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1949-09-12 00:00:00
2021-05-07 00:00:00
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227
19
Philipp
Amthor
11,004,656
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es zu vorgerückter Stunde um Religionsverfassungsrecht und Rechtsgeschichte geht, kann ich verstehen, dass Herr von Notz nicht der Einzige ist, der es gar nicht abwarten kann, in diese Debatte einzutreten. Aber es hat auch große Relevanz für die Gegenwart, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist in der Tat 218 Jahre her, dass ein Großteil des kirchlichen Herrschaftsbesitzes im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses säkularisiert und weltlich eingezogen wurde. Dafür waren und dafür sind die Kirchen zu entschädigen. Und seit gut 102 Jahren, seit der Weimarer Reichsverfassung von 1919, besteht der Verfassungsauftrag, die dafür fälligen Staatsleistungen abzulösen. Diesen Auftrag nehmen auch wir ernst; aber diesen Auftrag werden wir in dieser Wahlperiode noch nicht abschließen können. Gleichwohl war es, wie ich schon in der ersten Lesung gesagt hatte und wie ich es jetzt nach der Expertenanhörung im Innenausschuss bekräftige, durchaus sinnvoll und notwendig, dass wir dieses Thema in dieser Legislaturperiode einmal grundlegend diskutiert haben. Insoweit möchte ich ohne Pointe und ehrlich anerkennend auch Worte an die Kollegen von Grünen, FDP und Linken richten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben durchaus die etwas erlahmte Diskussion konstruktiv wiederbelebt und sinnvolle Impulse gegeben. Das finde ich kollegial und vernünftig; das kann man auch einmal anerkennen. ({0}) Dieses Lob kann ich allerdings nicht an die ganze Opposition weitergeben; denn der Antrag der AfD, der uns vorliegt, ist lediglich ein Vorschlag einer unrechtmäßigen Schlechterstellung der Kirchen. Er ist verfassungswidrig. Das habe ich in der ersten Lesung bereits gesagt, und das hat sich in der Anhörung bestätigt. Aber zurück zum Konstruktiven. Es ist richtig, dass es die Erwartung einer grundsätzlichen Entflechtung der finanziellen Beziehungen von Staat und Kirche gibt. Aber es ist ebenso berechtigt, dass die Kirchen vom Staat erwarten, dass wir unseren historischen Verpflichtungen nachkommen. Dazu für ein künftiges Gesetzgebungsverfahren vier Anmerkungen: Erstens. Wir stehen – das haben unsere Debatten gezeigt – weiter vor dem Definitionsproblem, was sich genau hinter Staatsleistungen im Sinne von Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung verbergen soll. Dem sind die Entwürfe der Opposition auch nicht nachgekommen. Zweitens. Wir werden über die Höhe des Ablösefaktors noch diskutieren müssen. Die Opposition schlägt eine Anknüpfung an das Bewertungsgesetz vor. Das ist nicht völlig fernliegend; aber es beachtet nicht das aktuelle Niedrigzinsumfeld, in dem wir uns bewegen. Mir ist es jedenfalls wichtig, dass unsere Kirchen nach dem Äquivalenzprinzip entschädigt werden und dass es nicht zu einer irgendwie gelockerten Entschädigungspflicht kommt, wie es mancher Gutachter vertreten hat. Drittens stehen wir vor dem Problem einer notwendigen regionalen Differenzierung bei der Ablösung der Staatsleistungen. Gerade als ostdeutscher Abgeordneter sage ich, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Diözesen und Landeskirchen in Deutschland im Verlauf der Geschichte unterschiedlichen Belastungen ausgesetzt waren. Darauf müssen wir mit Flexibilität reagieren. Schließlich stehen wir vor der Notwendigkeit eines breiten Beteiligungsprozesses. Die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz weisen dem Bund nicht die Rolle des Zahlmeisters bei der Ablösung der Staatsleistungen zu, sondern die Rolle des neutralen Maklers. Wir sollen die Grundsätze definieren; aber die Bundesländer sollen am Ende bezahlen. Man muss der Ehrlichkeit halber sagen, dass die Bundesländer im Moment – das überrascht angesichts der Haushaltslage auch nicht – kein Interesse an der Ablösung der Staatsleistungen haben. Wir sollten also die Bundesländer mitnehmen, und ich wünsche mir, dass wir auch intensiver mit unseren Kirchen reden; denn sie nehmen die wertvolle Aufgabe der Wohlfahrtspflege wahr. Insgesamt sage ich: konstruktiv, keine Debatte, die zum Polemisieren neigt, eine sinnvolle Initiative, noch nicht des Rätsels letzter Schluss. Wir nehmen die Debatte mit, werden dies aber erst in der nächsten Legislaturperiode angehen. Trotzdem herzlichen Dank für diesen konstruktiven Beitrag. ({1})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,550
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Heike Baehrens. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,513
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Philipp Amthor. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Volker Münz. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,514
227
19
Volker
Münz
11,004,835
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen ist überfällig. Es geht um die Glaubwürdigkeit des Gesetzgebers und der Kirchen. Seit über 200 Jahren zahlen die Bundesländer bzw. ihre Rechtsvorgänger Entschädigungsleistungen für Enteignungen aus der Zeit der napoleonischen Besatzung um das Jahr 1800 an die Kirchen. Seit über 100 Jahren gibt es den Verfassungsauftrag, die Staatsleistungen zu beenden. Dieser Auftrag wurde bis heute nicht umgesetzt, obwohl die Religionsartikel der Weimarer Reichsverfassung Bestandteil des Grundgesetzes sind. Dieser seit über 100 Jahren bestehende Verfassungsauftrag sollte endlich umgesetzt werden, meine Damen und Herren. ({0}) Die Staatsleistungen belaufen sich derzeit auf rund 550 Millionen Euro pro Jahr an die Katholische Kirche und an die evangelischen Landeskirchen. Es geht hier nicht um die 12 Milliarden Euro Kirchensteuer; denn diese sind Mitgliedsbeiträge und keine staatlichen Zahlungen. Es geht auch nicht um Zuschüsse für Kirchenrenovierungen, Diakonie, Kindergärten oder Ähnliches. Von den Gesamteinnahmen der Kirchen machen die Staatsleistungen nur rund 2 Prozent aus. Kirche und Staat sollten entflochten werden, nicht nur finanziell. Es sind unterschiedliche Bereiche, wie es auch schon in der Bibel steht. Auch als evangelischer Christ stimme ich dem emeritierten Papst Benedikt zu, der gesagt hat, dass die Kirche sich entweltlichen müsse. ({1}) Die Kirchen haben eine besondere Stellung in unserem christlich geprägten Land, und die sollen sie auch behalten. Aber eine zu enge finanzielle, organisatorische und personelle Verflechtung von Kirche und Staat und die gegenseitige Einmischung taten selten in der Geschichte gut und tun auch heute nicht gut, meine Damen und Herren. ({2}) Nur durch die im internationalen Vergleich gute Finanzausstattung können sich die deutschen Amtskirchen Dingen zuwenden, die mit Kirche nichts zu tun haben. So leistet sich zum Beispiel die EKD ein Institut zur Förderung der Genderideologie – die der Bibel widerspricht! – ({3}) und ein Schiff auf dem Mittelmeer, welches unter der Antifa-Flagge fährt. Dies wird letztlich auch durch Staatsleistungen finanziert. Es ist unfassbar. ({4}) Beide großen Kirchen mischen sich zudem einseitig in die Politik ein. Eine Konzentration der Kirchen auf ihre eigentlichen Aufgaben, also Verkündigung und Seelsorge, ist notwendig, um dem Mitgliederschwund zu begegnen. ({5}) Nach dem Gesetzentwurf meiner Fraktion sollen die Bundesländer in den nächsten fünf Jahren noch insgesamt rund 3 Milliarden Euro an die Kirchen zahlen. ({6}) Dies sehen wir als angemessen an. ({7}) Die Anhörung hat ergeben, dass das Äquivalenzprinzip, auf das Sie bauen, und auch das Bewertungsgesetz hier nicht anzuwenden ist. ({8}) Seit 200 Jahren wird bezahlt, noch 100 Jahre nach dem Verfassungsgebot der Ablösung. Den Gemeinschaftsentwurf der anderen Oppositionsfraktionen lehnen wir als vollkommen überzogen ab. ({9}) Danach würden die Bundesländer noch weitere 20 Jahre Staatsleistungen von insgesamt rund 10 Milliarden Euro bezahlen und außerdem noch eine Ablösesumme von 10 Milliarden Euro, zusammen also 20 Milliarden Euro. ({10}) Das widerspricht unseres Erachtens dem Grundsatz der Angemessenheit und ist geeignet, die Integrität der Kirche weiter zu beeinträchtigen, meine Damen und Herren. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({11})
0
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,515
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Volker Münz. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Lars Castellucci. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,516
227
19
Lars
Castellucci
11,004,257
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen zwei Gesetzentwürfe zum Thema Staatsleistungen vor, der erste von der AfD-Fraktion; wir haben das eben mitanhören müssen. ({0}) Wir haben wieder mal festgestellt – das ist auch nicht sehr verwunderlich –, dass eine Partei, die immer wieder Fragezeichen hervorruft, was ihre Verfassungstreue anlangt, uns hier verfassungswidrige Gesetze vorlegt. ({1}) Insofern kann das hier einfach zu den Akten genommen werden. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, kann man sich Ihre Rede noch mal zu Gemüte führen, Herr Münz. Wenn man für die Trennung von Staat und Kirche ist, dann ist es nicht ziemlich, sich an dieses Pult zu stellen und den Kirchen zu sagen, wofür sie ihre Gelder auszugeben haben. Das hat mit Religionsfreiheit nämlich überhaupt nichts zu tun. ({2}) Es ist so: Sie sind nicht auf dem Boden unserer Verfassung unterwegs. Das wird irgendwann einmal von unseren Behörden auch so klar festgestellt werden. ({3}) Der andere Gesetzentwurf hat hingegen eine Würdigung verdient; keine Frage. Ich will trotzdem begründen, warum wir ihn ablehnen werden. Das hat mit der sehr qualifizierten Anhörung im Innenausschuss zu tun. Ich will drei Punkte herausgreifen, die mir da deutlich geworden sind: Der erste Punkt ist, dass wir hinsichtlich des Begriffs der Staatsleistungen eine gemeinsame, präzise Vorstellung brauchen, bevor wir über die Ablösung dieser Staatsleistungen sprechen können. Der zweite Punkt, der wichtig ist, betrifft die Höhe der Ablösung. Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen: Ich bin für ein Äquivalenzprinzip; sonst hätte ich das in Richtung der AfD nicht so sagen können. Es geht also darum, dass die Leistungen nicht einfach auslaufen, sondern man die Kirchen in die Lage versetzt, mit den Erträgen aus den Geldern ihre Arbeit langfristig zu erfüllen. ({4}) Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Allerdings haben uns die Sachverständigen klar gesagt, dass es im Kern um Angemessenheit und nicht notwendigerweise um Äquivalenz geht. Wenn wir hier ein verfassungsrechtlich vernünftiges Gesetz vorlegen wollen, werden wir auch über diese Frage zu sprechen haben. Der dritte Punkt ist mir der allerwichtigste; auch das ist von den Sachverständigen klar gesagt worden. Die Rechnung haben am Ende die Länder zu zahlen. Deswegen sind wir sehr gut beraten – und dazu sind wir von den Sachverständigen auch aufgefordert worden –, diese Fragen zu behandeln, weil es uns unsere Verfassung aufträgt, aber eben nur im Rahmen eines Grundsätzegesetzes, das die Länder ermächtigt, tätig zu werden, und ihnen den Korridor aufzeigt, in dem sie tätig werden können. Das müssen wir gut vorbereiten, mit wissenschaftlichem Verstand und mit denjenigen, die betroffen sind, mit den Kirchen und den Bundesländern, die das am Ende aus ihren Haushalten zu zahlen haben. Diesen nächsten Schritt werden wir erst in der nächsten Wahlperiode gehen können. ({5}) Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass ich das Religionsverfassungsrecht, also den Rahmen, den wir uns für das Verhältnis von Kirche und Staat gegeben haben, für einen sehr guten Rahmen halte. Er ist nicht vom Himmel gefallen. Es gab Zeiten, in denen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion notwendig war, beispielsweise um bestimmte Staatsämter zu bekleiden. ({6}) Davon haben wir uns, Gott sei Dank, verabschiedet. Wir haben uns danach aber nicht für ein laizistisches Prinzip entschieden und die Religion einfach ins Private abgleiten lassen, sondern ein Modell einer freundlichen Trennung von Staat und Kirche erfunden. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch die Fragen, die wir heute debattieren, zusammen mit den Kirchen zu einer guten Lösung bringen können. Das ist unser Wille, und das sage ich Ihnen für die nächste Wahlperiode auch zu. Vielen Dank. ({7})
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,517
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Dr. Lars Castellucci. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Benjamin Strasser. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,518
227
19
Benjamin
Strasser
11,004,908
Hochverehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gibt es für die Lösung von unangenehmen Fragen überhaupt einen richtigen Zeitpunkt? Vermutlich nicht. Trotzdem muss man sie lösen. Eine solch unangenehme Frage ist die Ablösung der Staatsleistungen der Kirchen. Seit über 100 Jahren ist sie ein Verfassungsauftrag, der schlicht und einfach vom Gesetzgeber ignoriert wird. Über eine halbe Milliarde Euro pro Jahr zahlen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler an die Kirchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute besteht die historische Chance, diesen Verfassungsauftrag mit Leben zu erfüllen und mit dem Einstieg vom Ausstieg dieser Staatsleistungen zu beginnen. Nutzen wir diese Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Ungelöst ist diese unangenehme Frage auch, weil sich die Beteiligten mit dem bestehenden System irgendwie zurechtgefunden haben, trotz des krassen Interessenkonflikts: auf der einen Seite die Länder, die natürlich möglichst wenig Ablösung an die Kirchen zahlen wollen, auf der anderen Seite die Kirchen, die eine möglichst hohe Ablösesumme erzielen wollen. Deshalb, Herr Kollege Amthor, haben die Mütter und Väter der Weimarer Verfassung bewusst entschieden, dass die Grundsätze nicht die Länder festsetzen sollen, sondern der Bund als ehrlicher Makler. Und deswegen kann man nicht sagen: Wir warten mit der Verabschiedung eines Grundsätzegesetzes, bis sich die Kirchen und die Länder darüber einig geworden sind, was in einem solchen Grundsätzegesetz stehen soll. – Es ist unsere Aufgabe als Deutscher Bundestag, diesem Auftrag nachzukommen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) FDP, Linke und Grüne nehmen diese Aufgabe ernst. Wir haben einen fairen Kompromiss vorgelegt. Er ist fair, weil er auf der einen Seite den Kirchen eine angemessene Entschädigung über das Äquivalenzprinzip zusichert und auf der anderen Seite den Ländern sowohl flexible Ablösemodalitäten ermöglicht als auch einen finanziellen Deckel mit dem Faktor 18,6 aus dem Bewertungsgesetz einzieht. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass von allen Seiten Zuspruch kommt. Die Entrüstung bei Ländern und Kirchen ist ausgeblieben. Die Sachverständigen haben in ihrer ganz großen Mehrheit unserem Gesetzentwurf zugestimmt. Und selbst die Große Koalition nutzt jede Chance, unseren Gesetzentwurf zu loben, und wird ihn deswegen konsequenterweise heute ablehnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen, Sie haben weder einen Änderungsantrag zu unserem Gesetzentwurf vorgelegt noch einen eigenen Vorschlag in die Debatte eingebracht. Das können Sie tun. Aber eines ist klar: Die Zeit der Ausreden und des Aussitzens ist vorbei! Wenn Sie heute Nein sagen, sehen wir uns im Herbst bei den Koalitionsverhandlungen wieder, und dann lösen wir diese unangenehme Frage. ({2}) Vielen Dank. ({3})
13
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,519
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Christine Buchholz. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,520
227
19
Christine
Buchholz
11,004,022
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der von FDP, Grünen und uns Linken gemeinsam eingebrachte Entwurf eines Grundsätzegesetzes zur Ablösung der Staatsleistungen an die großen Kirchen ist der erste fraktionsübergreifende Gesetzentwurf, der den bis heute gültigen Verfassungsauftrag aus der Weimarer Reichsverfassung zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen umsetzt. Vor über 200 Jahren wurde Kirchenbesitz enteignet. Seitdem zahlt der Staat Jahr für Jahr entsprechend des kirchlichen Entschädigungsanspruchs. Das führt zu jährlich wachsenden Zahlungen des Staates an die Kirchen. Allein 2021 zahlen die Bundesländer rund 581 Millionen Euro an die Kirchen. Wir wollen das beenden. ({0}) Im Innenausschuss gab es eine Anhörung mit hochkarätigen Expertinnen und Experten. Unisono haben sie klargemacht: Die Umsetzung des Verfassungsauftrages ist geboten. SPD und CDU – das muss ich hier leider so deutlich sagen – haben bisher die Arbeit verweigert; deswegen haben wir es gemacht. Vielen Dank noch mal an Stefan Ruppert und Benjamin Strasser von der FDP, Konstantin von Notz von den Grünen und natürlich auch an meinen Kollegen Friedrich Straetmanns, der an diesem Entwurf mitgearbeitet hat. ({1}) Mit dem Gesetz sollen die Länder in die Lage versetzt werden, die jährlichen finanziellen Leistungen an die Kirchen rechtssicher und dauerhaft abzulösen. Es ist der rechtliche Rahmen, innerhalb dessen die endgültige Entschädigung zu ermitteln ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, diese Ablösung in Gang zu setzen. ({2}) Dieser Rahmen belässt den Bundesländern hinreichend Handlungsspielraum für die konkrete Umsetzung; denn sie sind es ja, die entschädigen müssen. Im Gesetzentwurf haben wir das 18,6-Fache der jährlichen Zahlungen an die Kirchen als ausreichend angesehen. Bundesländer und Kirchen können sich gemeinsam auf niedrigere Werte oder andere Entschädigungsarten einigen. Wir stellen hier nur die Grundsätze auf. Ich will auch noch mal sagen, dass eine wichtige Erkenntnis aus der Anhörung war, dass die Entschädigung nicht zwangsläufig in der Höhe des Äquivalenzbetrags erfolgen muss. Wir als Linke sagen klipp und klar: Wir können uns auch einen deutlich niedrigeren Wert vorstellen. ({3}) Ich finde es interessant, dass in der Debatte kaum noch die Nebelkerzen der Vergangenheit gezündet werden. Es wurde ja immer gesagt, der Gesetzentwurf richte sich gegen die Kirchen. Diesen Vorwurf haben, glaube ich, alle Experten ausgeräumt. Eine Ablösung, hieß es, würde die wichtigen sozialen Dienste, die die Kirchen leisten, infrage stellen. Aber auch das ist nicht richtig; denn sozialstaatliche Leistungen durch kirchliche Einrichtungen wie Alten- und Krankenpflege werden sozialbuchrechtlich finanziert. Wir sind der Meinung: Es gibt keine weiteren Ausreden mehr. Es darf kein weiteres Zögern bei dem wichtigen Thema geben, die Entflechtung von Staat und Religion auch hinsichtlich der finanziellen Beziehungen umzusetzen. Deswegen: Stimmen Sie heute unserem Gesetzentwurf zu. ({4})
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,521
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Christine Buchholz. ({0}) – Was lange währt … ({1}) Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Konstantin von Notz. ({2})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,522
227
19
Konstantin
von Notz
11,004,123
