gehandelt hat, bildet ohnehin eine nicht verallgemeinerungsfähige Einzelfallentscheidung.
Ganter Gehrlein Vill
Lohmann Fischer
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JURE100061760
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BGH
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5. Zivilsenat
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20100325
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V ZR 159/09
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Beschluss
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§ 5 WoEigG, § 15 WoEigG, § 21 WoEigG
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vorgehend LG Karlsruhe, 21. Juli 2009, Az: 11 S 9/09, Urteil vorgehend AG Heidelberg, 5. Dezember 2008, Az: 46 C 77/08
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DEU
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Wohnungseigentum: Verwirkung eines Anspruchs auf Unterlassung einer der Teilungserklärung widersprechenden Nutzung
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Die Revision gegen das Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Karlsruhe vom 21. Juli 2009 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Der Streitwert des Revisionsverfahrens wird auf 20.000 € festgesetzt.
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I.
1. Der von der Klägerin – ohne Bezugnahme auf ein Vorbringen in den Tatsacheninstanzen – ergänzend hervorgehobene Umstand, dass sie bei dem Erwerb ihres Wohnungseigentums davon ausgegangen sei, die Teileigentumseinheit des Beklagten zu 1 dürfe nicht zum Betrieb einer Gaststätte genutzt werden, ist rechtlich unerheblich.
Die praktizierte Nutzung widerspricht der Teilungserklärung. Der hieraus grundsätzlich folgende Unterlassungsanspruch ist gegenüber den Beklagten jedoch nicht durchsetzbar, weil die Wohnungseigentümer einen solchen Anspruch seit Jahrzehnten nicht erhoben, sondern im Gegenteil zu erkennen gegeben haben, dass sie mit der Nutzung der Teileigentumseinheit Nr. 132 als Gaststätte einverstanden sind, und die Beklagten sich hierauf eingerichtet haben. Das schließt die von der Klägerin erhobenen Ansprüche als verwirkt aus. Die Verwirkung ist Rechtsfolge tatsächlichen Verhaltens und tatsächlicher Umstände, die einer Eintragung in das Grundbuch nicht zugänglich sind.
2. Der Beschluss der Wohnungseigentümer, den Gaststättenbetrieb durch unentgeltliche Überlassung einer Teilfläche des Gemeinschaftseigentums zu fördern, mag ordnungsmäßiger Verwaltung widersprochen haben und daher anfechtbar gewesen sein. Das berührt seine Wirksamkeit nicht. Eine Anfechtung ist nicht erfolgt.
3. Im Übrigen wird auf das Schreiben des Senatsvorsitzenden vom 5. Februar 2010 verwiesen.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Krüger Klein Lemke
Schmidt-Ränsch Roth
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061764
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BGH
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8. Zivilsenat
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20100427
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VIII ZR 283/09
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Beschluss
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§ 721 Abs 1 ZPO, § 721 Abs 2 ZPO
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vorgehend LG Berlin, 7. September 2009, Az: 67 S 89/08 vorgehend AG Köpenick, 14. Februar 2008, Az: 12 C 353/07
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DEU
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Räumungsfrist für Wohnraum: Fristgewährung im Revisionsverfahren
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Der Antrag des Beschwerdeführers, ihm gemäß § 721 ZPO eine Räumungsfrist zu gewähren, wird als unzulässig verworfen.
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I.
Der Antragsteller ist vom Berufungsgericht zur Räumung eines Grundstücks in B. nebst Gebäuden und Anlagen verurteilt worden. Eine von ihm beantragte Räumungsfrist ist ihm vom Berufungsgericht nicht gewährt worden. Gegen das Berufungsurteil hat der Antragsteller Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
Mit Schriftsatz vom 16. April 2010 begehrt der Antragsteller die Gewährung einer Räumungsfrist gemäß § 721 ZPO bis zum Abschluss des Nichtzulassungsbeschwerde- bzw. Revisionsverfahrens. Zur Begründung wird auf die Nichtzulassungsbeschwerdebegründung Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Gewährung einer Räumungsfrist nach § 721 Abs. 1 ZPO ist unzulässig.
Wie sich aus § 721 Abs. 1 ZPO ergibt, kann von dem zuständigen Prozessgericht eine Räumungsfrist nur in dem Urteil, in dem auf Räumung erkannt wird, gewährt werden. Zwar kann eine Räumungsfrist auch noch im Revisionsurteil ausgesprochen werden (BGH, Urteil vom 13. März 1963 - V ZR 224/60; MünchKommZPO/Krüger, 5. Aufl., § 721 Rdnr. 2; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 721 Rdnr. 21; jeweils m.w.N.). Eine vom Urteil isolierte Gewährung einer Räumungsfrist sieht das Gesetz - von dem hier nicht vorliegenden Fall einer auf zukünftige Räumung erkennenden Entscheidung (§ 721 Abs. 2 ZPO) abgesehen - hingegen nicht vor.
Ball Dr. Hessel Dr. Achilles
Dr. Fetzer Dr. Bünger
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061765
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BGH
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8. Zivilsenat
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20100119
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VIII ZR 83/09
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Beschluss
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§ 242 BGB, § 556 BGB, § 543 ZPO, § 552a ZPO
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vorgehend LG Köln, 5. März 2009, Az: 1 S 79/07, Beschluss vorgehend AG Köln, 13. Februar 2007, Az: 221 C 277/06 nachgehend BGH, 13. April 2010, Az: VIII ZR 83/09, Revision zurückgewiesen
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DEU
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Wohnraummiete: Zumutbarkeit der Einsichtnahme in die Belege der Betriebskostenabrechnung
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Der Senat beabsichtigt, die Revision des Beklagten durch Beschluss gemäß § 552a ZPO zurückzuweisen.
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1. Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 552a Satz 1, § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat die Revision wegen der von ihm als grundsätzlich angesehenen Frage zugelassen, unter welchen Voraussetzungen dem Mieter eine Einsichtnahme in die Belege der Betriebskostenabrechnung nicht zugemutet werden könne. Diese Erwägung trägt indessen weder den vom Berufungsgericht genannten Zulassungsgrund noch liegt einer der weiteren im Gesetz genannten Zulassungsgründe vor. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich.
Nach der Rechtsprechung des Senats steht dem Mieter einer nicht preisgebundenen Wohnung ein Anspruch auf Übersendung von Belegkopien zur Betriebskostenabrechnung grundsätzlich nicht zu, weil er die Belege beim Vermieter oder Wohnungsverwalter einsehen kann. Nur wenn ihm dies im Einzelfall nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht zumutbar ist, kommt ein Anspruch des Mieters auf Übersendungen von Fotokopien der Rechnungsbelege in Betracht (Senatsurteile vom 8. März 2006 - VIII ZR 78/05, NJW 2006, 1419, Tz. 24 f., sowie vom 13. September 2006 - VIII ZR 71/06, NZM 2006, 926, Tz. 7). Die Frage, ob ein solcher Ausnahmefall gegeben ist, entzieht sich allgemeiner Betrachtung und ist vom Tatrichter unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.
2. Die Revision hat auch keine Aussicht auf Erfolg. Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass der Klägerin ein Anspruch auf Rückzahlung der Kaution zusteht, die sie im Rahmen des inzwischen seit mehreren Jahren beendeten Mietverhältnisses erbracht hatte.
Die vom Beklagten erklärte Aufrechnung mit Nachforderungen aus den Betriebskostenabrechnungen für die Abrechnungsjahre 2003 und 2004 greift nicht durch (§ 390 BGB), weil die Gegenforderungen des Beklagten einredebehaftet sind. Wie das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei angenommen hat, steht der Klägerin aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) ein Anspruch auf Übersendung von Kopien der Rechnungsbelege für die Abrechnungsjahre 2003 und 2004 zu, den sie dem Nachforderungsanspruch des Beklagten aus den Betriebskostenabrechnungen für diese Zeiträume einredeweise entgegenhalten kann.
Die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts, dass der Klägerin wegen ihres Umzugs nach M. und ihres studienbedingten Aufenthaltes in Portugal eine Einsichtnahme in die Belege in K. nicht zumutbar ist, weist keinen Rechtsfehler auf. Mit ihrem Vorbringen, die Klägerin hätte durch Dritte kostenlos Belegeinsicht nehmen können, setzt sich die Revision in Widerspruch zu der Feststellung des Berufungsgerichts, dass eine Einsichtnahme durch Dritte für die Klägerin nicht durchführbar war; übergangenen Tatsachenvortrag zeigt sie nicht auf.
Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses.
Ball Dr. Milger Dr. Achilles
Dr. Schneider Dr. Fetzer
Hinweis:
Das Revisionsverfahren ist durch Zurückweisungsbeschluss erledigt worden.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061960
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BVerwG
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4. Senat
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20100329
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4 BN 65/09
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Beschluss
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§ 132 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO
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vorgehend Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 30. Juli 2009, Az: 2 K 93/08, Urteil
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DEU
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Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde
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Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 30. Juli 2009 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 60 000 € festgesetzt.
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Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die rechtsgrundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst.
1.1 Die Beschwerde wirft als grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage auf, ob
ein Raumordnungsplan der Nutzung der Windenergie im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts …. in substantieller Weise Raum verschaffen (kann), wenn die darin für die Errichtung von Windenergieanlagen ausgewiesenen Konzentrationsflächen nach ihrer Anzahl und Energiemenge auch mit Blick auf den Bundesdurchschnitt geeignet sind, einen den energiepolitischen Zielsetzungen nicht offensichtlich widersprechenden Beitrag zur Erhöhung des Anteils regenerativer Energien an der Gesamtenergienutzung zu leisten (Beschwerdebegründung S. 2-5 Hervorhebung im Original).
Die Beschwerde ist der Auffassung, das Oberverwaltungsgericht habe durch das Abstellen auf den Bundesdurchschnitt erstmalig einen allgemeinen Maßstab zugrunde gelegt. Die Grundsatzrüge bleibt ebenso wie die hilfsweise erhobene Divergenzrüge (Beschwerdebegründung S. 4, 12-15) ohne Erfolg.
Wie sich aus der von der Beschwerde zitierten Rechtsprechung des Senats ergibt, vermag die Darstellung einer Konzentrationszone die Rechtsfolge des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB nur auszulösen, wenn ihr ein schlüssiges Plankonzept zugrunde liegt, das sich auf den gesamten Außenbereich erstreckt (Urteile vom 17. Dezember 2002 - BVerwG 4 C 15.01 - BVerwGE 117, 287 <298>; vom 13. März 2003 - BVerwG 4 C 3.02 - Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 356 <in Buchholz insoweit nicht veröffentlicht> juris Rn. 20 sowie - BVerwG 4 C 4.02 - BVerwGE 118, 33 <37>; vom 21. Oktober 2004 - BVerwG 4 C 2.04 - BVerwGE 122, 109 <111> und vom 24. Januar 2008 - BVerwG 4 CN 2.07 - Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 376 Rn. 10 f.; Beschlüsse vom 12. Juli 2006 - BVerwG 4 B 49.06 - ZfBR 2006, 679 <680>; vom 23. Juli 2008 - BVerwG 4 B 20.08 - BauR 2008, 2009 <insoweit nicht veröffentlicht> juris Rn. 9 und vom 15. September 2009 - BVerwG 4 BN 25.09 - ZfBR 2010, 65 <66>). Der Träger der Raumordnungsplanung darf das Instrumentarium, das ihm das Raumordnungsrecht an die Hand gibt, nicht für eine "Verhinderungsplanung" missbrauchen (Urteil vom 27. Januar 2005 - BVerwG 4 C 5.04 - BVerwGE 122, 364 <375>). Wo die Grenze zur Verhinderungsplanung verläuft, lässt sich nicht abstrakt bestimmen. Wann diese Grenze überschritten ist, kann erst nach einer Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse im jeweiligen Planungsraum beurteilt werden. Die Entscheidung, anhand welcher Kriterien sich beantworten lässt, ob eine Konzentrationsplanung nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB der Nutzung der Windenergie in substantieller Weise Raum verschafft, obliegt grundsätzlich dem Tatsachengericht.
An diesen Grundsätzen hat sich das Oberverwaltungsgericht orientiert: Das Oberverwaltungsgericht hat in seinem zur Begründung in Bezug genommenen Urteil vom 14. Mai 2009 - 2 L 255.06 - zunächst darauf hingewiesen, dass die Frage, wann ein Raumordnungsplan der Nutzung der Windenergie in substantieller Weise Raum verschaffe, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der Obergerichte bislang nicht abschließend geklärt sei. Insbesondere lasse sich "daraus" kein positiver Wert hinsichtlich eines bestimmten Anteils der Gesamtfläche des jeweiligen Planungsgebietes, der Errichtung einer bestimmten Anzahl von Windkraftanlagen und/oder der Erzielung einer bestimmten Gesamtnennleistung entnehmen. "Stattdessen" sei eine Gesamtbetrachtung angemessen, wonach der Nutzung der Windenergie in substantieller Weise Raum verschafft sei, wenn die ausgewiesenen Konzentrationsflächen nach ihrer Zahl und Größe einen beachtlichen Teil der potentiell für die Windkraftnutzung in Betracht kommenden Fläche ausmachten und mit hinreichender Sicherheit zur Errichtung von Windkraftanlagen führten, die nach ihrer Anzahl und Energiemenge auch mit Blick auf den Bundesdurchschnitt geeignet seien, einen gewichtigen und den allgemein anerkannten energiepolitischen Zielsetzungen nicht offensichtlich widersprechenden Beitrag zur Erhöhung des Anteils regenerativer Energien an der Gesamtenergieerzeugung zu leisten.
Entgegen der Auffassung der Beschwerde hat das Oberverwaltungsgericht damit nicht eine Typisierung bzw. Abstraktion des Begriffs vorgenommen und eine von dem jeweiligen Einzelfall losgelöste Antwort auf die Frage gegeben, wann eine Konzentrationsplanung nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB der Nutzung der Windenergie in substantieller Weise Raum verschafft. Insbesondere hat das Oberverwaltungsgericht nicht auf ein verbindliches, abstrakt bestimmtes "Mindestmaß" abgestellt. Es hat die Frage vielmehr aufgrund einer Gesamtbetrachtung geprüft. Dass das Oberverwaltungsgericht sich dabei einer Reihe von Hilfskriterien bedient und unter anderem hinsichtlich der Energiemenge "auch" auf den Bundesdurchschnitt abgestellt hat, bedeutet nicht, dass es seiner Würdigung allgemeingültige Größenordnungen zugrunde gelegt hat. Größenangaben sind, isoliert betrachtet, als Kriterium ungeeignet (Beschluss vom 12. Juli 2006 a.a.O.). Aus der Feststellung, eine Gesamtleistung von ca. 850 Megawatt stelle auch mit Blick auf den Landes- und Bundesdurchschnitt einen mehr als beachtlichen Beitrag an der Windenergieerzeugung dar (juris Rn. 48 des in Bezug genommenen Urteils vom 14. Mai 2009), lässt sich nicht - gleichsam im Umkehrschluss - der Rechtssatz ableiten, es gebe ein Mindestmaß an Energieleistung, das grundsätzlich nicht unterschritten werden dürfe. Das Oberverwaltungsgericht hat vielmehr an Hand der von ihm herangezogenen Kriterien (Zahl und Größe der Fläche, Anzahl und Energiemenge der Windenergieanlagen) in einer Gesamtschau Relationen gebildet, deren Aussagekraft auf einer Würdigung der konkreten örtlichen Gegebenheiten im Planungsraum beruhen.
1.2 Die auf den Gesichtspunkt des Repowering zielende Frage, ob bei der Abwägung mit besonderem Gewicht einzustellen und zu begründen ist, dass bereits genehmigte und errichtete Windenergieanlagen infolge der Planung aus den Konzentrationszonen herausfallen und den Grundstückseigentümern bzw. Betreibern damit die Möglichkeit genommen wird, ältere Anlagen zu ersetzen und gegebenenfalls auch neu anzuordnen (Beschwerdebegründung S. 5-8), rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Revision.
In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass vorhandene Windenergieanlagen als Tatsachenmaterial bei der Abwägung zu berücksichtigen sind (Beschluss vom 23. Juli 2008 a.a.O. juris Rn. 7). Werden Grundstücke mit vorhandenen Windenergieanlagen beim Zuschnitt der Konzentrationsflächen nicht berücksichtigt, sind die Betreiber auf den Bestandsschutz für ihre Anlagen beschränkt. Der Planungsträger hat daher das Interesse der Betreiber, ältere Anlagen durch effizientere neue Anlagen zu ersetzen und diese dabei gegebenenfalls auch neu anzuordnen (Repowering), in der Abwägung zu berücksichtigen (Urteil vom 24. Januar 2008 a.a.O. Rn. 17). Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten eines Grundstücks muss vom Planungsträger als ein wichtiger Belang privater Eigentümerinteressen in der Abwägung der öffentlichen und der privaten Belange beachtet werden (vgl. auch zur gemeindlichen Bauleitplanung Urteil vom 31. August 2000 - BVerwG 4 CN 6.99 - BVerwGE 112, 41 <49>; Beschlüsse vom 26. August 2009 - BVerwG 4 BN 35.09 - BauR 2010, 54 und vom 16. Januar 1996 - BVerwG 4 NB 1.96 - Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 88 S. 38). Bei der Bewertung der privaten und der öffentlichen Belange und der Frage, welchem Belang der Vorzug zu geben ist, ist dem Planungsträger aber ein weiter planerischer Gestaltungsspielraum eingeräumt. Insbesondere ist er nicht dazu verpflichtet, Standorte für die Windenergienutzung dort festzulegen, wo Windkraftanlagen bereits vorhanden sind. Der Gesetzgeber sieht es als berechtigtes öffentliches Anliegen an, die Windenergienutzung zu kanalisieren und Fehlentwicklungen gegenzusteuern. Dieses Ziel ließe sich nicht erreichen, wenn sich die Flächenauswahl nach den Standorten vorhandener Windkraftanlagen zu richten hätte (Urteil vom 27. Januar 2005 a.a.O.). Die Abwägung kann, muss aber nicht von dem planerischen Willen geleitet sein, bereits vorhandene Windenergieanlagen einen gewissen Vorrang dergestalt einzuräumen, dass diese Flächen wegen ihres Repowering-Potentials nach Möglichkeit erneut als Konzentrationsflächen ausgewiesen werden. Ein - wie die Beschwerde es formuliert - "gesteigertes" Abwägungs- und Begründungserfordernis löst das Repowering-Potential vorhandener Windenergieanlagen nicht aus. Entscheidend ist, dass der Planungsträger die Interessen der Betreiber vorhandener Windenergieanlagen erkennt und angemessen gewichtet. Das hat das Oberverwaltungsgericht bejaht und ausgeführt, die Antragsgegnerin habe die zum Zeitpunkt der Planung vorhandenen Windenergieanlagen erfasst und berücksichtigt und unter Berücksichtigung des vorhandenen Bestandes einen großen Teil der nunmehrigen Konzentrationsflächen gerade im Bereich vorhandener Windparks ausgewiesen (UA S. 13). Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall von den von der Beschwerde in Bezug genommenen Fällen, über die das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (Urteil vom 22. Januar 2009 - 12 KN 29/07 - NVwZ-RR 2009, 546 <insoweit nicht veröffentlicht> juris Rn. 49) und der Verwaltungsgerichtshof Kassel (Urteil vom 17. Juni 2009 - 6 A 630/08 - NuR 2009, 556 <insoweit nicht veröffentlicht> juris Rn. 60) zu entscheiden hatten. Denn in den dortigen Verfahren waren die Interessen der im Plangebiet bereits vertretenen Windkraftbetreiber vernachlässigt worden bzw. hatte das Interesse an der Beibehaltung des früheren Rechtszustands für die Entscheidung erkennbar keine Rolle gespielt.
1.3 Die sinngemäße Frage, ob in die Abwägung mit besonderem Gewicht einzustellen ist, dass die Planung im Hinblick auf ausgewiesene Sondergebiete angesichts der Anpassungspflicht gemäß § 1 Abs. 4 BauGB nach deren Aufhebung zu Entschädigungsansprüchen gegenüber den Gemeinden in entsprechender Anwendung des § 39 Satz 1 BauGB führen kann (Beschwerdebegründung S. 8-12), beruht ebenfalls auf der unzutreffenden Annahme einer - hier aus Art. 28 Abs. 2 GG - rechtlich gebotenen "besonderen Gewichtungsvorgabe". Artikel 28 Abs. 2 GG schützt nicht vor raumordnungsrechtlicher Überplanung. Auf die Ausführungen unter 1.2 kann verwiesen werden. Auch hier gilt, dass der Planungsträger lediglich die Belange der gegebenenfalls anpassungspflichtigen Gemeinden erkennen und gewichten muss. Dazu hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, die Antragsgegnerin habe die von den betroffenen Gemeinden im Rahmen des Beteiligungsverfahrens vorgebrachten Anregungen und Bedenken im Rahmen ihrer Abwägung berücksichtigt (UA S. 14).
2. Die Verfahrensrüge, mit der die Beschwerde mangelnde Sachverhaltsaufklärung geltend macht (Beschwerdebegründung S. 15-17), führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. Die Antragstellerin rügt, trotz Ankündigung seitens des Oberverwaltungsgerichts in der mündlichen Verhandlung sei nicht aufgeklärt worden, ob der Antragsgegnerin die Anzahl der vorhandenen bei der Ausweisung nicht berücksichtigten Windenergieanlagen bekannt gewesen sei. Angesichts der gerichtlichen Ankündigung, dass "der Senat … diesen Punkt nunmehr aufklären" müsse, habe die Antragstellerin auf die Stellung eines entsprechenden Beweisantrags verzichtet; sie habe nach Kenntnis der unterbliebenen Aufklärung einen Antrag auf Tatbestandsberichtigung gestellt, über den bislang nicht entschieden worden sei.
Ein Verstoß gegen die Pflicht des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen wird mit diesem Vortrag nicht aufgezeigt. Das Oberverwaltungsgericht hat - wie sich aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ergibt (UA S. 4) - den Vortrag der Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 17. Juli 2009 zur Anzahl der genehmigten bzw. bestehenden Windenergieanlagen zur Kenntnis genommen. Es ist indes davon ausgegangen, dass die von der Antragstellerin vorgelegten (höheren) Zahlen darauf beruhten, dass das Planungsgebiet im Jahr 2008, also außerhalb des maßgeblichen Planungszeitraums, erheblich erweitert worden sei und seitdem eine Reihe weiterer, zuvor nicht vorhandener Windparks umfasse. Die Antragsgegnerin habe anhand der vorgelegten Verwaltungsvorgänge nachgewiesen, dass sie die zum Zeitpunkt der Planung vorhandenen Windenergieanlagen erfasst und berücksichtigt habe (UA S. 13). Das Oberverwaltungsgericht geht damit davon aus, dass die Antragsgegnerin die - wie die Beschwerde es formuliert - "Feststellungslast" trifft, dass sie aber "anhand der vorgelegten Verwaltungsvorgänge" die von der Antragstellerin geltend gemachten Widersprüche ausgeräumt habe. Die "angekündigte" Aufklärung seitens des Gerichts ist damit nicht - wie die Beschwerde geltend macht - "überraschender Weise" unterblieben. Denn die Feststellung, dass die Antragsgegnerin die zum Zeitpunkt der Planung vorhandenen Windenergieanlagen erfasst und berücksichtigt habe, beruht ersichtlich darauf, dass das Oberverwaltungsgericht seinerseits die Angaben der Antragsgegnerin anhand der Verwaltungsvorgänge und im Lichte der Einwände der Antragstellerin überprüft und den geltend gemachten Widerspruch als ausgeräumt erachtet hat. Soweit die Antragstellerin zumindest sinngemäß auch eine unzulässige Überraschungsentscheidung rügen wollte, wäre auch damit kein Verfahrensfehler aufgezeigt. Dass die Frage streitig war, ist in der mündlichen Verhandlung erörtertet worden. Welche Folgerungen das Gericht aus den ihm gegenüber abgegebenen Erklärungen und/oder den ihm vorgelegten Unterlagen ziehen will oder möglicherweise ziehen könnte, beruht auf einer Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens. Die Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens ist indes einer Voraberörterung mit den Beteiligten entzogen; sie ist der Schlussberatung vorbehalten (Beschluss vom 6. Juli 2001 - BVerwG 4 B 50.01 - juris Rn. 12). Auf eben diese Schlussberatung zielt erkennbar der von der Beschwerde angeführte gerichtliche Hinweis, dass "der Senat … diesen Punkt nunmehr aufklären" müsse. Vor diesem Hintergrund führt auch der Vorwurf der Antragstellerin, sie sei an der Stellung eines Beweisantrags gehindert gewesen, nicht weiter. Die Antragstellerin greift mit der Beschwerde - wie auch mit ihrem Antrag auf Tatbestandsberichtigung - letztlich nur die tatrichterliche Würdigung an, weil sie der Meinung ist, sie habe substantiiert nachgewiesen, dass der zum Zeitpunkt der Planung vorhandene Bestand nicht erfasst und berücksichtigt worden sei, hält dem Oberverwaltungsgericht also vor, ihre Ausführungen nicht so gewürdigt zu haben, wie sie es für geboten hält. Sie zeigt jedoch nicht auf, dass sich dem Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage der Verwaltungsvorgänge eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen. Etwaige Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen und können deswegen einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht begründen. Eine Fallgestaltung, die eine abweichende Beurteilung zulassen würde, wird von der Beschwerde nicht dargelegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061966
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BGH
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2. Strafsenat
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20100414
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2 StR 137/10
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Beschluss
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§ 403 StPO
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vorgehend LG Frankfurt, 24. September 2009, Az: 5/21 Ks 3290 Js 260564/08 Kap (08/09), Urteil
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DEU
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Adhäsionsverfahren: Erbscheinsvorlage durch Erben des Getöteten
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 24. September 2009
a) im Adhäsionsausspruch insoweit aufgehoben, als der Angeklagte verurteilt worden ist, an die Nebenkläger E., M., A. und Al. M. als Gesamtgläubiger ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000 Euro zu bezahlen; insoweit wird von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag abgesehen;
b) das Verfahren hinsichtlich der unter LDÜ-Nr. ... asservierten Messer und Messergriffe gemäß § 430 Abs. 1 StPO eingestellt; die Anordnung der Einziehung entfällt.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
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1. Der Schuldspruch ist rechtsfehlerfrei. Die Verfahrensrüge ist aus den vom Generalbundesanwalt dargelegten Gründen unbegründet. Die Zurückweisung des Entpflichtungsantrags durch das Landgericht war nicht ermessensfehlerhaft, da ernsthafte Anhaltspunkte für eine nachhaltige und nicht zu beseitigende Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zu dem (wunschgemäß) bestellten Pflichtverteidiger nicht gegeben waren.
2. Auch der Strafausspruch sowie die Anordnung der Maßregel gemäß § 63 StGB weisen keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. Soweit das Landgericht zunächst ausgeführt hat, bei der Tat sei "die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten … gemäß § 21 StGB gemindert" gewesen (UA S. 16), wäre dies zwar nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fehlerhaft (vgl. BGHSt 40, 341, 349; 49, 347, 349; BGH NStZ 2006, 682 f.; BGH NStZ-RR 2008, 106; 2009, 170; Fischer StGB 57. Aufl. § 21 Rdn. 3 m.w.N.); insoweit handelt es sich aber, wie sich aus den weiteren Ausführungen der Urteilsgründe ergibt, unzweifelhaft um ein Formulierungsversehen des Tatrichters, dessen Beweiswürdigung und Feststellungen sich ausdrücklich auf die (erhebliche) Verminderung der Steuerungsfähigkeit beziehen (UA S. 17).
Die Feststellungen zum Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB sind im Ergebnis dahin zu verstehen, dass das Landgericht im Anschluss an den Sachverständigen eine auf einem hirnorganischen Psychosyndrom beruhende schwere Persönlichkeitsstörung angenommen hat, die zu einer verzerrten Realitätswahrnehmung und in der konkreten Tatsituation zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit geführt habe. Hiergegen bestehen ebenso wenig rechtliche Bedenken wie gegen die Annahme der prognostischen Voraussetzungen des § 63 StGB, die nicht allein auf für sich genommen wenig aussagekräftige statistische Aussagen ("Obergrenze des mittleren Risikobereichs") gestützt ist, sondern auf eine hinreichende Konkretisierung für die Person des Angeklagten (UA S. 19 f.).
3. Die Einziehungsanordnung hat keinen Bestand. In den Urteilsgründen ist nicht erwähnt, welche Rolle die "asservierten Messer und Messergriffe" gespielt haben könnten. Insoweit hat der Senat das Verfahren gemäß § 430 Abs. 1 StPO eingestellt.
4. Zutreffend hat der Generalbundesanwalt darauf hingewiesen, dass die Adhäsionsentscheidung, soweit sie vier Erben der Getöteten als Gesamtgläubigern einen Schmerzensgeldanspruch zuerkannt hat, rechtsfehlerhaft ist. Ein Erbschein ist nicht vorgelegt worden; ersichtlich ist der Angeklagte selbst auch (bisher) nicht für erbunwürdig erklärt worden und aus der Erbengemeinschaft ausgeschieden.
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Schmitt
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061969
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BGH
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3. Strafsenat
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20100415
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3 StR 89/10
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Beschluss
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§ 25 Abs 2 StGB, § 46 Abs 3 StGB, § 29 Abs 1 S 1 Nr 1 BtMG, § 30a Abs 1 BtMG
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vorgehend LG Hannover, 27. November 2009, Az: 96 KLs 22/09 - 6231 Js 38399/09, Urteil
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DEU
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Bandenhandel mit Betäubungsmitteln: Strafzumessung und Doppelverwertungsverbot
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Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 27. November 2009 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
Das Landgericht hat sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der konkreten Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass sich dieser mit den anderen Bandenmitgliedern nicht aus persönlichen Gründen, sondern "nur zur Erlangung des wirtschaftlichen Ziels des Verkaufs von Drogen" zusammengeschlossen habe. Diese Erwägung verstößt gegen § 46 Abs. 3 StGB; denn mit dem Straftatbestand des Bandenhandels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ist eine solche Intention wegen der für das Handeltreiben vorausgesetzten Eigennützigkeit jedenfalls bei täterschaftlicher Begehungsweise notwendig verknüpft. Soweit sich das Landgericht in diesem Punkt auf das Urteil des Senats vom 18. Juni 2009 (NStZ-RR 2009, 320, 321) stützt, hat es die dortigen Ausführungen missverstanden. Denn in jener Entscheidung hat der Senat die strafmildernde Erwägung gebilligt, dass die Bande sich primär aus persönlicher Verbundenheit zusammengeschlossen habe und daher nicht dem Bild der üblichen Bandenkriminalität entspreche.
Auf dem aufgezeigten Rechtsfehler beruht das Urteil indes nicht. Der Senat kann im Hinblick auf die sonstigen Zumessungserwägungen des Landgerichts und die nur drei Monate über dem gesetzlichen Mindestmaß festgesetzte Freiheitsstrafe (die Annahme eines minder schweren Falls kam nach den Umständen, insbesondere auch wegen der gehandelten Betäubungsmittelmenge, ersichtlich nicht in Betracht) ausschließen, dass das Landgericht ohne die rechtsfehlerhafte Überlegung auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte.
Becker Pfister von Lienen
Schäfer Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061973
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BGH
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1. Strafsenat
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20100413
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1 StR 648/09
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Urteil
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§ 261 StPO, § 27 StGB, § 263 StGB, § 267 StGB
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vorgehend LG München I, 8. Mai 2009, Az: 8 KLs 237 Js 219134/07 - Ss 610/09, Urteil
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DEU
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Strafverfahren wegen Betruges: Revisionsgerichtliche Nachprüfung eines Freispruchs
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Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 8. Mai 2009 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Von Rechts wegen
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I.
In der vom Landgericht zugelassenen Anklage legt die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten, einem Rechtsanwalt, Betrug in neun sachlich zusammentreffenden Fällen sowie Beihilfe zur gewerbsmäßigen Untreue in zwei sachlich zusammentreffenden Fällen zur Last. Die Strafkammer hat den Angeklagten "aus tatsächlichen Gründen" freigesprochen. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Revision, die sie mit der Sachrüge begründet. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg.
II.
Die sich allein gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts wendende Revision der Staatsanwaltschaft vermag keine durchgreifenden Rechtsfehler aufzuzeigen.
1. Dem Angeklagten war vorgeworfen worden, er sei als Firmenanwalt zweier von dem getrennt strafverfolgten E. kontrollierter Firmen, der Firmen I. und C., daran beteiligt gewesen, diese Firmen "platt zu machen" und zuvor für diese Firmen in großem Umfang Bauteile, insbesondere Mobilfunkgeräte und -zubehör, beschafft zu haben. Wie dabei bereits geplant, seien diese Waren später weiterverkauft worden, ohne die jeweiligen Kaufpreise an die Lieferanten zu bezahlen. Dadurch seien den Lieferanten Schäden in Höhe von insgesamt 374.252,96 € entstanden. Weiterhin sei der Angeklagte konkret daran beteiligt gewesen, den Inhalt einer von insgesamt sechzehn mit diesen Waren beladenen Paletten in einem von ihm gemieteten Lagerraum in Köln zwischengelagert zu haben, bis die Waren dann in der Folge auf nicht näher festgestellte Weise verkauft wurden.
Das Landgericht hat nach seiner Beweisaufnahme festgestellt, dass der Angeklagte als Firmenanwalt an dem Verkauf der beiden Firmen beteiligt war, auch wenn er an dem notariellen Verkaufstermin nicht selbst teilnahm. Es vermochte sich allerdings nicht davon zu überzeugen, dass der Angeklagte zuvor gegenüber der ehemals Mitangeklagten F. geäußert haben soll, "es wäre gut, wenn noch eine bestimmte Stückzahl einer bestimmten Art Ware bestellt würde". Das Landgericht hat demgegenüber festgestellt, dass die ehemals Mitangeklagte F. an die Kanzlei des Angeklagten am 3. Juli 2007 aus einem Copyshop in Stuttgart eine Artikelliste mit verschiedenen Waren, deren Gesamtmenge, dem jeweiligen Einkaufspreis und dem sich jeweils ergebenden Gesamtpreis gefaxt worden war. Diese Liste, welche unter anderem Waren aus den noch kurzfristig erteilten, in der Folge aber nicht bezahlten Bestellungen enthielt, wurde bei der Durchsuchung der Kanzlei in dreifacher Ausfertigung gefunden, wobei auf einer der Listen zusätzlich handschriftliche Preise notiert waren, welche jeweils unter den auf der Liste verzeichneten Einkaufspreisen lagen. Schließlich stellte die Kammer fest, dass der Angeklagte am 30. Juni 2007 einen 4 m² großen Lagerraum bei der Firma S. in Köln angemietet hatte. Was in dem Lagerraum in der Folge gelagert war und wer diesen Lagerraum in diesem Zusammenhang betreten hatte, konnte die Kammer nur insoweit näher verifizieren, als der Angeklagte einräumte, er sei selbst einmal in dem Lagerraum gewesen, um diesen anzusehen.
2. Aus alledem vermochte die Kammer weder die Überzeugung zu gewinnen, dass der Angeklagte bei der betrügerischen Bestellung der Mobilfunkwaren noch an deren späteren Verkauf beteiligt war. Auch im Übrigen konnte ein strafbares Handeln durch ihn hinsichtlich des angeklagten Sachverhalts nicht festgestellt werden.
a) Nach ständiger Rechtsprechung ist die Beweiswürdigung grundsätzlich Sache des Tatrichters (BGH NStZ 1984, 180; NJW 2007, 92, 94). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders würdigt oder Zweifel an der Täterschaft eines Angeklagten überwunden hätte. Spricht das Tatgericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft selbst nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen (BGH NStZ 1984, 180; NJW 2007, 92, 94; BeckOK-StPO/Wiedner § 337 Rdn. 87 f.). Die revisionsgerichtliche Prüfung hat sich darauf zu beschränken, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind oder bei verschiedenen be- und entlastenden Indizien der Tatrichter diese zwar jeweils im Einzelnen gewürdigt, jedoch keine ausreichende Gesamtwürdigung vorgenommen hat; denn möglicherweise können mehrere Indiztatsachen in ihrer Gesamtheit dem Tatrichter die entsprechende Überzeugung vermitteln, selbst wenn diese jeweils für sich allein zum Nachweis der Täterschaft eines Angeklagten nicht ausreichen (st. Rspr., vgl. BGH NStZ 1983, 133 f.; NStZ-RR 2002, 371, 372).
Daran fehlt es vorliegend jedoch nicht. Das Landgericht hat sowohl die aufgefundenen Beweismittel, ebenso die verschiedenen Aussagen der Zeugen wie auch die Einlassung des Angeklagten zu den Tatvorwürfen jeweils im Einzelfall gewürdigt, jedoch auch in Anbetracht der Tatvorwürfe und des festgestellten Gesamtgeschehens die erforderliche Gesamtwürdigung ohne ersichtlichen Rechtsfehler vorgenommen. Dass, wie vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift und seinem mündlichen Revisionsvortrag dargelegt, durchaus auch eine andere Betrachtung nicht ausgeschlossen erscheint, ändert hieran nichts.
b) Allein aus dem Umstand, dass der Angeklagte Firmenanwalt beider Unternehmen des getrennt strafverfolgten E. und in diesem Zusammenhang auch in die späteren Verkäufe der Firmen involviert war, lässt sich, wie das Landgericht zutreffend dargestellt hat, keine strafrechtliche Verantwortung herleiten.
c) Hinsichtlich der Behauptung der ehemals Mitangeklagten F., im Zusammenhang mit den späteren Bestellungen habe ihr der Angeklagte Se."telefonisch gesagt, es wäre gut, wenn noch eine bestimmte Stückzahl einer bestimmten Art Ware bestellt würde", hat die Strafkammer zunächst festgestellt, dass der Angeklagte an der Bestellung selbst nicht mitgewirkt hat (UA S. 53). Der Tatrichter hat aber auch im Übrigen die diesbezügliche Aussage der Mitangeklagten über die telefonische Äußerung als nicht glaubhaft erachtet (UA S. 54). Dem liegt zugrunde, dass die ehemals Mitangeklagte auch in anderen Bereichen des Verfahrens nicht zutreffende Angaben gemacht hat, um den getrennt strafverfolgten E., mit dem sie früher liiert war, zu decken. Dass dem Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung, die Aussage der Mitangeklagten sei insoweit falsch, ein Rechtsfehler in dem oben dargestellten Sinne unterlaufen ist, kann der Senat nicht feststellen.
d) Ein sicherlich beachtliches Indiz ist der weitere Umstand, dass der Angeklagte in zeitlichem Zusammenhang mit dem Verschwinden der sechzehnten Palette einen Lagerraum in Köln angemietet hat, welcher groß genug war, um den Inhalt dieser einen Palette aufzunehmen. Allerdings vermochte das Landgericht die sicherlich fragwürdige Einlassung des Angeklagten, er habe den Lagerraum nicht für sich, sondern auf Bitte seines Schwagers Ce. angemietet, der eine hierfür erforderliche EC- oder Kreditkarte nicht besessen habe, nicht als widerlegt ansehen. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass die Mitangeklagte F. weiter angab, die von ihr am 29. Juni 2007 abgeholten Waren der sechzehnten Palette habe sie zu einer Raststätte an der Autobahn Frankfurt/Köln gebracht und dort an Ce., den Schwager des Angeklagten, übergeben. Nachdem Ce. von seinem Zeugnisverweigerungsrecht und Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat, ist die Überzeugungsbildung des Landgerichts auch insoweit revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, wonach der Angeklagte mit dem Absatz dieser Waren jedenfalls nicht in strafrechtlich verantwortlicher Weise in Verbindung gebracht werden kann, zumal weder festgestellt werden konnte, dass diese Waren sich überhaupt jemals in dem betreffenden Lagerraum befunden haben, noch sonst Verkaufsaktivitäten oder -hilfen des Angeklagten bekannt geworden sind.
3. Danach sind in dem vorliegenden Verfahren zwar durchaus Indizien vorhanden, welche eine wie auch immer geartete Beteiligung des Angeklagten an den verfahrensrelevanten Vorgängen nicht gänzlich ausschließen lassen; dennoch ist die von der Strafkammer vorgenommene Beweiswürdigung der einzelnen Indizien und die dann nochmals vorgenommene Gesamtwürdigung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden – auch wenn, insbesondere unter Berücksichtigung der Ausführungen des Generalbundesanwalts eine andere Überzeugungsbildung des Tatrichters vom Revisionsgericht wohl ebenfalls hinzunehmen gewesen wäre.
Nack Elf Graf
Jäger Sander
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061975
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BGH
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4. Strafsenat
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20100304
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4 StR 62/10
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Beschluss
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§ 22 StGB, § 23 StGB, § 306 StGB
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vorgehend LG Paderborn, 6. November 2009, Az: 1 KLs 45/09 - 331 Js 453/09, Urteil
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DEU
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Brandstiftung: Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 6. November 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter Brandstiftung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen zündete der Angeklagte - jeweils nach erheblichem Alkoholkonsum - am 3. und 17. Juni 2009 den Inhalt eines Mülleimers an, der nahe der gläsernen Schiebetür bzw. unmittelbar an der Gebäudewand eines Lebensmittelmarktes stand. Am 11. Juni 2009 zündete er einen direkt neben dem Eingang dieses Geschäfts stehenden, mit leeren Pappschachteln befüllten Karton an. In keinem der Fälle, die sich jeweils außerhalb der Geschäftszeiten ereigneten, kam es zu einem Übergreifen des Feuers auf das Gebäude; bei der Tat vom 11. Juni 2009 wurde allerdings infolge der Hitzeeinwirkung ein Fenster zerstört.
2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchter Brandstiftung in drei Fällen hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
Die Strafkammer begründet ihre Annahme, der Angeklagte habe in allen drei Fällen ein Übergreifen der Flammen auf das Gebäude billigend in Kauf genommen, allein damit, dass die in Brand gesetzten Behältnisse in unmittelbarer Nähe des Gebäudes standen. Sie meint, dass die Gefahr eines Übergreifens allgemeiner Lebenserfahrung entspräche und selbst einem unterdurchschnittlich begabten, erheblich alkoholisierten Menschen - wie dem Angeklagten - bewusst sei.
Diese Erwägungen genügen nicht den Anforderungen, die an die Begründung eines bedingten Brandstiftungsvorsatzes zu stellen sind. Ein solcher liegt nur dann vor, wenn der Täter den Eintritt des Erfolgs als möglich und nicht ganz fern liegend erkennt und damit in einer Weise einverstanden ist, dass er die Tatbestandsverwirklichung entweder billigend in Kauf nimmt oder sich wenigstens mit ihr abfindet (vgl. BGH, Beschl. vom 22. März 1994 - 4 StR 110/94 = BGHR StGB § 306 Beweiswürdigung 6). Um dies festzustellen, bedarf es einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände.
Den Urteilsausführungen ist nicht zu entnehmen, dass das Landgericht eine solche vorgenommen hat. Dies wird besonders deutlich bei dem Tatgeschehen vom 17. Juni 2009: Nur zwei Wochen zuvor hatte der Angeklagte die Erfahrung gemacht, dass ein in gleicher Weise gelegter Brand nicht auf das Gebäude übergegriffen hatte. Dennoch änderte er seine Vorgehensweise nicht, um diesmal den Taterfolg sicher zu stellen. Darüber hinaus belegen die Urteilsfeststellungen - entgegen der Ansicht des Landgerichts - weder in diesem noch in den beiden weiteren Fällen, dass objektiv überhaupt die Gefahr eines Übergreifens des Feuers auf das Gebäude bestanden hat, aus welcher Rückschlüsse auf die innere Tatseite gezogen werden könnten; einen Brandsachverständigen hat das Landgericht hierzu nicht gehört.
Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
3. Abschließend bemerkt der Senat, dass sich die Berechnung der Blutalkoholkonzentration im Fall 3 deswegen revisionsrechtlicher Überprüfung entzieht, weil das Urteil keine Angaben zur Tatzeit enthält.
Tepperwien Solin-Stojanović Ernemann
Franke Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061980
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BGH
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5. Strafsenat
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20100427
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5 StR 460/08
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Beschluss
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§ 238 Abs 2 StPO, § 247 S 2 StPO, § 338 Nr 5 StPO
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vorgehend LG Braunschweig, 15. April 2008, Az: 2 KLs 36/07, Urteil vorgehend BGH, 10. März 2009, Az: 5 StR 460/08, Beschluss vorgehend BGH, 22. April 2009, Az: 1 ARs 6/09, Beschluss vorgehend BGH, 22. April 2009, Az: 1 ARs 6/09, Beschluss vorgehend BGH, 17. Juni 2009, Az: 2 ARs 138/09, Beschluss vorgehend BGH, 7. Juli 2009, Az: 3 ARs 7/09, Beschluss vorgehend BGH, 25. August 2009, Az: 4 ARs 6/09, Beschluss vorgehend BGH, 11. November 2009, Az: 5 StR 460/08, Vorlagebeschluss vorgehend BGH, 21. April 2010, Az: GSSt 1/09, Beschluss
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DEU
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Zulässigkeit der Verfahrensrüge der fortdauernden Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen: Folgen der Nichtbeanstandung der Entlassungsentscheidung des Vorsitzenden
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 15. April 2008 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
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Das Landgericht hat gegen den Angeklagten – unter Freisprechung im Übrigen – wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verhängt und ihn unter Einbeziehung der (in den Urteilsgründen nicht mitgeteilten) Einzelstrafen aus einer rechtskräftigen Verurteilung (zu zwei Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe) zu einer neuen Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die gegen die Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten dringt mit einer Verfahrensrüge durch.
Die Verfahrensvoraussetzung eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses ist erfüllt; bei den unrichtigen Angaben zur eröffneten Anklage in der schriftlichen Fassung handelt es sich, wie die Anhörung der beteiligten Richter eindeutig erweist, um ein Fassungsversehen.
Der auf Verletzung des § 247 StPO gestützten Verfahrensrüge gemäß § 338 Nr. 5 StPO ist nach dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 21. April 2010 – GSSt 1/09 – aufgrund des Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 2 GVG in dieser Sache der Erfolg nicht zu versagen, soweit die Revision die fortdauernde Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung der gemäß § 247 Satz 2 StPO in seiner Abwesenheit zeugenschaftlich vernommenen Nebenklägerin beanstandet.
Die Rüge ist zulässig. Sie scheitert nicht an der mangelnden Beanstandung der in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten getroffenen Entlassungsentscheidung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO; eine solche Beanstandung ist in dieser Fallgestaltung, wie sich aus der Entscheidung des Großen Senats eindeutig ergibt, keine Rügevoraussetzung. Nach der Entscheidung des Großen Senats musste der Revisionsführer auch nicht etwa konkreten Sachvortrag zu einer Beeinträchtigung seines Fragerechts infolge der mit der Rüge beanstandeten Verfahrensweise erbringen. Im Übrigen hält der Senat das Sachvorbringen der Revision zu der Verfahrensrüge nach dem Protokoll für erwiesen.
Im Einklang mit bisheriger Rechtsprechung (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1, 14, 15; § 338 Nr. 5 Angeklagter 23; BGH NStZ 2007, 352) sieht der Große Senat in der Verhandlung über die Entlassung eines in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen keinen Teil der Vernehmung im Sinne von § 247 StPO. Demgemäß begründet die hierbei fortdauernde Abwesenheit des Angeklagten regelmäßig – so auch hier – den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO.
Die Entlassungsverhandlung war hier wesentlicher Teil der Hauptverhandlung; der Verfahrensfehler ist auch nicht geheilt worden. Der Angeklagte hat weder von sich aus im Rahmen seiner Unterrichtung über die Abwesenheitsvernehmung gemäß § 247 Satz 4 StPO noch etwa auf Befragen ausdrücklich erklärt, keine Fragen mehr an die Nebenklägerin stellen zu wollen.
Mithin ist die angefochtene Verurteilung aufzuheben. Angesichts anderweitiger rechtskräftiger Verurteilungen des Angeklagten könnte – namentlich zum Schutz der kindlichen Zeugin – im Benehmen mit Staatsanwaltschaft und Nebenklage eventuell bereits vor Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung eine Verfahrenserledigung nach § 154 Abs. 2 StPO erwogen werden.