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Über 100 Jahre – es ist oft gesagt worden –: So alt ist der konkrete Verfassungsauftrag. Und ich kann es heute Abend – das haben Sie alle gesehen – gar nicht abwarten, dass wir es jetzt endlich hinbekommen. Es muss angegangen werden. Der Gesetzgeber hat es 100 Jahre liegen gelassen. Und mit dem Gesetzentwurf der FDP, der Linken und der Grünen liegt hier und heute etwas sehr Konkretes vor, das diesen Missstand endlich beenden kann. ({0}) Dass alle Oppositionsfraktionen – alle demokratischen Oppositionsfraktionen – hier gemeinsam einen Gesetzentwurf vorlegen, ({1}) zeigt die große Relevanz dieses Themas und dokumentiert leider auch – das kann ich der GroKo nicht ersparen – die Bräsigkeit der großen, aber vor allen Dingen müden und zerstrittenen Koalition, die sich trotz monatelanger Einbindung nicht dazu entschließen konnte, sich hier mit Substanz einzubringen. Das ist sehr bedauerlich, meine Damen und Herren. ({2}) Unser Entwurf rüttelt nicht am bewährten und verfassungsrechtlich gesicherten kooperativen Grundverständnis von Kirche und Staat. Denn diese Grundlage hat sich gerade in diesen bewegten Zeiten bewährt. Wir entscheiden auch nicht darüber, ob die Möglichkeit zur Erhebung von Kirchensteuern legitim ist oder nicht. Diese allen Religionsgemeinschaften offenstehende Möglichkeit ist für uns eine Errungenschaft und bleibt von diesen Regelungen völlig unberührt. Wir entscheiden heute allein über die sogenannten Staatskirchenleistungen. Es geht also um die historischen Leistungspflichten der Länder gegenüber den Kirchen. Dass diese Pflichten nicht ewig bestehen sollen, war der explizite Wille der Mütter und Väter unserer Verfassung, und diese Ablösung ist überfällig, meine Damen und Herren. ({3}) Alle Expertinnen und Experten unserer Anhörung waren sich einig – es ist gesagt worden –: Unser Entwurf zeigt einen verfassungsrechtlich gangbaren Weg. – Über diese positiven und konstruktiven Einschätzungen haben wir uns gefreut. Wir wollen die Abhängigkeit der Kirchen vom Staat beenden und die staatlichen Haushalte langfristig entlasten. Dabei legen wir das Äquivalenzprinzip an; denn alles andere ist – und das hat die Anhörung auch glasklar gezeigt – nicht verfassungskonform. Und dass die AfD es nicht hinbekommt, selbst in so schlichten Fragen auf dem Boden des Grundgesetzes zu bleiben, spricht für sich, meine Damen und Herren. ({4}) Schließlich wird unser Gesetzentwurf auch der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Religionsgemeinschaften gerecht. Die Kirchen, kirchlichen Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Bahnhofsmissionen, Sozialeinrichtungen und vieles mehr sind wichtiger Teil der sozialen Infrastruktur unseres Landes, gerade in der Fläche, meine Damen und Herren. Und deswegen will ich für diesen Einsatz, die Arbeit, die gelebte Nächstenliebe an dieser Stelle allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirchen und den Kirchen selbst ganz herzlichen Dank sagen, meine Damen und Herren. ({5}) Der Gesetzgeber sollte die Dinge regeln, wenn er es unbefangen und selbstbestimmt tun kann. Mit den Kirchen und den Ländern standen und stehen wir im Dialog. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, die Ablösung endlich in Angriff zu nehmen. Bedanken möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen von FDP und Linken – ich finde es gut, dass wir das so gut zusammen hinbekommen haben –, insbesondere beim Kollegen Stefan Ruppert, beim Kollegen Benjamin Strasser und bei der Kollegin Buchholz. Ganz herzlichen Dank für die vertrauensvolle Kooperation! Der GroKo kann ich nur sagen: Danke für die netten Worte, gerade auch von der CDU Mecklenburg-Vorpommern. ({6}) Aber mit warmen Worten, lieber Philipp Amthor, wird man einem Verfassungsauftrag nicht gerecht. ({7}) Wenn Sie heute nicht zustimmen oder sich enthalten sollten, frage ich Sie: Wo ist Ihr Entwurf, meine Damen und Herren? – Ich frage für einen Freund, der Artikel 140 GG ernst nimmt. Herzlichen Dank. ({8})
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,523
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Dr. Konstantin von Notz. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Marc Henrichmann. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,524
227
19
Marc
Henrichmann
11,004,744
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Jahre 1803 verloren die Kirchen Besitztümer, Flächen, Vermögen. Damit haben sie eigentlich die Grundlage, ihre Einnahmequelle, komplett verloren. Im Gegenzug hieß es, der Staat übernehme zukünftig die Finanzierung der Kirchen – als Ausgleich, nicht als Entschädigung. Später wurde in der Tat geregelt, dass Staatsleistungen durch Landesgesetzgebung abgelöst werden und die Grundsätze vom damaligen Reich oder, übertragen in die heutige Zeit, vom Bund geregelt werden. Es ist gut und richtig, das anzugehen. Deswegen kann ich auch dem Kollegen Amthor uneingeschränkt zustimmen. Wie man es nicht machen darf – das hat die Anhörung bewiesen und auch die Einlassung des Kollegen Münz von der AfD –, ist, einfach zu sagen: Wir lassen es auslaufen. – Die Experten sagen: Schlichtes Auslaufenlassen genügt nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben. – Ehrlicherweise ist das Willkür, weil einem die Kirche nicht passt – das wurde ja auch deutlich –, und mit Willkür kann man vielleicht in der AfD punkten, aber kein Land führen. ({0}) Aber auch über die Oppositionsvorlage müssen wir kritisch reden; denn so einfach, wie es gesagt wird, ist es ja auch nicht. Es gab in der Anhörung doch die eine oder andere Einlassung, die besagte: Man muss darüber reden, ob die Leistungen der Kommunen, die es ja hier und da gibt und die teilweise auch in den Landesverfassungen geregelt sind, miteinbezogen werden müssen. – Auch über den Faktor von 18,6 wird gestritten, weil er zum Beispiel auch eine Verzinsung von 5,5 Prozent jährlich beinhaltet, die eigentlich nirgendwo zu erzielen ist. Das Äquivalenzprinzip ist auch nicht ganz so unumstritten. Aber was ich persönlich am schlimmsten finde: Es gibt ja Vereinbarungen und auch Regelungen wie den Artikel 18 des immer noch gültigen Reichskonkordats, der besagt, dass „vor der Ausarbeitung der für die Ablösung aufzustellenden Grundsätze rechtzeitig“ ein Einvernehmen mit den Kirchen herbeizuführen ist. Und § 3 Ihres Gesetzentwurfs besagt jetzt: Die Verständigung mit den Kirchen ist möglich, aber nach der Aufstellung der Grundsätze. – Sie setzen sich hiermit über geltendes Recht hinweg, meine Damen und Herren. ({1}) Die Frage ist komplex, und die Kirchen leisten – das klang an – gerade im ländlichen Raum ganz wertvolle Dienste im Bereich Betreuung, Seelsorge usw. Ich glaube, man wird sich auch die Situation der Kirchen in den weiteren Beratungen anschauen müssen. In Nordrhein-Westfalen machen die Staatsleistungen nicht mal 1 Prozent der Einnahmen der Kirche aus, anderswo über 20 Prozent. Und wir wollen nicht, dass funktionierende Strukturen in Schieflage geraten. Deswegen gebietet die Fairness, hier miteinander zu reden, so wie es die Vereinbarungen vorsehen. ({2}) Im Deutschlandfunk haben sich die einbringenden Fraktionen in der Bundespressekonferenz seinerzeit erklärt. Kollege von Notz, Sie haben dann sinngemäß gesagt, über die Zahlungsmodalitäten entscheide nicht ein Land, das müsse kooperativ ausgehandelt werden, es brauche zwei Seiten. Ja, es braucht zwei Seiten, und die bestehen nicht aus dem Gesetzgeber hier und irgendwem sonst, sondern die Kirchen sind ein wichtiger Part. Und mit den Kirchen gemeinsam muss es eine Lösung geben. Auf den Weg haben wir uns gemacht. ({3}) Es ist komplexer, als es scheint. Die Lösung ist nicht dieser Gesetzentwurf. Wir laden Sie herzlich ein, mit uns gemeinsam zu beraten. ({4}) Wir werden in der nächsten Wahlperiode in der Tat eine Lösung finden.
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,525
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Kommen Sie bitte zum Schluss.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,526
227
19
Marc
Henrichmann
11,004,744
Aber dieses Gesetz ist keine Lösung für dieses sehr komplexe Thema. Vielen Dank. ({0})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,527
227
19
Barbara
Hendricks
11,002,672
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen in der Tat vor der Aufgabe, einen Verfassungsauftrag zu erfüllen, der seit nunmehr über hundert Jahren besteht, eine Altlast, die eine erhebliche fiskalische Anstrengung verlangt und deren Beseitigung die betroffenen Religionsgemeinschaften nicht überfordern darf. Seit Inkrafttreten der Weimarer Verfassung ist der Gesetzgeber aufgefordert, sämtliche Staatsleistungen an die evangelischen Landeskirchen und die katholischen Bistümer durch einmalige Ablösung endgültig zu beenden. In Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung sind drei unterschiedliche Wirkungen festgehalten: Erstens werden die Länder verpflichtet, die Staatsleistungen im Wege der Landesgesetzgebung durch Ablösung zu beenden. Zweitens enthält die Norm eine Garantie für den Fortbestand der Staatsleistungen bis zu ihrer Ablösung; da befinden wir uns jetzt immer noch. Und drittens wird die Einrichtung neuer Staatsleistungen ausgeschlossen. Die Zahlung von Staatsleistungen an die Kirchen in Deutschland hat historische Ursachen. So entstanden sie als Ausgleich für vorangegangene Enteignungen im Zuge der Säkularisation. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, dem letzten bedeutenden Beschluss im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, gingen wesentliche kirchliche Güter auf weltliche Herrschaften über, und die Regentschaften geistlicher Herrscher wurden beendet. Mit der Annektierung dieser Güter übernahmen die neuen weltlichen Regenten als Rechtsnachfolger auch die lebenslänglichen Unterhaltsverpflichtungen für die vorherigen geistlichen Regenten und die Baulasten für kirchliche Gebäude. Die Rechtsnachfolger dieser weltlichen Regenten wiederum sind seit 1919 die Länder. Aber sehr häufig sind die Nachfahren dieser ehemaligen weltlichen Regenten wiederum die Nutznießer der damaligen Eigentumsübertragung. In Form von Staatsleistungen entschädigen die Bundesländer die Kirchen bis zum heutigen Tage, da der Weimarer Verfassungsauftrag, wie wir alle wissen, bislang nicht umgesetzt wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Länder rechtssicher in die Lage zu versetzen, die Staatsleistungen in der Zukunft abzulösen, benötigen wir also ein Rahmengesetz des Bundes, ein Grundsätzegesetz, in dem sichergestellt ist, dass eine leistungsäquivalente Ablösung der Staatsleistungen durch die Länder ermöglicht wird. Diesem Umstand werden die Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen nicht gerecht. Aufgrund der geschichtlich bedingten unterschiedlichen Sachlagen und Vertragssituationen in den Ländern lehne ich daher einen konkreten Faktor, wie es im Entwurf vorgesehen ist, ab. Auch wenn die Länder mittel- und langfristig Kosten einsparen, werden sie bei Inkrafttreten eines Staatsleistungsablösegesetzes mit unterschiedlich hohen Kosten konfrontiert sein. Bislang sind die, die es betrifft, aber nicht in die Beratungen der vorliegenden Gesetzentwürfe einbezogen worden. Auch das wird der Sache nicht gerecht. Es ist mir also ein besonderes Anliegen, zunächst eine Kommission mit allen Beteiligten zu bilden, um einen verfassungskonformen und tragbaren Konsens zu finden. Neben den Kirchen, der Wissenschaft und dem Bund sollten zuvorderst die Länder mit am Tisch sitzen. Herzlichen Dank. ({0})
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,528
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Dr. Barbara Hendricks. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Volker Ullrich. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,529
227
19
Volker
Ullrich
11,004,427
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Artikel 140 des Grundgesetzes sieht in der Tat einen Verfassungsauftrag vor, die Staatsleistungen abzulösen. Es geht nicht um das Ob, sondern nur um das Wie und das Wann. Der Hintergrund ist die Beendigung staatlicher Herrschaft im Jahr 1803 durch die Kirchen und nicht die Frage der Kompensation für Religion. Und es ist auch grundsätzlich, wenn man sich die Einnahmesituation der Kirchen ansieht, leistbar, weil in der Tat die Staatsleistungen nur einen untergeordneten Teil der Finanzierung einnehmen. Dennoch ist die Sachlage komplex, und das müssen wir berücksichtigen. Die Weimarer Reichsverfassung hat eine auf den ersten Blick eigentümliche Konstruktion gewählt. Das Reich oder jetzt der Bund stellt die Grundsätze auf, und die Länder lösen durch eigene Gesetzgebung ab. Der Hintergrund ist, dass das Reich oder der Bund verhindern wollte, dass die Länder unter Wert und damit unter dem Verfassungsauftrag, die Ablösung sicherzustellen, die Kirchen entschädigen. In den zwölf Jahren der Weimarer Republik war naturgemäß eine Ablösung nicht möglich. Und die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich bei der Frage nach dem Religionsverfassungsrecht zunächst einmal ziemlich schwergetan und deswegen als Kompromiss schlichtweg die Artikel der Weimarer Reichsverfassung übernommen. Das ist der Grund, warum über viele Jahrzehnte wenig passiert ist. Man hat sich damit arrangiert. Aber in der Tat: Der verfassungsmäßige Auftrag bleibt, und wir nehmen ihn ernst und werden ihn demnächst erfüllen. Der Punkt ist aber, dass der vorliegende Gesetzentwurf an zwei oder drei Stellen eine Nachschärfung braucht. Es geht um die Frage: Was sind Staatsleistungen? Die positiven oder auch die negativen wie Vergünstigungen und die Leistungen der Gemeinden? Es geht um die Frage der Bewertung: Sind Staatsleistungen tatsächlich nach dem Bewertungsgesetz zu bewerten wie ein Kapitalwert eines Wirtschaftsgutes? Und die Frage ist in der Tat: Wie und in welchem Umfang müssen wir tatsächlich die Länder einbeziehen? Wir haben ein Verfassungssystem der Kooperation zwischen Bund und Ländern. Deswegen sollte der Bund kein Gesetz machen, das die Länder alleine ausführen und bezahlen müssen, ohne dass wir uns mit den Ländern ins Benehmen gesetzt haben. Das wäre kein bundesfreundliches Verhalten. ({0}) Mir ist wichtig, einen letzten Punkt zu betonen: Was bleibt, wenn wir abgelöst haben? Das sind die Grundsätze im Staatskirchenrecht, der Umstand, dass die Kirchen Körperschaft des öffentlichen Rechts sind, dass die Sonntagsruhe gilt und dass die Seelsorge garantiert ist – ein wichtiges Moment für Zusammenhalt in der Gesellschaft, und das wird bleiben. Herzlichen Dank. ({1})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,530
227
19
Gitta
Connemann
11,003,514
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir lieben Lebensmittel: Diesen Satz kann sicherlich jeder von uns unterzeichnen. Denn wer liebt keine Lebensmittel? Jeder will genießen, jeder will essen, jeder will sich gesund ernähren. Alles das ist möglich mit Lebensmitteln aus Deutschland. Noch nie waren diese so sicher wie heute; das bestätigt das Bundesinstitut für Risikobewertung. Noch nie wurde ihnen so vertraut wie heute, und zwar weltweit. Lebensmittel made in Germany sind heiß begehrt. ({0}) Aber wie zeigt sich diese Liebe? Durch das Verhalten an der Kasse? Nein. In kaum einem Land wird weniger für Essen und Trinken ausgegeben als in Deutschland – knapp 10 Prozent des Haushaltseinkommens. Ramschpreise machen es möglich, zum Beispiel morgen: 1 Kilo Schweinenacken für 3,99 Euro. Was nichts kostet, scheint nichts wert zu sein. Im Schnitt wirft jeder Verbraucher 76 Kilo pro Jahr in den Müll – insgesamt 6,1 Millionen Tonnen an Energie, an CO Wie zeigt der Handel seine Liebe? Durch Fairness? Beim Handel vor Ort bestimmt. Er kauft regional zu, er sucht die Partnerschaft mit dem Landwirt, mit dem Bäcker, mit den Metzgern. Aber wie ist es bei den Großen? Fairness? Augenhöhe? Nein. David tritt gegen Goliath an. Zehntausende von Produzenten gegen vier Riesen, die 85 Prozent des Marktes in der Hand halten und immer noch mehr wollen. Dafür führen sie brutale Kämpfe auf dem Rücken von Landwirten und Lieferanten. Deshalb bauen wir heute für sie einen Schutzwall. Deshalb haben wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung noch einmal verschärft. Mein besonderer Dank gilt insoweit unserem Berichterstatter Albert Stegemann, aber auch unserer Kollegin Ursula Schulte. Auf der schwarzen Verbotsliste stehen jetzt neben zum Beispiel kurzfristigen Stornierungen, einseitigen Vertragsänderungen und kommerziellen Vergeltungsmaßnahmen auch die Rückgabe von unverkauften Produkten und Listungsgebühren. Kein ehrbarer Kaufmann macht so etwas. Die graue Liste ist nur noch kurz. Denn welche Vereinbarung sollte David gegen Goliath schon fair aushandeln können? Zu den Davids gehören übrigens auch unsere Genossenschaften. Eine Molkerei mit einem Inlandsumsatz von 3 Milliarden Euro klingt stark. Aber was ist das gegen die Nummer eins des Handels mit einem Inlandsumsatz von 67 Milliarden Euro? ({1}) Deshalb haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion dafür gekämpft, dass der Schutzbereich ausgeweitet wird. Das war uns besonders wichtig. Jetzt fallen eben auch die großen Erzeugergenossenschaften in den Bereichen Obst, Milch, Fleisch und Gemüse mit einem Umsatz von bis zu 4 Milliarden Euro darunter, und das ist gut so. ({2}) Bei Verstößen drohen drakonische Bußen. Der Schutzwall steht. Und was haben die Verbraucher davon? Am Ende alles. Wenn die Erzeuger nicht fair behandelt werden, sterben Höfe und Betriebe – und mit ihnen die allerhöchsten Standards, die bei uns in diesem Land gelten. Ein Beispiel gefällig? Früher wurden in Deutschland Gänse gehalten, aber nicht fair bezahlt. Heute kommen sie zum Beispiel aus Frankreich. Dort werden sie qualvoll mit einem Metallstab gestopft – auf das Zehnfache ihres Normalgewichts. Die Daunen kommen übrigens aus China. Dort werden Gänse bei lebendigem Leib gerupft. In Deutschland sind diese tierquälerischen Techniken schon lange verboten. Deshalb haben wir bei uns bereits heute höchste Tierwohlstandards. Das Beste für Tier und Gesundheit kommt also von unseren Landwirten und unseren Lebensmittelproduzenten. ({3}) Deshalb ist dieses Gesetz so wichtig; denn es schützt sie. Den Kampf auf europäischer Ebene für diesen Entwurf hat unsere Ministerin geführt. Insoweit: Herzlichen Dank an Julia Klöckner! ({4}) Wir wollen noch mehr: Wir brauchen zwingend eine Herkunftskennzeichnung – europäisch verbindlich und verpflichtend. Jeder soll erkennen können, woher die Lebensmittel kommen, damit am Ende jeder in diesem Land unter Beweis stellen kann: Ich liebe Lebensmittel. Wir tun es. Stimmen Sie deshalb unserem Gesetzentwurf zu! Vielen Dank. ({5})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,551
227
19
Heike
Baehrens
11,004,244
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war gestern ein guter Tag für die Weltgesundheit und vor allem auch im Kampf gegen die Pandemie. Die Ankündigung der USA, einer zeitweisen Aussetzung der Patentrechte für Covid-Arzneimittel und -Impfstoffe zuzustimmen, ist historisch bedeutsam und gibt Hoffnung. ({0}) Die aktuellen Zahlen zur globalen Impfkampagne müssen aufrütteln. Während wir in Deutschland in Riesenschritten beim Impfen vorankommen und bis heute fast 33 Millionen Dosen verimpft haben, wurden über den Impfstoffverteilmechanismus der Weltgesundheitsorganisation Covax – Stand heute – erst 54 Millionen Dosen verteilt, und das weltweit. Dieses krasse Missverhältnis zeigt, dass wir zwei Dinge jetzt endlich angehen müssen: Der Verteilmechanismus der Weltgesundheitsorganisation muss von allen Industriestaaten unmittelbar mit Impfstoffkontingenten unterstützt werden. ({1}) In dieser Woche beginnt die Auslieferung von Impfdosen über die EU; 650 000 Dosen gehen an die Westbalkanstaaten. Das ist gut, kann aber nur ein Anfang sein. ({2}) Ich hoffe sehr, dass wir nun auch den nächsten Schritt tun und die Logik des großzügigen Spenders verlassen, der nur abgibt, was er selbst übrig hat. ({3}) Impfstoff allen zugänglich zu machen, ist kein karitativer Akt, sondern Teil der globalen Verantwortung. Es ist im Interesse aller Staaten, also auch in unserem eigenen wohlverstandenen Interesse, die Pandemie weltweit unter Kontrolle zu bringen. ({4}) Darum brauchen wir zusätzlich und schnell eben auch die Ausweitung der weltweiten Produktionskapazitäten. In der öffentlichen Anhörung wollten einige Sachverständige den Eindruck erwecken, dass das bestehende System doch bis hierhin ganz gut funktioniert habe und dass die bisherigen Bemühungen, freiwillig Know-how zu teilen und die Produktion auszuweiten, ausreichten. Das ist aber mitnichten der Fall. Ich halte eine solche Aussage angesichts selbst der optimistischsten Verteilprognosen von Covax für mindestens problematisch. Klar ist: Auch Technologietransfer braucht seine Zeit, und auch Lockerungen im Patentrecht – wenn es denn gelingen soll – werden erst mittelfristig Wirkung zeigen. ({5}) Was mir deshalb im Antrag der Linken fehlt, ist ein Konzept, das über die Patentfrage hinausgeht und tatsächlich zu besserer Versorgung und zur Bewältigung der akuten Pandemie führt. ({6}) Wir brauchen jetzt eine globale Impfstrategie. Wir brauchen einen Ausbau der Lieferketten und eine Ausweitung der Produktion. ({7}) Darum kommt viel darauf an, ab sofort die vorhandenen Impfstoffkontingente gerecht unter allen zu teilen und die Pharmaunternehmen dafür zu gewinnen, die ärmsten Länder dieser Welt zu versorgen. Die großen Industrienationen haben die Unternehmen massiv mit Forschungsmitteln und auch beim Aufbau der Produktionsstandorte, vor allem hier in der EU, unterstützt. Manche Staaten haben ihnen sogar mit öffentlichen Geldern das unternehmerische Risiko abgefedert. Dann sollten die Pharmaunternehmen im Gegenzug auch einen fairen Beitrag zur Bewältigung dieser globalen Gesundheitskrise leisten. ({8}) Als SPD setzen wir uns dafür ein, jetzt das historische Fenster zu nutzen, das sich bei den Impfpatenten geöffnet hat. ({9}) Denn wenn wir es nicht schaffen, dem Virus gemeinschaftlich entgegenzutreten, dann hätte das Virus schon gesiegt. In diesem Sinne weiß ich fast alle hier vertretenen Fraktionen einig, dass wir unser Engagement für die globale Covid-19-Bekämpfung weiter ausbauen müssen. Vielen Dank. ({10})