Basdorf Brause Schaal
Schneider Bellay
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061984
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BGH
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4. Strafsenat
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20100325
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4 StR 522/09
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Urteil
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§ 25 Abs 2 StGB, § 27 StGB, § 224 Abs 1 Nr 4 StGB, § 244 Abs 2 StPO
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vorgehend LG Saarbrücken, 28. Mai 2009, Az: 3 KLs 6/09 - 21 Js 977/08, Urteil
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DEU
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Gefährliche Körperverletzung: Abgrenzung zwischen Mitteltäterschaft und Beihilfe; Aufklärungsrüge wegen Berücksichtigung eines unzutreffenden Bundeszentralregisterauszugs bei der Strafzumessung
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 28. Mai 2009 im gesamten Strafausspruch aufgehoben. Die Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zu den Vorstrafen des Angeklagten bleiben aufrecht erhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung und wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft die Verurteilung des Angeklagten wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung sowie den Strafausspruch; sie rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel führt auf die Verfahrensrüge zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs; im Übrigen ist es unbegründet.
I.
1. Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils weist keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf. Dies gilt auch, soweit das Landgericht den Angeklagten wegen der Beteiligung an den Misshandlungen des Geschädigten H. (lediglich) wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung verurteilt hat.
a) Nach den Feststellungen wollte der gesondert verfolgte S. G. den Zeugen M. A. für Misshandlungen, die dieser der Zeugin M. S. nach deren Schilderung in der Vergangenheit zugefügt hatte, zur Rede stellen und gegebenenfalls verprügeln. Zu diesem Zweck traf er sich mit fünf weiteren männlichen Personen, unter denen sich auch der Angeklagte sowie die Mitangeklagten P. M. und K. An. befanden. Alle fünf erklärten sich bereit, S. G. zur Wohnung des M. A. zu begleiten und bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Nachdem die sechs Personen unter Führung des Mitangeklagten P. M. die Wohnung des Zeugen A. gestürmt hatten, stürzte sich M. auf den ihm unbekannten, in der Wohnung ebenfalls anwesenden Geschädigten R. H. und schlug unter Verwendung eines mitgebrachten Nothammers massiv auf diesen ein. Der Geschädigte ging bereits nach dem ersten Schlag zu Boden und verlor das Bewusstsein. Gleichwohl fuhr M. mit seinen Schlägen fort und trat auf den weiterhin am Boden Liegenden auch mit seinen Springerstiefeln ein. Entweder der Angeklagte oder der Mitangeklagte An. schlug mit einem Holzstück ebenfalls auf den Geschädigten ein. Dieser erlitt lebensgefährliche Verletzungen und trug bleibende gesundheitliche Schäden davon.
b) Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen liegt in der unterbliebenen Verurteilung wegen einer mittäterschaftlich mit dem Mitangeklagten M. begangenen gefährlichen Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB im Ergebnis kein Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten.
aa) Mittäterschaft liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann vor, wenn ein Tatbeteiligter nicht bloß fremdes Tun fördern, sondern seinen Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils will. Bei Beteiligung mehrerer Personen, von denen nicht jede sämtliche Tatbestandsmerkmale verwirklicht, handelt mittäterschaftlich, wer seinen eigenen Tatbeitrag so in die gemeinschaftliche Tat einfügt, dass er als Teil der Handlung eines anderen Beteiligten und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung des eigenen Tatanteils erscheint (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 37, 289, 291 m.w.N.). Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können dabei der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein (BGH aaO). Dabei ist dem Tatrichter, vor allem in Grenzfällen, ein Beurteilungsspielraum eröffnet, der revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüft werden kann. Enthalten die Urteilsgründe eine hinreichende Darlegung aller maßgeblichen Gesichtspunkte, ist die tatrichterliche Wertung vom Revisionsgericht auch dann hinzunehmen, wenn im Einzelfall eine andere Beurteilung möglich gewesen wäre (Fischer StGB 57. Aufl. § 25 Rdn. 12 m. Nachw. zur Rspr.). Auch bei der gefährlichen Körperverletzung in der Tatvariante "mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich" sind die Tatbeiträge nach diesen allgemeinen Regeln abzugrenzen.
bb) Eine Verurteilung des Angeklagten als (Mit-)Täter der gefährlichen Körperverletzung kommt im vorliegenden Fall nicht schon deshalb in Betracht, weil der Mitangeklagte M. die Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB als Täter erfüllt hat. Zwar ist gemeinschaftliches Handeln, wie es § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB voraussetzt, auch ein Kennzeichen der Mittäterschaft im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB, aber weder deren einzige Voraussetzung noch auf diese Beteiligungsform beschränkt (LK/Lilie StGB 11. Aufl. § 224 Rdn. 34). Dass das Zusammenwirken eines Täters mit einem Gehilfen zur Erfüllung des Qualifikationsmerkmals nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB ausreichen kann (vgl. dazu BGHSt 47, 383, 386), führt nicht dazu, dass der Gehilfe schon deshalb als Mittäter zu bestrafen wäre (BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2008 – 2 StR 286/08, NStZ-RR 2009, 10).
cc) Auch im Übrigen hält sich die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei lediglich Gehilfe gewesen, noch im Rahmen des dem Tatrichter insoweit eingeräumten Beurteilungsspielraums. Allerdings erweist sich die Erwägung der Strafkammer, Beihilfe im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB liege schon deshalb vor, weil dem Angeklagten eine konkrete Verletzungshandlung nicht zweifelsfrei habe nachgewiesen werden können, für sich genommen als nicht tragfähig. Wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung kann vielmehr auch derjenige bestraft werden, der die Verletzung nicht mit eigener Hand ausführt, jedoch auf Grund eines gemeinschaftlichen Tatentschlusses mit dem Willen zur Tatherrschaft zum Verletzungserfolg beiträgt (Senatsurteil vom 19. Januar 1984 – 4 StR 742/83, StV 1984, 190). Nach den vom Landgericht getroffenen weiteren Feststellungen wirkte der Angeklagte jedoch ohne eigenen Vorteil lediglich zur Unterstützung eines von dem gesondert verfolgten G. mit dem Mitangeklagten M. abgesprochenen Vorhabens mit, das ausschließlich auf dem persönlichen Motiv des G. beruhte, den Zeugen A. für die Misshandlung seiner Freundin M. S. zu bestrafen. Ein maßgebliches Tatinteresse des Angeklagten, etwa in Form einer für die Mitwirkung zugesagten Belohnung, ergibt sich aus den Urteilsgründen ebenso wenig wie ein auch nur ansatzweiser Einfluss auf Einzelheiten der Tatausführung. Auch wenn vor dem Hintergrund der zur konkreten Tatausführung getroffenen Feststellungen eine andere Entscheidung vertretbar gewesen wäre, nimmt der Senat den Schuldspruch daher hin.
2. Die von der Staatsanwaltschaft erhobene Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) führt jedoch zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs.
a) Die Beschwerdeführerin sieht den Verfahrensverstoß darin, dass die Strafkammer bei der Straffestsetzung irrtümlich davon ausgegangen ist, dass der Angeklagte nicht vorbestraft sei. Dies beruhe darauf, dass der in der Hauptverhandlung verlesene Bundeszentralregisterauszug, der tatsächlich keine Eintragung enthielt, unter einem falschen Geburtsdatum (2 5 .10.1985 statt 2 2 .10.1985) angefordert worden sei. Angesichts des polizeilichen Vermerks vom 24. März 2009 sowie der Angaben des Angeklagten zur Person in der Hauptverhandlung, aus denen sich die Unrichtigkeit dieses auch in der Anklageschrift aufgeführten Geburtsdatums ergeben habe, hätte sich das Landgericht veranlasst sehen müssen, einen neuen Registerauszug unter Angabe des zutreffenden Geburtsdatums beizuziehen; aus diesem Auszug hätte sich ergeben, dass der Angeklagte mehrfach, u.a. auch wegen gefährlicher Körperverletzung sowie Verstoßes gegen das Waffengesetz, zu Jugendstrafe verurteilt worden war und zum Tatzeitpunkt unter Bewährung stand.
b) Diese zulässig erhobene Rüge greift durch. Das gegen den Angeklagten im Wege der Abtrennung aus einem weiteren Verfahren eingeleitete Ermittlungsverfahren enthielt keinen Personalbogen, woraufhin der Bundeszentralregisterauszug versehentlich unter dem falschen Geburtsdatum "2 5 .10.1985“ angefordert wurde, der keine Eintragung aufwies. Erst nach Anklageerhebung – ebenfalls unter diesem unzutreffenden Geburtsdatum – gelangte im Zuge einer von der Strafkammer angeordneten Aufenthaltsüberprüfung das zutreffende Geburtsdatum durch einen polizeilichen Vermerk zu den Sachakten und wurde vom Angeklagten in der Hauptverhandlung bei der Erörterung seiner persönlichen Verhältnisse bestätigt. Ein neuer Registerauszug unter dem richtigen Geburtsdatum wurde jedoch nicht angefordert.
c) Die Rüge scheitert im vorliegenden Fall nicht daran, dass auch der Staatsanwaltschaft anzulasten ist, sich mit der negativen Registerauskunft zufrieden gegeben zu haben. Denn das Aufklärungsgebot richtet sich an das Gericht; das Verhalten der Verfahrensbeteiligten ist deshalb grundsätzlich ohne Einfluss auf die dem Gericht aus diesem Gebot erwachsenden Pflichten (Senatsurteil vom 11. März 1993 – 4 StR 70/93, BGHR StPO § 244 Abs. 2 Aufdrängen 5). Bei der gegebenen Sachlage bedurfte es auch nicht eines Antrags oder einer Anregung der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung, um dem Gericht die Kenntnis derjenigen Umstände zu verschaffen, die zu weiterer Aufklärung Anlass gaben, zumal sich die Sachakten hier (nach Anklageerhebung) bereits beim Landgericht befanden, als der Irrtum bemerkt wurde (vgl. dazu Senat aaO).
III.
Auf dem dargelegten Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO beruht der gesamte Strafausspruch, denn zur Begründung der Höhe der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe hat sich die Strafkammer ausschließlich auf den Umstand gestützt, dass der Angeklagte ausweislich des verlesenen Bundeszentralregisterauszugs nicht vorbestraft sei. Der Senat merkt in diesem Zusammenhang an, dass in den Urteilsgründen gem. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO zwar nur die für die Zumessung der Strafe bestimmenden Erwägungen darzulegen sind. Wird jedoch – wie im vorliegenden Fall – zur Begründung des Rechtsfolgenausspruchs lediglich ein tragender Gesichtspunkt herangezogen, ist zu besorgen, dass der Tatrichter die durch § 46 Abs. 2 StGB gebotene Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Tatsachen nicht in der erforderlichen Weise rechtsfehlerfrei vorgenommen hat (vgl. Senatsurteil vom 13. Januar 1983 – 4 StR 667/82, NStZ 1983, 217).
Tepperwien Solin-Stojanović Ernemann
Franke Mutzbauer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100061999
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100331
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I ZR 27/09
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Beschluss
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§ 26 Nr 8 ZPOEG, § 101a Abs 1 S 1 UrhG
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vorgehend OLG Nürnberg, 20. Januar 2009, Az: 3 U 942/06, Urteil vorgehend LG Nürnberg-Fürth, 8. März 2006, Az: 3 O 4874/03
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DEU
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Urheberrechtlicher Besichtigungsanspruch: Streitwertbemessung - Streitwert eines Besichtigungsanspruchs
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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg - 3. Zivilsenat - vom 20. Januar 2009 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Streitwert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren: 15.000 €.
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I. Die Beschwerde der Beklagten ist unzulässig, weil der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 € nicht übersteigt (§ 26 Nr. 8 EGZPO).
Den Wert der Beschwer und damit die besondere Zulässigkeitsvoraussetzung der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 26 Nr. 8 EGZPO hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen. Der Wert des Beschwerdegegenstands für das beabsichtigte Revisionsverfahren bemisst sich nach dem Interesse des Rechtsmittelklägers an der Abänderung des Urteils. Der Kläger will mit der Revision seinen vom Berufungsgericht abgewiesenen Besichtigungsantrag weiterverfolgen.
Der Streitwert eines Besichtigungsanspruchs nach § 101a Abs. 1 Satz 1 UrhG richtet sich nach dem Streitwert der Ansprüche, deren Vorbereitung er dient (vgl. Fromm/Nordemann/Czychowski, Urheberrecht, 10. Aufl., § 101a UrhG Rdn. 32). Im Streitfall dient er der Vorbereitung sämtlicher weiterer Ansprüche. Den gesamten Wert seiner Ansprüche hat der Kläger in der Klageschrift mit 100.000 € beziffert, ohne anzugeben, welcher Wert auf die einzelnen Ansprüche entfällt.
Für die Bemessung des Streitwerts eines Besichtigungsanspruchs kann, wie die Beschwerde zutreffend geltend macht, auf die Grundsätze zur Bemessung des Streitwerts eines Auskunftsanspruchs zurückgegriffen werden, der gleichfalls der Vorbereitung eines Hauptanspruchs dient. Der Auskunftsanspruch ist in der Regel mit einem Zehntel bis einem Viertel des Werts des Hauptanspruchs zu bewerten; dabei ist der Wert des Auskunftsanspruchs umso höher zu bemessen, je mehr der Kläger zur Begründung seines Hauptanspruchs auf die Auskunftserteilung angewiesen ist (vgl. BGH, Beschl. v. 25.1.2006 - IV ZR 195/04, FamRZ 2006, 119 Tz. 4 m.w.N.).
Nach diesen Grundsätzen ist der Wert des Besichtigungsanspruchs im Streitfall bei einem Gesamtwert der vom Kläger verfolgten Ansprüche von 100.000 € mit 9.090,91 € (1/10 von 90.909,09 €) bis 20.000 € (1/4 von 80.000 €) zu bemessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es dem Kläger - wie die Beschwerde zutreffend geltend macht - ohne Kenntnis des Quellcodes, dessen Offenlegung er mit seinem Besichtigungsantrag begehrt, nur schwer möglich sein dürfte, eine - unterstellte - Urheberrechtsverletzung des Beklagten nachzuweisen. Die Festsetzung des Streitwerts des Besichtigungsanspruchs durch das Berufungsgericht auf 15.000 € hält sich in diesem Rahmen und erscheint auch unter Berücksichtigung der Bedeutung des Anspruchs für den Kläger als zutreffend.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Bornkamm Pokrant Büscher
Schaffert Koch
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062007
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BGH
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1. Zivilsenat
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20100114
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I ZB 31/09
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Beschluss
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§ 8 Abs 2 Nr 1 MarkenG
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vorgehend BPatG München, 4. März 2009, Az: 29 W (pat) 65/08, Beschluss
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DEU
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Markenanmeldung: Großzügiger Maßstab für die Annahme geringer Unterscheidungskraft - hey!
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Die Rechtsbeschwerde der Anmelderin gegen den Beschluss des 29. Senats (Marken-Beschwerdesenats) des Bundespatentgerichts vom 4. März 2009 wird zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde wird auf 50.000 € festgesetzt.
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I. Die Anmelderin hat beim Deutschen Patent- und Markenamt die Eintragung der Wortmarke
hey!
für folgende Waren und Dienstleistungen beantragt:
Klasse 9
Bildträger, nämlich Filme (belichtet) und digitale Bildträger; Tonträger, insbesondere MC's; Magnetdatenträger; optische Datenträger, insbesondere CD's und DVD's; Videospiele als Zusatzgeräte für Fernsehapparate; Videospiele (Software);
Klasse 16
Papier, Pappe (Karton) und Waren aus diesen Materialien, soweit in Klasse 16 enthalten; Druckereierzeugnisse; Fotografien, Schreibwaren;
Klasse 25
Bekleidungsstücke, Schuhwaren, Kopfbedeckungen;
Klasse 28
Spiele, Spielzeug, insbesondere Spielfiguren, Brettspiele, Puzzles; Spiele, elektronische (einschließlich Videospiele), ausgenommen als Zusatzgeräte für Fernsehapparate; Spielkarten;
Klasse 41
Film-, Fernseh- und Videofilmproduktionen; Filmverleih;
Klasse 42
Beratung bei der Gestaltung von Homepages und Internetseiten; Design von Homepages und Web-Seiten; Erstellen von Web-Seiten; Gestaltung und Unterhalt von Web-Seiten für Dritte; Handel mit Film-, Fernseh- und Videolizenzen.
Die Markenstelle des Deutschen Patent- und Markenamts hat die Anmeldung wegen fehlender Unterscheidungskraft zurückgewiesen.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben (BPatG, Beschl. v. 4.3.2009 - 29 W(pat) 65/08, juris).
Mit ihrer zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Anmelderin ihr Eintragungsbegehren weiter.
II. Das Bundespatentgericht hat angenommen, der angemeldeten Wortmarke fehle für die genannten Waren und Dienstleistungen jegliche Unterscheidungskraft i.S. von § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG. Dazu hat es ausgeführt:
Das Markenwort "hey" sei ein gebräuchliches Wort, das der Verkehr stets nur als solches und nicht als Unterscheidungsmittel verstehe. Der Ausdruck komme besonders häufig in der Jugendsprache vor. Er habe verschiedene Bedeutungen, ohne dass es sich um eine unterscheidungskräftige Angabe handele. Der Verkehr werde in dem Markenwort auch zusammen mit dem Ausrufezeichen kein Mittel zur betrieblichen Herkunftsindividualisierung sehen, sondern nur eine allgemeine Kundenansprache, eine Grußformel oder einen Zuruf, der die Aufmerksamkeit des Publikums auf die beanspruchten Waren und Dienstleistungen lenken solle und wie eine werbliche Anpreisung wirke. Zudem sei zu berücksichtigen, dass gerade bei Werbeaussagen allgemeiner Art, die weder eine Ware oder Dienstleistung beschrieben noch einen im Vordergrund stehenden beschreibenden Aussagegehalt aufwiesen, gleichwohl ein schützenswertes Interesse an deren freier Verfügbarkeit im Wettbewerb bestehe. Dies könne auch für einen allgemein verwendeten Zuruf oder eine gebräuchliche Grußformel wie vorliegend "hey" nicht in Abrede gestellt werden. Auch der Umstand, dass es sich bei der angemeldeten Marke um einen Werktitel handele, begründe keine markenrechtliche Schutzfähigkeit.
III. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
Das Bundespatentgericht hat rechtsfehlerfrei das Eintragungshindernis des Fehlens jeglicher Unterscheidungskraft (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG) bejaht.
1. Unterscheidungskraft i.S. von § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG ist die einer Marke innewohnende (konkrete) Eignung, vom Verkehr als Unterscheidungsmittel aufgefasst zu werden, das die in Rede stehenden Waren oder Dienstleistungen als von einem bestimmten Unternehmen stammend kennzeichnet und diese Waren oder Dienstleistungen damit von denjenigen anderer Unternehmen unterscheidet (vgl. BGHZ 167, 278 Tz. 18 - FUSSBALL WM 2006; Beschl. v. 24.4.2008 - I ZB 21/06, GRUR 2008, 1093 Tz. 13 = WRP 2008, 1428 - Marlene-Dietrich-Bildnis). Denn die Hauptfunktion der Marke besteht darin, die Ursprungsidentität der gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen zu gewährleisten. Da allein das Fehlen jeglicher Unterscheidungskraft ein Eintragungshindernis begründet, ist ein großzügiger Maßstab anzulegen, so dass jede auch noch so geringe Unterscheidungskraft genügt, um das Schutzhindernis zu überwinden (BGH, Beschl. v. 4.12.2008 - I ZB 48/08, GRUR 2009, 778 Tz. 11 = WRP 2009, 813 - Willkommen im Leben; Beschl. v. 15.1.2009 - I ZB 30/06, GRUR 2009, 411 Tz. 8 = WRP 2009, 439 - STREETBALL).
2. Von diesen Grundsätzen ist auch das Bundespatentgericht ausgegangen und hat angenommen, das angemeldete Zeichen sei ein gebräuchliches Wort der Umgangssprache. Es sei ein Zuruf, mit dem man die Aufmerksamkeit einer anderen Person zu erregen suche. Es sei weiter ein Ausruf, der Erstaunen, Empörung, Abwehr und Ähnliches ausdrücke. Zudem werde es vielfach als Grußformel verwendet. Der Verkehr werde es deshalb nur mit diesen Bedeutungsinhalten erfassen und als Kundenansprache, Grußformel oder Zuruf ansehen, der die Aufmerksamkeit des Publikums auf die beanspruchten Waren und Dienstleistungen lenken solle. An derartige Aufforderungen sei der Verkehr gewöhnt und werte sie im Zusammenhang mit den angebotenen Waren und Dienstleistungen nur als Versuch, ein freundliches Klima zu schaffen, die Abnahmebereitschaft zu wecken und damit als werbliche Anpreisung zu dienen.
3. Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde ohne Erfolg mit der Rüge, das Bundespatentgericht habe verkannt, dass das Zeichen über eine das reine Wortverständnis hinausgehende Aussage verfüge. Diese liege darin, dass der Verkehr das Wort "hey" als schlagwortartige Aussage verstehe, die seine Aufmerksamkeit wecken und auf die derart gekennzeichneten Waren lenken solle, um den Kaufentschluss hervorzurufen. Die Aussage des Markenworts sei kurz, einprägsam und werbewirksam, was indiziell für die Unterscheidungskraft spreche.
4. Das Bundespatentgericht hat aufgrund einer Reihe von Beispielen die Bedeutung des Wortes "hey" als Zuruf, Ausruf und Grußformel in dem von ihm angenommenen Sinn festgestellt. Daraus hat es zu Recht gefolgert, dass der Verkehr das Markenwort nicht als Unterscheidungsmittel, sondern nur als Anpreisung oder Werbeaussage allgemeiner Art auffasst (vgl. BGH, Beschl. v. 22.1.2009 - I ZB 34/08, GRUR 2009, 949 Tz. 27 = WRP 2009, 963 - My World). Dieser Beurteilung steht auch nicht entgegen, dass die vom Bundespatentgericht angeführten Beispiele häufig die Verwendung des Wortes "hey" in der Jugendsprache belegen. Daraus ergibt sich nicht, dass das Markenwort vom Durchschnittsverbraucher nicht ausschließlich in dem vom Bundespatentgericht dargestellten Sinn verstanden wird. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, kommt es für die Beurteilung des Schutzhindernisses mangelnder Unterscheidungskraft nicht darauf an, ob sich eine Verwendung des Markenwortes in der Werbung nachweisen lässt (vgl. EuGH, Urt. v. 21.10.2004 - C-64/02, Slg. 2004, I-10031 = GRUR 2004, 1027 Tz. 46 - DAS PRINZIP DER BEQUEMLICHKEIT).
Unterscheidungskraft erlangt das Markenwort "hey" auch nicht durch eine gewisse inhaltliche Unschärfe. Zwar kann die Mehrdeutigkeit und Interpretationsbedürftigkeit einer Aussage ein Anhalt für eine hinreichende Unterscheidungskraft sein. Im vorliegenden Fall erlangt das Wort aufgrund unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten aber keine auch nur geringe Unterscheidungskraft, weil sämtliche Bedeutungen im Sinne eines Zurufs, eines Ausrufs oder einer Grußformel sich auf ohne weiteres verständliche Aussagen beschränken.
Zu Recht ist das Bundespatentgericht auch davon ausgegangen, dass aus der Funktion des Markenwortes als Werktitel nicht die Eignung folgt, als Unterscheidungsmittel der Waren oder Dienstleistungen ihrer Herkunft nach zu wirken. Die Unterscheidungskraft i.S. von § 8 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG beurteilt sich nach markenrechtlichen Grundsätzen und nicht nach den geringeren Anforderungen für Werktitel (BGH GRUR 2009, 949 Tz. 17 - My World).
Bornkamm Pokrant Büscher
Bergmann Kirchhoff
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062040
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BGH
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8. Zivilsenat
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20100324
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VIII ZR 60/09
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Urteil
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§ 242 BGB, § 313 BGB, § 812 Abs 1 S 1 Alt 1 BGB, § 8a WoBindG, § 10 WoBindG, § 17 Abs 1 S 2 WoBauG 2
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vorgehend LG Berlin, 27. Januar 2009, Az: 65 S 27/08, Urteil vorgehend AG Charlottenburg, 13. Dezember 2007, Az: 223 C 160/07
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DEU
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Wohnraummietvertrag: Anpassung wegen Fehlens der Geschäftsgrundlage hinsichtlich zulässiger Mieterhöhung bei gemeinschaftlichem Irrtum der Parteien über eine Mietpreisbindung
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil der Zivilkammer 65 des Landgerichts Berlin vom 27. Januar 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Der Kläger ist seit 1996 Mieter einer Wohnung der Beklagten in B. . Die Rechtsvorgängerin der Beklagten hatte das Gebäude, in dem sich die Wohnung der Klägerin befindet, in den 1970er Jahren unter Inanspruchnahme öffentlicher Mittel saniert.