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,531
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Gitta Connemann. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Wilhelm von Gottberg. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,532
227
19
Wilhelm
von Gottberg
11,004,730
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Klöckner! Frau Ministerin, Sie haben bei der Einbringung des Gesetzes am 27. Januar 2021 einleitend ausgeführt – ich zitiere –: Ein menschenwürdiges Einkommen, faire Preise für die Bauernfamilien müssen selbstverständlich sein. Es geht … um Fairplay im und am Markt. Sie wollen mit dem nunmehr nachgebesserten Gesetzentwurf die Position der Bauernfamilien gegenüber dem Einzelhandel stärken, um bessere Erlöse und mehr Fairplay am Markt durchzusetzen. Ihre Absicht ist anerkennenswert. Die Erfolgsaussichten sind aber sehr gering. Die AfD-Fraktion hat die Expertenbefragung zu diesem Gesetz bereits in der ersten Lesung sehr begrüßt und am 22. Februar 2021 entsprechend genau verfolgt. Die Anhörung brachte gute Erkenntnisse, und offenbar weckte sie auch bei der Koalition die Einsicht: Der Gesetzentwurf ist zu modifizieren, ist nachzubessern. – Wir stellen aber fest, dass die Expertenempfehlungen wenig Beachtung gefunden haben. ({0}) Zugestanden sei: Das Thema ist vielschichtig und nicht einfach zu bewerten. – Die zahlreichen Änderungswünsche des Bundesrates belegen dies. Das Resümee der Expertenanhörung bleibt eindrücklich: unnötige Kosten und sinnloses Bewegen von Papier. – Wir gratulieren der Regierungskoalition zu diesem Erfolg. ({1}) Zum Inhalt des Entwurfs: Überwachungsbehörde für die Einhaltung des fairen Wettbewerbs soll die BLE, die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, sein. Dazu hat die Anhörung am 22. Februar ergeben, was ich für die AfD bereits in der ersten Lesung im Januar gefordert habe: Das Bundeskartellamt ist geeigneter für diese Aufgabe. Geschultes Personal ist dort vorhanden, und es hat auch die Kompetenz, unlautere Handelspraktiken mit Bußgeldern zu ahnden. Im Gegensatz dazu muss die BLE für die neue Aufgabe erst aufwendig hochgerüstet werden. Dadurch können am Ende sogar teure Doppelstrukturen entstehen. Die AfD-Fraktion begrüßt, dass durch die Einarbeitung der UTP-Richtlinie in das Agrarmarktstrukturgesetz unlautere Handelspraktiken weitergehend als bisher unterbunden werden sollen. Das neue Gesetz ändert aber nichts an der Machtkonzentration und an wenig geballten Abnahmestrukturen der Landwirtschaft gegenüber Ernährungsindustrie und Handel. Ganz im Gegenteil: In der Anhörung wurde unsere Befürchtung bestätigt, der Preisdruck auf die Bauern könnte sich durch diese Gesetzgebung noch erhöhen. ({2}) Wenn man die Machtstellung der landwirtschaftlichen Betriebe stärken will – hier wiederhole ich unseren Appell vom 27. Januar –, muss man auf der Angebotsseite stärker bündeln. Genau in diese Richtung geht unser hier ebenfalls abzustimmender Antrag, den alle anderen Fraktionen aber offenbar ablehnen. Abschließend: Das Gesetz ist im Hinblick auf die EU-Vorgabe zur Umsetzung fast eine Woche überfällig – ein Armutszeugnis. Auch der holprige Weg der Gesetzgebung gerade bei diesem Gesetz ist beachtenswert. Begrüßenswert sind die Einrichtung einer Ombudsstelle und das Anheben der Bußgeldobergrenze auf bis zu 750 000 Euro. Der Anwendungsbereich erfasst nun Milch- und Fleischprodukte, Obst, Gemüse und Gartenbauprodukte sowie Kartoffeln. Die Umsatzgrenze wurde auf Unternehmen bis zu 4 Milliarden Euro Umsatz hochgeschleust. Das ist ein anerkennenswertes Signal. Das teilweise Hinausgehen über den Umfang der EU-Richtlinie sehen das Bundeskartellamt und die Bundesrechtsanwaltskammer kritisch. Dem schließen wir uns an. Die Umsetzung der UTP-Richtlinie in nationales Recht können und wollen wir nicht verhindern. Andernfalls würde gegen geltendes EU-Recht verstoßen. Danke. ({3})
0
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,533
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Danke schön, Wilhelm vom Gottberg. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Ursula Schulte. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,534
227
19
Ursula
Schulte
11,004,404
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes setzen wir die EU-Richtlinie über unlautere Handelspraktiken in den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette, kurz: UTP, um. Die UTP-Richtlinie will Erzeuger und Lieferanten vor unlauteren Handelspraktiken schützen. Dafür führt sie konkrete Praktiken in zwei verschiedenen Listen auf. Der Unterschied zwischen schwarzer und grauer Liste: Bei den Praktiken der grauen Liste geht man davon aus, dass sie ihre Unlauterkeit verlieren können, wenn beide Parteien sie einvernehmlich vereinbaren. Man blendet bei dieser Annahme geflissentlich aus, dass die Vertragsverhandlungen in diesem Bereich selten auf Augenhöhe stattfinden, was dazu führt, dass Lieferanten aus Angst um ihre Existenz letztlich Verträgen zustimmen, die für sie nachteilige Bedingungen enthalten. Lieferanten berichten uns zudem, dass es eben gerade die Praktiken der grauen Liste sind, die ihnen das Leben schwermachen. Ich möchte daher unterstreichen, was ich bereits bei der ersten Lesung im Januar gesagt habe: Unlauter ist und bleibt unlauter. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass wir uns mit unserem Koalitionspartner darauf verständigen konnten, im Vergleich zur EU-Richtlinie zumindest einige Praktiken der grauen Liste in die schwarze zu überführen und somit gänzlich zu verbieten. So dürfen Handelsunternehmen Lieferanten nicht mehr an den Lagerkosten beteiligen oder nicht verkaufte Ware zurückschicken, ohne dafür zu bezahlen. Wir als SPD – das ist kein Geheimnis – hätten gerne alle grauen Praktiken geschwärzt, ({1}) und wir wollten eine offene Liste bzw. eine Generalklausel, um klarzustellen, dass jegliches unlautere Geschäftsgebaren in der Lieferkette unzulässig ist. ({2}) Das hätte die Position der Erzeuger und Lieferanten ganz wesentlich verbessert. Eine Generalklausel war mit der Union nicht umzusetzen; das möchte ich hier nicht verschweigen. Angesichts dieses Wermutstropfens ist es aber umso wichtiger, dass das Gesetz nach zwei Jahren evaluiert wird. Dafür und für die konkrete Formulierung des Evaluierungsparagrafen hat sich meine Fraktion vehement eingesetzt. Darin heißt es: Neben der Überprüfung der Einhaltung bestehender Verbote kann der Deutsche Bundestag im Zuge der Evaluierung gegebenenfalls auch die Liste verbotener Handelspraktiken um neue, bisher nicht erfasste unlautere Handelspraktiken erweitern. In die Evaluierung fließen auch – und das ist mir ganz wichtig – die Ergebnisse der Prüfung eines möglichen Verbots des Einkaufs von Lebensmitteln und Agrarerzeugnissen unterhalb ihrer Produktionskosten ein. Es wird also künftig genau darauf zu achten sein, ob Unternehmen die Verbote kreativ umgehen, indem sie sich neue Praktiken oder Vertragsbestandteile einfallen lassen, die bisher nicht vom Gesetz erfasst wurden. Dann muss der Gesetzgeber nachschärfen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die SPD-Fraktion war es ganz wichtig und war es ein Herzensanliegen, eine Ombudsstelle einzurichten. Davon konnten wir schließlich auch unseren Koalitionspartner überzeugen. – Ich bin froh, dass Sie das mittragen. Die unabhängige Ombudsstelle soll keine Konkurrenz zur Durchführungsbehörde sein, sondern eine sinnvolle, weil niedrigschwelligere Ergänzung. Sie soll Anlaufstelle für alle sein, die von unfairen Handelspraktiken oder unfairen Preisen betroffen sind. Dabei können ihr auch Praktiken gemeldet werden, die das Gesetz noch gar nicht aufführt. Zudem soll die Stelle die Entwicklung von Produktionskosten und Preisen beobachten. Die Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, sollen wiederum in die Gesetzesevaluierung einfließen. Ich bin davon überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Diese Ombudsstelle, die im Entschließungsantrag näher beschrieben wird, ist ein echter Meilenstein für mehr Fairness in der Agrar- und Lebensmittellieferkette. ({4}) Und sie sollte schnellstmöglich umgesetzt werden. Darauf werden wir auf jeden Fall achten. ({5}) Leider war die Union nicht bereit, ein Verbot von Dumpingpreisen im Zuge der UTP-Umsetzung auf den Weg zu bringen. Dafür ist es uns aber gemeinsam gelungen, die Erhöhung des Bußgeldrahmens um 50 Prozent zu vereinbaren. Im Fall von Verstößen gegen die neuen Regeln können nun bis zu 750 000 Euro Strafe verhängt werden. Das ist gut so; denn Strafen müssen eine abschreckende Wirkung haben. ({6}) Alles in allem legen wir dem Deutschen Bundestag ein gutes Gesetz vor, das ein Meilenstein für bessere Bedingungen für unsere Landwirte ist. Deswegen bitte ich um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({7})
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,535
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Ursula Schulte. – Darf ich Sie noch mal herzlich bitten, den Geräuschpegel wirklich nach unten zu drehen bzw. still zu sein und Diskussionen nicht hier im Raum zu führen? Es ist unglaublich schwierig, die Rednerinnen und Redner zu verstehen. Und eigentlich ist es auch wirklich nicht solidarisch, wenn die Kolleginnen und Kollegen Ihnen ihre Rede vortragen, Gespräche zu führen. Dann machen Sie das draußen und nicht hier im Saal. ({0}) Nächster Redner: Dr. Gero Hocker für die FDP-Fraktion. ({1})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,536
227
19
Gero Clemens
Hocker
11,004,754
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kann nicht sein, dass ein Milchbauer zu dem Zeitpunkt, da seine Milch abgeholt wird, nicht weiß, welchen Preis er für 1 Liter bekommt, sondern das erst einige Tage später per Bescheid erfährt. Und es kann auch nicht sein, dass die Erzeuger, Landwirte, verdorbene Ware, die der Lebensmitteleinzelhandel nicht hat absetzen können, zurücknehmen müssen. Meine Damen und Herren, das Ungleichgewicht der Marktkräfte zwischen Erzeugern auf der einen Seite und Lebensmitteleinzelhandel auf der anderen Seite kann auch nicht sein. Aber ich sage es ganz ausdrücklich an die Kolleginnen und Kollegen der SPD: Meine Damen und Herren, das ist auch nicht zuletzt auf Sigmar Gabriel zurückzuführen, ({0}) der 2016 Wirtschaftsminister gewesen ist, der sich nämlich über die Empfehlung des Bundeskartellamtes, der Experten, hinweggesetzt hat und die Fusion von Kaiser’s Tengelmann mit Edeka durchgewunken hat, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das gehört zur Wahrheit dazu. ({1}) So richtig es ist, dass UTP umgesetzt wird, so sehr habe ich auch den Eindruck, dass die Bundesregierung ein bisschen versucht, sich aus der Verantwortung für die schlechte und falsche Agrarpolitik der letzten dreieinhalb Jahre zu stehlen, und den Schwarzen Peter einfach anderen zuschieben will. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Bundesregierung, Sie wollen davon ablenken, dass Sie in den letzten Jahren zu häufig zu gerne auf NGOs gehört haben und eben nicht der wissenschaftlichen und fachlichen Praxis das Wort geredet haben: bei Insektenschutz, bei Düngeverordnungen, bei der Nutztierhalterverordnung und vielen anderen Themen mehr. So einfach kommen Sie nicht durchs Loch, Frau Ministerin. ({2}) Sie haben im zweiten Halbjahr 2020, vom 1. Juli bis 31. Dezember 2020, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft tatsächlich auch keine einzige Initiative vorzuweisen, die einen Beitrag dafür geleistet hätte, dass die Wettbewerbs- und Produktionsstandards innerhalb des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes angeglichen werden. ({3}) Deswegen machen Sie es sich zu einfach, UTP mehr als erforderlich, mehr als eins zu eins umzusetzen und jetzt pauschal dem Lebensmitteleinzelhandel den Schwarzen Peter zuzuschieben. Damit kommen Sie nicht durchs Loch, meine Damen und Herren. ({4}) Ich sage es ganz ausdrücklich: Wenn man mit dem Handel spricht, dann sagen die Kolleginnen und Kollegen: Na ja, das ist ja alles schön und gut; aber es birgt natürlich die Gefahr, wenn Sie die Daumenschrauben zu fest andrehen, dass die Warenströme künftig eben von außerhalb Deutschlands – aus der Europäischen Union, vielleicht auch aus Übersee – nach Deutschland und zum Verbraucher gelangen. Sie erweisen den Landwirten in Deutschland einen Bärendienst, wenn Sie die Schrauben zu fest anziehen. Was wir wirklich endlich bräuchten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, verehrte Frau Ministerin, ist ein Auflagenmoratorium, damit Landwirte, die Investitionen, die sie gerne tätigen – egal ob bei Tierhaltung, Ackerbau oder wo auch immer –, weil sie sich gerne weiterentwickeln wollen, tatsächlich auch amortisieren können und für einen kritischen Zeitraum tatsächlich auch die Gewähr haben, dass der Gesetzgeber nicht kommt und auf dem Gesetzeswege wiederum neue Auflagen erlässt, bevor die ersten Investitionen überhaupt zurückgezahlt werden konnten. Das wäre Ihre Aufgabe, und da müssen Sie liefern, anstatt den Schwarzen Peter einfach anderen zuzuschieben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,537
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Dr. Gero Hocker. – So, liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind noch zehn Minuten Abstimmungszeit übrig. Ich möchte Sie darauf hinweisen: Zehn Minuten lang können Sie bei der namentlichen Abstimmung noch abstimmen. Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Kirsten Tackmann. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,538
227
19
Kirsten
Tackmann
11,003,853
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die EU-Richtlinie gegen unlautere Handelspraktiken in der Lebensmittelkette umgesetzt. Sinnverwandt zu „unlauter“ sind übrigens laut Wörterbuch die Begriffe „betrügerisch“, „gaunerhaft“, „irreführend“, „unzulässig“. Tatsächlich ist „unlauter“ eine geradezu verharmlosende Bezeichnung für die Situation, die ich als Linke seit Jahren kritisiere; denn es geht darum, dass Lebensmittelkonzerne ihre Marktübermacht missbrauchen und ihre Profitinteressen auf Kosten der Agrarbetriebe durchsetzen. Für eigene volle Kassen wird also die soziale Schieflage in den Agrarbetrieben verschärft. Das ist wohl eher gaunerhaft, und es ist definitiv inakzeptabel. ({0}) Deshalb war es überfällig, dass die EU mit der Richtlinie dagegen einen Stein ins Rollen gebracht hat. Auf einer schwarzen Liste stehen verbotene Handelspraktiken. Zum Beispiel müssen jetzt bestellte verderbliche Lebensmittel wie Salat oder Erdbeeren auch abgenommen werden. Auf einer grauen Liste stehen Handelspraktiken, die bei Einvernehmen erlaubt bleiben sollen. Nur, ohne Augenhöhe zwischen den Verhandelnden ist doch eine solche graue Liste unsinnig. Deshalb hat Die Linke auch gefordert, im Gesetz alle grauen Handelspraktiken auf die schwarze Verbotsliste zu setzen. ({1}) Leider erfolgt das nur für zwei graue Handelspraktiken. So ist nun wenigstens die Rückgabe nicht verkaufter Erzeugnisse ohne Bezahlung verboten und auch das Abwälzen von Lagerkosten auf die Lieferantinnen und Lieferanten. Ja, die Koalition hat den Gesetzentwurf verbessert. Aber ich habe selten in einer Anhörung so einhellige Forderungen aller Sachverständigen nach deutlichen Nachbesserungen erlebt. Deswegen ist die Lernkurve bei der Koalition zwar erkennbar, sie bleibt aber gemessen an der Realität trotzdem zu flach. Warum? Das steht im Entschließungsantrag der Linken. Zu den wichtigsten Kritikpunkten: Es werden nicht einmal alle – übrigens über 40 – bekannten unlauteren Handelspraktiken verboten. Auch Die Linke fordert darüber hinaus eine sogenannte Generalklausel, damit eben alle, auch bisher unbekannte Praktiken verboten werden. ({2}) Denn die Konzernzentralen sind einfallsreich. Und ja, es ist gut, dass nun doch eine Ombudsstelle für Beschwerden kommen soll. Leider stehen deren Aufgaben aber nicht im Gesetz. Und ja, es ist richtig, dass die Ombudsstelle auch Produktionskosten und Preisentwicklung beobachten soll. Aber in Spanien und Frankreich gibt es eine eigene Preisbeobachtungsstelle. Das Gesetz bleibt ohne Verbot des Verkaufs unter Produktionskosten zahnlos. Natürlich müssen dann auch Produktionsmengen reguliert werden; das war ein wichtiger Hinweis des Bundesverbands Deutscher Milchviehhalter in der Anhörung. Es fehlt in dem Gesetz die Beweislastumkehr, damit Konzerne ihr lauteres Handeln nachweisen müssen. Auch Kartellrecht und Entflechtung fehlen im Gesetz. Weil also auch dieser geänderte Gesetzentwurf bestenfalls einige Symptome lindert, können wir uns als Linke leider nur enthalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,539
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Dr. Kirsten Tackmann. – Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge. ({0})
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,540
227
19
Katharina
Dröge
11,004,263
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir uns an bestimmten Punkten hier im Parlament einigermaßen einig sind. Wir sind uns mittlerweile einig, dass es nicht akzeptabel ist, wenn Bäuerinnen und Bauern für den Liter Milch so wenig ausgezahlt bekommen, dass sie damit noch nicht mal ihre eigenen Herstellungskosten decken können. Wir sind uns mittlerweile einig, dass es nicht akzeptabel ist, wenn immer mehr Bäuerinnen und Bauern in diesem Land ihre Betriebe aufgeben müssen, weil sie nicht in der Lage sind, von ihrer eigenen Arbeit noch leben zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine vielfältige, eine regionale, eine faire Landwirtschaft ist nötig in unserem Land. Aber dafür braucht es eben auch einen Markt, der funktioniert. Und das ist etwas, was nicht der Fall war. Angesichts einer immensen Marktmacht von wenigen großen Supermärkten auf der einen Seite und sehr vielen, auch kleinen Landwirten auf der anderen Seite haben wir in den letzten Jahren ein eklatantes Marktversagen beobachtet. Es ist gut, dass das Parlament jetzt endlich den Mut hat, hier Regeln zu erlassen, die dem entgegenwirken. ({0}) Ich sage „endlich“; denn das Ganze war ein Prozess mit vielen kleinen Schritten. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich vor ungefähr einem Jahr in der Fragestunde des Bundestages Frau Ministerin Klöckner die Frage gestellt habe, ob es nicht angesichts der immensen Marktmacht der Supermärkte notwendig wäre, mehr zu tun als die Minimalumsetzung einer EU-Richtlinie. Sehr geehrte Damen und Herren, ich erspare Ihnen die ganze Antwort; sie war nämlich ziemlich lang und nur einigermaßen freundlich. Aber die Ministerin hat sehr klar gesagt, dass sie keinen weiteren Handlungsbedarf sieht. Aus diesem Grund, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, bedanke ich mich wirklich ganz herzlich, dass Sie den Mut gefunden haben, weiterzugehen, dass Sie den Mut gefunden haben, Regelungen zu erlassen, die wirklich in der Lage sein könnten, die Landwirtinnen und Landwirte in diesem Land zu schützen und zu unterstützen. ({1}) Es ist richtig – wir haben es lange von Ihnen gefordert –, eine Ombudsstelle einzurichten, an die die Bäuerinnen und Bauern sich auch anonym wenden können, eine Ombudsstelle, die nun auch die Aufgabe hat, Preise zu beobachten; denn nur wenn wir wissen, wie die Preise sind, nur wenn wir definieren, was faire Preise sind, können wir auch den Durchsetzungsbehörden die Instrumente an die Hand geben, um Marktmachtmissbrauch effektiv festzustellen. Hier hätten Sie allerdings die Aufgaben klarer beschreiben müssen. Das wäre ein notwendiger Schritt gewesen. Es ist auch richtig, dass Sie sich dazu durchgerungen haben, die Liste der unfairen Handelspraktiken zu erweitern auf die sogenannten grauen Handelspraktiken. Schade ist es, dass Sie nicht den ganzen Schritt gemacht haben. Schade ist es, dass Sie nur die halbe Liste der unfairen grauen Handelspraktiken verboten haben. Auch dass man die Landwirte dafür zahlen lässt, dass die Supermärkte ihre Produkte bewerben, auch dass man die Landwirte weiterhin nicht vollständig von den Zahlungen für Listungen ausschließt, hätten Sie verbieten müssen. Das wäre ein notwendiger Schritt gewesen, um die Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen. ({2}) Zum Letzten. Es ist nahezu eine Revolution, dass Sie jetzt zumindest als Prüfauftrag in Ihren Änderungsantrag aufgenommen haben, dass es ein Verbot des Verkaufs unter Herstellungskosten geben soll. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie viel Spott und Häme uns Grünen entgegengeschlagen ist, als wir vor zwei Jahren diesen Vorschlag gemacht haben. Es ist richtig, es ist wichtig, es ist sogar wettbewerbsrechtlich geboten, dass man den Missbrauch von Marktmacht so definiert, dass es unfair ist, wenn man Produkte im Supermarkt verkauft, die noch nicht mal die Herstellungskosten der Landwirte decken. Das ist Marktmachtmissbrauch, der reguliert werden muss. Hier sollten Sie sich nicht nur mit einem Prüfauftrag zufriedengeben, sondern hier können Sie endlich handeln. Das ist nämlich am Ende das entscheidende Instrument, was den Landwirten in diesem Land wirklich helfen würde. ({3})