In § 1 (2) des Mietvertrags vom 24. September 1996 heißt es:
"Art der Wohnung: Neubau. Die Wohnung ist öffentlich gefördert / mit Mitteln des § 46 StBauFG errichtet."
Die Grundmiete - ursprünglich 391,38 DM (200,11 €) monatlich - wurde von der Beklagten wiederholt einseitig nach §§ 10, 8a WoBindG erhöht, zuletzt auf 325,91 € monatlich für die Zeit ab Juli 2006. Der Kläger zahlte die jeweils geforderten Beträge.
Der Kläger macht geltend, dass er nur die ursprüngliche Ausgangsmiete schulde. Die von der Beklagten einseitig vorgenommenen Mieterhöhungen seien unwirksam, weil die in den siebziger Jahren von ihrer Rechtsvorgängerin durchgeführten Sanierungsmaßnahmen nicht den in § 17 Abs. 1 Satz 2 II. WoBauG beschriebenen Umfang gehabt hätten und die Wohnung deshalb während der gesamten Mietdauer nicht der Mietpreisbindung unterlegen habe. Die Beklagte sei deshalb zur Rückzahlung verpflichtet, soweit sie für den Zeitraum von Januar 2004 bis Juli 2007 eine die Ausgangsmiete von 200,11 € übersteigende Grundmiete erhalten habe.
Der Kläger hat Zahlung von 4.579,13 € nebst Zinsen sowie die Feststellung begehrt, dass die von ihm zu zahlende Nettokaltmiete den Betrag von monatlich 200,11 € nicht übersteige. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landgericht hat das Urteil des Amtsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.
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Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Der Kläger könne weder Mietrückzahlungen noch die Feststellung verlangen, dass die geschuldete Nettokaltmiete 200,11 € nicht übersteige. Zwar habe die Beklagte die Miete nicht einseitig nach § 10 WoBindG erhöhen dürfen, so dass die von ihr vorgenommenen Mieterhöhungen unwirksam gewesen seien. Denn bei der Wohnung des Klägers habe es sich nicht um mit öffentlichen Mitteln geförderten, preisgebundenen Wohnraum gehandelt. Die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 Satz 2 II. WoBauG für eine Sozialwohnung seien nicht erfüllt; es fehle an der Voraussetzung eines unter wesentlichem Bauaufwand durchgeführten Umbaus. Ein solcher liege nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur vor, wenn das äußere Erscheinungsbild der bisherigen Wohnräume nachhaltig verändert werde, wie es etwa bei Grundrissänderungen oder eine Zusammenfassung von mehreren Räumen oder von kleinen Wohnungen zu einer abgeschlossenen Wohnung der Fall sei. Vorliegend sei lediglich die Wand zwischen WC und Küche geringfügig versetzt worden, um den Einbau des Bades zu ermöglichen. Auch sei nicht ersichtlich, dass dabei Kosten entstanden seien, die mit 1/3 der Neubaukosten für die gesamte Wohnung zu bemessen seien.
Der Kläger sei jedoch nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) an der Geltendmachung des Bereicherungsanspruchs und des Feststellungsanspruchs gehindert. Die Rückforderung der jahrelang vorbehaltlos gezahlten Mieterhöhungsbeträge stelle eine unzulässige Rechtsausübung dar, weil die Beklagte im Vertrauen auf das Verhalten des Klägers auf Mieterhöhungen nach §§ 558 ff. BGB verzichtet habe und diese auch nicht mehr nachholen könne. Die Klage, mit der der Kläger Mieterhöhungsbeträge ab Januar 2004 zurückfordere, sei mehr als zehn Jahre nach der ersten Mieterhöhung eingereicht worden. Zwar stelle die Zahlung auf die jeweiligen Erhöhungserklärungen keine konkludente Vereinbarung des erhöhten Mietzinses dar, weil die Befolgung einer Aufforderung regelmäßig keine Willenserklärung enthalte. Nachdem der Kläger jedoch über einen derart langen Zeitraum vorbehaltlos jede Mieterhöhung der Beklagten akzeptiert und die entsprechenden Zahlungen geleistet habe, sei er mit einer Rückforderung ebenso wie mit einer rückwirkenden Herabsetzung der Miete ausgeschlossen.
Eine besondere Schutzwürdigkeit des Klägers sei nicht gegeben, denn er habe den Mietvertrag unter Hinweis auf die (vermeintliche) Geltung der Preisbindungsvorschriften abgeschlossen und zu keinem Zeitpunkt darauf vertraut, dass die Miete über einen Zeitraum von zehn Jahren unverändert bleiben würde. Insgesamt überwiege das schutzwürdige Interesse der Beklagten, auch wenn sie bereits mit Schreiben vom 27. Februar 1995 gegenüber dem Bezirksamt C. Zweifel daran geäußert habe, ob die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 Satz 2 II. WoBauG in jedem Einzelfall vorgelegen hätten. Denn aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Gerichtsentscheidungen sei die Rechtslage ungewiss und schwierig gewesen. Auch die Frage, ob das Vorliegen einer Preisbindung der Parteidisposition unterliege, sei erst durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. Februar 2007 geklärt worden. Die Beklagte sei keinesfalls bewusst ein Risiko der falschen Einordnung der Wohnung eingegangen. Vielmehr habe sie im Rahmen der erforderlichen Sorgfalt gehandelt, indem sie sich auf die Einschätzung der zuständigen Behörde verlassen und die Preisbindung ausdrücklich als Regelung in den Mietvertrag aufgenommen habe.
II.
Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Das Berufungsgericht ist zwar im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Beklagte nicht an der im Jahr 1996 vereinbarten Ausgangsmiete festhalten lassen muss. Denn nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen ist eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen des Fehlens der Geschäftsgrundlage geboten. Die Anpassung kann aber nicht in der Weise erfolgen, dass der Kläger die an sich unwirksamen Mieterhöhungen unabhängig von der Entwicklung der ortsüblichen Vergleichsmiete in vollem Umfang gegen sich gelten lassen muss.
1. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass bei der Sanierung der Wohnung in den 1970er Jahren kein Umbau unter wesentlichem Bauaufwand im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 2 II. WoBauG vorgenommen worden ist und die Wohnung deshalb nicht der Preisbindung unterliegt. Die einseitig nach §§ 10, 8a WoBindG vorgenommenen Mieterhöhungen der Beklagten waren daher unwirksam, so dass mit dem Berufungsgericht von einem grundsätzlichen Rückforderungsanspruch des Klägers aus ungerechtfertigter Bereicherung (§ 812 Abs. 1 BGB) auszugehen ist, soweit er Zahlungen auf unwirksame Mieterhöhungen geleistet hat.
2. Dem Berufungsgericht ist weiter darin beizupflichten, dass die Beklagte sich nicht an der im Jahr 1996 vereinbarten Ausgangsmiete festhalten lassen muss. Ob dies (auch) aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung oder der unzulässigen Rechtsausübung folgt, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn jedenfalls sind die Voraussetzungen einer Vertragsanpassung nach den Grundsätzen des Fehlens der Geschäftsgrundlage (§ 313 Abs. 2 BGB) gegeben. Das Fehlen der Geschäftsgrundlage kann vom Verpflichteten auch einredeweise geltend gemacht werden (MünchKommBGB/Roth, 5. Aufl., § 313 Rdnr. 91).
a) Die Geschäftsgrundlage eines Vertrages wird nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gebildet durch die bei Vertragsschluss bestehenden gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei vom Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf dieser Vorstellung aufbaut (BGHZ 120, 10, 23; Senatsurteile vom 15. November 2000 - VIII ZR 324/99, WM 2001, 523, unter II 1 a, sowie vom 8. Februar 2006 - VIII ZR 304/04, WM 2006, 828, Tz. 8). Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der Preisgebundenheit der Wohnung des Klägers erfüllt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist davon auszugehen, dass es den Vorstellungen der Mietvertragsparteien bei Abschluss des Mietvertrags im Jahre 1996 entsprach, dass die Wohnung des Klägers der Mietpreisbindung unterliegt und die Miete deshalb nach den für die Kostenmiete geltenden Vorschriften erhöht werden kann. Die Preisgebundenheit einer Wohnung ist auch kein Umstand, der nach der gesetzlichen Regelung der Risikosphäre des Vermieters zugeordnet ist. Die Einordnung einer Wohnung als preisfreier oder preisgebundener Wohnraum steht nicht im Belieben des Vermieters, sondern richtet sich nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen (hier § 17 Abs. 1 II. WoBauG).
Der Annahme, dass die Preisgebundenheit der Wohnung Geschäftsgrundlage war, steht auch nicht entgegen, dass dieser Umstand in § 1 des Mietvertrags Niederschlag gefunden hat. Denn die Preisgebundenheit der Wohnung unterliegt nicht der Parteidisposition (Senatsurteil vom 7. Februar 2007 - VIII ZR 122/05, NZM 2007, 283, Tz. 15) und kann deshalb nicht Vertragsgegenstand geworden sein.
b) Ein Vertragsanpassung ist hier erforderlich, weil der Beklagten ein unverändertes Festhalten am Mietvertrag angesichts des erst nach langjähriger Vertragsdauer zu Tage getretenen Fehlens der Geschäftsgrundlage nicht zumutbar ist. Denn die im Jahr 1996 vereinbarte Ausgangsmiete beträgt nur etwa 60 % der zuletzt geforderten Kostenmiete und dürfte auch hinter der aktuellen ortsüblichen Vergleichsmiete weit zurückbleiben. Mieterhöhungen nach § 558 BGB kann die Beklagte für die Vergangenheit nicht mehr nachholen und den Stand der ortsüblichen Vergleichsmiete auch für die Zukunft mit Rücksicht auf die Kappungsgrenze und die Sperrfrist des § 558 BGB nicht in absehbarer Zeit erreichen. Ohne eine Vertragsanpassung würde sowohl für den Zeitraum von 1. Januar 2004 bis zum Juli 2007, für den der Kläger Rückforderungsansprüche geltend macht, als auch für die Zeit danach ein erhebliches Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung bestehen, weil die Beklagte dann über einen längeren Zeitraum - eine Kündigung ist ihr wegen des sozialen Kündigungsschutzes verwehrt - nur eine Miete erhalten würde, die weit hinter der Kostenmiete und der ortsüblichen Vergleichsmiete zurückbleibt.
Ohne Erfolg wendet die Revision ein, dass der Beklagten während des Mietverhältnisses Zweifel an der Preisgebundenheit der Wohnung gekommen sein müssten und sie aus diesem Grund nicht schutzwürdig sei. Diesen Gesichtspunkt hat das Berufungsgericht bei der gebotenen umfassenden Interessenabwägung berücksichtigt, aber nicht für durchgreifend erachtet. Einen Rechtsfehler dieser tatrichterlichen Würdigung zeigt die Revision nicht auf.
c) Eine Vertragsanpassung kann allerdings nicht in der Weise erfolgen, dass der Kläger - ohne Rücksicht auf die ortsübliche Vergleichsmiete - jeweils die Miete schuldet, die sich aus den bis zum Jahr 2007 vorgenommenen Kostenmieterhöhungen ergibt. Bei nicht preisgebundenem Wohnraum können Mieterhöhungen - von der Modernisierungsmieterhöhung nach § 559 BGB abgesehen - nur bis zur Grenze der ortsüblichen Vergleichsmiete verlangt werden (§ 558 Abs. 1 Satz 1 BGB). Eine Vertragsanpassung im Interesse der Beklagten ist hier nicht schon deshalb erforderlich, weil sie die Miete angesichts der fehlenden Preisbindung der Wohnung nicht nach §§ 10, 8a WoBindG erhöhen kann, denn auch bei preisfreiem Wohnraum hat der Vermieter grundsätzlich die Möglichkeit, die Miete zu erhöhen, nämlich nach § 558 BGB bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete. Die Notwendigkeit einer Vertragsanpassung ergibt sich vielmehr erst aus dem Zeitablauf seit dem Beginn des Mietverhältnisses und dem Umstand, dass die Beklagte nach § 558 BGB mögliche Mieterhöhungen im Vertrauen auf das Bestehen der Preisbindung über einen langjährigen Zeitraum nicht geltend gemacht hat und sie jetzt nicht mehr nachholen kann. Hinzu kommt, wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat, dass die Klägerin ohne eine Vertragsanpassung auch durch künftige Mieterhöhungen die ortsübliche Vergleichsmiete in absehbarer Zeit nicht annähernd erreichen dürfte.
Es liegt zwar nahe, dass die Beklagte als gewerbliche Vermieterin, falls die Parteien nicht von preisgebundenem Wohnraum ausgegangen wären, seit Beginn des Mietverhältnisses Mieterhöhungsverfahren nach § 558 BGB durchgeführt und in den Grenzen dieser Vorschrift auch die Anhebung der Miete bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete erreicht hätte. Obergrenze für eine Anpassung des Vertrages ist damit aber die ortsübliche Vergleichmiete; auch aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung oder der unzulässigen Rechtsausübung kann dem Kläger die Rückforderung der in den Jahren 2004 bis 2007 gezahlten Miete insoweit nicht verwehrt werden, als er Zahlungen über die ortsübliche Miete hinaus erbracht hat.
3. Für die Feststellungsklage gelten die vorstehenden Ausführungen entsprechend. Auch insoweit hat das Berufungsgericht die Klage zu Unrecht vollständig abgewiesen. Zwar kann der Kläger nach den vorstehenden Ausführungen nicht verlangen, dass für den Zeitraum ab Januar 2008 noch die Ausgangsmiete von 200,11 € gilt. Der Antrag des Klägers enthält jedoch als Minus, dass jedenfalls ein geringerer Betrag als die von der Beklagten zuletzt geforderte Miete von 325,91 € maßgeblich sein soll.
III.
Nach alledem kann das Urteil des Berufungsgerichts keinen Bestand haben; es ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Senat kann in der Sache selbst nicht abschließend entscheiden, weil das Berufungsgericht keine Feststellungen zur ortsüblichen Vergleichsmiete für die Wohnung des Klägers getroffen hat. Die Sache ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).
Ball Dr. Milger Dr. Hessel
Dr. Fetzer Dr. Bünger
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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||||||||
JURE100062044
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BGH
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12. Zivilsenat
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20100421
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XII ZB 176/09
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Beschluss
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§ 3 ZPO, § 139 ZPO, § 522 ZPO, § 574 ZPO
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vorgehend KG Berlin, 25. August 2009, Az: 17 UF 69/09, Beschluss vorgehend AG Tempelhof-Kreuzberg, 23. April 2009, Az: 162 F 1050/06, Teilurteil
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DEU
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Unterhaltsstufenklage: Beschwerdewert nach einer Verurteilung zur Auskunftserteilung
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Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 17. Zivilsenats - Senat für Familiensachen - des Kammergerichts in Berlin vom 25. August 2009 wird auf Kosten des Beklagten verworfen.
Beschwerdewert: 600 €
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I.
Der Beklagte ist selbständiger Rechtsanwalt und Notar. Auf die von seiner geschiedenen Ehefrau und seinen Kindern erhobene Stufenklage wurde er durch Teilurteil des Amtsgerichts - Familiengericht - vom 23. April 2009 dazu verurteilt,
"… der Klägerin zu 1. Auskunft zu erteilen über die Höhe seines in den Kalenderjahren 2006 und 2007 erzielten Einkommens aus seiner Tätigkeit als selbständiger Rechtsanwalt sowie über etwaige weitere Einkünfte in den Kalenderjahren 2006 und 2007 aus allen steuerlich relevanten Einkunftsarten und diese Auskunft zu belegen durch
a) die Vorlage der Gewinnermittlungen aus seiner selbständigen Tätigkeit als Rechtsanwalt für die Kalenderjahre 2006 und 2007,
b) die Vorlage der Steuererklärungen nebst aller dazu gehöriger Anlagen der Jahre 2006 und 2007,
c) der Vorlage der für die Jahre 2006 und 2007 ergangenen Steuerbescheide."
Gegen das Teilurteil legte der Beklagte Berufung ein. Das Kammergericht hat den Wert des Streitgegenstandes für die Berufungsinstanz auf 600 € festgesetzt und die Berufung als unzulässig verworfen.
Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten, mit der er geltend macht, der Wert der Beschwer übersteige 600 €. Er könne die nach dem Teilurteil geschuldete Auskunft nur mit Hilfe eines Steuerberaters erteilen, wofür er Kosten von mindestens 828 € netto aufwenden müsse.
II.
Für das Verfahren ist gemäß Art. 111 Abs. 1 FGG-RG noch das bis Ende August 2009 geltende Prozessrecht anwendbar, weil der Rechtsstreit vor diesem Zeitpunkt eingeleitet worden ist (Senatsurteil vom 16. Dezember 2009 - XII ZR 50/08 - FamRZ 2010, 357 Tz. 7).
Die nach §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde des Beklagten ist nicht zulässig, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) nicht vorliegt.
1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, auch des Senats (Senatsbeschluss vom 31. Januar 2007 - XII ZB 133/06 - FamRZ 2007, 714 Tz. 8), ist unter dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Rechtsbeschwerde u.a. zulässig, wenn einem Gericht bei der Rechtsanwendung Fehler unterlaufen, die die Wiederholung durch dasselbe Gericht oder die Nachahmung durch andere Gerichte erwarten lassen, und wenn dadurch so schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung zu entstehen oder fortzubestehen drohen, dass eine höchstrichterliche Leitentscheidung notwendig ist. Dabei muss es sich um einen Rechtsfehler von symptomatischer Bedeutung handeln (BGHZ 152, 182, 187). Diese Voraussetzungen sind also nicht schon dann erfüllt, wenn die Entscheidung des Berufungsgerichts fehlerhaft ergangen ist (BGHZ 154, 288, 293). Ein schwerer, das Vertrauen der Allgemeinheit in eine funktionierende Rechtsprechung gefährdender Rechtsfehler liegt erst dann vor, wenn das Berufungsgericht bei der Auslegung oder Anwendung von Vorschriften des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts gegen grundlegende, verfassungsrechtlich abgesicherte Gerechtigkeitsanforderungen verstoßen hat und die Entscheidung deswegen von Verfassungs wegen der Korrektur bedarf. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes in seiner Ausprägung als Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) oder auf einer Verletzung der Verfahrensgrundrechte des Beschwerdeführers - insbesondere des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) - beruht (BGHZ 154, 288, 296). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
2.Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt den Beklagten weder in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) noch verstößt die Entscheidung gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG). Durch die Festsetzung des Berufungsstreitwerts auf 600 € wird der Beklagte auch nicht in seinem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Gewährung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) beeinträchtigt.
a) Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass für die Bemessung des Werts des Beschwerdegegenstandes bei der Verurteilung zur Auskunftserteilung das Interesse des Rechtsmittelführers maßgebend ist, die Auskunft nicht erteilen zu müssen. Dabei ist - von dem Fall eines besonderen Geheimhaltungsinteresses abgesehen - auf den Aufwand an Zeit und Kosten abzustellen, den die sorgfältige Erteilung der geschuldeten Auskunft erfordert (Senatsbeschlüsse vom 31. Januar 2007 - XII ZB 133/06 - FamRZ 2007, 714 Tz. 4 und vom 22. April 2009 - XII ZB 49/07 - FamRZ 2009, 1211 Tz. 9 m.w.N.; BGHZ - GSZ - 128, 85, 87 f.).
Auf dieser rechtlichen Grundlage ist im Falle einer Verurteilung zur Auskunft der Wert der Beschwer gemäß § 3 ZPO nach billigem Ermessen zu bestimmen. Das Rechtsbeschwerdegericht kann die Bemessung der Beschwer nur darauf überprüfen, ob das Berufungsgericht von dem ihm nach § 3 ZPO eingeräumten Ermessen rechtsfehlerhaft Gebrauch gemacht hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn das Gericht bei der Bewertung des Beschwerdegegenstandes maßgebliche Tatsachen verfahrensfehlerhaft nicht berücksichtigt oder etwa erhebliche Tatsachen unter Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht (§ 139 ZPO) nicht festgestellt hat (Senatsbeschlüsse vom 31. Januar 2007 - XII ZB 133/06 - FamRZ 2007, 714 Tz. 5 m.w.N. und vom 31. März 2010 - XII ZB 130/09 - zur Veröffentlichung bestimmt).
b) Solche Fehler zeigt die Rechtsbeschwerde nicht auf. Das Berufungsgericht hat den Tenor der angegriffenen Entscheidung dahingehend ausgelegt, dass sich die Auskunfts- und Belegpflicht des Beklagten auf dieselben Gegenstände beziehen. Dies ist eine vertretbare Interpretation des Wortlauts des Tenors, die Rechtsfehler nicht erkennen lässt. Das Berufungsgericht hat zur Auslegung in zulässiger Weise (Senatsbeschluss vom 24. Juni 1992 - XII ZB 56/92 - FamRZ 1993, 45, 46; Zöller/Stöber ZPO 28. Aufl. § 704 Rdn. 4) die Urteilsgründe mit herangezogen und ist damit zu der vertretbaren Schlussfolgerung gelangt, dass dem Beklagten keine weitergehenden Pflichten als die Vorlage der Steuererklärungen nebst allen dazugehörigen Anlagen der Jahre 2006 und 2007 sowie die Vorlage der Steuerbescheide für die Jahre 2006 und 2007 auferlegt wurden und deshalb die Mitwirkung eines Steuerberaters nicht erforderlich sei. Die Rechtsbeschwerde rügt im Grunde nur diese Auslegung und will sie durch ihr Verständnis des Tenors ersetzen. Damit kann sie jedoch keinen Erfolg haben.
c) Letztlich handelt es sich bei dem angegriffenen Beschluss um eine einzelfallbezogene Entscheidung, die eine Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs nicht erfordert (BGH Beschluss vom 13. Mai 2003 - VI ZB 76/02 - NJW-RR 2003, 1366, 1367).
Hahne Weber-Monecke Dose
Schilling Günter
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062439
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BGH
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3. Strafsenat
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20100318
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3 StR 65/10
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Beschluss
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Art 316d StGBEG vom 29.07.2009, § 31 S 2 BtMG vom 29.07.2009, § 1 StGB, § 2 Abs 1 StGB, § 2 Abs 3 StGB, § 46b Abs 3 StGB vom 29.07.2009
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vorgehend LG Krefeld, 6. November 2009, Az: 22 KLs 34/09 - 2 Js 605/09, Urteil
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DEU
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Betäubungsmittelstrafrecht: Anwendung der Präklusionsregelung der gesetzlichen Neuregelung der Aufklärungshilfe auf die nach deren Inkrafttreten eröffneten Verfahren
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1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 6. November 2009 im Strafausspruch aufgehoben; jedoch bleiben die bisherigen Feststellungen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.
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Das Landgericht hat die Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu Freiheitsstrafen von jeweils drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagtenhaben zum Strafausspruch Erfolg, zum Schuldspruch sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Strafausspruch kann nicht bestehen bleiben. Das Landgericht hat die gegen die Angeklagten verhängten Strafen jeweils dem Strafrahmen des § 30 Abs. 1 BtMG entnommen und bei deren konkreter Bemessung beiden Angeklagten deren "Aufklärungsbereitschaft" strafmildernd zugute gebracht. Dagegen hat es die Anwendung des § 31 BtMG nicht für möglich gehalten. Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
a) Nach den Urteilsfeststellungen wurden die Angeklagten am 13. Juli 2009 nach der Einfuhr von etwa 3 kg Marihuana und 3 kg Amphetamin aus den Niederlanden in die Bundesrepublik festgenommen. Sowohl bei ihren polizeilichen Vernehmungen vom selben Tag wie auch im weiteren Ermittlungs- und im Zwischenverfahren leisteten die Angeklagten keine Aufklärungshilfe. Nach Anklageerhebung vom 28. Juli 2009 eröffnete das Landgericht Krefeld mit Beschluss vom 16. September 2009 das Hauptverfahren (§ 207 StPO). Erstmals in der am 6. November 2009 stattfindenden Hauptverhandlung machten beide Angeklagten Angaben zu ihrem Auftraggeber.