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,541
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Katharina Dröge. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Albert Stegemann. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,542
227
19
Albert
Stegemann
11,004,415
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wer politisch gestalten will, muss wissen, was den Menschen in diesem Land wichtig ist. Also lohnt sich ein Blick darauf, wofür wir in Deutschland unser Geld ausgeben. Laut Statistischem Bundesamt geben wir die Hälfte unseres Einkommens für unsere Grundbedürfnisse Wohnen, Energie und Nahrungsmittel aus. Da wir es uns gern sehr schön einrichten, dem Nachbarn in nichts nachstehen wollen, da wir selbstverständlich nicht auf unser Auto und unseren hoffentlich bald wieder möglichen Urlaub verzichten wollen, bleiben für unsere Grundnahrungsmittel nur noch 15 Prozent. 15 Prozent der gesamten Konsumausgaben bleiben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren. Bereinigt um die Genussmittel ist es noch mal deutlich weniger. Um das Jahr 1900 lag dieser Wert noch bei etwa 50 Prozent. Die Entwicklung von 50 Prozent auf 15 Prozent lässt sich mit nur einem Wort beschreiben: Wohlstand. Wir konnten durch das günstige Angebot an Nahrungsmitteln immer mehr in andere Konsumgüter investieren, und der Motor unserer Konsumwirtschaft brummte. Leider sind damit auch negative Konsequenzen verbunden: So sehnen sich viele nach dem Modell des Tante-Emma-Ladens; aber den gibt es nicht mehr – zu teuer, zu ineffizient, zu personalkostenintensiv. Die Discounter waren geboren: größer, schneller, noch billiger. Geiz ist geil! Teuer war gestern! – Da ist ein „Wir lieben Lebensmittel“ für viele Produzenten wohl nur noch ein schwacher und ironischer Trost. ({0}) Dennoch mache ich dem Lebensmitteleinzelhandel keinen Vorwurf. Wer sich am täglich stattfindenden Angebotskampf um das günstigste Lebensmittel nicht beteiligt, verliert Marktanteile und verschwindet bald von den Werbeflächen, da der Umsatz ausbleibt. Man kann den Konkurrenzkampf im Lebensmitteleinzelhandel zu Recht und sehr zutreffend als Haifischbecken bezeichnen. Inzwischen hat diese Situation dazu geführt, dass die vier großen Player 85 Prozent des Marktes unter sich aufteilen. Dadurch ist eine enorme Marktasymmetrie entstanden. Unsere Bauern, aber auch Verarbeiter wie unsere Molkereien sind der Marktmacht des Handels viel zu oft unterlegen. David und Goliath lassen grüßen. Preisdruck ist in der Konsequenz eine Folge marktwirtschaftlichen Handelns. Aber wo wir als Gesetzgeber nun nicht mehr wegschauen können, sind die daraus resultierenden unlauteren Handelspraktiken. ({1}) Wenn zum Beispiel bestellte verderbliche Ware kurzfristig storniert wird, der Lieferant also auf seiner Ware sitzen bleibt, oder wenn Rechnungen vom Käufer bewusst nicht bezahlt werden, nur um den Lieferanten unter Druck zu setzen, dann müssen wir handeln. ({2}) So verbieten wir im Agrarmarktstrukturgesetz eine ganze Liste von unlauteren Handelspraktiken, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit für einen ehrbaren Kaufmann sein sollten. Ich will mich an dieser Stelle ganz herzlich bei der Kollegin Ursula Schulte von der SPD dafür bedanken, dass wir diesen Zug erfolgreich auf die Schiene gesetzt haben. Ich möchte mich aber auch bei unseren Wirtschaftspolitikern, insbesondere bei Matthias Heider, ganz herzlich bedanken, der uns in dieser Sache wirklich konstruktiv begleitet hat. Ich freue mich, dass wir das alles so hinbekommen haben. Auf geht’s zu mehr Fairness im Lebensmitteleinzelhandel! Vielen Dank. ({3})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,543
227
19
Johann
Saathoff
11,004,393
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An un för sük denkt de Minske bloot an sük. – Zunehmend leben wir in einer Welt, in der jeder nur an sich selbst denkt und auch im Handelsbereich oft mit unfairen Mitteln versucht, seine eigenen privaten Ziele umzusetzen. Dagegen richtet sich die UTP-Richtlinie der Europäischen Union, die mit dem vorliegenden Agrarmarktstrukturgesetz nunmehr bei uns in geltendes nationales Recht umgesetzt wird. UTP steht für „Unfair Trading Practices“, also für unlautere Handelspraktiken. Wollen Sie Beispiele hören? Ein Beispiel für eine unlautere Handelspraxis ist die Rückgabe unverkaufter Erzeugnisse an den Lieferanten ohne Zahlung des Kaufpreises. Ein Beispiel für unlautere Handelspraxis ist ein Zahlungsverlangen für die Listung der Produkte. Noch ein Beispiel ist die Forderung, die Kosten für Preisnachlässe zu übernehmen. Und noch ein Beispiel sind die Zahlungsverlangen gegenüber Lieferanten für die Werbung des Verkäufers. Das sind lauter unfaire Handelspraktiken. Ich könnte noch 36 weitere nennen, die bekannt sind, und sicher noch ganz viele darüber hinaus, die noch unbekannt sind. Die Kreativität scheint unendlich zu sein, und wir setzen der Kreativität dieser unlauteren Handelspraktiken jetzt endlich Grenzen. ({0}) Wir schaffen mit diesem Gesetz ein faires Handelsgesetz. Allerdings schränken wir nur bekannte Praktiken ein. Wir Sozialdemokraten hätten das Gesetz lieber offener formuliert – das darf man, glaube ich, sagen – und der Kreativität noch mehr direkt entgegengesetzt. Das war mit der Union leider nicht zu schaffen; meine Kollegin Ursula Schulte hat darauf hingewiesen. Aber ich will an dieser Stelle nicht jammern, sondern mich freuen. Wir schaffen mit diesem Gesetz nämlich etwas ganz Wichtiges: eine Ombudsstelle. Die Ombudsstelle wird unabhängig sein und damit auch unvoreingenommen. Keiner, kein Landwirt, keine Landwirtin, muss mehr Schaden fürchten, wenn unfaire Handelspraktiken gemeldet werden. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Entscheidung für die Einrichtung dieser Ombudsstelle bedeutet einen guten Tag für die Landwirtschaft. ({1}) Wir haben das Bußgeld höhergesetzt. Die Bußgeldobergrenze beträgt jetzt nicht, wie im Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehen, 500 000 Euro, sondern sie wird 750 000 Euro betragen, damit die Kalkulation im Einzelhandel, Bußgeld könnte wirtschaftlicher sein, als sich an die Regeln zu halten, nicht aufgeht. ({2}) Seit Jahrzehnten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die Menschen in der Landwirtschaft unter Druck. „Wachsen oder weichen“ war die notwendige Devise, von dem einen schweigend geduldet, von dem anderen vielleicht sogar still und heimlich geplant. Wir wollen diesen Teufelskreis in der Landwirtschaft von „Wachsen oder weichen“ durchbrechen. Wir gehen heute dafür den ersten wichtigen Schritt, damit der Egoismus sich nicht weiter durchsetzt, damit Geiz nicht länger geil ist, sondern damit Verantwortung auch im Handel gelten soll. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,544
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Johann Saathoff. – Und der letzte Redner in dieser Debatte: Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,545
227
19
Max
Straubinger
11,002,812
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte zum Agrarmarktstrukturgesetz ist festzustellen, dass wir hier vor allen Dingen zwei Dinge zusammenbringen wollen: auf der einen Seite die Stärkung der Produzenten, nämlich unserer Bäuerinnen und Bauern, deren Arbeit ja die Grundlage dafür ist, dass wir als Verbraucherinnen und Verbraucher uns freuen können, dass wir großartige und gesunde Lebensmittel in hervorragender Qualität bekommen können. Auf der anderen Seite geht es um den Handel, der in starkem Wettbewerb steht und den Verbrauchern günstige Angebote unterbreitet. Das ist immer eine große Herausforderung für alle Marktteilnehmer. Vor allen Dingen muss das alles auch in partnerschaftlicher Hinsicht gestaltet werden, und dafür legen wir mit diesem Gesetz die Grundlage. ({0}) Partnerschaft zieht jeder für sich selbst heran; das ist völlig klar. Jeder glaubt, dass er die besten Grundlagen geschaffen hat. Trotzdem müssen wir feststellen, dass es in der Vergangenheit auch sehr unlautere Praktiken gab, einfach ob der Handelsmacht der einzelnen Akteure. Die Kollegin Gitta Connemann, Albert Stegemann und auch andere Redner haben bereits auf die Handelsmacht unserer vier großen Player hingewiesen. Sie repräsentieren 85 Prozent des gesamten Handels in Deutschland. Aber das ist nicht genug. Sie haben sich auch in europäischen Einkaufsverbünden zusammengeschlossen, die noch eine weit größere Handelsmacht darstellen. Von einer Handelsmacht mit einem Volumen von 160 bis über 200 Milliarden Euro wird hier gesprochen. Deshalb bedeutet das Ganze auch, in dieser Situation ein gewisses Gleichgewicht herbeizuführen, und dazu trägt dieses Gesetz bei. Ich bin überzeugt, dass es Wirkung hat. Auf der einen Seite geht es darum, weiterhin Lebensmittel in guter Qualität zu haben. Es geht auf der anderen Seite aber auch darum, dass unsere Produzenten, die Bäuerinnen und Bauern, vom Verkauf ihrer Produkte zu diesen Preisen leben können. Das ist hier entscheidend, und deshalb wenden wir uns gegen diese unlauteren Handelspraktiken. Kollege Saathoff hat gerade manche genannt. Ich kann noch eine hinzufügen, weil mir die besonders ins Auge gestochen ist, nämlich die Hochzeitsprämie. Wenn eine große Handelsmarke 50 Läden übernehmen wird, dann sollen angeblich Hochzeitsprämien zu zahlen sein. Das heißt, die Lieferanten zahlen letztendlich für die Übernahme. Das kann nicht richtig sein; das muss man auch mit sehen. Deshalb bin ich dankbar, dass wir mit diesem Gesetz all diese Praktiken verhindern, auf der einen Seite zugunsten der Bäuerinnen und Bauern in unserem Land, gleichzeitig aber auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land, damit sie weiterhin hervorragende, günstige, aber qualitätshaltige Lebensmittel haben werden. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,546
227
19
Maria
Flachsbarth
11,003,527
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inzwischen wissen wir alle: Die Covid-19-Pandemie besiegen wir weltweit oder eben gar nicht. Deutschland übernimmt mit seinem Coronasofortprogramm schon seit April 2020 international eine führende Rolle bei der Bekämpfung der Krise, auch in Bezug auf ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen. So unterstützt die Bundesregierung mit dem unter dem Dach der WHO eingerichteten Access to COVID-19 Tools Accelerator – kurz ACT-A – die Bereitstellung von Impfstoffen, von Diagnostika und Therapeutika sowie die Stärkung von Gesundheitssystemen. 2020 und 2021 sind wir mit einem Beitrag von knapp 2,1 Milliarden Euro zweitgrößter ACT-A-Geber; davon 1 Milliarde Euro für Impfstoffe für Entwicklungsländer über die weltweite Impfkampagne Covax. Bislang wurden fast 50 Millionen Impfdosen an 121 Länder ausgeliefert. Bis Ende 2021 sollen es 2 Milliarden Impfdosen sein; da ist noch viel Luft nach oben. Wir brauchen weitere Maßnahmen. Am Aufbau von Produktionskapazitäten arbeitet neben GAVI, der WHO und der WTO auch das BMZ. Wir prüfen ganz konkret Möglichkeiten zur Impfstoffproduktion in Ghana, im Senegal und in Südafrika. Wir ermöglichen zudem effektive Teststrategien und die Ausstattung von Gesundheitspersonal mit Schutzausrüstung. Über unsere Partner, vor allen Dingen den Global Fund, konnten wir 2020 über 60 Millionen kostengünstige Tests in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen bereitstellen; bis 2021 sollen es insgesamt 900 Millionen Tests werden – ein essenzieller Schritt, um beispielsweise auch andere Gesundheitsprogramme wie gegen HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria aufrechtzuerhalten. Wir engagieren uns aber nicht nur bei der Bekämpfung der aktuellen Pandemie, sondern wir arbeiten auch daran, dass in Zukunft solche Pandemien erst gar nicht entstehen. Die wachsende Weltbevölkerung, zunehmende globale Mobilität, industrielle Nutztierhaltung, das Vordringen des Menschen in bisher unberührte Lebensräume, der Biodiversitätsverlust und der Klimawandel begünstigen die Übertragung und Ausbreitung von Infektionskrankheiten und antimikrobiellen Resistenzen. Um das Risiko der Entstehung von Zoonosen zu reduzieren, schützen wir natürliche Lebensräume. Wir setzen uns für die Bekämpfung des illegalen Wildtierhandels und eine deutliche Reduzierung und Regulierung von legalem Wildtierhandel ein. Um Human- und Veterinärgesundheitssysteme gemeinsam zu stärken und Frühwarnsysteme im Sinne der Epidemie- und Pandemieprävention zu schaffen, setzen wir auf den „One Health“-Ansatz, das heißt eine interdisziplinäre Kooperation zwischen Human- und Veterinärmedizin sowie den Umweltwissenschaften. Wir behalten unsere langfristigen Ziele in der globalen Gesundheit im Blick. In vielen Ländern richten die indirekten Effekte der Pandemie massive Schäden an. Kinder verpassen ihre Routineimpfungen. Der Zugang zu essenziellen Dienstleistungen der Familienplanung und Mutter-Kind-Gesundheit ist eingeschränkt. Gewalt gegen Mädchen und Frauen eskaliert. Deshalb unterstützen wir bilateral und multilateral über den Global Fund, über das UN-Bevölkerungsprogramm. Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie wichtig es ist, Gesundheit global und ganzheitlich zu denken, ({0}) und die Bundesregierung nimmt hierbei weltweit eine Führungsrolle ein. ({1}) Erlauben Sie mir, meine sehr geehrten Damen und Herren, meine wohl letzte Rede an diesem Pult mit ein paar persönlichen Worten zu beenden. Ich habe es stets als großes Privileg empfunden, Mitglied dieses Hohen Hauses zu sein, weil es einen Unterschied macht, was wir hier tun oder nicht tun, für die konkreten Lebensumstände von Hunderten von Menschen in unserem Land und weit darüber hinaus. Es kommt auf die Abgeordneten in diesem Haus an, wenn es um die Zukunft unserer Demokratie und des Grundgesetzes geht, um Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in unserem Land, um verantwortliche Politik auf EU- und VN-Ebene, und das umso mehr, als wir in den letzten Jahren lernen mussten, wie verletzlich unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist. Es ist eine große Verantwortung, die mit einem Bundestagsmandat verbunden ist, und ich hoffe, ihr einigermaßen gerecht geworden zu sein. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen über die Fraktionsgrenzen hinweg für ihre Unterstützung, Kollegialität und Freundschaft. Und ich bitte all diejenigen um Nachsicht, denen ich unabsichtlich und in ganz wenigen Fällen, wenn es unbedingt notwendig war, auch absichtlich auf die Füße getreten habe. ({2}) Es war aber immer um der Sache willen. Behalten Sie mich dennoch in guter Erinnerung. Auf Wiedersehen! Vielen Dank und Gottes Segen! ({3})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Secretary of State
Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
2021-05-06
1,060,547
227
19
Detlev
Spangenberg
11,004,898
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Patente für Impfstoffe freigeben – Weder wirtschaftliche noch nationale Interessen dürfen die Bekämpfung der Pandemie beeinträchtigen“, so Die Linke im Titel ihres Antrags. Meine Damen und Herren, seit 1917 bzw. 1989 ist ja der Kommunismus, der im Wesentlichen auf Enteignung gesetzt hat, jämmerlich gescheitert. Trotzdem keine Einsicht: Allen wirtschaftlichen, psychologischen und realen Gründen zum Trotz bleiben Sie bei einer gescheiterten Ideologie. ({0}) Sie behaupten in einem der Anträge: Geistige Eigentumsrechte wie Patente und exklusive Nutzungslizenzen verhindern die Bereitstellung ausreichender und bezahlbarer Impfstoffdosen in ärmeren Ländern ({1}) und verzögern damit die Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Dass die Pharmaunternehmen, deren Patente Sie quasi enteignen wollen, diese Impfpräparate überhaupt erst entwickelt haben, scheint Ihnen völlig gleichgültig zu sein. Die populistische Schlichtheit der Forderung wurde Ihnen in der öffentlichen Anhörung am 24. Februar von den fachlich versierten Sachverständigen förmlich um die Ohren gehauen; Sie erinnern sich. Das war vorauszusehen und hat wohl niemanden wirklich erstaunt. Jede Entwicklung beruht auf einer gewaltigen Forschungsleistung, großem persönlichem Einsatz, Ideenfindung und Erfolgswunsch – all das, was die Entwicklung von Produkten oder Verfahren erst möglich macht. Ohne dies würde keine Forschung und Entwicklung in Deutschland und in anderen Ländern stattfinden. ({2}) Müssten Unternehmen in bestimmten Ländern befürchten, ihre Patente seien dort nicht mehr sicher, würden sie einen Teufel tun, dort wieder zu forschen und Patente anzumelden. ({3}) Sie würden in andere Länder gehen, dorthin, wo man Eigentum schätzt und seine Bedeutung für die Wirtschaft eines Landes erkennt und achtet. Das wäre die Auswirkung. ({4}) Folgt man Ihren Vorstellungen – hier nur auf Deutschland bezogen –, meine Damen und Herren, wäre das eine Demontage des Forschungs- und Wissenschaftsstandortes Deutschland. Das wäre vielleicht in Ihrem Sinne und ideologisch ganz nachvollziehbar. Offensichtlich ist der Neid auf Erfolg Leitschnur Ihres politischen Handelns. ({5}) Deutschland, ein Land ohne Rohstoffe, ist auf Wissen, geistige Leistungen und Forschung angewiesen. Das ist der Grund für unsere starke Volkswirtschaft. Auch als Geberland – daran denken Sie vielleicht mal! – ist es Vorbild in der ganzen Welt. Im Jahre 2019 gab es in Deutschland fast 70 000 Patentanmeldungen. Damit liegt Deutschland europaweit weit vorn. Das ist sowohl wirtschaftliches wie auch gesellschaftliches Kapital, das wir nicht gefährden dürfen. Seien Sie ehrlich und konsequent, und fordern Sie gleich die Enteignung und Verstaatlichung aller Forschungseinrichtungen oder, wie ich es persönlich erlebt habe in den 70er-Jahren, die Enteignung eines ganzen Wirtschaftszweiges, was ja auch der Grundstein für den Niedergang der DDR gewesen ist, meine Damen und Herren. ({6}) Die patentierbare Entwicklung von Verfahren und Produkten wird in der Regel durch Risikokapital und Kredite finanziert. Dass diesem unternehmerischen Risiko und dem zeitlichen und personellen wie auch technischen Aufwand ein Schutz durch ein Patent gegenüberstehen muss, damit sich dieser Entwicklungsaufwand künftig amortisieren kann, ist selbstverständlich – für Sie nicht, für die meisten anderen schon. ({7}) Ohne diesen Aspekt gäbe es künftig keine Forschung durch Unternehmen mehr, meine Damen und Herren. Auch für Kapitalgeber sind die Patente nicht zuletzt ein Schutz für ihr eingesetztes Kapital. Über so was denken linke Ideologen allerdings lieber nicht nach. Kapital ist böse, Gewinn ist schlecht – so lautet ja Ihre schlichte Gleichung, die ich selber noch im Unterricht in der Schule gehört habe. ({8}) Im Übrigen wurde in der Anhörung erklärt, dass bisher keine Pharmaproduktionsstätte in Indien oder in einem afrikanischen Staat um Patente ersucht hat, meine Damen und Herren. Im Serum Institute in Pune im indischen Bundesstaat Maharashtra wird der AstraZeneca-Impfstoff unter anderem Namen in großer Menge hergestellt. Das wirft die Frage auf, ob man überhaupt auf deutsche Patente angewiesen ist. Was das Fehlen von Impfstoff in ärmeren und weniger entwickelten Ländern betrifft, so sind die Ursachen vielfältig. Der Patentschutz ist dabei marginal; er kommt überhaupt nicht zum Tragen.
0
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,548
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19
Claudia
Roth
11,003,212
Kommen Sie bitte zum Schluss.
-1
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Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,549
227
19
Detlev
Spangenberg
11,004,898
Ja, letzter Satz. – Meine Damen und Herren, die AfD schützt das geistige Eigentum. Wir brauchen es in Deutschland als einer starken Wirtschaftsnation. Wir werden uns gegen jegliche Enteignungstendenzen wehren. Recht vielen Dank. ({0})
0
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,569
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
-1
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Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,552
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Claudia
Roth
11,003,212
Vielen Dank, Heike Baehrens. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Andrew Ullmann. ({0})
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Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,553
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19
Andrew
Ullmann
11,004,922
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Pandemie ist der Staat das Problem und nicht der Unternehmer. Es waren nämlich die Unternehmen und die Wissenschaft, die in Rekordzeit einen Impfstoff entwickelt haben. ({0}) Während Staaten in einen Impfstoffnationalismus verfallen sind, wie die von Ihnen gerade gelobte USA, liebe Heike Baehrens, haben Unternehmen global kooperiert, um Instrumente im Kampf gegen die Pandemie bereitzustellen. Deshalb sei die Frage erlaubt – gerade hier an die linke Seite –: Über welche Probleme sprechen wir hier eigentlich, die beseitigt werden müssen? ({1}) Unstrittig ist doch, dass wir schnell und so viel wie möglich sichere und effektive Impfstoffe weltweit für alle Menschen zur Verfügung stellen wollen. Doch statt diese Herausforderung genauer zu analysieren oder gar anzusehen, sind die Linken blind; denn sie bieten sofort eine vermeintlich einfache Lösung an für ein sehr komplexes Problem, ({2}) und zwar die Freigabe von Patenten. Nein, liebe Freunde, liebe Damen und Herren, das ist rotäugiger Populismus, was Sie hier betreiben. ({3}) Dass Sie aber meinen, eine neue Generation an Impfstoffen könne in einem Chemielabor einfach nachgebastelt werden, zeigt, dass Sie reich sind, und zwar reich an Naivität. Denn solche Stoffe herzustellen, ist nicht trivial und bedarf wirklich guter Instrumente in der Industrie, und das kann man nicht einfach so nachbasteln. ({4}) Was sind denn Ihre Lösungen für die immer kritischer werdenden Lieferprobleme bei Rohstoffen? Was sind denn Ihre Lösungen, um eine qualitativ hochwertige Herstellung zu gewährleisten? Meinen Sie etwa im Ernst, dass die Produktionsanlagen und die Fachkräfte vom Himmel herunterregnen? ({5}) Wo sind denn Ihre Lösungen, um Abfüllkapazitäten zu erhöhen? Denn dafür bedarf es keiner Patente, sondern einer Zusammenarbeit von Unternehmen, einer Zusammenarbeit, die bereits heute funktioniert. Verweigerungen sind bisher keine bekannt. Noch wichtiger: Wie wollen Sie Anreize für die Entwicklung von innovativen Therapien bei Infektionskrankheiten und bei Krebs aufrechterhalten? Die Linken versprechen große Luftschlösser bei der Impfstoffversorgung, die bei der Umsetzung sofort zusammenfallen würden. ({6}) Meine Damen, meine Herren, es waren doch kleine Start-up-Unternehmen, die erfolgreich mit kapitalstarken Konzernen freiwillig zusammengearbeitet haben. ({7}) Sie zerstören die Ideen-Hotspots mit Ihrem Ansatz. Denn leider stellen die Linken, aber auch die Grünen, den Schutz des geistigen Eigentums infrage. So würden Sie uns nachhaltig unvorbereitet in die nächste Pandemie hineinlaufen lassen. ({8}) So eine Zukunft wollen wir verhindern und werden diesen Antrag natürlich ablehnen. ({9}) Wir wollen nach realistischen Lösungen mit Unternehmen und Forschern suchen. Wir wollen weltweite Lieferungen von Impfdosen durch Covax stärken und Impfnationalismus durchbrechen. Wir wollen überschüssige Impfdosen gegen SARS-CoV-2 schnell und unbürokratisch global verteilen. ({10}) Wir wollen, dass unser Land sein Gewicht in der globalen Gesundheitspolitik einsetzt, um andere Länder dazu aufzurufen, den ACT-Accelerator zu unterstützen und die Finanzierungslücke von insgesamt 19 Milliarden US-Dollar zu schließen. Herzlichen Dank. ({11})
13
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,554
227
19
Claudia
Roth
11,003,212
Na ja, jetzt bin ich schuld am Geschrei? Nein, nein. Vielen Dank, Dr. Andrew Ullmann. – Nächster Redner: für Die Linke Dr. Achim Kessler. ({0})
-1
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Presidium of Parliament
Vizepräsidentin
2021-05-06
1,060,555
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Achim
Kessler
11,004,776
Nach diesem Ausflug in die Märchenwelt kommen wir jetzt zurück in die Realität. ({0}) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz einmal sagen würde, aber ich danke dem US-Präsidenten Joe Biden, nämlich dafür, dass er Menschenleben vor Profite stellt ({1}) und die Freigabe der Patente für Impfstoffe unterstützt, damit alle Menschen weltweit schnell geimpft werden können. ({2}) Das ist eine Wendung um 180 Grad. Die Linke hat bisher den Impfnationalismus der USA immer scharf verurteilt. Umso mehr begrüßen wir diese fundamentale Wendung. ({3}) Ich frage die Bundesregierung hier und jetzt: Unterstützen Sie die Initiative des US-Präsidenten, ja oder nein? Nicht nur wir erwarten dazu von Ihnen heute eine klare Antwort. ({4}) Meine Damen und Herren, angesichts der Millionen Toten und der verheerenden sozialen Folgen der Pandemie darf es in dieser Frage auch keine Fraktionsdisziplin geben. ({5}) Ich fordere jeden und jede von Ihnen auf, Ihr Gewissen sehr genau zu prüfen – nach dieser sehr guten Rede sage ich das insbesondere in Richtung SPD –, wenn wir heute über unseren Antrag zur Freigabe der Patente abstimmen. Meine Damen und Herren, die Fehler bei der Bekämpfung der Aidspandemie dürfen sich nicht wiederholen. ({6}) Viele Millionen Menschen sind völlig unnötig gestorben, weil die Pharmaindustrie den weltweiten Zugang zu HIV-Medikamenten jahrelang mit allen Mitteln verhindert hat. ({7}) Wenn Sie heute unseren Antrag ablehnen, können Sie hinterher nicht sagen, Sie hätten die Folgen nicht gekannt. Stimmen Sie unserem Antrag zu! ({8}) Wir sehen die katastrophalen Folgen des Virus weltweit. Die Gesundheitssysteme einiger Länder sind bereits zusammengebrochen. ({9}) – Andrew, hör mal zu! – Über 3 Millionen Menschen sind bis jetzt gestorben. Das dürfte eigentlich auch dich nicht kaltlassen; aber ich täusche mich vielleicht. ({10}) Die Regierungen Indiens und Südafrikas haben frühzeitig einen Antrag an die Welthandelsorganisation gestellt, den Schutz der Patente für die Dauer der Pandemie auszusetzen. ({11}) Und jetzt? Sehen Sie sich aktuell die katastrophale Situation in Indien an. ({12}) Die Bundesregierung trägt eine Mitverantwortung für die gesundheitliche und humanitäre Katastrophe, indem sie die Anträge zur Patentfreigabe ablehnt. ({13}) Ich fordere Sie auf: Revidieren Sie Ihre Haltung! Stimmen Sie bei der Welthandelsorganisation der Aussetzung des Patentschutzes zu, damit alle Menschen, auch in ärmeren Ländern, geimpft werden können und damit die Pandemie nicht in Form von resistenten Mutanten zu uns zurückkommt. ({14}) Meine Damen und Herren, noch immer sind erst 8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland vollständig geimpft, und das in dem Land, in dem einer der ersten wirksamen Impfstoffe entwickelt worden ist. ({15}) – Ich komme gleich darauf. – Die Impfaktion verläuft viel zu langsam, und das liegt daran – und jetzt hören Sie bitte gut zu von der FDP –, ({16}) dass die Bundesregierung zwar 1,25 Milliarden Euro in die Entwicklung von Impfstoffen gesteckt hat, ({17}) aber vollkommen versäumt hat, Maßnahmen zu ergreifen, diese erfolgreichen Impfstoffe dann auch in die Massenproduktion zu bringen. ({18}) Wider besseres Wissen überlässt die Bundesregierung die Produktionsplanung der Pharmaindustrie und den Gesetzen des Marktes. Dabei haben die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung dazu ermächtigt, in der Pandemie die Patente freizugeben, damit möglichst schnell möglichst viel Impfstoff produziert werden kann. ({19}) Meine Damen und Herren, es ist vollkommen unverständlich und es ist vollkommen verantwortungslos, dass Sie dieses Instrument, das Sie selbst in weiser Voraussicht geschaffen haben, jetzt nicht nutzen. ({20})
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,556
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,557
227
19
Achim
Kessler
11,004,776
Wir müssen jetzt –
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,558
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,559
227
19
Achim
Kessler
11,004,776
– letzter Satz – mit allen Mitteln schnellstmöglich weltweit eine Herdenimmunisierung erreichen; denn sonst geht das Ganze im Herbst von vorne los.
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,560
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege!
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,561
227
19
Achim
Kessler
11,004,776
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Geben Sie die Patente frei! ({0})
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,562
227
19
Kordula
Schulz-Asche
11,004,405
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pandemie ist erst dann vorüber, wenn sie überall vorbei ist. ({0}) Der Satz geht leicht über die Lippen; aber leicht gesagt ist nicht leicht getan. Wir diskutieren hier bei uns tagtäglich über die nationale Impfstrategie; aber wir werden Corona nur mit einer globalen Impfstrategie bekämpfen können. Blicken wir kurz nach Indien. Dort erleben die Menschen im Moment die Hölle auf Erden und hoffen auf internationale Hilfen. Und auch uns nützen diese Hilfen; denn wir müssen vermeiden, dass die Mutationen sich weltweit ausbreiten können. ({1}) Vor allem – das ist noch viel wichtiger – ist Indien ein ganz wichtiger Produzent und Lieferant von Impfstoffen weltweit, übrigens auch nach Deutschland, und bietet über Covax gerade Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen Impfstoffe gegen Covid-19 an. Meine Damen und Herren, was passiert, wenn ein so wichtiger globaler Produzent ausfällt? Gestern hat sich die US-Regierung für die temporäre Aufhebung des Patentschutzes für Covid-19-Impfstoffe ausgesprochen, wie es auch die WHO und die Zivilgesellschaft fordern. Deswegen ist meine erste Forderung an die US-Regierung, die Exportverbote aus den USA in den Rest der Welt aufzuheben ({2}) und weiterhin dafür zu sorgen, dass die Impfstoffe weltweit verteilt werden können, auch die, die aus den USA kommen. ({3}) Meine Damen und Herren, eine globale Gesundheitskrise braucht natürlich außergewöhnliche Maßnahmen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich gemeinsam mit der EU, vielleicht schon morgen oder übermorgen, dem US-amerikanischen Vorstoß zum Patentschutz anzuschließen. ({4}) Das ist notwendig; denn das Ziel muss sein, gemeinsam mit der Welthandelsorganisation ein TRIPS-Waiver-Abkommen zu schließen, um die Produktion und das Know-how weltweit massiv zu steigern. Aber bis dieses Abkommen zustande kommt, wird es dauern. Deshalb ist aus unserer Sicht auch ein internationales Sofortprogramm notwendig. Wir brauchen erstens ein sofortiges Dosis-Sharing. Während wir hier über die Aufhebung der Priorisierung sprechen, ist in anderen Ländern das Gesundheitspersonal noch nicht mal geimpft. Wir brauchen dringend die Impfung von Menschen in diesen Schlüsselfunktionen, auch in anderen Ländern. ({5}) Wir brauchen zweitens eine sofortige Ausweitung der Produktionskapazitäten, am besten in Ländern, die bereits Erfahrungen haben, die selber schon Impfstoffe produzieren. ({6}) Ich nenne hier nur den Senegal als Beispiel. Wir brauchen drittens sofortigen Technologietransfer mit qualifiziertem Personal. Meine Damen und Herren, BioNTech hätte die Fabrik in Marburg nicht eröffnen können, wenn dort nur eine leere Fabrik gestanden hätte. BioNTech konnte es, weil sie qualifiziertes Personal hatten, um Impfstoffe herzustellen. ({7}) Dafür müssen wir uns einsetzen.
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,563
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,564
227
19
Kordula
Schulz-Asche
11,004,405
Meine Damen und Herren, die Coronapandemie zeigt uns ein globales Systemversagen. ({0}) Deutschland und die EU sollten sich hier zum Vorreiter machen, –
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,565
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Frau Kollegin!
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,566
227
19
Kordula
Schulz-Asche
11,004,405
– in unserem eigenen Interesse und im Interesse der internationalen Solidarität. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,567
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Frau Kollegin Schulz-Asche. ({0}) – Herr Kollege Korte, Sie müssen Ihr Abstimmungsverhalten jetzt nicht der Öffentlichkeit mitteilen. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Michael Hennrich, CDU/CSU-Fraktion. ({2})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,568
227
19
Michael
Hennrich
11,003,551
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag der Linken über die Freigabe von Patenten für Impfstoffe. Die Linken waren ja bei vielen Dingen, die wir in den letzten Wochen und Monaten beschließen mussten, dabei. Deswegen will ich die Zeit auch nutzen, um die positiven Aspekte ihres Antrags hervorzuheben. Es ist richtig, dass der Impfstoff das wichtigste Mittel zur Eindämmung der Pandemie ist und wir eine möglichst breite Durchimpfung brauchen. Die Pandemie kann nicht durch Impfnationalismus bekämpft werden, sondern wir brauchen einen globalen Ansatz. Und wir sind uns darüber einig, dass es eine herausragende Leistung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern war, innerhalb kürzester Zeit einen Impfstoff zu entwickeln. Aber da fangen dann schon die Differenzen mit den Linken an. Es ist schade, dass Sie nicht auch die unternehmerischen Leistungen in vielen Betrieben in den letzten Wochen und Monaten gewürdigt haben: Unternehmer haben durch gutes Management viel geleistet; Mitarbeiter in mittelständischen Betrieben in Deutschland haben Hand angelegt, um innerhalb kürzester Frist sichere Lieferketten und Produktionskapazitäten aufzubauen. Ich spüre diese Euphorie der Linken, seitdem der amerikanische Präsident gesagt hat, er möchte über die Aussetzung des Patentschutzes nachdenken. ({0}) Vielleicht haben Sie die Zeit, sich in den nächsten Tagen zwei Zeitungsartikel vom heutigen Tage zu Gemüte zu führen: einen Artikel aus der „FAZ“, in dem ein südafrikanischer Impfstoffproduzent zu diesem Thema Stellung genommen hat, und einen Artikel aus der „Berliner Morgenpost“. ({1}) In dem Artikel der „FAZ“ sagt dieser südafrikanische Impfstoffproduzent, mit der Vektortechnologie sei es möglich, innerhalb eines Jahres 20 Millionen bis 30 Millionen Impfdosen zu produzieren. Zu dem neuen Impfstoff von BioNTech sagt er, dass kein Wissen über das Verfahren und über die Technik vorliege und dass es Jahre dauern würde, bis man Produktionskapazitäten aufgebaut hätte. Und dann kommt etwas ganz Spannendes: dass nämlich BioNTech und Pfizer schon im letzten Jahr Produktionsvereinbarungen mit diesem Unternehmen getätigt haben. Ich frage mich, ob das alles passiert wäre, wenn BioNTech und Pfizer gewusst hätten, dass sie im Grunde genommen den Patentschutz aufheben müssen. ({2}) Dann schauen Sie sich mal den Artikel in der „Berliner Morgenpost“ an, in dem beschrieben wird, dass für den neuen BioNTech-Impfstoff 50 000 Arbeitsschritte notwendig sind, dass Pfizer und BioNTech in diesem Jahr innerhalb kürzester Zeit 2,5 Milliarden Dosen produzieren und mittlerweile 65 Länder aus Deutschland heraus beliefert werden.