Das Landgericht ist der Ansicht, dass es ausgeschlossen sei, auf diese Angaben eine Strafmilderung nach § 31 BtMG zu stützen; denn der späte Zeitpunkt der Aussagen erst in der Hauptverhandlung führe gemäß § 31 Satz 2 BtMG, § 46 b Abs. 3 StGB i. V. m. Art. 316 d EGStGB (jeweils in der Fassung des 43. StrÄndG vom 29. Juli 2009, BGBl I 2288, in Kraft seit 1. September 2009) dazu, dass wegen der nunmehr geltenden zeitlichen Grenze der Berücksichtungsfähigkeit die "Vergünstigung des § 31 BtMG" den Angeklagten nicht mehr zugute kommen könne.
b) Dem kann nicht gefolgt werden. Art. 316 d EGStGB bestimmt, dass § 46 b StGB und § 31 BtMG in der Fassung des 43. StrÄndG nicht auf Verfahren anzuwenden sind, in denen vor dem 1. September 2009 die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen worden ist. Diese negativ formulierte Überleitungsvorschrift stellt eine - verfassungsrechtlich unbedenkliche (BVerfGE 81, 132, 136 f.; BGHSt 42, 113, 120; Eser in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 2 Rdn. 16) - Derogation des Meistbegünstigungsprinzips (§ 2 Abs. 3 StGB) dar, die die Gerichte in bereits rechtshängigen Verfahren von der gegebenenfalls schwierigen Bewertung entbinden soll, ob die alte oder neue Fassung des § 31 BtMG nach den Umständen des konkreten Einzelfalls das mildere Gesetz sei (BTDrucks. 16/6268 S. 17: etwa im Hinblick auf die Frage einer Milderung nach § 49 Abs. 1 oder 2 StGB oder eines Absehens von Strafe).
Sie bedeutet jedoch nicht, dass im Umkehrschluss die neuen Vorschriften - und damit auch die Präklusionsvorschrift des § 46 b Abs. 3 StGB - ohne weiteres auf Verfahren anzuwenden sind, in denen die Eröffnung des Hauptverfahrens nach dem 1. September 2009 beschlossen worden ist. Für die Frage des auf diese Verfahren anwendbaren Rechts gelten vielmehr die allgemeinen Regeln, nach denen grundsätzlich das zur Tatzeit geltende materielle Recht Anwendung findet (§§ 1, 2 Abs. 1 StGB), sofern das neuere Recht in seiner Gesamtheit keine für den Angeklagten günstigere Regelung darstellt (§ 2 Abs. 3 StGB).
Die vom Landgericht vorgenommene Auslegung, nach der § 46 b Abs. 3 StGB i. V. m. § 31 Satz 2 BtMG nF auch dann Anwendung finden soll, wenn dies zur Versagung einer nach alter Rechtslage gegebenen Milderungsmöglichkeit nach § 31 BtMG führt und damit eine für den Angeklagten nachteilige Änderung des zur Tatzeit geltenden materiellen Rechts darstellt, findet in der Gesetzesbegründung keine Stütze. Diese geht erkennbar nur von der Derogation des Meistbegünstigungsprinzips (§ 2 Abs. 3 StGB) aus. Auch die dortige Formulierung, dass § 46 b StGB in Strafverfahren "anwendbar" sei, in denen bei Inkrafttreten der Neuregelung am 1. September 2009 noch kein Eröffnungsbeschluss ergangen sei (BTDrucks. aaO), kann keinen Anwendungsautomatismus in Bezug auf die neuen Vorschriften begründen. Zwar wird die mit dem 43. StrÄndG eingeführte Kronzeugenregelung in Kriminalitätsbereichen, in denen es bislang keine entsprechenden bereichsspezifischen Vorschriften gab, die mildere Regelung darstellen und daher gemäß § 2 Abs. 3 StGB in nach dem 1. September 2009 eröffneten Verfahren regelmäßig Anwendung finden. Dies ist jedoch in Bereichen, in denen schon bisher sog. "kleine Kronzeugenregelungen" galten (§ 31 BtMG aF, § 261 Abs. 10 StGB aF), nicht der Fall. Hier ist im Einzelfall zu entscheiden, ob die neue oder die alte Regelung der Rechtsfolgen einer Aufklärungs- bzw. Präventionshilfe in ihrer Gesamtheit die für den Angeklagten günstigere Gesetzeslage darstellt.
Einer Auslegung des Art. 316 d EGStGB dahin, dass in den ab dem 1. September 2009 eröffneten Verfahren stets § 31 BtMG nF anzuwenden ist, kann auch deshalb nicht gefolgt werden, weil dies eine Änderung der mit Verfassungsrang (Fischer, StGB 57. Aufl. § 2 Rdn. 2; Eser aaO Rdn. 1) versehenen Vorschrift des § 2 Abs. 1 StGB und damit einen Verstoß gegen das im Strafrecht absolut geltende Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) darstellen würde. Zu den vom Rückwirkungsverbot erfassten Normen gehören auch jene Regeln, die über die Art und Weise der Rechtsfolgen der Erfüllung eines Straftatbestandes entscheiden und damit auch die Vorschriften über die Strafzumessung (vgl. BVerfGE 105, 135, 156 f.; Schulze-Fielitz in H. Dreier, Grundgesetz-Kommentar 2. Aufl. Art. 103 Abs. 2 Rdn. 24). Dass § 31 BtMG tatbestandlich an das Nachtatverhalten und einen etwaigen Aufklärungserfolg anknüpft, mithin an Sachverhalte, die (teilweise) in die Zeit nach Inkrafttreten des 43. StrÄndG fallen, ändert daran nichts. Mit der gesetzlichen Bestimmung der Strafbarkeit ist der gesamte sachliche Rechtszustand gemeint, von dem die Zulässigkeit und die Modalitäten der Ahndung einer Straftat abhängen (Fischer aaO § 1 Rdn. 15; Eser aaO § 2 Rdn. 20; Rudolphi in SK-StGB § 2 Rdn. 8; Schmitz in MünchKomm-StGB § 2 Rdn. 10; Schulze-Fielitz aaO Rdn. 23 ff., 50).
2. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum Strafausspruch können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Im Rahmen der neuen Strafzumessung sind ergänzende Feststellungen, insbesondere zur Frage eines Aufklärungserfolges, möglich, sofern sie den bisher getroffenen nicht widersprechen.
Becker Pfister Sost-Scheible
Hubert Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062440
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BGH
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3. Strafsenat
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20100304
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StB 46/09
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Beschluss
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§ 475 StPO, § 478 StPO, § 55 StPO
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DEU
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Strafverfahren: Akteneinsichtsrecht des Zeugenbeistandes und des Zeugen hinsichtlich der Kenntnis von der Aussage anderer Zeugen; Auskunftsverweigerungsrecht eines Zeugen wegen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung
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Die Beschwerde des Zeugen E. gegen den Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 9. September 2009 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
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I.
Der Generalbundesanwalt führt ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Mordes, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und anderer Straftaten. Gegenstand ist die Tötung des damaligen hessischen Ministers für Wirtschaft und Technik Heinz-Herbert Karry in Frankfurt am Main am 11. Mai 1981 durch unbekannte Mitglieder der terroristischen Vereinigung "Revolutionäre Zellen" (RZ).
In diesem Verfahren hat der Zeuge M. am 18. Januar 2001 Angaben gemacht über Gespräche, die ab Frühjahr 1986 bis Anfang 1990 unter Angehörigen der "Revolutionären Zellen" geführt worden sind und die einzelne Umstände des Todes von Minister Karry zum Gegenstand hatten. An diesen Gesprächen soll nach Angaben des Zeugen auch der Beschwerdeführer teilgenommen haben.
Der Generalbundesanwalt hat, nachdem der Beschwerdeführer bei einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung am 29. Juli 2009 unter Berufung auf § 55 StPO die Beantwortung jeder Frage zur Sache verweigert hatte, die richterliche Vernehmung beantragt. Vor dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat der Beschwerdeführer am 9. September 2009 im Beisein des ihm beigeordneten Zeugenbeistands, Frau Rechtsanwältin W. , erklärt, er werde keine Fragen zu dem Beweisthema "Zuhörer bei Gesprächen, anlässlich derer die Ermordung von Minister Karry Gegenstand war" beantworten.
Darauf hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs gemäß § 70 Abs. 1 und 2 StPO durch den angefochtenen Beschluss gegen den Zeugen ein Ordnungsgeld von 200 €, ersatzweise für je 100 € einen Tag Ordnungshaft festgesetzt und Erzwingungshaft längstens bis zur Dauer von sechs Monaten angeordnet, die Vollziehung der Beugehaft jedoch bis zur Entscheidung über die Beschwerde gegen deren Anordnung ausgesetzt.
Im Beschwerdeverfahren hat Rechtsanwältin W. beantragt, ihr für den Fall, dass der Senat die Ansicht vertrete, dem Beschwerdeführer stünde ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht zu, Einsicht in die vollständigen Ermittlungsakten zu gewähren. Hiergegen hat der Generalbundesanwalt Bedenken erhoben.
II.
Das Rechtsmittel ist hinsichtlich der Erzwingungshaft gemäß § 304 Abs. 5 StPO zulässig (BGHSt 36, 192). Der Senat kann darüber entscheiden, ohne dass dem Beistand des Beschwerdeführers die begehrte Akteneinsicht gewährt worden ist, da ein Akteneinsichtsrecht hier nicht besteht. In der Sache bleibt die Beschwerde ohne Erfolg.
1. Die Entscheidung über die Akteneinsicht steht vorliegend dem Generalbundesanwalt zu, da es sich um ein Ermittlungsverfahren handelt (§ 478 Abs. 1 Satz 1 1. Halbs. StPO). Daran ändert die Tatsache nichts, dass die Akten dem Senat zur Entscheidung über eine Beschwerde vorliegen. Ein Fall von § 478 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. StPO ist deswegen nicht gegeben (Gieg in KK 6. Aufl. § 478 Rdn. 2). Der Senat hat indes aus Vereinfachungsgründen davon abgesehen, den Beschwerdeführer darauf zu verweisen, zunächst eine förmliche Entscheidung des Generalbundesanwalts über das Akteneinsichtsgesuch zu erwirken und sodann ggf. gemäß § 478 Abs. 3 StPO gegen eine Ablehnung der Akteneinsicht gerichtliche Entscheidung zu beantragen, da er nach § 161 a Abs. 3 StPO, § 135 Abs. 2 GVG auch darüber zu entscheiden hätte.
2. Dem anwaltlichen Zeugenbeistand steht im Gegensatz zu dem Verteidiger (vgl. § 147 Abs. 1 StPO) ein eigenes Recht auf Akteneinsicht nicht zu. Seine Rechtsstellung leitet sich aus der des Zeugen ab. Er hat keine eigenen Rechte als Verfahrensbeteiligter und keine weitergehenden Befugnisse als der Zeuge selbst. Dieser hat, sofern er nicht Verletzter ist, ein Akteneinsichtsrecht nur als "Privatperson" im Sinne von § 475 StPO (HansOLG Hamburg NJW 2002, 1590; KG, Beschl. vom 7. Februar 2008 (1) 2 BJs 58/06-2 (2/08) - juris m. w. N.; Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 68 b Rdn. 24). Ein berechtigtes Interesse an der Kenntnis der Ermittlungsakten im Sinne von § 475 Abs. 1 Satz 1 StPO hat der Beschwerdeführer nicht. Dies gilt insbesondere, soweit es um die Kenntnis des Zeugen von der Aussage anderer Zeugen geht, was schon aus § 58 Abs. 1, § 243 Abs. 2 Satz 1 StPO folgt: Danach ist ein Zeuge in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen; während der Einlassung des Angeklagten (sofern diese vor der Zeugenvernehmung abgegeben wird) hat er den Sitzungssaal zu verlassen. Der Zeuge soll auf diese Weise unbeeinflusst von der Kenntnis der Angaben Dritter aussagen (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 58 Rdn. 2). Insoweit stehen zugleich Zwecke des Strafverfahrens der Akteneinsicht entgegen (§ 477 Abs. 2 Satz 1 StPO). Der Beweiswert der Aussage des Beschwerdeführers wäre gemindert, wenn er vor ihr im Einzelnen wüsste, was andere Zeugen zu dem Beweisthema bekundet haben.
3. Dem Beschwerdeführer steht kein Auskunftsverweigerungsrecht in dem von ihm in Anspruch genommenen Umfang zu.
a) § 55 Abs. 1 StPO gewährt dem Zeugen das Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen Angehörigen der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder - was hier indes nicht in Betracht kommt - einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Eine Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO ist anzunehmen, wenn eine Ermittlungsbehörde aus einer wahrheitsgemäßen Aussage des Zeugen Tatsachen entnehmen könnte, die sie zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (§ 152 StPO) veranlassen oder zur Aufrechterhaltung oder Verstärkung eines Tatverdachts führen könnte. Hierfür genügt es bereits, wenn der Zeuge bestimmte Tatsachen angeben müsste, die lediglich mittelbar den Verdacht einer Straftat begründen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die wahrheitsgemäße Beantwortung einer Frage zwar allein eine Strafverfolgung nicht auslösen, jedoch "als Teilstück in einem mosaikartigen Beweisgebäude" zu einer Belastung des Zeugen beitragen könnte (vgl. BGH NJW 1999, 1413). Für die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung muss es konkrete tatsächliche Anhaltspunkte geben; bloße Vermutungen oder rein denktheoretische Möglichkeiten reichen nicht aus (BGH NStZ 1999, 415, 416).
Selbst wenn danach von einer Verfolgungsgefahr ausgegangen werden muss, so ist der Zeuge gemäß § 55 Abs. 1 StPO grundsätzlich nur berechtigt, die Auskunft auf einzelne Fragen zu verweigern. Nur ausnahmsweise ist er zu einer umfassenden Verweigerung der Auskunft befugt, wenn seine gesamte in Betracht kommende Aussage mit einem möglicherweise strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass im Umfang der vorgesehenen Vernehmungsgegenstände nichts übrig bleibt, wozu er ohne die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat wahrheitsgemäß aussagen könnte (vgl. BGH NStZ 2002, 607; NStZ-RR 2005, 316). Dies gilt auch im Hinblick auf die Vernehmung zu einem einzelnen Tatsachenkomplex.
b) Eine solche Gefahr hat der Beschwerdeführer weder glaubhaft gemacht noch ist sie ersichtlich. Im Einzelnen gilt:
Der Beschwerdeführer ist durch Urteil des Kammergerichts vom 15. Juli 2004 wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Die Tat hat er nach den Feststellungen des rechtskräftigen Urteils im Rahmen seiner mitgliedschaftlichen Beteiligung bei den "Revolutionären Zellen" begangen. Er war danach "im April 1986" aufgefordert worden, dieser Vereinigung beizutreten, und war dem Ansinnen "einige Wochen später" gefolgt. Seine Mitgliedschaft endete mit dem Zerfall der Berliner Gruppe der "Revolutionären Zellen" im Frühjahr 1988. Die gegen den Beschwerdeführer erhobenen Anklagevorwürfe der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129 a StGB) sowie des Herbeiführens einer weiteren Sprengstoffexplosion sind im Verfahren vor dem Kammergericht im Zusammenhang mit einer verfahrensbeendenden Absprache gemäß § 154 a Abs. 2 StPO ausgeschieden worden, nachdem der Angeklagte eine geständige Einlassung abgegeben hatte.
Würde der Beschwerdeführer bekunden, an Gesprächen teilgenommen zu haben, die ab Frühjahr 1986 bis Anfang 1990 unter Angehörigen der "Revolutionären Zellen" geführt worden sind, so wäre eine Gefahr erneuter Verfolgung wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung aufgrund der sich auch auf die ausgeschiedenen Rechtsverletzungen erstreckenden Rechtskraft des Urteils des Kammergerichts zweifellos ausgeschlossen (vgl. Meyer-Goßner aaO § 154 a Rdn. 28).
Es liegen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass eine solche Tatsachenbekundung den Beschwerdeführer darüber hinaus in die Gefahr einer Strafverfolgung wegen der Beteiligung an der Tötung von Herrn Karry bringen könnte. Dass er sich ab Frühjahr 1986 an der terroristischen Vereinigung mitgliedschaftlich beteiligt hat, steht seit Jahren aufgrund seiner geständigen Einlassung vor dem Kammergericht fest. Zurecht hat der Generalbundesanwalt mehrfach darauf hingewiesen, es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer vor dem im Urteil des Kammergerichts festgestellten Zeitpunkt sowie nach Auflösung der Berliner Gruppe Mitglied der "Revolutionären Zellen" gewesen ist oder gar an dem Tötungsverbrechen im Jahr 1981 beteiligt war.
In gleicher Weise ist nicht zu erkennen, dass sich der Beschwerdeführer der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung wegen sonstiger Vorwürfe aussetzen könnte, wenn er einräumen würde, bei den Gesprächen Erkenntnisse über mögliche Beteiligte an der Tötung gewonnen oder Vermutungen darüber angestellt zu haben, ohne in der Folgezeit den Strafverfolgungsbehörden darüber Mitteilung zu machen.
Nach alledem kann der Beschwerdeführer sich für die pauschale Verweigerung, auf Fragen zu dem Komplex "Zuhörer bei Gesprächen, anlässlich derer die Ermordung von Minister Karry Gegenstand war" zu antworten, nicht auf § 55 StPO berufen. Angesichts der Schwere der aufzuklärenden Straftat ist die Anordnung von Erzwingungshaft auch verhältnismäßig.
Becker Pfister Hubert
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062441
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BGH
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1. Strafsenat
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20100427
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1 StR 454/09
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Urteil
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§ 344 StPO, § 370 AO
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vorgehend LG München I, 6. April 2009, Az: 5 KLs 304 Js 39920/06, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Zulässigkeit der Beschränkung der Revision auf einen Teilfreispruch bei einer Tatserie von Steuerhinterziehungen
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München I vom 6. April 2009 aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen mit einem Verkürzungsumfang von insgesamt mehr als 180.000 Euro zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Gegen diesen Teilfreispruch wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
In der Anklageschrift vom 22. Dezember 2008 wird dem Angeklagten zur Last gelegt, in 29 Fällen Umsatzsteuer und in 34 Fällen Lohnsteuer hinterzogen zu haben sowie in 35 Fällen im Sinne von § 266a StGB Arbeitsentgelt vorenthalten zu haben.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, vom Jahr 2000 bis zum dritten Quartal des Jahres 2005 als Geschäftsführer der F. GmbH (im Folgenden: F. GmbH) fortlaufend Arbeitnehmer beschäftigt zu haben, die entweder überhaupt nicht zur Sozialversicherung gemeldet worden seien oder für die er den zuständigen Einzugsstellen niedrigere als tatsächlich gezahlte Löhne gemeldet habe. Die insoweit nicht gemeldeten Lohnaufwendungen habe er auch in den Lohnsteueranmeldungen der Gesellschaft nicht angegeben.
Um zu verschleiern, dass die von der F. GmbH gezahlten Löhne „schwarz“ ausgezahlt worden seien, habe der Angeklagte veranlasst, dass Scheinrechnungen (Abdeckrechnungen) der Firmen „D.“, „K.-Bau“, „I. GmbH“ sowie der Firma „G.“ in die Buchhaltung der F. GmbH aufgenommen worden seien. Die in den Rechnungen enthaltenen Umsatzsteuern habe der Angeklagte zu Unrecht in die Umsatzsteuervoranmeldungen der GmbH aufgenommen.
Schließlich habe der Angeklagte von der F. GmbH an die Kl. GmbH sowie die Firma E. erbrachte Umsätze nicht gegenüber den Finanzbehörden angemeldet und dadurch Umsatzsteuern hinterzogen.
Insgesamt habe der Angeklagte hierdurch mehr als 316.000 Euro an Umsatzsteuern und 327.000 Euro an Lohnsteuern verkürzt sowie Beitragsanteile zur Sozialversicherung von mehr als 304.000 Euro nicht an die Einzugsstellen abgeführt.
II.
1. Das Landgericht hat den Angeklagten aufgrund seines Geständnisses wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen mit einer Gesamtverkürzungssumme von 180.000 Euro an Umsatzsteuern verurteilt. Die Verurteilung bezieht sich auf die Voranmeldungszeiträume November und Dezember 2003 und April bis Juli 2004 sowie auf das II. und III. Quartal 2005. Das Landgericht hat insoweit festgestellt, dass der Angeklagte in diesen Zeiträumen Ausgangsumsätze an die Kl. GmbH im Umfang von insgesamt mehr als 103.000 Euro und an die Firma E. in der Höhe von mehr als 1,2 Mio. Euro nicht in die für die F. GmbH beim Finanzamt einzureichenden Umsatzsteuervoranmeldungen aufgenommen hatte.
2. Hinsichtlich der Voranmeldungszeiträume August bis Dezember 2004 und I. Quartal 2005 hat das Landgericht das Verfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. Im Übrigen hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen.
3. Bezüglich des Teilfreispruchs hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte ist seit der Gründung der F. GmbH im Jahr 2000 einziger Gesellschafter und eingetragener Geschäftsführer dieser Gesellschaft. Die F. GmbH wurde in den Jahren 2000 bis 2005 im Bereich Trockenbau tätig und erbrachte hierbei im Wesentlichen Trockenbau- und Verputzarbeiten. Dabei setzte die Gesellschaft sowohl eigene Arbeitnehmer als auch Subunternehmer ein. Dass der Angeklagte hierbei zu Unrecht Vorsteuern aus Scheinrechnungen der Firmen „D.“, „K.-Bau“, I. GmbH“ sowie der Firma „G.“ geltend gemacht habe, konnte das Landgericht „nicht mit einer zur Verurteilung ausreichenden Sicherheit“ feststellen. Dasselbe gilt für den Vorwurf, der Angeklagte habe die in den Rechnungen ausgewiesenen Beträge als „Schwarzlöhne“ an Arbeitnehmer der F. GmbH ausbezahlt. Vielmehr hat das Landgericht ausdrücklich festgestellt, dass die genannten Firmen nicht ausschließbar als Subunternehmer der F. GmbH tätig gewesen und die Rechnungsbeträge an diese Firmen auch ausbezahlt worden sind.
Das Landgericht hat den Angeklagten insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Es ist der Ansicht, dass dem Angeklagten - abgesehen von der Umsatzsteuerhinterziehung hinsichtlich der nicht angemeldeten Ausgangsumsätze - die ihm vorgeworfenen Taten nicht mit der für eine Verurteilung ausreichenden Sicherheit nachgewiesen werden konnten.
III.
Die Staatsanwaltschaft hat die Revision wirksam auf den Teilfreispruch beschränkt. Damit sind auch die Strafaussprüche hinsichtlich der Verurteilung wegen Hinterziehung von Umsatzsteuer in den Voranmeldungszeiträumen November und Dezember 2003 sowie April bis Juli 2004 und das II. und III. Quartal 2005 vom Revisionsangriff ausgenommen. Denn die Hinterziehung von Umsatzsteuer durch Nichtanmeldung von Ausgangsumsätzen einerseits und durch unberechtigte Geltendmachung von Vorsteuern andererseits stellt für jeden Voranmeldungszeitraum eine einheitliche Tat der Steuerhinterziehung im materiell-rechtlichen Sinn dar. Maßgeblich für den materiell-rechtlichen Tatbegriff sind die steuerlichen Erklärungspflichten (vgl. zur Hinterziehung von Einkommensteuer BGH wistra 2009, 465). Die Abgabe jeder einzelnen unrichtigen Steuererklärung ist deshalb grundsätzlich als einheitliche, selbständige Tat im Sinne des § 53 StGB zu werten; bei Steuerhinterziehung durch Unterlassen ist ebenfalls im Hinblick auf jede Steuerart, jeden Besteuerungszeitraum und jeden Steuerpflichtigen von einer selbständigen Tat auszugehen (vgl. BGH wistra 2005, 30 und wistra 2008, 266; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht 7. Aufl. § 370 AO Rdn. 305).
Die Strafaussprüche werden hier auch nicht etwa deswegen vom Revisionsangriff umfasst, weil die von der Staatsanwaltschaft gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts vorgebrachten Einwände die von der Verurteilung erfassten Voranmeldungszeiträume ebenfalls betreffen. Denn der Wortlaut der Beschränkung der Revision auf den „Teilfreispruch“ ist eindeutig; zudem können die vom Teilfreispruch erfassten Tatvorwürfe losgelöst von den vom Schuldspruch umfassten Taten beurteilt werden.