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,570
227
19
Michael
Hennrich
11,003,551
Ich glaube, das zeigt mehr als deutlich, dass wir auf freiwillige Kooperation bauen müssen und dass wir die Probleme nicht mit staatlicher Zwangswirtschaft lösen. ({0}) Der Beweis – BioNTech mit seinen Kooperationen – macht es mehr als deutlich. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,571
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Herr Kollege Hennrich. – Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,572
227
19
René
Röspel
11,003,210
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bis auf den rechten Block sind wir uns, glaube ich, alle einig, dass wir den Menschen weltweit möglichst viel und möglichst schnell Impfstoff zur Verfügung stellen müssen. ({0}) Fakt ist allerdings auch, dass nur ein geringer Prozentbruchteil an Impfstoffen wirklich in den ärmsten Ländern dieser Welt ankommt. Nun glaubt Die Linke – und beschreit das hier sehr lauthals –, die Patentfreigabe müsse erfolgen, ({1}) und meint, mit ihrem Antrag, den sie zur Abstimmung stellt, dieses Problem lösen zu können. Tatsächlich geht es in dem Antrag aber nicht um die Freigabe von Patenten – Sie müssten ihn selbst mal lesen –, vielmehr wollen Sie die Patentinhaber und ‑hersteller zur Vergabe von Lizenzen veranlassen. Weicher hätte ich es auch nicht formulieren können. Es gibt da aber einen wesentlichen Unterschied. Wer jemals Lizenzverhandlungen mitgemacht hat, der weiß, wie lange das dauert, welche rechtlichen Schwierigkeiten damit verbunden sind, und vor allen Dingen, wie viel Geld man mitbringen soll und muss – ich weiß gar nicht, wer das bezahlen soll: die Länder, die die Lizenzen beantragen und erhalten sollen? –, ({2}) und der weiß auch, dass diese Lösung nicht funktionieren wird. Ebenso weiß er, dass das, was Sie gerade machen, leider Populismus auf Kosten der Ärmsten ist; denn es hat nichts mit Patentfreigabe zu tun. ({3}) Seien Sie doch wenigstens so ehrlich, das zu sagen. Ich glaube nicht, dass es sehr hilfreich ist, wenn man viel Geld für Lizenzen ausgibt und am Ende des Tages nicht eine Dose Impfstoff mehr hat. Dann hat man zwar eine Lizenz, aber nichts in der Hand. Dieser Weg ist also nicht der richtige, und ich finde, er beschreibt auch nicht die beiden Probleme, die ich jedenfalls sehe. Das erste zentrale Problem ist das der mangelnden Produktionskapazitäten – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – für einen völlig neuartigen Impfstoff, nämlich einen mRNA-Impfstoff, an den ich vor einem oder vor anderthalb Jahren noch nicht geglaubt hätte, der auch noch kompliziert herzustellen ist und gerade mal seit fünf Monaten zugelassen ist. Das alles ist nicht trivial, und tatsächlich müssen wir in diesem Bereich insgesamt besser werden. Das zweite wichtige Problem – und ich finde es schon erstaunlich, dass Die Linke das verschleiert – besteht nicht etwa in den Patenten, sondern darin, dass wir als reiche Länder dieser Welt völlig unsolidarisch den Impfstoffmarkt leergekauft haben – schlicht und einfach. Wenn wir zur Problemlösung beitragen wollen, müssen wir an unsere eigene Nase fassen. Deswegen ist es wichtig, an zwei Stellen anzusetzen: nämlich erstens den Kapazitätsaufbau von Produktionsstätten weltweit – nicht nur in Deutschland; wenn es die alle schon gäbe, hätten wir hier ja genug Impfstoff – zu unterstützen und massiv zu fördern, und zweitens, wie Deutschland das schon vorbildhaft tut – aber da müssen wir mehr machen, bei Covax usw. –, deutlich mehr in die Impfstoffe zu investieren. ({4}) Ich finde es sehr erstaunlich, dass Sie die USA loben. Wenn die amerikanische US-Handelsbeauftragte Tai davon spricht, das Ganze über ein TRIPS-Waiver-Abkommen regeln zu wollen, –
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,573
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist beendet.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,574
227
19
René
Röspel
11,003,210
– weil jetzt die Versorgung der eigenen amerikanischen Bevölkerung sichergestellt ist, dann ist das sehr bedenkenswert. ({0}) Es ist aber eine gute Idee für eine Initiative. Wir werden darüber nachdenken.
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,575
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege, einen Satz noch!
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,576
227
19
René
Röspel
11,003,210
Wenn wir am Ende bei uns die Probleme gelöst haben und es dann immer noch Probleme mit Patenten gibt, werden wir diesen Weg weiterverfolgen. Vielen Dank. ({0})
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,577
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Herr Kollege Röspel. – Ich gebe mal einen technischen Hinweis: Es macht relativ wenig Sinn, die Maske auf das Blinkzeichen zu legen. Sie sehen das dann zwar nicht, aber es blinkt trotzdem. ({0}) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion. ({1})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,578
227
19
Erich
Irlstorfer
11,004,311
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegen! Das Ziel, welches dieser Antrag verfolgt, ist in meinen Augen nicht so falsch. Menschen weltweit zu helfen und die Coronaimpfstoffe jedem zugänglich zu machen, ist richtig. Der Mensch muss in dieser Pandemie im Mittelpunkt stehen. Das ist unser Ziel. Wenn hier ein Vorschlag aus Amerika kommt – Joe Biden hat einen Plan vorgelegt –, dann ist das generell gut. ({0}) Wir möchten versuchen, diese Pandemie zu besiegen. Das werden wir nicht im Klein-Klein der Nationalstaatlichkeit schaffen, sondern das werden wir nur in größeren Zügen – europäisch und weltweit – lösen können. Da braucht man auch ein starkes Land wie Deutschland. Aber ob das Instrument, welches diesem Antrag zugrunde liegt, nämlich die Aufhebung von Patentschutz, richtig ist, da bin ich mir nicht so ganz sicher. ({1}) Aber es ist ein Vorschlag. Und unser Minister hat heute klar gesagt, dass wir über diesen Plan diskutieren, dass wir diesen Plan abwägen werden und dass wir dann eine Entscheidung treffen, die klug, die hilfreich und segensreich ist. Die Vorstellungen der Linksfraktion, dass der Staat mit ein paar Handgriffen Patente aussetzen kann, ist ein Trugschluss und vereinfacht sehr viel. Wir haben nun einmal diese Situation; aber das Ganze kommt jetzt in Schwung, und wir sehen, dass das Impfen wirklich zu den Menschen kommt, dass es auch Wirkungen zeigt und dass es Lösungen bietet. Dass das der richtige Weg ist, um die Menschen zu schützen, das erleben wir doch Tag für Tag. Und sind wir doch mal ehrlich: Sicher gehören politische Entscheidungen dazu, aber es ist doch vor allem die große Leistung von Wissenschaft und Forschung und von den Betrieben, die das alles handwerklich umsetzen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Die Impfstoffproduktion ist komplex, und so ist auch die dazugehörige Patentstruktur. Hier eine adäquate Lösung zu finden, wird laut Aussage vieler Expertinnen und Experten eine juristische Mammutaufgabe werden, die viel Zeit kostet. Uns muss leiten, dass wir das Vernünftige tun, dass wir das Machbare, zu dem Politik in der Lage ist, umsetzen, dass wir aber auch die internationale Verteilung menschlich und nach dem Grundsatz der Nächstenliebe vornehmen. In diesem Sinne werden wir die Gespräche führen, und ich wünsche uns dazu viel Kraft und auch Weitblick. Herzlichen Dank. ({3})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,579
227
19
Paul
Ziemiak
11,004,938
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute entscheiden wir über die Errichtung der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung, zwei Tage vor dem 8. Mai. Der 8. Mai 1945 hat das Leben einer ganzen Generation geprägt. Zu dieser Generation gehörte auch Helmut Kohl. Helmut Kohl steht wie kaum ein anderer für diese Generation, er und auch andere wie beispielsweise Hans Rosenthal. Vor einigen Tagen ist ein Gespräch von 1982 wieder im Netz aufgetaucht: Hans Rosenthal und Helmut Kohl im Gespräch. Auf der einen Seite der Showmaster Hans Rosenthal, ein Berliner Jude, dessen kleiner Bruder 1942 von den Nationalsozialisten nach Riga deportiert und wenige Tage später im Konzentrationslager Majdanek ermordet wurde. Auf der anderen Seite der Christdemokrat Helmut Kohl, dessen älterer Bruder 1944 als deutscher Soldat fiel. Hans Rosenthal überlebte den Holocaust, weil ihn zwei mutige Berliner Frauen in einer Laubenkolonie versteckten. Helmut Kohl blieb der Einsatz als Flakhelfer in den letzten Kriegstagen gerade noch erspart. Hans Rosenthal und Helmut Kohl waren zwei Männer der gleichen Generation, die manches getrennt, aber doch so vieles verbunden hat in ihrer Erinnerung und ihrem späteren Wirken. Zwei Lebenswelten: hier die politische, da die historisch-künstlerisch-journalistische. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Erfahrungen aus seiner Kindheit und Jugend haben Helmut Kohl tief geprägt und begründeten seinen Einsatz für „Nie wieder Krieg!“ und für die Einheit Europas und führten dazu, dass er sich früher engagierte als andere, in der Jungen Union und in der Christlich Demokratischen Union. Er übernahm Verantwortung, wurde Abgeordneter, Ministerpräsident, Parteivorsitzender und später Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Als Helmut Kohl 1982, einige Zeit nach diesem Gespräch, Bundeskanzler wurde, stand hier, unweit vom Reichstag, die Berliner Mauer. Unser Vaterland war getrennt. Unser Kontinent war getrennt. Unversöhnlich standen sich zwei militärische Weltmächte gegenüber. Jederzeit konnte der Kalte Krieg zu einem heißen werden. Als Helmut Kohls Amtszeit als Bundeskanzler endete, war Deutschland wiedervereinigt, Berlin eine freie Stadt, und Deutschland war das erste Mal in seiner Geschichte nur von Freunden umgeben. ({0}) Helmut Kohl war ein Brückenbauer. Deswegen ist das, was sich in seiner Kanzlerschaft ereignet hat, tief mit seinen Überzeugungen und vor allem mit seinem Wirken verbunden, auch und vor allem die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes und die Einheit Europas. ({1}) Am 9. November reiste Helmut Kohl nach Warschau, um der neuen demokratisch gewählten Regierung in Polen die Ehre zu erweisen. An diesem Tag, als er mitbekam, was in Berlin passierte, musste er sich entscheiden: Bleibt er in Warschau, um das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen wieder auf ein neues Level zu bringen, oder reist er zurück nach Berlin, um am 9. November als Bundeskanzler in Berlin zu sein? Er entschied sich, zurück nach Deutschland zu reisen. Das war damals gar nicht so einfach, weil die Luftwaffe der Bundeswehr gar nicht nach Berlin fliegen konnte, sondern ein militärischer Flieger der US-Armee angefordert werden musste. Die Polen waren besorgt, weil sie nicht wussten: Was bedeutet eine mögliche Grenzöffnung und vielleicht eine Wiedervereinigung für die östlichen Nachbarn der Bundesrepublik? Das Einzige, was er ihnen anbieten konnte, war sein Wort. Und sie vertrauten dem Wort Helmut Kohls, und er hielt sein Wort, so wie er immer als bodenständiger Weltpolitiker sein Wort gehalten hat. Am Ende seiner Kanzlerschaft pflegte die Bundesrepublik gute und freundschaftliche Beziehungen mit Paris genauso wie mit Warschau, mit Washington genauso wie mit Moskau. Helmut Kohl ist für viele junge Menschen noch heute ein großes Vorbild, und er sollte für alle, die sich politisch engagieren, ein großes Vorbild sein – immer die Geschichte im Blick zu haben, aber weiter zu denken als über den heutigen Tag. ({2}) Übrigens – ich will keine Fraktionen hier im Deutschen Bundestag nennen; aber die Älteren wissen es –: Als viele in der Bundesrepublik die Einheit noch gar nicht wollten, auch im Deutschen Bundestag, wollte sie Helmut Kohl, und er glaubte an diese Chance der Geschichte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Helmut Kohl hat als junger Mensch Geschichte studiert. Durch sein Wirken, durch sein Lebenswerk ist er selbst zur großen Geschichte unseres Landes und der Europäischen Union geworden. Heute ist vieles für junge Menschen selbstverständlich: Ein festes Bündnis der Verteidigung in der NATO, die Europäische Union, die Grenzfreiheit in der Europäischen Union, eine gemeinsame Währung, und – wie gesagt, das Wichtigste – wir sind von Freunden umgeben. Diesen Zustand verdanken wir dem Wirken von Helmut Kohl. Daran wollen wir erinnern, und dazu dient diese Stiftung. Vielen herzlichen Dank. ({3})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,580
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Herr Kollege Ziemiak. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,581
227
19
Marc
Jongen
11,004,768
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! CDU/CSU und SPD wollen – und werden mit ihrer Mehrheit sicherlich auch – eine Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung errichten. Warum muss es übrigens „Bundeskanzler“ heißen? Es heißt ja auch nur Otto-von-Bismarck-Stiftung oder Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Name Helmut Kohl könnte meines Erachtens ebenfalls für sich alleine stehen; er hätte diese begriffliche Krücke eigentlich nicht nötig – aber sei’s drum. Der Kanzler der Einheit also, den inmitten der vermeintlich posthistorischen 80er-Jahre der Mantel der Geschichte streifte und der ihn beherzt ergriff, er wird durch diese Stiftung nun selbst zu einer Figur der Geschichte. Als solcher ist er dem Leben, auch dem politischen, entrückt und wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Aufarbeitung, Deutung, Einsortierung und damit endgültig zu jenem Monument, als das er sich gegen Ende seines Lebens manchmal selbst schon zu betrachten schien. Anlässlich Ihrer Reden, werte Kollegen, die wir in der ersten Lesung ja schon vor zwei Wochen hier gehört haben, bin ich aber unwillkürlich versucht, mich hineinzuversetzen in den noch lebenden, noch politisch aktiven Helmut Kohl, und ich frage mich, was er wohl gesagt hätte zu diesem Spektakel hier. Etwa aus der Sicht der frühen 80er-Jahren zu Beginn seiner Kanzlerschaft, als er eine „geistig-moralische Wende“ in Deutschland gefordert hatte, weg vom Sozialismus und den Gesellschaftsexperimenten der 68er-Generation hin zu konservativen Tugenden wie Leistung, Eigeninitiative, Familienwerten, ({0}) aber auch zu einem anderen nationalen Selbstverständnis. Was hätte er gesagt zu einer CDU, die ihn jetzt salbungsvoll auf den symbolischen Sockel hebt, in ihrer Realpolitik aber all das dementiert und mit Füßen tritt, was die geistig-moralische Wende einst intendiert hat? ({1}) Die Partei Helmut Kohls ist inzwischen nicht nur zu Ende sozialdemokratisiert und durchgegrünt, sie setzt in etlichen Punkten – in der Flüchtlingspolitik, bei Frauenquoten, in der wirtschaftsfeindlichen Energiepolitik – Positionen um, die man zu Kohls Zeiten „linksradikal“ genannt hätte. ({2}) Legendär die Warnung von Franz Josef Strauß vor Rot-Grün 1986 auf einem CDU-Parteitag: Das „bunt geschmückte Narrenschiff Utopia“, auf dem „ein Grüner und zwei Rote die Rolle der Faschingskommandanten übernehmen“, das müsse mit „bürgerlicher Vernunft“ verhindert werden, weil es das Leben der künftigen Generationen aufs Spiel setze. – Helmut Kohl saß dahinter und applaudierte, und zu Recht. ({3}) Aber genau dort, meine Damen und Herren, sind wir heute angekommen. Und auch wenn Helmut Kohl diese Entwicklungen damals schon mit auf den Weg gebracht hat unter dem trügerischen Schlagwort „Modernisierung der CDU“, auch wenn er sich viel zu wenig dagegengestemmt hat: Angesichts des Zustands, in den die CDU unter Angela Merkel Deutschland inzwischen gebracht hat, würde er sich im Grabe umdrehen, und er würde die Loblieder, die heute hier auf ihn gesungen werden, nicht goutieren, schon gar nicht von den grün-rot-roten Faschingskommandanten; davon bin ich überzeugt. ({4}) Die AfD-Fraktion wird sich bei diesem Stiftungsgesetz enthalten, zum einen wegen der Ambivalenz der Figur Helmut Kohl. Wir ehren ihn als den Kanzler der Einheit, der sich durch seinen politischen Instinkt und sein konsequentes Handeln im historischen Moment ein unsterbliches Verdienst um unser Land erworben hat. Wir sehen ihn aber auch mitverantwortlich für fatale Entwicklungen: die Preisgabe der D-Mark für den Euro, den Beginn der Räumung vieler konservativer Positionen. Vor allem aber können wir der Konstruktion dieser Stiftung nicht zustimmen. Von fünf Kuratoriumsmitgliedern kommen zwei aus der CDU-nahen Adenauer-Stiftung, zwei werden von der Kulturstaatsministerin bestimmt, ebenfalls CDU, und eines ernennt der Bundespräsident, SPD. Diese wählen dann den dreiköpfigen Vorstand. Das klingt nicht nach Unabhängigkeit, sondern nach politischer Kungelrunde, und das hat Helmut Kohl – aller schwarzen Kassen zum Trotz – nicht verdient. Vielen Dank. ({5})
0
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,582
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Herr Dr. Jongen. – Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese, SPD-Fraktion. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,583
227
19
Dirk
Wiese
11,004,444
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung: Es ist eine gute Tradition, dass wir diese Stiftungen einrichten und dass wir heute als Deutscher Bundestag die Errichtung einer Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung auf den Weg bringen. Was machen diese Stiftungen? Sie leisten politische Bildungsarbeit. Sie arbeiten das Lebenswerk der Kanzler auf. Sie wollen, dass aus der Geschichte gelernt wird. Sie wollen aus der Geschichte letztendlich auch Zukunft gestalten. Ich möchte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zitieren, der zum Tode von Helmut Kohl gesagt hat: Helmut Kohl war ein Ausnahmepolitiker und ein Glücksfall für die deutsche Geschichte. Das Ziel, für unser Land die Einheit in Freiheit zu erlangen, verfolgte er genauso beharrlich wie den Bau des Hauses Europa. Helmut Kohl war ein Mann – das muss man sagen –, der natürlich auch im Lichte seiner eigenen Lebensgeschichte gesehen werden muss, der sich aber klar dazu entschieden hatte – und auch das muss man heute hier noch mal erwähnen –, für ein europäisches Deutschland zu streiten, das nach dem Fall der Mauer seine Einheit wiederfand, und es ist ein europäisches Deutschland gewesen, das allem widerspricht, Herr Jongen, was Sie mit Ihrer Partei vertreten. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gehört zur Ehrlichkeit allerdings auch dazu, dass die Auseinandersetzungen, auch der Sozialdemokratie, mit Helmut Kohl sicherlich nicht einfach gewesen sind. Sie waren durchaus hart; sie waren hart in der Sache. Sie waren allerdings auch von Respekt geprägt. Gerhard Schröder hat den treffenden Satz gesagt – ich zitiere –: Obwohl wir im Jahr 1998 einen harten Wahlkampf gegeneinander geführt haben und in vielen politischen Fragen weit auseinanderlagen und ‑liegen, habe ich für seine historische Leistung größten Respekt. Wenn wir an den Besuch von Helmut Kohl 1984 in Verdun, an das gemeinsame Bild mit Francois Mitterrand denken – sicherlich sind uns allen die Bilder im Hinterkopf –, wenn wir uns das noch einmal vor Augen führen, dass Deutschland und Frankreich einmal Erbfeinde gewesen sind, die viele Kriege gegeneinander geführt haben, wenn man selbst einmal in Verdun gewesen ist und selbst erlebt hat, was Nationen im Kampf gegeneinander anrichten können, sieht, was auf den Schlachtfeldern dort passiert ist, wenn man die Granathügel auch heute noch sieht, dann kann man es nicht hoch genug anrechnen, dass unsere beiden Länder, Deutschland und Frankreich, sich ausgesöhnt haben und dass es zwischen unseren beiden Ländern keine Erbfeindschaft mehr gibt. Das ist wichtig. ({1}) Wenn man sieht, wie viele Städtepartnerschaften heute freundschaftliche Beziehungen pflegen, ja, dass es selbstverständlich ist, dass wir alle Europäer sind, dann gehört auch das zu dem, was heute Abend erwähnt werden sollte. Helmut Kohl hat meinen Wahlkreis, den Hochsauerlandkreis, am 3. März 1994 besucht. Er war dort zu Gast beim 750-jährigen Stadtjubiläum der Stadt Schmallenberg. Er hat dort eine Festansprache vor 2 000 Gästen gehalten unter dem Motto „Tradition hat Zukunft“. Er hat – so wird es jedenfalls in den Zeitungen berichtet – gesagt, dass Schmallenberg ein prachtvolles Beispiel von Stadtkultur mitten in Deutschland ist. Das hat sich bis heute nicht geändert; das kann ich unterschreiben. Er hat davon gesprochen, dass die solide Finanzpolitik der Stadt wirklich herausragend ist. Auch das ist heute noch aktuell. Außerdem gilt es, den ebenfalls anwesenden Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herbert Schnoor von den Sozialdemokraten, hier zu zitieren, der am Ende eigentlich den wichtigsten Satz gesagt hat, der immer noch aktuell ist – denn aller guten Dinge sind drei –: „Es ist schön hier, es ist richtig schön hier“ im Sauerland. – Ich denke, da wird auch Helmut Kohl damals zugestimmt und das auch so gesehen haben. Zu unserem Antrag, den wir heute verabschieden, gehört auch, dass wir einige Änderungen an der Willy-Brandt-Stiftung vornehmen, gerade für das Willy-Brandt-Haus in Lübeck, aber auch für das Willy-Brandt-Forum in Unkel. Dafür will ich mich noch mal ausdrücklich bedanken. Hier geben wir Sicherheit, und das ist ein wichtiges Signal für die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,584