Auch bei einer Tatserie von Steuerhinterziehungen bleiben die Einzeltaten rechtlich und tatsächlich selbständig und sind einer isolierten Bewertung zugänglich. Ist dies aber der Fall, gebietet die den Rechtsmittelberechtigten eingeräumte Gestaltungsmacht über den Verfahrensgegenstand, den in den Rechtsmittelerklärungen zum Ausdruck kommenden Gestaltungswillen im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren. Das Revisionsgericht kann und darf diejenigen Entscheidungsteile nicht nachprüfen, deren Nachprüfung von keiner Seite begehrt wird, wenn und soweit der angegriffene Entscheidungsteil trennbar ist, also losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt geprüft und beurteilt werden kann (st. Rspr.; vgl. BGHSt 29, 359, 364). So verhält es sich auch hier.
Hätte die Staatsanwaltschaft neben den Teilfreisprüchen auch - soweit der Angeklagte verurteilt worden ist - die Strafaussprüche angreifen wollen, um im Hinblick auf ungerechtfertigte Vorsteueranmeldungen und damit einen größeren Schuldumfang höhere Einzelstrafen erreichen zu können (vgl. dazu BGHR StPO § 344 Abs. 1 Beschränkung 17), hätte sie dies bei der Revisionsbeschränkung klar zum Ausdruck bringen müssen.
IV.
Der Teilfreispruch hat keinen Bestand; er leidet an durchgreifenden Rechtsfehlern.
Es kann dahinstehen, ob - was nahe liegt - das Urteil bereits den formellen Anforderungen, die an eine Freispruchsbegründung zu stellen sind (vgl. dazu BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 5, 10) nicht genügt. Jedenfalls hält die Beweiswürdigung rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Allerdings muss es das Revisionsgericht grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur BGH wistra 2008, 22, 24; 2007, 18, 19; jew. m.w.N.). Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt, die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen, ohne eine Gesamtabwägung aller für und gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 1; BGH NStZ 1983, 133; jew. m.w.N.). Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt auch, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; BGH NStZ-RR 2005, 147; NStZ 2004, 35, 36; wistra 1999, 338, 339; jew. m.w.N.).
2. Gemessen an diesen Maßstäben kann die Beweiswürdigung keinen Bestand haben.
a) In der Beweiswürdigung muss sich das Tatgericht mit allen festgestellten Indizien auseinandersetzen, die geeignet sind, das Beweisergebnis zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen. Dabei muss sich aus den Urteilsgründen selbst ergeben, dass es die Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen hat. Denn die Indizien können in ihrer Gesamtheit dem Gericht die entsprechende Überzeugung vermitteln, auch wenn eine Mehrzahl von Beweisanzeichen jeweils für sich allein nicht zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreicht (BGH NStZ-RR 2003, 369 f. m.w.N.).
Hier hat sich das Landgericht mit den einzelnen den Angeklagten belastenden Indizien lediglich isoliert auseinandergesetzt und dabei jeweils die Wertung getroffen, dass hiermit der Beweis für einen den Angeklagten belastenden Geschehensablauf nicht zu führen sei. Diese Vorgehensweise lässt besorgen, dass das Landgericht den Zweifelsgrundsatz rechtsfehlerhaft schon auf einzelne Indiztatsachen angewandt und so den Blick dafür verloren hat, dass auch Indizien, die einzeln nebeneinander stehen, aber jeweils für sich einen Hinweis auf die Täterschaft des Angeklagten enthalten, in ihrer Gesamtheit die Überzeugung des Tatrichters von dessen Schuld begründen können (vgl. BGH NStZ-RR 2000, 45; BGH, Beschl. vom 16. Dezember 2009 - 1 StR 491/09).
b) Die Beweiswürdigung ist auch deswegen durchgreifend rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht mehrere dem Angeklagten günstige Umstände als „nicht ausschließbar“ unterstellt hat, obwohl hierfür keine tatsächlichen Anhaltspunkte gegeben waren. Zudem hat es auch Einlassungen des Angeklagten als „nicht zu widerlegen“ angesehen, für deren Richtigkeit keine Anhaltspunkte ersichtlich waren.
So hielt das Landgericht etwa für nicht ausschließbar, dass die Arbeiter der verschiedenen Gewerke jeweils nacheinander auf der Baustelle ihre Tätigkeiten verrichteten und sich daher auch nicht kannten (UA S. 36). Zudem hielt es für nicht ausgeschlossen, dass eine Person namens „Ka. oder auch ein anderer“ die Firma Kö. ohne das Wissen der Inhaberin dieser Firma für eigene Zwecke benutzt habe (UA S. 37). Auch sonst könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Namen der als „Scheinfirmen“ bezeichneten Firmen von Nichtberechtigten für eigene Zwecke verwendet worden seien (UA S. 39). Der „Nachweis von Scheinrechnungen“ lasse sich auch nicht dadurch führen, dass auf dem Computer des Angeklagten Blankorechnungsformulare der Firma Kö. gefunden worden sind. Vielmehr sei die Einlassung des Angeklagten „nicht zu widerlegen“, er habe „aus Gefälligkeit“ Rechnungen für andere Firmen ausgedruckt (UA S. 27, 37). Ebenso sei dem Angeklagten „nicht zu widerlegen“, dass Mängelrügen bereits vor der Rechnungsstellung mit den Subunternehmern besprochen worden seien, so dass „ein Nachweis“ von Scheinrechnungen aufgrund unterlassener Korrekturen in diesen Rechnungen nicht zu führen sei (UA S. 38). Die Vermutung, die von der Staatsanwaltschaft als Scheinfirmen angesehenen Firmen hätten mit den bei den Sozialbehörden gemeldeten Arbeitnehmern die in der Buchhaltung der F. GmbH erfassten Umsätze nicht erwirtschaften können, könne „schon deshalb nicht bewiesen“ werden, weil „nicht ausgeschlossen“ sei, dass diese Firmen ihrerseits Subunternehmer oder Arbeitnehmer beschäftigten, die nicht bei den Sozialbehörden angemeldet gewesen seien (UA S. 38). Auch wenn sich bei Zugrundelegung tatsächlicher Fremdleistungen der Firmen Kö. und K.-Bau ein kalkulatorischer Verlust ergebe, sei dies „zum Nachweis“ der dem Angeklagten angelasteten Vorwürfe nicht geeignet; denn „unwiderlegt“ habe der Angeklagte sich eingelassen, es würden regelmäßig beim Arbeitsamt überhöhte Auftragssummen genannt, um ausländische Arbeitnehmer nicht nur bei den vom Arbeitsamt genehmigten, sondern auch an anderen Baustellen einsetzen zu können (UA S. 38).
Diese Ausführungen lassen besorgen, das Landgericht habe nicht beachtet, dass es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten ist, zugunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine zureichenden Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH NStZ-RR 2003, 371; BGH, Urt. vom 21. Juni 2007 - 5 StR 532/06). Jedenfalls stellt es einen Rechtsfehler dar, wenn eine nach den Feststellungen nicht nahe liegende Schlussfolgerung gezogen wurde, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können (BGH, Urt. vom 16. Dezember 2009 - 1 StR 491/09). So verhält es sich hier. Insbesondere für die fernliegende Annahme des Landgerichts, alle vier verfahrensgegenständlichen vom Angeklagten als Subunternehmer bezeichneten Firmen könnten von Nichtberechtigten für eigene Zwecke verwendet worden seien (UA S. 39), sind vom Landgericht keine tatsächlichen Anhaltspunkte dargelegt worden.
c) Unter diesen Umständen ist auch die sehr knapp gehaltene Gesamtwürdigung der festgestellten Umstände (UA S. 39) rechtsfehlerhaft.
Allein daraus, dass ein bestimmtes Ergebnis nicht fern oder sogar nahe liegt, folgt zwar nicht, dass das Tatgericht im Einzelfall nicht auch rechtsfehlerfrei zu einem anderen Ergebnis kommen kann. Verwirft es jedoch die nahe liegenden Deutungsmöglichkeiten und führt zur Begründung seiner Zweifel an der Täterschaft eines Angeklagten nur Schlussfolgerungen an, für die es nach der Beweisaufnahme keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt, oder die als eher fern liegend zu betrachten sind, so muss in der Gesamtwürdigung erkennbar werden, dass sich das Tatgericht dieser besonderen Konstellation bewusst ist. Andernfalls besteht nämlich die Besorgnis, dass das Tatgericht überspannte Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 248 f.). So verhält es sich hier. Die Sache bedarf daher neuer tatgerichtlicher Prüfung und Entscheidung, soweit das Landgericht den Angeklagten freigesprochen hat.
Nack Wahl Hebenstreit
Graf Jäger
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062443
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BGH
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2. Strafsenat
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20100414
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2 StR 87/10
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Beschluss
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§ 30 StGB
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vorgehend LG Frankfurt, 6. November 2009, Az: 5/27 KLs 36/08 - 3970 Js 203074/06, Urteil
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DEU
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Versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen: Konkurrenz zur Begehung des Verbrechens durch den Auffordernden selbst
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 6. November 2009 aufgehoben
a) soweit der Angeklagte im Fall II.1 der Urteilsgründe verurteilt worden ist; der Schuldspruch wegen versuchter Anstiftung zur besonders schweren Brandstiftung entfällt,
b) im gesamten Strafausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung gemäß Nr. 1.b) wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter Anstiftung zu einer besonders schweren Brandstiftung (Einzelfreiheitsstrafe zwei Jahre und drei Monate) und wegen versuchter besonders schwerer Brandstiftung (Einsatzstrafe drei Jahre und drei Monate) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Verletzung des sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen versuchte der Angeklagte etwa eine Woche vor dem 1. Dezember 2005 vergeblich, einen Bekannten dazu zu bestimmen, gegen eine Belohnung von 5.000 Euro das von dem Angeklagten in einem Wohn- und Geschäftshaus betriebene Ladengeschäft niederzubrennen. Auf diese Weise wollte der Angeklagte unberechtigterweise in den Genuss von verschiedenen Versicherungsleistungen gelangen.
Am 1. Dezember 2005 legte der Angeklagte selbst in seinem Ladengeschäft Feuer. Die alsbald von Passanten alarmierte Feuerwehr konnte den Brand vor dem Übergreifen des Feuers auf wesentliche Gebäudeteile löschen und mehrere aufgrund der starken Rauchentwicklung hustende Personen aus dem Obergeschoss des Gebäudes evakuieren. Die planmäßig in Anspruch genommene Versicherungsgesellschaft verweigerte die Zahlung.
2. a) Diese Feststellungen tragen zwar den Schuldspruch wegen versuchter besonders schwerer Brandstiftung, nicht aber die zusätzliche Verurteilung wegen versuchter Anstiftung zu einer besonders schweren Brandstiftung. Durch § 30 StGB werden einzelne Vorbereitungshandlungen wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit unter Strafe gestellt; für eine Verurteilung nach § 30 StGB ist indes dann kein Raum mehr, wenn nach einer versuchten Anstiftung der Auffordernde selbst das Verbrechen begeht oder zu begehen versucht, zu dem er einen anderen vergeblich zu bestimmen versucht hat (BGHSt 8, 38 ff.; BGHR StGB § 30 Abs. 1 Satz 1 Konkurrenzen 3 und 6). Die versuchte Anstiftung tritt dann als mitbestrafte Vortat zurück, der diesbezügliche Schuldspruch entfällt, ohne dass es insoweit eines Freispruchs bedarf (BGHR aaO Konkurrenzen 2 und 3 vgl. auch Rissing-van Saan in LK, 12. Aufl. vor § 52 Rdn. 150 m.w.N.).
b) Die teilweise Aufhebung des Schuldspruchs führt auch zur Aufhebung des Strafausspruchs. Der Anregung des Generalbundesanwalts, die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten als Einzelstrafe für die versuchte besonders schwere Brandstiftung festzusetzen, folgt der Senat nicht. Zwar wird der Unrechtsgehalt der versuchten Anstiftung von der Verurteilung wegen versuchter besonders schwerer Brandstiftung mit erfasst und ist dort im Rahmen der Strafzumessung mit zu berücksichtigen (vgl. BGHR aaO Konkurrenzen 2 und 3). Allerdings vermag der Senat angesichts der Höhe der verhängten Einzelstrafen nicht sicher auszuschließen, dass die Strafkammer bei richtiger Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses eine niedrigere Freiheitsstrafe als vier Jahre und neun Monate für die allein auszuurteilende versuchte besonders schwere Brandstiftung verhängt hätte.
Der Aufhebung von Feststellungen zur Strafzumessung bedarf es nicht. Der neue Tatrichter hat lediglich eine neue Bewertung vorzunehmen. Ergänzende, nicht widersprechende Feststellungen zur Strafe sind möglich.
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Schmitt
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062446
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BGH
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3. Strafsenat
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20100401
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3 StR 456/09
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Beschluss
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§ 306a Abs 1 Nr 1 StGB
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vorgehend LG Kiel, 30. März 2009, Az: 10 KLs 12/08 - 573 Js 15038/08, Urteil
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DEU
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Brandstiftung: Inbrandsetzen eines Wohnmobils als schwere Brandstiftung
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 30. März 2009 aufgehoben
a) soweit der Angeklagte wegen schwerer Brandstiftung (Fall II. 10. der Urteilsgründe) verurteilt ist; jedoch bleiben die Feststellungen aufrechterhalten;
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Brandstiftung in zwei Fällen, Brandstiftung in fünf Fällen und Sachbeschädigung in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit Verfahrensrügen sowie sachlichrechtlichen Beanstandungen. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet.
Das Landgericht hat sich aufgrund einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung davon überzeugt, dass der Angeklagte während eines Zeitraums von gut eineinhalb Jahren in elf Fällen fremde Sachen in Brand gesetzt hat.
1. Die Verurteilung wegen schwerer Brandstiftung (§ 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB) im Fall II. 10. der Urteilsgründe hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Nach den Feststellungen entschloss sich der Angeklagte, den hinter dem Wohngebäude Birkenweg 40 befindlichen Schuppen anzuzünden. Mit Feuerzeugbenzin und Grillanzündern entzündete er den Schuppen, so dass dessen Holzwand selbständig brannte. Es bestand die Gefahr, dass von dem Schuppen das Feuer letztlich auf das Wohngebäude übergriff.
Damit ist nicht belegt, dass der Angeklagte ein Gebäude, das der Wohnung von Menschen dient, in Brand gesetzt hat (§ 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB). Der Schuppen diente diesem Zweck nicht, sondern wurde als Lagerraum verwendet. Es lässt sich weder den Urteilsgründen noch den dort in Bezug genommenen Lichtbildern entnehmen, dass er mit dem Wohngebäude in einer solchen Weise verbunden war, dass von einem einheitlichen, mehreren Zwecken dienenden Gebäude ausgegangen werden kann, bei dem die die Tat qualifizierende Strafvorschrift schon eingreift, wenn der Täter allein den nicht zum Wohnen dienenden Teil niederbrennen will (vgl. Wolff in LK 12. Aufl. § 306 a Rdn. 12 m. w. N.). Allein die im Urteil festgestellte Gefahr, dass das Feuer vom Schuppen auf das Wohnhaus hätte übergreifen können, reicht für die Annahme eines einheitlichen Gebäudes nicht.
Weitergehende Feststellungen sind nicht ausgeschlossen. Der Senat ist daher daran gehindert, den Schuldspruch auf Brandstiftung (§ 306 Abs. 1 StGB) umzustellen. Die bisherigen Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatgeschehen können aufrechterhalten bleiben, da sie sich weder zur Verbindung der Gebäude noch zur Kenntnis des Angeklagten hiervon und von seinen Vorstellungen zum Übergreifen des Feuers auf das Wohnhaus verhalten. Insoweit sind ergänzende Feststellungen, die den bisherigen nicht widersprechen dürfen, möglich.
2. Im Übrigen sind die Schuldsprüche nicht zu beanstanden. Näherer Erörterung bedarf nur die Verurteilung wegen besonders schwerer Brandstiftung (§ 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB) im Fall II. 9. der Urteilsgründe.
Nach den Feststellungen des Landgerichts bespritzte der Angeklagte nachts ein auf einem Parkplatz stehendes Wohnmobil an der linken Heckseite mit Feuerzeugbenzin, setzte das Fahrzeug in Brand und entfernte sich. Das Landgericht konnte nicht ausschließen, dass er dabei davon ausging, dass sich kein Mensch in dem Wohnmobil aufhielt. Tatsächlich aber hatte sich dort der Eigentümer zum Schlafen hingelegt. Die von einem zufällig vorbeifahrenden Autofahrer alarmierte Polizei konnte das Wohnmobil, das inzwischen selbständig zu brennen begonnen hatte, löschen. Hiervon wurde der Eigentümer wach und konnte das Fahrzeug unverletzt verlassen. Ohne das Eingreifen Dritter hätte das Feuer den gesamten hölzernen Aufbau des Wohnmobils ergreifen und Gesundheit oder Leben des Insassen gefährden können.
Zutreffend hat das Landgericht den Angeklagten insoweit wegen schwerer Brandstiftung (§ 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB) verurteilt. Bei dem in Brand gesetzten Wohnmobil handelt es sich um eine "andere Räumlichkeit, die der Wohnung von Menschen dient".
Durch das 6. StRG ist der Bereich der besonders geschützten Tatobjekte erweitert worden. Er umfasst nicht mehr nur Gebäude, Schiffe und Hütten, sondern allgemein Räumlichkeiten, die der Wohnung von Menschen dienen. Damit sollen auch ungewöhnliche Formen des Wohnens etwa in Wohn- oder Künstlerwagen geschützt werden (vgl. BGHSt 48, 14, 18 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien BTDrucks. 13/8587 S. 68, 86, 88). Das Wohnmobil dient seinem Nutzer - wie schon seine Bezeichnung nahelegt - zumindest vorübergehend als Mittelpunkt der (privaten) Lebensführung und damit zur Wohnung (vgl. BGHR StGB § 306 a Abs. 1 Nr. 1 Wohnung 5 m. w. N.; Heine in Schönke/ Schröder, StGB 27. Aufl. § 306 a Rdn. 4). Es wird nicht nur zur Fortbewegung, sondern - ähnlich einem auch zu Wohnzwecken dienenden Schiff - auch zum Aufenthalt untertags, zur Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten sowie zum Schlafen benutzt. Diese Eigenschaft verliert es nicht dadurch, dass es in der Regel nur für bestimmte Zeiträume - während einer Reise - als Wohnung genutzt und im Übrigen auch für u. U. längere Zeit abgestellt oder nur als Fortbewegungsmittel genutzt wird. Insoweit kann für ein Wohnmobil nichts anderes gelten wie für ein nur zeitweise benutztes Ferienhaus (vgl. BGHR StGB § 306 Nr. 2 Wohnung 10). Ob für unverkaufte Wohnmobile auf dem Gelände eines Herstellers bzw. Händlers oder für solche Fahrzeuge, die zur Vermietung auf dem Gelände eines Unternehmens bereitstehen, etwas anderes zu gelten hätte, muss der Senat nicht entscheiden.
Die Voraussetzungen des § 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB lagen hier deshalb vor. Die Eigenschaft des Brandobjekts, als Wohnung zu dienen, hat der Angeklagte erkannt. Dass er glaubte, es halte sich dort zum Tatzeitpunkt niemand auf, ist bei § 306 a Abs. 1 Nr. 1 StGB bedeutungslos (Wolff in LK 12. Aufl. § 306 a Rdn. 24).
3. Der Angeklagte legte auch im Fall II. 4. der Urteilsgründe Feuer an einem Wohnmobil, das aber gelöscht werden konnte, ehe das Fahrzeug selbständig in Brand geriet. Das Landgericht hat insoweit rechtsfehlerhaft nur Sachbeschädigung und nicht versuchte schwere Brandstiftung (§ 306 a Abs. 1 Nr. 1, §§ 22, 23 StGB) angenommen. Der Angeklagte ist hierdurch indes nicht beschwert.
4. Die Aufhebung im Fall II. 10. der Urteilsgründe führt zur Aufhebung der Gesamtstrafe. Der Senat schließt aus, dass die weiteren Einzelstrafen in der Höhe von ihr betroffen sind.
Sost-Scheible Pfister Hubert
Schäfer Mayer
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JURE100062447
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BGH
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3. Strafsenat
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20100427
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3 StR 32/10
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Beschluss
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§ 169 GVG
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vorgehend LG Hannover, 26. Mai 2009, Az: 89 KLs 6413 Js 18563/07 (1/07), Urteil
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DEU
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Sitzungspolizei: Ermessensentscheidung bezüglich des Abweichens von einer sitzungspolizeilichen Verfügung des Vorsitzenden im Einzelfall
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Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 26. Mai 2009 werden als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat zur Revision des Angeklagten:
Die Rüge, das Landgericht habe gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz (§ 169 GVG) verstoßen, ist unbegründet. Das Landgericht war rechtlich nicht verpflichtet, auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob die vier erschienenen und Einlass in den Sitzungssaal begehrenden Personen (drei Mitglieder der Familie und eine Freundin des Angeklagten Ö.), die entgegen der bestehenden - von der Revision nicht beanstandeten - Sicherheitsanordnung keinen amtlichen Ausweis, sondern (lediglich) einen Führerschein vorweisen konnten, gleichwohl einzulassen waren. Daher hat die Strafkammer entgegen der Ansicht der Revision bei ihrer Entscheidung, die Sicherheitsanordnung nicht zu ändern, so dass der Einlass (auch) dieser Personen weiterhin allein danach zu beurteilen war, ob sie die Bedingungen der sitzungspolizeilichen Verfügung des Vorsitzenden erfüllten, auch angesichts der vorgetragenen, bei diesen Personen vorliegenden besonderen Umstände nicht fehlerhaft gehandelt.
Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts ist die von der Revision des Angeklagten A. erhobene Rüge der Mitwirkung eines befangenen Schöffen (§ 338 Nr. 3 StPO) nicht unzulässig, weil der Beschwerdeführer bei der Darlegung des vermeintlich prozessrechtswidrigen Vorgangs durch Wiedergabe lediglich des Protokollinhalts offen gelassen habe, ob der abgelehnte Schöffe sich in der Hauptverhandlung tatsächlich so wie behauptet geäußert hat (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Hieran kann nämlich angesichts des Inhalts der vom Beschwerdeführer vorgetragenen dienstlichen Äußerung des abgelehnten Schöffen, der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zum Ablehnungsgesuch sowie der Entscheidung über dieses, keinerlei Zweifel bestehen. Die Rüge bleibt allerdings aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift im Übrigen dargelegten Gründen ohne Erfolg.
Becker Pfister Sost-Scheible
Hubert Mayer
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BMJV
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JURE100062453
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BGH
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3. Strafsenat
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20100413
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3 StR 71/10
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Beschluss
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§ 27 StGB, § 53 StGB, § 54 Abs 1 S 2 StGB, § 54 Abs 2 S 1 StGB, § 259 StGB
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vorgehend LG Duisburg, 15. Oktober 2009, Az: 31 KLs 37/09 - 164 Js 625/08, Urteil
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DEU
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Strafverfahren wegen Beihilfe zur gewerbsmäßigen Hehlerei: Notwendige Begründung einer Gesamtstrafe
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 15. Oktober 2009 im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zur gewerbsmäßigen Hehlerei in zwei Fällen und Beihilfe zur Hehlerei zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die hiergegen gerichtete, auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Der Schuldspruch und die drei Einzelstrafaussprüche von jeweils sechs Monaten Freiheitsstrafe weisen keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Der Ausspruch über die Gesamtstrafe hält dagegen rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat nach der formelhaften Vorbemerkung, dass die Kammer "alle relevanten Aspekte erneut berücksichtigt und gegeneinander abgewogen" habe, unter Berücksichtigung des "engen zeitlichen, räumlichen und auch situativen Zusammenhangs" die Einsatzstrafe von sechs Monaten auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten erhöht. Dabei hat die Strafkammer nicht bedacht, dass die Erhöhung der Einsatzstrafe in der Regel niedriger auszufallen hat, wenn zwischen gleichartigen Taten (hier: zwei Kfz-Zulassungen sowie eine Vermittlung jeweils unterschlagener Fahrzeuge im Oktober und November 2008) ein - von ihr zu Recht angenommener - enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht (vgl. BGH StV 1988, 103; BGH, Beschl. vom 13. November 2008 - 3 StR 485/08). Da die Gesamtstrafe der Summe der Einzelstrafen nahe kommt, wäre jedenfalls eine eingehende Darlegung erforderlich gewesen, aus welchen Gründen der durch § 54 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 StGB vorgesehene Rahmen für die Gesamtstrafenbildung nahezu ausgeschöpft wurde (BGHR StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 7; BGH, Beschl. vom 13. November 2008 - 3 StR 485/08; Fischer, StGB 57. Aufl. § 54 Rdn. 11 m. w. N.).