227
19
Simone
Barrientos
11,004,660
Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke wird der Errichtung einer Helmut-Kohl-Stiftung zustimmen, allerdings aus ganz anderen als den hier genannten Gründen. Natürlich hat das Wirken von Helmut Kohl das Land nachhaltig geprägt. Ich meine das ganz wertfrei; denn um die Wertung seines Wirkens soll es heute hier gar nicht gehen. Der uns vorliegende Entwurf orientiert sich an den bereits bestehenden Stiftungen für Willy Brandt und Helmut Schmidt; wir haben das gehört. Auch sie dienen der Pflege des Erbes der Altkanzler. Das Erbe von Helmut Kohl besteht nicht nur aus seinem sichtbaren Wirken, sondern auch aus seinem Nachlass. Deswegen müssen wir an dieser Stelle wieder über die Akten sprechen. Ich wundere mich immer, dass das keiner tut; denn das ist doch ein entscheidender Punkt. Die Unterlagen lassen sich in drei Kategorien einteilen: Erstens: die amtlichen Akten, die Kanzlerakten. Die gehören ins Bundesarchiv. Zweitens: die Parteiakten. Die gehören – so ist es jedenfalls bei Willy Brandt und Helmut Schmidt – der parteinahen Adenauer-Stiftung. Drittens: der persönliche Nachlass in Form von Dokumenten. Der gehört dann – so ist es gedacht – in die Helmut-Kohl-Stiftung. Entscheidend wird sein, ob sich die Kanzlerinnen-Witwe – so scheint sie sich zu verstehen – Maike Kohl-Richter an dieses Prozedere hält. Und kaum hatte ich meine Rede fertig geschrieben, wusste ich: Sie wird es nicht tun. – Denn der „Spiegel“ titelte: „Helmut Kohls Witwe lehnt geplante Stiftung ab“. Damit ist davon auszugehen, dass sie die Akten, die immer noch im Keller des Einfamilienhauses in Oggersheim liegen, nicht herausrücken wird. Das Problem ist doch, dass sie am liebsten selber entscheiden möchte, welches Bild von Helmut Kohl in der Zukunft gezeichnet wird. Das ist vollkommen absurd. ({0}) Die Helmut-Kohl-Stiftung muss dazu beitragen, dass dieses Theater aufhört; denn natürlich gehören all diese Unterlagen zum kulturellen Erbe dieses Landes. Insofern begrüßen wir ausdrücklich, dass das Bundesarchiv und das Deutsche Historische Museum eng mit der Stiftung zusammenarbeiten sollen. Im Zweifel wird nämlich erst mal zu klären sein, welche Papiere in welche Kategorie gehören. Weil diese Unterlagen nicht vollständig zugänglich sind, konnte eine solche Einschätzung bisher gar nicht vorgenommen werden. Ich denke, Bundesarchiv und Deutsches Historisches Museum werden dabei eine große Hilfe sein. Denn natürlich muss das Erbe Helmut Kohls für diese und kommende Generationen zugänglich sein. ({1}) Genauso gilt natürlich das Persönlichkeitsrecht. Insofern wäre es wichtig, dass das zu benennende Kuratorium den Passus „Benutzereinschränkungen“ aus dem Bundesarchivgesetz mit in die Satzung aufnimmt, der den Zugang unter diesem Aspekt regelt. Auch wenn es heute bei Ihnen, Kollege Ziemiak, durchklang: Nein, es geht nicht darum, Helmut Kohl ein Denkmal zu setzen. Es geht darum, die Weichen so zu stellen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Arbeit möglich wird. ({2}) Denn dass der so hochgelobte Kanzler der deutschen Einheit keine total geeinte Gesellschaft hinterlassen hat, hat eben auch was mit seinem Wirken zu tun. ({3}) Darüber wird man in Zukunft zu reden haben. Damit man das kann, braucht man die Akten. Das soll die Stiftung machen. Das begrüßen wir. Danke schön. ({4})
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,699
228
19
Dr. Wolfgang
Schäuble
11,001,938
Caren Lay, Die Linke, erhält als Nächste das Wort. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19228.pdf
Presidium of Parliament
Präsident
2021-05-07
1,060,585
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Frau Kollegin Barrientos. – Nächster Redner ist der Kollege Erhard Grundl, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,586
227
19
Erhard
Grundl
11,004,733
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die schwarzen Koffer mit 2,1 Millionen D-Mark Spendengeldern für die Parteiarbeit an allen Büchern vorbei und im krassen Widerspruch zum Parteiengesetz gehören auch zum Vermächtnis Helmut Kohls. ({0}) Die Spendenaffäre nicht aufzuarbeiten, schafft sie nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Jeder Versuch, eine objektive, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema zu umgehen, versperrt auch den Blick auf das politische Wirken Kohls, versperrt den Blick auf Helmut Kohl als Transatlantiker, als Entspannungspolitiker, als großen Europäer, als Kanzler der Einheit. Aber niemand steht über dem Gesetz. Schweigekartell und Ehrenwörter, anstatt die Sachen klar beim Namen zu nennen – das ist und bleibt inakzeptabel. ({1}) Dem Ansinnen, eine Helmut-Kohl-Stiftung zu gründen, stehen wir nicht entgegen; denn es geht um die Aufarbeitung einer historisch prägenden Zeit der Neuausrichtungen. Helmut Kohl war hier eine entscheidende und gerade in seiner außenpolitischen Wirkung vielfach auch zukunftsweisende Figur. Diese Forschungsarbeit hat die historische Persönlichkeit Helmut Kohl auf jeden Fall verdient. Eine solche Stiftung – das ist selbstredend – muss ihrem Stiftungsgegenstand gegenüber kritische Distanz wahren. Wie auch andere Politikerstiftungen sind diese Stiftungen keineswegs Spielbälle der jeweiligen Mehrheiten im Deutschen Bundestag oder Austragungsorte für parteipolitische Machtkämpfe. Das verhindert schon das Stiftungsrecht. ({2}) Selbstverständlich gehört eine Stiftung, die in Helmut Kohl auch den Kanzler der Einheit würdigt, nach Berlin. Berlin als einer der Orte der Friedlichen Revolution steht für die demokratische Leistung dieser Bewegung. Ohne sie gäbe es keine deutsche Einheit. Das wusste auch Helmut Kohl. Es geht um die Symbolkraft des historischen Ortes Berlin. ({3}) Nichtsdestotrotz schließt das Gründungsgesetz – gerade durch den Änderungsantrag der Koalition zur Willy-Brandt-Stiftung – nicht aus, dass es einen Ausstellungsort in Ludwigshafen/Oggersheim geben könnte. Das begrüßen wir. Aber um das noch einmal deutlich zu sagen: Der Umstand, dass es die CDU bis heute nicht geschafft hat, sich über den Stiftungsinhalt zu einigen, über den Ort und die Beteiligung von Frau Kohl-Richter, ist einerseits dem jetzt an den Tag gelegten Schweinsgalopp im Verfahren geschuldet, liegt andererseits aber auch an der generellen politischen Kraftlosigkeit, die Sie aktuell an den Tag legen. ({4}) So unvorbereitet und eilig – sozusagen kurz vor Sendeschluss – die Stiftung ins Leben zu rufen, kratzt jetzt schon gewaltig am Image der noch nicht einmal existierenden Stiftung. Meine Damen und Herren, der gelernte Historiker Kohl hat einmal gesagt: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Machen wir es an dieser Stelle also wie Helmut Kohl: Akzeptieren wir, dass es historisch immer um eine kritische Aufarbeitung geht, nicht um das Fabulieren eines Heldenepos. ({5}) Und seien wir dem Taktiker Helmut Kohl ruhig auch ein bisschen dankbar.
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,587
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,588
227
19
Erhard
Grundl
11,004,733
Denn ohne sein Strippenziehen müssten wir uns heute womöglich über eine Bundesstiftung Franz Josef Strauß streiten. Vielen Dank. ({0})
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,589
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Herr Kollege Grundl. – Ich glaube, das war das Stichwort für den nächsten Redner. Nachdem der Kollege Martin Rabanus, SPD-Fraktion, seine Rede zu Protokoll gegeben hat ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,590
227
19
Manfred
Grund
11,002,667
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich bedanke mich bei meiner Fraktion, dass ich heute als Ostdeutscher zur Bundeskanzler-Helmut‑Kohl-Stiftung reden darf. Es gibt mir die Gelegenheit, Helmut Kohl als Mensch und als Staatsmann zu schildern, so wie ich ihn noch erleben durfte. Als ich 1994 in den Deutschen Bundestag, damals noch in Bonn, kam und wir in den Fraktionen verstreut saßen, ging es vielen wie mir: Wir schauten genau hin, was die da auf der Regierungsbank so machten, wie sie sich gaben, wie sie sich unterhielten. Und Helmut Kohl hatte eine Angewohnheit: Wenn er auf seinem Platz saß, fasste er in seine rechte Jackentasche, brachte ein kleines Notizbuch hervor, riss eine Seite heraus, fasste in die linke Tasche, brachte einen kleinen Bleistift hervor, klemmte die Zunge ein wenig unter und schrieb etwas auf diesen Zettel, faltete ihn eng zusammen und gab ihn einem Minister oder einer Staatssekretärin auf der Regierungsbank. Der Empfänger oder die Empfängerin machte ihn auf, las es, drehte ihn um, schrieb was drauf, faltete ihn wieder zusammen; es ging zurück an Helmut Kohl. Helmut Kohl öffnete das Ganze, las es. Dann zerriss er es so klein, dass es nie wieder jemand zusammensetzen konnte, kein Geheimdienst dieser Welt. Für uns war klar: „Staatsgeheimnisse!“ – bis mir mal eine Staatssekretärin nach vielen Jahren erzählte, was gelegentlich auf einem Brief an sie draufstand. Da stand drauf: Gertrud, wann bringst du mal wieder hausgeschlachtete Wurst mit? ({0}) Dass ich 1994 – und mit mir viele andere – unsere ostdeutsche Heimat im Bundestag vertreten durfte, hatte viel mit dem Staatsmann Helmut Kohl zu tun, mit seiner Überzeugung, seinem Stehvermögen, seiner Autorität und auch seiner internationalen Akzeptanz. ({1}) Denn – und das ist heute schon wieder erklärungsbedürftig – in den 80er-Jahren waren weite Kreise der bundesdeutschen Gesellschaft, Bevölkerung, Publizistik, Parteien auf dem Trip, eine eigene DDR-Staatsbürgerschaft zu akzeptieren und die Teilung Deutschlands in Bundesrepublik und DDR dauerhaft hinzunehmen. ({2}) Auf diese Erwartungshaltung und Forderungen in der Gesellschaft – entsprechende Zitate von Literaturnobelpreisträgern und anderen sind vorhanden – sattelte Erich Honecker mit seinen Geraer Forderungen auf. Es waren vier Forderungen: Elbgrenze in der Elbmitte, Auflösung der Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter, Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft, Aufwertung der ständigen Vertretungen zu Botschaften. Erster Punkt: Erfassungsstelle in Salzgitter. Dort ist das DDR-Unrecht, das insbesondere in den Gefängnissen in Bautzen und Hohenschönhausen und anderen Gefängnissen politischen Häftlingen geschehen ist, aufgezeichnet worden. Ich weiß von vielen Häftlingen, die danach berichtet haben, dass sie nur durchgehalten haben in der Erwartung, in der Hoffnung, dass das irgendwo notiert, aufgeschrieben ist, der Nachwelt dokumentiert wird, wie sie zerstört werden sollten, ihre Persönlichkeit gebrochen. Und genau diese Erfassungsstelle sollte nicht mehr weiter bestehen. Die Finanzierung wurde von Bundesländern eingestellt, als Erstes von Oskar Lafontaine als Ministerpräsident des Saarlandes, dann von allen SPD-geführten Bundesländern. Und Helmut Kohl hat entschieden: Der Bund verdoppelt seine Ausgaben für diese Erfassungsstelle, damit sie – und das hat sie bis nach 1989 getan – weiterarbeiten kann. ({3}) Zweiter Punkt: eigene DDR-Staatsbürgerschaft. Es gibt viele Zitate, die darauf hinausliefen: Wir sollten nicht von der deutschen Einheit reden – eine darauf gerichtete Politik sei „reaktionär und hochgradig gefährlich“, sagte Gerhard Schröder zum Beispiel –, Erich Honeckers Forderung nach einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft und der Streichung des Wiedervereinigungsgebotes aus dem Grundgesetz sollte nachgekommen werden. Wir haben 1989, am 9. November, die Mauer von Ost nach West umgeschubst. ({4}) Das war ein großer Akt. Wenn wir damals DDR-Bürger gewesen wären, hätten wir alle in der Bundesrepublik politisches Asyl beantragen müssen. Und dem Festhalten an der deutschen Einheit, der einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft, ist es zu verdanken, dass wir auch vom Staatsbürgerrecht her relativ problemlos in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland integriert werden konnten. ({5}) Ich beeile mich, Herr Präsident. – Ein dritter Punkt. Am 11. November 1989 hat Michail Gorbatschow Helmut Kohl angerufen und hat gesagt: Herr Bundeskanzler, ich habe Berichte, dass es sich in Ostberlin möglicherweise aufschaukeln könnte. Er hatte Sorge um die sowjetischen Einrichtungen, das Ehrenmal, die Botschaft. Und Helmut Kohl hat ihm gesagt: Herr Generalsekretär, ich versichere Ihnen, das wird es nicht geben. Wir werden alles tun, dass das gleichmäßig und in geordneten Bahnen verläuft. – Michail Gorbatschow hat diesem Helmut Kohl vertraut, und wir verdanken ihm die schnelle Einheit. Für viele Ostdeutsche verneige ich mich vor dem Staatsmann Helmut Kohl. ({6})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,591
227
19
Dagmar
Schmidt
11,004,401
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Geschehnisse in Hongkong haben viele von uns sehr berührt. Millionen Menschen, darunter viele junge Menschen, die friedlich demonstrieren, die ihre Freiheiten behalten wollen, haben unsere Sympathien. Die Hoffnung, dass die Formel „Ein Land, zwei Systeme“ ernst genommen würde, dass Hongkong für China weiterhin eine Brücke in die freie und demokratische Welt sein könnte, dass die Erfahrungen aus Hongkong sich auch positiv auf den Rest Chinas auswirken könnten, diese Hoffnung hat sich spätestens mit dem nationalen Sicherheitsgesetz erledigt. Mit diesem Gesetz hat sich Peking seine Durchgriffsrechte gesichert. Anders als angekündigt, ist nicht eine kleine, radikale Minderheit adressiert worden; nein, alle politischen Entscheidungsträger, der öffentliche Dienst, alle sollen sogenannte Patrioten sein, und jeder Hongkonger und jede Hongkongerin soll sich mit der Volksrepublik identifizieren und die KP unterstützen. Pekings Vision eines sogenannten Sozialismus chinesischer Prägung soll auch alle Hongkonger Gesellschaftsbereiche durchdringen – mit einem parallelen Rechtssystem durch das Sicherheitsgesetz, mit einem neuen Wahlsystem, mit einem De-facto-Vetorecht Pekings bei der Zulassung von Kandidatinnen und Kandidaten, mit Loyalitätsbekundungen von Beamtinnen und Beamten und mit ideologischen Schulungen, mit einem neuen Curriculum, das die Gewaltenteilung aus den Lehrbüchern löscht und stattdessen die Vermittlung des nationalen Sicherheitsgesetzes auf den Lehrplan setzt, und mit dem Umbau des öffentlichen Rundfunks und vielem anderen mehr. Die Beendigung des vertraglich bis 2047 zugesicherten hohen Grads an Autonomie ist ein weiteres Zeichen dafür, welche Richtung China eingeschlagen hat. China bleibt zwar unser Partner, wenn es um die globalen Herausforderungen geht wie die Bekämpfung des Klimawandels, die Bekämpfung der Folgen der Pandemie, die globale Friedenssicherung und auch, wenn es um die gerechte Entwicklung ärmerer Länder geht. China bleibt aber unser Wettbewerber, wenn es um wirtschaftliche Dynamik, Märkte und Produkte geht. Aber vor allem wird China so für uns immer mehr ein systemischer Rivale, der unserer freien und demokratischen Gesellschaft eine zensierte und autoritäre Alternative entgegenstellt, ein Rivale, der sein Entwicklungsmodell deutlich gegen die freie und demokratische Welt positioniert. Aber die Richtung, die China in Fragen Freiheitsrechte, in Fragen Menschenrechte insgesamt einschlägt, zeigt sich nicht allein in Hongkong. Reporter ohne Grenzen sieht China im Ranking der Pressefreiheit unverändert auf Platz 177 – von 180. Auch Amnesty International berichtet in seinem neusten Menschenrechtsreport von erheblichen Verschlechterungen bei den Menschenrechten insgesamt, die durch die Pandemie noch deutlich verschärft wurden. Betroffen sind insbesondere Menschenrechtsverteidiger, ethnische und religiöse Minderheiten und Journalistinnen und Journalisten. Der große Erfolg Chinas in der Armutsbekämpfung, die rasante wirtschaftliche Entwicklung, die den Menschen bessere Lebensbedingungen und eine Perspektive ermöglicht, wird durch die Einschränkungen der persönlichen Freiheit so leider wieder relativiert. Denken wir auch an die Situation in Tibet, denken wir an die Innere Mongolei. Die Menschen in China insgesamt sind durch Überwachung, Kontrolle und das Sozialkreditsystem unter Druck. Die Beziehungen zu Deutschland, die Beziehungen zu Europa werden zunehmend stärker von Wertefragen, von Systemfragen dominiert. Die Menschenrechtslage in Xinjiang ist ein globales Thema und hat weltweit zu entsprechenden Reaktionen geführt. Die gemeinsamen, die von der EU initiierten und von den USA, Kanada und Großbritannien unterstützten kalibrierten, zielgenauen Sanktionen gegen drei Personen und eine Einrichtung in Xinjiang sind dafür ein wichtiges Signal gewesen. ({0}) Sorgen macht mir zunehmend auch das aggressivere Auftreten nach außen und die zunehmende Militarisierung des Indopazifiks. Wie gehen wir also damit um? Zunächst ist die Antwort: Gemeinsam mit unseren Partnern. Das alles führt dazu, dass wir als Europa zusammen mit den USA und Kanada und darüber hinaus mit den freien und demokratischen Staaten in Asien enger zusammenstehen und uns besprechen. Zu unseren Partnern gehören Japan, Indien, Australien, Südkorea. Sie alle haben ihre eigenen Erfahrungen, die für eine gemeinsame Strategie von Bedeutung sind. Das wird nicht leicht – und wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen –, aber das wird gelingen. Und wir müssen die Balance halten und Eskalationsszenarien verhindern, ohne aber Entwicklungen, die internationales Recht infrage stellen oder das Recht des Stärkeren international etablieren wollen, unbeantwortet zu lassen. Deswegen hoffe ich, dass die EU es schafft, sich auf gemeinsame Maßnahmen in Reaktion auf die verschärfte Kontrolle Hongkongs durch Peking zu einigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ziel ist und bleibt es aber auch, mit China weiter zusammenzuarbeiten, dort, wo wir gemeinsame Ziele verfolgen, aber dabei eben auch Klarheit über unsere Interessen zu schaffen. Und die finden sich wieder im Gedanken des Multilateralismus, einer regelbasierten Weltordnung und der Universalität der Menschenrechte. Danke schön. ({1})
23
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,592
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Roland Hartwig, AfD-Fraktion. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,593
227
19
Roland
Hartwig
11,004,738
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die dominierende Weltmachtstellung der USA wird zunehmend durch China herausgefordert. Das hat nicht erst mit Donald Trump begonnen, und das wird auch mit Joe Biden nicht enden. Der daraus resultierende Konflikt wird auf vielen Ebenen ausgetragen. Offensichtliche Beispiele sind die wechselseitigen Wirtschaftssanktionen und das militärische Kräftemessen im Südchinesischen Meer. Nicht ganz so offensichtlich ist die Instrumentalisierung sogenannter Zivilgesellschaften, um indirekt Unruhe zu stiften. Das ist nichts anderes als die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes. Und Hongkong ist dafür ein anschauliches Beispiel. ({0}) Zunächst ein Blick auf den Hongkonger Aktivisten Joshua Wong, mit dem sich unser Außenminister gemeinsam ablichten ließ und der später mit den Worten zitiert wurde: „Mit rein friedlichem Protest werden wir unser Ziel nicht erreichen.“ Er wurde von den USA von langer Hand als Ikone aufgebaut. Das „Time Magazine“ kürte ihn zu einem der einflussreichsten Teenager des Jahres 2014. Das amerikanische Medienunternehmen Netflix stellte ihn 2017 einem breiten Publikum in der Produktion „Teenager vs. Superpower“ vor. Und 2018 nominierte ihn der amerikanische Präsidentschaftskandidat Marco Rubio sogar für den Friedensnobelpreis. Schauen wir dann auf die Hongkonger Zivilgesellschaft. Sie erhält aus dem Ausland signifikante Summen. Die mit Abstand größten Geldgeber sind auch hier wieder die Vereinigten Staaten, die allein zwischen 2000 und 2015 über 200 Millionen Dollar zur Demokratieförderung in China ausgegeben haben. Bereits während der sogenannten Regenschirmproteste in Hongkong im Jahr 2014 kritisierte die chinesische Regierung diese destabilisierende Einmischung in innere Angelegenheiten. ({1}) Und der international angesehene Berater des amerikanischen Verteidigungsministeriums, Dr. Michael Pillsbury, konzedierte im amerikanischen Fernsehen, dass diese Anschuldigungen wohl nicht ganz falsch seien. Aber nicht nur in Hongkong, auch hier bei uns werden transatlantische Netzwerke aufgebaut und politisch wohlmeinende Personen gefördert. ({2}) Der bereits erwähnte Marco Rubio hat im vergangenen Jahr ganz entscheidend den Aufbau einer interparlamentarischen China-Allianz vorangetrieben. Deren Ziel ist es, die China-Politiken von Abgeordneten in unterschiedlichen Ländern zu koordinieren, vermutlich im amerikanischen Interesse. ({3}) Unter den Mitgliedern finden sich auch Namen von Politikern, die die vorliegenden Anträge unterzeichnet haben. Sie sind teils auch Mitglieder anderer Netzwerke wie der Atlantik-Brücke oder der Young Leader des American Council on Germany. ({4}) Die Diskussionen zu Hongkong finden also nicht im luftleeren Raum statt. Sie sind Elemente eines zunehmenden chinesisch-amerikanischen Konfliktes. Was heißt das nun für uns? Erstens. Ich bin Vertreter einer Partei, die Souveränität für unser Land zurückgewinnen will. ({5}) Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir nicht die Souveränität anderer Länder untergraben sollten, indem wir sie von innen destabilisieren. ({6}) Zweitens. Sie sorgen sich um die Wahrung einer Vereinbarung, die 1984 zwischen Großbritannien und der Volksrepublik China über Hongkong geschlossen wurde. Nicht wir, sondern Großbritannien ist aufgerufen, eventuelle Verstöße gegen diese Vereinbarung aufzunehmen. Dazu brauchen sie keine Hilfe aus Deutschland. ({7}) Drittens. Wir sollten uns generell nicht vor den Wagen anderer Mächte spannen lassen, die sich bemühen, Deutschland in ihren geopolitischen Konflikt zu verwickeln. ({8}) Das ist ganz sicher nicht im Interesse unseres Landes. Genau in diese Richtung gehen aber Ihre Anträge. Die AfD-Fraktion wird ihnen daher nicht zustimmen. ({9})
0
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,594
227
19
Jürgen
Hardt
11,004,050
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe während der Rede des Abgeordneten Hartwig die ganze Zeit überlegt: Ist das, was wir hier hören, jetzt stalinistisch oder maoistisch? Ich finde, es ist schlicht eine Sauerei, die Menschen, die in Hongkong für die Freiheit kämpfen, so zu diskreditieren. ({0}) Die Kollegin Schmidt hat ja sehr ausführlich und auch sehr gut dargestellt, um was es uns in Hongkong geht; ich will deswegen verzichten, darauf jetzt noch mal einzugehen. Wenn wir Wege für gemeinsames Wirken in der Welt mit China suchen, muss uns immer klar sein, dass wir es hier mit einer kommunistischen Diktatur zu tun haben, die bereit ist, zur Durchsetzung ihrer vermeintlich ideologischen Ziele buchstäblich über Leichen zu gehen, ({1}) sei es im Kampf gegen die Uiguren oder gegen die Tibeter oder die Mongolen, sei es bei der Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit im Land oder sei es bei der Unterdrückung der Demokratie in Hongkong, die ja durch internationales Recht geschützt ist; darüber setzt sich China rücksichtslos hinweg. Ich finde es absolut richtig, dass die Europäische Union gezielte Sanktionen ergriffen hat gegen Personen, die für Menschenrechtsverletzungen und Grundrechtsverletzungen in China verantwortlich sind. Das betrifft eine kleine Zahl, aber wir sind uns ganz sicher, dass wir damit Personen treffen, die wirklich Verantwortung tragen. Die chinesische Regierung hat mit einem Keulenschlag darauf reagiert, indem sie Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Beamte, Diplomaten, Familienangehörige von Abgeordneten und sogar Wissenschaftler von renommierten, international tätigen Instituten mit entsprechenden Personensanktionen überzogen hat. Ich habe Verständnis dafür, dass das Europäische Parlament sagt: Unter diesen Bedingungen können wir dem Investitionsabkommen mit China nicht zustimmen. ({2}) Lassen Sie mich noch einen Satz zu den vorliegenden Anträgen sagen. Ich stimme in weiten Teilen überein mit der Analyse und auch mit der Rhetorik der Anträge, etwa der Grünen. Aber ich frage mich doch: Was sind eigentlich Ihre Ideen, wie wir das in den Griff kriegen können, wie wir unsere Resilienz gegen den chinesischen politischen Druck verstärken können? Da gibt es die Strategie, die auch die Kollegin Schmidt angesprochen hat, dass wir in der freien Welt enger zusammenrücken müssen, dass wir zusammenstehen müssen, dass wir uns koordinieren müssen, dass wir zum Beispiel die Regeln des fairen und freien Handels zwischen unseren Kontinenten und Nationen festigen und stärken, damit sich zum Beispiel lateinamerikanische Staaten darauf verlassen können, dass sie mit Europa sicheren und fairen Handel treiben können und nicht zur Beute von chinesischen Geldgebern werden, die in diesen Ländern bereits massiv unterwegs sind. Ich finde, wenn man konkret etwas für die Demokratiebewegung und für die Menschenrechte in Hongkong bzw. in China tun will, dann muss man den Westen – das, was wir gemeinhin als Westen verstehen – stärken und die Bande im Westen zusammenführen. Deswegen passen für mich die Ablehnung von CETA, die Ablehnung des Mercosur-Handelsabkommens und der Kampf für die Menschenrechte in China nicht zusammen. Ich bitte, dass wir uns ehrlich machen und darüber nachdenken: Was können wir tun? Es ist für mich eine Schande, dass wir es nicht geschafft haben, in diesem Deutschen Bundestag zum Beispiel das Handelsabkommen mit Kanada zu unterzeichnen, dem harmlosesten Land der Welt, wie mal ein kanadischer Außenminister zu mir gesagt hat. Und ich glaube, er hat recht. Herzlichen Dank. ({3})
4
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,595
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Herr Kollege Hardt. – Ich nutze die kleine Pause, um die Parlamentarischen Geschäftsführer noch mal darauf hinzuweisen: Trotz aller Bemühungen sind wir immer noch bei einem Sitzungsende um 2 Uhr heute Nacht. Wenn wir über Menschenrechte reden, sollten wir auch immer an die Rechte der Beschäftigten dieses Hauses denken. Nächste Rednerin ist die Kollegin Gyde Jensen, FDP-Fraktion. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,596
227
19
Gyde
Jensen
11,004,941
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Joshua Wong wurde heute zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate verurteilt. Dieser Mann ist Anfang 20, und wir müssen wohl davon ausgehen, dass die kommunistische Partei sich neue Vorwürfe gegen ihn ausdenken wird, um ihn so lange wie möglich hinter Gittern halten zu können. Joshua opfert seine persönliche Freiheit, seine Lebenszeit, weil er trotz allem immer noch daran glaubt, dass Freiheits-, dass Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie in Hongkong eine Zukunft haben können. Joshua steht stellvertretend für so viele Tausende Gesichter in dieser Hongkonger Freiheitsbewegung. ({0}) Wenn Joshua darüber schreibt und davon spricht, dass Hongkong das neue Westberlin ist, dann will er uns damit klarmachen: In Hongkong kristallisiert sich gerade der globale Werte- und Systemwettbewerb unserer Zeit, und da geht es um jeden Meter, den der autokratische digitale Überwachungsstaat der kommunistischen Partei Chinas an Einfluss gewinnt. Für die Weltgemeinschaft, für uns, geht es hier um die Verteidigung unserer Werte und unserer liberalen Ordnung. Für die Menschen in Hongkong geht es um alles. Liebe Regierungsfraktionen, es ist schön, wenn wir von Ihnen hören, was Sie gerne tun wollen, aber wir sehen das überhaupt nicht in Ihren Anträgen. Wir als FDP würden von Ihnen gerne wissen: Interessiert Sie dieses Thema so wenig, dass Sie nicht in der Lage sind, etwas Eigenes vorzubringen? Die Grünen haben hier heute zwei Anträge eingereicht. Die FDP-Bundestagsfraktion hat innerhalb eines halben Jahres bereits zwei Anträge eingereicht. Einen davon diskutieren wir hier heute Abend. Aus den Regierungsfraktionen kommt nicht mehr als warme Worte, und das ist peinlich für dieses Haus und für die Worte, die Sie auf dem G-20-Gipfel, auf dem G-7-Gipfel, in Europa, in Brüssel und auf sämtlichen anderen Gipfeln sprechen. ({1}) Ich muss sagen: Wir glauben, dass Ihnen da außenpolitisch wirklich die Puste ausgeht. Der einzige kleine Lichtblick in dieser Woche war gestern die gemeinsame Abschlusserklärung der G 7 zu Hongkong. Eine für Montag geplante Ratsschlussfolgerung der EU zu Hongkong ist leider an Ungarn und am Einstimmigkeitsprinzip gescheitert. Ich muss Ihnen sagen: Mir fehlt die Fantasie, mir einen Außenminister Maas vorzustellen, der sich bei der G 7 für eine möglichst scharfe Botschaft eingesetzt und alles dafür getan hat, dass Ungarn bei dieser Erklärung mitmacht. Man versteht auch nicht mehr, wie Ihre China-Politik eigentlich aussehen soll, liebe Bundesregierung. Während der Außenminister die G-7-Erklärung unterschreibt, lobt die Kanzlerin noch letzte Woche öffentlich das während der Konsultationen mit China beschlossene Investitionsabkommen. Sie konterkariert damit gerade die gemeinsame EU-Linie, zu entscheiden, dass das Abkommen erst mal auf Eis gelegt wird. Ebenso – und das ist mein letzter Punkt – ergibt sich ein fataler Eindruck der Indifferenz, wenn wir uns beispielsweise die „BN (O)“-Passports, die „British National (Overseas)“-Passports, angucken, wo Fehler bei dem Gewähren von Schutz für Hongkonger, die hier Zuflucht gesucht haben, unterlaufen sind. Wir Freie Demokraten stehen an der Seite der Menschen in Hongkong, die für Freiheit kämpfen, die wir hier garantiert sehen.
13
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,597
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,598
227
19
Gyde
Jensen
11,004,941
Wir werden die Bundesregierung weiterhin in die Pflicht nehmen, das auch zu tun – so lange, bis Sie Haltung zeigen. Danke schön. ({0})
13
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,599
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. ({0})
-1
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Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,600
227
19
Sevim
Dağdelen
11,003,746
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherheitsgesetze, mit denen Bürgerinnen und Bürger wegen bloßer Meinungsäußerungen oder der Teilnahme an Demonstrationen unter Terrorismusverdacht gestellt werden, lehnt Die Linke kategorisch ab. ({0}) Polizeigewalt gegenüber friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten lehnen wir ab. Das ist inakzeptabel. ({1}) Mit Erschrecken müssen wir allerdings auch heute hier feststellen, dass durch die Koalition, die FDP, die Grünen und teilweise auch die AfD die Menschenrechte zum Steinbruch geopolitischer Orientierungen gemacht werden. Während das Sicherheitsgesetz im Fall Hongkong Ihnen als neue Blaupause für den Ruf nach weiteren Sanktionen gegen China dient, werden von der Bundesregierung entsprechende Sicherheitsgesetze in der Türkei zum Anlass genommen, neue Waffen zu liefern und auf eine Ausweitung der Zollunion zu drängen. Während Sie im Fall Honkong die Einschränkung der Autonomie als Sprungbrett für eine weitere Zuspitzung der Beziehungen zu China nutzen, war Ihnen die völlige Beseitigung der Autonomie Kaschmirs durch die hindu-nationalistische Regierung in Indien kein Anlass für auch nur eine kleine Kritik. Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: In Kolumbien werden Dutzende friedliche Demonstranten von staatlichen Stellen auf offener Straße ermordet – 37 Tote, Hunderte Verletzte in den letzten Tagen. Wir haben es in Kolumbien mit einem mörderischen Regime zu tun, das vom Paramilitarismus durchdrungen ist, das Tausende Demokraten, Linke, Gewerkschafter, Sozialaktivisten und Friedensaktivisten töten lässt und sich dennoch der besten Wertschätzung der Bundesregierung erfreut, weil es prowestlich ist. Ich frage Sie: Wie wollen Sie angesichts dieser Tatsachen dem Vorwurf begegnen, Sie betrieben eine selektive Menschenrechtspolitik, die sich nur nach geopolitischen Wetterlagen richtet? ({2}) Einer der wenigen China-Kenner in unserem Land, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, hat immer wieder versucht, dagegen anzugehen, dass man in Sachen Menschenrechte auf dem hohen Ross sitzt. So forderte Helmut Schmidt im Hinblick auf China den – ich zitiere – „Verzicht auf Überheblichkeit und herablassende moralische und politische Belehrungen“. Der Bundestag wäre gut beraten, sich diese Mahnung zu Herzen zu nehmen, auch, um nicht Gefahr zu laufen, mit einer Politik des rassistischen Überlegenheitsanspruchs gegenüber China, wie sie der vormalige US-Präsident Donald Trump nach vorne stellte, identifiziert zu werden. Zu China höre ich in diesem Hohen Haus von Grünen und FDP leider nie etwas, wenn es darum geht, die fortgesetzte Ehrung der deutschen Kolonialverbrecher zu beenden. Hier gibt es doch tatsächlich mal eine wirkliche Bringpflicht. ({3}) Ich finde es jedenfalls mehr als bedenklich, dass heute in Deutschland immer noch Leute wie Graf von Waldersee geehrt werden, der für zahlreiche Verbrechen in China verantwortlich ist.
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,601
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,602
227
19
Sevim
Dağdelen
11,003,746
Statt Konfrontation brauchen wir eine glaubwürdige Entspannungspolitik gegenüber China und mehr Kooperation.
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,603
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Frau Kollegin Dağdelen, bitte.
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,604
227
19
Sevim
Dağdelen
11,003,746
Es darf nicht sein – mein Schlusssatz, Herr Präsident –, dass wir die Menschenrechte instrumentalisieren, um mit neuen Feindbildern Konflikte weltweit zu befördern. Vielen Dank. ({0})
6
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,605
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Vielen Dank, Frau Kollegin Dağdelen. – Jetzt lauschen wir gespannt den Worten des Kollegen Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})
-1
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,606
227
19
Jürgen
Trittin
11,003,246
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So richtig überzeugt hat es mich nicht, über China, wenn man über Menschenrechte spricht, nicht zu reden und stattdessen über Kolumbien und Kaschmir zu reden. Diese Form von Whataboutism geht an der Sache vorbei. ({0}) Das, was Sie gesagt haben, lieber Kollege Hardt, hat mich auch nicht ganz überrascht. Sie sind in der Transatlantikveranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgestern ja mit der Kanzlerin zusammengerasselt, die Sie belehrt hat, dass ein Zusammenrücken mit den USA nicht unbedingt zur Interessenidentität führt. Ein Stück Realpolitik klang da plötzlich aus ihr raus. Die Frage, der wir uns stellen müssen, ist aber doch: Ist eigentlich eine Haltung, die gut für die deutsche Automobilindustrie ist, schon eine realpolitische deutsche China-Politik? ({1}) Hier sollte uns allen Hongkong zu denken geben. Natürlich ist das, was dort passiert, verehrter Herr Hartwig, eine Verletzung internationalen Rechts und ein Beweis, dass China kein multilateral verlässlicher Partner ist, wenn völkerrechtliche Verträge dort gebrochen werden. ({2}) Und es ist auch keine innere Angelegenheit, völkerrechtliche Verträge zu brechen. ({3}) Die Chinesen wissen, was sie dort machen. Sie machen es mit Absicht; sie wollen etwas demonstrieren. Sie wollen klarmachen, dass die Zeit von Deng Xiaoping, der ausdrücklich gesagt hat, China strebe nicht an, Großmacht zu sein, vorbei ist. Sie streben an, Großmacht zu sein. Ihr Vorgehen in Hongkong ist Ausdruck ihrer selbstbewussten Haltung, die Systemkonkurrenz mit anderen politischen Systemen und Werten zu suchen. ({4}) Das ist die ernste Herausforderung, vor der man steht. Anstatt von all den Listen, wer sich da verschworen hat, zu hören, hätte ich, lieber Herr Hartwig, von Ihnen eigentlich schon erwartet, dass Sie sagen: Selbst wenn mir Herr Wong nicht gefällt, ist es gegen jede Rechtsstaatlichkeit und gegen Menschenrechte, Menschen wegen ihrer Meinung einzusperren. – Sie haben hier heute Morgen doch selber für die Meinungsfreiheit gestritten. ({5}) Wenn es stimmt, dass das sozusagen die große Herausforderung ist, dann kann man sich doch nicht, wie bei den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen, hinstellen und sagen: Wir haben schon ein paar ordentliche Verträge gemacht. Ansonsten gab es – ich zitiere die Kanzlerin – „Meinungsverschiedenheiten“. – Diese Systemauseinandersetzung ist keine Meinungsverschiedenheit, sondern das ist ein tiefer Konflikt. ({6}) Ich bin wirklich jemand, der sagt: Ja, diesen Gleichschritt, den die Europäer formuliert haben, China sei systemischer Rivale, Partner und Wettbewerber – und häufig auch unfairer Wettbewerber –, sollten wir im Kopf behalten, und wir sollten nicht in eine Konfrontation abgleiten. – Aber man muss die Schärfe des Systemkonfliktes doch mal durchbuchstabieren, und deswegen sage ich: Wir brauchen eine europäische China-Politik. Schluss mit dem deutschen Sonderweg nach Peking! ({7}) Außerdem müssen wir uns auch in den Bereichen, in denen wir es partnerschaftlich angehen, über den Systemkonflikt klar sein. Wir wollen einen fairen Wettbewerb und Marktzutritt. Das gilt dann umgekehrt aber auch, und dann müssen wir hier in Europa für Reziprozität – auch für chinesische Unternehmen – sorgen. ({8}) Wir sagen: China ist Partner beim Klimaschutz. – Ja, aber dann dürfen wir nicht zulassen, dass die Überkapazitäten der chinesischen Stahlindustrie jede Innovation unserer Stahlindustrie in Richtung Wasserstoffwirtschaft kaputtmachen. ({9}) Dann braucht es ein Carbon Border Adjustment. ({10})
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,607
227
19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege Trittin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,608
227
19
Jürgen
Trittin
11,003,246
Wenn wir sagen, wir nehmen Menschenrechte und die Bekämpfung der globalen Armut ernst, dann müssen wir Regeln haben und mit einem vernünftigen und mit Zähnen ausgestatteten Lieferkettengesetz verhindern, dass unter Ausbeutung und Zwangsarbeit hergestellte Produkte aus China oder von irgendwo anders aus der Welt hier auf den Markt kommen.
3
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
null
2021-05-06
1,060,609
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19
Wolfgang
Kubicki
11,001,235
Herr Kollege, bitte.
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Presidium of Parliament
Vizepräsident
2021-05-06
1,060,610
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Jürgen
Trittin
11,003,246
Das heißt, sich dem Systemkonflikt zu stellen. ({0})
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19227.pdf
Member of Parliament
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2021-05-06