Die Gesamtstrafe muss daher erneut zugemessen werden. Die Feststellungen können jedoch bestehen bleiben, denn sie sind rechtsfehlerfrei getroffen. Ergänzende Feststellungen sind möglich, soweit sie zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.
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JURE100062454
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BGH
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5. Strafsenat
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20100428
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5 StR 136/10
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Beschluss
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§ 74c StGB, § 261 Abs 7 StGB
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vorgehend LG Berlin, 4. September 2009, Az: (532) 83 Js 399/09 KLs (8/09), Urteil
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DEU
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Geldwäsche: Anordnung der Einziehung von Wertersatz gegenüber tatbeteiligten Nichteigentümern
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 4. September 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Ausspruch über die Einziehung von Wertersatz aufgehoben. Die Einziehungsanordnung entfällt.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zur Hälfte zu tragen. Im Übrigen trägt die Staatskasse die Kosten des Revisionsverfahrens und die Hälfte der dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Geldwäsche in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Darüber hinaus hat es angeordnet, dass ein Geldbetrag von 25.000 € als Wertersatz eingezogen wird. Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten hat lediglich hinsichtlich der angeordneten Einziehung des Wertersatzes Erfolg.
Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift vom 6. April 2010 unter anderem ausgeführt:
„Es kann dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen des § 74a StGB vorliegen. Denn jedenfalls kommt eine Einziehung von Wertersatz gemäß § 74c StGB nicht in Betracht; der Angeklagte war nicht Eigentümer des gemäß § 261 Abs. 7 StGB grundsätzlich der Einziehung als Beziehungsgegenstand unterliegenden Geldes, welches ihm zur Verwahrung übergeben worden war. § 74c StGB setzt indes voraus, dass der Täter oder Teilnehmer zum Zeitpunkt der Tat Eigentümer des der Einziehung unterliegenden Gegenstandes war (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Juni 1985 - 5 StR 275/85). Gegenüber tatbeteiligten Nichteigentümern ist die Anordnung von Wertersatzeinziehung hingegen nicht möglich (vgl. LK-Schmidt, StGB, § 74c Rdnr. 17). Eine Anordnung der Einziehung von Wertersatz bei dem Angeklagten scheidet mithin aus.
Eine Umdeutung in eine (gewinnabschöpfende) Anordnung von Wertersatzverfall kommt bereits mangels entsprechender Feststellungen nicht in Betracht …
Im Übrigen dürften einer Verfallsanordnung die Ersatzansprüche der geschädigten Banken entgegenstehen.“
Dem tritt der Senat bei. Er schließt auch aus, dass für eine Verfallsanordnung tragfähige Feststellungen nachholbar wären.
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062455
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BGH
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3. Strafsenat
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20100427
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3 StR 75/10
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Beschluss
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§ 29 Abs 1 S 1 Nr 1 BtMG, § 30a Abs 2 Nr 2 BtMG, § 27 StGB
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vorgehend LG Oldenburg (Oldenburg), 12. November 2009, Az: 4 KLs 86/09 - 454 Js 68389/08, Urteil
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DEU
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Betäubungsmittelhandel: Eigennütziges Handeln bei Einschleusung von Heroin in die Justizvollzugsanstalt und Beihilfe zum bewaffneter Handeltreiben bei Bewaffnung des Gehilfen
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1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 12. November 2009 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) im Fall II. A. der Urteilsgründe,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe,
c) soweit eine Entscheidung über die Reihenfolge der Vollstreckung der Freiheitsstrafe und der Maßregel unterblieben ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Der Schuldspruch des vorgenannten Urteils wird im Übrigen berichtigt und zur Klarstellung dahin neu gefasst, dass die Angeklagte des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 18 Fällen, des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in jeweils nicht geringer Menge sowie des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen schuldig ist.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat die Angeklagte "des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 22 Fällen, davon in 20 Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wobei sie in einem Fall eine Schusswaffe sowie einen sonstigen Gegenstand, der seiner Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt ist, mit sich führte und in zwei Fällen tateinheitlich unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vorlag", schuldig gesprochen und sie zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt sowie den Verfall von Wertersatz in Höhe von "550,- € Bargeld" angeordnet. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision wendet sich die Angeklagte gegen dieses Urteil. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Im Fall II. A. tragen die Feststellungen den Schuldspruch wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln gemäß § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG nicht, da den Urteilsgründen ein eigennütziges Handeln der Angeklagten nicht zu entnehmen ist. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift hierzu Folgendes ausgeführt:
"Unter Handeltreiben ist jedes eigennützige Bemühen zu verstehen, das darauf gerichtet ist, den Umsatz von Betäubungsmitteln zu ermöglichen oder zu fördern (BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 70). Eigennützig handelt, wer vom Streben nach Gewinn geleitet wird oder sich irgendeinen anderen persönlichen Vorteil verspricht, durch den er materiell oder - bei entsprechender Sachlage - immateriell besser gestellt wird (BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 2, 26, 33, 34). Die Strafkammer hat festgestellt, dass der in Strafhaft befindliche drogenabhängige Lebensgefährte der Angeklagten, R. , und sein Mithäftling E. den Zeugen V. aufforderten, für sie und für andere Inhaftierte Heroin bei der Angeklagten abzuholen (UA S. 5). Anlässlich eines Besuchs bei der Angeklagten habe diese den Zeugen gefragt, ob er etwas für ihren Freund mitnehmen könne und ihm schließlich 12 Gramm Heroin in Kugeln zu je 3 Gramm abgepackt und ausgehändigt (UA S. 6). Zu einer Bezahlung der Betäubungsmittel verhalten sich die Urteilsgründe nicht. Auch lassen sie nicht erkennen, ob R. und E. diese mit Wissen der Angeklagten in der Justizvollzugsanstalt gewinnbringend zu veräußern beabsichtigten. Die Feststellung, dass sie von dem Zeugen V. die Bezahlung der verloren geglaubten Betäubungsmittel verlangten (UA S. 6), lässt keinen zureichenden Schluss auf geplante Rauschgiftgeschäfte in der Justizvollzugsanstalt zu, welche die Angeklagte gegebenenfalls hätte ermöglichen oder fördern wollen. Auch geht aus den Feststellungen nicht hervor, dass für die Angeklagte mit der Aushändigung der Betäubungsmittel an den Zeugen V. irgendein sonstiger materieller oder immaterieller Vorteil verbunden war. Angesichts der Tatumstände erscheint es jedenfalls nicht fernliegend, dass die Angeklagte die Betäubungsmittel ihrem drogenabhängigen Lebensgefährten zukommen lassen wollte, ohne damit einen Gewinn oder anderweitigen Vorteil zu erstreben."
Dem schließt sich der Senat an.
Der Senat sieht davon ab, den Schuldspruch auf Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge umzustellen, da nicht auszuschließen ist, dass in der neuen Hauptverhandlung Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung der Angeklagten wegen täterschaftlichen oder mittäterschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge oder - im Falle fehlenden eigennützigen Handelns der Angeklagten - (auch) wegen Beihilfe zum Handeltreiben ihres Lebensgefährten tragen. Bei Annahme täterschaftlichen oder mittäterschaftlichen Handeltreibens der Angeklagten mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge wird der neue Tatrichter mit Blick auf den Qualifikationstatbestand des § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG Gelegenheit haben, den Ladezustand der Schreckschusspistole festzustellen (BGH NStZ 2006, 176, 177). Sollte die neue Hauptverhandlung zu einer Verurteilung der Angeklagten wegen (ggfs. tateinheitlich zum Betäubungsmittelbesitz begangener) Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge führen, weist der Senat rein vorsorglich darauf hin, dass allein die Bewaffnung des Gehilfen nicht die Verurteilung wegen Beihilfe zum bewaffneten Betäubungsmittelhandel rechtfertigen kann (BGH NStZ-RR 2002, 277; BGH StV 2005, 558).
2. Im Übrigen tragen die Urteilsfeststellungen nur in einem Fall - im Fall II. C. 3. der Urteilsgründe - eine tateinheitliche Verurteilung der Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Soweit der Tenor des angefochtenen Urteils eine tateinheitliche Verurteilung wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in zwei tateinheitlichen Fällen ausweist, ist der verbleibende Schuldspruch deshalb zu berichtigen. Der ersichtlich auf ein Zählversehen zurückgehende Rechtsfehler hat sich bei Bemessung der verbleibenden Einzelstrafen nicht ausgewirkt. Darüber hinaus hat der Senat den von der Aufhebung nicht erfassten Teil des Schuldspruchs zum besseren Verständnis neu gefasst.
Die Aufhebung des Schuld- und Strafausspruchs im Fall II. A. zieht die Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe nach sich.
3. Das Landgericht hat es schließlich rechtsfehlerhaft unterlassen zu prüfen, ob ein Teil der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel nach § 64 StGB zu vollziehen ist (§ 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB). Insoweit schließt sich der Senat den folgenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts an:
"Die Aufhebung des Schuldspruchs in Fall II. A. nötigt nicht zur Aufhebung des Maßregelausspruchs, da die Anordnung der Unterbringung gemäß § 64 StGB auch bei Aufhebung der Verurteilung wegen der Tat zu Ziffer II. A. revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Die Strafkammer hat es jedoch rechtsfehlerhaft unterlassen, die Reihenfolge der Vollstreckung gemäß § 67 Abs. 2 Satz 2, 3 StGB zu bestimmen. Danach soll das Gericht bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB neben einer zeitigen Freiheitsstrafe von über drei Jahren bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Dieser Teil der Strafe ist so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und einer anschließenden Unterbringung eine Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB möglich ist. Der Angeklagte ist durch die unterbliebene Anwendung von § 67 Abs. 2 StGB beschwert, weil die von § 67 Abs. 1 StGB abweichende Vollstreckungsreihenfolge auch der Sicherung des Therapieerfolges dient und bei dessen Eintritt die Möglichkeit besteht, dass der Angeklagte unter Anrechnung der Unterbringungsdauer schon zum Halbstrafenzeitpunkt entlassen wird (BGH, Beschl. vom 21. August 2007 - 3 StR 263/07; Fischer StGB 57. Auflage § 67 Rdn. 10)."
Becker Pfister Sost-Scheible
Hubert Mayer
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Deutschland
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deutsch
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BMJV
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public
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JURE100062457
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BGH
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4. Strafsenat
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20100420
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4 StR 119/10
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Beschluss
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§ 27 Abs 1 StGB, § 46 Abs 3 StGB, § 73 StGB, § 73a Abs 1 S 1 StGB, § 73d Abs 1 S 1 StGB, § 29 BtMG
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vorgehend LG Bielefeld, 18. November 2009, Az: 2 KLs 36 Js 2512/08 - 9/09, Urteil
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DEU
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Betäubungsmittelhandel: Unterstützung des Täters durch bloße Anwesenheit als Beihilfe; strafschärfende Berücksichtigung "reinen Gewinnstrebens" und Wertersatzverfall des Erlöses aus Drogenverkäufen
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1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 18. November 2009
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagte im Fall II. 1. der Urteilsgründe wegen Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt wird,
b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
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Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Ferner hat es gegen sie den Verfall eines Geldbetrages in Höhe von 7.419,72 € angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich die Angeklagte mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verurteilung der Angeklagten im Fall II. 1. der Urteilsgründe wegen tateinheitlichen - täterschaftlich begangenen - unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Nach den Feststellungen begleitete die Angeklagte ihren damaligen Lebensgefährten B. bei einer Fahrt in die Niederlande. Ihr war dabei bekannt, dass B. dort Betäubungsmittel kaufen wollte, um diese in die Bundesrepublik Deutschland einzuführen und dort gewinnbringend weiter zu veräußern. Sie wusste weiterhin, dass B. sie mitnahm, um bei dem Grenzübertritt nicht aufzufallen. In den Niederlanden erwarb B. 50 g Kokaingemisch, das er - wie geplant - in Begleitung der Angeklagten in das Bundesgebiet einführte und in der Folge dort verkaufte.
Diese Feststellungen belegen nicht täterschaftliches Handeltreiben der Angeklagten. Sie hatte danach weder Einfluss auf den Erwerb der Betäubungsmittel noch auf deren Weiterverkauf. Die Tätigkeit der Angeklagten erschöpfte sich darin, B. bei der Einfuhr der Betäubungsmittel durch ihre Anwesenheit zu unterstützen. Ihr Tatbeitrag ist somit rechtlich nicht als täterschaftliches Handeltreiben, sondern als Beihilfe zu dem Handeltreiben des B. zu werten (vgl. auch BGHSt 51, 219, 223 Rn. 11). Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend ab.
2. Auch der Rechtsfolgenausspruch kann keinen Bestand haben.
a) Bei der Bemessung der Einzelstrafen hat das Landgericht straferschwerend berücksichtigt, dass die Angeklagte den Handel mit Betäubungsmitteln "aus reinem Gewinnstreben betrieben hat, ohne sich etwa aufgrund eigener Sucht zum Verkauf von Drogen gezwungen zu sehen". Dies verstößt gegen § 46 Abs. 3 StGB (Senat, Beschluss vom 7. November 2000 - 4 StR 456/00 m.w.N.), zumal das Landgericht festgestellt hat, dass die Angeklagte ab dem Tode ihres Vaters im Januar 2008, das heißt im Tatzeitraum, Drogen konsumiert hat. In Anbetracht dessen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Erlöse aus den Drogenverkäufen jedenfalls auch der Finanzierung des eigenen Betäubungsmittelkonsums gedient haben (vgl. auch BGH, Beschluss vom 24. September 2009 - 3 StR 294/09). Der Senat hebt daher die Einzelstrafen und den Ausspruch über die Gesamtstrafe auf, da - trotz der verhängten maßvollen Strafen - nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Landgericht ohne den aufgezeigten Rechtsfehler auf mildere Freiheitsstrafen erkannt hätte.
b) Zur Verfallsentscheidung hat das Landgericht ausgeführt, der Verfall des bei der Angeklagten sichergestellten Geldes (insgesamt 6.070,00 €) sowie des aus der Verwertung eines sichergestellten Pkw's der Angeklagten erzielten Erlöses von 1.349,72 € sei "gemäß § 73 StGB" anzuordnen, da davon auszugehen sei, dass sie dieses Geld durch die Veräußerung von Kokain erlangt habe. Die Angeklagte, deren sonstigen Einnahmen nach eigenen Angaben nicht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts ausgereicht hätten, habe keine plausible Erklärung vorbringen können, auf welche andere Weise sie in den Besitz des Geldes gekommen sei.
Diese Ausführungen lassen bereits besorgen, dass das Landgericht das Verhältnis zwischen § 73 StGB (Verfall) und § 73 d StGB (erweiterter Verfall) nicht bedacht hat. Bei § 73 StGB muss die Tat, für die oder aus der etwas erlangt worden ist, Gegenstand der Verurteilung sein, das heißt, das Gericht muss zur Überzeugung gelangen, dass der Täter für oder aus der/den ausgeurteilten Tat(en) etwas im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB erlangt hat. § 73 d StGB regelt demgegenüber den Fall, dass der Täter über Vermögensgegenstände verfügt, die nach Überzeugung des Gerichts (vgl. hierzu BGHSt 40, 371, 373) für oder aus anderen rechtswidrigen Taten erlangt worden sind. Die Bestimmung des § 73 d StGB ist dabei gegenüber der des § 73 StGB subsidiär (h.M.; vgl. nur Senat, Urteil vom 11. Dezember 2008 - 4 StR 386/08 m.w.N.). Vor einer Anwendung des § 73 d StGB muss daher unter Ausschöpfung der zulässigen Beweismittel ausgeschlossen werden können, dass die Voraussetzungen des § 73 StGB erfüllt sind (Senat aaO).
Im Übrigen unterliegt dem Verfall - sei es nach § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB oder nach § 73 d Abs. 1 Satz 1 StGB - stets nur das, was unmittelbar aus der oder für die Tat erlangt worden ist. Bei der Anordnung des Verfalles sichergestellten Dealgeldes muss es sich daher um die nämlichen Geldscheine handeln, die durch die Drogenverkäufe erlangt worden sind. Befinden sich diese nicht mehr im Besitz des Täters, ist ihr Verfall somit aus tatsächlichen Gründen nicht (mehr) möglich, kommt gemäß § 73 a Satz 1 StGB die Anordnung eines Geldbetrages in Betracht, der dem Wert des Erlangten entspricht (Wertersatzverfall). Hierbei ist - vorbehaltlich einer Anwendung der Härtevorschrift des § 73 c StGB - unter Zugrundelegung des Bruttoprinzips (vgl. hierzu Fischer StGB 57. Aufl. § 73 Rn. 7) auf den aus den Drogenverkäufen erlangten Gesamterlös abzustellen.
Die Sache bedarf daher auch zur Verfallsentscheidung neuer Verhandlung und Entscheidung.
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JURE100062459
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BGH
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4. Strafsenat
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20100415
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4 StR 650/09
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Urteil
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§ 53 Abs 1 Nr 1 StPO, Art 4 GG
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vorgehend LG Münster, 18. Juni 2009, Az: 1 KLs 30 Js 202/08 - 27/08, Urteil
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DEU
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Strafverfahren: Zeugnisverweigerungsrecht als Geistlicher oder Seelsorger für Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Yeziden
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1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Münster vom 18. Juni 2009 hinsichtlich sämtlicher Angeklagten in den Strafaussprüchen mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die zur Schuldfähigkeit getroffenen Feststellungen aufrecht erhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel der Angeklagten, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.
4. Die Revisionen der Nebenkläger werden verworfen. Sie haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die den Angeklagten durch diese entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
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Das Landgericht hat die Angeklagten des Totschlags schuldig gesprochen und Niyazi A. zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren, Ibrahim A. zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren, Fikret A. und Al. zu Freiheitsstrafen von jeweils neun Jahren und Zerdest A. zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren verurteilt. Gegen das Urteil richten sich die auf Verfahrens- und Sachrügen gestützten Revisionen der Angeklagten. Sie haben mit einer Verfahrensrüge zu den Rechtsfolgenaussprüchen Erfolg. Im Übrigen sind diese Rechtsmittel aus den vom Generalbundesanwalt in den Antragsschriften vom 14. Januar 2010 dargelegten Gründen unbegründet. Die Nebenkläger beanstanden mit ihren Revisionen die Verletzung sachlichen Rechts. Ihre Rechtsmittel sind insgesamt unbegründet.
I.
Die Jugendkammer hat die Angeklagten wegen der vorsätzlichen Tötung von Elyas C. verurteilt. Hierzu hat sie im Wesentlichen festgestellt:
Svetlana A. trennte sich Ende Januar 2008 von ihrem Ehemann, dem Angeklagten Niyazi A. . Die Familie A. machte hierfür Elyas C. verantwortlich und unterstellte diesem ein Verhältnis mit Svetlana A. . Am 26. April 2008 kam es zu einem Streit zwischen dem Angeklagten Fikret A. , dem Cousin von Niyazi A. , und Elyas C. , in dessen Verlauf Elyas C. mit einer Schusswaffe gedroht haben soll. Die Mitglieder der Familie A. beschlossen daraufhin, Elyas C. "zumindest in Form eines körperlichen Übergriffs" zu bestrafen. Der Angeklagte Ibrahim A. , der Bruder von Niyazi, der sich als das Oberhaupt der Familie A. ansah, äußerte anlässlich eines "Versöhnungsgesprächs", dass Elyas C. "nun die Zielscheibe" sei. Dies wurde der Familie C. bekannt; sie wertete die Äußerung als Tötungsbeschluss.
Am späten Nachmittag des 5. August 2008 trafen der Angeklagte Niyazi A. und Elyas C. sowie dessen Ehefrau Ariya C. im Gewerbegebiet von L. aufeinander, wo die Eheleute C. einkaufen wollten. Nach einer verbalen Auseinandersetzung zwischen Elyas C. und Niyazi A. verständigten sowohl dieser als auch die Eheleute C. die Polizei und warteten zunächst in ihren Pkws. Der Angeklagte Niyazi A. rief zudem die Angeklagten Fikret (seinen Cousin) und Ibrahim A. an, der wiederum seinen Sohn Zerdest und den Angeklagten Al. (den Schwager von Niyazi A.) verständigte. Diese kamen nach kurzer Zeit in zwei Pkws in das Gewerbegebiet. Als sich Elyas C. und seine Ehefrau nach einem weiteren (verbalen) Streit mit Ibrahim A. in ihrem Fahrzeug von dem Parkplatz entfernen wollten, fuhr der Angeklagte Fikret A. mit dem von ihm gesteuerten Pkw - um sie "zu stellen" - frontal auf das Fahrzeug der Eheleute C. zu und prallte mit diesem zusammen. Daraufhin liefen die Angeklagten Ibrahim, Zerdest und Fikret A. sowie Al. auf Elyas C., der ebenfalls aus dem Pkw ausgestiegen war, zu und schlugen und traten auf diesen ein. Sodann näherte sich der Angeklagte Niyazi A. mit einem ca. 30 cm langen Küchenmesser von hinten Elyas C. und stach diesem mehrmals mit großer Wucht in den Rücken, um ihn zu töten. Dies erkannten und billigten die weiteren Angeklagten spätestens, als sie Niyazi A. mit dem Messer auf Elyas C. zukommen und auf ihn einstechen sahen. Der Angeklagte Ibrahim A. zeigte Niyazi A. zudem mehrmals, wohin er stechen sollte; ferner "feuerten" er sowie die anderen Angeklagten Niyazi A. "bei dem Stechen an" und der Angeklagte Al. hielt die Ehefrau des Elyas C. fest, um sie daran zu hindern, ihrem Ehemann zu helfen. Insgesamt versetzte Niyazi A. seinem Opfer elf Messerstiche, an deren Folgen Elyas C. noch am Tatort verstarb.
II.
Die Rechtsmittel der Angeklagten haben lediglich teilweise Erfolg.
1. Die Verfahrensrügen, mit denen sie eine Verletzung des § 245 Abs. 1 StPO beanstanden, führen zur Aufhebung der Strafaussprüche.
a) Den Rügen liegt im Wesentlichen Folgendes zu Grunde:
Die Familien A. und C. - auch die Angeklagten und das Opfer - gehören der Glaubensgemeinschaft der Yeziden an.
Am Tag nach der Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten Fikret A. und Elyas C. vom 26. April 2008 kam es auf Veranlassung der Familie C. zu einem "Versöhnungsgespräch" zwischen beiden Familien, an dem auf Seiten der Familie A. die Angeklagten Ibrahim und Fikret A. und auf Seiten der Familie C. der Bruder des späteren Opfers, Fuad C., sowie S. (der Vater von Ariya C., der Ehefrau von Elyas C.) teilnahmen. Beteiligt an dem Gespräch waren ferner zwei yezidische "Geistliche", die Zeugen Sü. und D. . Beide machten in der Hauptverhandlung vom Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO Gebrauch. Zum Inhalt des Gesprächs folgte die Jugendkammer den Angaben der Zeugen Fuad C. und S., wonach der Angeklagte Ibrahim A. eine Versöhnung abgelehnt und unter anderem geäußert habe, dass "man Elyas C. nicht in Ruhe lassen" werde. Die "anderslautenden" Einlassungen der Angeklagten Ibrahim und Fikret A. zum Inhalt des Gesprächs hielt die Jugendkammer für widerlegt, insbesondere dass - wie Fikret A. angab - es nur um den Vorfall mit der Waffe und nicht um das Verhältnis zwischen Elyas C. und Svetlana A. gegangen sei. Ferner führte das Landgericht in den Urteilsgründen aus:
Das Zeugnisverweigerungsrecht der Zeugen Sü. und D. stützt sich auf § 53 Abs. 1 Ziffer 1 StPO. Die Zeugen haben in der Hauptverhandlung glaubhaft angegeben, dass sie an dem Gespräch am 26.04.08 [richtig: 27. April 2008] in ihrer Funktion als yezidische Geistliche teilgenommen haben und ihnen der Gesprächsinhalt als Seelsorger anvertraut worden ist. Schlichtungs- und Versöhnungsgespräche dieser Art zwischen den Angehörigen ihres Glaubens würden zu ihren seelsorgerischen Tätigkeiten gehören. Sie dürften darüber auch ansonsten keine Auskunft geben. Die auch in Deutschland zahlenmäßig stark vertretene Glaubensgemeinschaft der Yeziden ist nach Auffassung der Kammer zumindest im Rahmen des § 53 Abs. 1 StPO sonstigen staatlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften gleichzustellen.
Mit ihren Verfahrensrügen machen die Angeklagten geltend, dass die Jugendkammer den Zeugen Sü. und D. mit Unrecht ein Zeugnisverweigerungsrecht zugebilligt und sie daher fehlerhaft nicht zur Sache vernommen habe.
b) Die Rügen führen zur Aufhebung der Strafaussprüche hinsichtlich aller Angeklagten.
aa) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO nicht nur den Geistlichen der staatlich anerkannten, öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften zusteht.
(1) Der Wortlaut dieser Vorschrift gebietet eine solche Beschränkung nicht.
Zwar hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs im Urteil vom 5. Mai 1953 (1 StR 194/53) - die Entscheidung nicht tragend - ausgeführt, dass Missionare der Zeugen Jehovas schon deshalb keine Geistlichen im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO seien, "weil ihre Sekte nicht zu den staatlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften gehört". Damit sollte aber ersichtlich nicht auf eine "Wortlautschranke" in dieser Vorschrift abgestellt, sondern dem Anliegen Rechnung getragen werden, den Kreis der nach dieser Vorschrift zeugnisverweigerungsberechtigten Personen zu begrenzen (vgl. auch Weigend, Gutachten für den 62. Deutschen Juristentag 1998, C 90). Der Begriff "Geistliche" ist semantisch offen (Rogall in Eisenberg-FS 2009, S. 583, 592) und bekenntnisneutral (Korioth in Maunz/Dürig GG [Stand 2009] Art. 136 WRV Rdn. 46; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 139 f.; Fischedick DÖV 2008, 584, 587). Er schließt daher keine Religionsgemeinschaft von vorneherein aus.
(2) Auch der Zweck von § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO erfordert nicht eine Beschränkung des Personenkreises der Geistlichen auf Angehörige der staatlich anerkannten, öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften.
Das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO schützt in erster Linie das Vertrauensverhältnis zwischen dem Geistlichen und demjenigen, der sich ihm anvertraut (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. März 2004 - 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99, BVerfGE 109, 279, 322). Dem Rat- und Hilfesuchenden soll die Möglichkeit eröffnet sein, sich mit einem Geistlichen zu besprechen, ohne befürchten zu müssen, dass dieser die ihm mitgeteilten Tatsachen und Umstände als Zeuge offenbaren muss. Der Schutz erfolgt um der Menschenwürde des Gesprächspartners des Seelsorgers willen (BVerfG aaO). Denn "das Zwiegespräch mit dem Seelsorger ist dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen, der dem staatlichen Zugriff schlechthin entzogen ist, und bedarf daher umfassenden Schutzes vor staatlicher Kenntnisnahme" (BTDrucks. 16/5846 S. 35 [zu § 53b StPO-E, dem jetzigen § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO]; ähnlich dort S. 25). Mit diesem Schutzzweck des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ist eine Beschränkung des Personenkreises der Geistlichen, die auf den rechtlichen Status der Religionsgemeinschaft abstellt, unvereinbar.
Auch soweit der Schutzzweck des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO an die Glaubens- und Religionsfreiheit des Zeugen, dessen auf der Verschwiegenheitspflicht beruhende Konfliktsituation, seine Berufsfreiheit und den Erhalt der Funktionstüchtigkeit der von dieser Vorschrift erfassten Berufsgruppen anknüpft (vgl. Weigend aaO C 81 f.; Radtke ZevKR 2007, 617, 626 ff.; Fischedick DÖV 2008, 584, 585 ff.; ders., Die Zeugnisverweigerungsrechte von Geistlichen und kirchlichen Mitarbeitern, 2006, S. 33 ff.; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 111 ff., 128 ff., 138 f. m.w.N.), ist eine Unterscheidung zwischen den Geistlichen der staatlich anerkannten, öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften und den Geistlichen sonstiger Religionsgemeinschaften nicht geboten.
Aus dem Grundsatz der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates, der sich aus einer Zusammenschau der Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1, Abs. 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV ableiten lässt, folgt, dass der Staat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu achten hat (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2009 - 2 BvR 890/06 m.w.N.; zur Neutralitätspflicht nach Art. 9 EMRK: EGMR, Urteil vom 31. Juli 2008 - 40825/98 [Zeugen Jehovas ./. Österreich], NVwZ 2009, 509, 511 und Sydow JZ 2009, 1141, 1142 ff.). Ihm ist die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso untersagt wie die Ausgrenzung Andersgläubiger (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282, 299). Hiermit ist eine über den Wortlaut des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO hinausgehende Beschränkung des Begriffs der Geistlichen auf Amtsträger der als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannten Religionsgemeinschaften, wie sie die herrschende Lehre vornimmt, unvereinbar (vgl. zur h.L. etwa Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 53 Rdn. 12; Senge in KK StPO 6. Aufl. § 53 Rdn. 11; Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 53 Rdn. 21; Rogall in SK StPO [Stand Oktober 2002] § 53 Rdn. 69 jeweils m.w.N.; dem zu § 20u BKAG folgend: BTDrucks. 16/9588 S. 33 und 16/10121 S. 35; wie hier: Eser in Handbuch des Staatskirchenrechts, 1995, S. 1037, 1040; Fischedick, Die Zeugnisverweigerungsrechte von Geistlichen und kirchlichen Mitarbeitern, 2006, S. 114; Korioth in Maunz/Dürig GG [Stand 2009] Art. 136 WRV Rdn. 45 f. m.w.N.).
Hinzu kommt, dass die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts schon aus rechtlichen Gründen nicht jeder Religionsgemeinschaft offen steht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 1991 - 2 BvR 263/86, BVerfGE 83, 341, 356 ff.). Vielmehr knüpfen landesrechtliche Regelungen unter anderem an die Mitgliederzahl der Religionsgemeinschaft in dem jeweiligen Bundesland an und verlangen eine ausreichende finanzielle Ausstattung (vgl. S. 3 der Drucksache 12/897 des Landtags von Baden-Württemberg; allgemein hierzu Hillgruber NVwZ 2001, 1347, 1349 ff.). Diese Voraussetzungen sind sachgerecht als Grundlage der den öffentlich-rechtlichen Körperschaften zustehenden Privilegien etwa im Besteuerungs-, Kosten- und Gebührenrecht. Zum Schutzzweck des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO haben sie jedoch keinerlei Bezug.
Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 25. Januar 2007 (2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865, 1866) ergänzend ("zumal") darauf hingewiesen hat, dass der Körperschaftsstatus einer Religionsgemeinschaft die Gewähr dafür biete, dass vom Zeugnisverweigerungsrecht nicht unangemessen Gebrauch gemacht werde. Denn das Bundesverfassungsgericht stützte sich in dieser Entscheidung zum Zeugnisverweigerungsrecht eines katholischen Anstaltsseelsorgers vorrangig darauf, dass "jedenfalls" die hauptamtliche Beauftragung nach kirchlichem Dienstrecht eine angemessene Umgrenzung des Zeugnisverweigerungsrechts kirchlicher Seelsorger, die keine Kleriker sind, sicherstelle.
(3) Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung vermögen es auch der am Bild der damals in Deutschland vertretenen Konfessionen orientierte Wille des historischen Gesetzgebers und die vom Staat gegenüber bestimmten Religionsgemeinschaften ausdrücklich übernommene Verpflichtung, das Schweigerecht von Geistlichen zu schützen und zu gewährleisten (z.B. Art. 9 des Konkordats vom 20. Juli 1933), nicht zu rechtfertigen, den Geistlichen nicht staatlich anerkannter Religionsgemeinschaften das Zeugnisverweigerungsrecht schlechthin vorzuenthalten.
bb) Indes bestehen Zweifel daran, ob es sich bei den Zeugen Sü. und D. um Geistliche im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO handelte.
(1) § 53 StPO gibt dem Schutz des Vertrauens in die Verschwiegenheit bestimmter Berufe den Vorrang vor dem Interesse der Allgemeinheit an vollständiger Sachaufklärung im Strafverfahren (BTDrucks. 12/870 S. 5). Mit der Beschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO auf Geistliche der staatlich anerkannten, öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften - wie sie vom Gesetzgeber (ausdrücklich) etwa in § 132a Abs. 3 StGB (dazu BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 1984 - 2 BvR 1837/83) vorgenommen wurde - verfolgt die herrschende Lehre das an sich berechtigte Anliegen, eine Ausuferung und einen Missbrauch dieses Rechts zu verhindern und die Berechtigung zur Aussageverweigerung von einem auch in der täglichen Praxis schnell und leicht überprüfbaren Kriterium abhängig zu machen.
Dem kann jedoch bei § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO - auch ohne Anknüpfung an den rechtlichen Status einer Religionsgemeinschaft - dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass der Begriff des "Geistlichen" dahin ausgelegt wird, dass diesem die seelsorgerische Tätigkeit von der Religionsgemeinschaft übertragen und ihm ein entsprechendes Amt - verbunden mit einer herausgehobenen Stellung innerhalb der Religionsgemeinschaft - anvertraut sein muss. Dementsprechend hat es auch das Bundesverfassungsgericht für eine angemessene Begrenzung des Zeugnisverweigerungsrechts ausreichen lassen, dass ein Seelsorger, der nicht den Status eines ordinierten Pfarrers oder eine vergleichbare Stellung innehatte, von der Kirche hauptamtlich mit der seelsorgerischen Tätigkeit beauftragt worden war (BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2007 - 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865, 1866). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Geistliche im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO Laien, die keine kirchliche Weihe erhalten haben, sein, sofern sie die Aufgaben der Seelsorge selbstständig und hauptamtlich zumindest im Auftrag der Kirche wahrnehmen (BGH, Beschluss vom 15. November 2006 - StB 15/06, BGHSt 51, 140, 142).
Vorausgesetzt wird ferner, dass das von dem Geistlichen geführte seelsorgerische Gespräch einem ihm von der Religionsgemeinschaft auferlegten Schweigegebot unterliegt. Allein bei Vorliegen dieser Voraussetzung ist das Vertrauen seines Gesprächspartners darauf, der Geistliche werde den Inhalt des Gesprächs oder die ihm in Zusammenhang mit diesem sonst bekannt gewordenen Tatsachen nicht weitergeben, schutzwürdig und schutzbedürftig. Auch besteht die das Zeugnisverweigerungsrecht ergänzend rechtfertigende Konfliktsituation des - einer Strafbarkeit nach § 203 StGB nicht unterworfenen - Geistlichen nur dann, wenn ein solches Schweigegebot besteht. Die durch Art. 4 GG gewährleistete Religions- und Glaubensfreiheit schützt nicht jede Handlung, die im weitesten Sinne auf religiöse Ansichten zurückgeführt werden kann. Erforderlich - und auch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften hinreichend berücksichtigend - ist, dass es sich um eine zwingende Verhaltensregel handelt, von der der Betroffene nicht ohne innere Not absehen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2007 - 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865, 1867; ähnlich Radtke ZevKR 2007, 617, 638; Fischedick DÖV 2008, 584, 588; ders., Die Zeugnisverweigerungsrechte von Geistlichen und kirchlichen Mitarbeitern, 2006, S. 50 f.).
Belegt wird diese über die allein funktionale Stellung als Seelsorger hinausgehende Notwendigkeit einer in diesem Sinne statusgebundenen und damit dem Selbstordnungs- und Selbstregelungsrecht der Religionsgemeinschaften Rechnung tragenden Beschränkung des Personenkreises der Geistlichen durch die systematische Einordnung des Aussageverweigerungsrechts der Geistlichen in § 53 StPO. Denn diese Vorschrift regelt nur Zeugnisverweigerungsrechte "aus beruflichen Gründen" (dazu auch BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2007 - 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865; Seelemann ZevKR 2004, 639, 641 f.), lässt also eine allein religiös motivierte, indes nicht mit der Übertragung eines entsprechenden Amtes verbundene seelsorgerische Tätigkeit nicht genügen. Dementsprechend werden an anderer Stelle "hauptamtlich tätige Geistliche anderer Religionsgemeinschaften [lediglich dann privilegiert, wenn], deren Amt dem eines ordinierten Geistlichen evangelischen oder eines Geistlichen römisch-katholischen Bekenntnisses, der die Diakonatsweihe empfangen hat, entspricht" (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 ZDG, § 11 Abs. 1 Nr. 3 WPflG; dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1987 - 2 BvR 160/85, NVwZ 1987, 676; BVerwG, Urteile vom 11. Dezember 1969 - VIII C 46.68, BVerwGE 34, 291, und vom 14. November 1980 - 8 C 12/79, BVerwGE 61, 152; für eine entsprechende Auslegung des Begriffs der Geistlichen in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO: Haas NJW 1990, 3253, 3254; Ling GA 2001, 325, 332; Neumann, Zeugnisverweigerungsrechte und strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen, 2005, S. 141).
(2) Ob das im Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO erforderliche "Berufsbild" zwingend an eine hauptamtliche Beauftragung anknüpft, erscheint jedoch zweifelhaft. Dagegen könnte schon sprechen, dass es sich hierbei nicht um ein "Wesensmerkmal" des Begriffs des Geistlichen handelt, da ansonsten der entsprechende Zusatz in § 10 ZDG, § 11 WPflG entbehrlich wäre (zu den sich aus dem "hauptamtlich" ergebenden zusätzlichen Anforderungen: BVerfG, Beschlüsse vom 12. Januar 1987 - 2 BvR 160/85, NVwZ 1987, 676, und vom 11. April 1990 - 2 BvR 828/87, NVwZ 1990, 1064). Vor allem aber würde die Notwendigkeit, die Seelsorge als Hauptamt auszuüben, zu einer Privilegierung der großen und einer Benachteiligung der kleinen Religionsgemeinschaften führen können (ähnlich Korioth in Maunz/Dürig GG [Stand 2009] Art. 136 WRV Rdn. 46) und das durch Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV gewährleistete Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrecht der Religionsgemeinschaften in Bezug auf die Ämterverteilung beeinträchtigen.
Auch wenn aber vom Erfordernis einer hauptamtlichen seelsorgerischen Tätigkeit abgesehen wird, erscheint im vorliegenden Fall eine an einen Status im oben beschriebenen Sinne gebundene Betätigung der Zeugen Sü. und D. schon deshalb als nicht unproblematisch, weil diese Zeugen ihre Berechtigung zur seelsorgerischen Betätigung aus der Zugehörigkeit zu einer Kaste herleiten, der - nach dem Vortrag der Revision - etwa ein Drittel der Yeziden angehört. Ob derartige "Geistliche" Berufsträgern im Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO zugerechnet werden können, muss der Senat jedoch nicht abschließend entscheiden.
cc) Jedenfalls handelte es sich bei ihrer Teilnahme an dem "Versöhnungsgespräch" nicht um eine seelsorgerische Tätigkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO.
(1) Seelsorge im Sinne dieser Vorschrift umfasst nur eine von religiösen Motiven und Zielsetzungen getragene Zuwendung, die der Fürsorge für das seelische Wohl des Beistandssuchenden, der Hilfe im Leben oder Glauben benötigt, dient. Zu ihr gehören dagegen nicht Gespräche, Erkenntnisse oder Tätigkeiten des Geistlichen auf dem Gebiet des täglichen Lebens bei Gelegenheit der Ausübung von Seelsorge ohne Bezug zum seelischen Bereich. Deshalb ist ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht anzuerkennen, soweit es sich um eine karitative, fürsorgerische, erzieherische oder verwaltende Tätigkeit des Geistlichen handelt (BGH, Beschluss vom 15. November 2006 - StB 15/06, BGHSt 51, 140, 141 ff.; ebenso BGH, Urteil vom 4. Februar 2010 - 4 StR 394/09; ähnlich bereits BGH, Beschluss vom 20. Juli 1990 - StB 10/90, BGHSt 37, 138, 140).
(2) Die Frage, ob einem Geistlichen Tatsachen in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut oder bekannt geworden sind, ist objektiv und in Zweifelsfällen unter Berücksichtigung der Gewissensentscheidung des Geistlichen zu beurteilen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2007 - 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865, 1866 f.; BGH, Beschluss vom 15. November 2006 - StB 15/06, BGHSt 51, 140, 141). Vorrangig ist sie dem Tatgericht anvertraut, das bei seiner Entscheidung den ihm etwa aus Zeugenaussagen oder der Einlassung des Beschuldigten bekannten Inhalt des Gesprächs zu berücksichtigen und auch zu beachten hat, dass die Rechtsprechung von einer Unterscheidbarkeit seelsorgerischer und nichtseelsorgerischer Teile eines Gesprächs ausgeht (BVerfG und BGH aaO). Kommt der Tatrichter zu dem Ergebnis, dass jedenfalls Teile des Gesprächs nicht dem Bereich der Seelsorge zuzurechnen sind, muss es den Geistlichen hierzu vernehmen und kann allenfalls im Übrigen der (gegebenenfalls glaubhaft gemachten) Einschätzung des Geistlichen folgen, bei weiteren Teilen des Gesprächs habe es sich um eine seiner Schweigepflicht unterliegende Seelsorge gehandelt. Denn jedes Zeugnisverweigerungsrecht - oder seine Ausweitung - kann die Aufgabe der Strafgerichte und der Ermittlungsbehörden, die Wahrheit in Bezug auf die Begehung und den Hergang einer Straftat zu erforschen, beeinträchtigen (vgl. BTDrucks. 16/5846 S. 22, 25; BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2007 - 2 BvR 26/07, NJW 2007, 1865, 1868).
Unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters des Zeugnisverweigerungsrechts sowie des vorrangigen Zwecks von § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, der Menschenwürde des Gesprächspartners des Seelsorgers Rechnung zu tragen, ist der Annahme der Jugendkammer, der durch die Aussagen der Zeugen Fuad C. und S. sowie die Einlassungen der Angeklagten Ibrahim und Fikret A. belegte (Teil-)Inhalt des Gesprächs vom 27. April 2008 sei den Zeugen Sü. und D. in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden, nicht zu folgen. Zwar kann die Hilfeleistung in Familien, auch durch eine Streitschlichtung oder einen Sühneversuch, im Einzelfall dem Bereich der Seelsorge zuzurechnen sein (vgl. Rogall in SK StPO [Stand Oktober 2002] § 53 Rdn. 70; Ignor/Bertheau in Löwe/Rosenberg aaO § 53 Rdn. 23 jeweils m.w.N.). Im Hinblick auf die Besonderheiten des Falles schließt der Senat dies hier aber aus. Thema des Gesprächs war - sowohl nach den Angaben der daran beteiligten Fikret A., Fuad C. und S. als auch nach den Urteilsfeststellungen und dem Revisionsvorbringen - die Beilegung und Beendigung einer Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten Niyazi A. und Elyas C. Diese nahmen indes selbst an diesem Gespräch nicht teil; von ihnen als den unmittelbaren Streitbeteiligten ging auch die Initiative zu dem "Versöhnungsgespräch" nicht aus. Schon deshalb liegt es fern, dass bei dem Gespräch der innere Friede der Streitparteien und deren Aussöhnung im Sinne eines Vergebens im Vordergrund standen. Zudem beschränkte sich die Beteiligung der Zeugen Sü. und D. - entsprechend der Tätigkeit von aus sozialen oder kulturellen Gründen eingesetzten Streitschlichtern oder Schiedsstellen - darauf, die Rücknahme der Strafanzeige wegen Bedrohung zu empfehlen bzw. Nachweise für ein Verhältnis zwischen Elyas C. und Svetlana A. zu fordern und - da diese nicht vorgelegt wurden - aus solchen "formalen" Gründen auf eine Beendigung des Streits zu drängen. Eine von religiösen Motiven und Zielsetzungen getragene Zuwendung im Sinne einer geistlichen Begleitung, die der Fürsorge für das seelische Wohl des Beistandsuchenden dient, der Hilfe im Leben oder Glauben benötigt, oder eines "Zwiegesprächs mit dem Seelsorger … [im] Kernbereich privater Lebensgestaltung" (BTDrucks. 16/5846 S. 35) lag hierin nicht. Vor diesem Hintergrund kommt es ungeachtet der in Grenzfällen anerkannten Gewissensentscheidung des Geistlichen hier nicht auf die gegenteiligen Bekundungen der Zeugen Sü. und D. an.
dd) Auf dem Unterlassen der Vernehmung der Zeugen Sü. und D. beruht das Urteil jedoch nur in den Strafaussprüchen.
Wird ein Zeuge vom Gericht zur Hauptverhandlung geladen, so spricht zunächst eine Vermutung dafür, dass seine Aussage geeignet ist, zur Wahrheitsfindung beizutragen und den Inhalt des Urteils zu beeinflussen. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden, auch wenn der Zeuge unter Verstoß gegen eine Verfahrensvorschrift deshalb nicht vernommen wurde, weil das Gericht ihm fehlerhaft ein Zeugnisverweigerungsrecht zugebilligt hat. Wurde der Zeuge vom Gericht ohne entsprechenden Beweisantrag geladen, dann muss das "Beweisthema", das der Prüfung der Beruhensfrage zugrunde zu legen ist, auf andere Weise ermittelt werden (BGH, Urteil vom 31. Januar 1996 - 2 StR 596/95, NJW 1996, 1685 f.).
In Anwendung dieser Grundsätze schließt der Senat aus, dass eine Vernehmung der Zeugen Sü. und D. zur Sache die tatrichterliche Entscheidung zum Schuldspruch beeinflusst hätte. Denn das Landgericht hat insofern rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der gemeinsame Entschluss, Elyas C. zu töten, von den Angeklagten "spätestens" am Tatort gefasst wurde (UA 26, 91).
Dagegen kann der Senat nicht ausschließen, dass die Strafaussprüche auf dem Rechtsfehler beruhen. Denn die Jugendkammer hat dem Angeklagten Ibrahim A. ausdrücklich strafschärfend angelastet, dass er "im Vorfeld wesentlich an der Eskalation beteiligt [gewesen sei] und insoweit die treibende Kraft war, weil er als Wortführer und unter Inanspruchnahme der Stellung als Familienoberhaupt bei dem Gespräch vom 27.04.2008 eine Versöhnung abgelehnt und erklärt hat, dass man Elyas C. nicht in Ruhe lasse und er nunmehr die Zielscheibe sei". Beim Angeklagten Fikret A. hat das Landgericht straferschwerend berücksichtigt, dass "er in die Vorgeschichte nicht nur eingeweiht, sondern … an dem die Versöhnung ablehnenden Gespräch am 27.04.2008 beteiligt" war. Zudem hat die Jugendkammer allen Angeklagten angelastet, dass das Motiv "der Bestrafung für das unterstellte ehebrecherische Verhalten und den Vorfall vom 26.04.2008 nicht weit von den sonstigen niedrigen Beweggründen des § 211 StGB entfernt" sei. Im Hinblick hierauf kann der Senat nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass die gegen alle Angeklagten verhängten Freiheitsstrafen geringer ausgefallen wären, wenn die Zeugen Sü. und D. bei einer Vernehmung zur Sache den von der Jugendkammer festgestellten Inhalt des Versöhnungsgesprächs nicht bestätigt hätten und das Gericht ihn seiner Entscheidung nicht (so) zu Grunde gelegt hätte.
2. Der Erfolg der von den Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen führt zur Aufhebung der Strafaussprüche und der diese betreffenden Feststellungen. Hierzu gehören neben den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten insbesondere diejenigen zum Entschluss der Familie A. , Elyas C. zu bestrafen und zu den Zeitpunkten, in denen die Angeklagten gegebenenfalls von einem solchen Entschluss informiert wurden. Einer Aufhebung der Feststellungen zur uneingeschränkt vorhandenen Schuldfähigkeit der Angeklagten bedarf es dagegen nicht; sie wurden rechtsfehlerfrei und unbeeinflusst von dem Verfahrensfehler, der zur teilweisen Urteilsaufhebung führt, getroffen.
III.
Die Revisionen der Nebenkläger haben keinen Erfolg.
Der Senat schließt sich insofern den Ausführungen des Generalbundesanwalts in den Antragsschriften vom 14. Januar 2010 an.
Tepperwien Solin-Stojanović Cierniak
Franke Mutzbauer
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